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German Pages [516] Year 2014
osteuropa medial
BAND 6
Herausgegeben von Natascha Drubek, Jurij Murašov und Georg Witte
Tanja Zimmermann
Der Balkan zwischen Ost und West Mediale Bilder und kulturpolitische Prägungen
2014 BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN
Gedruckt mit der Unterstützung des im Rahmen der Exzellenzinitiative des Bundes und der Länder eingerichteten Exzellenzsclusters der Universität Konstanz „Kulturelle Grundlagen von Integration‟.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://portal.dnb.de abrufbar.
Umschlagabbildung: Ausschnitt aus: Luca Signorelli, Die Verdammten, 1499–1502, Fresko, San Brizio-Kapelle im Dom von Orvieto. © 2014 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Weimar Wien Ursulaplatz 1, D-50668 Köln, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Korrektorat: Julia Timm Satz: Alexander Weber Druck und Bindung: Finidr, Cesky Tesin Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier Printed in the EU ISBN 978-3-412-22163-8
Danksagung Das vorliegende Buch ist die überarbeitete Version der Schrift, mit der ich mich im Juni 2011 an der Universität Konstanz in Literaturwissenschaft/Slawistik und Kunstgeschichte habilitiert habe. Den Mitgliedern der Habilitationskommission, Jurij Murašov, Bianka Pietrow-Ennker, Sylvia Sasse und Felix Thürlemann danke ich für ihre Gutachten, die mir bei der Überarbeitung des Textes behilflich waren. Der Exzellenzcluster der Universität Konstanz ermöglichte mir durch einen sechsmonatigen Aufenthalt am Kulturwissenschaftlichen Kolleg im Wintersemester 2013-14, die Schrift zu überarbeiten; auch wurde mir ein großzügiger Druckkostenzuschuss gewährt. Den Fellows im Kulturwissenschaftlichen Kolleg, insbesondere Pim Griffoen (Amsterdam), Katja Günther (Princeton), Lena Kugler (Konstanz), James McAdams (Notre Dame/Indiana), Clemens Pornschlegel (München), Andrea Rehling (Mainz), Gabriele Schwab (Irvine) und Monika Wulz (Braunschweig), danke ich für Anregungen und fruchtbare Gespräche. Bereits während meiner Assistentenzeit in Erfurt 2005-2009 konnte ich im Literaturwissenschaftlichen Kolloquium die ersten Forschungsergebnisse vorstellen. Holger Baumann, Thorsten Bothe, Julika Funk, Thomas Glaser, Bettine Menke, Holt Meyer und Wolfgang Struck danke ich für ihre Anregungen. Der verstorbene Detlef Hoffmann (München) machte mich auf wichtige illustrierte Zeitschriften aufmerksam, die in den 1950er Jahren in Jugoslawien erschienen sind. Kollegen und Kolleginnen aus dem Netzwerk Media and Memoria in Southeast Europe, Davor Beganović (Konstanz), Jelena Erdeljan (Belgrad), Aleksandar Jakir (Split), Mirt Komel (Ljubljana), Nenad Makuljević (Belgrad), Barbara Murovec (Ljubljana), Katica Kulavkova (Skopje), Lidija Nikolova (Skopje) und Reana Senjković (Zagreb) danke ich für wertvolle Hinweise auf die neu erscheine Literatur in Südosteuropa. Kollegen und Kolleginnen aus den Fächern der osteuropäischen Geschichte, Literatur und Kunstgeschickte luden mich zu Vorträgen und Tagungen ein, auf denen ich meine Thesen zur Diskussion stellen konnte. Nicht alle kann ich hier nennen, doch einige seien genannt: Ulf Brunnbauer (Regensburg), Gesine Drews-Sylla (Tübingen), Susi Frank (Berlin), Renata Makarska (Mainz), Miranda Jakiša (Berlin), Jerzy Malinowski (Toruń), Ljiljana Reinkowski (Basel), Schamma Schahadat (Tübingen) und Jolanta Sujecka (Warszawa). Den Herausgeberinnen und Herausgebern von Osteuropa medial, Natascha Drubek, Jurij Murašov und Georg Witte, danke ich für die Aufnahme des Buches in diese Reihe. Eva Rottmann und den studentischen Hilfskräften Anja Fetzer, Tatjana Fiadotova, Tina Schlagenhaufer, Sarah Schelbert, Philipp Tvrdinić und insbesondere Julia Timm bin ich für kritische Kommentare und manche Korrekturvorschläge zu Dank verpflichtet. Alexander Weber danke ich für seine Sorgfalt bei der Herstellung des Satzes.
Inhalt I. Einleitung .................................................................................................... 1 1. Der Balkan als Zwischenraum. Zuschreibungen aus Ost und West ......... 2 2. Formierung des „dritten Raumes“ ........................................................... 8 2.1. Der „dritte Raum“ als doppelte Negation: weder Ost – noch West .... 8 2.2. Dritte Identität als doppelter Ausschluss ........................................ 13 3. Figuren des Sekundären ......................................................................... 15 3.1. Vom Toponym zum Eponym ......................................................... 15 3.2. Parergon: am Rand von Text- und Bildnarrativen .......................... 18 3.3. Der Balkan als mediales Phantasma ............................................... 19 4. Kapitelübersicht ..................................................................................... 21 II. Hellas gesucht – „Balkan“ gefunden. Vom Philhellenismus zum Orientalismus .......................................................................................25 1. Fallmerayers These: Die Ausrottung der Altgriechen durch Südslawen und Arnauten ...................................................................... 25 2. Hellas’ wahre Erben: Cyprien Robert .................................................. 32 3. Ort des Verschwindens und der Verstellung. Puškins Erzählungen Der Schuss (1830) und Kirdžali (1834) ............................................... 36 4. Die Orientalisierung Bulgariens: Viktor Tepljakovs Briefe aus Bulgarien (1833) ..............................................................................49 5. Ein polnisch-bulgarischer Kreuzzug gegen die Türken. Michaił Czajkowskis Roman Kirdżali. Eine Erzählung aus dem Donaulande (1839) ......................................................................................... 56 III. Panslawismus und Orientalismus: Völkerstereotype und ihre Ausbildung .........................................................................................65 1. Der Kaukasus und der Balkan. Russischer und serbischer Fatalismus in Lermontovs Ein Held unserer Zeit (1840) .................65 2. Russlands missglückte Vermählung mit Bulgarien. Turgenevs Am Vorabend (1860)........................................................................... 74 3. Der Serbisch-Osmanische Krieg von 1876-78 und Russlands verlorene Söhne. Uspenskijs Briefe aus Serbien (1876) und Tolstojs Anna Karenina (1878) .......................................................86 4. Benjamin Kállays Orientalisierung der orthodoxen Slawen ............. 103
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Inhalt
IV. Vom Stereotyp zum Phantasma: Der Balkan in Reiseberichten ........ 109 1. Bosnien und die Herzegowina in Ärzteanekdoten ............................ 109 2. Freud und die Entdeckung des Todestriebes 1898 ........................... 114 3. Phantasmen des Unverständlichen und Unsichtbaren ...................... 126 3.1. Babylonische Sprachverwirrung ................................................ 126 3.2. Schleier ...................................................................................... 133 4. Verhüllung und Enthüllung des Balkans im Europa-Diskurs: Slavoj Žižeks In Search of Balkania (2001) und Tanja Ostojićs EU-Slip (2004) .................................................................................. 145 5. Positive Balkan-Stereotype ............................................................... 150 V. Titos „dritter Weg“ ........................................................................... 153 1. Jugoslawien als sowjetisches Spiegelbild ........................................ 153 1.1. Jugoslawien in kommunistischen Reiseberichten: Entbalkanisierung ....................................................................... 160 1.2. Vom homo balcanicus zum homo sovieticus: Abram Rooms Partisanenfilm In den Bergen Jugoslawiens (1946).................... 164 1.3. Sozialistischer Realismus nach sowjetischem Vorbild ............... 168 2. Die schablonenhafte Befreiung von der sowjetischen Schablone ...... 179 2.1. Gegenseitige Orientalisierung: Die Balkanisierung Jugoslawiens und die Asiatisierung der Sowjetunion ....................... 179 2.2. Der Kampf um den Primat. Original versus Kopie ..................... 185 2.3. Zum Begriff des „dritten Weges“ ............................................... 199 2.4. Titoismus als marxistische Neo-Avantgarde .............................. 200 2.5. Tito – Stalin ex post .................................................................... 204 3. Der „dritte Weg“ als doppelte Negation ............................................ 216 3.1. Die Kampagne gegen den sozialistischen Realismus ................. 219 3.2. Titos programmatisches Historiengemälde – der Bauernaufstand von 1573 ....................................................................... 224 3.3. Die mittelalterlichen Antizipationen des „dritten Weges“. Die Ausstellung L’art médiéval yougoslave im Palais de Chaillot in Paris 1950 ................................................................. 232 3.3.1. Die häretische Sekte der Bogomilen und das „neue sozialistische Sehen“ ............................................................ 238 3.3.2. Der jugoslawische Neo-Primitivismus: „Naive“ und „Autodidakten“ ..................................................................... 247
Inhalt
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3.4. Tertium datur. Vielfalt als ästhetische Einheit .......................... 257 3.4.1. Im Reigen der Völker ...................................................... 257 3.4.2. Im Reigen der Geschichte ............................................... 270 4. Jugoslawien als Kippbild .................................................................. 273 4.1. Die Häresie innerhalb der Häresie ............................................. 273 4.2. Ein janusgesichtiges Land ......................................................... 278 4.3. Der Konsum-Körper des Herrschers ......................................... 283 4.4. Von den Schluchten den Balkans in den Wilden Westen: Jugoslawien als neuer Kontinent ............................................ 286
VI. Die Wiederkehr der Mythen: Erinnerungspolitik ............................ 293 1. Die Heldenepik und das „Wüten der Mythen“ ................................. 293 2. Die Schlacht auf dem Amselfeld: Nationalismus und Sakralisierung ............................................................................... 304 2.1. Das Amselfeld in Reiseberichten. Die Entstehung eines mythischen Narrativs ............................................................. 305 2.2. London – die ‚Brutstätte‘ des Kosovo-Mythos während des Ersten Weltkrieges: Robert William Seton-Watson und Ivan Meštrovićs Kosovo-Tempel..................................... 314 2.3. Die Auferstehung der Heiligen Krieger in Serbien 1989 .......... 330 2.4. Die Sakralisierung des Kosovo 1999 in Russland und im Westen ....................................................................................... 352 2.5. Dekonstruktion der serbischen mythischen Narrative bei Marina Abramović .................................................................... 355 VII. Thanatologische Phantasmen der Balkan-Kriege ........................... 361 1. Medien im Ausnahmezustand. Metatexte, Metabilder und Referenzverluste im Bosnienkrieg 1992-95 .................................... 361 1.1. Der Streit zwischen Susan Sontag und Jean Baudrillard: Performanz versus Simulakrum ............................................... 368 1.2. Der Paragone zweier Theorien der Photographie: Trompe l’oeil-Effekte versus Spektren des Realen................................ 375 1.3. Die Krise des Dokumentarischen: James Nachtweys Inferno (1999) .......................................................................... 382 2. Das Problem des photographischen Zeugnisses und der Augenzeugenschaft. Ron Havivs Photographien aus Bijeljina (1992) ........ 387 2.1. Vom „Standbild“ zum „Non-Stop-Bild“ in the loop ................ 387
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Inhalt
2.2. Zwischen Beglaubigung und Verweigerung eines Ereignisses ............................................................................... 394 3. Der Exzess der Bilder ..................................................................... 407 3.1. Die Zeugenschaft als Kunstwerdung. Jean-Luc Godards Je vous salue, Sarajevo (1993) ................................................. 407 3.2. Fakten als Fiktionen. Der Bosnienkrieg im Comicstrip und auf der Postkarte ................................................................ 416 3.3. Der Fall Gabriel Grüner. Recycling des Faktischen in Norbert Gstreins Handwerk des Tötens (2003) ........................ 428
VIII. Zusammenfassung ............................................................................ 437 IX. Abbildungen ........................................................................................ 443 X. Bibliographie ..................................................................................... 451 1. Primärliteratur .................................................................................... 451 2. Sekundärliteratur ................................................................................ 469
I. Einleitung Der Balkan ist mehr als ein Gebirgszug in Bulgarien, dies muss man heute niemandem mehr erklären. Der Balkan, das sind – da ist man sich auch auf dem Balkan selbst sicher – immer die Anderen. In dieser Studie geht es nicht darum, den Balkan einmal mehr als Projektion zu entlarven. Bei der Dekonstruktion von Balkan-Stereotypen ist man bislang allzu selbstverständlich davon ausgegangen, der Westen sei der Ort, an dem diese ihrer Natur nach vage, wenn nicht widersprüchliche Identität entworfen und den Bewohnern eines notorisch konturlosen Territoriums übergestülpt worden sei. Will man jedoch verstehen, wie der Balkan als Phantasma politisch und kulturell wirksam geworden ist, darf man den Blick nicht nur von West nach Ost richten. Zum einen hat Russland ein eigenes, nicht weniger projektives Balkanbild entwickelt. Zum anderen wurde das russische ebenso wie das westliche Balkan-Bild auf dem Balkan selbst, wo immer dies genau sein mag, rezipiert, und zwar als Identitätsentwurf. Die verschiedenen Akteure konnten sich die vorgeschlagenen Identitäten weder zu eigen machen noch sich einfach davon distanzieren. In Jugoslawien, besonders in Titos Ära, entwarf man nach dem Prinzip der doppelten Abgrenzung dritte Identitäten und suchte das Eigene weder im Westen noch im Osten, weder in der Orthodoxie noch im Katholizismus, weder im Christentum noch im Islam. Die Balkan-Ideologie der „Drittheit“ formierte sich vielmehr auf der Grundlage der negativen Theologie (weder – noch), die nach dem Bruch mit Stalin 1948 als „dritter Weg“ und nach der Gründung der Bewegung der Blockfreien 1956 in der Ära des Kalten Krieges sogar politisch instrumentalisiert wurde. Das Dazwischen wurde ins Positive gewendet, was in Ost und West als herabwürdigend gemeint war: Primitivität wurde zu Archaik, Blutrausch zur Aufopferung, Abweichlertum zum „dritten Weg“. Daher verfehlt man die innere und äußere Spannung, die in dem Begriff steckt, wenn man den Balkan nur als Projektion, erst recht als rein westliche, versteht. Vielmehr entfaltet sich der Balkan zwischen Projektion und Identifikation, zwischen dem Selbst und dem Anderen, stets im Fadenkreuz der Blicke aus Ost und West. Seine stereotypen medialen Gestalten – von den frühen Reiseberichten bis hin zur Kriegsphotographie der 1990er Jahr – gehen in immer entfesseltere Phantasmen über. Ihre Auswirkung auf die Politik brachte seit dem Niedergang der philhellenischen Begeisterung für Griechenland 1830 bis zur gegenwärtigen postjugoslawischen Periode immer wieder neue kulturpolitische Identitäten und Raumkonzepte hervor.
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Einleitung
1. Der Balkan als Zwischenraum. Zuschreibungen aus Ost und West Als Produkt der kulturellen Imagination und als metaphorische Figur des Anderen Westeuropas haben Maria Todorova,1 Vesna Goldsworthy,2 Slavoj Žižek,3 David A. Norris4 und zahlreiche andere Autoren5 den Balkan seit Mitte der 1990er Jahre beschrieben. Symptomatisch für den Umgang mit dem Balkan als imaginierte Projektion ist seine Verschiebbarkeit auf der Landkarte. Seine imaginären geographischen Dimensionen materialisierten sich seit Ende des 18. Jahrhunderts in verzerrten kartographischen Entwürfen in Politik, Literatur und Kunst, welche nicht mit den tatsächlichen Staatsgrenzen übereinstimmten.6 Im Rahmen großnationalistischer oder utopischer transnationaler Projekte wurden seine Grenzen in verschiedene Richtungen ausgedehnt oder verringert. Auf das Spiel beliebiger Inklusion und Exklusion, das unersättlich immer größere Territorien umschließt, hat Slavoj Žižek satirisch aufmerksam gemacht:
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Todorova, Maria: The Balkans. From Discovery to Invention. In: Slavic Review 53 (1994), 453-482; Dies.: Die Erfindung des Balkans. Europas bequemes Vorurteil. Aus dem Englischen übersetzt von Uli Twelker, Darmstadt 1999 (engl. Imagining Balkan, Oxford 1997). 2 Goldsworthy, Vesna: Inventing Ruritania: Imperialism of Imagination. London 1998. 3 Žižek, Slavoj: The Spectre of Balkan. In: The Journal of the International Institute 1998. (http://www.umich.edu/~iinet/journal/vol6no2/zizek.htm, Zugriff: 09.09.2008); Ders.: The fragile absolute – or, why is the Christian legacy worth fighting for? London-New York 2001, 3-11. 4 Norris, David A.: In the Wake of the Balkan Myth. Questions of Identity and Modernity. Basingstoke 1999. 5 Bjelić, Dušan I./Savić, Obrad (Hrsg.): Balkan as Metaphor. Between Globalization and Fragmentation. Cambridge/Mass.-London 2002; Schubert, Gabriella/Dahmen, Wolfgang (Hrsg.): Bilder von Eigenem und Fremden aus dem Donau-Balkan-Raum (= SüdosteuropaStudie 71). München 2003; Rohringer, Margit: Documents on the Balkans. History, Memory, Identity. Representations of Historical Discourses in the Balkan Documentary Film. Cambridge 2009. 6 Zu Kartographierungen des Balkans: Petzer, Tatjana: Topographien der Balkanisierung. Programme und künstlerische Manifestationen der Demarkation und Desintegration. In: Südosteuropa. Zeitschrift für Politik und Gesellschaft 2-3 (2007), 255-275; Dies.: Geoma(n)tiker des Balkans. Visionen und Vermessungen Südosteuropas in Wissenschaft, Politik und Kunst. In: Kilchman, Esther/Pflitsch, Andreas/Thun-Hohenstein, Franziska (Hrsg.): Topographien pluraler Kulturen. Europa von Osten her gesehen. Berlin 2011, 97-128; Dies.: Geoästhetische Konstellationen. Kartographische Kunst im Spiegel von Balkanisierierung/Libanonisierung. In: Jakiša, Miranda/Pflitsch, Andreas (Hrsg.): Jugoslawien – Libanon. Verhandlungen von Zugehörigkeit in den Künsten fragmentierter Kulturen. Berlin 2012, 143-165; Kenneweg, Anne Cornelia: Im Niemandsland. Poetik der Zugehörigkeit bei Aleksander Hemon. In: Jakiša/Pflitsch (Hrsg.) 2012, 185-203.
Der Balkan als Zwischenraum. Zuschreibungen aus Ost und West
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Its geographic delimitation was never precise. It is as if one can never receive a definitive answer to the question, „Where does it begin?“ For Serbs, it begins down there in Kosovo or Bosnia, and they defend the Christian civilization against this Europe’s Other. For Croats, it begins with the Orthodox, despotic, Byzantine Serbia, against which Croatia defends the values of democratic Western civilization. For Slovenes, it begins with Croatia, and we Slovenes are the last outpost of the peaceful Mitteleuropa. For Italians and Austrians, it begins with Slovenia, where the reign of the Slavic hordes starts. For Germans, Austria itself, on account of its historic connections, is already tainted by the Balkanic corruption and inefficiency. For some arrogant Frenchmen, Germany is associated with the Balkanian Eastern savagery – up to the extreme case of some conservative anti-European-Union Englishmen for whom, in an implicit way, it is ultimately the whole of continental Europe itself that functions as a kind of Balkan Turkish global empire with Brussels as the new Constantinople, the capricious despotic centre threatening English freedom and sovereignty. So Balkan is always the Other: it lies somewhere else, always a little bit more to the southeast, with the paradox that, when we reach the very bottom of the Balkan peninsula, we again magically escape Balkan. […] This enigmatic constant shifting of the frontier demonstrates that, in the case of Balkan, we are not dealing simply with real geography, but with an imaginary mapping which projects onto real landscapes shadowy, often unacknowledged ideological antagonisms.7
In der ersten Aufnahme des Films Liebe Dein Symptom wie Dich selbst (1998) von Claudia Wilke und Katharina Höcker führt Žižek als Export-Slowene die willkürliche Setzung der imaginären geopolitischen Grenzen buchstäblich vor Augen. Im winterlichen Nebel stellt er sich auf eine Brücke über die Ljubljanica und versichert mit schwarzem Humor, dass dieser Fluss, der mitten durch die Hauptstadt Sloweniens fließt, den Balkan von Mitteleuropa trennt: Now, what you see here is, at least in summer or in the fall, one of the nicest views of Ljubljana. It looks like Paris; green leaves etc., on both sides nice old houses, nothing special. Eh, but you are wrong! This river here is the official geographical limit between Balkan and Mitteleuropa. So be aware! On the other side – horror, oriental despotism, women get beaten, get raped and like it. On this side – Europe, civilisation, women get beaten and raped, but don’t like it. So; Balkan – Mitteleuropa. Don’t forget it!8
Durch den willkürlichen Gestus der inszenierten Grenzziehung führt der slowenische Philosoph und Lacanianer die Strategie der Verortung des Balkans in der Geographie des Imaginären deutlich vor Augen und inszeniert sich selbst als Verwalter einer Balkangeschichte des Unbewussten. Während Žižek und viele andere Kartographen9 den Balkan in unterschiedliche Richtungen ausdehnten, verfuhren die australischen Autoren Santo Cilauro, Tom Gleisner und Rob Sitch in umgekehrter Richtung: Sie verliehen den Balkanstereotypen ein neues Territorium – Molvanîen. Ihr 7
Žižek 1998; Ders. 2001, 3f. Žižek, Skavoj: Liebe Dein Symptom wie Dich selbst. Ein Film von Claudia Willke und Katharina Höcker, 1998. 9 Petzer 2007; 2011. 8
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Einleitung
satirischer Reisebericht Molvanîen. Das Land des schadhaften Lächelns (engl. Molvanîa: a Land Untouched by Modern Dentistry, 2003) führt durch Landschaften, die auf keiner Landkarte existieren und die Beliebigkeit und Verschiebbarkeit des Balkans repräsentieren. Der Name ist wohl ein Amalgam aus Moldawien, Transsylvanien und Albanien. Das imaginäre Land stellt eine Art Mischung aller Balkan- und Osteuropa-Stereotypen dar, die in Karikatur und Groteske übergehen. Molvanîen, wo sich der Kommunismus mit dem ‚wilden‘ Kapitalismus paart, kann überall in Südost- und Osteuropa verortet werden. Den Reiseführer illustrieren falsch betitelte Photos mit Motiven aus ganz Südost- und Osteuropa. Der Textstil entspricht zwar der einladenden Werbesprache eines touristischen Reiseführers, doch die umworbenen Inhalte sind das Gegenteil davon. Zwar ist die Republik Molvanîen eines der kleinsten Länder Europas, doch hat sie dem anspruchsvollen Touristen viel zu bieten. Großartige Landschaften, prachtvolle neoklassizistische Architektur und Jahrhunderte der Hingabe an Kunst und Kultur sind zugegebenermaßen Mangelware. Der furchtlose Reisende wird in diesem einzigartigen, küstenfreien Nationalstaat jedoch viel zu seiner Erbauung finden – von der Hauptstadt Lutenblag mit ihrem bezaubernden Netz gasbetriebener Straßenbahnen bis zu den dichtbewaldeten Pestenwalj-Bergen im Süden, wo Besucher ein Glas hausgebrannten zeerstum [Knoblauchschnaps] genießen können, während sie zusehen, wie ein in herkömmliche Tracht gekleideter Bauer sein Maultier prügelt.10
Das Land hat einiges zu bieten – eine verschmutzte und atomverseuchte Umwelt, eine rückständige Infrastruktur, ein unübersichtliches und unsicheres Währungssystem, eine eintönige Landschaft, kaputte Toiletten, Kitsch statt Kunst, hässliche Frauen – die Liste dieser ‚Sehenswürdigkeiten‘ ließe sich noch fortsetzen. Wenn es also irgendwo einen ‚richtigen‘ Balkan gibt, dann in Molvanîen. Mit ihrem imaginären Reiseführer setzten die Autoren eine Tradition des Balkan-Phantasmas aus den 1920er Jahren fort. Hierbei ziehen Balkan-Signifikanten eine imaginäre Topographie nach sich, wie das Land „Herzoslovakia“ in Agatha Christies Roman The Secret of Chimneys (1925)11 oder „Montebianco“ in Erich von Stroheims Stummfilm-Operette Die lustige Witwe (1925).12 10
Cilauro, Santo/Gleisner, Tom/Sitch, Rob: Molvanîen. Das Land des schadhaften Lächelns. München 2005 (engl. Molvanîa. A Land Untouched by Modern Dentistry, 2003), 8. 11 Fleming, K. E.: Orientalizem, Balkan in balkansko zgodovinopisje. In: Beznec, Barbara/Kurnik, Andrej (Hrsg.): Evroorientalizem/(Z)nova medicina. Časopis za kritiko znanosti XXXVII/235-236 (2009), 16-28. 12 Koszarski, Richard: Von – The Life and Films of Erich Von Stroheim. Revised and Expended Edition. New York 2001, 171-173. Der reale Kronprinz Danilo von Montenegro protestierte gegen den Film wegen der Anspielungen auf seine Person und sein Land. Nicht nur dass sich der Hauptprotagonist des Filmes, Prinz Danilo von Montebianco, in eine Tänzerin verliebt, auch im Kampf um den Thron herrschen balkanische Verhältnisse, in denen der mörderische Racheakt die Thronbesteigung ermöglicht.
Der Balkan als Zwischenraum. Zuschreibungen aus Ost und West
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Verschiebungen auf der Landkarte, wie Fritjhof Benjamin Schenk sie an zahlreichen historischen Beispielen demonstrierte, sind im Rahmen der mentalen Kartographie kein vereinzeltes Phänomen.13 Sie betrafen historisch gesehen vor allem solche Regionen, in denen verschiedene Kulturen, Ethnien und Religionen aneinander grenzten, wie den Orient, Asien und Mitteleuropa. Besonders Edward Saids Buch Orientalism (1978) über die willkürliche westliche Verortung des Orients im Rahmen von kolonialistischen Praktiken regte weitere Studien zu beweglichen mentalen Karten an.14 Wie Hans Lemberg nachgewiesen hat, wurde Russland infolge der politischen Konstellation nach dem Wiener Kongress 1815 aus einem Land des Nordens zu einem des Ostens.15 Larry Wolff leitet in seiner Studie von 1994 die Entstehung des Toponyms Osteuropa aus dem französischen Orient-Diskurs im 18. Jahrhundert her.16 Der Begriff, der zur Zeit der Aufklärung von Voltaire als l’orient de l’Europe eingeführt worden sei,17 entzieht sich seither einer präzisen geographischen Fixierung. Laut Wolff war für die Prägung des Begriffs Osteuropa weniger der scharfe Kontrast zwischen Ost und West – wie im Falle von Saids ‚echtem‘ Orient – als vielmehr die unschlüssige Ambivalenz zwischen den beiden Polen maßgebend. Der osteuropäische Orientalismus war gegenüber dem ‚echten‘ stets ein eingeschränkter Halb-Orientalismus, dem die Vermittlerrolle zwischen dem fernen Osten Asiens und dem Westen zufiel. Doch gerade diese Unentscheidbarkeit zwischen Eigenem und Fremden machte diese Region umso unheimlicher. Erst Mitte der 1980er Jahre wurde auch in Jugoslawien selbst ein Orientalismus-Diskurs geführt. Der Hintergrund waren nationalistische Reaktionen auf die wirtschaftliche und politische Krise. Wie Milica Bakić-Hayden und Robert M. Hayden nachgewiesen haben, grenzten slowenische Politiker und Kulturschaffende um die Literaturzeitschrift Nova revija, die ein autonomes Slowenien anstrebten, sich vom „orientalischen“ Süden ab und das kommunistische Konzept der „Brüderlichkeit und Einheit“ in den anderen Teilrepubliken 13
Schenk, Frithjof Benjamin: Mental Maps. Die Konstruktion von geographischen Räumen in Europa seit der Aufklärung. In: Geschichte und Gesellschaft 28 (2002), 493-514. 14 Said, Edward: Orientalism. New York 1978 (dt. Orientalismus, Frankfurt a.M. 1981). 15 Lemberg, Hans: Zur Entstehung des Osteuropabegriffs im 19. Jahrhundert. Vom ‚Norden‘ zum ‚Osten‘ Europas. In: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 33 (1985), 48-91. 16 Wolff, Larry: Inventing Eastern Europe. The Map of Civilization on the Mind of the Enlightenment. Stanford 1994; Ders.: Die Erfindung Osteuropas. Von Voltaire zu Voldemort. In: Kaser, Karl/Gramshammer-Hohl, Dagmar/Pichler, Robert (Hrsg.): Europa und die Grenzen im Kopf (= Wieser Enzyklopädie des europäischen Ostens 11). Klagenfurt 2004, 21-34. 17 Frithjof Benjamin Schenk (2002, 499-501) hält Wolffs Datierung des Toponyms Osteuropa ins 18. Jahrhundert aufgrund der spärlichen Quellennachweise für zu früh und schließt sich Lembergs (1985) späteren Datierung am Beispiel Russlands ins frühe 19. Jahrhundert an.
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Einleitung
qualifizierten sie zudem als Strategie „orientalischer“ Ausbeutung.18 Das Streben der nordwestlichen Republiken Jugoslawiens nach der freien Marktökonomie, dem demokratischen Mehrparteiensystem und der größeren Autonomie der Republiken in der föderativen Staatsorganisation führten zum Konflikt mit der zentralistisch eingestellten kommunistischen Partei in Serbien. Indem sie den Balkan selbst in eine nordwestliche und eine südöstliche Zone spalteten, knüpften die Autoren von Nova revija und anderen Zeitschriften auch an den in Nord- und Südeuropa oder Nord- und Südamerika geführten Diskurs über das ökonomische Nord-Süd-Gefälle an. 1994, zwei Jahre nach Bakić und Hayden, hat Maria Todorova sich in einem Aufsatz dagegen gewandt, den Balkan-Diskurs als „sub-species of Orientalism“ von demselben abzuleiten.19 Den Unterschied sieht sie nicht nur im Fehlen einer kolonialen Vergangenheit (trotz vieler Analogien hegemonialer Verhältnisse auf dem Balkan mit dem Kolonialismus), sondern vor allem darin, dass auf dem Balkan Christen lebten, die sich selbst vom Orient und vom Islam abgrenzen wollten. So kennzeichnet den Balkan laut Todorova eine „Semiexistenz“ zwischen Ost und West, zwischen Christentum und Islam. Darin ähnelt ihre Balkan-Konzeption der von Larry Wolffs historischer Bestimmung des Begriffs Osteuropa. Wie für Said der Orientalismus, so ist für Todorova der Balkan bzw. die Balkanisierung in erster Linie ein Produkt westlicher Diskurse. Diesem Urteil schließt sich Slavoj Žižek an, der den Balkan sogar als das Unbewusste des Westens bezeichnet. In the last hundred years, Balkan regularly has served as a kind of blank screen on which Western Europe projected its own repressed ideological antagonisms, generating a series of fantasmatic images of Balkan. […] And insofar as the name „Balkan“ figures in the Western political fantasy space as the main embodiment of this inherent transgression, I am tempted to rephrase Lacan’s well-known dictum that the Unconscious is structured like a language. In our century, at least, the European political Unconscious is definitely structured like Balkan.20
Lacans Postulat, dass das Unbewusste wie eine Sprache (im Sinne der Saussure’schen langue) strukturiert sei, impliziert ein ursprüngliches Unbewusstes, das sich vor jeder individuellen und kollektiven Erfahrung nieder18
Bakić-Hayden, Milica/Hayden, Robert M.: Orientalist Variations on the Theme ‚Balkans‘. Symbolic Geography in Recent Yugoslav Cultural Politics. In: Slavic Review 51/1 (1992), 3-15; Dies.: Nesting Orientalism. The Case of Former Yugoslavia. In: Slavic Review 54/4 (1995), 917-993; Vgl. auch Patterson, Patrick Hyder: On the Edge of Reason. The Boundaries of Balkanism in Slovenian, Austrian, and Italian Discourse. In: Slavic Review 62/1 (2003), 110-141. 19 Todorova, Maria: The Balkans. From Discovery to Invention. In: Slavic Review 53 (1994), 453-482. 20 Žižek 1998.
Der Balkan als Zwischenraum. Zuschreibungen aus Ost und West
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schlägt.21 Als eine archaische, präsubjektive und präontologische Instanz ist das Unbewusste aus dem Strom der Geschichte herausgelöst und unveränderlich. Zugleich ordnet sich das Unbewusste – wie ein Text – den Mechanismen der metaphorischen Ersetzung und der metonymischen Verschiebung unter, die verdrängte Inhalte verdichten und verschieben. Žižek, von Lacan ausgehend, radikalisiert Todorovas These von der imaginären Struktur des Balkans, indem er das Unbewusste sogar für ein Phantasma erklärt – freilich das Phantasma des Westens. Für die Autoren des Sammelbandes Evroorientalizem/(Z)Nova Medicina (2009) ist es wiederum die Europäische Union (EU), vor deren Folie sie die Einführung eines neuen Orientalismus-Begriffs auf dem Balkan und in Osteuropa vorschlagen – den „Euro-Orientalismus“ bzw. „europäischen Orientalismus“, der sich in den Ländern verbreitete, welche die Mitgliedschaft in der EU anstrebten.22 Im Vorfeld des Beitritts zur EU, während der Phase der Verhandlungen und der Anpassungen an EU-Standards, beobachteten sie das Auftauchen einer neuen orientalistischen Rhetorik bei den Kandidatenstaaten, die dazu aufriefen, die eigenen negativen, orientalistisch-balkanischen Werte abzulegen und die ausschließlich positiv konnotierten, europäischen anzunehmen. Die Abgrenzung des Westens von dem Anderen scheint für die Theoriebildung über das Phänomen Balkan konstitutiv zu sein. Vor dieser Folie wurde und wird der Balkan zum Kollisionsort von ‚Veraltetem‘ und ‚Modernem‘, von ‚Regrediertem‘ und ‚Fortschrittlichem‘. Richtet man jedoch den Blick nach Osten, vor allem nach Russland, so findet dort ein ähnlicher Prozess statt. Während Russland selbst im Vergleich zu dem überlegenen Westen als reaktionäres Land galt,23 ist sein Verhältnis zum Balkan, insbesondere zu den Balkanslawen – zuerst als orthodoxen, später als kommunistischen ‚Brüdern‘ – komplexer und ambivalenter. Die Gespaltenheit der russischen bzw. der sowjetischen Haltung gegenüber dem Balkan tritt besonders deutlich in zwei historischen Etappen hervor, in denen vonseiten Russlands sowohl bestimmte territoriale Ansprüche formuliert als auch Gebiete einverleibt wurden. Die erste Etappe war die Zeit der panslawistischen Be21
Lacan, Jacques: Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse. Das Seminar Buch XI (1964). Textherstellung durch Jacques-Alain Miller. Übersetzt von Norbert Haas, Berlin 1994, 26f. 22 Komel, Mirt/Ilc, Blaž: Evroorientalizem. In: Beznec, Barbara/Kurnik, Andrej (Hrsg.): Evroorientalizem/(Z)nova medicina. Časopis za kritiko znanosti XXXVII/235-236 (2009), 13-15; Petrović, Tanja: A Long Way Home: Representations of the Western Balkans in Political and Media Discourses (= Mediawatch Series). Ljubljana 2009. 23 Zu Russland-Stereotypen: Wolff, Larry: Inventing Eastern Europe. The Map of Civilization on the Mind of the Enlightenment. Stanford 1994; Ders.: Die Erfindung Osteuropas: Von Voltaire zu Voldemort. In: Kaser, Karl/Gramshammer-Hohl, Dagmar/Pichler, Robert (Hrsg.): Europa und die Grenzen im Kopf (= Wieser Enzyklopädie des europäischen Ostens 11). Klagenfurt 2004, 21-34.
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wegungen und der „türkischen Frage“, als der russische Imperialismus unter dem Vorwand des Schutzes der orthodoxen ‚Brüder‘ auf dem Balkan legitimiert wurde; die zweite zur Zeit der Konstituierung des Ostblocks in der Stalin-Ära. Die unterschiedliche religiöse Zugehörigkeit der Balkanslawen zur Ost- und Westkirche sowie zu ost- oder westslawischen Schriftsystemen (kyrillisches oder lateinisches Alphabet) bot zusätzliches Potential für Inund Exklusionen. Durch die Berücksichtigung osteuropäischer, insbesondere russischer Quellen soll im vorliegenden Buch eine einfache Polarisierung entlang der OstWest-Achse vermieden werden. Dabei werden nicht nur das spezifisch ‚Östliche‘ und das spezifisch ‚Westliche‘ der Balkanprojektionen, sondern darüber hinaus auch die Durchkreuzung ihrer Antagonismen erkennbar. Denn erst die Wechselwirkung der Projektionen aus Ost und West ergibt den Balkan, der sich in einer Zone des Dazwischen, in einem dritten Raum der doppelten Abgrenzung ereignet. Im Chiasmus der Blicke von Ost und West ergibt sich auch ein Chiasmus von Sichtbarem und Artikuliertem bzw. Unsichtbarem und Verschwiegenem. Der Osten sieht, wofür der Westen blind ist und vice versa. Mit Lacan gesprochen schreibt sich der Blick des Subjekts in das wahrgenommene Objekt ein – und zwar in Gestalt eines blinden Flecks. Obwohl der Balkan eine Zone zwischen Ost und West umschreibt, ähnelt seine Struktur dennoch dem Möbiusband, in dem sich das jeweils Andere aus Ost und West berührt. Im Folgenden wird daher die Geschichte der beiden Balkan-Diskurse, des östlichen mit dem Fokus auf Russland und des westlichen mit dem Fokus auf Deutschland und Österreich, rekonstruiert und gegenübergestellt.
2. Formierung des „dritten Raumes“ 2.1. Der „dritte Raum“ als doppelte Negation: weder Ost – noch West Nur hundert Meter von der Stelle entfernt, von der aus Žižek das Symptom der Verdrängung in Ljubljana namhaft macht, führt die sogenannte Dreierbrücke (Tromostovje), ein aus drei aufeinander zulaufenden Brücken konstruiertes Trivium, über denselben Fluss. Zur älteren, mittleren Brücke (sog. Franzensbrücke, benannt nach dem österreichischen Erzherzog Karl Franz) wurden in den Jahren 1929-32 durch den slowenischen Architekten Jožef Plečnik die beiden Seitenbrücken hinzugefügt. Anstatt die alte Brücke abzureißen und eine breitere zu errichten, hatte sich Plečnik ausdrücklich für ihren Erhalt eingesetzt und damit eine symbolische Form geschaffen. In Slowenien – nach dem Zerfall der Donaumonarchie 1918 ein Teil des dreieinigen Königreichs der Ser-
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ben, Kroaten und Slowenen – wurde damit nicht nur die panslawistische Überbrückung der Unterschiede zwischen den drei südslawischen ‚Stammesbrüdern‘ (deren Staat 1929 in das Königreich Jugoslawien umbenannt wurde), sondern auch die Überbrückung der Kluft zwischen dem österreichisch geprägten Mitteleuropa und dem osmanisch geprägten Balkan symbolisiert. Seine Aufgabe als ‚Brückenbauer‘ erfüllte Plečnik bereits am Prager Schloss, das er im Auftrag des tschechoslowakischen Präsidenten Tomáš Garrigue Masaryk umgestaltet hatte.24 Er verwandelte dabei die ehemalige Habsburger Residenz des Hradschin durch die Deakzentuierung der Zentralachsen mittels neuer Tempelbauten und Seiteneingänge sowie durch das Parodieren der alten Herrschaftssymbole (z.B. das Aufstellen von Obelisken mit abgebrochener Spitze) in einen Palast der panslawischen Demokratie.25 In den 1930er Jahren verhalf er schließlich der Stadt Ljubljana zu einer nationalen und zugleich transnationalen Identitätskonstruktion.26 Dennoch folgt der balkanische „dritte Raum“ nur teilweise dem Modell der „Hybridität“ und des „dritten Raumes“ im Sinne von Homi Bhaba, in welchem Vermischung und Verflechtung von Zentrum und Peripherie, von Nationalem und Internationalem eine zentrale Rolle spielen.27 Als Effekt der doppelten Projektion, von ‚Schuss‘ und ‚Gegenschuss‘ aus Ost und West,
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Zu Plečniks Tätigkeit am Hradschin: Stabenow, Jörg: Eine kaiserliche Residenz als republikanisches Staatssymbol. Der Hradschin in Prag. In: Telesko, Werner/Kurdiovsky, Richard/Nierhaus, Andreas (Hrsg.): Die Wiener Hofburg und der Residenzbau im Mitteleuropa im 19. Jahrhundert. Monarchische Repräsentation zwischen Ideal und Wirklichkeit. Wien u.a. 2010, 205-228; Valena, Tomáš: Jenseits der Manifeste. Der Fall Josef Plečnik. In: Valena, Tomáš u.a. (Hrsg.): Prager Architektur und die europäische Moderne. Berlin 2006, 39-52; Prelovšek, Damjan: Architekt Josip Plečnik. Práce pro prezidenta Masaryka. Praha 2001. 25 Constant, Caroline: A landscape ‘fit for a democracy’. Jože Plečnik at Prague Castle (1920 - 1935). In: Birksted, Jan (Hrsg.): Relating architecture to landscape. London 1999, 120-146; Kemp, Wolfgang: Eine Akropolis der 20er Jahre. Der Umbau der Prager Burg durch Jože Plečnik. In: Zill, Rüdiger (Hrsg.): Zeugnis und Zeugenschaft (= Jahrbuch des Einstein Forums 1999). Berlin 2000, 24-51. Stabenow, Jörg: Städtebau und nation-building. Zur urbanen Konstruktion nationaler Identität am Beispiel der Arbeit Jože Plečniks in Prag und Ljubljana. In: Uměni 53/2 (2005), 127-141. 26 Zu Plečniks Tätigkeit in Ljubljana, Belgrad und Split: Prelovšek, Damjan: The architect Jože Plečnik. In: Lahoda, Vojtěch (Hrsg.): Local strategies, international ambitions. Modern art and Central Europe 1918-1968. Praha 2006, 71-76; Mansbach, Steven: Jože Plečnik and the landscaping of modern Ljubljana. In: Centropa 4 (2004), 110-120; Mihelič, Breda: Prešernov trg v Ljubljani. In: Zbornik za umetnostno zgodovino 35 (1999), 94-131. 27 Rath, Gudrun: „Hybridität“ und „Dritter Raum“. Displacements postkolonialer Modelle. In: Eßlinger, Eva/Schlechtriemen, Tobias/Schweizler, Doris/Zons, Alexander (Hrsg.): Die Figur des Dritten. Ein kulturwissenschaftliches Paradigma. Frankfurt a.M. 2010, 137-149.
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entstehen im Balkan kulturelle „Schnittstellen“ und „Zwischenräume“.28 Während die Schnittstelle einen Riss bzw. einen Kollisionsort von Projektionen impliziert (tertium non datur), formiert sich im Zwischenraum ein verräumlichtes Drittes (tertium datur). Während am Ort der kulturellen Schnittstellen oft unversöhnliche Leerstellen (wie z.B. im Kosovo) hervortreten, entstehen im Zwischenraum durch Unentscheidbarkeit und schwankende Perspektivierung Heterotopien und Anachronismen (wie z.B. in Bosnien und der Herzegowina). Erfolgt die Überwindung unterschiedlicher Perspektivierungen an den Schnittstellen plötzlich und abrupt durch die „Vernähung“29 disparater Einheiten, die Brüche offen lassen und Narben verursachen, dann sind Zwischenräume Orte der Passagen, des allmählichen Übergangs und der Nachbarschaft. Grenzen ziehen und Brücken bauen, sowohl imaginäre als auch reale, gehörte und gehört daher zum zentralen Verfahren der Konstituierung des Balkans. Besonders Brücken, seien es reale, wie die von Mostar, oder literarische, werden zu diskursiven Orten, an denen verschiedene kulturelle Projektionen aufeinander stoßen und ausgehandelt werden.30 Doch auch Zwischenräume auf dem Balkan entstehen nur scheinbar nach dem Prinzip der Vermischung und Synthese. Jahrhunderte lang war der Balkan ein Niemandsland, eine umkämpfte Pufferzone, an der die Grenzen der drei Imperien, der Donaumonarchie, des Osmanischen Reiches und Russlands aufeinandertrafen. Wurde in Westeuropa, wie etwa in Frankreich, Deutschland und Italien, der „assoziative Weg“ zum Nationalstaat im 19. Jahrhundert zum Telos der Geschichte erhoben, so wurde demgegenüber der „dissoziative Weg“ auf dem Balkan31 – der sich 28
Zur Gestaltung von Schnittstellen und Zwischenräumen vgl.: Bronfen, Elisabeth: Vorwort. In: Bhabha, Homi K.: Die Verortung der Kultur (= Stauffenburg Discussion. Studien zur Inter- und Multikultur 5). Deutsche Übersetzung von Michael Schiffmann und Jürgen Freudl. Tübingen 2000, IX; Goffman, Erving: Rahmen-Analyse. Ein Versuch über die Organisation von Alltagserfahrung. Frankfurt a.M. 1977; Kolokitha, TriasAfroditi: Im Rahmen. Zwischenräume, Übergänge und die Kinematographie Jean-Luc Godards. Bielefeld 2005; Brunnbauer, Ulf/Helmedach, Andreas/Troebst, Stefan (Hrsg.): Schnittstellen. Gesellschaft, Nation, Konflikt und Erinnerung in Südosteuropa. Festschrift für Holm Sundhaussen zum 65. Geburtstag. München 2007. 29 Zum Begriff der Vernähung (suture): Pabst, Manfred: Bild – Sprache – Subjekt. Traumtexte und Diskurseffekte bei Freud, Lacan, Derrida, Beckett und Deleuze/Guattari. Würzburg 2004, 82ff. 30 Zimmermann, Tanja: Bosnische Brücken als Naht der Kulturen. In: Makarska, Renata/ Schwitin, Katharina/Kratochwil, Alexander/Werberger, Anette (Hrsg.): Kulturgrenzen in postimperialen Räumen. Bosnien und Westukraine als transkulturelle Regionen. Bielefeld 2013, 301-334. 31 Zum dissoziativen Weg zum Nationalstaat in Südosteuropa und dem damit verbundenen Begriff der „Balkanisierung“: Lemberg, Hans: Unvollendete Versuche nationaler Identitätsbildung im 20. Jahrhundert im östlichen Europa. Die ‚Tschechoslowaken‘, die ‚Jugoslawen‘, das ‚Sowjetvolk‘. In: Berding, Helmut (Hrsg.): Nationales Bewusstsein und kollektive Identität. Studien zur Entwicklung des kollektiven Bewusstseins in der
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auch in der oft vorkommenden pluralischen Form des Namens spiegelt (fr. les Balkans, engl. the Balkans, russ. Balkany) – als Sackgasse herabgewürdigt. Der andernorts in Europa und Amerika gepriesene Prozess des nation building wurde auf dem Balkan als missglücktes Derivat des westlichen assoziativen Prozesses angesehen, der nicht in die Autonomie, sondern in ihre Verkehrung, in die Heteronomie, führt. Erst durch die Schwächung und schließlich den endgültigen Zerfall des Osmanischen und des Habsburger Reiches konnten die Ansprüche der Südslawen auf Eigenstaatlichkeit realisiert werden. Dieser Prozess ging schrittweise vor sich. Nach dem Berliner Kongress 1878 wurden zuerst Serbien, Montenegro und Bulgarien gegründet, die sich im Serbisch-Bulgarischen Krieg 1885-86 und im zweiten Balkan-Krieg 1913 wiederum als Konkurrenten um das Territorium gegenüber standen. 1918 entstand unter der Vormachtstellung Serbiens das Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen, das 1929 ins Königreich Jugoslawien umbenannt wurde, um eine homogene Identität der südslawischen Völker aufzubauen.32 „Zwischeneuropa“ – so die neu etablierte Bezeichnung für das Territorium der Mitte, auf dem aus den zerfallenen Imperien neue Nationalstaaten gegründet worden waren – kam nach dem Zweiten Weltkrieg in die sowjetischen Einflusszone und geriet zwischen 1949 und 1951 durch zwischenstaatliche Verträge vollkommen in die sowjetische Machtsphäre (als sogenannte „Satellitenstaaten“). Ein Teil davon beanspruchte der Partisanenanführer Josip Broz Tito für die Gründung eines zweiten, ‚neuen‘ Jugoslawiens. Die Unfähigkeit der Supermächte, gegeneinander Krieg zu führen oder aber Frieden miteinander zu schließen, gab den Ausschlag zur Bildung des spezifisch bipolaren Arrangements des „Gleichgewichts des Schreckens“.33 Ihr Verharren in der Statik dieses Gleichgewichts führte zur Entstehung eines Machtvakuums an den äußersten Grenzen ihrer EinflusssphäNeuzeit 2. Frankfurt a.M. 1994, 581-607, hier 603; Ders.: Der Versuch der Herstellung synthetischer Nationen im östlichen Europa im Lichte des Theorems von NationBuilding. In: Lemberg, Hans/Heumos, Peter (Hrsg.): Das Jahr 1919 in der Tschechoslowakei und in Ostmitteleuropa (= Formen des nationalen Bewusstsein im Lichte zeitgenössischer Nationalismustheorien. Vorträge der Tagung des Collegium Carolinum in Bad Wiessee vom 31. Oktober bis 3. November 1991, Hrsg. Eva Schmidt-Hartmann). München 1994, 145-162; Sundhaussen, Holm: Die Dekonstruktion des Balkanraums (1870 bis 1913). In: Lienau, Cay (Hrsg.): Raumstrukturen und Grenzen in Südosteuropa (= Südosteuropa-Jahrbuch 32, Hrsg. Gernot Erler). München 2001, 19-41. 32 Zur Vorgeschichte von Tito-Jugoslawien und zur Idee des Jugoslawismus im Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen bzw. dem Königreich Jugoslawien: Rusinow, Dennison. The Yugoslav Idea before Yugoslavia. In: Djokić, Dejan (Hrsg.): Yugoslavism. Histories of a Failed Idea 1918-1992. London 2002, 11-26; Pavlowitch, Kosta St.: The First World War and the Unification of Yugoslavia. In: Djokić (Hrsg.) 2003, 27-41. 33 Mastny, Vojtech/Schmidt, Gustav: Konfrontationsmuster des Kalten Krieges 19461956 (= Entstehung und Probleme des Atlantischen Bündnisses bis 1956, 3, Hrsg. Norbert Wiggershaus/Dieter Krüger). München 2003, 11.
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ren. Tito nutzte diese Situation aus, um ab 1945 – anfänglich mit Stalins Zustimmung – die Gründung einer Balkanföderation der kommunistischen Staaten im Südosten Europas nach dem Vorbild der Sowjetunion voranzutreiben.34 Das ehemalige Niemandsland im Zwischenraum der Imperien wurde nun zum neutralen Gebiet, zu einem Drittstaat.35 Spätestens seit dieser Zeit war der balkanische ‚dritte Raum‘ nicht nur ein Phänomen an der Peripherie, in die die Hegemonien anderer medialer Kulturen nicht hineinreichten. Vielmehr entstand dort eine neue, homogene mediale Kultur und Identität in einem Dazwischen. Die Herausbildung des Zwischenraumes erfolgte folgerichtig nicht als Synthese von Ost und West, sondern vielmehr in der Verneinung beider als doppelte Negation. In Narrativen der Drittheit und des Dazwischen, die sich der Metapher des Insularen, des Archipels36 oder gar des dritten Kontinents37 bedienten, mutierte der jugoslawische Sozialismus zur Neo-Avantgarde des Marxismus. Begründet wurde er mythisch-historisch als Erbe der bogomilischen Häresie, die bereits im Mittelalter der Ost- und der Westkirche den Rücken gezeigt haben soll.38 Die Grenzziehungen aus Ost und West wurden zu einer stets widersprüchlichen, ja auf der Hyperkompensation des Widerspruchs beruhenden Identität im balkanischen ‚dritten Raum‘ arrondiert. Das Negative aus der Sicht von Ost und West avancierte auf dem Balkan zu einer affirmativen Identität der summa partiorum, zu einer Balkan-Ideologie der Drittheit auf der Grundlage der negativen Theologie (weder – noch), die nach dem Bruch mit Stalin 1948 als „dritter Weg“ und nach der Gründung der Bewegung der Blockfreien 1956 politisch instrumentalisiert wurde. Die in Ost- und Westeuropa zirkulierenden, kulturellen Imaginationen des Unbewussten und Verdrängten, die auf verschiedene Balkanregionen projiziert worden waren, wurden in den Dienst der eigenen Identitätsstiftung gestellt. In diesem Prozess wurden negative Projektionen aus Ost und West nach dem Prinzip des Kippeffekts (und nicht des allmählichen Übergangs oder der Synthese) zur positiven Identifikation. Die Fragmentierung wurde zur jugoslawischen summa partiorum der „Brüderlichkeit und Einheit“, die Rückständigkeit zum neoprimitivistischen
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Zur Umgestaltung Jugoslawiens nach sowjetischem Vorbild: Gibijanskij, Leonid Ja.: Sovetskij Sojuz i Novaja Jugoslavija. 1941-1947gg. Volkov, V. K. (Hrsg.). Moskva 1987. 35 Zum Übergang der Niemandsländer in neutrale Drittländer vgl. Schroer, Markus: Räume, Orte, Grenzen. Auf dem Weg zu einer Soziologie des Raums. Frankfurt a.M. 2006, 188f. 36 Petzer 2011, 108f., 112f. 37 Zimmermann, Tanja: Novi kontinent – Jugoslavija. Politična geografija „tretje poti“. In: Zbornik za umetnostno zgodovino. Archives d’histoire de l’art, n. s. XLVI, Ljubljana 2010, 165-190; Dies.: Jugoslawien als neuer Kontinent – politische Geographie des „dritten Weges“. In: Jakiša/Pflitsch (Hrsg.) 2012, 73-100. 38 Zimmermann, Tanja: Titoistische Ketzerei. Die Bogomilen als Antizipation des “dritten Weges” Jugoslawiens. In: Zeitschrift für Slawistik 55/4 (2010), 445-463.
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sozialistischen Paradies, der balkanische Hajduk-Räuber zum sich aufopfernden Partisan umgedeutet.39 Nach Titos Tod im Jahre 1980, als die Bewegung der Blockfreien an politischer Bedeutung verloren hatte und die allmähliche Abweichung vom multikulturellen Ideal der „Brüderlichkeit und Einheit“ begann, verloren die jugoslawischen Mythologeme unter dem Einfluss nationalistische Konstruktionen an Bedeutung. Emblematisch für die Phase des Zerfalls Jugoslawiens ist der Mythos von der Schlacht auf dem Amselfeld, der vom Narrativ der südslawischen Einigung im Vorfeld der Gründung des ersten multinationalen südslawischen Staates 1915 zum Narrativ der Desintegration im Vorfeld des Zerfalls 1988-89 transformiert wurde. Auch in diesem Fall griff man den alten orientalistischen Balkan-Diskurs auf und setzte die bosnischen Muslime mit den türkischen Eroberern aus dem Mittelalter gleich. Seit dieser Zeit war die Homogenität des Heterogenen auf dem Balkan nur noch retrospektiv und von außen, für die im ‚Exil‘ lebenden ex-jugoslawischen Kunstschaffenden, wie Dubravka Ugrešić,40 Slavenka Drakulić41 und Dragan Velikić42 möglich.
2.2. Dritte Identität als doppelter Ausschluss Die auf dem Balkan lebende Bevölkerung, die keine homogene sprachliche, ethnische, religiöse und geschichtliche Zugehörigkeit besaß, wurde für identitätslos gehalten. Obwohl der österreichische Publizist Hermann Bahr nach einem Krankenaufenthalt im nebeligen Konstanz seine wundersame Genesung der sonnigen dalmatinischen Küste zuschrieb, sah er die multinationale Zugehörigkeit der dortigen Bevölkerung als einen Kampf verschiedener Identitäten an. Das politische Taktieren der alten, angesehenen Patrizierfamilie Tartaglia aus Split zwischen Venedig und dem Osmanischen Reich43 gestaltet sich für Bahr als generationenlang andauernde Identitätskrise. Das nationale Erwachen des jüngsten Mitglieds Ivo Tartaglia (1880 – 1949), der sich unter dem Einfluss des Neoslawismus in Prag zum kroatischen Slawentum bekannte, wird als Streit mit den Vorvätern beschrieben. 39
Zimmermann, Tanja: From the Haiducks to the Bogomils. Transformation of the Partisan Myth after World War II. In: Wurm, Barbara (Hrsg.): Kino! 10: Partizanski film. Ljubljana 2010, 62-70. 40 Vgl. My American Fictionary (1993); Die Kultur der Lüge (1995); Das Museum der bedingungslosen Kapitulation (1998); Das Ministerium des Schmerzens (2005). 41 Vgl. Keiner war dabei (2004). 42 Vgl. Der Fall Bremen (2002); Lichter der Berührung (2005). 43 Zur Familie Tartaglia vgl.: Jakir, Aleksandar: Dalmatien zwischen den Weltkriegen. Agrarische und urbane Lebenswelt und das Scheitern der jugoslawischen Integration (= Südosteuropäische Arbeiten 104). München 1999, 257-259.
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Die Tartaglias sind einst auf einem Kastell da droben irgendwo gesessen. Da waren sie Kroaten. Da haben sie mit den Türken gerauft. Ein Türkenschädel wird in der Familie noch aufbewahrt. Dafür wurden sie zu venezianischen Grafen gemacht. So waren sie plötzlich Italiener. Bis dann dieser hier, der Ivo, nach Prag kam, da besann er sich eines Tages und entdeckte wieder, dass sie Kroaten sind. […] Anderswo hat es der Nachkomme leicht, das Erbe der Väter anzutreten, denn es enthält einen einzigen Willen und überall denselben Sinn. In uns aber rufen hundert Stimmen der Vergangenheit, der Streit der Väter ist noch nicht ausgetragen, jeder muss ihn aufs Neue noch einmal entscheiden, jeder muss zwischen seinen Vätern wählen, jeder macht an sich alle Vergangenheit noch einmal durch. Denn die Vergangenheit unserer Menschen hat dies, dass keine jemals abgeschlossen worden ist, nichts ist ausgefochten worden, der Vater weicht vor dem Sohn zurück, aber im Enkel dringt er wieder vor, niemand ist sicher, jeder fühlt sich entzweit, unseren Menschen ist zu viel angeboren. […] Aus den bosnischen Tartaglias, die dort in den Bergen gegen die Türken standen, und den italienischen Tartaglias, die gräflich in venezianischen Sitten schwelgten, nun einen gemeinsamen Tartaglia zu machen, der jene mit diesen so verschmilzt, dass beide sich in ihm erfüllen, ist das Problem des heutigen Tartaglia.44
Auch der aus Kärnten stammende österreichische Schriftsteller Peter Handke beschreibt die Erkenntnis über die eigene slowenische Herkunft in seiner Schrift Abschied des Träumers vom Neunten Land. Eine Vergänglichkeit, die vergangen ist. Erinnerung an Slowenien (1991) als Erschütterung der Identität, als einen Übergang von Jemandem zu Niemandem. Im Laufe der Jahre, vor allem aber wohl, indem ich Bilder bekam, erzählt bekam von den slowenischen Vorfahren, wurde das anders, wie es natürlich ist (oder natürlich sein sollte). Ein „Slowene“ jedoch wurde ich nie, nicht einmal, obwohl ich die Sprache inzwischen halbwegs lesen kann, ein „halber“; wenn ich mich heutzutage in so etwas wie einem Volk sehe, dann in jenem der Niemande – was zeitweilig heilsam sein kann, zeitweise heillos ist (in den Momenten, da ich mir selbst die Zusammengehörigkeit der über den Erdball streunenden Niemande nicht mehr einbilden kann).45
Im angespannten multinationalen Ambiente an den Rändern des Balkans formierte sich weniger ein hybrider „dritter Raum“ der Verhandlung zwischen Eigenem und Fremden, in dem rigide Oppositionen aufgelöst oder wenigstens destabilisiert werden,46 als vielmehr ein dritter Raum des doppelten Ausschlusses. Eine solche Identität beschreibt der slowenische Schriftsteller Boris Pahor in seinem Roman Piazza Oberdan (2008), der nach dem italienischen Irredentisten Guglielmo Oberdan benannt wurde.47 44
Bahr, Hermann: Dalmatinische Reise (= Hermann Bahr. Kritische Schriften in Einzelausgaben, Hrsg. Claus Pias), Hrsg. Gottfried Schnödl. Weimar 2012, 71f. 45 Handke, Peter: Abschied des Träumers vom Neunten Land. Eine Vergänglichkeit, die vergangen ist. Erinnerung an Slowenien. Frankfurt a.M. 1991, 11. 46 Bhaba 2000. 47 Pahor, Boris: Piazza Oberdan. Aus dem Slowenischen von Reginald Vospernik. Klagenfurt-Wien 2009, 9f.
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Die Geschichte des Marktes in Triest leitet Pahor mit der Aufdeckung der wahren Herkunft Viljem Oberdanks ein, des unehelicher Sohnes einer slowenischen Magd, Marija Jožefa Oberdank aus Görz, und eines Italieners aus Venetien. Nach dem Studium in Wien, das ihm sein österreichischer Ziehvater ermöglichte, schloss er sich in Triest der Irredenta-Bewegung an und versuchte 1882 anlässlich des 500-jährigen Jubiläums der habsburgischen Herrschaft in Triest, ein Attentat auf Kaiser Franz Joseph I. auszuüben. Zum Tode verurteilt wurde er für die Italiener zu einer nationalen Märtyrerfigur. Nicht der Mangel an Identität, sondern eine hyperkompensatorische, extremistische Identität machte aus Oberdank bzw. Oberdan einen Nationalisten. Ähnliches gilt auch für den Nationalsozialisten Odilo Globočnik (19041945), der mit dem Programm der rassischen Säuberung im Osten beauftragt war und zuletzt das Konzentrationslager Risiera di San Sabba in Triest verwaltete. Auch er stammte väterlicherseits aus dem slowenischen Tržič, mütterlicherseits aus dem Banat,48 entschied sich nach dem Prinzip des doppelten Ausschlusses jedoch für eine nationalsozialistische Identität. So erweisen sich die dritten Räume auf dem Balkan weniger als Orte der Vermischung, als vielmehr als Orte der doppelten Negation. Es geht weniger um Identitätslosigkeit, als vielmehr um extreme Bejahung einer dritten Identität.
3. Figuren des Sekundären 3.1. Vom Toponym zum Eponym Im Vergleich zum Begriff Osteuropa machte der Begriff Balkan eine viel radikalere Entwicklung durch. Das Toponym wurde weder einer slawischen noch einer anderen westeuropäischen Sprache, sondern dem Türkischen entnommen. Er bezeichnete ursprünglich jene Bergkette, die Bulgarien und den östlichen Teil Serbiens durchzieht. In der griechischen, lateinischen und in den südslawischen Sprachen trug er hingegen einen anderen Namen – griechisch Haimos, lateinisch Haemus, im Bulgarischen und Serbischen Stara Planina (Alte Alm).49 Erst im Laufe des 19. Jahrhunderts hat man in Europa nach dem Vorbild der Apenninen- oder der Pyrenäenhalbinsel den Namen des Gebirgszugs auf die gesamte Halbinsel und damit auf die anderen Länder Südosteuropas übertragen. Es bleibt dabei unklar, ob der Balkan die Balkanhalbinsel vom Rest Europas abtrennt (wie die Pyrenäen Spanien und Portugal), oder ob er das Territorium durchzieht (wie die Apenninen Italien). 48 49
Rieger, Berndt: Creator of Nazi Death Camps. London 2007. Zum Ursprung des Toponyms, seinen Konnotationen und seinem Wandel seit dem frühen 19. Jahrhundert: Todorova 1994; [1997] 1999, 41-62; Goldsworthy 1998, 3-13; Mazower, Mark: Der Balkan. Berlin 2007², 25-32.
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Das Balkangebirge ist nur eines von vielen Gebirgen in Südosteuropa und erstreckt sich nur über einen kleinen Teil jener Region, nämlich über Bulgarien und das östliche Serbien. In einem relativ kurzen Prozess der Bündelung verschiedener Diskurse über den Balkan wurde der Name seit dem 19. Jahrhundert diversen Referenten in Südosteuropa angeheftet. Er reichte von der Adria bis zum Schwarzen Meer, von Ungarn über das Slawentum bis zum griechischen Freiheitskampf, von den Grenzregionen des Katholischen und des Orthodoxen bis zum Islam an den undeutlichen Außengrenzen Europas. Wie Homi Bhabha – ausgehend von Benedict Andersons Imagined Communities (1983) – die konstitutive Macht der Narrative bei der Konstruktion von Nationen nachwies,50 so ist auch der Balkan Ergebnis von Text- und Bildnarrativen. In einer imaginären kulturellen Topographie bezeichnet der Begriff einerseits eine geographisch unklar umrissene, verschiebbare und ausdehnbare Region. Andererseits bündelt er wie ein Adjektiv eine Gruppe negativer kultureller Merkmale, die in Reiseberichten, literarischen Werken, in der Presse, aber auch in historischen und politischen Schriften bestimmten Ländern zugeschrieben wurden. Während sich die Reiseberichte vor dem Berliner Kongress 1878 meist noch auf einzelne Regionen (Istrien, Dalmatien) oder Länder (Serbien, Bosnien und Bulgarien) bezogen, so wurde das Gebiet Ende des 19. Jahrhunderts trotz der neu errungenen Eigenstaatlichkeit einzelner Nationen immer häufiger zu einer Einheit unter dem Namen Balkan zusammengefasst.51 Unterschiedliche negative Merkmale fanden in der Sammelbezeichnung Balkan zu einer Einheit. Zu seinen feststehenden Attributen gehörten Rechtslosigkeit (Räuberei, Blutfehden, Terror, Kriegsgrausamkeiten), gegenseitiger Hass der Nationen bis hin zum Massaker.52 In den 50
Bhabha, Homi K.: Introduction. Narrating the nation. In: Ders. (Hrsg.): Nation and Narration. London-New York 2006 [1990], 1-7. 51 Thomson, Harry Craufuird: The outgoing Turk. Impressions of a journey through the western Balkans. London 1897, X. “I have used the expression, ‘through the Western Balkans’, to describe my journey, because the people, alike in Bosnia, in the Herzegovina, in Dalmatia and in Montenegro, call their hills, not as we do on our maps, the Julian, Illyrian or Dinaric Alps, but simply, ‘The Balkans’, the Turkish word for forestcovered mountains.”; Curtis, William Eleroy: The Turk and his lost provinces. Greece, Bulgaria, Servia, Bosnia. London-Edinburgh 1903, 13. “The next battle-ground of Europe, like the last, will be the so-called Balkan Peninsula, comprising a group of petty states lying south of Austria-Hungary, bounded on one side by the Adriatic, on the other by the Black Sea, and on the south by the Aegean Sea. It is one of the most primitive, yet one of the first settled sections of Europe, where kings and queens and courts shone resplendent in ermine and jewels when Germany, Great Britain and France were still overrun by barbarians.” 52 Vgl. Anonym: The near East. The present situation in Montenegro, Bosnia and Servia, Bulgaria, Roumania, Turkey, and Macedonia. Illustrated by photographs by the author and princess Xenia of Montenegro. New York 1907, 19. “I wanted to see the Balkans as they really are, those great, wild, mountainous countries, so full of race hatreds, of po-
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1920er Jahren wurde durch das Suffix -isierung (engl. -isation, russ. -izacija) der Neologismus Balkanisierung geprägt.53 Darunter verstand man die Zersplitterung von Vielvölkerstaaten zu kleinen, sich feindlich gegenüberstehenden Nationalstaaten. Aus dem Toponym Balkan wurde ein Eponym Balkan bzw. Balkanisierung für stigmatisierte Regionen, das wie eine Metapher auf andere unsichere Gegenden übertragen wurde. Ein Beispiel dafür ist der Reisebericht von Colin Ross Der Balkan Amerikas. Mit Kind und Kegel durch Mexiko zum Panamakanal (Leipzig 1937), in dem der Begriff Balkan sogar für den südamerikanischen Kontinent verwendet wird. Umgekehrt wurde Jugoslawien während der Zerfallskriege in den 1990er Jahren als „zweites Beirut“ bezeichnet.54 Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die Bezeichnung Balkan aus dem politischen Vokabular verdrängt. Während des Bestehens von Tito-Jugoslawien ersetzten die Bezeichnungen der „dritte Weg“ und seit der ersten Gipfelkonferenz der Blockfreien 1961 in Belgrad die „dritte Welt“ den Begriff Balkan. Das „Balkanische“ Bulgariens, Rumäniens und Albaniens ging im Ostblock bzw. im Kommunismus auf, das „Balkanische“ Griechenlands verlor sich in der NATO-Allianz. Nach dem Zerfall Jugoslawiens in den Kriegen der 1990er Jahre, der aufgedeckten Korruptionsfälle in Bulgarien 2008 und dem Staatsbankrott Griechenlands 2009 ist auch der westliche Balkan-Diskurs wiederbelebt. Seit dem Beginn des neuen Milleniums etablierte sich der Name „Westbalkan“ für die Länder auf dem Balkan, die in ihren Reformbemühungen dem Vorbild der EU folgten, jedoch noch nicht der EU beigetreten sind, wie etwa noch nicht zur EU gehörende Länder des ehemaligen Jugoslawien und Albanien. Wie Tanja Petrović beobachtet, beinhaltet auch dieser Name im ersten Jahrzehnt des neuen Millenniums koloniale Implikationen, wie Infantilität, infolge derer der EU eine paternale, erzieherische Rolle zugeschrieben wird.55 Der Name „Balkan“ und seine Derivate stehen also nicht am Anfang, sondern am Ende der diskursiven Prozesse – als deren sekundäres, abgeleitetes Produkt.
litical bickerings, of fierce blood-feuds, of feverish propagandas – those nations with their interesting monarchs and their many mysteries.” 53 Todorova 1994. 54 Jakiša, Miranda/Pflitsch, Andreas: Verhandlung von Zugehörigkeit in den Künsten fragmentierter Kulturen. In: Dies. 2012, 7-13, hier 8. 55 Petrović, Tanja: A Long Way Home. Representations of the Western Balkans in Political and Media Discourses (= Mediawatch Series). Ljubljana 2009; Dies.: The Idea of Europe or Europe without Ideas? – Discourses on the Western Balkans as a Mirror of Modern European Identity. In: Fassmann, Heinz/Müller-Funk, Wolfgang/Uhl, Heidemarie (Hrsg.): Kulturen der Differenz – Transformationsprozess in Zentraleuropa nach 1989. Transdisziplinäre Perspektiven. Göttingen-Wien 2009, 137-147.
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3.2. Parergon: am Rand von Text- und Bildnarrativen Als Sackgasse, die von den Hauptwegen der Geschichte wegführt, wird der Balkan in literarischen und visuellen Narrativen sowohl zum locus für verbannte ethisch-moralische, religiöse, soziale und politische Gestalten, als auch für deren jeweiligen entsprechenden Themen. Er wird zum Vehikel der mehr oder weniger kryptischen Doppeldiskurse über Identität und Alterität. In der Urszene der Psychoanalyse nehmen gerade Bosnien und die Herzegowina bei Sigmund Freud einen zentralen Platz ein. In zwei selbstanalytischen Schriften „Zum psychischen Mechanismus der Vergesslichkeit“ (1898) und „Über das Vergessen von Eigennamen“ (1901) wird der Balkan zum Keim des 1920 benannten Todestriebs.56 Damit verlässt der Balkan die Ebene der verfestigten Stereotype57 und wächst zum dynamischen, nicht mehr eingrenzbaren Phantasma an.58 In Reiseberichten, literarischen Werken und in der bildenden Kunst, in der Presse, aber auch in historischen und politischen Schriften avancierte der Balkan zu einem Ort, an dem sich verschiedene Begriffe des Sekundären manifestierten – in Form des Nachgeahmten, des Abgeleiteten, des Retardierten, des Nachträglichen und des Simulakralen. Singuläre, autobiographische Erlebnisse schreiben sich wie Iterationen in das kollektive Erlebnis des Balkans ein und aktualisieren ihn immer wieder aufs Neue. Kriege auf dem Balkan werden als Wiederholungen früherer Kriege dargestellt, ihre Begründung stets aus Vergangenem und aus zirkulierenden Mythologemen geschöpft. Der Bosnien-Krieg gilt als empirische Bestätigung für Baudrillards Theorie der Simulakren. In literarischen Narrativen führt der Diskurs über den Balkan sogar ins Abstruse, ins Wiederholende und Zirkuläre, wie etwa in den Sujets der absurden Literatur der 1930er und 1940er Jahre. Bereits vor Sigmund Freud wird der Balkan bei den russischen Klassikern wie Aleksandr Puškin, Michail Lermontov, Fedor Dostojevskij, Ivan Turgenev und Lev Tolstoj, bei einigen österreichischen Schriftstellern mit ausgeprägtem Lokalkolorit wie Joseph Roth, Heimito von Doderer und Peter 56
Zimmermann, Tanja: Rituals of (Un)veiling: Orientalism and the Balkans. In: Reiche, Claudia/Sick, Andrea (Hrsg.): Do not exist: Europe, Woman, Digital Medium. Bremen 2008, 133-154. 57 Zur Ausbildung von Balkanstereotypen vgl.: Sundhaussen, Holm: Europa balcanica. Der Balkan als historischer Raum Europas. In: Diskussionsforum Geschichte und Gesellschaft. Zeitschrift für historische Sozialwissenschaft 25 (1999), 626-653. 58 Zum Funktionieren der Phantasma vgl.: Lachmann, Renate: Erzählte Phantastik. Zu Phantasiegeschichte und Semantik phantastischer Texte. Frankfurt a.M. 2002; Žižek, Slavoj: Die Pest der Phantasmen. Die Effizienz des Phantasmatischen in den neuen Medien (= Passagen XMedien). Aus dem Englischen von Andreas Leopold Hofbauer. Hrsg. Peter Engelmann. Wien 1997.
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Handke sowie in zahlreichen Abenteuer-, Spionage- und Kriminalromanen59 zum Platzhalter des Verdrängten, das durch das Schwinden kohärenter Textund Bildstrukturen markiert wird. Wenn man in literarischen Texten über jene Zone spricht – und zwar sowohl in den ost- als auch in den westeuropäischen Literaturen – dann mündet das Narrativ oft in die Arabeske, in oxymorale oder paradoxale Äußerungen, in fremde, dem Leser unverständliche Sprache, in Versprecher, in Paratext, ins Non-Verbale, ins Schweigen oder gar in den Ausstieg aus dem Text. Visuelle Repräsentationen des Balkans und damit die Verfestigungen des mentalen Bildes auf verschiedenen medialen Trägern, bewegen sich an der Grenze der Sichtbarkeit. Sie erzeugen durch unterschiedliche Strategien der Verschleierung optische Täuschungen, Überblendungen, Mimikry und ornamentale Strukturen. Was vom Balkan zu sehen ist, sind sekundäre Spuren,60 Symptome und Restbestände, die sich in Palimpsesten übereinander legen oder als erstarrte Pathosformeln immer wieder neu animiert werden.
3.3. Der Balkan als mediales Phantasma Die Kriege, die zum Zerfall Jugoslawiens führten, die Korruptionsskandale in Bulgarien, Rumänien und Slowenien innerhalb der EU und der Staatsbankrott Griechenlands brachten das bedeutungsgeladene Toponym Balkan in Begleitung von pejorativen Adjektiven und Verben wieder auf. Während sich der Balkan im Laufe der Geschichte seiner Ausdehnungen und Schrumpfungen einer Lokalisierung immer wieder entzog, ist er unter zeitlichem Gesichtspunkt stets präsent und verweigert sich der Vergänglichkeit.61 Dieser Prozess deutet nicht nur auf die Resistenz der alten Balkanstereotype hin, sondern auch auf die mediale Strukturiertheit des Balkans, der als beweglicher Signifikant der 59
Z. B. Jules Vernes Mathias Sandorf (1885), Karl Mays Romane In den Schluchten des Balkans und Durch das Land der Skipetaren (1892), Agatha Christies Die Memoiren des Grafen (1925), Graham Greens Orientexpress (1932), Eric Amblers Anlass zur Unruhe (1938), Julian Semenovs Roman Die Alternative (1978) über den sowjetischen Spion Isaev-Štirlic im Zweiten Weltkrieg, Boris Akunins historischer Spionageroman Türkisches Gambit (1998) über den russisch-türkischen Krieg 1877-78, Dimitrij Čerkasovs Roman-Zyklus Die Nacht über Serbien, Der balkanische Tiger, Das Amselfeld. Der Balkan, Das Amselfeld. Russland (2001). 60 Zur Sekundarität der Spuren in der Phänomenologie: Waldenfels, Bernhard: Spiegel, Spur und Blick. In: Boehm, Gottfried (Hrsg.): Homo Pictor (= Colloqium Rauricum 7). München-Leipzig 2001, 14-31, hier 24. Zur Nachträglichkeit der Spur in der Psychoanalyse: Gondek, Hans-Dieter: ‚La séance continue‘. Jacques Derrida und die Psychoanalyse. In: Derrida, Jacques: Vergessen wir nicht – die Psychoanalyse! Herausgegeben, übersetzt und mit einem Nachwort von Hans-Dieter Gondek. Frankfurt a.M. 1998, 179-234, hier 210ff. 61 Zimmermann, Tanja: Introduction. In: Dies. (Hrsg.): Balkan Memories. Media Costructions of National and Transnational History. Bielefeld 2012, 11-30.
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Text- und Bildnarrative ständig aktualisiert und re-medialisiert wird. Als solcher verweist er oft nicht mehr auf den Referenten, sondern zirkulär auf andere mediale Einschreibungen der Ausnahmezustände, Krisen und Kriege. In den Kriegen um den Zerfall Jugoslawiens in den 1990er Jahren wurde durch die Analogiebildung zwischen Ungleichem (dem Kampf gegen das Osmanische Reich oder gegen die Nazi-Kollaborateure im Zweiten Weltkrieg) einerseits die Performanz der Kriegsbilder verstärkt, andererseits ihre Aktualität suspendiert.62 Kriegsphotos wurden von ihren aktuellen Referenzen abgekoppelt und verwiesen in einem Spiel der Ähnlichkeit auf andere, frühere historische oder gar fiktionale Bilder (filmische Darstellungen der Shoah, das ikonographische Repertoire der religiösen Malerei usw.). Solche Manipulationen des Informationsmaterials wurden oft als ein Phänomen der 1990er Jahre interpretiert (z.B. Baudrillards Theorie des Simulakralen), obwohl sie bereits aus den früheren Balkankriegen 1876-78 und 1912-13 bekannt waren.63 Viele Formen solcher Analogiebildung leben nicht nur im kollektiven Bewusstsein mancher postjugoslawischer Staaten, sondern auch in Russland und im Westen, nach wie vor weiter. Die rhetorische und visuelle Indienstnahme vermeintlicher historischer Vorbilder verdichtet diese zu „Schlüsselbildern“,64 die abgelöst vom jeweils individuellen Referenten, „den Balkan“ repräsentieren und befreit von der zeitlichen Fixierung in aleatorischen Metamorphosen zirkulieren. In solchen medialen Zirkulationen und Verschiebungen fanden unterschiedliche Ereignisse, wie der mittelalterliche Kampf gegen die Türken und der Konflikt mit den muslimischen Ethnien im 20. Jahrhundert, die Shoah und das Massaker von Srebrenica, der Nationalsozialismus und die ethnische Säuberungen, zu einer medialen Einheit zusammen. Der vorliegende Band beabsichtig daher, das Werden des Balkans zum ‚Bild‘ seit dem 19. Jahrhundert bis ins 21. Jahrhundert zu verfolgen. Der Balkan wird dabei als Dispositiv für mediale Einschreibungen in verschiedenen mediengeschichtlichen Etappen, insbesondere in den Phasen medialer 62
Zimmermann, Tanja: Medien im Ausnahmezustand. Performanz und Simulakrum im Bild des Jugoslawienkrieges. In: Ruf, Oliver (Hrsg.): Ästhetik der Ausschließung. Ausnahmezustände in Geschichte, Theorie und literarischer Fiktion (= Film – Medium – Diskurs, Hrsg. Oliver Jahraus/Stefan Neuhaus). Würzburg 2009, 137-158; Dies.: Ein Kriegsphoto aus Bosnien. Beglaubigungen und Verweigerungen durch Ron Haviv, Susan Sontag und Jean-Luc Godard. In: Borissova, Natalia/Frank, Susanne/Kraft, Andreas (Hrsg.): Kriegsnarrative des 20. und 21. Jahrhunderts. Zwischen Apokalypse und Alltag. Bielefeld 2009, 237-261. 63 Baleva, Martina: Martyrium für die Nation. Der slawische Balkan in der ostmitteleuropäischen Malerei des 19. Jahrhunderts. In: Osteuropa 59/12 (2009), 41-52; Dies.: Bulgarien im Bild. Die Erfindung von Nationen auf dem Balkan in der Kunst des 19. Jahrhunderts (= Visuelle Geschichtskultur 6). Köln 2012. 64 Zum Begriff „Schlüsselbild“: Ludes, Peter: Multimedia und Multi-Moderne. Schlüsselbilder. Fernsehnachrichten und World Wide Web – Medienzivilisierung in der Europäischen Währungsunion. Wiesbaden 2001.
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Umbrüche untersucht: zu Zeiten der Verbreitung der graphischen Illustration, der Photographie, der Psychoanalyse und ihren medialen Verschriftlichungen, der neuen Kriegstechnologien in den Medien und der postmodernen virtuellen Simulakren, begleitet von postmodernen Text- und Bildnarrativen. Entscheidende Phasen der Konstituierung von Balkan-Bildern werden an unterschiedlichen medialen Aufbereitungen untersucht, wie z.B. an Reiseberichten, literarischen Werken, Presseberichten und visuellen Darstellungen wie Historienbildern oder Kriegsreportagen. In besonderem Maße waren die Medien in den Kriegen auf und um den Balkan nicht, wie noch im ersten Irak-Krieg, „second front“,65 sondern erster und eigentlicher Kriegsschauplatz. Dies wird schon am Beispiel der Instrumentalisierung der Religion und der Sprache durch die nationalen Programme im 19. Jahrhundert bis zum Zerfall Jugoslawiens deutlich. Eine systematische Aufarbeitung dieser Phänomene in Form einer vergleichenden Mediengeschichte steht noch aus. Diese Arbeit ist der Versuch, sie in ersten Umrissen sichtbar werden zu lassen.
4. Kapitelübersicht Im Kapitel „Hellas gesucht – Balkan gefunden. Vom Philhellenismus zum Orientalismus“ wird gezeigt, wie Griechenland nach der Befreiung von der osmanischen Herrschaft im Jahre 1829 kulturell und räumlich nicht mehr Alteuropa, sondern dem Balkan zugeordnet wurde. Sowohl bei den westeuropäischen als auch bei den russischen Philhellenen, wie Jakob Philipp Fallmerayer, Viktor Tepljakov und Puškin, machen sich nach 1830 in der Auseinandersetzung mit dem antiken Erbe Griechenlands die ersten Anzeichen des Orientalismus bemerkbar. Die Zuschreibungen von Ost und West schaffen am Randgebiet des griechisch besiedelten Territoriums – in der Moldau, der Walachei und in Bulgarien – einen Zwischenraum zwischen Ost und West, der von Fallmerayer als „Scheidewand“ bezeichnet wird. In literarischen Werken wird der Raum hinter dieser Scheidewand, die Europa und Russland vom Balkan trennt, als Ort des mysteriösen Verschwindens der Helden inszeniert. Auch die panslawistischen Bewegungen, die eine genetische Verbindung zwischen verschiedenen slawischen ‚Brudervölkern‘ postulierten, konnten die immer deutlicher hervortretenden Merkmale des „Balkans“ nicht mehr auslöschen (vgl. Kapitel „Panslawismus und Orientalismus. Völkerstereotype und ihre Ausbildung“). Im Gegenteil, die Länder Südosteuropas, die im Jahre 1878 ihre Freiheit errangen, wurden in den Werken der polnischen und russischen 65
Den Begriff der Second Front prägte John R. MacArthur in seiner Analyse der Kriegsberichterstattung aus Irak während des ersten Golfkrieges (Second Front. Censorship and Propaganda in the 1991 Gulf War. Berkeley 2004).
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Schriftsteller wie Michael Czajkowski, Michail Lermontov, Ivan Turgenev und Lev Tolstoj zum „Balkan“. Serben und Bulgaren wurde ein bestimmter Charakterzug, wie der Fatalismus, zugeschrieben und eine bestimmte nationale Physiognomie mit dunklen Haaren und feurigen Augen verliehen. Auch in den westeuropäischen Reiseberichten avancierte die Region immer mehr zum Ort, an dem alle pejorativen Begriffe wie Täuschung, Zügellosigkeit, Verrat und Grausamkeit zusammenfinden (vgl. Kapitel „Vom Stereotyp zum Phantasma: Der Balkan in Reiseberichten“). Insbesondere die slawische Bevölkerung muslimischen Glaubens wurde in den frühen psychoanalytischen Schriften Sigmund Freuds, die von einer Reise nach Bosnien angeregt wurden, zum „Balkan“ par excellence. Hinter den metaphorischen Ersetzungen und den metonymischen Verschiebungen lauert stets der „Balkan“ – die entfesselte Sexualität und der fatalistische Todestrieb, der zum Topos der Reiseberichte vom 19. bis ins 21. Jahrhundert wird. Im Kapitel „Titos ‚dritter Weg‘“ wird demonstriert, wie die ehemaligen negativen Zuschreibungen aus Ost und West zur Grundlage einer positiven jugoslawischen Identität wurden. Nach einer kurzen Anfangsphase, in der sich Jugoslawien am sowjetischen Vorbild orientierte und es spiegelbildlich zu realisieren versuchte, folgte bald eine Konstruktion des Dritten bzw. des Dazwischen. Die Trennung von der Sowjetunion verlief erstens diskursiv im Namen der Befreiung von der Schablone und zweitens bei gegenseitiger Beschimpfung des Gegners als Orientalen – einerseits als Türke, andererseits als Mongole. Seither inszenierte sich Jugoslawien aufgrund geschickter medialer Strategien als Zwischenzone zwischen Ost und West und begründete diese Position mit der Tradition der bogomilischen Häresie, die schon im Mittelalter der Ost- und der Westkirche den Rücken kehrte. Obwohl sich Tito-Jugoslawien dem Westen annäherte, entwickelte es ihm gegenüber auch Abgrenzungsstrategien. Die Selbstinszenierung Jugoslawiens als „dritter Weg“ nach 1948 und als ‚neuer Kontinent‘ nach 1960 war schon bald erfolgreich: Das Land wurde in den 1960er und 1970er Jahren trotz der entgegengesetzten ideologisch-moralischen Vorstellungen zum bevorzugten Drehort sowohl für west- als auch für ostdeutsche Indianerfilme. Das Kapitel „Die Wiederkehr der Mythen: Erinnerungspolitik“ beschäftigt sich mit der Verschränkung von Politik und Religion sowie mit den Text- und Bildnarrativen über die historische Schlacht auf dem Amselfeld (1389), die seit dem 19. Jahrhundert nicht nur in Serbien, sondern auch im Osten und im Westen entstanden sind. Die Kosovo-Schlacht avancierte im Fadenkreuz der politischen Interessen und Machtkonstellationen zum zentralen Mythos der Integration und Desintegration auf dem Balkan – für die Serben, aber auch für ganz Europa. Die Analyse widmet sich dabei zwei entscheidenden Zeitabschnitten kurz vor der Entstehung und vor dem Zerfall Jugoslawiens – den Jahren 1915-16 und den Jahren 1988-89. Im ersten Fall werden die Propagan-
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datätigkeit des britischen Historikers Robert William Seton-Watson und des Philosophen und späteren tschechoslowakischen Präsidenten Tomáš G. Masaryk sowie eine große Ausstellung der „Kosovo-Fragmente“ des Bildhauers Ivan Meštrović im Victoria & Albert Museum in London untersucht, die zur Gründung des ersten Jugoslawiens beigetragen hatten. Im zweiten Fall wird die Wiederentdeckung des Kosovo-Narrativs unter seinem destruktiven Vorzeichen im Rahmen der nationalistischen Politik unter Slobodan Milošević erforscht. Aus dem transnationalen Mythos der Integration wurde ein nationaler Mythos der Desintegration und der erneuten Polarisierung zwischen Ost und West. Das Kapitel bietet auch Einsicht in die medialen Strategien der Erinnerungspolitik und in das „Wüten der Mythen“ auf dem Balkan. Das letzte Kapitel „Thanatologische Phantasmen der Balkan-Kriege“ ist der Bild- und Medienpolitik während der jugoslawischen Zerfallskriege gewidmet. Der Fokus richtet sich auf die Kriegsberichterstattung während des Bosnienkriegs 1991-95 und deren Folgen für das Balkan-Bild. Anhand des Streites zwischen Susan Sontag und Jean Baudrillard über den Umgang der Medien mit dem Bosnienkrieg wird gezeigt, dass der Balkan zum Ort für die Anwendung der postmodernen Theorien der Simulakren wurde. Darin vermischen sich Bild und Realität nicht nur miteinander, sondern die Realität wird schließlich durch das Bild ersetzt. Dessen Referenz ist damit nicht mehr in der Wirklichkeit, sondern in anderen (früheren) Bildern des Balkans zu suchen. Der Balkan wird auf diese Weise in eine visuelle oder textuelle Projektion transformiert, die im ständigen Kreisen bzw. in Wiederholungen den Reigen der Stereotypen und Phantasmen recycelt – ein Balkan-Bild in the loop. Diese Verfahren der Vermischung des Faktischen und Fiktiven werden an einigen literarischen (Norbert Gstreins Das Handwerk des Tötens) und visuellen Beispielen (Kriegsphotographie, Comicstrip, Postkarte) vorgeführt. Es soll gezeigt werden, dass das Phänomen Balkan vor allem in Westeuropa und Nordamerika ins Zentrum des postmodernen Umgangs mit der Realität gelangte.
II. Hellas gesucht – „Balkan“ gefunden. Vom Phillhellenismus zum Orientalismus 1. Fallmerayers These: Die Ausrottung der Altgriechen durch Südslawen und Arnauten Griechenland – die Wiege der europäischen Zivilisation – war das erste Land, das um 1830 nicht nur geographisch, sondern auch auch kulturell auf den „Balkan“ ‚verschoben‘ wurde. Bald nachdem die philhellenische Begeisterung für die altgriechische Kultur Europa1 und Russsland2 in ihren Bann gezogen hatte und die griechischen Freiheitskämpfer im Jahre 1829 die Befreiung vom osmanischen Joch errungen hatten, ‚glitt‘ das Land auf den „Balkan“. Nach der Hochkonjunktur der Griechenland-Begeisterung in den 1820er Jahren, die sich im Kampf für Nation und Freiheit auf die Demokratie des klassischen Griechenlands berief, wurde Europa von einer Welle der Skepsis erfasst. Die enttäuschten Philhellenen stellten fest, dass die modernen Griechen weder den mythischen Helden aus Homers Ilias und Odyssee noch den „leichtfüßigen Indianern“, den noble savages ähnelten, mit denen der Archäologe Johann Joachim Winckelmann ihre antiken Vorfahren verglichen hatte.3 Auch ihre Kunst, die dem orthodoxen Bildkanon unterlag, entsprach nicht der „edlen Einfalt und stillen Größe“ der weiß glänzenden Antike, wie sie in den Schriften Winckelmanns in idealisierter, dem klassizistischen Geschmack angepasster Form rezipiert wurde. Auch den aus Brixen stammenden Münchener Geschichtsprofessor, Orientkenner und Mitglied der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Jakob Philipp Fallmerayer (1790-1861), hatten die Neugriechen enttäuscht. Sein Philhellenismus wich schon Ende der 1820er Jahre einem orientalistischen 1
Zum Philhellenismus in Europa: Quack-Eustathiades, Regine: Der deutsche Philhellenismus während des griechischen Freiheitskampfes 1821-1827. München 1984; Kostantinou, Evangelos (Hrsg.): Europäischer Philhellenismus. Ursachen und Wirkungen. Neuried 1989; Ders. (Hrsg.): Die europäische philhellenische Presse bis zur 1. Hälfte des 19. Jahrhunderts. Frankfurt a.M. 1994; Spaenle, Ludwig: Der Philhellenismus in Bayern. 18211832. München 1990; Noe, Alfred (Hrsg.): Der Phillhellenismus in der westeuropäischen Literatur 1780-1830. Amsterdam-Atlanta 1994; Heß, Gilbert/Agazzi, Elena/Décultot, Élisabeth (Hrsg.): Graecomania. Der europäische Philhellenismus. Berlin 2009. 2 Ghervas, Stellas: Le philhellénisme d’inspiration conservatrice en Europe et en Russie. In: Peuples États et nations dans le Sud-Est de l’Europe. Bucarest 2004, 98-110; Dies.: Le philhellénisme russe. Union d’amour ou d’intérêt? In: Regards sur le philhellénisme. Genève 2008, 33-41. 3 Potts, Alex: Flesh and the Ideal. Winckelmann and the Origins of Art History. New Haven-London 1994.
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Diskurs.4 In seiner Geschichte der Halbinsel Morea während des Mittelalters (1830) trägt Fallmerayer Gründe dafür vor, warum das antike Arkadien und hellenische Tugenden im modernen Griechenland nicht mehr zu finden seien. Nicht mehr das osmanische Joch macht er dafür verantwortlich, sondern die Ansiedlung von Slawen und Albanern im Frühmittelalter. Wie ein ‚schmutziges Sediment‘ hätten sie sich über das ‚edle Urgestein‘ der antiken Hellas gelegt – so die von Fallmerayer verwendete geologische Metapher. Das Geschlecht der Hellenen ist in Europa ausgerottet. Schönheit der Körper, Sonnenflug des Geistes, Ebenmaß und Einfalt der Sitte, Kunst, Rennbahn, Stadt, Dorf, Säulenpracht und Tempel, ja sogar der Name ist von der Oberfläche des griechischen Kontinents verschwunden. Eine zweifache Erdschicht, aus Trümmern und Moder aus zweier neuen und verschiedenen Menschenrassen aufgehäuft, deckt die Gräber dieses alten Volkes. […] so hat ein leeres Phantom, ein entseeltes Gebilde, ein nicht in der Natur der Dinge existierendes Wesen die Tiefen ihrer Seele aufgeregt. Denn auch nicht ein Tropfen echten und ungemischten Hellenenblutes fließt in den Adern der christlichen Bevölkerung des heutigen Griechenlands. Ein Sturm, dergleichen unser Geschlecht nur wenige betroffen, hat über die ganze Erdfläche zwischen dem Ister und dem innersten Winkel des peloponnesischen Eilandes ein neues, mit dem großen Volksstamme der Slaven verbrüdertes Geschlecht von Bebauern ausgegossen. Und eine zweite, vielleicht nicht weniger wichtige Revolution durch Einwanderung der Albanier in Griechenland hat die Szenen der Vernichtung vollendet. Skythische Slaven, illyrische Arnauten, Kinder mitternächtlicher Länder, Blutsverwandte der Serbier und Bulgaren, der Dalmatiner und Moskowiten sind die Völker, welche wir heute Hellenen nennen […] Archont und Mönch, Ackerbauer und Handwerker des neuen Griechenlands sind fremde Überzügler, sind in zwei historisch verschiedenen Zeitpunkten von den mitternächtlichen Gebirgen nach Hellas herbeigestiegen.5
Mit seiner These vom unreinen Blut der Neugriechen – ihrer Ethnogenese nach keine Hellenen mehr, sondern gräzisierte Slawen und Albaner – widersprach Fallmerayer der Idealisierung der Griechen durch Winckelmann und seine Verehrer unter den Freiheitskämpfern. Der Begründer der Archäologie führte die zahlreichen Gaben der Hellenen, ihre schönen und gesunden Körper, ihren Freiheitsdrang und Patriotismus anknüpfend an Klimatheorien von der Antike bis zu Herder nicht nur auf die milde, doch karge Landschaft zurück, sondern auch auf die Reinheit der Rasse. Elisabeth Décultot hat den genetischen Determinismus in Winckelmanns Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke (1755) und in der Geschichte der Kunst des Altertums (1764) 4
Zu Jakob Philipp Fallmerayer und seinem Umfeld: Thurnher, Eugen: Jakob Philipp Fallmerayer. Wissenschaftler, Politiker, Schriftsteller. Innsbruck 1993; Leeb, Thomas: Jakob Philipp Fallmerayer. Publizist und Politiker zwischen Revolution und Reaktion (1835-1861). München 1996; Hastaba, Ellen/Rachewitz, Siegrfired de (Hrsg.): Für Freiheit, Wahrheit und Recht! Joseph Ennemoser & Jakob Philipp Fallmerayer. Tirol von 1809 bis 1848/49 (= Schlern-Schriften 349). Innsbruck 2009. 5 Fallmerayer, Jakob Philipp: Geschichte der Halbinsel Morea während des Mittelalters. Erster Teil. Stuttgart-Tübingen 1830, IIIf.
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herausgearbeitet.6 Obwohl aus seinen handschriftlichen Exzerpten hervorgeht, dass er Jean-Baptiste Du Bos’ Werk Réflexions critique sur la poésie et sur la peinture (1719) benutzte, wich er von dessen Überzeugung, dass das Klima die Blüte der griechischen Kultur entscheidend begünstigt habe, ab. Ebenso distanzierte er sich von Comte des Caylus Recueil d’antiquités égyptiennes, étruscanes, grecques et romaines (7 Bde., 1752-67), der der gegenseitigen Befruchtung der griechischen, ägyptischen und persischen Kultur positive Einflüsse für die Entfaltung der griechischen Philosophie, Literatur und Kunst zuschrieb. Für Winckelmann bringen dagegen der Kulturtransfer und die Vermischung der Rassen nur negative Effekte mit sich. Das Streben nach kultureller Autarkie, die Sorgfalt der Griechen, nicht nur der Spartaner, „schöne Kinder zu züchten“ und „aus blauen Augen schwarze zu machen“, habe die schöne und gesunde griechische Zivilisation hervorgebracht. Auch Herder rühmt in Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit (1784-91) die Hellenen dafür, dass sie „von der Zumischung fremder Nationen befreit und in ihrer ganzen Bildung sich eigen geblieben“ seien.7 Wenn Fallmerayer vom Verfall der griechischen Rasse spricht, dann widerspricht er Winckelmanns Wertung, doch nicht seinen Werten. Seine These vom Niedergang der Zivilisation infolge von Blutvermischung steht in einer Linie mit Ideen von Joseph Arthur de Gobineau, einem der einflussreichsten Stichwortgeber des Rassismus in Europa. Zwanzig Jahre später schrieb der französische Adelige, Diplomat und Schriftsteller in seinem vierbändigen Werk Versuch über die Ungleichheit der Menschenrassen (Essai sur l’inégalité des races humaines, 1852-54) der Geblütsmischung gesetzmäßig zerstörerische Kräfte zu, die den Verfall von Zivilisationen herbeiführen würden.8 Mit seiner „slawischen These“ zog sich Fallmerayer scharfe Kritik zu, die sowohl von Philhellenisten wie Wilhelm Thiersch in München als auch von Slawisten wie Bartholomäus Kopitar in Wien geäußert wurde.9
6
Décultot, Élisabeth: Winckelmanns Konstruktion der Griechischen Nation. In: Heß, Gilbert/Agazzi, Elena/Décultot, Élisabeth (Hrsg.): Graecomania. Der europäische Philhellenismus. Berlin 2009, 39-59. 7 Herder, Johann Gottfried: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Hrsg. Wolfgang Pross. München-Wien 2002, 520. „Nicht nur sind die Griechen von der Zumischung fremder Nationen befreit und in ihrer ganzen Bildung sich eigen geblieben; sondern sie haben auch ihre Perioden so ganz durchlebt und von den kleinsten Anfängen der Bildung die ganze Laufbahn derselben so vollständig durchschritten, als sonst kein anderes Volk der Geschichte.“ 8 Mosse, George L.: Die Geschichte des Rassismus in Europa. Aus dem Amerikanischen von Elfriede Burau und Hans Günter Holl. Frankfurt a.M. 2006 (am. Towards the final solution. A history of European racism, New York 1978), 76-86; Geulen, Christian: Geschichte des Rassismus. München 2007, 71f. 9 Pfligersdorffer, Georg: Eine weniger bekannte Stellungsnahme zu Fallmerayers Griechenthese. In: Thurnher (Hrsg.) 1993, 159-170.
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Fallmerayer verfügte über umfassende Kenntnisse zahlreicher alter und moderner europäischer Sprachen sowie des Persischen und Türkischen, kannte sich jedoch im slawischen Sprachraum ebenso wenig wie im Albanischen aus.10 Vermutlich kannte er panslawistische Schriften, in denen wie in Pavel Jozef Šafáriks Geschichte der slawischen Sprache und Literatur nach allen Mundarten (1826) die Unterschiede zwischen den slawischen Idiomen zu Dialekten verkleinert wurden. Während die Panslawisten die Unterschiede zwischen den slawischen Sprachen als Mundarten ansahen, verwischen sich in Fallmerayers Wahrnehmung nicht nur die Unterschiede zwischen Ost- und Südslawen, sondern auch die zwischen Slawen und Albanern. Der „Arnaut von Suki und Argos“, der „Slave von Kiew und Beligosti in Arkadien“, der „Bulgare von Triadiza“ und der „christliche Räuber von Montenegro“ verschmelzen in seiner Vorstellung zu einer kompakten Einheit, zu einem „Riesenkörper“. Und das große Volk der slavo-arnautischen Christen von Byzanz erhebt sich von Messenien bis Archangel als eine blutsverwandte kompakte Masse, als ein neugeschaffner und von Einem Geiste beseelter Riesenkörper plötzlich aus dem entflohenen Nebeldunst des illyrischen Kontinents. Den dunklen Gefühlen der Slaven Griechenlands haben endlich die Weltereignisse selbst Worte geliehen, und ihnen in der Verzweiflung die Erkenntnis des Heils gebracht. Denn zurückgestoßen vom Morgen- und Abendlande hatten sie schon seit Jahrhunderten alle Hoffnung der Erlösung durch Hilfe ihrer christlichen Brüder des Okzidents aufgegeben, und ihre Blicke sehnsuchtvoll gegen Mitternacht, gegen ihre alte, ihnen selbst fremd gewordene Heimat, gegen den großen Beherrscher von Turan gewandt […] Die Morgenröte der Vergeltung, der Freiheit und des Ruhmes hat für diese Unglücklichen endlich am Himmelsbogen heraufgeblitzt, und die von den Kindern Mahomets auf den Gipfeln der Balkane aufgetürmte Scheidewand ist bis auf den Grund eingesunken. Der christliche Grieche von Mistra in Lakonien reicht seinem Bruder dem griechischen Christen von Mistra zu Moskowien nach langer Trennung die Hand.11
Auch die Metapher des „Riesenkörpers“ für den genetischen Zusammenhang der slawischen „Stämme“ ergibt vor dem Hintergrund panslawistischer Homogenisierungen Sinn. Doch während Panslawisten wie Ján Kollár die Aufteilung des Slawentums auf verschiedene Imperien als membra disjecta beklagen,12 wachsen diese bei Fallmerayer zusammen. Zwischen Orient und Okzident, zwischen Saaba und Lateran habe sich eine slawische Zone etabliert, die sich von Griechenland bis nach Russland erstrecke, und drohe, zur Weltmacht aufzusteigen. Die „auf den Gipfeln der Balkane aufgetürmte 10
Lauer, Reinhard: Jakob Philipp Fallmerayer und die Slaven. In: Thurnher, Eugen (Hrsg.): Jakob Philipp Fallmerayer. Wissenschaftler, Politiker, Schriftsteller. Innsbruck 1993, 125-157. 11 Fallmerayer 1830, VI. 12 Kollár, Ján: Über die literarische Wechselseitigkeit zwischen den verschiedenen Stämmen und Mundarten der slawischen Nation. Pesth 1837, 119.
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Scheidewand“,13 die das Griechentum unter der osmanischen Herrschaft vom Okzident getrennt hatte, hätten die Freiheitskämpfer dem Erdboden gleichgemacht. Die Entstehung der neuen politischen Macht der Slawen, die sowohl ethnogenetisch als auch religiös zusammengehalten wird, geht Hand in Hand mit der Balkanisierung – dem Verfall der alten demokratischen Werte und dem Aufstieg eines neuen Despotismus, der womöglich von einem zugleich als orientalisch gewerteten Zarentum ausging. Im zweiten Teil der Geschichte der Halbinsel Morea (1836) wird Griechenland für Fallmerayer zum „ungemeißelten, toten Marmorgebröckel, dem selbst ein begeisterter Pygmalion kein frisches Leben einzuhauchen vermag“,14 zum Gebilde aus den „vom Kolosse des türkischen Reiches herabgeschlagenen Trümmern“.15Auch die historische Leistung der Griechen – ihren Freiheitskampf – setzt Fallmerayer nun herab. Das Land leide an der „inneren Zerrissenheit des Volkes“,16 gespalten in die Fraktionen der Slawen und Arnauten. Die Grundlage des „althellenischen Nationalwesens“ sei verloren. Der Aufstand sei nicht von innen gewachsen, sondern von außen, von Fremden, angezettelt. Ohne das gewaltsame Einschreiten der westeuropäischen Mächte wäre den Griechen die Befreiung nicht gelungen. Das Land sei unfähig zur Selbstverteidigung und könne ohne westeuropäische Hilfe nicht als unabhängiges Königreich existieren. Griechenland sei daher ein Produkt Europas, vor allem der europäischen Gelehrten. Wie den Türken und den Mongolen habe die Natur auch den slawisierten Neugriechen die Gabe des Schönheitssinns versagt.17 Doch das Fehlen des Kunstsinns ist nicht das einzige Merkmal, das die Slawen mit den asiatischen Turkvölkern verbindet. Fallmerayer ist fest davon überzeugt, dass die Türken in den Augen der Europäer zu Hellenen geworden wären, wenn sie die orthodoxe Religion angenommen hätten, wie vor ihnen die Bulgaren und, wie er meint, auch die Albaner.18 Damit wird zum einen der Unterschied zwischen den Slawen und den Türken aufgehoben, zum anderen werden die Slawen auf dem Balkan, die dem orthodoxen Bildkanon folgen, aus der europäischen Kunstentwicklung ausgeschlossen. Im ersten Teil der Geschichte der Halbinsel Morea spricht Fallmerayer zwar vom Balkan als einer „Scheidewand“ zwischen Orient und Okzident, die durch die Vereinigung der blutsverwandten orthodoxen Slawen auf dem Balkan und in Russland „eingesunken“ sei.19 Im zweiten Teil verallgemeinert 13
Fallmerayer 1830, VI. Fallmerayer, Jakob Philipp: Geschichte der Halbinsel Morea während des Mittelalters. Zweiter Teil. Stuttgart-Tübingen 1836, IV. 15 Ebd., IV. 16 Ebd., IX. 17 Ebd., IXf. 18 Ebd., Xf. 19 Fallmerayer 1830, XIf. 14
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er das Gebirge zu jenem slawisch-albanischen Völkergürtel zwischen Europa und Asien, zu jenem unsicheren Land zwischen den Welten, das Karl May später zu den „Schluchten des Balkans“ pluralisierte. Zwischen diesen Leuten und den Europäern hat die Natur selbst eine auf ewige Zeiten bestehende Scheidewand hineingeschoben, und man muss gleichsam sich selbst vernichten und in Glaube und Sitte in Hass und Liebe selbst ein Grieche werden, um mit diesem Volke zu leben.20
In seinen späteren Aufsätzen wie etwa „Blick auf die unteren Donauländer“ (1839) bezeichnet Fallmerayer den Balkan als den Vorhof des russischen Imperiums, das zur fünften Weltmonarchie angewachsen sei.21 Die Geschichte, die eine höhere Ordnung befolge, sei auf die Polarisierung zwischen dem Abendland und siebzig Millionen Slawen zugedriftet. Der Widerspruch trete am deutlichsten zwischen Germanen und Slawen zutage.22 Bei den Slawen habe es zwar im Mittelalter eine blühende Hochkultur in Kiew, Nowgorod und Smolensk gegeben, die von Ritterlichkeit und Gerechtigkeit geprägt gewesen und im Igor-Epos, dem slawischen Nibelungenlied, besungen worden sei. Auch die byzantinischen Schreiber hätten „ihr gastliches und lebensfrohes Wesen, ihr brüderliches Gefühl und ihren musikalischen Sinn“ gelobt.23 Doch diese Kultur sei dem „Nationalprinzip“ zum Opfer gefallen – einem „unbesiegbaren Hang, aus dem Nordlande in bessere Himmelsstriche auszuwandern, besonders aber die fruchtbaren Provinzen des byzantinischen Reiches an sich zu reißen.“24 Hauptantriebskraft dieser Bewegung sei „eine religiöse Idee, der ewige Frohnkampf demütigen Christenglaubens gegen die gemütlose Tyrannei der Vernunft.“25 Ein halbes Jahrhundert nachdem Herder in Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit die Slawen als ein „unterwürfiges“, „gehorsames“, „mildtätiges“, „gastfreundliches“, „fleißiges“ und „musikalisches“ Volk beschrieben hatte,26 wandelten sich diese bei Fallmerayer zur Gefahr für die europäische Zivilisation. Hatten sich die Slawen nach Herder in ihrer „geräuschlosen 20
Fallmerayer 1836, XIf. Fallmerayer, Jakob Philipp: Blick auf die unteren Donauländer. In: Ders.: Byzanz und das Abendland. Ausgewählte Schriften. Wien 1943, 3-19, hier 3. 22 Heute wird Fallmerayer wegen seiner Polarisierung von Ost und West oft mit Samuel Philip Huntington und seinem viel kritisierten Werk The Clash of Civilisations (1994) verglichen; Aurenheimer, Gustav: Huntington und die Diskussion um die neugriechische Identität. In: Südost-Europa 47 (1998), 1-7; Wenturis, Nikolas: Kritische Bemerkungen zu der Diskussion um die neugriechische Identität am Beispiel Fallmerayer, Huntington und Aurenheimer. In: Südost-Europa 49 (2000), 308-324. 23 Fallmerayer 1943, 5. 24 Ebd., 6. 25 Ebd., 7f. 26 Herder 2002, 640-643; Zu Herders Verhältnis zu den Slawen: Sundhaussen, Holm: Der Einfluss der Herderschen Idee auf die Nationsbildung bei den Völkern der Habsburger Monarchie. München 1973. 21
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Gegenwart“ niedergelassen, „um das von andern Völkern verlassene Land zu besitzen, um es als Kolonisten, als Hirten oder Ackerleute zu bauen und zu nutzen“, so werden sie für Fallmerayer zu Zerstörern. Betrachtet Herder andere Nationen, insbesondere die Deutschen, als Täter, die sich an den Slawen versündigt hätten, so sieht Fallmerayer die westeuropäischen Nationen, zuerst die deutsche, von den Slawen bedroht. In der Augsburger Allgemeinen Zeitung, in der 1850 der Artikel „Zar, Byzanz und Okzident“ erschien, stellt er Verwandtschaftsbeziehungen zwischen Byzanz, der Türkei und Russland her. Die Orthodoxie orientalisiert er zum „christlichen Islam“.27 Die Hauptgefahr drohe dem Westen folglich nicht von der geschwächten Türkei, sondern von der slawischen Expansion im Schutze des orthodoxen Russlands. Die Eroberung Konstantinopels würde Russland nicht nur die Herrschaft über den Balkan, sondern auch über die slawischen Gebiete Österreichs ermöglichen. Im Osmanischen Reich sei der Körper von Byzanz am Leben geblieben, während in Russland sein Geist überlebt habe. In Fallemerayers Schrift wird bereits die Konfrontation des Krimkriegs ideologisch vorbereitet. Der Slawist Reinhard Lauer, der das Verhältnis Fallmerayers zu den Slawen untersucht hat, bezeichnet es als ambivalent, schwankend zwischen Bewunderung und Angst oder gar Abscheu. Seine guten persönlichen Beziehungen zu einigen Slawen, wie dem Graf Osterman-Tolstoj,28 wurden überschattet durch politische Ängste vor einer neuen Herrschaft des Slawentums, die sich in seinen publizistischen Schriften seit den 1840er Jahren deutlich manifestieren. Gegen Mitte des 19. Jahrhunderts erfasste die Furcht vor dem Panslawismus vor allem die deutsche und österreichische Publizistik, wie sogar die Schriften Friedrich Engels’ aus der Zeit des Krimkrieges bezeugen. Bis hin zum Ersten Weltkrieg lieferte sie der pangermanischen Bewegung den roten Faden für ihre politische Rhetorik, wie etwa im Pamphlet des österreichischen Journalisten und Historikers Richard Charmatz mit dem Titel Zarismus, Panslawismus, Krieg! (1915). Aus der Reaktion heraus sind die aufwühlerischen Bestrebungen entstanden, die die Völker der Balkanhalbinsel in Bewegung gesetzt haben, um sie von dem „türkischen Joche“ zu befreien und der russischen Knute zu unterwerfen. Los von Konstantinopel, hin nach Moskau und Petersburg! Das war der eigentliche, freilich nicht scharf begriffene Zweck aller selbsttüchtigen Aufmerksamkeit und falschen Liebe, die sich heuchlerisch mit der slawischen Gemeinschaftsidee in Verbindung brachte. Die 27
Jessen, Myra R.: Fallmerayer und die Augsburger Allgemeine Zeitung. In: Modern Language Quarterly 11 (1950), 332-346, 450-461. 28 Lauer 1993. Fallmerayer pflegte enge Beziehungen zum mehrmals ausgezeichneten General und Freimaurer Graf Osterman-Tolstoj, mit dem er 1831-34 nach Griechenland, in den Vorderen Orient (Ägypten, Nubien, Palästina, Syrien) und 1835 nach Böhmen reiste. Informationen über die Südslawen konnte er auch vom kroatischen Dichter und österreichischen Konsul in Saloniki, Anton von Mihanowitsch (Antun Mihanović) erhalten.
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panslawistischen Wühlereien verhinderten auf der Balkanhalbinsel viel ernste Arbeit, weil sie zu viel Kraft durch eine utopische Politik banden.29
Hannah Arendt hat in Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft (1951) rekonstruiert, wie die beiden Pan-Bewegungen – der russische Panslawismus sowie der deutsche Pangermanismus, der den Slawen wichtige Impulse gab – in der Zeit des Imperialismus aufeinander prallten.30 Während für die Panslawisten eine „östliche Seele“ das Bindeglied gewesen sei, hätten die Pangermanisten sich durch „das arische Blut“ geeint gesehen.
2. Hellas’ wahre Erben: Cyprien Robert Bei den Panslawisten erfuhr Fallmerayers Hypothese vom slawischen Ursprung der Neugriechen eine positive Umdeutung. Cyprien Robert, Professor für Slawistik am Collège de France, publizierte in der ideologisch führenden Revue des deux Mondes von 1842 bis 1854 eine politischethnographische Serie über die Balkanhalbinsel, Le monde gréco-slave.31 Im ersten Beitrag, „État actuel, mœurs publiques et privées des peuples de la péninsule“ („Der aktuelle Stand, öffentliche und private Bräuche der Menschen auf der Halbinsel“, 1842), bedauert er, dass es zwischen den Griechen und den orthodoxen Slawen, zwischen dem Philhellenismus und Panslawismus, zur Spaltung gekommen ist: „Die einen, glühende Phillhellenen, wollten das Ganze den Griechen unterordnen; die anderen, Slawophilen, sahen in der vornehmen griechischen Sache nichts anderes als eine rebellische Fraktion des Slawismus“.32 Statt zur Trennung ruft Robert zum Zusammenhalt auf, der nicht auf der Assimilation der einen durch die anderen, sondern auf der Koexistenz der beiden Rassen in einer Föderation fundiert sein sollte. Eine Föderation der Griechen und der orthodoxen Slawen würde nicht nur den Frieden zwischen den zerstrittenen Völkern auf dem Balkan, sondern auch ein Gleichgewicht zwischen Russland, Westeuropa und der islamischen Konföderation garantieren. 29
Charmatz, Richard: Zarismus, Panslawismus, Krieg! Wien-Leipzig 1915, 55f. Arendt, Hannah: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. I. Antisemitismus. II. Imperialismus. III. Totale Herrschaft. Ungekürzte Ausgabe. München-Zürich 1986, 358-366 (engl. The Origins of Totalitarianism, London 1951). 31 Sekeruš, Pavle: Siprijen Rober i Južni Sloveni. In: Zbornik Matice srpske za slavistiku 41 (1991), 7-49. 32 Robert, Cyprien: État actuel, mœurs publiques et privées des peuples de la péninsule. In: Le monde gréco-slave 29 (1842). (http://fr.wikisource.org/wiki/Le_Monde_gr%C3%A9co-slave/1; Zugriff: 27.07.2010): « Les uns, philhellènes ardents, ont voulu tout soumettre aux Grecs; les autres, slavophiles exclusifs, n’ont vu dans la noble cause grecque qu’une fraction rebelle du slavisme ». 30
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In Les Slaves de Turquie. Serbes, Monténégrins, Bosniaques, Albanais et Bulgares. Leurs ressources, leurs tendances et leurs progrès politiques (1844; dt. Die Slawen der Türkei, nämlich: Serbier, Montenegriner, Bosniaken, Albanesen und Bulgaren; oder Darstellung ihrer Hilfsquellen, ihrer Tendenzen und ihrer politischen Fortschritte, 1851) wendet er sich gegen die „deutsche These“, die aus den Slawen Eindringlinge mache.33 Wir dürfen nicht vergessen, dass die Slawen in ihren Bräuchen und all ihren Institutionen zu Hellas halten. Die Geschichte der einen ist zugleich die der anderen. Deren Schicksal scheint bereits in der Antike vereint zu sein. Die deutsche Forschung versucht umsonst uns die Slawen als Eindringlinge in Europa zu präsentieren.34
Ging für Fallmerayer die Kontinuität des heroischen Griechenlands am hohen Anteil des slawischen Blutes zugrunde, so garantieren für Robert gerade die Slawen als die wahren Träger der antiken Tradition und die legitimen Erben der Griechen, das Fortbestehen dieser Kontinuität. In seiner Schrift Les deux panslavismes. Situation actuelle des peuples slaves vis-à-vis de la Russie (dt. Der zweifache Panslawismus. Die gegenwärtige Lage der slawischen Völker gegenüber Russland, 1847)35 sieht er vor allem in den „illyrischen Slawen“, den Serben und Kroaten, die fälschlicherweise mit den antiken Illyrern gleichgesetzt wurden, die engsten Verwandten der Altgriechen. Die panslawistische, illyrische Bewegung in Kroatien, die sich 1835-48 um Ljudevit Gaj versammelte, legitimiert er durch die Herleitung aus Altgriechenland.36 Ging für Fallmerayer Hellas am slawischen Blute zugrunde, so garantieren für Robert gerade die Südslawen das Fortbestehen jener Kulturgeschichte, die ihren Ausgangspunkt in der griechisch-hellenistischen Zivilisation hatte. In den slawischen Volksliedern über den Kampf gegen die Türken sieht er die Fortsetzung der homerischen Epen und in den Serben bzw. den Montenegrinern die legitimen Nachfolger der homerischen Helden. Die Slawen, hoffen wir dies, werden im jetzigen Europa dieselbe Stellung einzunehmen wissen, welche in der alten Welt die Hellenen innehatten. Sowie der Republiken Athen, 33
Robert, Cyprien: Les Slaves de Turquie. Serbes, Monténégrins, Bosniaques, Albanais et Bulgares. Leurs ressources, leurs tendances et leurs progrès politiques. Paris 1844; dt. Robert, Cyprien: Die Slawen der Türkei, nämlich: Serbier, Montenegriner, Bosniaken, Albanesen und Bulgaren; oder Darstellung ihrer Hilfsquellen, ihrer Tendenzen und ihrer politischen Fortschritte. Stuttgart 1851. 34 Robert 1844, 7. N’oublions pas que les Slaves tiennent par leur mœurs et touts leurs institutions aux Hélas. L’histoire des uns sera des autres. Leurs destinées paressaient déjà unies dans l’antiquité. La science allemande s’efforce en vain de nous présenter les Slaves comme des intrus en Europe. 35 Robert, Cyprien: Der zweifache Panslawismus. Die gegenwärtige Lage der slawischen Völker gegenüber von Russland. Mit Anmerkungen von Dr. J.P. Jordan. Leipzig 1847. 36 Zur den Anfängen und Hintergründen der illyrischen Bewegung in Kroatien: Blažević, Zrinka: Ilirizam prije ilirizma. Zagreb 2008.
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Sparta und Argos, die sich alle mehr oder weniger gegen die Einfälle der Philippe vereinigt hatten, ein macedonisches Reich gegenüber stand, so steht auch im Slawentum auf der einen Seite, das noch halb barbarische, aus den entgegen gesetzten Elementen bestehende Russland, das alles in sich zu verschmelzen droht; auf der anderen Seite die reinen Slawen, die nur dann eine unabhängige Existenz bewahren können, wenn sie sich mit einander verbünden, wenn sie eine Art Amphietyonenbund schließen.37
Die heroische Männlichkeit der „illyrischen Sprache“ habe sich sogar der Klangfarbe der Sprache, der südslawischen Laute, eingeschrieben. In ihr könne man wie in keiner anderen befehlen ebenso wie schmeicheln und Siege sowohl auf dem Schlachtfeld als in der Liebe erringen. Mindestens kann man sagen, dass die illyrische Sprache wegen ihres Überflusses an Vokalen, wegen ihrer glücklichen Verschmelzung der sanften und harten Laute, die harmoniereichste und zu gleich heroischste, die sanfteste und zugleich männlichste ist. Sie befiehlt mit größerer Bestimmtheit, als das Russische; sie schmeichelt, kost und seufzt mit mehr Sanftmut, als das Polnische; sie weiß, da nötig, die Laute mit noch ausdrucksvollerer Härte zusammenzuwerfen, als das Böhmische. Vialla de Sommièr, der nicht wusste, dass diese Sprache slawisch ist, und der sie für einen griechischen Dialekt hielt, sagt in seiner auf Befehl Napoleons unternommenen „Reise nach Montenegro“, dass das illyrische Idiom reich, lakonisch, harmonisch, oratorisch sei, dass es eben so gut zu brauchen sei, um die Wonne der Liebe zu besingen, als die Großtaten und blutigen Siege des Mars, dass es mit einem Wort die Sprache der Helden sei.38
Die Vorstellung, dass es hellenistische Elemente in den südslawischen Sprachen gebe, übernahm Robert vermutlich aus Ján Kollárs Rozpravy o slovanské vzájemnosti. Souborné vydání (1829; dt. Über die literarische Wechselseitigkeit zwischen den verschiedenen Stämmen und Mundarten der slawischen Nation, 1837), der die slawischen Sprachen aufgrund ihrer melodischen Prosodie nicht nur als Vermittler zwischen den antiken und den modernen Sprachen, sondern auch zwischen Ost und West betrachtete.39 Diese Vorstellungen machte sich auch Robert zueigen, wenn er schließlich den Panslawismus selbst vom antiken Panhellenismus ableitete: Die Idee, welche dem Panslawismus zu Grunde liegt, ist übrigens keineswegs neu. Die uralten Griechen waren Panhellenisten, obwohl sie in mehrere kleine, miteinander rivalisierende Republiken geteilt waren. Es muss sogar erwähnt werden, dass die Hellenen, so wie die Slawen, ebenfalls vier Dialekte hatten.“40
Eine ähnliche Spaltung, wie die zwischen den Griechen und den Slawen, beobachtet Robert auch bei den westeuropäischen Völkern. Die einen, wie 37
Robert 1847, 78. Ebd., 24f. 39 Kollár, Ján: Über die literarische Wechselseitigkeit zwischen den verschiedenen Stämmen und Mundarten der slawischen Nation. Pesth 1837, 59, 114 (tschech. Rozpravy o slovanské vzájemnosti. Souborné vydání. Hrsg. Miloš Weingart. Praha 1829). 40 Robert 1847, 35. 38
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die Engländer und Franzosen, befürworten die slawische Vereinigung, die anderen, wie die Deutschen, die gegenüber den Slawen nur Hass und Furcht empfinden, sind deren Gegener. Schuld daran sei vor allem der russische Missbrauch des Panslawismus, der dazu instrumentalisiert wurde, andere slawische Völker, wie die Polen, zu unterdrücken. Robert versucht Westeuropa in Fragen des Panslawismus aufzuklären und unterscheidet daher zwischen zwei Formen seiner Ausprägung: einer zentralistisch-russischen, der von der Nebenbuhlerschaft der „orientalischen und okzidentalischen Kirche“ bestimmt sei, und einer konföderativen slawischen.41 Vor allem in der russischen Politik auf dem Balkan sieht Robert eine große Gefahr für den zweiten Panslawismus, weil die Südslawen in ihrem Unabhängigkeitskampf eine Allianz mit Russland eingehen und sich von den Westslawen abtrennen. Das russische Kabinett arbeitet hauptsächlich an der Unterwerfung der Slawen des Südens. Seit einem halben Jahrhundert umgibt es die schismatischen Slawen in der Türkei und Österreich mit ganz spezieller Protektion. Versprechungen, prächtige Geschenke, nichts wird gespart, um sie zu verlocken. Von Russland geschickte heilige Schmuckgegenstände erfüllen ihre Kirchen; ihre schönsten liturgischen Bücher sind Geschenke der heiligen Synode von Petersburg. […] Im Namen der Unabhängigkeit des ganzen Geschlechts rufen sie die unterjochten Slawen des Südens zu einer Verbindung mit dem Zaren gegen ihre Unterdrücker auf. So wollen sie einen besonderen Panslawismus gründen, der darin besteht, die verschiedenen slawischen Nationalitäten mit dem Titel von Schutzmächten unter das Szepter der Romanov zu gruppieren.42
Daher sei die Aufgabe des zweiten Panslawismus, der West- und Südlslawen verbinden möchte, die Schluchten zwischen Orient und Okzident zu überwinden: „Der Panslawismus wird im slawischen Oriente das sein, was für den Okzident die Eisenbahnen [sind]. Der Panslawismus wird die trennenden Klüfte ausfüllen.“43 Die Kluft zwischen Europa und dem slawischen Osten, die für Fallmerayer infolge des Panslawismus auf dem Balkan aufriss, wird bei Robert duch das Konzept einer slawischen Konföderation wieder zugeschüttet.44 In Le monde slave: son passé, son état présent et son avenir (1852) schreibt Robert den Slawen eine Mittlerrolle zwischen Asien und Europa, zwischen Bewegungslosigkeit und Fortschritt, zwischen Vergangenheit und Zukunft, zwischen Erhaltung und Revolution zu.45 Analogien zwischen Slawen und Hellenen sieht er gerade in der egalitären Gesinnung, sowohl im zivilen als auch im religiösen Leben, und vermutet dahinter eine gemeinsame 41
Ebd., 26f. Ebd., 60f. 43 Ebd., 36. 44 Immer wenn von Integrationsbewegungen auf dem Balkan gesprochen wird, werden Metaphern der Überwindung der Klüfte verwendet, wie z.B. solche des Fliegens, wie in Ján Kóllars Epos Die Tochter der Slava (Slavy dcera, 1823) oder solche des Brückenschlagens, wie in Ivo Andrić, Die Brücke über die Drina (Na Drini ćuprija, 1946). 45 Robert 1952, 4. 42
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gräko-slawische Rasse.46 Gerade die Südslawen, angeblich die ältesten aller vier slawischen Stämme, seien am nächsten mit den Hellenen verbunden. La dernière des quatre nationalités slaves celle des Illyriens qui s’appellent chez eux Iugo Slaves ou Slaves du Sud, réalise merveilleusement le mot biblique: Et erunt ultimi primi et primi novissimi. En effet cette nation illyrienne, aujourd’hui presque oubliée, forme, suivant nous, incontestablement la souche slave la plus ancienne, et le canal le plus direct de la migration, indo-médique des Proto-Slaves par les chaînes moyennes de l’Asie-Mineure et de la Thrace jusqu’aux cimes neigeuses de la Bosnie et du Montenegro. Les Illyriens, dont les origines se confondent avec celles des Pelages et des Hellènes, formaient, avant Jésus Christ, une vaste confédération de petits rois et de républiques, qui couvraient tout le nord de la Péninsule européenne, comprise entre le Danube et la Grèce, entre la mer Noire et l’Adriatique.47
In den Tälern Albaniens, so Robert, solle man nach der „gemeinsamen Wiege“ der slawischen Illyrer und der Hellenen suchen, denn die aus dem Norden zugewanderten Slawen seien keine Eindringlinge in Illyrien und Hellas; ihr Ziel sei vielmehr die Vereinigung mit den slawischen Brüdern gewesen: „Qui nous prouvera que cette prétendue émigration des Slaves du nord au sud ne fut pas une restauration des Slaves latinisés, la délivrance des Illyriens primitifs du midi par leurs frères puinés du septentrion?“48 Mit seiner These, die auf der Grundlage philhellenistischer Überlegungen das Fortleben der Altgriechen in den südslawischen Illyrern postuliert, stellt Robert sich auch geopolitisch dem Gedankengut Fallmerayers entgegen.
3. Ort des Verschwindens und der Verstellung: Puškins Erzählungen Der Schuss (1830) und Kirdžali (1834) Eine ähnliche Wende vom Philhellenismus zum orientalistischen BalkanDiskurs hat sich um 1830 auch in Russland vollzogen. Symptomatisch dafür sind zwei Erzählungen Aleksandr Puškins, Der Schuss (1830) und Kirdžali (1834), denen der 1821 niedergeschlagene Aufstand von Skuleni und nicht der erfolgreiche Freiheitskampf von 1829 als historischer Hintergrund dient. Im Epilog der Erzählung Der Schuss (Vystrel, 1830) wird im Modus des Gerüchts berichtet, dass sich der hervorragende Schütze Sil’vio nach zwei Duellen mit demselben Gegner, die er entgegen dem Kode abgebrochenen hatte, den griechischen Aufständischen angeschlossen habe und dort gefallen sei: „Man erzählt sich, dass er während des Aufstandes Alexander Ypsilantis eine Abteilung der griechischen Freiheitskämpfer geführt habe und in der Schlacht 46
Ebd., 246ff. Ebd., 74. 48 Ebd., 77. 47
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bei Skuleni gefallen sei.“49 Herausgefordert durch einen gut aussehenden, reichen und beliebten Grafen, der Sil’vios Vorrang im Schreiben von Epigrammen und bei den Frauen im kleinen Provinzstädtchen gefährdet, fordert dieser den Konkurrenten zum Duell.50 Nachdem der Graf seinen Herausforderer Sil’vio verfehlt hat – sein Schuss durchlöchert nur die rote Husarenmütze Sil’vios – zeigt er trotzdem keine Angst vor dem sicheren Tode. Er spuckt vielmehr kaltblütig die Kerne der Kirschen, die er zum Frühstück isst, auf Sil’vio. Die sinnlichen, paradiesischen Früchte als Symbol der Liebe und Unsterblichkeit,51 deuten schon mit ihrer Form der zwei zusammengewachsenen Fruchtteile auf eine glückliche Verbindung des Grafen hin.52 Sil’vio bricht daher verärgert das Duell ab und verschiebt es auf eine unbestimmte Zeit: „Seine Kaltblütigkeit reizte mich bis zum äußersten. Was habe ich davon, dachte ich, ihn zu erschießen, wenn er nicht den geringsten Wert auf sein Leben legt? Ein böser Gedanke durchzuckte mich. Ich ließ die Waffe sinken.“53 49
Puschkin, Alexander: Erzählungen. Aus dem Russischen von Fred Ottow. Mit Nachwort und Zeittafel von Johanna Renate Döring-Smirnov. München 1999, 71; Puškin, Aleksandr S.: Sobranie sočinenij. Tom sedmoj. Romani i povesti 1827-1833. Moskva 1970, 91. «Сказывают, что Сильвио, во время возмущения Александра Ипсиланти, предводительствовал отрядом этеристов и был убит в сражении под Скулянами.» 50 Zum Duell zwischen dem Graf und Sil’vio: Scholle, Christine: Das Duell in der russischen Literatur. Wandlungen und Verfall eines Ritus. Heidelberg-München 1977 (= Arbeiten und Texte zur Slavistik, Bd. 14), 18-31; Eng, Jan van: Le coup de pistolet: Analyse de la composition. In: The tales of Belkin by A. S. Puškin. Dutch Studies in Russian Literature 1. The Hague 1968, 61-85; Schmid, Wolf: Intertextualität und Komposition in Puškins Novellen ‚Der Schuss‘ und ‚Der Posthalter‘. In: Poetica 13 (1981), 82-132; Ders.: Diegetische Realisierung von Sprichwörtern, Redensarten und semantischen Figuren in Puškins ‚Povesti Belkina‘. In: Wiener Slawistischer Almanach 10 (1982), 163-195; Hansen-Löve, Aage: Pečorin als Frau und Pferd und anderes zu Lermontovs Geroj našego vremeni, 2. Teil, Russian Literature XXXIII/4 (1993), 413-470. 51 Kirschen können in der christlichen Ikonographie den kernigen Granatapfel ersetzen. Vgl. Tizians Kirschenmadonna, um 1506, Kunsthistorisches Museum in Wien; Bergström, Ingvar: Disguised Symbolism in Madonna Pictures and Still Life. In: The Burlington Magazine 97 (1955), 303-308, hier 304 sowie das eucharistische Hochzeitsbild eines Frankfurter Malers mit Kirschen, zwei Fliegen, Wein und dem angeschnittenen Brot aus dem Jahre 1496, in: Chastel, André: Musca depicta. Milano 1984, 21; Gerlach, Anika: Die symbolische Bedeutung der Kirsche. Diplomarbeit. Kassel 2009. http://www.uni-kassel.de/fb11/nue/documents/diplom_annika_gerlach.pdf (Zugriff: 18.12.2010); Drubek-Meyer, Natascha: Der russisch-orthodoxe Feiertag der Verklärung des Herrn (preobraženie) als spas jabločnyj („Apfel-spas“) und das russische Märchen über die Jungbrunnenäpfel (Molodil’nye jabloki). In: Wiener Slawistischer Almanach 55 (2005), 85-110, hier 87. 52 In seinen Manuskripten versah Puškin gerade die Liebesgedichte und -poeme oft mit gezeichneten Kirschen, wie z.B. das Poem „Der Gefangene im Kaukasus“ („Kavkazskij plennik“, 1821). 53 Puškin 1999, 63; Puškin 1970, 84. «Что пользы мне, подумал я, лишить его жизни, когда он ею вовсе не дорожит? Злобная мысль мелькнула в уме моем. Я опустил пистолет.»
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Sein Verzicht auf den Schuss, der die verletzte Ehre wiederherstellen sollte, stößt in den Augen der Soldaten auf Unverständnis. Seit diesem Ereignis ist Sil’vio auch nicht mehr bereit, sich an einem anderen Duell zu beteiligen. Vielmehr spart er sich sein Leben für den Augenblick der Wiederholung des Duells auf. Beim Warten auf die nächste Gelegenheit vertreibt er sich die Zeit mit dem Schießen auf die mit symbolischer Bedeutung aufgeladenen Objekte der Liebe, Spielkarten mit Herzass, und Fliegen54 als desakralisierende Insekten an den Mauern seiner Wohnung. Erst als er erfährt, dass der Graf geheiratet und sein Militärleben aufgegeben hat, will er seine aufgesparte Kugel abschießen. Bei der zweiten Duellkonfrontation zielt der Graf, dem Sil’vio eine zweite Chance zum Schuß gibt, wieder daneben und trifft diesmal das Gemälde einer Schweizer Landschaft – eine Anspielung an Schillers Wilhelm Tell und dessen berühmten Apfelschuss.55 Sil’vio feuert aufgrund der sichtbaren Angst des Grafen vor dem Tod und der flehentlichen Bitten von dessen Ehefrau wieder nicht auf seinen Kontrahenten, sondern auf das Loch, das die Kugel aus der Pistole des Grafen zuvor fabriziert hat. Der Erzähler, der anonyme Leutnant, entdeckt Jahre später in der Wohnung des Grafen, seines neuen Nachbarn, die Spur dieser zweiten Auseinandersetzung. Unterdessen ging ich im Zimmer auf und ab und betrachtete Bücher und Bilder. Ich verstehe nicht viel von Gemälden, aber eines – es war eine Schweizer Landschaft – erregte meine Aufmerksamkeit. Was mich fesselte, war allerdings nicht die künstlerische Darstellung, sondern der Umstand, dass das Bild von zwei Kugeln durchschossen war, die in ein und demselben Loch steckten.56
Wie im Wettstreit der Künstler – etwa jenem zwischen Protogenes und Apelles, in dem der Sieger die dünn gezeichnete Linie des Gegners noch ein weiteres Mal zu durchtrennen vermag57 – schießt auch Sil’vio seine Kugel ins Loch seines Gegners, um seine Schießkunst unter Beweis zu stellen. Nach dieser Geste des Überschreibens begibt er sich in die tödliche Schlacht bei Skuleni – in die Leere, ähnlich der des Einschußlochs im Gemälde. Wie Sil’vios Kugel im schwarzen Loch des Gemäldes verschwindet und nur eine
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Zur Ikonographie der Fliege: Chastel 1984; Hansen-Löve, Aage: Muchi – russkie, literaturnye. In: Studia Litteraria Polono-Slavica 4 (1999), 95-132; Jurković, Harald: Das Bildnis mit der Fliege. Überlegungen zu einem ungewöhnlichen Motiv in der Malerei des 15. und 16. Jahrhunderts. In: Belvedere 10 (2004), 4-23, 80-87. 55 Busch 1963, 408; Schmid 1981, 96; Schmid 1982, 178; Ebbinghaus 1989, 320. 56 Puschkin 1999, 66f.; Puškin 1970, 86. 57 Vgl. Meinberger, Sabine: Der Künstler selbst war abwesend. Zu Plinius’ Erzählung vom Paragone der Linien. In: Baader, Hannah/Müller Hofstede, Ulrike/Patz, Kristine/Suthor, Nicola (Hrsg.): Im Agon der Künste. Paragonales Denken, ästhetische Praxis und die Diversität der Sinne. München 2007, 19-31; Belting, Hans: Bild und Kult. Die Geschichte des Bildes vor dem Zeitalter der Kunst. München 1990.
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kaum sichtbare Spur hinterlässt,58 so verschwindet auch der Held spurlos auf dem Balkan. Sein Ausstieg aus dem rituell-regelhaften, als ehrenvoll angesehenen Duell in den chaotischen und verheerenden Balkankrieg eröffnet am Ende einen stummen Balkan-Diskurs über den Tod.59 Diesen Titel hätte die Erzählung ursprünglich auch tragen sollen. Das Verschwinden des Helden in der Schlacht bei Skuleni ist, wie Wolf Schmid bemerkte, ein Ersatz für den Selbstmord.60 Puškins literarische Strategie, den Helden spurlos auf dem Balkan verschwinden zu lassen, ist ein Initialakt der russischen Literatur im Umgang mit dem Thema „Balkan“. Das Niemandsland taucht als eine parergonale Struktur am Ende der Erzählung auf, die den Ausstieg des problematischen Helden ermöglicht, ohne ihm einen tragisch-heroischen Tod zu gewähren. Seither dient die Region auch russischen Autoren wie Ivan Turgenev im Roman Am Vorabend (1860) und Lev Tolstoj in Anna Karenina (1878) als locus für die Entsorgung von Helden, die nach konventionellen Kriterien versagt haben. In der Erzählung Kirdžali (1834) – türkisch für Kämpe oder Haudegen, wie der Erzähler den Leser belehrt – wird berichtet, wie ein durchtriebener bulgarischer Aufständischer die schutzlose Zivilbevölkerung ausraubt und nach der Schlacht bei Skuleni sowohl von den türkischen als auch von den 58
Auch L. Lieber (Die Welt der lebendig gewordenen Gegenstände in Puschkins Prosa. ‚Der Schuss‘, ‚Der Postmeister‘. In: Slavica 14 (1976), 117-130) weist auf die Bedeutung des Loches hin, von dem man mehr als von dem Gemälde erfährt. 59 Die russische literarische Kritik bis ins frühe 20. Jahrhundert betrachtete Sil’vio mit Antipathie. In ihm sah man einen byronschen überflüssigen Menschen oder eine frühe Realisierung des nietzscheanischen Machtmenschen. In der Sowjetunion löste er jedoch plötzlich eine Sympathiewelle aus (vgl. Markovič, Vladimir: Povesti Belkina’ i literaturnyj kontekst. In: Puškin. Issledovanija i materialy 13. Sbornik naučnych trudov. Sankt-Petersburg 1993, 63-87). Vor allem die sowjetische Nachkriegsforschung schrieb ihm edle Gesinnung, Unerschrockenheit und die Bereitschaft zu, sein ganzes Leben einem (politischen) Ziel unterzuordnen zu. Im Verzicht auf Rache hätte Sil’vio angeblich seinen Egoismus überwunden und sich für einen moralischen Sieg entschieden. Die Teilnahme an der Schlacht bei Skuleni in der Moldau deutete man als einen altruistischen Heldenakt, einem anderen, nicht-russischen Volk zu helfen. Diese Interpretation stand freilich im Einklang mit der sowjetischen Politik der Völkerfreundschaft, dem Beschützen der Satellitenstaaten in Osteuropa und der Unterstüzung der griechischen Kommunisten unter Generl Marcos Vifiades. In Sil’vio sah man nun einen fortschrittlichen, klassenlosen Menschen, der in Opposition zum adeligen Grafen steht. Die Militäranekdote im Epilog wurde als Freiheitskampf der Unterdrückten gedeutet. Wenn man die Erzählung in den Kontext des zeitgenössischen Anti-Philhellenismus stellt, kommt man zu einem ganz anderen Ergebnis. Diese zweite Lesart, den griechischen Freiheitskampf als eine Absonderung und Selbst-Negation zu verstehen, unterstützt auch eine weitere Erzählung Puškins. 60 Schmid, Wolf: Ornamentales Erzählen in der russischen Moderne. Čechov – Babel’ – Zamjatin (= Slavische Literaturen. Texte und Abhandlungen 2, Hrsg. Wolf Schmid). Frankfurt a.M u.a. 1991, 194-197.
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russischen Behörden gesucht wird.61 Der Erzähler in Kirdžali, der sich durchweg verächtlich über die Aufständischen und ihre Anführer äußert, entzaubert damit die Legenden über mutige, freiheitsliebende BalkanRäuber, serbische Hajduken und bulgarische Komiten, welche in den südslawischen Volksliedern als Verteidiger der Christen vor den Türken besungen wurden. Es ginge ihnen gar nicht um die nationale Freiheit, sondern ausschließlich um Beute und Mord. Auch der leidenschaftliche, leichtsinnige Anführer, der griechische Phanariot und Generalmajor der russischen Armee, Alexander Ypsilanti, wird als inkompetent geschildert: Wenn Ypsilanti sich auch durch große Tapferkeit auszeichnete, so fehlten ihm doch die notwendigen Eigenschaften für die Rolle, die er so leidenschaftlich und leichtsinnig auf sich genommen hatte. Er verstand es nicht, mit den Menschen auszukommen, deren Anführer er sein musste. Sie achteten ihn nicht und hatten kein Vertrauen zu ihm. Nach seiner schweren Niederlage, der die Blüte der griechischen Jugend zum Opfer fiel, riet ihm Jordaki Olimbioti abzudanken und trat selber an seine Stelle. Ypsilanti zog sich an die österreichische Grenze zurück und sandte von dort aus allen seinen Fluch, die seinen Befehlen nicht gefolgt seien. Doch diese Feiglinge und Verräter, wie er sie nannte, waren größtenteils vor den Mauern des Klosters Seku und an den Ufern des Pruth, wo sie sich gegen einen zehnmal stärkeren Feind verzweifelt gewehrt hatten, gefallen.62
In seinem Bericht, der eine „ergreifende Wahrheit“ der Ereignisse und Umstände anstrebt, spricht der Erzähler den Aufständischen auch jegliche strategische Kompetenz ab. Seine Beschreibung verkehrt die Darstellung der heldenhaften Griechen, wie sie auf Gemälden der französischen Philhellenen dargestellt wurden, ins Gegenteil. Wie es scheint, ist die erschütternde Tragik der Kämpfe bei Skuleni bisher noch nie wahrheitsgemäß geschildert worden. Man stellte sich siebenhundert Arnauten, Albaner, Griechen, Bulgaren und Angehörige anderer Volksstämme vor, die ohne die geringsten Kenntnisse der Kriegskunst vor fünfzehntausend türkischen Reitern die Flucht ergreifen. Diese zusammengewürfelte Truppe wich an den Pruth zurück und fuhr zwei lächerlich kleine Kanonen vor sich auf.63
Die Kenntnisse über den niedergeschlagenen griechischen Aufstand von 1821, der vom griechischen Phanarioten Alexander Ypsilanti, Generalmajor der russischen Armee und Teilnehmer an der Völkerschlacht von Leipzig 61
Puškin gab dem Helden den Namen des Hetäristen Georgij Kirdžali, den die Russen am 26. Februar 1823 in Kišnev an die Türken ausgeliefert hatten. Es gelang ihm zwar zu fliehen, aber er wurde bereits am 24. September 1824 in Yassi wieder gefangen genommen und anschließend hingerichtet (Vgl. Sampimon, Janette: Becoming Bulgarian. The articulation of Bulgarian identity in the nineteenth century in its international context. An intellectual history. Amsterdam 2006, 42; Puškin, Aleksandr: Sobranie sočinenij v 6 tomach. Tom 4. Primečanija. Moskva 1969, 480). 62 Puschkin, Alexander: Erzählungen. Aus dem Russischen von Fred Ottow. Mit Nachwort und Zeittafel von Johanna Renate Döring-Smirnov. München 1999, 419f.; Puškin, Aleksandr: Polnoe sobranie sočinenij. Tom 8. Romany i povesti. Putešestvija. Moskva 1940, 255. 63 Puschkin 1999, 420; Puškin 1940, 256.
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1813,64 angeführt wurde, sammelte Puškin bereits in unmittelbarer Nähe der Ereignisse, während seiner Verbannung nach Kišinev in den Jahren 182023.65 Wegen politischer Epigramme 1820 nach Ekaterinoslav (Dnepropetrovsk) verbannt, durfte er sich aus Gesundheitsgründen noch im selben Jahr dem General Raevskij bei seiner Reise in den Kaukasus anschließen.66 Diese verlief entlang der Südküste der Krim über Hursuf, Bachčisaraj, Simferopol, führte nach Odessa und schließlich in das russische Kišinev (mold. Chişinău) in der Moldau, wohin inzwischen auch Puškins Vorgesetzter, General Insov, versetzt wurde. Puškin verbrachte in der moldavischen Stadt drei Jahre, bis er im Jahre 1824 wegen der Epigramme gegen seinen neuen Vorgesetzten, General Voroncov, auf das Familiengut Michailovskoe verbannt wurde. In Kišinev schloss er sich 1821 begeistert der Philiki Etaireia, der geheimen Heteristen-Bewegung an, und bezeichnete in seinen Tagebuchnotizen die Griechen als „rechtmäßige Erben Homers und Themistokles’“.67 Der Anführer dieses politischen Geheimbundes, der bereits 1814 von den griechischen Patrioten und den Philhellenen in Odessa gegründet wurde, war Alexander Ypsilanti, 68 der mit den griechischen Streitkräften von Odessa aus die türkischen Truppen angriff. 69 Im März 1821, als er noch voller Enthusiasmus für den griechischen Aufstand war, bedachte er Ypsilanti in einem Brief an Davydov nur mit Superlativen.70 Am 22. Februar 1821 überschritt Ypsilanti, im Vertrauen auf die Unterstützung durch Zar Alexander I., den Pruth, die Grenze zwischen Russland und der Türkei.71 Zwei Tage später erreichte er Jassy, die Hauptstadt der Moldau, von wo aus er das Signal zu einem großen Aufstand gegen die Herrschaft des Sultans in Südosteuropa gab. In der entscheidenden Phase des Aufstands, der an drei verschiedenen Orten – auf dem Peloponnes, in Istanbul sowie in der Moldau und der Walachei – geplant war, kam es zum Konflikt zwischen Ypsilanti und seinem rumänischen Ver64
Zu Ypsilanti und seinen Verbindungen zu Russland: Dvojčenko-Markova, E.M.: Puškin v Moldavii i Valachii. Moskva 1979, 38-40. 65 Details zu Puškins Aufenthalt, Bekanntschaften und Tätigkeit in Kišinev: Ebd., 4-66. 66 Setschkareff, Vsevolod: Alexander Puschkin. Sein Leben und sein Werk. Wiesbaden 1963, 14ff. 67 Busch, Ulrich: Puškin und Sil’vio. Zur Deutung von ‚Vystrel‘. Eine Studie über Puškins Erzählkunst. In: Braun, M./Koschmieder, E. (Hrsg.): Slawistische Studien zum V. Internationalen Slawistenkongress in Sofia 1963 (= Opera slavica IV, Hrsg. Maximilian Braun/Alis Schmaus). Göttingen 1963, 401-425, hier 423. 68 Zu Ypsilanti und seinen Verbindungen zu Russland: E.M. Dvojčenko-Markova 1979, 38-40. 69 Dvojčenko-Markova 1979, 38-40; Sowards, Steven W.: Moderne Geschichte des Balkans: Der Balkan im Zeitalter des Nationalismus. Seuzach 2004, 128ff. 70 Ebd., 42, 44. 71 Hering, Gunnar: Der griechische Unabhängigkeitskrieg und der Philhellenismus. In: Noe, Alfred (Hrsg.): Der Philhellenismus in der westeuropäischen Literatur 17801830. Amsterdam 1994, 27-72, hier 18.
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bündeten, Tudor Vladimirescu, der in Ypsilantis Lager zum Tode verurteilt und hingerichtet wurde. Im Juni 1821 wurde der Widerstand in der Walachei gebrochen. Anfang September überwältigten osmanische Truppen noch die letzten Rebellen, die sich ins Kloster von Secu geflüchtet hatten. Ypsilanti floh über die Grenze nach Österreich, wo er verhaftet wurde und später im Gefängnis starb. Ausschließlich auf dem Peloponnes (Morea) gelang es den Aufständischen, sich zu befreien und in einem Rachefeldzug die muslimische Bevölkerung zu massakrieren.72 Nach der historisch-militärischen Einleitung wird die Erzählung auf den bulgarischen Aufständischen Kirdžali fokussiert, dessen wahrer Name – so wie der Name Sil’vios – unbekannt bleibt. Vielmehr bezeichnet er metonymisch den Gegenstand (Haudegen),73 mit dem der Namensträger geschickt umgehen kann – doch nicht gegen bewaffnete Krieger, sondern gegen die schutzlose Zivilbevölkerung. Das türkische Wort ‚Kirdshali‘ bedeutet Kämpe oder Haudegen. Der berüchtigte Räuber, dem man diese Bezeichnung beigelegt hatte, sein eigentlicher Name war unbekannt, stammte von bulgarischen Eltern ab. Durch seine wilden Streifzüge verbreitete er Entsetzen im ganzen Moldaugebiet. Um ein Bild von ihm zu geben, will ich eine seiner kühnen Taten erzählen. Eines Nachts überfielen er und sein Spießgeselle Michailaki eine bulgarische Siedlung. Sie setzten das Dorf in Brand, indem sie es an beiden Enden anzündeten, und gingen mit dem Ruf ‚Kirdshali! Kirdshali!‘ von Haus zu Haus. Michailaki raubte die Hütten aus, und Kirdshali tötete jeden, der ihm in die Hände fiel.74
In Westeuropa wurden die Legenden über mutige, friheitsliebende BalkanRäuber durch zahlreiche deutsch-, italienisch- und französischsprachige Übersetzungen verbreitet, wie Herders Stimmen der Völker in Liedern (177879), Alberto Fortis’ Reisebricht Viaggio in Dalmazia (Venedig 1774, engl. Travels into Dalmatia, London 1778), Vuk Stefanović Karadžićs Kleines slawoserbisches Volksliederbuch (Mala prostonarodna slavenoserbska pjesnarica, Wien 1814) und Serbische Volkslieder (Narodne srpske pjesme, Leipzig-Wien 1823-33), die vom Wiener Hofbibliothekar und Slawisten 72
Mjasnikov, A. S. (Hrsg.): Perepiska A. S. Puškina v dvuch tomach. Tom pervyj. Moskva 1982, 140. 73 Am 26. Februar 1823 wurde der Heterist Georgij Kirdžali aus dem Gefängnis von Kišinev an die Türken ausgeliefert. Es gelang ihm zwar zu fliehen, aber er wurde am 24. September 1824 in Yassi wieder gefangen genommen und anschließend hingerichtet (A. S. Puškin. Sobranie sočinenij v 6 tomach. Tom 4. Primečanija, Moskva 1969, 480). „Kărdžali“ heißt auch eine Stadt im Rhodopen-Gebirge in Bulgarien. Eine Legende besagt, dass die Stadt nach dem türkischen Heerführer Kărdža Ali benannt wurde, der später zum Christentum übertrat und Mönch wurde. „Kărdžalij“ werden auch Gruppen von Räubern im osmanischen Reich genannt. „Kir“ oder „Кăr“ (auf Bulgarisch) steht für „Feld“ und „cali“ bedeutet „Räuber“. Das Feldräubertum („Kărdžalijstvo“) bildete sich Ende des 18. und Anfang des 19. Jahrhunderts aus als Phänomen der Schwächung des Osmanischen Reiches aus; Vgl. Sampimon 2006, 42. 74 Puschkin 1999, 419; Puškin 1940, 255.
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Bartolomäus Kopitar ins Deutsche übersetzt wurden und von Jakob Grimm sowie Goethe in der Presse besprochen wurden, Prosper Mérimées La Guzla, ou choix de Poësie Illiriques, recueillies dans la Dalmatie, la Bosnie, la Croatie et l’Herzégovine (Paris 1827) und andere.75 Auch Cyprien Robert widmete einige Seiten in Les Slaves de Turquie. Serbes, Monténégrins, Bosniaques, Albanais et Bulgares. Leurs ressources, leurs tendances (1844) dem gesetzlosen Leben der Hajduken.76 Puškin übertrug Mérimées La Guzla77 sowie zwei weitere Lieder aus der Sammlung Karadžićs ins Russische und veröffentlichte sie unter dem Namen Die Lieder der Westslawen (Pesni zapadnych slavjan, 1831-32) – obwohl es sich dabei um Lieder der Südslawen handelt.78 Im Vorwort übernimmt er auch Mérimées Bewertung der serbischen Volksdichtung als „kunstlose“ Lieder eines „wilden Volkes“ („poèmes sans art, production d’un peuple sauvage“). In ihnen werden der Kampf der Serben gegen die Türken, die Schlacht auf dem Amselfeld (1389), der erste (1804-13) und der zweite serbische Aufstand (1815-17) besungen, die vom Hajduken Djordje Petrović Karadžordže und seinem Nachfolger Miloš Obrenović angeführt wurden. Bereits 1820 widmete Puškin dem Karadžordže und seiner Tochter zwei Gedichte („Pesnja o Georgii Černom“, „Dočeri Karageorgija“).79 Das Schicksal des ruhmreichen „Schwarzen Georgs“ (türk. Kara Djordje), der nach der Niederschlagung des Aufstandes in die Moldau floh, wurde auch durch den Reisebericht des russischen Historikers, Dimitrij N. Bantyš-Kamenskij Reise in die Moldau, die Walachei und nach Serbien (Putešstvie v Moldaviju, Valchiju i Serbiju, Moskva 1810) popularisiert.80 Ermordet 1817 durch seinen Nachfolger, Obrenović, avancierte er zu einer serbischen Helden- und Märtyrerfigur, deren 75
Zur Rezeptionsgeschichte der serbischen Volkslieder: Heimstedt-Vaid, Petra: Rezeption der serbischen Volkslieder und ihrer Übersetzungen in der deutschen Presse in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. In: Zeitschrift für Balkanologie 40 (2004), 121-139; Dies.: Vermittlerin slawischer Volkspoesie in Deutschland: Ida von Düringsfeld. In: Zeitschrift für Balkanologie 42 (2006), 78-91; Kohler, Gun-Britt: Fingierter Mythos, gefälschter Kommentar. Techniken der Simulation in Prosper Mérimées ‚La Guzla‘. In: Zeitschrift für Slawistik 54/2 (2009), 187-223. 76 Robert 1944, 24-29. 77 In Deutschland wurde sie vom Dichter Wilhelm Gerhard (Gedichte, Leipzig 1828) übersetzt. Vgl. Keck, Thomas A.: Frankreich-Bilder für eine Lyrik-Ausstellung. Eine Darstellung deutscher Rezeption französischer Literatur bis Mitte des 19. Jahrhunderts. In: Eßmann, Helga/Schöning, Udo (Hrsg.): Weltliteratur in deutschen Versanthologien des 19. Jahrhunderts (= Göttinger Beiträge zur internationalen Übersetzungsforschung 11). Berlin 1996, 3-50, hier 25. 78 Zu den Liedern der Westslawen vgl. auch: Dvojčenko-Markova 1979, 63, 73; Leščilovskaja, Inna: Bog nikomu ne ostaetsja dolžen. In: Rodina 4, 2000. http://www.istrodina.com/rodina_articul.php3?id=184&n=13, (Zugriff: 25.07.2010). 79 Ebd., 70f. 80 Ebd., 69f.
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Legende in der serbischen Emigration in der Moldau fortlebte. Als weitere Quellen für seine historische Erzählung dienten Puškin auch Dimitrij Kantemirs Beschreibung der Moldau (Descriptio Moldaviae/Opisanie Moldavii, 1714, veröffent. 1769) und A. I. Kornilovičs Statistische Beschreibung Bessarabiens (Statističesko opisanie Besarabii, 1828).81 Obwohl Kirdžali am Anfang von Puškins Erzählung als ein blutrünstiger, wilder Räuber ohne jegliche Romantik dargestellt wird, scheint der anonyme Erzähler allmählich dennoch die exotisch-romantischen Züge eines Hajduken an ihm zu entdecken. Er mochte etwa dreißig Jahre alt sein. Mit den scharf und regelmäßig geschnittenen Zügen seines sonnenverbrannten Gesichts, seinem hohen Wuchs und seinen breiten Schultern macht er den Eindruck eines Mannes von ungewöhnlicher Körperkraft. Eine bunte turbanartige Kopfbedeckung verhüllte zur Hälfte sein schwarzes Haar, und ein breiter Gürtel umschloss seine schmalen Hüften. Ein Dolman aus dickem blauem Tuch, ein weites Hemd, dessen Faltenwurf bis fast auf die Knie herabhing, und Sandalen aus farbigem Leder vervollständigten die Kleidung des Gefesselten. Seine Haltung war stolz und gelassen.82
Er versucht, sich auch in die schwierige Situation der Flüchtlinge auf russischem Gebiet einzufühlen, die sich dort zwar tadellos aufgeführt, aber von dort aus Raubzüge in die Türkei unternommen hatten. Obwohl sie nicht wussten, wovon sie sich dort ernähren sollten, waren sie doch Russland dankbar, das sie in seinen Schutz genommen hatte. In der Fremde führten sie ein untätiges, aber nicht lasterhaftes Leben. Man konnte sie überall in den Kaffeehäusern des halbtürkischen Bessarabiens sitzen sehen, an ihren langen Wasserpfeifen saugend und den Kaffeesatz aus winzigen Tassen löffelnd. Ihre buntbestickten Janken und feuerroten Schnabelschuhe waren bereits abgetragen und schäbig, aber um ihre unbezwingliche Kühnheit zum Ausdruck zu bringen, setzten sie noch immer ihre kleinen Filzkappen schief auf den Kopf, und nach wie vor steckten ihre Pistolen und krummen Jatagans in den breiten Gürteln. Man konnte sich nicht über sie beklagen, und niemand ahnte, dass diese friedliche Habenichtse in Wirklichkeit die verrufenen Spießgesellen des barbarischen Kirdshali waren und dass dieser sich sogar selbst mitten unter ihnen befand.83
Sein Mitgefühl steigert sich, als er von einem russischen Beamten erfährt, dass Kirdžali nach einem seiner Raubzüge von den Russen in Kišinev gefangengenommen, den Türken übergeben und zum Tode auf dem Pfahl verurteilt wurde. Bei seiner Übergabe bittet er mit zitternder Stimme und Tränen in den Augen um Hilfe für seine Frau und Kinder, wobei der Leser an der Aufrichtigkeit seiner Worte zweifeln muss. Die unverständliche fremde Sprache, Moldawisch, unterstreicht das überraschende Benehmen Kirdžalis, sein Täuschungsmanöver und seine Maskierung. 81
Ebd., 84f. Puschkin 1999, 423; Puškin 1940, 258. 83 Puschkin 1999, 421, 422; Puškin 1940, 256. 82
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Dann warf sich Kirdshali auf die Knie und bat um etwas auf Moldawisch. Der Erzähler erfuhr vom Beamten, es ging um Kirdshalis Frau und Kinder, damit sie nicht mit ins Unglück gezogen werden. Jetzt wandte sich Kirdshali an ihn und sagte mit zitternder Stimme, ganz verändertem Gesicht und Tränen in den Augen einige moldawische Worte und warf sich dann plötzlich mit klirrenden Ketten vor dem Beamten zu Boden.84
Die Ambivalenz zwischen Abscheu und Anziehungskraft manifestiert sich auch in der Bezeichnung Kirdžalis – einmal als „Räuber“ für die Türken und einmal als „Gast“ für die Russen. „Die Türken, Moldawaner und Walachen“, fuhr er fort, „sehen in mir natürlich einen Räuber, aber für die Russen bin ich ein Gast. Gott ist mein Zeuge, dass ich ihre Gastfreundschaft nicht missbraucht und nur von milden Gaben gelebt habe. Warum also wollen sie mich jetzt meinen Feinden ans Messer liefern? […] Die Obrigkeit, die ja nicht verpflichtet ist, einen Räuber vom romantischen Standpunkt aus zu beurteilen, war von der Berechtigung der Auslieferungsforderung überzeugt und gab Befehl, Kirdshali nach Jassy abzuschieben.85
Aus der weiteren Erzählung des Beamten geht jedoch hervor, dass es nie zur Verurteilung kam, weil sich Kirdžali durch das Märchenerzählen und die Gutgläubigkeit seiner Wächter – die Eigenschaften, die man Orientalen in den zeitgenössischen Reiseberichten zuschrieb – das Leben rettete. Den Gefangenen bewachten sieben Türken – einfache Leute und in der Seele ebensolche Räuber wie Kirdshali selbst. Sie vergötterten ihn und lauschten seinen wundersamen Erzählungen mit jenem unersättlichen Märchenhunger, der allen östlichen Völkern eigen ist. Zwischen dem Gefangenen und seinen Wächtern knüpfte sich auf diese Weise ein festes Band.86
Mit der „Geschichte vom goldenen Topf“ lockt Kirdžali seine Zuhörer in die Falle und lässt seine Räubergestalt mit dem Gold aus dem Märchen verschmelzen. Die Verführung erfolgt zuerst durch die Ansprache seiner Zuhörer als „Brüder“, dann durch den Hinweis auf die Macht des Schicksals. „Brüder“, sagte Kirdshali eines Tages, „meine Stunde ist nah. Niemand entgeht seinem Schicksal. Bald werde ich mich von euch trennen müssen, aber ich möchte euch nicht verlassen, ohne euch eine Kleinigkeit zum Andenken zu geben.“ Die Türken spitzten die Ohren. „Brüder“, fuhr Kirdshalui fort, „als ich noch vor drei Jahren mit dem verstorbenen Michailaki auf Räuberzügen war, vergruben wir eines Tages in der Steppe nicht allzu weit von Jassy entfernt einen Topf mit erbeuteten Goldstücken. Jetzt wird aber dieser Schatz weder ihm noch mir zugute kommen. So nehmt denn ihr ihn und teilt ihn brüderlich untereinander.“87
Bei der Suche nach dem vergrabenen Gold gelingt es ihm, sich zu befreien, und seine „Brüder“ zu töten. Kirdžali nützt seine Kenntnisse über Völkerste84
Puschkin 1999, 424; Puškin 1940, 258. Puschkin 1999, 422; Puškin 1940, 257. 86 Puschkin 1999, 425; Puškin 1940, 259. 87 Puschkin 1999, 425; Puškin 1940, 259. 85
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reotypen – den fatalistischen Schicksalsglauben der Türken und ihre Sucht nach Märchen. Paradigmatisch für diese Vorstellung ist der Zyklus Märchen aus Tausend und einer Nacht, der am Anfang des 19. Jahrhunderts in Europa äußerst populär wurde. Dort nützt Scheherazade die Sucht des Kalifen nach Märchen aus, um ihre Hinrichtung aufzuschieben. Kirdžali, Hajduk und Märchenerzähler, kann so auch als Parodie der romantischen Begeisterung für Märchen gelesen werden, in denen konkrete Orte in fiktive Räume mit tödlichen Folgen transformiert werden. So wie in seinem Roman in Versen, Evgenij Onegin (1821/22-1833), die Helden Opfer ihrer byronistischen oder sentimentalistischen Lektüre werden, so hat auch das Hören der Märchen für die Türken tödliche Folgen. Der Balkan wird zum Ort der Verstellung, an dem das Faktuale ins Fiktionale übergeht, Sagen und Meinen auseinanderklaffen und an dem man dem Wort „Bruder“, auch wenn es um slawische Brüder geht, nicht trauen darf. Die Erzählung endet mit der (rhetorischen) Frage „Was für einer ist Kirdžali?“,88 die den Leser nach seinen eigenen Völkerstereotypen, nach seiner Balkanvorstellung befragt. Puškins Ambivalenz dem griechischen Freiheitskampf und den slawischen Aufständischen gegenüber kann auch anhand seiner Korrespondenz aus den 1820er Jahren rekonstruiert werden. Auch darin macht sich eine Wende vom Philhellenismus zum orientalistischen Balkan-Diskurs wie bei den westeuropäischen Phillhellenen bemerkbar. Im Brief vom 5. April 1823 an den Grafen Petr A. Vjazemskij beschreibt Puškin Kišinev seiner Verbannung als Stadt, in der man griechischen Aufständischen begegnet: „Falls du im Sommer nach Odessa fährst, könntest du nicht einen Abstecher nach Kišinev machen? Ich stelle dich den Helden von Skuljan und Seku, den Mitkämpfern von Iordaka und einer Griechin, die Byron geküsst hat, vor.“89 Doch seine Begeisterung für die Aufständischen schlug bereits 1824 in Enttäuschung um. Aus Odessa schreibt er am 24./25. Juni 1824 einen Brief an Vjazemskij, in dem er seine Enttäuschung über Griechenland und die vermeintlichen griechischen Helden ausdrückt, die er nun als „Räuber“ bezeichnet.90 Die zeitgenössische Realität verdrängt die Ideale des griechischen Freiheitskampfes, welche durch die philhellenische Literatur und Kunst verbreitet wurden. So freut sich Puškin beinahe über den Tod des sechsunddreißigjährigen Lord Byron am 19. April 1824 in Messolongi, weil dieser durch seinen frühen Tod als sublimes Objekt der Dichtung erhalten bleibe.91 Lord Byrons Tod ist für Puškin auch der Anlass, sich, gegenüber Vjazemskij, über den griechischen Freiheitskampf zu äußern. 88
Puschkin 1999, 426; Puškin 1940, 260. Mjasnikov (Hrsg.) 1982, 161 «Если летом ты поедешь в Одессу, не завернешь ли по дороге в Кишинев? Я познакомлю тебя с героями Скулян и Секу, сподвижниками Иордаки, и с гречанкою, которая целовалась с Байроном.» 90 Busch 1963 , 423; Rothe, Hans: Puškin und der Staat. In: Ressel, Gerhard: A. S. Puškin und die kulturelle Identität Russlands. Frankfurt a.M. 2001, 45. 91 Mjasnikov (Hrsg.) 1982, 181. 89
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Über das Schicksal der Griechen darf man sprechen wie über das Schicksal einer Negerzunft, man darf sowohl der einen als auch der anderen die Befreiung von der unerträglichen Sklaverei wünschen. Aber dass alle kultivierten Völker für Griechenland schwärmen, ist eine unverzeihliche Kinderei. Die Jesuiten erzählten uns von Themistokles und Perikles, und wir haben uns eingebildet, dass ein verdorbenes Volk von Räubern und Bettlern der legitime Nachkomme und Erbe ihrer Ehre sei, wie dies bereits in den Schulen unterrichtet wird. Du sagst, dass ich meine Meinung geändert habe; würdest du zu uns nach Odessa kommen und die Landsleute des Miltiades sehen, wärst du mit mir einverstanden.92
In einem Briefentwurf an V. L. Davydov von 1823-24 schmäht Puškin die Hetäristen gar als „einen Haufen furchtsamer, armer Diebe und Vagabunden, die nicht einmal den ersten Salven aus den schlechten türkischen Musketen standhalten konnten. […] Wir haben diese neuen Leonidasse in den Straßen von Odessa und Kišinev gesehen – mehrere sind uns persönlich bekannt, und wir konstatieren ihre vollständige Unfähigkeit“.93 Während bei Fallmerayer die Angst vor einem panslawistisch gestärkten Russland einen neuen Balkan-Diskurs auslöste, sah Puškin seine Hoffnungen durch das Scheitern Ypsilantis und der griechischen Anführer enttäuscht. Wie Fallmerayer zweifelt er an nationalen, liberalen Projektionen auf den griechischen Freiheitskampf und schätzt den Krieg nüchterner ein. Doch wie der Münchener Polyhistor hat auch der russische Schriftsteller ideologische Gründe, die aus der jeweiligen nationalen Perspektive konsequent erscheinen. Die weitere Geschichte der Bewertung des neuen Griechenland durch die russische Intelligenz bestätigt diese Einschätzung. Als das Zarentum sich nach dem Erfolg des Freiheitskampfs in seinem Anspruch als Schutzmacht der Orthodoxie enttäuscht sah, verstärkte sich die Tendenz zur Entzauberung des Freiheitskampfes. In den geopolitischen Konflikten um das osmanische Erbe waren die Gründung der autokephalen griechisch-orthodoxen Kirche im Jahre 1833 und deren Anerkennung durch den ökumenischen Patriarchen von Konstantinopel 1850 weitere Etappen der Eindämmung des russischen Einflusses.
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Ebd., 181. «Греция меня огадила. О судьбе греков позволено рассуждать, как о судьбе моей братьи негров, можно тем и другим желать освобождения от рабства нестерпимого. Но чтобы все просвещённые народы бредили Грецией- это непростительное ребячество. Иезуиты натолковали нам о Фемистокле и Перикле, а мы вообразили, что пакостный народ, состоящий из разбойников и лавочников есть законнорожденный их потомок и наследник их школьной славы. Ты скажешь, что я переменил своё мнение, приехал бы ты к нам в Одессу посмотреть на соотечественников Мильтиада, и ты бы со мною согласился.» 93 Ebd., 423. «un tas de gruex timides, voleurs et vagabonds qui n’ont pu même soutenir la premier feu de la mauvaise mousqueterie turque. […] Nous avons vu ces noveaux Léonidas dans le rues d’Odessa et de Kichinev – plusiers nous sont personellement connus, nous certifions leur complète nullité.»
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Nach dem Krimkrieg unterzeichneten 1860 russische Slawophile wie Aleksej Chomjakov, Michail Pogodin, Jurij Samarin, Konstantin Aksakov eine Schrift „An die Serben. Sendschreiben aus Moskau“.94 In ihrem „geistigen Hochmut“ schmückten sich die Griechen mit dem Heldenruhm ihrer Vorfahren. Auf ihre christlichen Brüder blickten sie herab und beharrten auf ihrer griechischen Kirche. Andere slawische Völker hassten sie und sie hießen es gut, wenn sie weiter unter türkischem Joch blieben. Auch deren Sprache gegenüber verhielten sie sich feindlich und wären bestrebt, sie, wenn möglich, aus dem Gottesdienst zu vertreiben. Mit den muslimischen Türken könnten sie besser koexistieren als mit den christlichen Slawen. Sogar judenfeindliche Emotionen werden gegen die Griechen mobilisiert: Wie die Juden sich in der Vergangenheit als das einzig auserwählte Volk Gottes angesehen hätten, so würden die Griechen andere Völker als Knechte ansehen. Dem geistigen Hochmut der Griechen entspreche der „intellektuelle Hochmut“ der westlichen Völker. Den Serben bieten sich die Russen nun nach den griechischen Verrätern als „Blutsbrüder“ und „geistige Glaubensbrüder“ an. Die Aufstände und der Unabhängigkeitskampf der Südslawen in den 60er und 70er Jahren führten zu einer weiteren Verschlechterung der Beziehungen zwischen den orthodoxen Griechen und den orthodoxen Slawen, insbesondere den Bulgaren. So wie die Griechen vor einem halben Jahrhundert strebten die Bulgaren nun die politische und religiöse Autonomie an. Den Prozess der Entzweiung zwischen Griechen und Bulgaren beschreibt der slawophile Philosoph, Schriftsteller und Diplomat, Konstantin N. Leont’ev (1831-1891), der 1863-71 als Sekretär und Dolmetscher im russischen Konsulat auf Kreta tätig war.95 In seinen „Notizen vom Berg Athos und dessen Beziehungen zu Russland“ (1872) beobachtet er, dass die bulgarische Orthodoxie – „eine Waffe, die in der griechischen Fabrik produziert wurde“ – sich infolge entgegengesetzter politischer Interessen nun in einen Hass gegen diese selbst gewandelt habe, obwohl sich die Griechen und die Bulgaren psychologisch kaum voneinander unterscheiden würden.96 Dieser Unterschied sei seiner Meinung nach sogar viel kleiner als derjenige zwischen den Groß- und Kleinrussen (Ukrainern). In der Schrift „Panslawismus und die Griechen“ (1873) beobachtet er eine Spaltung in der Carigrader Presse, wobei sich der Courrier d’Orient auf die Seite der Bulgaren, der Phare du Bosphore hinge94
Chomjakov, Aleksej: K srebam. Poslanie iz Moskvy. In: Arsenev, Nikolaj S. (Hrsg.): Aleksej Chomjakov. Izbrannye sočinenija. New York 1955, 175f. 95 Zu Konstantin N. Leont’ev: Kologriwof, Iwan von: Von Hellas zum Mönchstum. Leben und Denken Konstantin Leontjews. Regensburg 1948; Onasch, Konrad: Konstantin Nikolajewitsch Leontjew. In: Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon 4 (1992), coll. 1499-1501; Kosik, V. I.: Konstantin Nikolaevič Leont’ev. Reakcioner, prorok? In: Vostok, Rossija i slavjanstvo. Filisofskaja i političeskaja publicistika. Duhovnaja proza (1872-1891). Red. G.B. Kremnev. Vstup. i komment. V.I. Kosik, Moskva 1996, 5-12. 96 Leont’ev, Konstantin: Zapiska ob Afonskoj Gore i ob otnošenijach ee k Rossiji (1872). In: Vostok, Rossija i slavjanstvo 1996, 17.
Die Orientalisierung Bulgariens: Viktor Tepljakovs Briefe aus Bulgarien (1833)
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gen auf die Seite der Griechen geschlagen habe.97 Leont’ev selbst unterstützt die Bulgaren, versucht jedoch gleichzeitig die Griechen zu beschwichtigen und sie enger an Russland zu binden – mit dem Argument, dass Russland durch die Expansion nach Asien zu einem Land geworden sei, in das auch nicht-slawische Völker integriert seien.98 Im Panslawismus sieht er eine politische Verbindung zwischen den slawischen Nationen (nacija) bzw. den slawischen Stämmen (plemja), die er in einen russischen, tschechischen, bulgarischen, serbischen, slowakischen und illyrisch-kroatischen Stamm einteilt. Wie Cyprien Robert stellt er sich diesen Verbund als eine Konföderation vor, wobei Russland darin eine zentrale Rolle wie ein „Planet mit vielen Satelliten“ einnehmen solle. Dennoch warnt er zugleich vor der Inkorporation der „Satelliten“, die, wie im Falle Polens, Russland nur Schwierigkeiten bereitet hätten. Diese panslawische Konföderation sollte jedoch auch für die nicht-slawischen Stämme (inorodnye plemja), wie Griechen, Moldawo-Walachen und Ungarn offen bleiben. In dieser Form könnte sich die Funktion des Balkans als Schutzwall gegenüber der wirtschaftlichen Expansion Westeuropas erfüllen. Als überzeugter Verteidiger der alten byzantinischen Traditionen (vgl. seine Schrift „Byzantinismus und das Slawentum“/„Vizantizm i slavjanstvo“, Moskva 1875) setzt sich Leont’ev für den Erhalt der orthodoxen Einheit ein, die auch die Griechen einschließen soll. Denn gerade die orthodoxe byzantinische Tradition, der Byzantinismus, habe Russland zu seiner „Eigenartigkeit“ (svoeobrazie) verholfen, die z.B. den Tschechen wegen des deutschen Einflusses fehle.
4. Die Orientalisierung Bulgariens: Viktor Tepljakovs Briefe aus Bulgarien (1833) Der heute wenig bekannte russische Dichter Viktor Tepljakov, der in den frühen 1820er Jahren den Kaukasus als antike Tauris besungen hatte,99 begab sich im Jahre 1829 aus archäologischem Interesse in das „klassische Land“ Bulgarien. Mit Ausnahme von Warna und dessen Umgebung befand sich das Land unter osmanischer Herrschaft. In seinem Reisebericht Briefe aus Bulgarien. Geschrieben in der Zeit des Feldzugs im Jahre 1829 (Pis’ma iz Bolgarii. Pisani vo vremja kampanii 1829 goda, Moskva 1833) verwendet er für das Balkangebirge noch immer den griechisch-lateinischen Namen Haemus (russ. 97
Leont’ev, Konstantin: Panslavizm i Greki. In: Vostok, Rossija i slavjanstvo 1996, 38-55. Ebd., 45. 99 Zu Viktor Tepljakov als Dichter des Kaukasus vgl.: Boele, Otto: The North in the Russian romantic literature (= Studies in Slavic literature and poetics). Amsterdam 1996, 124. 98
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Gemus) und leitet den antiken Namen für Warna – Odessos (russ. Odessa) – etymologisch von dem griechischen Helden Odysseus ab.100 Tepljakov beschreibt Bulgarien vor der Folie der römischen Literatur, angefangen mit Ovids melancholischen Klageliedern „Ex ponte“ und „Tristitia“ aus der Zeit seiner Verbannung ans Schwarze Meer.101 Er schreibt dabei in Form von Briefen, die er (mit Ausnahme des vierten Briefes an G. A. Rimskij-Korsakov) ohne jeglichen intim-privaten Charakter an seinen Bruder richtet. Die Ovidsche Grundstimmung der Verbannung aufnehmend verabschiedet er sich in Klagetönen von der russischen Hafenstadt Odessa als wäre er von dort verbannt: „Es ist vollendet! Gott weiß, wann meine Beine wieder die russische Erde berühren werden!“102 Auch der prächtige Sonnenuntergang am Meer, der Sternenhimmel und die italienischen Matrosenlieder können seine Stimmung nicht aufheitern, weil die „dumme Trauer“ seine Brust ergriffen hat: „Lebe wohl, Heimat, lebe wohl!“103 Erst beim Anblick der russischen Fahne mit dem zweiköpfigen Adler, die an der Festung von Warna flattert, vergeht seine Sehnsucht nach der Patria endgültig und weicht dem Blick eines imperialen Eroberers: „Dann – ein unwillkürliches Hurra ist meinem Herz entgangen, als mich unser schwarzer zweiköpfiger Adler unter seine breite Flügel nahm, die mächtig über die Mauern der eroberten Festung ausgebreitet waren.“104 In diesem Augenblick überfliegt der Autor die Geschichte der Stadt vom römischen Imperium bis in die Gegenwart und reiht die russischen Eroberungen in die Tradition der Antike ein. Beim Eintritt in die Stadt weicht jedoch die klassisch-antike Wahrnehmungsfolie allmählich der orientalischen – der märchenhaften Welt aus Scheherazades Tausend und einer Nacht. Als ich in der Stadt angekommen bin, dachte ich vom ersten Augenblick daran, dass ich in die märchenhafte Welt Scheherazades entführt wurde, in das ewig faszinierende Bagdad, die Hauptstadt des mächtigen Kalifats. Ehrlich gesagt, fand sich kein Rechtgläubiger (Orthodoxer) in meiner Nähe, sondern Turban tragende Bulgaren, Armenier und Griechen, die in den dunklen und äußerst engen Straßen schimmerten; und die bunt leuchtenden asiatischen Waren auf den Ständen, und die dunkelhäutigen 100
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Tepljakov, Viktor: Pis’ma iz Bolgarii. Pisani vo vremja kampanii 1829 goda. Moskva 1833, II, 45. «Название Одессы не требует, кажется, дальних этимологических изысканий: оно без сомнения происходит от имени Одиссевса (Улисса) и таким образом служит доказательством того уважения, которое жители берегов Эвксина сохранили к памяти великаго царя-мореплавателя.» Auch Aleksandr Puškin kokettierte während seiner Verbannung nach Kišinev in den frühen 1820er Jahren mit Ovid. Ebd., 5. «Свершилось! Бог знает, когда-то ноги мои ступят вновь на роднию землю!» Ebd., 7. «Я от души прощался с ними; какая-то глупая тоска пощипывала груд мою: Прости, о родина, прости!» Ebd., 25. «Потом - невольное ура! вырвалось из моего сердца, когда наш черный двуглавый Орел принял меня под широкия крылья свои, мощно распростертыя над стенами покоренной крепости.»
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Gesichter, und diese fremde Sprache und Kleidung zerstörten nicht den Zauber, bis ich den ersten russischen Soldaten getroffen habe.105
Vom russischen General G. erfährt Tepljakov, dass auch viele antike Ruinen eine neue Funktion bekamen: Aus Verteidigungsgründen wurden sie in die Wände der Festung eingemauert. Noch unter dem Eindruck so verwendeter Spolien stellt der Reisende im zweiten Brief fest, dass das antike Erbe Warnas bereits der Vergangenheit angehört. Diesen Gedanken unterstreicht er mit fast orientalischen Überlegungen über die Macht des Schicksals: „Schon mehr als eine Woche bin ich in Varna; irre zwischen den Ruinen umher, bemühe mich um die Medaillen, um die Stücke des antiken Marmors; – lebe und unterhalte mich mit der toten Natur. Schicksal, Schicksal!“106 Auch im Kontakt mit der Bevölkerung, die eine Mischung aus Türkisch und Griechisch spricht, muss er feststellen, dass das griechische Erbe den türkischen Bräuchen und dem türkischen Charakter weichen musste. Ich sprach Russisch, er Türkisch und Griechisch. Ob wir einander gut verstanden haben, darüber möchte ich kein Wort verlieren: [...] Eine solche Gesprächigkeit ist übrigens eher die Ausnahme von der allgemeinen Regel in Warna, wo die Natur der christlichen Bewohner, so lange einem andauernden Einfluss der türkischen Bräuche unterworfen, alle Nuancen dieser wilden Grobheit annahm, die immer und überall das Erkennungsmerkmal des ottomanischen Charakters war.107
Auch auf den Straßen begegnet man dem Orient mit all seinen Tücken. Bulgarische Straßenverkäufer versuchen – wie alle Orientalen –, den Preis anzuheben, wenn sie das Interesse des Kunden bemerken. In einem solchen Labyrinth bräuchte der Reisende „den hilfreichen Faden Ariadnes“, um zu entkommen.108 Auch die Einwohner hätten orientalische Charakterzüge angenommen, während das Klassisch-Antike verdrängt wurde. 105
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Ebd., 27. «Вступив в город, я с перваго взгляда подумал, что перенесен в сказочный мир Шехерезады, в этот вечно занимательный Багдад, столицу могущественнаго Халифата. Правду сказать- ни один правоверный не встретился со мною, но чалмоносные Болгары, Армяне и Греки, мелькавшие в темных и чрезвычайно тесных улицах, но пестреющиеся в открытых лавках азиятские товары, но эти смуглыя лица, этот чуждый язык и одежда, не разрушали очарования до встречи с первым русским солдатом.» Ebd., 30. «Вот уже более недели, как я обитаю в Варне; скитаюсь посреди развалин, хлопочу о медалях, о кусках древняго мрамора; – живу и беседую с мёртвою природою. Судьба, судьба!» Ebd., 41f. «Я говорил по-русски, он – по-турецки и по-гречески. Много ли мы понимали один другаго – об этом ни слова: [...] Подобная словоохотливость есть впрочем исключение из общаго правила в Варне, где нравы христианских жителей, подчиненные столь долгому влиянию турецких обычаев, приняли все оттенки этой дикой суровости, которая всегда и везде была отличительной чертою оттоманскаго характера.» Ebd., 43. «Благодетельная нить Ариадны необходима в лабиринте следующих за сим тонкостей.»
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Viele Reisende bemerken völlig mit Recht, dass die heutigen Griechen, welche die großartigen Eigenschaften ihrer Vorfahren verloren hatten, die athenische Geschwätzigkeit und Leichtgläubigkeit vollkommen bewahrt haben, die der listige Philipp so oft zu seinem Nutzen wenden konnte. Zu diesem Erbe muss man noch die merkwürdige Liebe zum Wunderbaren hinzufügen, die sich in der poetischen Mythologie der alten Hellenen widerspiegelt – mit dem Unterschied, dass der bunte Kolorit jener glänzenden Dichtung für ihre verhärteten Nachfahren nicht mehr existiert.109
Auf den Gräbern der gefallenen russischen Soldaten, die mit „ihrem Blut dieses fremde Land verteidigt haben“,110 zitiert Tepljakov das Epigraph aus Puškins Gedicht „Der Springbrunnen von Bachtschisaraj“ („Bachčisarajskij fontan“, 1820), der dem persischen Dichter Saadi entnommen wurde. Die Verse des Troubadour aus Schiras erklangen in diesem Augenblick ähnlich wie die Stimme der längst vergangenen Trauer in der Tiefe meines erregten Herzens: „So!“ schrie ich auf: „wie ich, haben viele diese Fontäne gesehen; sie gibt es nicht mehr, andere reisten weiter!“ Tatsächlich, nichts konnte die Dinge, die mich in dieser Minute umgaben, besser bezeichnen.111
Allmählich gibt der Reisende der orientalischen Umgebung nach und akzeptiert sie auf fatalistische, orientalische Art: „‚In Rom sollst du römisch leben‘ – sagt das Sprichwort; und daher ist es weise, dass ich, mich in der Türkei befindend, beschlossen hatte, diesmal den einsichtigen osmanischen Fatalismus nachzuäffen.“112 Der Höhepunkt seiner archäologisch motivierten Reise sind die antiken Ruinen in Gebedže (bulg. Beloslav) in der Umgebung von Warna, die im vierten Brief an Rimskij-Korsakov beschrieben werden und denen auch die einzige graphische Illustration am Anfang des Buches gewidmet ist (Abb. 1).113 Sie zeigt eine idyllische Landschaft mit antiken Säulen, um die sich Efeu rankt. Das Bild erinnert eher an romantische Ruinenmalerei als an eine archäologische Zeichnung. 109
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Ebd., 63. «Многие путешественники весьма справедливо замечают, что нынешние Греки, утратив великия качества предков своих, сохранили вполне эту афинскую болтливость и легковерие, которыя хитрый Филипп умел столько раз обращать в свою пользу. К сему наследию должно также прибавить эту странную любовь к чудесному, которая отражается в поэтической Мифологии древних Эллинов, с тою только разницею, что радужный колорит сих блестящих вымыслов не существует более для их очерствелых потомков.» Ebd., 68. Ebd., 67f. «Стихи Ширазскаго Трубадура отозвались в этот миг подобно голосу давно минувшей печали во глубине моего давно взволнованного сердца: „Так!“ воскликнул я : „многие подобно мне видели сей фонтан; но иных уже нет, другие странствуют далече!“ В самом деле, ничто разительние сих слов не могло относиться к предметам, окружавшим меня в эту минуту.» Ebd., 94f. «В Риме живи по-римски- говорит пословица; а потому мудрено ли, что и я находясь в Турции, решил на этот раз обезьянить благоразумный фатализм оттоманский.» Ebd., 104ff.
Die Orientalisierung Bulgariens: Viktor Tepljakovs Briefe aus Bulgarien (1833)
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Abb. 1: Antike Ruinen in Bulgarien, Viktor Tepljakov, Briefe aus Bulgarien. Geschrieben in der Zeit des Feldzugs im Jahre 1829, Moskau 1833.
Im letzten Brief aus Warna berichtet Tepljakov über die aktuellen Kriegsereignisse – die blutigen Zusammenstöße zwischen den türkischen und russischen Truppen. Obwohl in den Kämpfen auch ein russischer General ums Leben kam, vergleicht Tepljakov die Angriffe der türkischen Soldaten mit harmlosen Wellen, die sich an den Granitsteinen der Küste brechen. Der exotischen Bekleidung und den Waffen der Türken wird – wie in der französischen orientalistischen Malerei eines Delacroix – mehr Aufmerksamkeit gewidmet als den blutigen Kriegsszenen. Die Arme sind bis an die Schultern entblößt, die Turbane mit abgewickelten und vom Wind aufsteigenden Schalkragen; stellen Sie sich den blendenden Glanz der fünftausenden Säbel, Lanzen, Jatagane vor, die in den Strahlen der Mittagssonne gebadet haben. Hören Sie das ferne Wiehern der Pferde, tierisches Gebrüll, laute grausame Drohungen und Flüche – und nur dann richten Sie Ihre Gedanken auf die wilde Schar, die wie gierige Heuschrecken unsere linke Flanke angegriffen hat.114
Nach dem Sieg der russischen Truppen über die Türken erscheint Tepljakov ein hübsches bulgarisches Mädchen in Festkleidung wie die mythologische 114
Ebd., 188. «Руки до самых плеч обнаженныя, чалмы с размотавшимися и клубимыми ветром шалями; вообразите ослепительный блеск пяти тысяч сабель, пик, ятаганов, облитых лучами полудневнаго солнца; внемлите далекому ржанию коней; зверским воплям, громким, свирепым угрозам и проклятиям - и только тогда обратите мысли свои на эту дикую ватагу, которая, подобно алчной саранче, ударила на левый фланг наш.»
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Nymphe Despina (Despoina = gr. Herrin).115 Das antike Gewand ersetzt die exotische, orientale Bekleidung. Nur noch ihr Name zeugt von antiken Zeiten – aber auch dieser zeichnet sie als orientalische Despotin aus. Doch diese ist bereits domestiziert worden und ähnelt den lieblichen französischen Dienstmädchen auf den Gemälden Jean-Baptiste Greuzes. Ist das nicht Despina? […] „Sibach-chair gjuzel’ kyzym!“ – sagte ich und in demselben Augenblick flatterte die leichte Despina hinein, ähnlich der kaballistischen Sylphe, lieblich, ja sogar hundert Mal lieblicher als alle naiven Köpfchen Greuzes, meine schönstimmige Turteltaube. Ihre Kleidung machte einen so festlichen Eindruck wie alles andere im Haus. Die neue, mit Gold bestickte saltamarka, der neue Gürtel, mit einer großen vergoldeten Schnalle; die neuen schalartigen šalvary, die neuen gelben mešty. Der frische Rosenkranz um den mit Seidentuch umwickelten fes und die langen nussbraunen Haare – vorne auf der Schulter, hinten fast bis zur Mitte des Körpers. Fügen Sie hinzu die milchweißen Hände und den milchweißen Hals, geschmückt mit Arm- und Halsbändern aus unterschiedlichen goldenen und silbernen Münzen; das opalene Weiß leuchtet mit starkem Feuer durch die dünnen lasurblauen Äderchen, und diese schwarze Augen, voller Herzensklarheit, und diese rosenfarbige Lippen mit treuherzigem und zugleich schelmischem Lächeln. Merkwürdig! Ein anderer würde sagen, dass die Funken der verschmitzten französischen Malerei, der verführerische Funke der grisaile in diesem Augenblick von Despinas Elementarkraft beherrscht und von ihren orientalen Reizen veredelt wurden. Das ist die bezaubernde Zjulejka […]; das ist die Schelmin Rosemma, wenn es um die Sünden Bérengers geht […], Despina ohne Scherz, zeigte sich mir diesmal als ein sehr gefährliches Kindchen. Sie lachte und, mir Blumen zuwerfend, verkündete sie, dass sie sehr gerne den Kopf auf meinen Schultern sieht, weil sie geglaubt hat – Gott weiß warum – ich wäre auf dem Weg von Ungläubigen getötet worden […].116 115
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Despina (Despoina) ist der zweite Name, der Geheimname der Persephone (vgl. Richter, Despoina. In: Ersch, J.S./Gruber, J.G. (Hrsg.): Allgemeine Enzyklopädie der Wissenschaften und Künste. A-G, Leipzig 1833, 273). Ebd., 201f. «Уж не Деспина ли? […] „Сибах-хаир гюзель кызым!“ – сказал я, и в один миг, легка, подобно кабалистической Силфиде, мила, или во сто раз милее всех наивных головок Грёйзовых, впорхнула ко мне Деспина, моя сладкогласая горлица. Ея одеяние представляло столь же праздничный вид, как и все прочее в доме. Новая цифрованая золотом салтамарка, новый, с огромной вызолоченой бляхою, пояс; новые шалевые шалвары, новые желтые мешты. Свежий розовый венок вкруг перевитаго шелковым платком феса и длинные ореховые волосы спереди по плечам, сзади почти до половины тела. К этому прибавьте молочный цвет рук и шеи, украшенных запястьями и ожерельем из разных золотых и серебряных денег; опаловую белизну ланит с ярким огнем сквозь тонкия лазурныя жилки, и эти черныя, полныя сердечной ясности очи, и эти розовыя уста с простодушной и вместе плутовской улыбкою. Странное дело! Иной бы сказал, что искры лукавой французской живописи, соблазнительныя искры гризетты были в это время господствующей стихией Деспины, облагороженныя ея восточными прелестями. То очаровательная Зюлейка, […] , то плутовка Розетта, когда за грехи Беранже [...] Деспина без всяких шуток, показалась мне на этот раз очень и очень опасною малюткою. Смеясь и бросая в меня цветами, она объявила, что очень рада видеть еще на плечах мою голову, ибо считая меня, Бог ведает по чему, убитым на дороге неверными, […].»
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Despinas Beschreibung ähnelt zwar Eugène Delacroixs Allegorie des sterbenden Griechenlands auf den Trümmern von Missolunghi, doch bei Tepljakov wird sie von der Sklavin zur Herrin, zu einer Allegorie des russischbulgarischen Sieges. Als Vorbild für seine Imagination dienen ihm dabei unterschiedliche Frauengestalten – einerseits die des französischen Malers Jean-Baptiste Greuze, andererseits Puškins Zjulejka aus der Fontäne von Bachtschisaraj und zuletzt Pierre Jean de Bérangers Rosalie. Bei seinem Abschied von Bulgarien resümiert Tepljakov seine Eindrücke von diesem Land: Die poetischen Täler des Haemus, wie sie Vergil in seiner Georgica beschrieben hatte, gibt es zwar noch, nur die Menschen, die einmal dieses Land bewohnt hatten, sind verschwunden. Die Natur, Armida verstreut jetzt mit dem göttlichen Reiz mit vollen Händen ihre Gaben genauso wie in der Zeit, als der klassische Schöpfer der Georgica heiß begehrt war, der dem ganzen höfischen Luxus den unbekannten Zufluchtsort in den Tälern des poetischen Gemus vorzog. Aber Leute, friedliche Bewohner? – Mein Gott! Ich habe schon tausend Mal wiederholt, dass sie nicht da sind, dass sie verschwunden sind, wie die Blätter, die von Aquilon auseinander geweht wurden. Nur irgendwo, von Bedürftigkeit gebeugt, von Hunger gequält, bleich wie die Larven des antiken Tartars irren Mengen von Bulgaren in der Asche ihrer zerstörten Hütten umher, oder dienen, von Kopf bis Fuß bewaffnet, den Gläubigen – nicht wegen irgendwelcher smindiridischen Launen, sondern zur Erfüllung der äußersten tierischen Bedürfnisse des Menschen. „Lasst sie sterben!“ würde irgendein Flegel aufschreien – Melmot; – „Amen! – würde irgendein höflicher Diplomat flüstern: ich bemerke von hier beiläufig, dass die voll bewaffneten Bulgaren unserer Fantasie über den kriegerischen Boden, über die Zeit der wilden Feiern, über das Zittern des Byzantinischen Reiches vor den Schwertern ihrer Väter erzählen. Dieses gute Volk ist bemerkenswert in verschiedener Hinsicht. Mit der Zeit (wenn ja unsere Korrespondenz wegen geistlicher Atonie nicht verkümmert), können die Bulgaren auf der Bühne noch mit manch’ ziemlich interessanten Details erscheinen.117 117
Ebd., 207. «Одна природа, Армида божественной прелестью, разсыпает полными руками дары свои точно также теперь, как и в то время, когда классический творец Георгик алкал променять всю придворную роскошь на безвестный приют в долинах поэтическаго Гемуса. – Но люди, но мирные жители? – Боже мой! Я уже тысячу раз повторял вам, что их нет, что они исчезли, подобно листьям развеянным осенними аквилонами. Кое-где только – согбенные нуждой , томимые голодом, бледные, подобно Ларвам древняго Тартара, блуждают толпы Болгар вкруг пепла раззоренных лачуг своих, или вооруженные с ног до головы, служат правоверным – не ради каких-нибудь нибудь сминдиридовских прихотей, но для удовлетворения крайних, животных потребностей человека! – „Пусть гибнут!” вскричал бы с адским смехом какой-нибудь невежа – Мельмот; – „Амин! – шепнул бы какой-нибудь вежливый дипломат: а я мимоходом замечу, что обвешенные оружием, здешные Болгары говорят еще вашему воображению о своих воинственных Крумах, о времени диких торжеств, о трепете Византийской Империи перд мечами отцов их. – Добрый народ сей замечателен очень во многих отношениях. Со временем (если впрочем наша переписка не исчахнет от умственной атонии) Болгары могут еще явиться на сцену с некоторыми довольно любопытными подробностями.»
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Was von der Antike übrig geblieben ist, sind Natur und Ruinen; das Volk der Bulgaren dagegen hat seine Verbindung mit der Antike verloren und orientale Eigenschaften angenommen. Einem Kosaken legt Tepljakov schließlich beiläufig eine andere Beurteilung der Bulgaren in den Mund: „Türken, Barbaren, verdammte bulgarische Räuber“.118
5. Ein polnisch-bulgarischer Kreuzzug gegen die Türken: Michaił Czajkowskis Roman Kirdżali. Eine Erzählung aus dem Donaulande (1839) Im Jahre 1839 griff der in Paris lebende Exil-Pole Michaił Czajkowski das bereits von Puškin angerissene Thema des niedergeschlagenen Aufstandes in der Moldau und der Walachei auf. Wie Puškin behauptet auch Czajkowski im Nachwort seines pittoresken Romans Kirdżali. Eine Erzählung aus dem Donaulande, dass sein Werk keine bloße Fiktion ist, sondern von wahren Begebenheiten erzähle, die ihm von Kirdżalis Bekannten berichtet wurden. Auch Puškin selbst zählt zu diesen. Kein meiner Erzählung einverleibtes Ereignis ist bloß Dichtung, alles was ich erzählte, ist Wahrheit, gegründet auf die Erzählung von Männern, welche Kirdschali und die Einzelheiten seines Lebens kannten. Alexander Puschkin, der große Dichter Russlands, sah, als er im Jahre 1821 in Bessarabien war, Kirdschali, und schrieb aus seiner Erinnerung einige Worte auf, die sich in einer russischen Schrift finden. […] Durch Vermittlung eines mir bekannten Wallachen in Paris, erhielt ich ein genaues Verzeichnis von den Erlebnissen und Taten Kirdschalis.119
Die zahlreichen Abenteuer, die sein Held Kirdżali im Kampf gegen die Muslime auf dem Balkan erlebt, vergleicht Czajkowski, der selbst ein Nachfahre des ukrainisch-kosakischen Hetman Ivan Brjuchovietskij war, mit der Ritterzeit in Europa. Ein an Ereignissen so reiches Leben, konnte man wohl früher in der Ritterzeit in Europa finden, aber jetzt trifft man es nur noch im Süden der slawischen Länder, oder in den kaukasischen Gebirgen. […] Es liegt eine gewisse Beweglichkeit in dem Blut und den Sitten der Slawen, die sie antreibt, dem Wunderbaren nachzujagen, ein unruhiges Leben aufzusuchen; dies ist allen slawischen Stämmen gemeinschaftlich, hat sich aber am kräftigsten im Süden des Slawenlandes, an der Donau entfaltet. Es liegt 118 119
Ebd., 197. «толкуя что-то сквозь зубы о Турках, о варварах, о проклятых болгарских разбойниках» Czajkowski, Michał: Kirdschali. Eine Erzählung aus dem Donaulande (= Das belletristische Ausland). Hrsg. Carl Spindler. Aus dem Polnischen übersetzt von Gustav Diezel. Stuttgart 1843, 306.
Ein polnisch-bulgarischer Kreuzzug gegen die Türken
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dies in der, für ein abenteuerliches Leben günstigen, Lage der Gegend und in der Art der türkischen Herrschaft, unter welcher man im eigenen Lande ein Mörder oder ein bewaffneter Landstreicher werden muss, um einer schmählichen Knechtschaft und den Grausamkeiten der Verehrer des Propheten von Mekka zu entgehen.120
Die Vorstellung vom ritterlichen Kampf gegen den Islam knüpft einerseits an die Tradition der Kreuzzüge an und stützt sich andererseits auf das polnische und südslawische Selbstverständnis als antemurale christianitatis – als Schutzwall des Christentums gegen die Ungläubigen.121 Anfang des 19. Jahrhunderts erhielten die mittelalterlichen Kreuzzüge auch in Frankreich eine positive Interpretation.122 Im Jahr 1806 widmete sich schließlich das Institute de France dem Thema und erforschte den Einfluss der Kreuzzüge auf die Entwicklung des Freiheitsgedanken, der westlichen Zivilisation sowie der Aufklärung. Sie wurden als ein konstitutives Element bei der Entstehung des christlichen Abendlandes aufgewertet und mit den trojanischen Kriegen verglichen. Chateaubriand etwa sah in ihnen eine berechtigte Verteidigung des Westens gegen den Islam.123 Czajkowskis macht in seinem Roman nicht nur die Polen, sondern auch die Südslawen zu den Erben der christlichen Kreuzritter und somit zu Kriegern par excellence. Ihnen liege der Kampf im Blut. Ihr abenteuerlicher, kämpferischer Charakter sei einerseits durch die geographische Lage – gemeint ist wohl das antike Erbe Griechenlands und Makedoniens – bedingt, andererseits sei er durch die Kriege gegen die Osmanen geformt worden. Somit stellt sich auch Czajkowski gegen Herders völkerpsychologische Charakterisierung der Slawen als „mildtätig, bis zur Verschwendung gastfrei, Liebhaber der ländlichen Freiheit, aber unterwürfig und gehorsam, des Raubens und Plünderns Feinde“.124 Der Roman wurde der Herzogin Marie von Württemberg, der Schwester von Adam Czartoryski und der Ehefrau von Ludwig von Württemberg gewidmet. In der Widmung wird sie als eine „patriotische, tugendhafte und hochbegabte Frau“ sowie als Verfasserin des Romans Malvina. Instinkt des Herzens (Malwina czyli domyślność serca, 1818)125 genannt. Vom Hause Württemberg erhofften sich die Exil-Polen die Unterstützung bei der Wie120 121
122 123 124 125
Ebd., 306f. Kryżaniakowa, Jadwiga: Polen als antimurale Christianitatis. Zur Vorgeschichte eines Mythos, in: Saldern, Adelheid von (Hrsg.): Mythen in Geschichte und Geschichtsschreibung aus polnischer und deutscher Sicht (= Politik und Geschichte 1, Hrsg. Adelheid von Saldern, Helmut Bley u.a.). Hannover-Münster 1996, 132-146. Zum wiederbelebten Thema der Kreuzzüge in Europa: Ruszkowski, Janusz: Adam Mickiewicz i ostatnia krucjata. In: Pamietnik literacki LXXXIY (1993), 41-62. Ruszkowski 1993. Herder 2002, 640. Zu Marianne Czartoryska als Schriftstellerin: Bütterlin, Rudolf: Malvina oder der Instinkt des Herzens. Zur Biographie von Marianne Czartoryska, Herzogin von Württemberg. In: Zeitschrift für württembergische Landesgeschichte 48 (1989), 223-238.
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dererlangung ihrer Eigenstaatlichkeit126, doch Ludwig von Württemberg lief bei den militärischen Auseinandersetzungen im Jahre 1792 zur russischen Seite über, obwohl er als Kommandeur einer berittenen Einheit im polnischen Militärdienst stand. Für die Polen galt er seit dieser Zeit als Vaterlandsverräter. Der Fürst Adam Czartoryski, der aufgrund seiner Verwandtschaft mit Stanisław August Poniatowski als legitimer König Polens angesehen wurde, betrieb vom Hôtel Lambert in Paris aus, verschiedene Aktionen zur Wiederherstellung eines unabhängigen polnischen Staates. Anfang der 1840er Jahre gehörten dazu auch geheime diplomatische Aktionen auf dem Balkan. Dabei sollten die aufständischen Südslawen, insbesondere die Serben, zu Verbündeten der Polen gemacht werden.127 Czartoryski erhoffte sich nach der Lösung der „türkischen Frage“ auf dem Balkan und der Gründung eines südslawischen Staates unter serbischer Führung (vgl. Ilija Garašanins Entwurf für ein Großserbien in Načertanije, 1844)128 auch die Gründung eines unabhängigen polnischen Staates. Ebenso äußerte der wichtigste polnische Romantiker und Professor am Collège de France Adam Mickiewicz nicht nur literaturwissenschaftliche Interessen an der serbischen Heldenepik, sondern sah auf dem Balkan auch politische Möglichkeiten für die Gründung einer Legion zur Befreiung Polens.129 Czajkowskis Roman war ein Teil dieses politischen Programms und wurde bereits ein Jahr nach seinem Erscheinen das erste Mal ins Deutsche übersetzt und in Leipzig veröffent126
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Die Anfänge der polnischen Emigration reichen zurück zu dem zweimal zum polnischen König gewählten Stanislaw Leszczyński, der sich um die Abschaffung des Liberum veto bemühte. Er erwarb Lothringen und ließ sich in Nancy und Lunéville nieder, wo prächtige Schlossanlagen entstanden. Die erste größere Welle polnischer Emigranten versammelte sich in Paris nach dem Scheitern der Barer Konföderation 1772. Nach jedem polnischen Aufstand folgten weitere Flüchtlingswellen. Nach dem misslungenen Novemberaufstand, der einen polnischen Exodus zur Folge hatte (sog. „Große Emigration“), ließ sich auch der Fürst Adam Jerzy Czartoryski in Paris nieder. Er machte Paris zum Zentrum der adeligen Emigration Polens und unterstützte polnische Projekte auch finanziell. In den 1830er und 1840er Jahren pflegte er eine lebendige Korrespondenz mit Repräsentanten anderer aufständischer Völker Europas (vgl. Davies, Norman: God’s Playground. A History of Poland, II: 1795 to the Present. New York 1982, 275-290). Cetnarowicz, Antoni: Tajna dyplomacja Adama Czartoryskiego na Bałkanach. Hotel Lambert a kryzys serbski 1840-1844. Kraków 1993. Behschnitt, Wolf Dietrich: Nationalismus bei Serben und Kroaten 1830-1914. München 1980, 55ff. Batowski, Henry: Mickiewicz a Słowianie do roku 1840. Lwów 1939; Ders.: Mickiewicza misja naukowo-literacka w r. 1855. Warszawa 1955; Ders.: Mickiewicz jako badacz Słowiańszczyzny. Wrocław 1956; Ders.: Przyjaciele Słowianie. Kraków 1956; Djurković-Jakšić, Ljubomir: Mickiewicz i Jugosławianie. Poznań 1984; Konstantinović, Zoran: Adam Mickiewicz und die Südslawen. In: Hałoń, Edward (Hrsg.): Adam Mickiewicz (1798-1855). Ein großpolnischer Dichter (= Bibliothek des Wiener Zentrums der Polnischen Akademie der Wissenschaften 1). Wien 1999, 51-55.
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licht.130 Drei Jahre später folgte eine zweite deutsche Auflage in Stuttgart.131 Nach dem niedergeschlagenen polnischen Aufstand von 1863 erschien der Roman auch ein zweites Mal auf Polnisch. Er wurde durch ein anonymes Vorwort, das in Istanbul verfasst wurde, in den Kontext des polnischen Kampfes für den katholischen Glauben und die Eigenstaatlichkeit gestellt.132 Czajkowskis Held Kirdżali ist ein Waisenkind christlichen Glaubens, das als Sklave im Schloss Mehmed Paschas von Ismailow lebt. Seine verstorbene Mutter war Bulgarin, sein verschwundener Vater Lache – ein Saporoger Kosake.133 Czajkowski knüpft damit an das goldene Zeitalter der polnischen Eigenstaatlichkeit an, als die kosakischen Vorfahren der Polen ihre Unabhängigkeit behaupteten. Den Mythos von den freien kosakischen Kämpfern,134 die sich weder dem russischen Zaren noch dem türkischen Sultan unterworfen hätten, griff er bereits in den Kosakischen Erzählungen (Powieści Kozackie, 1837) auf. Mit Hilfe des Kosakenmythos versucht Czajkowski, eine kriegerische Herkunft der Polen und der Südslawen, der Serben und Bulgaren, zu konstruieren, deren unbändige, vitale Kraft sie jedoch immer wieder in die Zerstörung statt in die Freiheit führt. Als Waisenkind – „ich habe keinen Vater, keine Mutter, keine Familie, keine Hütte“135 – macht Czajkowski Kirdżali zu einem Heimatlosen. Damit stellt er eine Analogie zu den Exil-Polen, den „polnischen Pilgern“ her, wie Adam Mickiewicz die Emigranten in Büchern des polnischen Volkes und der polnischen Pilgerschaft (Księngi narodu polskiego i pielgrzymstwa polskiego, 1832) nannte.136 Einsam wie ein Adler gehört Kirdżali keiner Sippe und keinem Volk an, sondern repräsentiert das Völkergemisch auf dem Balkan – „Arnauten, Bulgaren, Albanesen und Gott weiß was für verschiedenlei Gesindel“137: 130 131
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133 134 135 136 137
Czajkowski, Michał: Kirdschali. Deutsch von H. Scherbel. Lissa/Leipzig 1840. Czajkowski, Michał: Kirdschali. Eine Erzählung aus dem Donaulande (= Das belletristische Ausland, Hrsg. Carl Spindler). Aus dem Polnischen übersetzt von Gustav Diezel. Stuttgart 1843. Anonym: Pisma Michała Czajkowskiego. Tom drugi. Kirdżali. Povieść naddunajska (= Biblioteka pisarzy polskich XIV). Lipsk 1863. Im anonymen Vorwort wird Mickiewiczs Nachfolger am Collège de France, Cyprien Robert, wegen seiner panslawistischen Einstellung zur Orthodoxie und zu den Russen stark kritisiert. Den Südslawen wird ihre Bedeutung für die Abschüttelung des osmanischen Jochs abgesprochen. Schließlich hätten sie nicht für sich selbst, sondern für andere Feinde des Osmanischen Reiches gekämpft, womit Russland gemeint ist. Die Donau wird im gleichen Zuge nicht mehr ein slawischer, sondern ein osmanischer Fluss genannt. Czajkowski 1843, 7f. Zum Kosakenmythos vgl.: Bürgers, Jana: Kosakenmythos und Nationsbildung in der postsowjetischen Ukraine. Konstanz 2006, 30-48. Czajkowski 1843, 10. Mickiewicz, Adam: Księngi narodu polskiego i pielgrzymstwa polskiego. Pisma polityczne z lat 1832-1835. Pisma, proza II (= Dziela VI). Warszawa 1955. Czajkowski 1843, 12.
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Da flog ein Adler über den breiten Dunay [die Donau], hob sich zu den Wolken empor, und ruderte mit kräftigem Flügelschlag dem Balkan zu. Kirdschali schaute und sann: „Ich bin der Adler. Er ist allein und ich bin allein; er hat seinen Balkan, ich mein Vaterland. Er schwingt sich im raschen Fluge zu den Wolken auf, ich fliege auf den Fittigen des Glaubens zu Gott.“138
Entlang der Donau reitend, schämt sich Kirdżali des slawischen Sklaventums und bittet den Fluss darum, seine Ufer sintflutartig zu überschwemmen, damit alle Muslime in den Fluten umkommen. Alter Dunay, slawischer Fluss, sage, hast du den Ruhm und Namen der slawischen und dazischen Stämme auf deinem Rücken dahin getragen und in den Grund des schwarzen Meeres versenkt? Hast du den christlichen Glauben in der Tiefe deines Strombettes begraben? Sage, schau wie in den Städten deines Ufers die Kuppeln der Minarette ragen und Mohameds Halbmonde strahlen. Hier sieht man weder die zackigen Türme einer Kirche Gottes, noch das Kreuz, das Sinnbild des Welterlösers, das Erinnerungszeichen, welches der Sohn des Schöpfers dem menschlichen Geschlechte hinterlassen hat. Schau, die Felder und Anhöhen an deinen Ufern sind bedeckt mit Muselmanen, zu Ross und zu Fuß, als wäre dieses Land die Wiege ihres Geschlechts, die Hinterlassenschaft ihrer Väter. […] Alter Dunay, ermanne dich! In deinem tiefen Grunde sollten deine Wasser aufschäumen, zornig bis unter die Wolken empor sprießen, sich über deine Bette ergießen und wie eine Sintflut dieses Land überschwemmen.139
Doch auch Czajkowskis Kirdżali bleibt trotz seines christlichen Glaubens, wie der Puškins, eine moralisch ambivalente Gestalt, deren Charakter sich bereits in seinen Namen hineinschreibt: „Dieser Name bedeutet in der bulgarischen Sprache einen von den Menschen Ausgestoßenen, einen Landstreicher ohne Heimat.“140 Wie prophezeit, wird er einerseits zum Verräter, Räuber und Mörder, andererseits aber auch zum heldenhaften Krieger, der mit allen Mitteln für den christlichen Glauben kämpft. Über die Geschichte der unterjochten Balkanvölker lernt Kirdżali aus den „Erzählungen alter Weiber von der alten herrlichen Zeit“ und aus den „Kriegslieder[n] der alten Slawen“.141 Vor allem diese Kriegslieder, wie etwa ein Lied über den Schwarzen Georg142 oder solche über den Ruhm der Väter und die slawische Zukunft,143 regen seinen Wunsch nach außerordentlichen Ereignissen an. Doch bleibt er stets zwischen dem christlichen und dem muslimischen Erbe gespalten. Dieses Schwanken des Helden zwischen zwei Kulturen und Religionen erzählt Czajkowski in unzähligen Episoden. 138 139 140 141 142 143
Ebd., 10f. Ebd., 7f. Ebd., 8. Ebd., 9. Ebd., 87. Ebd., 191.
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Obwohl Kirdżali bei der Geburt von seiner Mutter ein Bild der heiligen Jungfrau mit einer altkirchenslawischen Inschrift als Zeichen seiner Glaubenszugehörigkeit bekam,144 schwankt er aus Liebe zu Mehmed Paschas Tochter Suleima zwischen dem Islam und dem Christentum. Bei ihrem Geburtstag singt er der schönen Orientalin bulgarische Kriegslieder vor und verrät die Aufständischen sogar zweimal: zum ersten Mal, als die Bulgaren und Albaner im Schloss Mehmed Paschas rebellieren und er verspricht, den Pascha umzubringen. Beim zweiten Mal greift er sogar auf dessen Befehl die bulgarischen Aufständischen an, die eine osmanische Burg in Brand stecken. Die Verfolgung und das Blutbad dauerten bis in die finstere Nacht. Jeder Albanese band sich Bulgarenköpfe dem Dutzend nach um den Gürtel und an den Sattelgurt, der Pascha von Silistria bezahlte die abgehauenen Köpfe gut. […] Zehn Tage lang wurde in den bulgarischen Dörfern gebrannt und geplündert, und Kirdschali war überall mit Wort und Tat der Anführer.145
Kirdżali bekehrt sich zum Christentum, als er erfährt, dass Mehmed Paschas Tochter Suleima, deren verstorbene Mutter Georgierin war, auch Christin ist. Sie trägt sogar einen geheimen christlichen Namen – Sara Michaela. Kirdżali entführt sie und versteckt sich mit ihr auf dem Schloss des bulgarischen Bojaren Tudor und seiner Mutter Eudoxia Brankowan, die sich bei Pascha für eine Wahrsagerin ausgegeben hat, in Wirklichkeit aber den Freiheitskampf unterstützt. Im Kloster Adschisch heiraten die beiden, doch bereits während des Hochzeitsrituals deuten einige böse Vorzeichen darauf hin, dass ihre Ehe nicht von Glück gesegnet sein wird. Keiner der Vermählten kostet vom Honiggebäck, „der Süßigkeit des Ehestandes, der Lust des Lebens“,146 weil dieses zerbröckelt auf den Boden fällt. Bald nach der Hochzeit fängt Kirdżali an, seine schwangere Frau zu vernachlässigen und sich verstärkt nach Macht und Ruhm zu sehnen: „Wer weiß, was ich werde: Heerführer, Hospodar, vielleicht sogar Zar der Donauländer.“147 Dabei spornen ihn die Freiheitskämpferin Eudoxia und sein Kumpan Michailaki, ein Räuber arnautischer Herkunft, an. Dieser wirft ihm vor – wie den Rittern in mittelalterlichen Epen –, er sei durch die Heirat verweiblicht geworden und strebt nicht mehr nach Heldentaten. Angestiftet von Michailaki reitet Kirdżali in den Kampf gegen den Vater seiner Frau – und verliert. Die Freiheitskämpfer setzen schließlich falsche Hoffnungen in den russischen Zar Alexander, der sie im Stich lässt und stattdessen mit dem Sultan die Walachei aufteilt.148 Obwohl Kirdżali seinen Hengst, den er als Geschenk vom Pascha erhielt, zu Tode reitet,149 144 145 146 147 148 149
Ebd., 10. Ebd., 32. Ebd., 79. Ebd., 92. Ebd., 96f., 145. Ebd., 111; So wie ein Jahr später Michail Lermontov in Ein Held unserer Zeit (1840) eine Analogie zwischen Frau und Pferd herstellt (vgl. Hansen-Löve 1993, 413-470) so
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gelingt es ihm nicht, rechtzeitig zu seiner Frau zurückzukehren; sie verschwindet spurlos aus dem verwüsteten Schloß, und man vermutet, dass sie sich wieder bei ihrem Vater befindet. Getrennt von seiner Frau, entwickelt Kirdżali immer grausamere Züge. Er tötet sogar seine Gefolgsleute, wenn sie ihm nicht bedingungslosen Gehorsam leisten: „Das ist im Orient die Art und Weise, etwas zu verbieten. Zu was Worte verschwenden, so lange man Pulver und Blei hat?“150 Im Dorf Hrazgrada, dessen Bewohner ihn an die Türken verraten hatten, lässt er niemanden am Leben. Sein Name dient dabei – wie bei Puškin − als Signal für den Angriff. Michailaki, der ihn zu dieser Rache anstiftet, erweist sich immer mehr als satanische Figur, die Kirdżali auf Irrwege leitet und überredet ihn schließlich dazu, nach dem Vorbild des Schwarzen Georgs zum Anführer räuberischer Hajduken zu werden. Doch der Mönch Eusebius überzeugt ihn davon, wieder auf den richtigen Weg zurückzukehren und Buße zu tun. Erst als der serbische Fürst Miloš Obrenović zum Kampf aller christlichen Slawen gegen die Ungläubigen aufruft, legt Kirdżali seinen Pilgermantel wieder ab und wird zum Anführer der serbischen Truppen. Unter dem Namen „Schwarzer Pilger“, der ihm in Analogie zum serbischen Schwarzen Georg151 verliehen wird, führt er die serbischen Truppen ruhmvoll zum Sieg. Auf dem Schloss Obrenovićs in Rudnik werden die Getrennten wieder zusammengeführt: Dort hatten zuvor Sara Michaela mit ihrem kleinen Sohn, Eudoxia und Tudor Zuflucht gefunden, doch Michailaki hatte diese Information für sich behalten, damit Kirdżali weiterhin Anführer der Räuber bleibt. Später ist es wieder Michailaki, der behauptet, dass es zwischen Sara Michaela und Tudor mehr als nur geschwisterliche Liebe gebe. Eifersüchtig verlässt Kirdżali erneut seine Frau, um Tudor nachzureiten, der in der Moldau den Aufstand vorbereitet, und schließt sich den griechischen Rebellen an, die Tudors Verbündete zum Verrat anstiften wollen. Die Griechen werden bei Czajkowski noch negativer als bei Puškin dargestellt – sie erscheinen als Söldner, als Feiglinge ohne jegliches kriegerisches Ethos und als Verräter. Sie hätten nichts dagegen, wenn ein anderer für sie fechten würde, denn im Dienste der fremden Herren ist das Heldenfeuer erloschen, dieses Erbteil der alten Söhne des alten Griechenlands.152 […] Die Griechen lächelten auf griechische Weise und dies wollte heißen: „so lange wir dich brauchen, sind wir untertänig gegen dich, und wenn
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sind das von Pascha geschenkte Pferd und Paschas Tochter auch bei Czajkowski miteinander verbunden. Diese Vorstellung stammt aus dem islamischen Kulturraum, wo Pferde in der Miniaturmalerei oft mit Frauengesichtern dargestellt werden. Später stellte auch Tolstoj in seinem Roman Anna Karenina dieselbe Analogie zwischen dem zu Tode gerittenen Pferd Fru Fru und Anna her. Ebd., 106. Ebd., 167. „ein zweiter Georg der Schwarze“; „Wir nennen ihn nur den Sohn Georgs des Schwarzen“. Ebd., 212.
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du alles, was du kannst und weißt, für uns getan hast, dann wollen wir schon Mittel finden, dich los zu werden.“153
Wie bei Puškin, wird auch bei Czajkowski Ypsilanti besonders negativ geschildert – er erscheint als der ‚Oberfeigling‘, als Meister der Verstellung und als Anstifter zum Verrat, zudem als von den westeuropäischen Königshäusern gesteuert; ihm geht es letztlich nur darum, den moldauischen Thron zu besteigen. Er versucht, Kirdżali mit Alkohol und Katakuzemo mit Musik und Tanz vom Feldzug gegen die Türken fernzuhalten und die Aufständischen zu überzeugen, dass ihnen der russische Zar und der österreichische Kaiser im Kampfe zu Hilfe eilen würden.154 Als der Aufstand gegen die Türken jedoch beginnt, macht er sich sofort aus dem Staub und überlässt die griechischen Aufständischen ihrem Schicksal. Wo ist Ypsilanti? Wo Katakuzeno? Gleich beim ersten Schusse sind sie aus dem Schlosse verschwunden. Man sah sie mit Karawija und den zwei Mördern Tudors fortreiten, um von der künftigen Herrschaft über die Moldau zu träumen. Die heilige Schar der jungen Griechen verteidigte sich tapfer, als glaubten sie, die Helden von Marathon und Termopylä und der macedonische Alexander blicken auf sie herab.155 […] Ypsilanti war ein griechischer Fürst, aus dem Hause der abendländischen Kaiser; es sprach daher nicht offen und ehrlich, weder ja noch nein; heimlich aber umspann er den Mann der Moldau mit einem verräterischen Netze und dachte: sobald dieser Mann aus dem Wege geschafft ist, wird sein Herr in mein Lager strömen, und ich werde auf den Thron der Moldau steigen.156 […] Ypsilanti beschwor sie mit Tränen in den Augen, sie sollten ihn nicht verlassen, ihm selbst fehlte der Mut, dem Feinde auch nur einmal in die Augen zu schauen.157 […] Ja dieser arglistige Grieche schläft nicht und schlummert nicht, wo es sich um geheime Räte, um List und Verrat handelt; das ist sein Handwerk.158
Damit wird Ypsilanti zum Gegenbild von Miloš Obrenović, der sich für die Brüderlichkeit aller (slawischen) Christen ausspricht: „Es lebe die Freiheit und die Verbrüderung des serbischen Volkes, ich bin nicht euer Herrscher, sondern euer Bruder; möchte diese Verbrüderung in allen slawischen Ländern heimisch werden.“159 Er ist es auch, der Kirdżali nahelegt, dass gerade ein Slawe die Aufständischen in den Kampf führen sollte: „Es wäre gut, wenn irgendein Slawe diese feigen Griechen fortschickte und selbst an der Spitze des Heeres für die slawische Freiheit tätig wäre.“160 Obwohl sich Kirdżali letztlich auf Tudors Seite schlägt, wird dieser von den Griechen ermordet und Kirdżali der Tat bezichtigt. Einen herben Rück153 154 155 156 157 158 159 160
Ebd., 215. Ebd., 225. Ebd., 235. Ebd., 214. Ebd., 218. Ebd., 220. Ebd., 191. Ebd., 210.
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schlag muss er zudem in der Schlacht von Skuleni einstecken, als er von den Saporoger Kosaken besiegt und schwer verwundet wird. Im Kloster von Kischenie pflegt ihn allerdings Pater Pavel wieder gesund, doch sofort nach seiner Genesung liefern ihn die Russen an die Türken aus, die ihn schweren Herzens zum Tode verurteilen. In der Nacht vor der Hinrichtung gelingt es ihm jedoch, die Janitscharen davon zu überzeugen, dass sich ein vergrabener Schatz in der Nähe befinde. Auf der Suche nach dem Gold gelingt es ihm – genau wie in Puškins Erzählung – sich zu befreien. Seine wiedererlangte Freiheit nützt er, um die Aufständischen in weitere Kämpfe zu führen. Im nächsten Scharmützel verletzt ihn der Ataman der Saporoger Kosaken allerdings tödlich, und an seinem Totenbett erfährt man, dass der Mönch Paul sein Vater war, der den Bruder des Saporogischen Atamans aus Neid auf dessen schöne Frau, Kirdżalis Mutter, ermordet hatte. Auch Sara Michaela, die aus Trauer über Kirdżalis angeblichen Mord an Tudor wahnsinnig geworden ist, stirbt an seinem Totenbett. So werden die beiden Vermählten wieder im Himmel vereint, ihr verwaistes Kind bleibt jedoch in der gespaltenen, islamisch-christlichen Obhut des Paschas und des Mönchs zurück. Die unzähligen Episoden und Wendungen stehen allegorisch für die Gespaltenheit der südslawischen Völker, die keinen gemeinsamen Weg finden können und einander als Feinde statt als Brüder zu begegnen. Die Oszillation zwischen zwei Identitäten, der christlichen und der orientalen, begründet die Unfähigkeit zur Vereinigung der Balkanvölker. Diese Schwäche versucht Czajkowski jedoch in eine Fülle umzudeuten, indem er die Balkanslawen in ihrem Freiheitskampf gegen das fremde Joch mit den Polen vereinen will. Er versucht dadurch, sie aus der Einflusssphäre Russlands, des traditionellen Beschützers der orthodoxen Völker auf dem Balkan, herauszulösen. Mit dem schlechten Gerede über die orthodoxen Griechen wird diesen nicht nur die Fähigkeit zur Übernahme einer Führungsrolle abgesprochen, sondern die orthodoxen Südslawen werden im Rahmen ökumenischer Ideale enger an die katholischen Polen gebunden. Wie das geteilte, auf den Landkarten nicht mehr existierende Polen ist auch der Balkan ein zersplittertes Territorium, dessen Helden nur in messianischer Sendung oder im christlichen Jenseits ihr Glück erringen können. Doch durch die Zusammenführung der beiden Narrative – eines polnischen und eines südslawischen Sklaventums – versucht Czajkowski, eine neue panslawische Identität zu stiften, die zu dieser Zeit bereits bei den Tschechen und Slowaken aufkam. Trotz der Balkanisierung Kirdżalis versucht der polnische Autor den Weg einer künftigen Entbalkanisierung aufzuzeigen, die diesen Kulturraum dem westlichen Slawentum zuschlagen würde.
III. Panslawismus und Orientalismus: Völkerstereotype und ihre Ausbildung 1. Der Kaukasus und der Balkan. Russischer und serbischer Fatalismus in Lermontovs Ein Held unserer Zeit (1840) Parallel zur politischen Annexion des Kaukasus in den Jahren 1801-64, die unter den Generälen Aleksej Ermolov und Ivan’ Paskevič durchgeführt wurde, verlief in der russischen Literatur eine literarische ‚Kolonisation‘ dieses Gebietes.1 Russische Schriftsteller, wie Aleksandr Griboedov, Aleksandr Bestužev-Marlinskij, Puškin und Lermontov, verbrachten dort als Soldaten oder Verbannte mehrere Jahre und machten den Kaukasus zwischen 1820 und 1840 zum Schauplatz romantischer Abenteuer.2 In ihren Werken verliehen sie der Gebirgsregion eine orientalische Aura, ohne allerdings tiefere Kenntnisse der Sprachen und Kulturen zu haben. Durch seine Lage am Rande des Imperiums, fern vom autokratischen Zarismus und der Hofgesellschaft, wurde der Kaukasus in der russischen Imagination zu einer ambivalenten Zone – einerseits zum Ort der Verbannung und der Gefangenschaft, andererseits zur Zone der Freiheit, in der man in verschiedenen Hinsichten Grenzerfahrungen machen konnte. Die Begegnung mit der wilden Landschaft und den fremden Völkern wurde konstitutiv für die Formierung des russischen Volks- und Nationalbewusstseins (narodnost’), weil die russischen Poeten gerade durch das ambivalente Verhältnis zum Kaukasus das Authentische, Archaisch-Volkstümliche und National-Russische als literarischen Stoff entdeckten.3 1
Hokanson, Katya: Literary Imperialism, ‘Narodnost’ and Pushkin’s Invention of the Caucasus. In: Russian Review 53/3 (1994), 336-352. 2 Layton, Susan: Russian Literature and Empire. Conquest of the Caucasus from Pushkin to Tolstoy. Cambridge [1994] 2005; Brower, Daniel R./Lazzaroni, Edward J. (Hrsg.): Russia’s Orient. Imperial Borderlands and Peoples, 1700-1917. Bloomington 1997; Sahni, Kalpana: Crucifying the Orient. Russian Orientalism and the Colonisation of Caucasus and Central Asia. Oslo 1997; Greenleaf, Monika/Moeller-Sally, Stephan (Hrsg.): Russian Subjects. Empire, Nation, and the Culture of the Golden Age. Evanstone/Illinois 1998; Ram, Harsha: The Imperial Sublime: A Russian Poetics of Empire. Madison 2003; Kalinowska, Izabela: Between East and West. Polish and Russian Nineteenth-Century Travel to the Orient. Rochester 2004; Halbach, Uwe: Die Bergvölker (gorcy) als Gegner und Opfer. Der Kaukasus in der Wahrnehmung Russlands (Ende des 18. Jahrhunderts bis 1864). In: Alexander, Manfred/Kämpfer, Frank/Kappeler, Andreas (Hrsg.): Kleine Völker in der Geschichte Osteuropas. Festschrift für Günther Stökl zum 75. Geburtstag (= Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 5). Stuttgart 1991, 52-65. 3 Lotman, Jurij M.: Problema vostoka i zapada v tvorčestve pozdnogo Lermontova. In: Lermontovskij sbornik. Leningrad 1985, 5-22; Hokanson 1994.
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Panslawismus und Orientalismus: Völkerstereotype und ihre Ausbildung
Für Aleksander Puškin ähnelt der Kaukasus mit seinen kriegerischen Bewohnern dem aufständischen Griechenland, so dass er ihn in seinem Poem „Der Gefangene im Kaukasus“ („Kavkazskij plennik“, 1820) den „neuen Parnas“ nennt.4 Im Epilog vergleicht er die Muse der Poesie und des Erzählens, die von den schrecklichen Kriegsliedern der verwitweten Frauen und verwaisten Mädchen betört wird, mit einer verwirrten Zauberin. Wie Viktor Tepljakov in dem von der russischen Armee besetzten Varna, so erblickt auch Puškin über dem Kaukasus einen schwebenden zweiköpfigen Adler – und damit das imperiale Symbol der russischen Herrschaft. Während sich der von den Tscherkessen gefangene Russe im Poem als Europäer und als Mensch des Nordens versteht,5 repräsentiert das verliebte tscherkessische Mädchen den Orient und den Süden. Doch eine solch klare Trennung von Eigenem und Fremdem kann bereits Ende der 1820er Jahre nicht mehr gezogen werden. Im Jahre 1829 revidiert Puškin während seines zweiten, diesmal freiwilligen Aufenthalts im Kaukasus seinen eigenen frühen Orientalismus. Während im Poem von 1821 die Tscherkessin die russische Sprache erlernt und mit dem russischen Gefangenen aus ihrer Dorfgemeinschaft fliehen möchte, werden im Reisebericht Reise nach Arzrum (Putešestvie v Arzrum, erschienen 1836) sprachliche und kulturelle Missverständnisse bloßgelegt.6 Der Reisende kann sich nur mit Schwierigkeiten und unter ständigen Missverständnissen mit den Einheimischen verständigen. Auch das Heldentum der russischen Soldaten und die imperialen Gesten der Ausdehnung werden nun parodiert: Die Soldaten kämpfen nicht mit den kaukasischen Kriegern, sondern jagen Hühner auf einem Bauernhof und der Grenzfluss wird völlig unspektakulär überquert. Bereits in den 1830er Jahren wurde der Kaukasus nicht mehr als geheimnisvolle, fremde Region, sondern vielmehr als integraler Teil des russischen Imperiums beschrieben. Seit den 1840er Jahren wurde er zum Objekt wissen4
Zu Puškins Erlebnis des Eigenen und Fremden im Kaukasus: G.G. Gamzatov, A.S. Puškin i Kavkaz. Nabljudenija i suždenija. In: Puškin i mir vostoka. K 200-letiju co dnja roždenija A.S.Puškina. Moskva 1999, 144-156; Košelev, V.A.: Istoriosofska oppozicija ‚Zapad-Vostok’ v tvorčeskom sozdanii Puškina. In: Gamzatov, G.G. 1999, 157-191; Ljusyj, A.P.: Puškin. Tavrida. Kimmerija. Moskva 2000. 5 Seit Peter dem Großen und Katharina II. verstand sich Russland als europäisches Land, das sich vom Orient abgrenzte. Mit den slavophilen Ideen, welche die Polarisierung der Kirche in eine östliche Orthodoxie und ein westliches Christentum seit den 1830er Jahren propagierten, wurde jedoch die alte Nord-Süd-Achse durch eine neue Ost-WestAchse ersetzt (vgl. Lotman, Jurij M.: Problema vostoka i zapada v tvorčestve pozdnogo Lermontova. In: Lermontovskij sbornik. Leningrad 1985, 5-22; Lemberg 1985). 6 Tynjanov, Jurij N.: O putešestvii v Arzrum (1928). In: Puškin i ego sovremenniki. Moskva 1969, 192-208; Frenkel Greenleaf, Monika: Pushkin’s ‘Journey to Arzrum’. The Poet at the Border. In: Slavic Review 50/4 (1991), 940-953; Tartakovskaja, L.A.: ‘Putešestvie v Arzrum’. Chudožestvennoe issledovanie vostoka. In: Puškin i mir vostoka. K 200-letiju co dnja roždenija A.S.Puškina. Moskva 1999, 211-229.
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schaftlicher Forschung, die in der Regel im Dienste des russischen Imperiums stand.7 Einen einheimischen, authentischen Kaukasier könne man, so Michail Lermontov, kaum noch von einem à la mode orientale gekleideten Russen unterscheiden. In der physiologischen Skizze „Kaukasier“ („Kavkazec“, 1841) parodiert er den zur Mode gewordenen Orient, den er als „halb russischen, halb asiatischen Zustand mit der Neigung zu orientalischen Bräuchen“ beschreibt.8 Der „authentische Kaukasier“ erweist sich in Wirklichkeit als Russe, der eine tscherkessische Tracht trägt und den Gefangenen aus Puškins Poem nachäfft. In seiner Novelle Fürstin Mary (Knjažna Meri), die in den Erzählzyklus Ein Held unserer Zeit (1840) einging, bestimmt die neue literarische Mode sogar die Lebensführung der jungen Menschen: Der russische Soldat Grušnickij wird durch die romantische Lektüre über den Kaukasus dazu bewegt, sich der russischen Armee anzuschließen, in der er schließlich im Duell sein Leben verliert.9 Durch Imitation der kaukasischen Bergvölker, so Katya Hokanson, inkorporierten die Helden der russischen Literatur das Fremde in das Eigene und wurden selbst zur Inkarnation des Fremden.10 Die erste scharfe Kritik am russischen Orientalismus und seiner kolonialen Praxis im Kaukasus formulierte Lev Tolstoj, der sich von 1851 bis 1854 dort als Fähnrich aufhielt. In der Erzählung Hadži Murat (verfasst in den 1890er Jahren; erschienen posthum 1912)11 zeigt er, dass im Zuge der russischen imperialen Ausweitung nicht nur orientalische, sondern auch andere slawische Völker, wie die aufständischen Polen, unterdrückt wurden. Stand in Puškins frühem Poem Der Springbrunnen von Bachtschisaraj (Bachčisarajskij fontan, 1820) die blonde Polin Maria noch für das christliche Abendland und die dunkelhaarige Georgierin Zarema, die im Harem zum Islam übertrat, für den Orient, so wird diese Zuordnung in Tolstojs Erzählung aufgehoben. Im Gespräch zwischen dem preußischen Botschafter und Baron Liven am Zarenhof wird das rebellische Polen in einem Atemzug mit dem Kaukasus genannt: „Polen und der Kaukasus, das sind zwei Krebsgeschwüre Russlands. […] Wir benötigen ungefähr hunderttausend Mann in jedem die7
Zur wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Orient in Russland: Greenleaf 1991; Knight, Nathaniel: Grigor’ev in Orenburg, 1851-1862. Russian Orientalism in the Service of Empire? In: Slavic Review 59/1 (2000), 74-100. 8 Lermontov, Michail: Kavkazec. In: Belov, Pavel (Hrsg.): Michail Ju. Lermontov. Sobranie sočinenij v četyrech tomach. Tom 4. Moskva 1969, 336-339, hier 336. „suščestvo polurusskoe, poluaziatskoe, naklonnost’ k obyčajam vostočnym“ 9 Hansen-Löve, Aage A.: Pečorin als Frau und Pferd und anderes zu Lermontovs Geroj našego vremeni, 1. Teil. In: Russian Literature XXXI (1992), 491-544, hier 499. 10 Hokanson 1994, 336-352. 11 Zu Tolstojs Hadži Murat: P. Palievskij, Realističeskij metod pozdnego Tolstogo (povest’ „Hadži- Murat“). In: Kusina, L.N. (Hrsg.): L. N. Tolstoj. Sbornik statej o tvorčestve. Moskva 1959, 159-182; Sergeenko, A.P.: Hadži- Murat L’va Tolstogo. Moskva 1983; Krier, Anne: Der Kaukasus bei Tolstoj. „Der Gefangene im Kaukasus“ und „Hadži Murat“ im Vergleich. Berlin 2007.
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ser beiden Länder. Sie sagen Polen. Ja, das war ein Meisterstück Metternichs, uns in dieser Angelegenheit belassen zu haben.“12 Während dem Zaren Nikolaus I. von der Vernichtung der kaukasischen Dörfer berichtet wird, lässt dieser einen patriotischen polnischen Studenten so hart mit Peitschenschlägen bestrafen, dass die Strafe einem Todesurteil gleichkommt. Gleichzeitig betrachtet sich der Zar nicht nur als Verteidiger Russlands, sondern auch Europas vor dem Orient: „Ja, was wäre Russland ohne mich? – sagte er sich, wieder die Annäherungen eines verdrossenen Gefühls empfindend. – Ja, was wäre ohne mich nicht nur Russland, sondern auch Europa.“13 Auf diese Weise verortet der Zar Russland als ein Schutzwall in der Mitte zwischen Ost und West, zwischen Europa und Asien. Die Polen werden dagegen trotz ihrer Zugehörigkeit zum westlichen Christentum orientalisiert. Diese diskursive Praxis etablierte sich bereits während der polnischen Teilungen im späten 18. Jahrhundert sogar im aufgeklärten Frankreich, wo die Polen als ein sarmatisches Volk bezeichnet wurden.14 Doch in der westeuropäischen Wahrnehmung wurden auch die Russen selbst zu Asiaten stilisiert, wie etwa im Reisebericht des französischen Diplomaten Marquis Astolphe de Custine La Russie en 1839 (1843), der hinter der westeuropäischen Kulisse Moskaus noch immer asiatische Steppen zu erkennen glaubt.15 Auf solche negativen Zuschreibungen reagierten in Russland die Slavophilen und erklärten die asiatische Identität zu einer wesentlichen Komponente des Russentums.16 Die Frage der russischen Zugehörigkeit griff auch Dostoevskij anlässlich des Russisch-Türkischen Krieges von 1876-78 auf und setzte sich im Pamphlet „Mein Paradox“ (1876) für ein neues Selbstverständnis Russlands ein, das Europa ein klares Nein sagen solle.17 Aber schließlich, wozu sollen wir um das Vertrauen Europas werben? Hat denn Europa jemals vertrauensvoll auf die Russen geblickt, kann es das überhaupt: vertrauensvoll und nicht feindselig auf uns blicken? Wird es das jemals können? Oh, selbstverständlich wird sich dieser Blick irgendeinmal ändern, einmal wird Europa auch uns besser erkennen und begreifen, und von diesem Irgendeinmal zu sprechen lohne es sich sogar 12
Tolstoj, Lev N.: Povesti i rasskazy v dvuch tomach. Tom 2. Moskva 1960, 482. « La Pologne et le Caucase, ce sont les deux cancers de la Russie. […] Il nous faut cent mille hommes а peu près dans chacun de ces deux pays. Vous dites la Pologne. Oh, oui, c’était un coup de maître de Maeternich de nous en avoir laissé l’embarras... » 13 Tolstoj 1960, 476. «Да, что бы была без меня Россия, - сказал он себе, почувствовав опять приближение недовольного чувства. - Да, что бы была без меня не Россия одна, а Европа.» 14 Askenazy, Szymon: Napoleon a Polska. Bd. 1. Warszawa-Kraków 1918, 17-30, 155-160. 15 Wolff 2004, 25f. 16 Utechin, S. V.: Geschichte der politischen Ideen Russlands. Stuttgart 1966, 240ff.; Eismann, Wolfgang: Einheit und Selbständigkeit der slawischen Völker. Frankfurt a.M. 2002, 7f.; Golczewski, Frank/Pickhan, Gertrud: Russischer Nationalismus. München 1998, 81 ff. 17 Dostojewski, Fjodor M.: Tagebuch eines Schriftstellers. Zürich 2004, 211-233.
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sehr, gar sehr, vorläufig aber…[…] Die Europäer jedoch trauen diesem Aussehen nicht. „Grattez le Russe et vous verrez le Tatare“, sagen sie.18
Die Unterdrückung der Autonomie Russlands, so Dostoevskij, spiegele sich auch in der Herabsetzung der russischen Kultur und Nation: „Immerhin bist du ein Verneiner – Hunne, Barbar, Tatar –, der nicht im Namen eines Höheren verneint, sondern im Namen seiner eigenen Niedrigkeit, da er ja nicht einmal in ganzen zwei Jahrhunderten die europäische Höhe zu begreifen vermocht hat.“19 Der Ausschluss Russlands aus Europa prädestiniere es dazu, anderen Slawen − insbesondere den Südslawen − bei ihrem Unabhängigkeitskampf vom türkischen Joch zu helfen. Die russische Intervention auf dem Balkan sei somit von „selbstloser Uneigennützigkeit“ gekennzeichnet und ihre Mission diene der Vereinigung der Slawen.20 Desavouiert Tolstoj in der Erzählung Hadži Murat Russlands Selbstverortung an der Seite Europas, indem er auf den grausamen Umgang mit dem christlichen Polen hinweist, ist Russland für Dostoevskij der Retter aller Slawen. Während der polnische Schriftsteller Czajkowski in seinem Roman Kirdżali (1839) den Kosakenmythos über den Kampf um die Wiederherstellung des polnischen Staates mit den südslawischen Aufständen gegen die Türken verknüpfte, so wurde der Kaukasus in Lermontovs Novelle „Der Fatalist“ aus dem Zyklus Ein Held unserer Zeit (1840) zur Folie für den Disput über den orientalischen Charakterzug der Slawen, der sich im slawischen Fatalismus offenbare. Zwei slawische Repräsentanten, ein Russe und ein Serbe, tragen hier auf eine besondere Art ihr Duell aus, in dem sich ihre unterschiedlichen Auffassungen über die Macht des Schicksals manifestieren. Im Vorwort zum Novellenzyklus, das erst in die zweite Ausgabe des Werks von 1841 einging, stellt der Autor, der sich hinter der Maske des Herausgebers verbirgt, den „Helden unserer Zeit“ als „ein Porträt, aber nicht etwa das eines einzelnen Menschen“ vor. Vielmehr gehe es um ein stilisiertes, generalisiertes Porträt, das „aus den Lastern unseres ganzen Geschlechts in ihrer voller Entfaltung zusammengestellt ist“.21 Lermontovs Held ist somit noch kein Individuum mit Tiefenpsychologie, wie die späteren realistischen Helden Dostoevskijs oder Tolstojs, sondern ein frührealistischer Typus und Repräsentant des sich langsam verfestigenden kollektiven Völkerstereotyps, der in Russland durch die physiologische Skizze (očerk) der Naturalen Schule in 18
Ebd., 211f. Ebd., 214. 20 Ebd., 225. 21 Lermontov, Michail: Ein Held unserer Zeit. Aus dem Russischen übertragen von Johannes von Guenther. Stuttgart 2003, 4; Lermontov, Michael Ju.: Geroj našego vremeni. Izdanie podgotovili B.M. Ėjchenbaum i Ė.Ė. Najdič. Moskva 1962, 4, 6. «портрет, но не одного человека: это портрет, составленный из пороков всего нашего поколения.» 19
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den 1830er Jahren vorbereitet wurde.22 War der romantische Held der 1820er noch eine geheimnisvolle Figur mit einem schwer zu entschlüsselnden Geheimcode, so lässt sich sein realistischer Nachfolger der 1840er Jahre ‚charakterologisch‘ bereits als Volkstypus bestimmen. Obwohl die Novelle „Der Fatalist“ als eine Art Konklusion den Zyklus abschließt, hat sie Lermontov als erste bereits im Jahre 1839 verfasst.23 In ihr wird der taktisch denkende sowie methodisch-systematisch vorgehende Russe Pečorin einem blind auf das unkalkulierbare Schicksal vertrauenden serbischen Offizier Vulič gegenübergestellt. Pečorin, ein gut aussehender, blonder russischer Adeliger, wird als ein „überflüssiger Mensch“ charakterisiert, der wegen eines Duells mit tödlichem Ausgang in den Kaukasus versetzt wurde. Dort entführt er ein tscherkessisches Mädchen, das ihn aber bald nicht mehr interessiert und schließlich durch sein Verschulden ums Leben kommt. Anschließend verführt Pečorin die junge Fürstin Mary, aber nur, um seinen Kontrahenten Grušnickij zu ärgern. Von Vuličs Herkunft und Vergangenheit erfährt man, ähnlich wie bei Puškins Sil’vio, nichts. Dafür werden sein Aussehen, Charakter und Verhalten umso genauer beschrieben. Er war ein gebürtiger Serbe, was schon aus seinem Namen hervorging. Das Äußere des Leutnants Wulitsch entsprach vollkommen seinem Charakter. Sein hoher Wuchs, die bräunliche Gesichtsfarbe, die schwarzen Haare, die schwarzen, durchdringenden Augen, die große, aber regelmäßige Nase – eine Eigentümlichkeit seiner Nation –, das traurige und kalte Lächeln, das ständig über seine Lippen irrte: all das verband sich dazu, ihm das Aussehen eines sehr besonderen Wesens zu verleihen, unfähig, seine Gedanken und Leidenschaften jenen mitzuteilen, die ihm das Schicksal als Kameraden gegeben hatte. Er war tapfer und sprach wenig, aber stets bestimmt; seine seelischen und häuslichen Geheimnisse hatte er noch keinem eröffnet; Wein trank er so gut wie nie; den jungen Kosakenfrauen, deren Reize man schwerlich zu würdigen weiß, wenn man sie nicht gesehen hat, stellte er nicht nach. Es wurde allerdings erzählt, dass die Frau unseres Obersten seinen ausdrucksvollen Augen gegenüber nicht gleichgültig zu bleiben vermocht habe; allein er wurde jedes Mal ernsthaft böse, wenn man eine Anspielung hierauf machte.24
Obwohl der asketische Vulič alle Leidenschaften unterdrückt, kann er sich einer einzigen – der Spielsucht – nicht entziehen.25 Sogar auf dem Schlacht22
Zur Naturalen Schule und zum Frührealismus vgl.: Harper, Kenneth E.: Criticism of the Natural School in the 1840’s. In: American Slavic and East European Review 15/3 (1956), 400-414; Cejtlin, Aleksandr: Stanovlenie realizma v russkoj literature. Russkij fiziologičeskij očerk. Moskva 1965; Lachmann, Renate: Die Zerstörung der schönen Rede. Rhetorische Tradition und Konzepte des Poetischen. München 1994, 294-299; Hansen-Löve, Aage A.: Pečorin als Frau und Pferd und anderes zu Lermontovs Geroj našego vremeni. 1. Teil. In: Russian Literature XXXI (1992), 491-544. 23 Mersereau Jr., John: ‘The Fatalist’ as a keystone of a ‘Hero of Our Times’. In: The Slavic and East European Journal 4/2 (1960), 137-146. 24 Lermontov 2003, 196; Lermontov 1962, 110f. 25 Lermontov 2003, 195f.; Lermontov 1962, 110f.
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feld will er das begonnene Kartenspiel trotz akuter Lebensgefahr nicht unterbrechen. Das Glücksspiel wächst zum Spiel mit dem Leben an, das in einer Wette mit dem Russen Pečorin kulminiert. Die Novelle beginnt mit einem Gespräch der Soldaten über den muslimischen Glauben an die Vorbestimmtheit des Schicksals, der auch bei den Slawen zahlreiche Anhänger habe. Vulič will die Macht des Schicksals furchtlos am eigenen Körper vorführen und schlägt eine lebensgefährliche Wette vor – das russische Roulette. Während die von ihm in die Luft geworfene Karte, ein Cœur-As auf den Tisch fällt – ein Zeichen, dass geschossen werden soll – versagt die Pistole zugunsten von Vulič. Doch der scharf beobachtende Pečorin glaubt trotz dessen Kaltblütigkeit „den Stempel des Todes auf seinem blassen Gesicht“ entdeckt zu haben und teilt diese Vorahnung seinem Gegenspieler mit. Damit deutet Pečorin an, dass das Spiel sowie das Schicksal noch nicht endgültig entschieden sind. Ich habe es schon bemerkt, und viele alte Soldaten haben meine Beobachtung bestätigt, dass häufig auf dem Antlitz eines Menschen, der nach einigen Stunden sterben muss, der sonderbare Stempel eines unentrinnbaren Schicksals liegt, so dass ein geübtes Auge dies immer wahrnehmen kann. „Sie werden heute sterben!“ sagte ich zu ihm. Er drehte sich schnell nach mir um, doch er antwortete langsam und ruhig: „Vielleicht, vielleicht auch nicht…“26
Doch der von Pečorin gestreute Index wirkt bei dem schicksalsgläubigen Serben nach dem Prinzip von Ursache und Wirkung – als eine sich selbst erfüllende Prophezeiung: Vulič verliert zuerst seine Kaltblütigkeit, dann kommt er noch in derselben Nacht durch Unvorsichtigkeit ums Leben. „Und nun? Glauben Sie jetzt an Vorbestimmung?“ „Ich glaube schon…ich kann nur nicht verstehen, warum es mir so vorkam, als ob Sie unbedingt heute sterben müssten…“ Sonderbarerweise wurde der gleiche Mensch, der noch vor kurzem so kaltblütig die Pistole an die eigene Stirn gesetzt hatte, plötzlich feuerrot und verwirrt. „Genug!“ sagte er und stand auf, „die Wette ist gewonnen, und mir scheint, dass Ihre weiteren Bemerkungen nicht am Platze sind…“ Er ergriff seine Mütze und entfernte sich. Dieser Umstand gab mir zu denken – und zwar nicht ohne Grund!27
Vulič, der vollkommen auf das Schicksal vertraut und Indices nicht lesen kann, übersieht die Gefahr. So stolpert er nachts auf der Straße über ein mit dem Säbel in zwei Stücke geteiltes Schwein. Kurz danach wird der Serbe von einem betrunkenen Kosaken, den er im panslawistischen Gestus noch liebenswürdig als „Bruder“ anspricht, auf dieselbe Weise wie ein Schwein geschlachtet. Mit seinen letzten Worten, „Er hatte recht!“, akzeptiert er Pečorins Prophezeiung vom „Stempel seines nahen Endes“28 als sein Schicksal. 26
Lermontov 2003, 198; Lermontov 1962, 112. Lermontov 2003, 200; Lermontov 1962, 114. 28 Lermontov 2003, 204; Lermontov 1962, 116. 27
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Welchen „Stempel“ hat Pečorin auf dem Gesicht des Serben gesehen? Es muss wohl der fatalistisch orientalische Volkscharakter gewesen sein, der sich während des türkischen Jochs in die Physiognomie des Serben hineingeschrieben hat. Gerade dieser „Stempel“ entscheidet über das unterschiedliche Vorgehen der beiden. Obwohl sich auch der Russe nicht vollkommen der Schicksalsgläubigkeit entziehen kann, bleibt er schließlich doch seiner vorausblickenden, westlichen Beobachtungsmethode treu. Ich könnte es jetzt nicht bestimmt sagen, ob ich an Vorherbestimmung glaube oder nicht, an jenem Abend jedoch glaubte ich fest daran; die Beweisführung war überzeugend gewesen, und obwohl ich über unsere Ahnen und ihre bequeme Astrologie spöttelte, war ich doch unwillkürlich in ihre Gleise geraten; ich hielt mich indes rechtzeitig auf diesem gefährlichen Pfade zurück, und da ich es mir zur Regel gemacht habe, nichts definitiv zu verwerfen und an nichts blind zu glauben, ließ ich jetzt alle Metaphysik beiseite und betrachtete lieber die Straße, auf der ich ging.29
Pečorins Determinismus gründet nicht auf der Prädestination, sondern auf dem Regel- und Wiederholungscharakter des Experimentellen.30 Im Glauben an die Notwendigkeit der Beziehung zwischen Ursache und Wirkung wendet er quasi naturwissenschaftliche Methoden und mathematisches Kalkül an. Mit dem Blick eines Psychologen oder eines Detektivs liest er nicht nur Indices, sondern streut sie auch, um seine Kontrahenten manipulativ auf falsche Fährten zu lenken. Der Serbe dagegen glaubt, dass der Ausgang der Ereignisse nicht von den Fähigkeiten des Menschen, sondern vom Lauf des determinierten Schicksals abhängig sei. Während der Erste sein ‚Schicksal‘ aktiv durch Können und Geschicklichkeit (mit)gestalten will, gibt sich ihm der Zweite passiv hin. Will der Erste vor allem seinen Gegner besiegen, geht es dem Zweiten darum, das Schicksal selbst zu bezwingen. Schließlich will der Erste das Risiko so weit wie möglich vermeiden, während der Zweite es herausfordert. Gerade beim Ergreifen des betrunkenen Kosaken kristallisiert sich der Unterschied zwischen der russischen und der serbischen Auffassung des Schicksals heraus. Pečorin bittet den Hauptmann, den Kosaken durch ein Gespräch abzulenken, um sein eigenes Risiko beim Überfall zu minimieren. Dieser redet dem Mörder zu, er solle sich wie ein guter Christ und nicht wie ein muslimischer Tschetschene benehmen, doch auch hier rückt die Schicksalsgläubigkeit ins Zentrum: „Du sollst Gott fürchten, du bist doch kein verdammter Tetschentze, sondern ein ehrlicher Christenmensch. Was soll man schon tun, wenn die Sünde einen verführt hat: seinem Schicksal entgeht keiner!“31Auch Pečorin, der indes unbemerkt durchs Fenster springt und den Mörder überwältigt, stellt anschließend eine rhetorische Frage, die die Macht 29
Lermontov 2003, 202; Lermontov 1962, 115. Zu Pečorins methodischem Vorgehen und Vuličs Schicksalsgläubigkeit: Hansen-Löve 1992, 491-544, 413-470, besonders 440-448. 31 Lermontov 2003, 204; Lermontov 1962, 117. 30
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des Schicksals zu bejahen scheint: „Wie sollte einer nach solchen Vorfällen nicht Fatalist werden?“32 Am Ende der Novelle kommentiert Maksim Maksimič – ein Bekannter Pečorins, der dessen Notizen aus dem Tagebuch aufbewahrte und herausgab – den Tod Vuličs, wobei er sich ebenso auf die Macht der Schicksals beruft: „Schade um den armen Burschen… Welcher Teufel trieb ihn aber auch, nachts einen Betrunkenen anzureden! Übrigens wird es ihm wohl von Geburt an so bestimmt gewesen sein!“33 Die paradoxe Verneinung des Schicksals bei der gleichzeitigen Berufung darauf wirft die Frage auf, wie die Russen das Schicksal verstehen. Dabei macht sich ein Unterschied in der Wertigkeit bemerkbar: Während der Serbe sein Leben tatsächlich in die Obhut des Schicksals legt, machen die Russen aus dem Schicksal ein Sprichwort. Während der orientalische Serbe sein Schicksal inkorporiert und es zur fatalistischen, ja fatalen forma vitae erhebt, bleibt bei den Russen das Schicksal auf die Phraseologie der Sprache beschränkt. Trotz der Verschiebung von soma (Körper) zu sema (Zeichen) bleibt das Verhältnis der Russen zum Schicksal – ähnlich wie ihr Verhältnis zu Europa und zum Westen – ambivalent. Selbst Pečorin drückt in der Novelle „Prinzessin Mary“ aus demselben Zyklus seine Angst vor dem Schicksal aus, wenn er den „Tod durch eine böse Frau“ befürchtet.34 Das Thema des Fatalismus bei Lermontov leitet die slawistische Forschung aus der Berührung der russischen Kultur mit dem Islam ab.35 Peter Brang sieht gerade in der Prädestination – neben der Langeweile (russ. skuka, fr. ennui, engl. spleen) – einen entscheidenden Faktor, der die Häufigkeit und Härte von Duellen in Russland begünstigt hätte. Dabei beruft er sich auf den russischen Schriftsteller Nikolaj V. Suškov (1796-1871), den Autor des Lustspiels Die Duellanten (Duėlisty), der im Fatalismus einen nationalen Charakterzug sah, welcher sich in die Phraseologie und die Redensarten der russischen Sprache eingeschrieben habe. Lermontov verglich sich ein Jahr vor seinem tödlichen Duell im Gedicht „Valerik“ (1840) in seiner Gleichgültigkeit gegenüber dem Schicksal selbst mit einem Tataren bzw. einem Türken.36 Auch der russische Religionsphilosoph Vladimir Solovëv unterstreicht in seinem Essay „Lermontov“ (1901) dessen Schicksalsergebenheit; in sei32
Lermontov 2003, 207; Lermontov 1962, 117. Lermontov 2003, 207; Lermontov 1962, 118. 34 Lermontov 2003, 162; Vgl. auch Hansen-Löve 1993, 439, 442. 35 Brang, Peter: Der Zweikampf im russischen Leben und in der russischen Literatur. In: Zeitschrift für slavische Philologie 29 (1961), 316-345, hier 328; Scholle, Christine: Das Duell in der russischen Literatur. Wandlungen und Verfall eines Ritus (= Arbeiten und Texte zur Slavistik, Bd. 14). Heidelberg-München 1977, 103-134, hier 103, 106f.; Lotman 1985; Rosenshield, Gary: Fatalism in ‚A Hero of our time‘. Cause or commonplace? In: Mandelker, Amy/Reeder, Roberta (Hrsg.): The Supranatural in Slavic and Baltic Literature. Essays in Honor of Victor Terras. Columbus/Ohio 1988, 83-101). 36 Brang 1961, 334, Anm. 1. 33
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nem eigenen, tödlich verlaufenden Duell wollte Lermontov schließlich nicht auf seinen Gegner schießen.37 Wie Jurij Lotman überzeugend argumentiert, führte die imaginäre Verschiebung Russlands von der nord-südlichen auf die ost-westliche Achse im Laufe des 19. Jahrhunderts dazu, dass sich der Kontrast zum Westen verstärkte und der zum Orient und zu Asien abschwächte.38 So habe auch die Vorstellung des orientalischen Fatalismus Eingang in den russischen Nationalcharakter gefunden. Das Thema sei in dem Augenblick aufgetaucht, als es in den 1830er und 40er Jahren in der Philosophie zum Konflikt zwischen dem romantischen Voluntarismus und dem realistischen Determinismus kam. Gerade diesen Widerspruch zwischen Schicksal und Kalkül, zwischen Fatalismus und Kritizismus, zwischen Europa und Asien verkörpere auch der Russe Pečorin, während der Serbe Vulič eindeutig dem Orient zugeordnet wird.
2. Russlands missglückte Vermählung mit Bulgarien. Turgenevs Am Vorabend (1860) Die Jahre von 1852 bis 1856 verbrachte der prowestlich orientierte Turgenev gezwungenermaßen – einerseits aufgrund der Verbannung durch den Zaren auf sein Familiengut Spaskoe-Lutovinovo und andererseits wegen des Krimkriegs – in Russland. In dieser Zeit pflegte er enge Kontakte zu den Slavophilen, insbesondere zu den Brüdern Konstantin und Ivan’ Aksakov, beide Schriftsteller und Journalisten, sowie zu dem Dichter und orthodoxen Priester Aleksandr Chomjakov, der im Jahre 1828 als Freiwilliger in Bulgarien gegen die Türken gekämpft hatte.39 Gemeinsam mit dem Historiker und Journalisten Michail Pogodin gründeten sie 1858 in Moskau das Slawische Komitee (Slavjanskij komitet) für die Unterstützung der Christen im Osmanischen Reich, das 1867 weitere Filialen in St. Petersburg, Kiew und Odessa eröffnete.40 Turgenev, der ansonsten ein überzeugter Westler war und vorwiegend in Frankreich, Deutschland und Italien lebte, verfasste 1859-60 in Vichy und auf seinem Familiengut in Russland den Roman Am Vorabend (Nakanune), der 1860 in zwei Teilen in der Zeitschrift Russkij vestnik erschien. Zum Helden machte er einen in Russland aufgewachsenen bulgarischen Aufständischen, dem es mühelos 37
Solovev, Vladimir: Lermontov. In: Filosofija iskusstva i literaturna kritika. Moskva 1991, 379-398. 38 Lotman 1984; vgl. auch Lemberg 1985. 39 Brang, Peter: I.S. Turgenev. Sein Leben und sein Werk. Wiesbaden 1977, 18-20. 40 Zu den Slavophilen und zum russischen Sendungsbewusstsein: Duncan, Peter J.S.: Russian Messianism. Third Rome, Revolution, Communism and After. London-New York 2000, 25, 30ff.
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gelingt, die Liebe einer jungen adeligen Russin zu gewinnen, die ihn den russischen Konkurrenten vorzieht. In den physiognomischen und psychologisierenden Beschreibungen, die zwischen der frührealistischen physiologischen Skizze und dem psychologischen Realismus angesiedelt sind, erzeugt Turgenev Russland- und Balkanstereotypen. Der Bulgare Insarov, der erst spät im Roman tatsächlich erscheint, ist von Anfang an Thema der Konversation. Stärker als durch eigene Präsenz, nimmt er durch die Kommentare zweier russischer Intellektuellen Gestalt an – des Philosophen Beresnev und des Bildhauers Šubin, die sich beide um die Gunst Elena Stachovas bemühen. Beresnev, der anfangs bessere Chancen bei seiner Werbung zu haben scheint, hat in Göttingen studiert, ist Schellingianer sowie Mitglied der Illuminaten und strebt eine Philosophie- oder Geschichtsprofessur an der Universität an. Als Mystiker, der für Swedenborg und republikanische Ideen schwärmt, drückt er sich gern in Metaphern aus. Er ist ein leidenschaftlicher Musikliebhaber – jedoch nicht um der Form willen, sondern er liebt „jene verschwommenen, süßen, gegenstandslosen und allumfassenden Empfindungen“.41 Dieselbe Formlosigkeit schreibt sich auch in sein Äußeres ein: Als der Künstler Šubin ihn und Insarov als Modell vergleicht, stellt er fest, dass der Bulgare „ein markantes, ein Skulpturengesicht“ hat, während das Gesicht Beresnevs sich mehr für die Malerei eigne, da es „keine Linien, dafür aber Physiognomie hat“.42 Šubin beschreibt sich selbst als einen „Fleischer“, dessen Fach „das Fleisch, das Modellieren von Fleisch“ sei.43 Obwohl er sich nach Italien sehnt, kam er nur bis nach Kleinrussland und wird daher mit einem Pinguin verglichen, der nur mit den Flügeln schlägt und nicht fliegen kann.44 Elena ist, obwohl sie auf einem gemütlichen russischen Gutshof lebt, voller Tatendrang: „Manchmal kam ihr in den Sinn, dass sie etwas wollte, was sonst niemand wollte, woran niemand in ganz Russland dachte.“45 Neidvoll blickt sie den vorbeifliegenden Zugvögeln nach, obwohl sie nicht weiß, wohin sie fliegen. Ihr Bedürfnis nach Bewegung schreibt sich in ihren klaren, aber unbeständigen Blick, ihr manchmal vorschnelles Urteil, ihren schnellen Gang und die nach vorn geneigte Körperhaltung ein. Ihr Gesichtsausdruck bereitet dem Bildhauer Šubin große Schwierigkeiten – die Linien sind zwar klar, streng und scharf, aber der Ausdruck ihrer Augen wechselt ständig, wodurch sich ihre ganze Gestalt verändert. Ihr gezwungenes Lächeln, zudem 41
Turgenjew, Iwan: Vorabend. Väter und Söhne. Deutsch von Harry Burck und Dieter Pommerenke. Berlin 1973, 33; Turgenev, Ivan’ S.: Nakanune. Otcy i deti. Moskva 1979, «любил те смутные и сладкие, беспредметные и всеобъемлющие ощущения» 42 Turgenjew 1973, 64; Turgenev 1979, 49. 43 Turgenjew 1973, 9; Turgenev 1979, 5. 44 Turgenjew 1973, 17; Turgenev 1979, 11. 45 Turgenjew 1973, 37; Turgenev 1979, 27.
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etwas Elektrisiertes, Hastiges, manchmal sogar Hektisches und Nervöses, sprechen dafür, dass sie sich zu Hause bei den Eltern eingeengt fühlt. Ihren Tatendrang befriedigt sie mit Lektüre und durch ihren barmherzigen Einsatz für arme Menschen und Tiere: Jegliche geschundene Kreaturen, dürre Hofhunde, zum Tode bestimmte junge Katzen, aus dem Nest gefallene Sperlinge, ja selbst Insekten und Reptilien, alle fanden sie in Jelena eine Beschützerin und Verteidigerin, die sie eigenhändig fütterte und sich nicht vor ihnen ekelte.46
Sowohl Beresnev, dem es an Form fehlt, als auch Šubin, dem es an Dynamik fehlt, können Elena als potentielle Ehemänner nicht überzeugen. Durch Beresnevs begeistertes Erzählen über Insarov wird ihre Phantasie angestiftet, bis sie in ihm einen Helden erkennt, der Form und Dynamik, die große patriotische Idee und den Aufstand gegen die Türken in sich vereint. Seine Gestalt, die zunächst unklar und verschwommen ist, nimmt in der Konversation allmählich immer klarere Züge an. Zum ersten Mal wird Insarov in einem Gespräch zwischen Beresnev und Šubin erwähnt; letzterer unterscheidet nicht einmal zwischen einem Serben und einem Bulgaren: „Wer ist Insarow? Ach ja, dieser Serbe oder Bulgare, von dem du mir erzählt hast, nicht wahr? Dieser Patriot?“47 Auch Elena macht die Einordnung des Bulgaren Schwierigkeiten: „Und wie heißt er?“ erkundigte sich Jelena lebhaft. „Insarow, Dimitri Nikanorovitsch. Er ist Bulgare.“ „Kein Russe?“ „Nein, kein Russe.“48
Beresnev berichtet über die Herkunft und Vorgeschichte des Bulgaren, der nur einen Gedanken im Kopf habe – die Befreiung seines Vaterlandes. Wie Puškins Sil’vio und Lermontovs Vulič ist er das Produkt des Erzählvorgangs und der Gerüchte, die über ihn kolportiert werden. So wie in Puškins Kirdžali die genauen historischen Hintergrunde und der Zeitrahmen gegeben werden, so erfährt man auch hier das Jahr von Insarovs Geburt sowie der Ankunft in Kleinrussland, d.h. in der Ukraine: Der Vater war Kaufmann aus Tirnovo, seine Mutter starb, als er acht Jahre alt war – sie wurde 1835 von einem türkischen Aga entführt und mit durchgeschnittener Kehle aufgefunden. Als sich der Vater rächen wollte und den Aga verwundete, wurde er ohne Gerichtsverfahren erschossen. Als armes Waisenkind kam er ein Jahr später über Odessa zu seiner Tante nach Kiew, wo er aufwuchs und daher hervorragend Russisch spricht – ein Merkmal, das immer wieder unterstrichen wird. Die Slawophilen (und die Panslawisten) betrachteten die Sprache – neben der slawischen Blutsverwandtschaft und dem orthodoxen Glauben – 46
Turgenjew 1973, 35; Turgenev 1979, 25f. Turgenjew 1973, 16; Turgenev 1979, 10. 48 Turgenjew 1973, 55; Turgenev 1979, 41f. 47
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als das wichtigste Bindeglied zwischen den Slawen, doch in diesem Fall geht es nicht um die Nähe zwischen dem Russischen und Bulgarischen, sondern um einen Bulgaren, der wie ein Russe Russisch spricht – und sich dadurch in die imperiale Vorstellung eines Großrusslands einfügt. Die wiederholten Fragen, die das Russisch von Insarov verifizieren wollen, klingen wie ein Echo, das „Russisch“ multipliziert. „Daher spricht er so gut Russisch.“ „Er spricht Russisch?“ „Wie Sie und ich.“49
Im Jahre 1848, als er zwanzig Jahre alt wurde, kehrte er zurück nach Bulgarien, wo er wieder seine Muttersprache – wohl als Fremdsprache – erlernte. Derzeit studiere er in Moskau russische Geschichte, Jurisprudenz und politische Ökonomie, sammle Material zur „orientalischen Frage“, übersetze bulgarische Lieder und Chroniken und arbeite an einer russisch-bulgarischen Grammatik. Seine Übersetzungen der bulgarischen Lieder ins Russische seien zwar korrekt, aber es mangele ihnen an Lebendigkeit. Wenn er über die gegenwärtige Lage in Bulgarien spreche, röte sich sein Gesicht, die Stimme werde lauter, sein Körper straff und vorwärts strebend, die Konturen seines Mundes schärfer und härter, seine Augen flammten auf. Insarov, fast ein Russe, spreche dennoch mit einem leichten Akzent Russisch und unterscheide sich auch physiognomisch durch sein skulpturales Gesicht von den ‚malerischen‘ Russen. Insarow sprach ein völlig fehlerfreies Russisch, wobei er jedes Wort deutlich artikulierte; dennoch klang seine gutturale, aber durchaus angenehme Stimme irgendwie unrussisch. Noch deutlicher kam seine ausländische Herkunft (er war Bulgare von Geburt) in seinem Äußeren zum Ausdruck: Er war ein junger Mann um die Mitte der Zwanzig, hager und sehnig, mit eingefallener Brust und knotigen Händen, hatte scharf geschnittene Gesichtszüge, eine Höckernase, glattes blauschwarzes Haar, eine niedrige Stirn, kleine, tiefliegende und durchdringend blickende Augen sowie buschige Brauen, und wenn er lächelte, zeigten sich für einen Augenblick prächtige weiße Zähne zwischen seinen schmalen, festen und überdeutlich konturierten Lippen. Er trug einen nicht mehr neuen knappen, aber sauberen Gehrock, der bis oben hin zugeknöpft war.50
Im Vergleich zum Serben Vulič hat die Physiognomie des Bulgaren weitere balkanische Zügen bekommen: Die Höckernase, die niedrige Stirn, die kleinen, tiefliegenden Augen und die buschige Augenbrauen sind physiognomisch weniger ansprechend als die große, jedoch regelmäßige Nase des Serben aus Lermontovs Werk. Auch Insarovs Charakter entspricht seinem Äußeren: „Mehr als deutsche Korrektheit“, die manchmal „unsinnig, ja sogar 49 50
Turgenjew 1973, 56; Turgenev 1979, 42. Turgenjew 1973, 39; Turgenev 1979, 29.
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lächerlich“ wirke, kennzeichnet ihn.51 Niemals widerrufe er seine Entschlüsse, niemals breche er seine Versprechen, und trotz seines eisernen Willens habe er auch etwas Kindliches, Offenherziges an sich. Auch seine Landsleute, mit denen er sich trifft, Geheimnisse austauscht und mit denen er für längere Zeit verschwindet, wirken nicht unbedingt vertraueneinflößend, wie man aus der Konversation zwischen Beresnev und Šubin erfährt; ihre Umgangsformen wirken roh und unkultiviert. „Vorgestern, vor dem Mittagessen, sind zwei Männer zu ihm gekommen, wahrscheinlich Landsleute von ihm.“ „Bulgaren? Woraus schließen Sie das?“ „Daraus, dass sie sich mit ihm, soviel ich hören konnte, in einer mir unbekannten, aber slawischen Sprache unterhielten. […] Sie gingen zu ihm hinein, und im Nu begann ein Schreien und Streiten, regelrecht wild und wütend. Auch er hat geschrien. Sie scheinen einander Vorwürfe gemacht zu haben. […] Sie hätten diese Besucher mal sehen müssen! Gebräunte Gesichter, breitwangig und stumpf, mit Adlernasen, beide so um die Vierzig, schlecht gekleidet, verschwitzt und verstaubt, dem Aussehen nach Handwerker – oder doch keine Handwerker, aber auch keine Herren. Weiß der Himmel, was das für Leute waren! […] Die Wirtin hat mir erzählt, die beiden hätten ganz allein einen riesigen Topf voll Grütze verputzt. Sie hätten sie um die Wette runtergeschlungen, wie hungrige Wölfe.52
Die russische Ambivalenz den Bulgaren gegenüber drückt der Bildhauer Šubin am deutlichsten aus. Er porträtiert den Bulgaren zweimal – einmal als markanten, tugendhaften Helden und ein anderes Mal als Karikatur – mit den physiognomischen Zügen eines Hammels, der jedoch wie Pan auf den Hinterbeinen steht. Er hatte das Tuch schwungvoll heruntergezogen, und Beresnews Blicken präsentierte sich eine Statuette im Stil Dantans, gleichfalls Insarow darstellend. Etwas Boshafteres und Witzigeres hätte man sich nicht ausdenken können. Der junge Bulgare war als Hammel dargestellt, der, auf den Hinterbeinen stehend, die Hörner zum Stoß gesenkt hält. Sturer Ernst, Trotz, Eigensinn, Unbeholfenheit und Beschränktheit sprachen deutlich aus der Physiognomie dieses ‚Gatten der feinwolligen Schafe‘, und dennoch war die Ähnlichkeit derart frappierend und unverkennbar, dass Beresnew laut lachen musste.53
Die tierische Physiognomie, in der der Hammel mit dem Ziegenbock verschmilzt, speist sich aus verschiedenen antiken Mythologien, die nun im Sinne der physiognomischen Lehre umgedeuten werden. Die Züge eines Ziegenbocks verweisen auf das Begleittier des Weingottes Dionysos sowie auf den Hirtengott Pan, die beide in Asien beheimatet sind und in der antiken Mythologie mit Zügellosigkeit und ausgeprägtem Geschlechtstrieb in Verbindung gebracht werden. Pan kennzeichnen Bockshörner und -füße, die 51
Turgenjew 1973, 87; Turgenev 1979, 68. Turgenjew 1973, 69; Turgenev 1979, 53. 53 Turgenjew 1973, 109; Turgenev 1979, 86. 52
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Begleiter des Dionysos, die Satyrn tragen Bockmasken, während der Gott selbst die Gestalt des Tieres annehmen kann. Im Roman wird der Bulgare zwar als asketisch beschrieben, der die Liebe zu seiner Heimat kaum mit der Liebe zu einer Frau teilen kann; dennoch gibt sich Elena ihm schon vor der Vermählung hin. Die Gräfin Lambert, der Turgenev das Werk widmen wollte, war von dieser Tatsache so irritiert, dass Turgenev beinahe sein Manuskript verbrannt hätte.54 Mit dem „feinwolligen Schaf“ greift Turgenev einen zweiten antiken Mythos auf – den vom goldenen Vlies. Aus dem goldenen Widder Chrysomeles macht er jedoch den gewöhnlichen Hammel Insarov. Mit beiden Mythen greift Turgenev den asiatischen Topos der griechischen Antike auf und wendet ihn auf den Balkan an. In der physiognomischen Beschreibung des Bulgaren treibt er sein Spiel mit den nationalen Charakterologien und Stereotypen55 an den Rand der Karikatur. Wie Edmund Heiner feststellt, stand Turgenev stark unter dem Einfluss des Schweizer Physiognomieforschers Johann Caspar Lavater und stattete in seinen Manuskripten die Figurenbeschreibungen oft mit physiognomischen Zeichnungen aus.56 Martina Baleva wiederum stellte anhand von illustrierter Presse in Europa und Russland fest, dass sich während des Krimkrieges feste visuelle Stereotypen der Balkanvölker ausbildeten, jedoch ohne feste ethnische Zuordnung.57 Gemäß diesen Stereotypen wurden sie entweder als ursprünglicharchaische, ländliche Bevölkerung mit griechisch anmutenden bukolischen Elementen oder als barbarische, unzivilisierte, asiatische Völker zum Kollektiv zusammengefasst. In den 1860er Jahren wurden gemäß diesem gespaltenen Verhältnis die südslawischen Aufständischen als mutige Heroen, die Türken und deren Söldner, wie Baschibozuks und Tscherkessen als bestialische Orientalen präsentiert.58 Während Beresnev, Šubin und ein anonymer extradiegetischer Erzähler immer wieder ihren Zweifel an dem Bulgaren ausdrücken, zeigt Elena immer größeres Interesse für ihn. Sie möchte die bulgarische Sprache erlernen, obwohl das für die Kommunikation zwischen den beiden nicht nötig wäre, und 54
Brang 1977. Brang, Peter: Images und Mirages in Turgenevs Darstellung der Nationalcharaktere. Klischeezertrümmerung oder Trendverstärkung? In: Ivan S. Turgenev. Leben, Werk und Wirkung. Beiträge der Internationalen Fachkonferenz aus Anlass des 175. Geburtstages an der Otto-Friedrich-Universität Bamberg, 15.-18. September 1993 (= Vorträge und Abhandlungen zur Slavistik 27). München 1995, 1-25. 56 Heiner, Edmund: Elements of Physiognomy and Pathognomy in the Works of I. S. Turgenev (Turgenev and Lavater). In: Holthusen, Johannes/Schrenk, Josef (Hrsg.): Beiträge und Skizzen zum Werk Turgenevs (= Slavistische Beiträge 116). München 1977, 7-52. 57 Baleva, Marina: Bulgarien im Bild. Die Erfindung von Nationen auf dem Balkan in der Kunst des 19. Jahrhunderts (= Visuelle Geschichte, Hrsg. Stefan Troebst). KölnWeimar-Wien 2012, 75-118. 58 Ebd., 80-97. 55
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Insarov belehrt sie, dass sie zuerst die bulgarische Geschichte lernen solle, bevor sie sich der Sprache und der Literatur widme. Die Sprachunterschiede zwischen den slawischen Sprachen spielt er panslawistisch herunter. „Sagen Sie“, fragte Jelena weiter, „ist das Bulgarische schwer zu erlernen?“ „Durchaus nicht. Es ist eigentlich beschämend für einen Russen, kein Bulgarisch zu können. Ein Russe sollte alle slawischen Sprachen kennen. Wenn Sie wollen, bring ich Ihnen mal bulgarische Bücher mit. Sie werden sehen, wie leicht es ist. Und was für Lieder wir haben! Nicht schlechter als die serbischen. Warten Sie, ich werde Ihnen mal eins übersetzen! Es handelt von… Aber haben Sie überhaupt Ahnung von unserer Geschichte?“59
Die Tatsache, dass Insarov schlecht Französisch spricht, kommentiert sie in ihrem Tagebuch nicht als Mangel an Bildung: „(Er spricht schlecht Französisch und schämt sich dessen nicht – das gefällt mir.)“60 Vielmehr wird dadurch deutlich, dass Elena wie die Slawophilen national patriotisch denkt und keinen großen Wert auf westeuropäische Bildung legt. Während Insarov die bulgarischen Lieder mehr schlecht als recht ins Russische übersetzt, gibt Elena der Geschichte vor der Poesie und Kunst den Vorrang: „Beide, er wie ich, lieben wir keine Gedichte; beide verstehen wir nichts von Kunst.“61 In dieser Aussage äußert sich der Einfluss der linksrevolutionären Ästhetik, wie sie z.B. Černyševskij in Die ästhetischen Beziehungen der Kunst zur Wirklichkeit (Ėstetičeskie otnošenija iskusstva k dejstvitel’nosti, 1855) vertrat. Der Sozialutopist sah nicht in der Schönheit, sondern im praktischen Charakter die wesentliche Funktion der Kunst: Ihre Aufgabe sei nicht der ästhetische Genuss, sondern den Menschen zu bilden und sein Leben zu gestalten. Elena bedauert zwar am Anfang, dass Insarov kein Russe ist, aber dann wird ihr klar, dass es einen solchen Charakter in Russland gar nicht geben könne: „Warum ist er bloß kein Russe? Nein, er könnte gar kein Russe sein.“62 Bald erkennt sie in Bulgarien ihr neues Zuhause: „Er will mir Bulgarisch beibringen. Wenn er da ist, fühle ich mich wohl, ganz wie zu Hause. Nein, besser als zu Hause.“63 Elena schockiert ihre Eltern als sie ihnen mitteilt, dass sie Russland verlässt: „‚Zu den Türken!‘ rief Anna Wassiljewna aus und fiel in Ohnmacht.“64 In ihren Vorstellungen ist das Land eine Wildnis ähnlich der sibirischen Tundra.65
59
Turgenjew 1973, 73; Turgenev 1979, 56f. Turgenjew 1973, 88; Turgenev 1979, 68. 61 Turgenjew 1973, 90; Turgenev 1979, 70. 62 Turgenjew 1973, 90; Turgenev 1979, 70. 63 Turgenjew 1973, 91; Turgenev 1979, 71. 64 Turgenjew 1973, 153; Turgenev 1979,122. 65 Turgenjew 1973, 158; Turgenev 1979, 126. 60
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Trotz des guten Anfangs nimmt die Geschichte von Elena und Insarov kein gutes Ende: Als sie in Venedig auf das Schiff warten, das sie nach Bulgarien bringen soll, erkrankt der frisch vermählte Held plötzlich an einer Lungenentzündung und stirbt innerhalb von wenigen Tagen. Turgenev vergönnt dem Bulgaren keinen heldenhaften Tod im Kampf gegen die Türken, sondern inszeniert einen jämmerlichen Abschied am Vorabend der Abreise. So haucht der Bulgare vor der melancholischen Kulisse Venedigs, die von Tizians Gemälde Himmelfahrt und Verdis Oper La Traviata (Die vom Wege Abgekommene) begleitet wird,66 sein Leben aus. Wie Puškins Sil’vio verschwindet auch Elena, die als barmherzige Krankenschwester Insarovs Mission fortsetzen möchte, auf dem Balkan. In ihrem letzten Brief an die Eltern schreibt sie, dass sie Bulgarisch und Serbisch gelernt habe und nicht mehr nach Russland zurückkehren wolle. Wie im Falle Sil’vios gibt es ein Gerücht, demzufolge die Witwe zuletzt bei den Truppen der Aufständischen in der Herzegowina gesehen wurde, bevor sie spurlos verschwunden sei. Wie dem auch sein mag, Jelena blieb für immer, unwiederbringlich verschollen, und niemand weiß, ob sie noch lebt und sich irgendwo verborgen hält oder ob das kurze Spiel des Lebens, ihre unauffällige Wanderschaft schon zu Ende und der Tod am Zuge ist. Es kommt mitunter vor, dass sich jemand beim Erwachen, unwillkürlich erschrocken, fragt: Bin ich denn wirklich schon dreißig – vierzig – fünfzig Jahre alt? Wie ist das Leben bloß so schnell vergangen? Wie kommt es, dass der Tod mir schon so nahe gerückt ist? Der Tod ist wie ein Fischer, der den Fisch schon im Netz hat, ihn aber noch eine Weile im Wasser lässt – der Fisch schwimmt noch umher, doch das Netz hält ihn gefangen, und der Fischer holt ihn heraus, wann es ihm gefällt.67
Obwohl Turgenev ein aktuelles politisches Thema anriss, schloss er mit seinem Epilog den Roman völlig apolitisch ab. Das Verschwinden Elenas und ihr ungewisses Ende dienen dem Erzähler ausschließlich als Reflexionshintergrund über Altern und Vergänglichkeit. Der aufopfernde, heldenhafte Tod im Kampf gegen die Ungläubigen unterscheidet sich keineswegs von dem langsamen Vergehen der Dinge wie in einem Stillleben. Damit wird jegliche revolutionäre Dynamik und jeglicher Aufruf zur Befreiung der Südslawen am Ende annulliert. Als Vorlage für seinen Roman benutzte Turgenev das Manuskript des benachbarten Großgrundbesitzers Karateev, der im Krimkrieg gefallen war.68 Darin erzählt dieser von dem bulgarischen Aufständischen Katranov, dem ein russisches Mädchen den Vorrang vor einem Russen gibt. Auch Katranov stirbt 1853 an einer Lungenentzündung in Venedig. Er unterscheidet sich jedoch von Insarov darin, dass er einerseits das Schöne in der Kunst liebt und andererseits nicht bulgarische Lieder ins Russische, sondern Goethe und 66
Die Oper wurde am 6. März 1853 im Teatro La Fenice in Venedig uraufgeführt. Brang 1977, 93-100; Turgenev 1979, 146. 68 Brang 1977, 93-100. 67
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Schiller ins Bulgarische übersetzt. In der ursprünglichen, längeren Fassung Turgenevs gab es auch ein Tagebuch Šubins, das er jedoch 1870 verbrannte. Die zeitgenössische Kritik reagierte auf Turgenevs Roman nicht besonders positiv.69 Pisarov kritisierte beispielsweise die gestelzte Figur Elenas, die sehr an Gončarovs Russlanddeutschen Štol’c aus dem Roman Oblomov erinnere, Tolstoj warf ihm stereotype Charaktere vor.70 Dobroljubov bemängelte in „Wann wird denn der Tag kommen?“ („Kogda že pridet nastojaščij den’“, 1860) die schemenhaften, abstrakten Helden, deren Ideologie nicht anhand von Handlungen nachvollzogen werden könne. So erfahre man nichts über das politisch-gesellschaftliche Engagement des Bulgaren, dessen Aktionen im Roman ein völliges Geheimnis blieben. Aber aus der Geschichte erfahren wir über ihn auch als Mensch kaum etwas: seine Innenwelt ist uns nicht zugänglich; uns ist nicht zugänglich, was er macht, was er denkt, worauf er hofft, welche Veränderungen er in seinen Beziehungen empfindet, wie sieht er den Hergang, das Leben, das vor seinen Augen vorbeirennt. Sogar seine Liebe zu Elena bleibt für uns nicht ganz aufgedeckt. Wir wissen, dass er sie leidenschaftlich liebgewonnen hat; aber wie das Gefühl zu ihm gekommen ist, was ihn an ihr angezogen hat, wie stark das Gefühl war, als er es bemerkte und sich entschied, fortzugehen, – all diese inneren und viele anderen Einzelheiten, die Herr Turgenev so raffiniert, so poetisch beschreiben kann, bleiben unklar in der Person Insarovs. Als lebendige Figur, als wirkliche Person, ist Insarov von uns äußerst fern.71
Der Kritiker wirft dem Autor ferner vor, einen Bulgaren statt einen Russen zum Helden im Kampf gegen die Türken erhoben zu haben. Darin spiegelt sich der slawophil instrumentalisierte, imperiale Anspruch, die Russen als die wahrhaften Befreier der orthodoxen Bulgaren anzusehen. Wie bereits vorher den Griechen wird nun den Balkanslawen die Fähigkeit abgesprochen, sich selbst vom türkischen Joch befreien zu können. Worin liegt also der Sinn der Erscheinung des Bulgaren in dieser Geschichte? Was bedeutet hier Bulgare, warum nicht Russe? Gibt es bei den Russen etwa nicht solche Naturen, weil Russen nicht fähig sind, leidenschaftlich und entschlossen zu lieben, 69
Zur Rezeption von Turgenevs Roman Am Vorabend: Wellek, René: Geschichte der Literaturkritik, 1750-1950 (1977), 237; Brang 1977, 28, 99f.; Opitz, Roland: Turgenevs Elena und ihre Freier. In: Zeitschrift für Slawistik 29 (1984), 546-555, hier 550f. 70 Brang 1977, 20, 99f. 71 Ebd., 233. «Но мы из повести мало узнаем его и как человека: его внутренний мир не доступен нам; для нас закрыто, что он делает, что думает, чего надеется, какие испытывает перемены в своих, отношениях, как смотрит на ход событий, на жизнь, несущуюся перед его глазами. Даже любовь его к Елене остается для нас не вполне раскрытою. Мы знаем, что он полюбил ее страстно; но как это чувство вошло в него, что в ней привлекло его, на какой степени было это чувство, когда он его заметил и решился было удалиться, – все эти внутренние подробности и многие другие, которые так тонко, так поэтически умеет рисовать г. Тургенев, остаются темными в личности Инсарова. Как живой образ, как лицо действительное, Инсаров от нас чрезвычайно далек.»
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nicht fähig ohne Bedenken aus Liebe zu heiraten? Oder ist das einfach die Laune der Einbildung des Autors, und man braucht hier keinen besonderen Sinn zu suchen? „Ich habe halt einen Bulgaren genommen; ich könnte auch einen Zigeuner oder einen Chinesen nehmen…“ Von der Antwort auf diese Fragen hängt der Blickwinkel auf den ganzen Sinn der Erzählung ab. Uns scheint es, dass der Bulgare hier tatsächlich ersetzt werden könnte, wahrscheinlich durch eine andere Nationalität – einen Serben, einen Tschechen, einen Italiener, einen Ungarn, – nur nicht durch einen Polen oder einen Russen.72 […] Warum kann Insarov nicht Russe sein? In der Erzählung ist er ja nicht tätig, sondern bereitet sich nur auf das Unternehmen vor; das kann auch ein Russe. Sein Charakter ist auch in der russischen Haut möglich, besonders in solchen Erscheinungen. Er liebt stark und entschlossen; aber ist das wirklich unmöglich für einen Russen?73
Trotz des russischen Panslawismus schreitet die Verfestigung eines Balkanstereotyps voran, der schließlich in der Ausschließung der Region aus der russischen imperialen Imagination in Tolstojs Anna Karenina münden wird. Dobroljubovs Fazit lautet: „Dieser Insarov [bleibt] für uns immer noch ein fremder Mensch.“74 Der Autor habe ihn aus Bulgarien importiert und nicht ausreichend den russischen Verhältnissen und dem russischen Denken angepasst. Den Hauptgrund dafür, dass Insarov den Russen unbegreiflich bleibe, sucht Dobroljubov auch in der außerliterarischen Wirklichkeit – der Tatsache, dass die Bulgaren ein versklavtes Volk in einem rechtloses Land unter dem türkischen Joch seien, während die Russen frei in einem Land lebten, das gut funktioniere und von weisen Gesetzen geregelt werde. Bulgarien ist unterjocht, es leidet unter dem türkischen Joch. Wir sind, Gott sei Dank, durch niemanden unterjocht, wir sind frei, wir sind das große Volk, das die Schicksale der Reichen und Völker mit eigenen Waffen mehrmals besiegelte; wir beherrschen die anderen und uns beherrscht niemand… In Bulgarien gibt es keine gesellschaftlichen Rechte und Garantien. […] Russland ist im Gegenteil ein gut eingerichteter Staat, hier existieren weise Gesetze, die die Rechte der Bürger wah-
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Dobroljubov, N. A.: Kogda že pridet nastojaščij den’? In: Lavrecij, A. (Hrsg.): Izbranye sočinenija. Moskva-Leningrad 1947, 218-242, hier 231. «В чем же, стало быть, смысл появления болгара в этой истории? Что тут значит болгар, почему не русский? Разве между русскими уже и нет таких натур, разве русские не способны любить страстно и решительно, не способны очертя голову жениться по любви? Или это просто прихохть авторского воображения, и в ней не нужно отыскивать никакого особенного смысла? «Взял, мол, себе болгара, да и кончено; а мог бы взять и цыгана и китайца, пожалуй...» Ответ на эти вопросы зависит от воззрения на весь смысл повести. Нам кажется, что болгар действительно здесь мог бы заменен, пожалуй, и другою национальностью – сербом, чехом, италянцем, венгром, – только не поляком и не русским.» 73 Ebd., 232. «Но почему же Инсаров не мог быть русским? Ведь он в повести не действует, а только собирается на дело; это и русский может. Характер его тоже возможен и в русской коже, особенно в таких проявлениях. Он любит сильно и решительно; но неужели невозможно и это для русского человека?» 74 Ebd., 233. «этот Инсаров все еще нам чужой человек»
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ren und ihre Pflichten bestimmen; hier regiert die Rechtsprechung, blüht eine wohltuende Öffentlichkeit.75
Dobroljubov schließt seine Kritik mit dem Aufruf, dass man in Russland dennoch einen Mann wie Insarov bräuchte, der gegen den „inneren Feind“ in Russland und nicht gegen die Türken in Bulgarien kämpfen sollte. Mit dem „inneren Türken“ bezeichnet er nicht die kaukasischen und zentralasiatischen Völker, sondern das Ausbleiben politischer Reformen.76 Seine Kritik, deren Veröffentlichung Turgenev verhindern wollte, führte zum Bruch des Schriftstellers mit der Redaktion des Zeitschrift Sovremennik (Zeitgenosse), der neben Dobroljubov auch Nikolaj Černyševskij angehörte.77 Spätere Kritiker, wie der Slawist Roland Opitz, bemängelten nicht nur das Fehlen der psychologischen Tiefe und des sozialen Milieus, sondern auch das scheinbar unmotivierte Ende durch dem Tod des Bulgaren. Der Roman ist spätestens mit der Abreise der beiden zu Ende […] Und doch fügt der Autor noch eine neue (epilogartige) Erzählung an den Roman an: Geschichte vom Tod des Helden. Die Logik der Charaktere und Ereignisse des Werkes bedingt diesen Ausweg keineswegs, und auch medizinisch gesehen ist der Tod ein – nicht mal sorgfältig motivierter – Zufall. Nur an einer Stelle gibt es einen Anhaltspunkt: Mitten im höchsten Liebesglück kommen Insarov plötzlich Gedanken, die für Turgenev, nicht aber für demokratische Kämpfer charakteristisch sind: Man kann vom Schicksal dafür bestraft werden, dass man zu glücklich ist. […] So kommt es, dass der Autor, der seinen skeptischen Gedanken von dem sinnlosen Tod eines jeden Helden der Geschichte auch hier durchsetzen will, an die Stelle der Logik der Charaktere, eine Logik des Philosophischen, außerhalb des Romangeschehens setzen muss.78
Stellt man den Ausgang des Romans jedoch in den Rahmen der Balkanproblematik in der russischen Literatur, erweist sich Turgenevs Ende – in intertextueller Fortschreibung von Puškins Sil’vio in der Erzählung „Der Schuss“ – als durchaus logisch. Diesmal ist es nicht der griechische, sondern der bulgarische Freiheitskampf, der die fragwürdige Reputation eines Balkankrieges auf sich zieht. Auch Tolstoj wird später in Anna Karenina denselben Kunstgriff anwenden, um Graf Vronskij kommentarlos auf den Balkan zu verabschieden. Doch bei Turgenev ist es nicht nur der russifizierte Insarov, der dieses Ende nimmt, sondern auch die Russin Elena – eine emanzipierte Frau. Ihre Befreiung von dem patriarchalen, elterlichen Zuhause und von der russischen Heimat 75
Ebd., 233. «Болгария порабощена, она страдает под турецким игом. Мы, слава богу, никем не порабощены, мы свободны, мы – великий народ, не раз решавший своим оружием судьбы царств и народов; мы владеем другими, а нами никто не владеет... В Болгарии нет общественных прав и гарантий. […] Россия, напротив того, государство благоустроенное, в ней существуют мудрые законы, охраняющие права граждан и определяющие их обязанности, в ней царствует правосудие, процветает благодетельная гласность.» 76 Ebd., 242. 77 Brang 1977, 28; Opitz 1984, 553. 78 Ebd., 552.
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wird jedoch nicht vom Erfolg gekrönt. In ihrer Tätigkeit als Krankenschwester auf dem Balkan bekommt sie keine Anerkennung – im Gegensatz zur berühmten Britin Florence Nightingale, dem „Engel der Verwundeten“ im Krimkrieg.79 Ihr ungewisses Ende ist eher im Rahmen der visuell dargestellten Frauenschicksale auf dem Balkan vorstellbar – wie sie Eugéne Delacroix, Auguste Jean-Baptiste Vichon, François-Émile de Lansac80 und Jaroslav Čermák81 darstellten: Ihre schönen Heldinnen sind geschändete, entführte oder ermordete Christinnen, oder solche, die sich selbst gerichtet haben, um nicht in die türkischen Hände zu fallen. Auch die Heldin Varja aus Boris Akunins populärem historischem Spionageroman Türkisches Gambit. Fandorin ermittelt (Tureckij gambit, 1998), der während des Russisch-Osmanischen Krieges 1877-78 in Bulgarien spielt, erfüllt dieses Schema. Varja, deren Gestalt in intertextueller Fortschreibung von Turgenevs Elena modelliert wird, verlässt auf der Suche nach ihrem auf dem Balkan verschwundenen, russischen Bräutigam ihre Eltern, betätigt sich dort als Krankenschwester und möchte als emanzipierte Frau gelten. Vor dem Hintergrund der jugoslawischen Zerfallskriege in den 1990er Jahren liest sich die Figur Varjas als parodistische Fortsetzung von Turgenevs Elena, die selbst offenherzig ihre ambivalenten Empfindungen gegenüber den Bulgaren äußert. Über den Häusern erhob sich ein Minarett mit abbröckelndem Putz. Oje! War sie etwa in einem muselmanischen Dorf? Aber die Bulgaren waren doch orthodoxe Christen, das war bekannt. Außerdem tranken sie hier Wein, was der Koran den Muselmanen verbot. Wiederum – wenn dies ein christliches Dorf war, wozu dann das Minarett? Und wenn ein muselmanisches, für wen waren denn die Leute hier, für uns Russen oder für die Türken? Für uns wohl kaum.82
Ihre Vorurteile werden bald bestätigt: Tatsächlich wird das Mädchen in einer Wette gegen einen Esel gesetzt, doch letztlich von einem jungen Mann, dem russischen ‚James Bond‘ Erast Petrovič Fandorin, der im Auftrag des russischen Geheimdienstes auf dem Balkan agiert, gerettet. Als Sekretärin darf sie ihn fortan bei seinen abenteuerlichen Erlebnissen begleiten. Allen Kapiteln sind Zeitungsausschnitte aus ost- und westeuropäischen Zeitungen des 19. Jahrhunderts vorangestellt, die über die Situation auf dem Balkan berichten. So zieht sich der Balkantopos nicht nur durch die russische Literatur des 19. Jahrhunderts, sondern wird in intertextuellen Anspielungen in den 1990er Jahren fortgeführt. 79
Zu Florence Nightingale: Troeger, Brigitte: Florence Nightingale. Der Engel der Verlassenen. Gießen 2010. 80 Kepetzis, Ekaterini: Familien im Krieg. Zum griechischen Freiheitskampf in der französischen Malerei der 1820er Jahre. In: Heß, Gilbert/Agazzi, Elena/Décultot, Élisabeth (Hrsg.): Graecomania. Der europäische Philhellenismus. Berlin 2009, 133-170. 81 Baleva, Martina: Martyrium für die Nation. Der slawische Balkan in der ostmitteleuropäischen Malerei des 19. Jahrhunderts. In: Osteuropa 59/12 (2009), 41-52. 82 Akunin, Boris: Türkisches Gambit. Fandorin ermittelt. Berlin 2005, 10.
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3. Der Serbisch-Osmanische Krieg 1876-78 und Russlands verlorene Söhne. Uspenskijs Briefe aus Serbien (1876) und Tolstojs Anna Karenina (1878) Im Vorfeld des Serbisch-Osmanischen und Russisch-Osmanischen Krieges von 1877-78 reiste Gleb Uspenskij, russischer Schriftsteller, Journalist und Anhänger der „Volkstümler“ (narodniki), nach Serbien. Als Grund für seine Reise unmittelbar nach der Niederlage der serbischen Armee gegen die Osmanen im September 1876 nennt er den Wunsch, sich zu vergewissern, ob das russische Volk tatsächlich bereit sei, sein Leben freiwillig für andere Slawen zu opfern, wie es in den Zeitungen zu lesen sei.83 In Budapest stößt er bald auf eine Gruppe von russischen Freiwilligen, die er, als Autor zahlreicher physiologischen Skizzen über Bauerntum und Proletariat, in seinen Briefen aus Serbien (Pis’ma iz Serbii, 1876) in allen Details zu beschreiben vermag. „Unsere!“ – dachte ich und tatsächlich, schaue ich – strömen Massen von Sibirka herbei, von Riesen-Stiefeln, Bündel in Rupfen mit zwei ZwanzigkopekenstückenSchirmmützen… und hinter der ersten Čujka [männliche Bekleidung] strömten gegerbte Lammfelle Merluški, kurze Pelzjacken, Bündel und die donnernden Stiefel… – „Das sind Unsere, das sind Unsere!“ – wiederholte ich tief gerührt von der Erscheinung dieser unansehnlichen Kostüme, von diesen nicht ganz ausdrucksvollen Gesichtern, diesen kurzen Pelzjacken auf dem europäischen Asphalt, in der Ansicht dieser Pracht und Glanz einer europäischen Stadt.84
Die Freiwilligen stellen Uspenskij zufolge einen Querschnitt durch die gesamte russische Gesellschaft dar, denn sie gehören allen sozialen Klassen an. Eins jedoch sei ihnen allen gemeinsam – sie wüssten überhaupt nichts über das „Allslawentum“ (vseslavjanstvo). Uspenskij unterscheidet außerdem zwischen den „ehrlichen“ und „unehrlichen“ Freiwilligen. Unter den „Ehrlichen“ fasst er diejenigen zusammen, die nach Serbien gekommen seien, um sich hier in einer „Prügelei“ (draka) als Krieger zu beweisen. Sie brüsteten sich deshalb mit ihren körperlichen Kräften und ihren veralteten Waffen, wie riesigen Messern oder antiquierten Pistolen. Die Serben bezeichneten sie als Feiglinge, die sich aus Angst vor den Türken in den Maisfeldern verstecken würden. „Unehrliche“ sind nach Uspenskij diejenigen, die sich durch die Teilnahme am Krieg 83
Uspenskij, Gleb: Pis’ma iz Serbii. In: Polnoe sobranie sočinenij Gleba Uspenskago. Tom 5. S kritičeskoj stat’ej N. K. Michajlovskago i biografičeskim očerkom N. A. Rubakina. St.-Peterburg 1908, 629-664, hier 629. 84 Ebd., 630. «Наши! – подумал я, и действительно, гляжу – валит сибирка, гигантысапоги, узел в дерюге, в два двугривенных картуз... а за первой чуйкой так и хлынули мерлушки, полушубки, узлы и гремящие, как гром, сапоги... – Наши, наши! – твердил я себе, глубоко тронутый появлением этих неказистых костюмов, этих не очень чтоб выразительных лиц, этих полушубков на европейских асфальтах, в виду этой роскоши и блеска европейского города.»
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Pensionszahlungen durch die serbische Armee erhoffen. Sie hätten es nicht eilig, an die Front zu gelangen und würden lieber von einer Schänke zur nächsten schlendern, bis sie ihren Sold verbraucht hätten, um danach wieder schnell nach Russland zurückzukehren. Neben diesen beiden Gruppen gebe es auch Fanatiker, die geglaubt hätten, sich auf göttlicher Mission zu befinden. Aber auch solche Männer seien dabei, die ihr Leben verpfuscht hätten und nun alles zum Teufel schickten. Diesen sei es völlig gleichgültig, ob sie am Leben blieben oder stürben. Andere wiederum würden hoffen, ihre verlorene Ehre hier wiederherzustellen. Sie seien enttäuscht, dass ihr „Dienst“ (služba), ihre „Heldentat“ (podvig) und ihr „Opfer“ (žertva) nicht so viel Aufmerksamkeit auf sich zögen wie in Russland, wo zu ihren Ehren Konzerte, Feste und Empfänge veranstaltet würden. In Serbien solle man sie zudem anders behandeln als die serbischen Soldaten – die „Schweine“.85 Außerdem gingen sie davon aus, dass sie den serbischen Befehlen nicht Folge leisten müssten. Die Einwohner von Belgrad würden deshalb unter den Freiwilligen leiden und sich über zahlreiche Unannehmlichkeiten beschweren. Uspenskij kritisiert aber nicht nur die russischen Freiwilligen, sondern auch die schlechte Organisation, ja das Chaos der serbischen Behörden und des Slawischen Komitees. Sie würden es nicht schaffen, den Zustrom an Söldnern hinreichend zu informieren, zu sammeln und an die Front zu transportieren, sondern ließen sie ziellos durch die fremde Stadt laufen. Ein Tag solcher Tölpelei wirkt unangenehm auf ihn [den Freiwilligen], reizt ihn; er versteht die Sprache nicht, kennt nicht den Wert und den Namen des Geldes, weiß nicht, wie nach dem Essen oder nach dem Weg zu fragen – all das intensivierte nur den gereizten Geisteszustand, weil es den Menschen jede Minute dazu zwang, über seine Einsamkeit und seine Verlorenheit im fremden Land nachzudenken, in dem ihm niemand Aufmerksamkeit schenkt und sich niemand um ihn kümmert.86
Die Teilnahme der russischen Freiwilligen am Serbisch-Osmanischen Krieg stellt Uspenskij in seinen Briefen nicht als einen ehrenvollen Dienst dar, sondern vielmehr als einen Ort des Ab- und Ausstiegs aus der russischen Gesellschaft. Um zu sehen, wie es den Freiwilligen an der Front ergeht, begibt er sich am 19. Oktober in einer Kutsche von Belgrad nach Paračin. Der kalte, regnerische Tag kündigt einen frühen Herbst an. Etwa dreißig Werst vor Belgrad stößt er auf die erste Gruppe neuer Rekruten, die sich schon mitten in der Nacht in unzureichender Kleidung auf den Weg begeben muss85 86
Ebd., 638. Ebd., 640. «Один день такой бестолочи неприятно действует на него, раздражает; не знать языка, не знать цены и названия денег, не уметь спросить поесть, расспросить дорогу, – все это только усиливало раздраженное состояние духа, потому что поминутно заставляло человека чувствовать свое одиночество, свою заброшенность на чужую сторону, где никто не обращает на него внимания, никто не заботится о нем.»
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ten, um bis zu dieser Stelle vorzudringen. Die Soldaten aus allen Altersgruppen sind inzwischen völlig durchnässt und erschöpft. Uspenskij muss bei diesem Anblick an die serbische Faulheit und Weichheit denken, über die in der russischen Presse berichtet wurde. Viele der Söldner sind krank und können sich kaum noch auf den Beinen halten, und niemand kümmert sich um sie, weil die Krankenhäuser bereits voll mit Kriegsverwundeten sind. Viele rufen nach Hilfe, werden jedoch ihrem Schicksal überlassen. Je mehr sich Uspenskij der Front nähert, desto erbärmlicher wird der Zustand der Menschen, die er auf der Straße sieht: völlig erschöpfte Familien mit Kleinkindern und Säuglingen, blass und blau vor Kälte und Regen, die sich mit ihrem Vieh auf der schlammigen, verstopften Straße kaum vorwärts bewegen können. In einem ähnlichen Zustand befinden sich auch die besiegten Soldaten. Barmherziger Gott, wie sahen sie aus, ihre Bekleidung, wie ihre Gesichter – grün, blass, geschwollen, in Lumpen gewickelt! Im tiefen Schlamm konnten sie sich in abgenutzten nassen Stiefeln buchstäblich kaum bewegen; fast zerfetzte Soldatenmäntel, von denen nichts mehr außer Fetzen und Löchern übrig geblieben ist – so ungefähr ist das Aussehen der zurückehrenden Krieger aus Deligrad. Eine solche, wahrhaftig elende Bekleidung, ganz nass, beschmutzt, sagt ihnen, wie viel Anstrengungen sie durchgestanden, wie viele schwierige Tage durchgelebt haben; kranke, grüne Gesichter sprachen außerdem von Leiden, Entbehrungen und Krankheiten. Sie krochen buchstäblich mit Müh und Not, Schritt für Schritt, und man konnte merken, dass sogar ein solches Gewicht wie das der Waffen, die sie auf den Schultern trugen, die Kräfte dieser erschöpften Menschen übersteigt, sie würgt und zu Boden drückt.87
Überall herrscht Chaos, so dass es fast unmöglich ist, sich in irgendeine Richtung zu bewegen. Alles, samt den Gedanken, dreht sich wie in einem Strudel und kollabiert im Stillstand. Diese wahrlich sinnlose Situation verhundertfachte sich, als wir endlich in die Stadt Paračin hereinfuhren. Hier wallen die Menschenwellen, die von allen Seiten in Paračin drängten, wie in einem Strudel, und niemand wusste wohin, aber man ritt, das Pferd antreibend, und ging wohin man getrieben wurde… Denken Sie aber nicht, dass an diesem Strudel, an diesem Durcheinanderlaufen etwas wie Angst oder Reiz Anteil hatten, – nichts dergleichen; es gab keine Möglichkeit, überhaupt an etwas zu denken, etwas zu empfinden oder über etwas zu reden: ein Mensch, der von allen Seiten von der Menge 87
Ebd., 647. «Боже милосердный, в каком были они виде, что был за костюм, что были за лица – зеленые, бледные, отеклые, обернутые тряпками! Буквально еле двигались они по глубокой грязи, в истрепанных мокрых опорках; почти в клочья изодранные военные шинели, от которых не осталось ничего, кроме лохмотьев и дыр, – вот примерно внешний вид возвращавшихся из Делиграда войников. Один это поистине нищенский костюм, весь мокрый, запачканный грязью, говорит вам, сколько они перенесли трудов, пережили трудных дней, а больные, зеленые лица говорили, кроме того, о страданиях, лишениях, болезнях. Плелись они буквально еле-еле, шаг за шагом, и иной раз нельзя было не заметить, что этим измученным людям не по силам даже такая тяжесть, как ружье, которое он несет на плече и которое гнетет его и гнет к земле.»
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eingezwängt wird, steht und denkt rein gar nichts, so als ob er auf etwas warte; die Menge, die von einem Wagen verdrängt wurde, stößt ihn weg, – geht weiter, und der stehende geht auch, und geht so lange, bis die andere Menge ihn zurückzieht.88
Die Kreisbewegung mündet in eine blinde, willen-, emotions- und gedankenlose Pendelbewegung, die eine Sogwirkung besitzt. Der Mensch ist wie ein kleines Rad in einem Mechanismus, dessen Funktionszusammenhang er nicht durchschaut. Sein Blick verliert sich in der Finsternis und seine Füße bleiben im Straßenmatsch stecken. Ich kann mir das ganze Chaos, mit dem die Menge die Stadt anfüllt, nicht vorstellen. Gute fünf Stunden nach der Ankunft in Paračin befand ich mich in diesem merkwürdigen Zustand – mich ohne jeglichen Willen und Lust hin und her zu bewegen, nichts wollend und nichts sehend. Erst als ich zufällig in irgendein Zimmer verschlagen wurde, wo eine Gruppe Russen war, konnte ich mich wiederfinden und dachte über meine Ankunft in Paračin nach. Als ich fuhr, brauchte ich etwas; jetzt konnte ich mich ganz und gar nicht daran erinnern, was ich brauchte und was passiert war. […] Niemand wusste und konnte es auch nicht wissen, warum man hier ist und wohin man von hier geht. Hätte ich die Möglichkeit, würde ich Paračin sofort verlassen und der Nase nachgehen, – so wurde dieser sinnlose Zustand mit jeder Minute immer bedrückender. Ich wurde vom Schreck gepackt, als ich zusammen mit den anderen am späten Abend rausging; es war stockfinster und so schmutzig, dass man kaum laufen konnte; Menschenmenge, Reiter und Fußgänger, eine Menge von Wagen und Vieh füllten die Stadt weiterhin genauso wie heute Morgen. Alles bewegte sich hin und her, sich aneinander stoßend und drückend. Man hörte Schimpfwörter, im Kot wälzten sich betrunkene Freiwillige und verfluchten ihr eigenes Schicksal.89 88
Uspenskij 1908, 648. «Такое поистине бессмысленное положение увеличилось во сто раз, когда мы, наконец, въехали в самый Парачин. Здесь волны народа, напиравшего в Парачин со всех сторон, бурлили как в омуте, и никто не знал, куда идти, что делать, куда ехать, а ехал, погоняя лошадь, и шел туда, куда его несло... Не думайте, что в этом омуте, в этой толкучке участвовало что-нибудь вроде страха или раздражения – ничего подобного не было; была потеря всякой возможности о чем бы то ни было думать, что-нибудь чувствовать или о чем-нибудь говорить: стоит человек, стиснутый со всех сторон толпою, и ровно ни о чем не думает, словно чего ждет; толкнула его толпа, которую толкнула телега, – пошли, и стоявший тоже пошел, и идет до тех пор, пока другая толпа не повлечет его назад.» 89 Ebd., 649. «Представить всю стихийность этой наполнявшей Парачин толпы я не берусь. Добрые пять часов по приезде в Парачин находился я в этом удивительном состоянии - без всякой воли и желания двигаясь то туда, то сюда, ничего не желая и ничего не видя. Только случайно занесенный в какую-то комнату, где была толпа русских, я стал приходить в себя и задумался о своем приезде в Парачин. Когда я ехал, мне что-то было нужно; теперь я решительно не мог припомнить, зачем я приехал, что мне нужно и что такое творится. […] Никто не знал и не мог знать, зачем он здесь и куда пойдет отсюда. Если бы была возможность, я тотчас бы уехал из Парачина куда глаза глядят, - так с каждой минутой становилось тягостнее это бессмысленное положение. Ужас объял меня, когда я вместе с другими поздно вечером вышел на улицу; темь была непроглядная, грязь – непроходимая; масса народу, людей конных и пеших; масса телег,
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Uspenskij schildert Serbien als gottverlassenen Ort voller Schmutz und Leiden, an dem man nicht heldenhaft im Kampf stirbt, sondern an den Begleiterscheinungen des Krieges krepiert − an Krankheit, Kälte und Erschöpfung. Es ist ein ausnahmslos negativer Ort, an dem es kein anderes Gefühl als das der hoffnungslosen Verzweiflung geben kann. Trunksucht, Kälte, Langeweile, Bosheit, Dummheit, Hunger, Regen – all das verwirrte sich in etwas wahrhaftig Unerträgliches und bis zum äußersten Quälendes. Diesen quälenden Zustand so zu vermitteln, dass er dem Leser ganz begreiflich wäre, gelingt mir wahrhaft nicht. Fliehen, sich aus dieser metallischen Dunkelheit loszureißen, um ans Gotteslicht zu gelangen – das war der einzige Wunsch aller dieser willkürlich auf einen Haufen Zusammengedrängten in einem so kleinen Dörfchen wie Paračin. Man sah keine Hoffnung, dass jemand kommen und helfen würde, Ordnung zu schaffen, etwas zu finden, zu klären, was werden soll, was zu tun ist...90
Während der Rückreise in die Heimat Ende November macht sich Uspenskij Gedanken über den „älteren“ und den „jüngeren Bruder“,91 Russland und Serbien. Der ältere Bruder lebe in der furchtbaren Kälte und der jüngere in der Wärme – da das kalte Wetter vom Oktober in Serbien wieder in wärmeres überwechselte. Von dem Älteren erzähle man, dass er die ganze Zeit arbeite, von dem Jüngeren, dass er faul sei. Beide wollten sich jedoch nicht dem westeuropäischen Gang des Lebens unterordnen, und so erlernten sie auch, wie Uspenskij selbstkritisch anmerkt, die Manieren nicht. An Bord eines Donauschiffes lernt er endlich einen alten russischen Bauern kennen, der ihn als zurückkehrender Söldner letztlich doch davon überzeugt, dass sich das ganze Unternehmen gelohnt habe. So vergleicht er das russische Volk mit dem starken Strom des Donauflusses, von dessen Nebenflüssen sich nicht alle erhalten könnten, sondern manche auch versickern würden. Du, die Große Donau, bist nicht so, wie die kleinen Flüsse… Sie werden stauen! Man wird anfangen, Steine und Mist hineinzuwerfen und Pfähle einzurammen – und dann bleibt das Flüsschen stehen… Und der große Fluss… Schau mal, was für ein Platz! […] Und das Volk – ist dasselbe… Das kleine christliche Volk in Gefangenschaft ist wie ein kleiner Fluss. Stau ihn an – und er kann sich nicht befreien…er hat keine скота продолжала наполнять улицу так же точно, как и утром. Все это шло и ехало взад и вперед, натыкаясь и толкая друг друга. Слышались ругательства, в грязи валялись пьяные добровольцы и проклинали свою участь.» 90 Ebd., 650. «Пьянство, холод, скука, злость, глупость, голод, дождь – все это спутывалось в нечто поистине невыносимое, мучительное до последней степени. Передать это мучительное состояние так, чтобы оно было вполне понятно читателю, я, право, не берусь. Бежать, вырваться на свет божий из этой тьмы кромешной – вот было единственное желание всех волею-неволею сбитых в кучу в такой маленькой деревушке, как Парачин. Ниоткуда не было видно никакой надежды, чтобы кто-нибудь пришел и помог разобраться, найти что-нибудь, уяснить, что будет, что надо делать...» 91 Ebd., 653f.
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Kraft. Es ist nicht schwierig, kleine Völker in Gefangenschaft zu halten…Aber die großen Flüsse, ob es die Donau oder die große Wolga sei, sie werden sich auf Staudämme und eingerammte Pfähle stürzen…92
Als sich Uspenskij nach dem eindrucksvollen Alten erkundigt, erfährt er, dass ihn seine Kumpanen „Raskol’nik“ nennen. Durch die Anspielung auf den bekehrten Mörder in Dostoevskijs Roman Schuld und Sühne (1866) rückt auch dieser Freiwillige in ein Zwielicht. Ohne Kommentar schließt Uspenskij seine Briefe aus Serbien mit diesem „sympathischen Typ des Freiwilligen“93 ab. Gleichzeitig mit Uspenskijs Briefen aus Serbien begann Lev Tolstoj mit der Veröffentlichung seines Fortsetzungsromans Anna Karenina.94 1875-77 erschien dieser monatlich in der Zeitung Der russische Bote (Russkij vestnik). 1878 wurde das Werk nochmals eigenständig in drei Bänden und mit einigen stilistischen Abweichungen veröffentlicht. Zudem existieren mehrere Manuskriptvarianten mit inhaltlichen Unterschieden. Dazu gehört z.B. die Abreise des Grafen Vronskij in den Krieg nach Turkestan statt nach Serbien.95 Im selben Jahr, in dem Tolstoj am Epilog des Romans arbeitete, gingen der Russisch-Osmanische (1877-78) sowie der Serbisch-Osmanische Krieg (1876-78) ihrem Ende zu. Auf dem Berliner Kongress wurde am 13. Juni 1878 eine neue Ordnung auf dem Balkan beschlossen. Serben, Montenegriner und Bulgaren durften selbständige Fürstentümer gründen, während Bosnien und die Herzegowina von Österreich-Ungarn besetzt wurden. Die Tolstoj-Forschung zu Anna Karenina widmete sich vorwiegend der Frauenfrage in Russland96 und vernachlässigte dabei das parergonale, jedoch wichtige Thema des Russisch-Osmanischen und des Serbisch-Osmanischen Krieges, in den sich Graf Vronskij nach Annas Selbstmord als Freiwilliger 92
Ebd., 663f. «Не то ты, Дунай великий, что малые реки... Те запрудят! Начнут кидать камни да песок, да навоз, да сваи вколачивать – и стала реченька... А великая река... Глянь-кa, эво место! […] И народ-то – то же самое... Малый народ христианский в неволе, что речка малая. Запруди ее – и не вырваться ей из неволи-то... силушки-то нету у ей... Не хитро малые-то народы в неволе держать... А великие реки, хоть Дунай, хоть Волга великая река, как поналягут они на запруды, да на кольи вбитые...» 93 Ebd., 664. 94 Zur Genese des bereits 1873 begonnenen Romans: Ždanov, Vladimir A.: Tvorčeskaja istorija Anny Kareninoj. Materialy i nabljudenija. Moskva 1957. 95 Šemjakin, A.L.: Smert’ grafa Vronskogo. K 125-letihu Serbo-tureckoj vojny 1876g. i učastija v nej russkich dobrovol’cev. Moskva 2002; Ders.: Smert’ grafa Vronskogo. Izdanie vtoroe, ispravlennoe i dopolnennoe. Sankt-Peterburg 2007. 96 Zu Anna Karenina vgl.: Morson, Gary Saul: Anna Karenina in our time. Seeing more wisely. New Haven u.a. 2007; Evans, Mary: Reflecting on Anna Karenina. London u.a. 1989; Mandelker, Amy: Framing Anna Karenina. Tolstoy, the woman question, and the Victorian novel. Columbus 1993; Adelman, Gary: Anna Karenina. The bitterness of ecstasy. Boston 1990.
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begibt. Nur A. L. Šemjakin ging dieser Frage nach und fand anhand von Tolstojs Manuskripten, seiner Korrespondenz sowie der Familienarchive der Tolstojs heraus, dass es für Vronskijs Abreise nach Serbien ein reales Vorbild gab.97 Es handelt sich dabei um den Grafen Nikolaj Nikolaevič Raevskij (1839-1876), einen Leutnant der russischen Armee, der aus einer alten und angesehenen Adelsfamilie stammte. Seinem gleichnamigen Großvater, General der russischen Kavallerie, der an den Kriegen gegen die Türken 1787-92, die Polen 1792, die Perser 1796, die Schweden 1808-09 sowie an der Schlacht von Borodino gegen Napoleon 1812 teilgenommen hatte, widmete schon Puškin das Poem „Der Gefangene im Kaukasus“ (1821). Der Enkel Nikolaj wurde von den panslawistischen Ideen Ivan’ S. Aksakovs angezogen und trat am 13. Februar 1862 der Slawischen Wohltätigen Gesellschaft (Slavjanskoe blagotvoritel’noe obščestvo) in Moskau bei.98 Bereits im Jahre 1867 begab er sich das erste Mal nach Bukarest, von wo aus er für einige Monate durch Serbien und Bosnien reiste. Aus seiner französischsprachigen Korrespondenz mit dem serbischen General und Kriegsminister Milivoje Petrović Blaznavac von Mai und Juni 1867 geht hervor, dass er für die Prüfung des Zustandes und der Reorganisation der serbischen Kavallerie zuständig war.99 Am 16. Juli 1876 nahm Raevskij Abschied von der russischen Armee und schloss sich als Freiwilliger dem russischen General Michail G. Černjaev (1828-1898) an, der sich 1865 einen Namen als Sieger von Taškent und Mitherausgeber der konservativen Zeitung Die russische Welt (Russkij mir) machte. Der panslawistisch gesonnene General wurde vom serbischen Fürsten Mihajlo Obrenović zum obersten Befehlshaber im Serbisch-Osmanischen Krieg ernannt. Unter seiner Befehlsführung fiel Nikolaj Raevskij in der Schlacht von Adrovac in der Nähe von Aleksinac am 20. August gemäß dem alten bzw. am 2. September 1876 gemäß dem neuen Kalender. Die Schlacht wurde in Spiridon Gopčevićs Reisebericht Serbien und die Serben (1888) erwähnt, wobei die Entscheidung des General Černjaev, Aleksinac zu räumen, kritisiert wurde.100 1887 wurde am Hügel Golo Brdo, an dem Rajevskij gefallen war, im Auftrag seiner Familie ein Kreuz mit der Inschrift „Russischer Leutnant Nikolaj Rajevskij fiel an dieser Stelle im Kampf gegen die Türken am 20. August 1876“ aufgestellt.101 1902 stiftete 97 98
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Šemjakin 2002; Šemjakin 2007. Zur Ausbreitung und zu Aktivitäten der Slawischen Wohltätigen Gesellschaft 185868: Heyer, Friedrich: Die orientalische Frage im Kirchlichen Lebenskreis. Das Einwirken der Kirchen des Auslands auf die Emanzipation der orthodoxen Nationen Südosteuropas 1804-1912. Wiesbaden 1991, 146-148. Potočan, Budimir: Vronski - čast i ljubav (= Biblioteka posebna izdanja). Beograd 2002. Gopčević, Spiridon: Serbien und die Serben, 2. Bde. Leipzig 1888, 61. „Ruski Pukovnik Nikola Rajevski u borbi sa Turcima pogibe na ovome mestu 20. avgusta 1876 godine“; vgl. Šemjakin, Andrej: Istorija “cerkvi Vronskogo” po
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die Witwe des Bruders des Gefallenen, Marja Grigor’evna, eine Gedächtniskirche der hl. Dreifaltigkeit, die im Volksmund den Namen „die Kirche Vronskijs“ oder „die russische Kirche“ erhielt.102 Wie in den 1820er Jahren der griechische Freiheitskampf löste auch der Kampf der Südslawen Sympathien und Solidarität der europäischen Öffentlichkeit aus. Der italienische Freiheitskämpfer Giuseppe Mazzini, der seit den 1840er Jahren enge Kontakte zu den Illyrismus-Anhängern um Ljudevit Gaj in Kroatien sowie zu der 1866 in Novi Sad gegründeten geheimen Vereinigung der serbischen Jugend (Ujedinjena omladina srpska) pflegte, forderte in seinen Schriften Lettere Slave (1857) die Gründung einer südslawischen Föderation.103 Victor Hugo setzte sich im öffentlichen Aufruf „Pour la Serbie!“ vom 29. August 1876 für das gemeinsame Vorgehen der europäischen Nationen gegen den Mord an der serbischen Nation ein.104 Auch die affektgeladenen Motive des griechischen Freiheitskampfes wurden aufgegriffen und ihre grausamen Sujets weiter entfaltet, wie Martina Baleva darlegte.105 Sie wurden von sogenannten „Spezialartisten“ gefertigt. Diese waren Zeichner und Korrespondenten in einer Person, die nach der Erinnerung arbeiteten und ihre Zeichnungen und Berichte durch ethnographisch-exotische, pathetische oder allegorische Elemente ergänzten, um ihre Berichte medienwirksam zu machen.106 Anschließend wurden sie als graphische Reproduktionen in der Presse, wie die Illustrated London News in England, Le Monde Illustré in Frankreich, die Illustrirte Zeitung in Deutschland und die Vsemirnaja illjustracija in Russland popularisiert.107 Die Zeitungen legten wenig Wert auf
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materialam rossijskich archivov. In: Arhiv. Časopis Arhiva Srbije i Crne Gore 1 (2004), 75-88, hier 77, 86, Anm. 6. Ebd. Die Bauarbeiten, die Anfang September 1903 abgeschlossen wurden, beaufsichtigte Nikanor, der Episkop von Niš. Die Kirche wurde vom Architekten G. Collaro im russisch-byzantinischen Stil errichtet. Ausgeschmückt wurde sie mit einer Ikonostase des St.-Petersburger Malers N. A. Bruni. Die Fresken der Taufe des hl. Sava und der Krönung des Stefan Prvovenčani aus der serbischen Gründungsdynastie Namanja sowie das Porträt Raevskijs wurden vom russischen Maler Jurij Vasnecov entworfen. Die beiden szenischen Darstellungen führte der serbische Maler Dušan Obrenović, das Porträt Stefan Todorović aus. Brancaccio, Giovanni: Giuseppe Mazzini. La vita, il pensiero, l’azione politica e le opera. In: Mazzini, Giuseppe: Lettere slave e altri scritti. Hrsg. Giovanni Brancaccio. Milano 2007, 41-58; Alessandri, Antonio di: L’europeismo mazziniano tra teoria e realtà. Il caso degli slavi del Sud. In: Guida, Francesco (Hrsg.): Dalla Giovine Europa alla Grande Europa. Roma 2007, 129-146. Hugo, Victor: Pour le Serbie! In: Actes et paroles IV. Depuis d’exile 1876-1885. Paris 2011, 3-8. Baleva 2009; 2012. Baleva 2012, 41-63. Baleva, Martina: Das Imperium schlägt zurück. Bilderschlachten und und Bilderfronten im Russisch-osmanischen Krieg 1877-1878. In: Baleva, Martina/Reichle, Ingeborg/
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dokumentarischen Wahrheitscharakter der Bilder, so dass dieselben Illustrationen oft für verschiedene Ereignisse eingesetzt wurden, wie Baleva konstatiert.108 Während sich für den griechischen Freiheitskampf vor allem die französischen und philhellenischen Künstler begeisterten, stellten die panslawistisch gesonnenen slawischen Maler, wie die Tschechen Jaroslav Čermák109 und Ivan Mrkvička110 sowie der Pole Antoni Piotrowski das Leiden der Südslawen dar.111 Wie die Franzosen folgten sie in muskulösen Männerkörpern und Frauenakten in erotisch exponierten Posen der akademischen Bildtradition des Orientalismus und bereicherten diese durch ethnographische Details aus dem Balkanraum. Die in der Presse reproduzierten Bilder dienten sogar Schriftstellern als Vorlage für ekphrastische Beschreibungen und Ausarbeitungen von Sujets. In Dostoevskijs Roman Die Brüder Karamazov (Brat’ja Karamzovy, 1878-80) erschüttern die detailliert beschriebenen Freveltaten der Türken und der Tscherkessen Ivans Glauben an Gott. Unmittelbar vor der „Legende des Großinquisitors“, in der er den Zweifel an der Institution der Kirche äußert, erzählt er seinem Bruder Aljoša von den Grausamkeiten, die ihm ein Bulgare berichtete. „Er schilderte, wie die Türken und Tscherkessen dort allerorten hausen, dass sie einen allgemeinen Aufstand der Slawen befürchteten, – das heißt, wie sie brandschatzen, morden, Frauen und kleine Mädchen vergewaltigen, wie sie die Gefangenen mit den Ohren an die Zäune nageln, damit sie sie bis zum nächsten Morgen, wo sie gehenkt werden sollen, nicht zu wachen brauchen, und so weiter, – alles kann man kaum erzählen. Man spricht von der ‚tierischen‘ Grausamkeit des Menschen, aber das ist sehr ungerecht und für die Tiere wirklich beleidigend: Ein Tier kann niemals so grausam sein wie der Mensch, so ausgeklügelt, so kunstvoll grausam. […] Diese Türken haben übrigens mit besonderer Wollust Kinder gequält, haben sie mit Dolchen aus dem Mutterleibe herausgeschnitten, haben Säuglinge in Gegenwart der Mütter in die Luft geworfen und mit den Bajonetten aufgefangen. Dass es vor den Augen der Mütter geschah, war ja das Hauptvergnügen.112
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Lerone-Schultz, Oliver (Hrsg.): Image Match. Visueller Transfer, ‚Imagescapes‘ und Intervisualität in globalen Bildkulturen. München 2012, 87-108. Ebd., 155-162. Zu Jaroslav Čermák vgl. auch: Mokrý, F. V.: Jaroslav Čermák. Praha 1953; Soukupová, Věra: Jaroslav Čermák. Praha 1981; Kožik, F.: Jaroslav Čermak. Moskva 1985; Šistek, František: Naša braća na jugu. Prijevod s češkog Adin Ljuca. Cetinje 2009 (tschech. Šistek, František: Naši bratři na jihu. Obraz Černe Hory a Černhorců v česke společnosti, 1830-2006. Praha 2006), 43-58 (Kap. II. „Oživljena prošlost. Jaroslav Čermak. Između slovenstva i orijentalizma“); Baleva 2012, 120ff., 145ff. Baleva 2012, 156-162. Ebd., 173ff. Dostojewski, Fjodor M.: Die Brüder Karamasoff. Aus dem Russischen von E. K. Rahsin. Mit einem Nachwort von Ilma Rakusa. München-Zürich 2002, 387; Dostoevskij, Fedor M.: Sobranie sočinenij v devajti tomach. Tom sed’moj. Brat’ja Karamazovy. Moskva 2004, 366.
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Wie in der französischen philhellenischen Malerei werden auch diesmal vor allem Frauen und Kinder Opfer der Gewalt. Für eine dieser Gräueltaten dient Dostoevskij eine Illustration aus der russischen Presse als Vorlage, wobei die Beschreibung einer Grafik des holländischen Zeichners Fritz van Haanen ähnelt, die 1878 in der russischen Presse kursierte (Abb. 2). Ein kleines Bild hat auf mich den größten Eindruck gemacht. Stell dir vor: ein Säugling auf den Armen seiner zitternden Mutter, um sie herum die eingedrungenen Türken. Sie haben sich ein lustiges Späßchen ausgedacht: sie liebkosen das Kleine, lachen, um es zu erheitern, was ihnen auch gelingt: der Säugling strahlt. Da hält ein Türke seine Pistole vor das Köpfchen des Kleinen. Der Knabe juchzt auf, streckt die Ärmchen dem blanken Ding entgegen, um es zu erfassen, und plötzlich drückt der Künstler den Abzug durch, ihm gerade ins Gesicht, und zerschmettert ihm das Köpfchen… Raffiniert, nicht wahr? Übrigens sagt man, die Türken liebten Süßigkeiten sehr.113
Abb. 2: Fritz van Haanen, Nachhut der türkischen Armee, 1878.
Wie Martina Baleva feststellte, waren gerade die Illustrationen in der russischen Presse, wie Illjustrirovanaja chronika vojny (Illustrierte Kriegschronik) von 1876-77, besonders grausam und prägten dauerhaft das Gedächtnis der orthodoxen Nationen auf dem Balkan.114 Auch in den westeuropäischen 113 114
Dostojewski 2002, 387f.; Dostoevskij 2004, 367. Baleva 2012, 119-131.
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Reiseberichten, wie Arthur-John Evans Through Bosnia and Hercegovina on foot during the insurrection, Lady Georgina Mary Muirs (Mackenzie) und Adelina Paulina Irbys Travels in the Slavonic provinces of Turkey-in-Europe sowie W. E. Gladstones Bulgarian horrors and the question of the East, werden ganz ähnliche Szenen beschrieben. Mit der Gründung der neuen südslawischen Nationalstaaten 1878 kippte jedoch auch der Panslawismus – wie um 1830 der Philhellenismus – in einen Balkan-Diskurs um. Vor allem Lev Tolstoj wandte sich in seinem Roman Anna Karenina gegen die verkaufsträchtige, oft verlogene panslawistische Propaganda: In dem Gesellschaftskreise, dem er angehörte, redete und schrieb man damals von nichts anderem als vom serbischen Kriege. Alles, was die müßige Menge für gewöhnlich tut, um die Zeit totzuschlagen, wurde jetzt zum Besten der slawischen Brüder getan. Bälle, Konzerte, Festmähler, Tischreden, Biertrinken, Wirtshausbesuche: alles zeugte von dem Mitgefühl mit den Stammesgenossen. […] Er sah, dass die slawische Frage zur Mode geworden war, wie denn solche Moden immer, eine die andere ablösend, der vornehmen Gesellschaft zum Zeitvertreib dienen; […] Er verhehlte sich nicht, dass die Zeitungen viel Unnützes und Übertriebenes druckten, nur in der Absicht, die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken und andere zu überschreien.115
Die russischen Freiwilligen, die sich für den Einsatz in Serbien melden, werden noch negativer gezeichnet als bei Uspenskij. Sie markieren in Russland den Ort des Ausstiegs aus dem Bereich des Ethisch-Moralischen. Der Bahnhof, an dem Anna Karenina ihren Geliebten kennenlernt und ihre ehebrecherische Affäre beginnt, ist deshalb nicht nur der Ort, der wegen des Unfalls eines betrunkenen Eisenbahnwärters mit dem Tod konnotiert ist.116 Es ist auch der Ort der Verdorbenheit, des Hässlichen und des Niederträchtigen, an dem sich Menschen zweifelhaften Rufs herumtreiben. Einige Minuten bevor sich Anna nach ihrem gesellschaftlichen Ruin vor einen Zug wirft, bemerkt sie unter den jungen Männern, die sie unverschämt ansprechen, auch Freiwillige. Einige junge Männer gingen vorüber, hässliche, freche Gesellen; sie hatten es eilig, achteten dabei aber doch darauf, welchen Eindruck sie wohl machten. Auch Peter, mit stumpfem, tierischem Gesichtsausdruck, kam in seiner Livree und seinen Gamaschen durch den Saal herbei und trat zu ihr, um sie zum Wagen zu geleiten. Die lärmenden jungen Männer wurden still, als sie auf dem Bahnsteig an ihnen vorüberging, und der eine flüsterte einem andern eine Bemerkung über sie zu, natürlich eine abscheuliche Bemerkung.117
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Tolstoj, Lev N.: Anna Karenina. Bd. 3. Berlin 1957, 272f. Zur Eisenbahn in der russischen Literatur: Bremer, Thomas: Osteuropäische Eisenbahngeschichten. In: OST-WEST. Europäische Perspektiven 7/3. Schwerpunkt: Schienenwege in Europa (2006), 163-169. Tolstoj, Lev N.: Anna Karenina. Bd. 3. Berlin 1957, 265; Tolstoj, Lev N.: Anna Karenina. Roman v vos’mi častjach. Moskva 1988, 719.
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An einer anderen Stelle wird deutlich, welche Funktion der serbische Krieg in der russischen Presse erfüllt. Denn als der Schriftsteller Sergej Ivanovič Kosnyšev, Levins Stiefbruder, mit seinem letzten Buch über das Staatswesen in Russland und Europa keine Beachtung findet und auch der einzige Rezensent sein Werk vollkommen missversteht, fällt angesichts der allgemeinen Begeisterung für die „slawische Idee“ sein Misserfolg nicht mal auf.118 Die Differenz zwischen Russland und dem Westen wird von der Presse nicht angesprochen und die Aufmerksamkeit ausschließlich dem slawophilen Thema geschenkt. Der serbische Krieg und die Freiwilligen füllen somit als Supplement den Platz des verdrängten Diskurses, des Schweigens über Russland, aus. Die „slawische Idee“ wird im Roman nicht als eine wahre Unterstützung der „slawischen Brüder“,119 sondern vielmehr als schnell vergängliche Mode entlarvt. Trotzdem freut sich Sergej Ivanovič über das neue Phänomen, weil er darin den Volkswillen bzw. die Entstehung einer öffentlichen Meinung in Russland erkennt.120 Darüber hinaus hegt er panslawistische Hoffnungen auf eine zukünftige slawische Föderation: „Und je mehr er sich mit diesem Gegenstand beschäftigte, um so mehr fühlte er sich in der Überzeugung gefestigt, dass dies eine Sache war, der beschieden sei, eine gewaltige Ausdehnung zu gewinnen und einen neuen Abschnitt der Weltgeschichte herbeizuführen.“121 Doch aus anderen Blickwinkeln wird die „slawische Idee“ schließlich als oberflächlicher Gesellschaftsklatsch und Ansammlung des gesellschaftlichen Abschaums desavouiert. An Bahnhöfen werden Freiwillige mit Wein, Blumensträußen, Gesang und lauter Musik verabschiedet sowie rührselige Reden über den Kampf für den Glauben, die Menschlichkeit und die Brüder gehalten. Auf dem Bahnsteig wurde gesungen: „Gott erhalte den Zaren“; dann ertönten die Rufe: „Hurra!“ und „Živio!“ Einer der Freiwilligen, ein hoch aufgeschossener, sehr junger Mensch mit eingesunkener Brust, machte sich beim Abschiednehmen ganz besonders bemerkbar, indem er seinen Filzhut und einen Blumenstrauß über seinem Kopfe schwenkte. Hinter ihm beugten sich zwei Offiziere und ein schon bejahrter Mann mit großem Barte und schmieriger Uniformmütze aus dem Fenster heraus und grüßten gleichfalls zum Abschied.122
Das moralische Unternehmen wird durch Gespräche über die Höhe der Geldspenden und über die damit verbundene Freiwilligenzahl, sowie über Empfehlungsbriefe, die vollkommen unbekannten Personen ausgestellt werden, weiter in Frage gestellt. Bald folgt auch eine entlarvende physiognomische
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Tolstoj 1957, 273; Tolstoj 1988, 725. Zur „slawischen Idee“: D’jakov, V.A.: Slavjanskij vopros v obščestvennj žizni dorevolucionnoj Rossii. Moskva 1993. Tolstoj 1957, 273; Tolstoj 1988, 725. Tolstoj 1957, 273; Tolstoj 1988, 725. Tolstoj 1957, 277; Tolstoj 1988, 728.
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Skizze der Freiwilligen, die als vorlaute Angeber und gestrandete Existenzen charakterisiert werden. Sie saßen in einer Ecke des Abteils, unterhielten sich sehr laut und waren sich offenbar dessen bewusst, dass die Aufmerksamkeit der übrigen Reisenden sowie des hinzugekommenen Katawasow ausschließlich auf sie gerichtet war. Am lautesten von allen sprach der hoch aufgeschossene Jüngling mit der eingefallenen Brust. Er war augenscheinlich betrunken und erzählte eine tolle Geschichte, die sich auf einer Lehranstalt, als er dort Schüler war, zugetragen hatte. Katawasow ließ sich mit dem jungen Mann in ein Gespräch ein und erfuhr, dass er ein ehemals reicher Moskauer Kaufmann war, der schon vor seinem zweiundzwanzigsten Lebensjahr ein großes Vermögen durchgebracht hatte. Er missfiel Katawasow wegen seines weichlichen, verzärtelten Wesens und seiner schwachen Gesundheit. Er war offenbar überzeugt, namentlich jetzt, wo er betrunken war, dass er eine heldische Tat vollbringe, und prahlte in widerwärtigster Weise. Der zweite, ein gewesener Offizier, machte gleichfalls auf Katawasow einen unangenehmen Eindruck. Es war dies, wie sich herausstellte, ein Mensch, der schon alles Mögliche unternommen hatte. Er war Eisenbahnbeamter gewesen, und Gutsverwalter, und hatte selbst Fabriken angelegt, und redete über alles, wobei er ohne jeden Anlass und an ganz falscher Stelle gelehrte Ausdrücke anwendete.123
Der schlechte Eindruck, den die ersten zwei Gesprächspartner machen, wird durch den dritten Freiwilligen, einen Artilleristen, wettgemacht. Dieser ist bescheiden und spricht kaum von sich. Nach Serbien führen ihn humanitäre Gründe: „Das ist doch ganz natürlich; es gehen ja alle hin. Man muss doch auch das Seinige tun, um den Serben zu helfen. Sie tun einem doch leid.“124 Die Polyphonie der Stimmen und Positionen ermöglicht zwar ein Oszillieren zwischen Gut und Böse, Schön und Hässlich, doch der Erzähler zieht letztlich dennoch eine negative Bilanz aus dem Gesehenen und Gehörten.125 Als er einen alten, erfahrenen Militär, der dem Gespräch zuhörte, nach seiner Meinung über die Freiwilligen fragt, schätzt dieser sie als schlechte Soldaten ein. Aus eigener Erfahrung fügt er hinzu, dass es sich meist um Trinker und Diebe handele, die niemand in Russland beschäftigen möchte, so dass der serbische Krieg zum Ort der Entsorgung der verlorenen russischen Menschen wird. Unter den Freiwilligen befindet sich auch Graf Vronskij. Nach dem Selbstmord Annas hält die Gesellschaft seine Entscheidung für die beste Lösung aus der ausweglosen Situation.126 Auch Vronskijs Mutter begrüßt die Entscheidung ihres Sohnes, in den serbischen Krieg zu gehen, in der sie eine Alternative zum Selbstmord sieht. Ja, was sollte er nach seinem Unglück anderes tun? [...] Sechs Wochen lang hat er mit niemand geredet, und wenn er etwas essen sollte, musste ich ihn immer erst fle123 124 125 126
Tolstoj 1957, 278f.; Tolstoj 1988, 729. Tolstoj 1957, 278; Tolstoj 1988, 729f. Tolstoj 1957, 279; Tolstoj 1988, 730. Tolstoj 1957, 275, 277; Tolstoj 1988, 727f.
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hentlich bitten. Und nicht einen Augenblick durften wir ihn allein lassen. Wir hatten alles entfernt, womit er sich umbringen konnte; wir wohnten im unteren Stock; aber alles konnte man natürlich doch nicht vorhersehen. Sie wissen ja, er hat schon einmal um ihretwillen auf sich geschossen [...] er bot einen entsetzlichen Anblick. Kein Wort sprach er; er warf sich auf ein Pferd und jagte dorthin. Was dort vorgegangen ist, weiß ich nicht; aber sie brachten ihn mir nach Hause wie einen Toten. Ich hätte ihn gar nicht erkannt. Prostration complète, sagte der Arzt. Dann begann er geradezu zu toben. Ach, ich mag gar nicht davon reden!127
Der serbische Krieg bekommt somit die Funktion eines sanktionierten Todes, der zwar dem Selbstmord gleicht, jedoch nicht gegen die göttlichen Gesetze verstößt. Serbien wird damit zum Ort, an dem Glücksspieler − wie Lermontovs Serbe Vulič auf dem Kaukasus – ihr Leben aufs Spiel setzen können. Gott hat uns geholfen, indem er uns diesen serbischen Krieg gesandt hat. Ich bin eine alte Frau und verstehe von Politik nichts; aber für meinen Sohn ist das eine Gnade Gottes. Natürlich, für mich als Mutter ist es furchtbar; und was die Hauptsache ist: es heißt, ce n’est pas très bien vu à Petersbourg. Aber was ist zu tun! Das war das einzige, was ihn wieder in die Höhe bringen konnte. Sein Freund Jaschwin hatte sein ganzes Geld verspielt und beschloss nun, nach Serbien zu gehen; der suchte meinen Sohn vorher noch auf und überredete ihn, es auch zu tun.128
Graf Vronskij, für den es nichts Lebenswertes mehr gibt und der sich selbst als eine Ruine bezeichnet, büßt vor seiner Abreise nach Serbien seine menschlichen Züge ein und wird mit einem unruhigen, gefangenen Tier verglichen.129 Zugleich lehnt er die Ausstellung eines Empfehlungsbriefes, der ihm zu einem besseren Posten und zum Überleben in Serbien verhelfen könnte, ab: […] um zu sterben, dazu braucht man keine Empfehlungen. Oder höchstens eine an die Türken […] Ich freue mich, dass etwas da ist, wofür ich mein Leben hingeben kann, mein Leben, das mir wertlos, ja geradezu zuwider geworden ist. So hat doch wenigstens irgendjemand einen Nutzen davon. Er machte eine ungeduldige Bewegung mit der Kinnlade wegen des unaufhörlichen dumpfen Zahnschmerzes, der ihn sogar hinderte, mit einer solchen Klangfärbung zu sprechen, wie er es wollte.130
Der Zahnschmerz, der Vronskij vor seiner Abreise befällt, steht synekdochisch für diesen selbst. Wie ein fauler Zahn gezogen werden muss, so muss auch Vronskij Russland verlassen. Der Zahnschmerz überlagert sich zudem mit der schmerzhaften Erinnerung an den blutigen, verstümmelten Leib Anna Kareninas. Die Beschreibung ihres gemarterten, halbtoten Körpers nimmt die Kriegsgräuel vorweg, mit denen die illustrierte Presse überflutet wurde.
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Tolstoj 1957, 280; Tolstoj 1988, 731. Tolstoj 1957; 282; Tolstoj 1988, 732. Tolstoj 1957, 283; Tolstoj 1988, 732. Tolstoj 1957, 284; Tolstoj 1988, 733.
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Der panslawistisch gesonnene Sergej Ivanovič versucht Vronskij aufzumuntern, indem er ihm die erlösende Dimension der Aufopferung für die südslawischen Brüder vor Augen führt. „Sie werden wieder zu neuem Leben erwachen, das sage ich Ihnen voraus“, sagte Sergei Iwanowitsch nicht ohne Rührung. „Die Erlösung der Stammesbrüder vom Joche der Knechtschaft ist ein Ziel, das in gleicher Weise wert ist, dafür zu sterben und dafür zu leben. Gott gebe Ihnen äußeren Erfolg und inneren Frieden“, fügte er hinzu und streckte ihm die Hand hin.131
Bereits Uspenskij sah in den russischen Freiwilligen Menschen, die jegliche Normen der Gesellschaft überschritten hatten und daher aus ihr ausgeschlossen wurden. Für sie ist der Balkan, in diesem Fall Serbien, eine Art Unterwelt, wo nur wenige von ihnen – wie z.B. der alte „Raskol’nik“ in Uspenskijs „Briefen aus Serbien“ – dennoch ihre Anastasis erleben. Die Vorstellung vom absoluten Abstieg (verbunden mit dem Dionysischen – der Ausschweifung, der Gewalt, der Gottlosigkeit), auf den durch die Katharsis ein absoluter Aufstieg (verbunden mit dem Apollinischen – der Sanftmut, der Mildtätigkeit, der Vergeistigung, der Askese, der Opferbereitschaft, dem Gottmenschen) folgen soll, entstand im 19. Jahrhundert bei den Slavophilen. Diese Auffassung, die unter dem Namen „die russische Idee“ zirkulierte, wurde später von den Religionsphilosophen wie unter anderem Vladimir Solovëv, Nikolaj Berdjaev oder Vjačeslav Ivanov aufgegriffen und als grundlegende Charaktereigenschaft der russischen Nation angesehen.132 Man glaubte, diese offenbare sich in der Widersprüchlichkeit der menschlichen Taten, aber auch in der Diskontinuität und den Brüchen der russischen Geschichte. Wie problematisch die Auffassung des Krieges als Opfer auch im Rahmen der „russischen Idee“ war, zeigt das Gespräch zwischen Levin und seinem Stiefbruder Sergej Ivanovič am Ende des Romans. Es wird vom geräuschvollen Verspeisen einer Gurke und vom Befreien einer Biene aus Honig begleitetet, die sich jedoch als Wespe erweist. Für Levin ist der Krieg „etwas so Tierisches, Grausames und Schreckliches, dass kein Mensch, geschweige denn ein Christ es persönlich verantworten kann.“133 Levins Stiefbruder verteidigt dagegen den Krieg mit der Begründung, die Gräueltaten an den „Brüdern“, Frauen und Kindern verhindern zu müssen. Anders als sein Stiefbruder empfindet Levin für die slawischen Brüder kein Mitleid: „Ein derartiges unmittelbares Gefühl ist jedoch wegen der Unterdrückung der 131 132
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Tolstoj 1957, 284; Tolstoj 1988, 733. Zur russischen Idee vgl.: Berdjaev, Nikolaj: Die russische Idee. Grundprobleme des russischen Denkensim 19. Jahrhundert und zu Beginn des 20. Jahrhunderts. St. Austin 1983, 29-33; Zuletzt: Spidlik, Thomas: Die russische Idee. Eine andere Sicht des Menschen. Würzburg 2002; Ivantsov, Dimitri: Russische IDEologiE. Transfer im XXI. Jahrhundert. Leipzig 2008. Tolstoj 1957, 315; Tolstoj 1988, 755.
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Slawen nicht da und kann auch gar nicht da sein.“134 Doch Sergej Ivanovič widerspricht ihm mit der Überzeugung, dass im russischen Volk noch die Erinnerung an das selbst erlittene Tatarenjoch lebendig sei: „Im Volke sind noch die Überlieferungen von den Rechtgläubigen lebendig, die unter dem Joche der ‚grimmen Muselmänner‘, wie es in den Liedern heißt, gelitten haben. Das Volk hat von den Leiden seiner Brüder gehört und seine Stimme erhoben.“135 An dieser Stelle mischt sich auch der alte Fürst ins Gespräch und schlägt sich auf Levins Seite. In der Polyphonie der Stimmen überwiegt somit die Anteillosigkeit gegenüber den Südslawen. „Na, und ich habe sie auch nicht“, fiel der alte Fürst ein. „Als ich im Ausland war und dort die Zeitungen las, da habe ich, offen gestanden, noch vor den bulgarischen Gräueln schlechterdings nicht begreifen können, weshalb alle Russen auf einmal ihre slawischen Brüder so liebgewonnen hatten und ich für meine Person gar keine Liebe zu ihnen empfand. Ich war sehr verdrossen und glaubte, ich wäre ein Ungeheuer oder das wäre bei mir die Wirkung von Karlsbad. Aber als ich wieder hierher nach Russland kam, beruhigte ich mich; ich sehe, dass es auch außer mir noch Leute gibt, die sich nur für Russland einsetzen und nicht auch für die slawischen Brüder.“136
Sergej Ivanovič verteidigt seine panslawistischen Ansichten, indem er sich auf den Willen des russischen Volkes beruft, das er mit den fleißigen Bienen in Analogie setzt.137 Doch das Gespräch endet mit Levins Überzeugung, dass das Opfern in diesem Fall mit dem Töten gleichgesetzt werde.138 Dreißig Jahre später warnt Vjačeslav Ivanov in seiner Schrift „Die russische Idee“ (1907-08) vor der übertrieben Betonung des dionysischen Zuges im russischen Charakter und zitiert dabei aus der hermetischen „Tabula smaragdina“ des Hermes Trismegistos über das Hinabsteigen in die Erde als Voraussetzung für den Aufstieg und die Vollendung des Menschen.139 Vis eius integra si versa fuerit in terram. Dieses geheimnisvolle Gebot sehe ich gleichsam auf der Stirn unseres Volkes geschrieben als seinen mystischen Namen. Der Imperativ des Hinabsteigens, der es zur dunklen Erde ruft, sein Gravitieren zu diesen nach dem Samen des Lichtes dürstenden Schollen, bestimmt es, als ein Volk, dessen gesamte unterbewusste Sphäre mit dem Fühlen Christi durchdrungen ist. Hic populus natus christianus.140
Wie bei Trismegistos Himmel und Erde in der „chymischen Hochzeit“ zu einer All-Einheit verschmelzen sollen, sieht Ivanov das russische Volk durch 134 135 136 137 138 139 140
Tolstoj 1957, 315; Tolstoj 1988, 756. Tolstoj 1957, 315; Tolstoj 1988, 356. Tolstoj 1957, 315; Tolstoj 1988, 756. Tolstoj 1957, 317; Tolstoj 1988, 757. Tolstoj 1957, 320; Tolstoj 1988, 759. Zur Tabula smaragdina des Hermes Trismegistos vgl.: Ploss, Emil Ernst/RoosenRunge, Heinz u.a.: Alchimia. Ideologie und Technologie. München 1970, 32, 121. Iwanow, Wiatscheslaw: Die russische Idee. Übersetzt und mit einer Einleitung versehen von J. Schor. Tübingen 1930, 33.
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eine Feuerkommunion zum Gottesträger aufsteigen.141 Allerdings warnt Ivanov auch vor einem zu extremen Abstieg, der in Selbstzerstörung oder gar Selbstmord münden könnte. Nicht immer vermag der russische Charakter auf dieser Schwelle stehen zu bleiben. Daher diese eigentümliche Stellung des russischen Volkes zur Sünde und zum Verbrechen, welche Dostojewskij so scharf betont. [...] Ihre typischen Entgleisungen und Verirrungen sind nur eine Verzerrung ihres Wesens; die verfrühte und darum sündhafte Preisgabe des Lichtes und die selbstmörderische Verschwendung der inneren Kräfte in fatalistischer Hoffnung auf eine von oben zu Hilfe kommende, wiederherstellende und rettende Macht, – die Bereitwilligkeit zu sterben, ehe der Sterbende sich gereinigt hat und würdig geworden ist sowohl des Todes als der Auferstehung.142
Wie das Feuer eine zentrale Rolle in der alchemistischen Verwandlung spielt,143 so ersetzt der Balkankrieg für die Slavophilen in den 1870er Jahre das mächtige alchimistische Element. Während Uspenskij für einige der ‚gefallenen Helden‘ auf dem Balkan noch Empathie oder sogar Sympathie empfindet, taucht Vronskij endgültig in der Balkanfinsternis unter. Der felsige, von Schluchten durchzogene Balkan hat nicht die sakramentale Kraft der weichen russischen Erde, in der sich die Auferstehung des zu tief gefallenen Helden vollziehen könnte. So muss man Vronskijs Teilnahme am SerbischOsmanischen Krieg in Tolstojs Roman nicht mehr durch das Prisma der „russischen Idee“ betrachten, sondern vielmehr durch das der sich verfestigenden negativen Balkanstereotypen. Trotz Tolstojs negativer Einschätzung der russischen Freiwilligen wurde Graf Vronskij in Serbien in jüngster Zeit zu einer ritterlichen Gestalt umstilisiert. Im Jahre 2012 gründete eine Gruppe Intellektueller und Geschäftsleute in Belgrad eine Stiftung mit dem Namen „Vronski – Rajevski – Ana Karenjina“, die eine touristische, wirtschaftliche und kulturelle Entwicklung von Aleksinac und Gornji Adrovac in Südserbien fördern möchte. Das Gründungsmitglied Srbobran Branković, Politikwissenschaftler, Journalist und Schriftsteller, Präsident der Kompanie TNS Medium Gallup für die Erforschung der öffentlichen Meinung, sagte in einem Interview, dass die Stiftung nach dem Vorbild von Shakespeares Liebespaar im Tode das Schlachtfeld zu einem „serbischen Verona“ erheben will.144 Auch auf der offiziellen Seite
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Ebd., 35. Ebd., 36, 38. Ploss/Roosen-Runge u.a. 1970. Zur Stiftung „Vronski-Rajevski-Ana Karenina”: Anonym: Tolstoj u liku Vronskog opisao je čoveka koji je branio Srbiju, 2. Juli 2012, http://www.telegraf.rs/vesti/269798-tolstoj-u-liku-vronskog-opisao-coveka-koji-jebranio-srbiju; Anonym, Osnovana fondacija Vronski-Rajevski-Ana Karenjina, http://www.aleksinac.org/index.php/poetna/918-osnovana-fondacija-qvronskirajevski-ana-karenjinaq (Zugriff: 25.12.2012).
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der Gemeinde Aleksinac, in der das Schlachtfeld von Adrovac liegt, liest man, dass Graf Vronskij ritterliche Ideale und Moralkodex repräsentiere, womit der Serbisch-Osmanische Krieg von 1876-78 zu einer Art Duell nobilitiert und die ‚gefallene‘ Anna Karenina zum höfischen Minneideal erhoben wird.145 Damit wird das Schlachtfeld zu einem thanatologischen Ort der platonisch-ritterlichen Liebe der beiden Protagonisten umgedeutet. Im nahe gelegenen Kloster des hl. Roman, in dem der Leib Raevskijs vor dem Transport nach Russland vorläufig begraben wurde und wo sein Herz in der serbischen Erde blieb, wurde am 2. September 2010 eine Gedächtnistafel für Raevskij-Vronskij in Anwesenheit des russischer Botschafters Aleksandr V. Kunuzin, der Mitglieder der serbisch-russischen Verbands Orthodoxie (Pravoslavje) sowie zahlreicher serbischer Kulturschaffenden angebracht.146 Diese Tolstoj entgegengesetzte Uminterpretation ist auf die neue panslawistische Welle nach dem Verlust des Kosovo im Jahre 2008 zurückzuführen. Die Schlacht von Adrovac in Südserbien von 1876 scheint allmählich den Platz der mythischen Schlacht auf dem Amselfeld von 1389 einzunehmen.
4. Benjamin Kállays Orientalisierung der orthodoxen Slawen Gerade Bosnien, in dem slawische Muslime, orthodoxe Serben und katholische Kroaten lebten, wurde zum Kristallisationspunkt, an dem der Gegensatz zwischen Russland und dem Westen am schärfsten zutage trat. Der österreichischungarische Politiker und Historiker Benjamin Kállay von Nagy Kólló (18391903), der 1868-75 Generalkonsul in Serbien und von 1882 bis 1903 Finanzminister und Verwalter von Bosnien und der Herzegowina war, drückte in seiner Schrift Die Orientpolitik Russlands (1878) die Besorgnis über die neue Art und Weise, wie Russland seinen Einfluss auf dem Balkan verstärke, aus.147 Kállays Aufgabe war es, Bosnien und die Herzegowina nach westlichem Modell zu modernisieren sowie das bosnische Nationalgefühl zu wecken, um das 145
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Jovanović, Dragan: Da li je Tolstoj naš?, NIN 2722, 27.02.2003, http://nin.co.rs/200302/27/27620.html (Zugriff: 25.12.2012); Anonym, Pukovnik Rajevski, in: Srpsko nasledje, 24.06.2006, http://www.aleksinac.net/aleksinac/pukovnik-rajevski.html (Zugriff: 25.12.2012). Vujadinović, D.: Otkrivamo. Srce grofa Vronskog u srpskom manastieru, 21.08.2011, http://www.blic.rs/Kultura/Vesti/272532/Otkrivamo-Srce-grofa-Vronskog-u-srpskommanastiru (Zugriff: 30.07.2012); http://kck.org.rs/kultura/index.php?option=com_content&task=view&id=341&Itemid =28 (Zugriff: 26.12.2012). Kállay, Benjamin von: Die Orientpolitik Ruslands [sic]. Aus dem Ungarischen von Prof. J.H. Schwicker. Leipzig 1878 (serb. Übersetzung: Kalaj, Benjamin: Rusija na Istoku. Istorička crta. Prevod s madžarskog originala. Novi Sad 1885).
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Land dem serbischen und damit auch dem russischen Einfluss zu entziehen.148 Seit 1804, als der erste serbische Aufstand ausbrach, sah er in der russischen Außenpolitik gegenüber dem Balkan eine neue Strategie aufkommen. Während sich Russland bis zu Beginn des 19. Jahrhunderts als Beschützer aller im Osmanischen Reich lebenden orthodoxen Völker – Griechen, Rumänen, Serben und Bulgaren – verstand, berief sich das östliche Imperium nun nicht mehr nur auf die Bewahrung des christlichen Glaubens, sondern immer ausdrücklicher auf den Schutz der südslawischen Stammesbrüder. Von dieser Zeit an drängt sich in den orientalischen Bestrebungen Russlands bei aller Betonung des Schutzes der Christenheit dennoch langsam, aber stets wahrnehmbarer die Nationalitätenfrage in den Vordergrund. […] Jene christlichen Völker der Türkei, die keine Slawen sind, blicken seitdem mit Misstrauen, ja mit Bekümmernis auf das Überwiegen der speziellen Interessen des Slawismus. […] Als slawischer Staat konnte Russland es nicht vermeiden, jeden einzelnen slawischen Volksstamm, sobald derselbe der Pforte gegenüber einige politische Selbständigkeit sich errungen, einerseits auf Grund der Religion, andererseits auf der Basis der Stammesverwandschaft in seinen Schutz zu nehmen und demselben eine größere und aufrichtigere Protektion als den anderen christlichen Völkern des Türkenreiches angedeihen zu lassen. Der auf solche Weise unter den Völkern der Balkanhalbinsel entstandene Antagonismus, ja die gegenseitige Antipathie wird die russischen Bestrebungen im Oriente künftig ohne Zweifel in engere Grenzen einschränken oder dieselben vielleicht nach ganz anderer Richtung hin drängen.149
Diese Verschiebung von einer religiös-orthodoxen zu einer national-panslawistisch motivierten Auslandspolitik betrachtet Kállay als große Gefahr für die westlichen Nachbarn Russlands. Vor allem diejenigen Länder, auf deren Territorium slawische Völker leben, haben sich vor diesen zu fürchten. Die Nationalbewegung der türkischen Serben zu Beginn dieses Jahrhunderts lenkte bald die Aufmerksamkeit der russischen Regierung auf die Tatsache, dass einige 7 Millionen Slawen die Türkei bewohnten, deren Sprache vor allen andern slawischen Dialekten der russischen glich, deren Religion und heilige Sprache – Alt- oder Kirchenslawonisch – vollständig dieselbe war wie die der Russen. Es war unter diesen Serben und Bulgaren, dass Russland zum ersten Mal eine panslawistische Agitation begann, unterstützt durch Russlands Stellung als Haupt und Protektor der griechischen Kirche. […] Wo es auf römisch-katholische Slawen stieß, wurde die religiöse Seite der Frage fallengelassen und Russland bloß hingestellt als Gravitationszentrum der slawischen Race, als der Kern, um den sich die regenerierten slawischen Stämme kristallisieren, als das starke und einige Volk, berufen zur Verwirklichung des großen
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Zu Benjamin von Kállays Politik in Bosnien und der Herzegowina: Milojković-Djurić, Jelena: Benjamin von Kállay’s Role in Bosnia-Herzegovina 1882-1903. Habsburg’s Policies in an Occupied Territory. In: Journal of the North American Society for Serbian Studies 14/2 (2000), 211-220; Okey, Robin: Taming Balkan Nationalism. Oxford 2007, 55-144. Kállay 1878, 110f; Kalaj 1885, 101-103.
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Slawenreichs von der Elbe bis China und vom Adriatischen bis zum Eismeer. Hier also war die mangelnde Einheit und Masse gefunden!150
So war Kállays Taktik der Stärkung der eigenständigen bosnischen Sprache und des eigenständigen bosnischen Nationalgefühls auch eine Strategie, um die panslawistische russische Gefahr abzuwehren.151 In der Angst vor dem Panslawismus und vor Russland erschien es ihm einfacher, die muslimischen Bosnier als die orthodoxen Christen an Westeuropa heranzuführen. In dieser für die Doppelmonarchie besonders gefährlichen Situation räumte Kállay Ungarn, das zwischen Ost und West vermitteln sollte, eine zentrale Rolle ein. In seiner Schrift Ungarn an den Grenzen des Orients und des Occidents (Budapest 1883) hebt er hervor, dass die Trennlinie zwischen Orient und Okzident nicht mehr am Bosporus verlaufe, sondern sie sich viel tiefer, ins Innere Europas, verschoben habe.152 Der muslimisch-türkische Geist habe sich über Jahrhunderte derart tief in die Seele der versklavten östlichen Völker gegraben, dass sie sich den modernen geistigen Strömungen aus dem Westen nicht mehr öffnen können. So gebe es zwischen den muslimischen Türken und den orthodoxen Völkern inzwischen mehr Gemeinsamkeiten, als zwischen den Ost- und Westchristen. Die osmanische Herrschaft sei jedoch nicht der einzige Grund für die Andersartigkeit des Ostens. Wie Fallmerayer sieht auch Kállay eine ebenso tiefe Ursache im byzantinischen Erbe, dessen Einflusssphäre sich bis an die Flüsse Save und Donau, bis hin nach Dalmatien, ja über die ganze Balkanhalbinsel ausstrecke.153 Der „Orient“ – wie Kállay den Osten und Südosten bezeichnet – umfasse nicht nur das Osmanische Reich und die Balkanhalbinsel, sondern erstrecke sich im Norden bis nach Russland, bis zu den Karpaten. So hätten diejenigen russischen Schriftsteller völlig Recht, die von einer „unüberwindbaren Schlucht“ zwischen ihrer Heimat und dem Westen schrieben.154 Hier beruft sich Kállay wohl auf den zum Katholizismus konvertierten russischen Denker Pëtr Čaadaev, der in seinen Schriften Philosophische 150 151
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Kállay 1878, 110. Vgl. auch: Kállay, Benjamin: Die Lage der Mohammedaner in Bosnien. Wien 1900; Zur Lage der Muslimen in Bosnien: Spuler, Bertold: Die Lage der Muslime in Jugoslawien. In: Die Welt des Islams N.S. 26 (1986), 124-140; Höpken, Wolfgang: Konfession, territoriale Identität und nationales Bewusstsein. Die Muslime in Bosnien zwischen österreichisch-ungarischer Herrschaft und im Zweiten Weltkrieg (18781941). In: Lemberg, Hans/Heumos, Peter (Hrsg.): Das Jahr 1919 in der Tschechoslowakei und in Ostmitteleuropa (= Formen des nationalen Bewusstsein im Lichte zeitgenössischer Nationalismustheorien. Vorträge der Tagung des Collegium Carolinum in Bad Wiessee vom 31. Oktober bis 3. November 1991, Hrsg. Eva Schmidt-Hartmann). München 1994, 233-254. Kállay, Benjamin: Ugarska na granici istoka i zapada. Pročitano u svečanom zboru magjarske naučne akademije 20. maja 1888. S magjarskog preveo Ivan Vasin Popović. Sarajevo 1905. Ebd., 3. Ebd., 61.
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Panslawismus und Orientalismus: Völkerstereotype und ihre Ausbildung
Briefe (Filosofičeskie pis’ma, 1829-36) und Apologie eines Wahnsinnigen (Apologie d’un fou, 1836) Russland zum barbarischen Land und die Russen zum asiatischen Nomadenvolk erklärt hatte.155 Obwohl die Russen über Jahrhunderte Kriege gegen die Türken geführt hatten, hätten sie sich ihnen dennoch mehr verbunden gefühlt als dem Westen. Wie bei Fallmerayer werden auch bei Kállay die orthodoxen Slawen auf dem Balkan zu einem Fremdkörper innerhalb Europas. So gebe es auch einen Unterschied zwischen der Fremdheit des Westens und des Ostens. In fremden westlichen Ländern spüre man, dass dort einmal eigene Vorfahren gelebt haben könnten.156 Ihre Vergangenheit bleibe daher in enger Verbindung mit der Gegenwart und der Zukunft. Der Osten dagegen zeige sich als unfassbar und ewig fremd, aus seiner Vergangenheit ließe sich keine Verbindung zur Gegenwart knüpfen.157 Ferner charakterisiere den Osten die extreme Individualität seiner Völker, die zur bedingungslosen Herrschaft eines Volkes über alle anderen führe. Die östlichen Staatsformationen hätten daher nie die engen Grenzen des Nationalen überwunden und den besiegten Völkern sowie Ausländern Rechte eingeräumt. Merkmale einer hypertrophierten Individualität hätten sich bereits bei den alten Griechen manifestiert.158 Ihre Herrscher von Alexander dem Großen bis zum russischen Zaren hätten Individualität zu einer solchen Despotie gesteigert, dass kein Raum mehr für die persönliche Freiheit anderer Menschen geblieben sei. Dieses Phänomen zeige sich bereits auf der ersten Stufe der Gesellschaft – in der Stellung der Frau in der Familie.159 Ihr sei keine Selbständigkeit und Selbstbestimmung erlaubt, daher müsse sie Polygamie oder ein isoliertes Leben ertragen. Auch Griechenland, nicht nur das moderne, sondern auch das antike, gehört laut Kállay dem Orient zu. So hätte bereits Aristoteles die Frau als ein niederes Wesen bezeichnet. Auch die griechische Skulptur wäre ohne Individualität, die das Ideal außergewöhnlicher Schönheit, Körperstärke und energischen Charakters begünstige, nicht vorstellbar. Der Individualität schreibt Kállay auch die Schuld dafür zu, dass sich in Hellas die Demokratie plötzlich in despotische Tyrannei verkehrt und in dieser Form auch in den östlichen Volkscharakter eingebrannt habe.160 Diesen kennzeichne große Widerstandskraft, das spekulative Denken, die Missachtung der praktischen Seiten des Lebens, die Verschlagenheit im Umgang mit Ungerechtigkeiten im Staatsund Privatleben, der Hass gegen Fremde und das Fehlen eines Patriotismus, 155 156 157 158 159 160
Zu Petr Čaadaev: Groys, Boris: Die Erfindung Russlands. München-Wien 1995, 22f. Ebd., 5. Ebd., 6. Ebd., 11f. Ebd., 37f. Ebd., 39f.
Benjamin Kállays Orientalisierung der orthodoxen Slawen
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der sich über Sippe und Stamm hinaus auf das Staatswesen ausweiten würde.161 Hier läge auch die Ursache dafür, dass die östlichen Völker zum Separatismus neigten und die östlichen Staaten bereits im Falle des geringsten feindlichen Hauchs von außen zusammenbrächen. In Kállays Schrift wird sichtbar, wie der ostchristliche Völkerstereotyp nicht mehr der fiktionalen Literatur angehört, sondern zum führenden Argument in der aktuellen Politik wird. Auch das ungarische Volk sei vor seiner Ansiedelung in Europa ein östliches gewesen, doch war es von Anfang an bereit, die westliche Anschauung zu übernehmen.162 So hätten sich die Ungarn aus einem östlichen in ein westliches Volk verwandelt, das seinen Platz in der Reihe der westeuropäischen Nationen eingenommen habe. Rudimente des östlichen Charakters, des permanenten Archaismus und der extremen Individualität, seien nur noch in der Widerstandsfähigkeit der Ungarn gegenüber äußeren Einflüssen und Novitäten anzutreffen, die sich in einer positiven Politik der Eigenständigkeit manifestierten. Die Doppelkrone Österreich-Ungarns repräsentiere daher zugleich Rom und Byzanz – eine Vereinigung ohne Verschmelzung. So blieb Ungarn, obwohl ein westliches Land, dennoch dem Osten verbunden. Das Land sollte daher die Vermittlungsrolle zwischen den beiden großen geistigen Strömungen in Ost und West übernehmen. Stand es bei Viktor Tepljakov Varna unter der flatternden Fahne mit dem russischen zweiköpfigen Adler, so repräsentiert bei Kállay das Emblem der österreichisch-ungarischen Doppelkrone die Inklusion des Balkans: „In hoc signo vinces!“, ruft er am Ende seiner Schrift aus.163
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Ebd., 40f. Ebd., 69-79. Ebd., 79.
IV. Vom Stereotyp zum Phantasma: Der Balkan in Reiseberichten 1. Bosnien und die Herzegowina in Ärzteanekdoten Der den Orientalen zugeschriebene Fatalismus, den schon Lermontov um 1840 als ein völkerpsychologisches Merkmal der Serben beschrieben hatte, wurde seither als ‚schwebender‘ Signifikant auf verschiedene Volksgruppen auf dem Balkan projiziert.1 Hochkonjunktur hatte das Stereotyp zu Zeiten politischer Krisen und Kriege: „The Serbs are full of superstition. They have foreboding dreams of good and evil omens, they believe in witchcraft, and are fatalistic in the extreme.”2 Nach der Niederschlagung des Aufstands in Bosnien und der Herzegowina 1875-78, der wegen übermäßiger Steuerbelastungen ausbrach, wurde der Glaube an die Vorherbestimmtheit des Schicksals schrittweise auf die slawischen Muslime übertragen; bald wurde er zum festen Bestandteil von Reiseberichten.3 Vor allem in Frankreich und England, wo sich infolge der 1
Wynon, Reginald: The Balkans from within. London 1904, 373. “The Montenegrins are fatalists, one and all. ‘We must all die once, and a bullet is quickest, and is an honourable death.’ So speak the border clansmen, and thus have spoken their fathers and their fathers’ fathers, counting death upon a sick-bed as unworthy of a man”; Wallisch, Friedrich: Der Atem des Balkans. Vom Leben und Sterben des Balkanmenschen. Leipzig 1928, 99. „Der Balkanmensch ist, wie ich bereits erwähnt habe, ein Freund der trägen Ruhe des Orientalen. Konnte er nicht mit der Waffe in der Hand seinem Gegner entgegentreten, so verzichtete er in Resignation darauf, sein Schicksal zu verbessern.“ 2 Bailey, William Frederick: The Slavs of the war zone. New York 1917, 215. 3 Vgl. Yriarte, Charles: Bosnie et Herzégovine. Souvenirs de voyage pendant l’insurrection. Paris 1876, 152f. «C’est le cas du chirurgien militaire qui nous accompagne ici; il avoue que la lutte n’a pas était longue dans son esprit entre les convictions qu’il a acquises hors de son pays en pratiquant un art utile à l’humanité, qui sauve l’existence d’un homme voué à la mort, et la résignation du fatalisme prescrite par sa religion, qui s’en remet à Allah du soin de le guérir sans même le panser»; Evans, Arthur-John: Through Bosnia and Hercegovina on foot during the insurrection. London 1878, 200, 277; Laveleye, Emile de: The Balkan Peninsula. Transl. by Mary Thorpe. New YorkLondon 1887, 92; Capus, Guillaume: A travers la Bosnie et l’Herzegovine; études et impressions de voyage. Paris 1896, 189, 197; Fraser, John Foster: Pictures from the Balkans. London u.a. 1912, 157. “The Turkish peasant, like other Turks, is a fatalist. He accepts whatever comes. I usually found him quite happy and singing, though he is born to constant, grinding labour”; Michel, Robert: Fahrten in den Reichsländern. Bilder und Skizzen aus Bosnien und Hercegovina. Mit 25 Zeichnungen von Max Bucherer. WienLeipzig 1912, 85; Oliver, Louis Pierre Frédéric: La Bosnie et l’Herzégovine. Paris 1917, 116, 235; Vaka, Demetra: The heart of the Balkans. Boston 1917, 243; Spender, Harold: The cauldron of Europe. London 1925, 42, 237; Manchmal wurde der Fatalismus auch
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Vom Stereotyp zum Phantasma: Der Balkan in Reiseberichten
kolonialen Herrschaft in Nordafrika bereits Anfang des 19. Jahrhunderts eine orientalistische Bild- und Texttradition herausbildet hatte, übertrug man nun die herkömmlichen Orient-Klischees auf Bosnien und die Herzegowina.4 Fatalismus verbindet sich mit Aberglauben. Ein Arzt kann nur helfen, wenn das Ergebnis bereits in den Sternen steht. Der Panslawist Cyprien Robert schließt sich dieser Überlieferung an, wenn er in seiner ethnographischen Schrift „Le monde gréco-slave. État actuel, mœurs publiques et privées des peuples de la péninsule“ (1842) über die Betätigung von Hexen als Ärztinnen und von Barbieren als Chirurgen berichtet.5 In Les Slaves de Turquie (1844) stellt er bizarre Prozeduren der einheimischen Ärzte vor, wie z.B. das Erstellen von Horoskopen vor der Behandlung des Patienten.6 Als der Donaumonarchie nach dem Berliner Kongress das Protektorat über Bosnien zufiel und die Provinz durch den Anschluss im Jahre 1908 endgültig in ihre Verwaltungsstruktur inkorporiert worden war, fand der bosnische Fatalismus Eingang in österreichisch-ungarische Reiseberichte. Vor allem Ärzteanekdoten über den Glauben an die Prädestination erfreuten sich großer Beliebtheit. Sie wurden zum Genre, in dem sich die westeuropäische Rationalität von der vermeintlich orientalischen Irrationalität abgrenzte. Durch die zunehmende Tendenz der Medizin, Psychologie mit Sexualität zu verknüpfen,7 bekam auch der Leser der Reiseberichte bald Gelegenheit, nicht nur hinter den Schleier, sondern noch tiefer – zuerst in die (pathologische) Seele und später auch auf die pathologische Sexualität der Orientalen – zu blicken. Der Ungar Anton Hangi stellt in seinem ethnographischen Buch Die Moslims in Bosnien-Hercegovina. Ihre Lebensweise, Sitten und Gebräuche (1866) die Schicksalsgläubigkeit der Muslime in Bosnien noch als religionsbedingt dar. Die Hingebung der bosnischen Moslims an ihre Religion ist bei anderen Völkern kaum anzutreffen. Sie leben und sterben für den Glauben, nichts kann sie derart beleidigen als eine Verletzung ihrer religiösen Gefühle. Sie vertrauen auf Gott, den noch auf andere Muslime auf dem Balkan übertragen, wie etwa auf die Albaner wie z.B. Wynon, Reginald/Prance, Gerald: The land of the Black Mountain. The adventures of two Englishmen in Montenegro. London 1903, 229, 237. 4 Berber, Neval: Unveiling Bosnia-Herzegovina in British Travel Literature (1844-1912). Pisa 2010, 45-67. 5 Robert, Cyprien: Le monde gréco-slave. État actuel, mœurs publiques et privées des peuples de la péninsule. In: Le monde gréco-slave 29 (1842) (http://fr.wikisource.org/wiki/Le_Monde_gr%C3%A9co-slave/1; Zugriff: 27.07.2010). 6 Robert, Cyprien: Les Slaves de Turquie. Serbes, Monténégrins, Bosniaques, Albanais et Bulgares. Leurs ressources, leurs tendances et leurs progrès politiques. Paris 1844, 3ff. 7 Vgl. Didi-Huberman, Georges: Ästhetik und Experiment bei Charcot. Die Kunst, Tatsachen ins Werk zu setzen. In: Clair, Jean/Pichler, Cathrin/Pircher, Wolfgang (Hrsg.): Wunderblock. Eine Geschichte der modernen Seele. Wien 1989, 281-296.
Bosnien und die Herzegowina in Ärztanekdoten
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„großen Allah“ und sind bereit, Folterqualen zu erdulden und ihren ganzen Besitz in die Schanze zu schlagen für Dinge, die ihnen heilig sind. Der Glaube lehrt den Moslim, dass Alles, was auf dieser Welt geschieht, von Gott verfügt wurde. Darum erträgt er gleichmütig Gutes und Böses, denn er ist überzeugt, dass Beides von Gott im Voraus bestimmt ist.8
Auch Johann Rośkiewicz leitet in seinem Reisebericht von 1868 die Schicksalsergebenheit der moslemischen Bosnier aus der 64. Sure des Korans her, aus dem er folgende Verse zitiert: „Kein Missgeschick trifft ein ohne den Willen Gottes“, „Gott bestraft, wenn er will, und belohnt, wenn er will“, „Ma schallah, der Wille Gottes geschehe“.9 Die slawischen Muslime, die allgemein als „Türken“ bezeichnet werden, hätten eine so große Furcht vor dem Verhör nach dem Tode durch die Folterengel Münker und Nekir, dass ihnen der Tod selbst keine Angst mehr bereite. Der Fatalismus wird hier jedoch bereits in Zusammenhang mit der Ablehnung ärztlicher Hilfe gestellt. Dies ist auch der Grund, dass der Muselman bei eintretenden Leiden und bei Krankheiten keine oder nur selten ärztliche Hilfe sucht, dass er z.B. bei ausbrechenden Viehseuchen gleichgültig seinen Viehstand sich verkleinern sieht, die Kadaver vor seinem eigenen Hause liegen lässt, und teilweise aus Trägheit, teilweise in Befolgung des Gesetzes, das Aas nicht zu berühren, dasselbe weder entfernt noch vergräbt, lieber in der ihn umgebenden pestartigen Luft lebt, und die Gefahr teilt, selbst ein Opfer derselben zu werden. „So steht es geschrieben, so musste es kommen“, bleibt sein einziger Trost. Verzehrt ein Brand ganze Stadtteile, so bleibt der Türke gleichgültig, solange sein eigenes Haus noch steht, und leistet dann erst Hilfe, wenn er von der Behörde dazu gezwungen oder durch versprochenen Lohn aufgefordert wird.10
Als zweite Quelle für den bosnischen Fatalismus dienen Rośkiewicz Orientstereotypen wie z.B. die Trägheit der Muslime oder ihr Glaube, dass „alles ohne Zutun von selbst kommen und entstehen müsste“.11 Wie in Lermontovs Novelle ist der Fatalismus auch in Rośkiewiczs Bericht von einer indifferenten Haltung gegenüber dem Tod, sogar von Todesverachtung begleitet.12 Doch der Österreicher polnischer Herkunft fügt diesem Stereotyp noch einen weiteren hinzu, nämlich den verschleierten Körper der Musliminnen: Ebenso wie der Harem bleibt dieser für den Arzt tabu. Wenn die intimsten Teile des weiblichen Körpers berührt werden müssten, wie bei der Geburtshilfe, überlasse der Muslime seine Frau lieber ihrem Schicksal, als sie der Untersuchung durch einen Arzt preiszugeben. 8
Hangi, Anton: Die Moslims in Bosnien-Hercegovina. Ihre Lebensweise, Sitten und Gebräuche. Autorisierte Übersetzung von Hermann Tausk. Sarajevo [1866] 1907, 6. 9 Rośkiewicz, Johann: Bosnien und die Herzegowina. Leipzig-Wien 1868, 218. 10 Ebd., 219. 11 Ebd., 219. 12 Ebd., 202, 119.
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Vom Stereotyp zum Phantasma: Der Balkan in Reiseberichten
Dem mohammedanischen Sprössling gelingt es fast immer, ohne fremde Hilfe das Licht der Welt zu erblicken. Ärzte dürfen hierbei nie hilfreich auftreten, und nur vornehmere Familien nehmen die Kenntnisse und die Geschicklichkeit der Hebammen in Anspruch.13 […] Im Allgemeinen nehmen die Türken in Bosnien in Erkrankungsfällen wenig oder gar keine ärztliche Hilfe in Anspruch. Einerseits sehen sie, als vollendete Fatalisten, allen Widerwärtigkeiten mit Gleichmut entgegen, wagen kaum ein nahendes Unglück abzuwenden und erblicken in allem die Hand Gottes; andererseits mangeln ihnen gebildete Ärzte, und selbst die vorhandenen erhalten nur höchst selten und unter sehr erschwerenden Umständen den Zutritt in den Harem.14
Die Weigerung bosnischer Männer, einen Arzt zu ihren Frauen zu lassen, erregt bei Rośkiewicz den Verdacht, dass viele Bosnierinnen nicht nur Opfer von unbehandelten Krankheiten, sondern auch von Schlägen ihrer Ehemänner sein könnten. Der Schleier als Symbol des muslimischen Glaubens verdecke daher nicht nur den Körper der Frau vor den Blicken des Arztes, sondern wohlmöglich auch die Tat des Mannes. Unwillkürlich drängt sich nun dem Fremden der Gedanke auf, wie so manches Weib ihrem Leiden, das sie nur durch Hausmittel zu lindern sucht, hilflos erliegen mag, und wie sehr die Sitte der gänzlichen Abgeschlossenheit der Frauen und der Mangel einer Überwachung unnatürliche Todesfälle hervorrufen und begünstigen musste, wenn nicht bei der bekannten Sittenstrenge der Moslemiten die Grundsätze der Moral vorherrschen würden.15
Adolf Strausz, der die Aufgabe Österreich-Ungarns darin sieht, „das in blinden Vorurteilen auferzogene, in geistiger Finsternis dahinvegetierende Volk auf den Pfad der Zivilisation und des Fortschritts zu führen“,16 beschreibt die Verhältnisse in seinem historisch-ethnographischen Reisebericht aus dem Jahre 1884 mit dem Tonfall distanzierter Beobachtung. In diesem Lande gab es keine Ärzte und Advokaten. Die Religionsgesetze der Mohammedaner sagen ausdrücklich, dass die Advokaten, „welche nur bestrebt sind, die Gerechtigkeit durch Sophismen zu trüben“, aus jeder Gesellschaft ausgeschieden werden sollen. […] Unter solchen Umständen wird ihnen auch für lange keine Hoffnung auf eine gute Praxis blühen; ebenso wenig den Ärzten. Anderswo bringen die Ärzte die ärztliche Wissenschaft in Verruf. Hier ist es die letztere, welche die Ärzte unmöglich macht. Der ärztlichen Wissenschaft widerstrebt der Fatalismus der Mohammedaner. Man fügt sich in jede Krankheit mit Resignation. Wenn die Türken gegen körperliche Leiden wirklich Hilfe suchen, so werden sie sich immer an jene Quacksalber wenden, die ja zur Hälfte auch Hexenmeister sein wollen, an deren Zauberkünste man glaubt und welchen man zutraut, dass sie 13
Ebd., 235. Ebd., 246. 15 Ebd., 246. 16 Strausz, Adolf: Bosnien. Land und Leute. Historisch-ethnographische Schilderung. Bd. 2. Wien 1884, V. 14
Bosnien und die Herzegowina in Ärztanekdoten
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in der Kenntnis der geheimen Kräfte der Natur die Einflüsse aller bösen Geister zu bannen verstehen.17
Den Fatalismus sieht Strausz, wie Lermontov, in die Physiognomie des Volkes eingeschrieben: „Ein unsagbarer Gleichmut und Ergebung in das Schicksal malt sich in jedem Antlitz, wie man solches nur im Orient sehen kann.“18 Seinen Bericht beendet er mit dem Aufruf, das Volk dazu anzuhalten, „ärztliche Hilfe zum eigenen und zum Nutzen des Staates zu verlangen“.19 Dieselben Erfahrungen machten auch englische Reisende, wie z.B. Harry Craufuird Thomson in The outgoing Turk. Impressions of a journey through the western Balkans (1897), allerdings verzeichnet er erste Anzeichen des Umdenkens in den höheren Schichten: “Many of the Begs will now allow their women to be treated by a doctor when ill, sometimes even by a man doctor, though to be doctored at all is contrary to the fatalism of their belief.”20 Bernard Wiemans legt in seinem Reisebericht Bosnisches Buch aus dem Jahre 1908 die Verurteilung des Fatalismus schließlich einer Frau in den Mund. „Die mohammedanischen Bosnier sind sehr gottergeben“, erzählte mir weiter meine Gastgeberin. „Sehr schwer haben sie sich daran gewöhnt, einen Arzt zu konsultieren und seine Anordnungen zu befolgen. Sie sehen nicht ein, warum sie noch leben sollen, wenn Allah es für gut hält, dass sie sterben. […] Ja, ich hörte sonderbare Geschichten. Eine Frau war in der Klinik, und weil die Kinder zu Hause nach ihr verlangten, kam der Mann, sie wieder heimzuholen. Es wurde ihm bedeutet, dass dies nicht tunlich sei und große Gefahr bringe. „Meine Frau gehört in mein Haus, und wenn sie dort sterben soll, so wird sie dort sterben“, sagte der Mann ohne Aufregung und nahm seine todkranke Frau auf den Wagen und lächelte über die Worte des schier verzweifelnden Arztes, dass sie durch eine Operation gerettet werden könne.21
Im Munde einer Bosnierin bekommt die Äußerung einen emanzipatorischen Gehalt. Sie unterstreicht nicht nur den Abstand zwischen dem rationalistischen Westeuropa und dem abergläubischen Bosnien, sondern bringt einen weiteren ins Spiel, denjenigen zwischen dem patriarchalischen bosnischen Mann und seiner unterdrückten Frau. Die koloniale Expansion wird mit einem Gesundheits- und Emanzipationsdiskurs gerechtfertigt, und als Mitstreiterinnen werden zuerst die Frauen gewonnen – eine bis heute aktuelle Strategie.
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Ebd., 33. Ebd., 63. 19 Ebd., 324. 20 Thomson, Harry Craufuird: The outgoing Turk. Impressions of a journey through the western Balkans. London 1897, 71. 21 Wieman, Bernard: Bosnisches Tagebuch. München-Kempten 1908, 129f. 18
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Vom Stereotyp zum Phantasma: Der Balkan in Reiseberichten
2. Freud und die Entdeckung des Todestriebes 1898 Obwohl Sigmund Freud Anfang September 1897 wahrscheinlich nicht mehr als einen oder zwei Tage in Bosnien und der Herzegowina verbrachte,22 hinterließ diese Reise wichtige Spuren. Sein Ausflug von Ragusa (Dubrovnik) an der Adriaküste nach Trebinje im herzegowinischen Binnenland erweist sich als zentral für seine psychoanalytische Forschung. In zwei selbstanalytischen Schriften, „Zum psychischen Mechanismus der Vergesslichkeit“ (1898) und „Vergessen von Eigennamen“ (1901), die eigentlich zwei Varianten ein und desselben Textes darstellen, deckt er einen wichtigen Aspekt seiner frühen psychoanalytischen Forschung auf – nämlich den völkerpsychologischen Hintergrund seiner Abhandlungen, den er der Reiseliteratur entnahm. Über die Bedeutung der prähistorischen und klassischen Antike sowie der Archäologie für die Genese der Psychoanalyse wurde schon viel geschrieben.23 Die Bedeutung des Balkans wurde jedoch bisher außer Acht gelassen. Wie Leonard Shengold beobachtet, benutzt Freud in Die Traumdeutung (1900) die Wörter „Ausflug“ und „Reise“ als Metapher für den Besuch der terra incognita des Traumes und des Unbewussten.24 In den beiden selbstanalytischen Schriften, die mit dem Ausflug nach Bosnien und in die Herzegowina verbunden sind, wird die metaphorische Ebene weit überschritten. Freuds Bosnienerfahrung enthüllt vielmehr die Bewegung der Signifikanten, deren Verschiebung und Verdichtung. Seine reale Reiseroute korreliert folglich mit der Bewegung des Unbewussten – beide führen auf den Balkan. Obwohl es sich bei der Schrift „Zum psychischen Mechanismus von Vergesslichkeit“ (1898) um einen medizinischen Text handelt, verfasste ihn der Psychoanalytiker im anekdotischen Stil der Reiseliteratur. Dieser Text, veröffentlicht 1898 in der Monatsschrift für Psychiatrie und Neurologie, wurde wegen der Ähnlichkeit mit dem späteren von 1901, betitelt als „Vergessen von Eigennamen“, leider nicht in Freuds Gesamtausgabe aufgenommen. Dennoch gibt es im zweiten Text wichtige Abweichungen vom ersten. Im früheren Aufsatz von 1898 analysiert Freud den Mechanismus des Vergessens von Eigennamen. Neben dem Hauptsymptom – der Unfähigkeit, sich einen Namen in Erinnerung zu rufen – beobachtet er eine weitere Nebenerscheinung. An Stelle des richtigen Eigennamens schieben sich ein anderer Name oder andere Silben bzw. andere Buchstaben ein, die man irrtümlich als 22
Tögel, Christfried: Sigmund Freud. Unser Herz zeigt nach dem Süden. Reisebriefe 1895-1923. In Zusammenarbeit mit Michael Molnar. Berlin 2002, 111-116. 23 Traverso, Paola: „Psyche ist ein griechisches Wort…“ Rezeption und Wirkung der Antike im Werk von Sigmund Freud. Frankfurt a.M. 2003; Benthien, Claudia/Böhme, Hartmut/Stephan, Inge: Freud und die Antike. Göttingen 2011. 24 Shengold, Leonard: The Metaphor of the Journey in ‘The Interpretation of Dreams’. In: American Imago. A psychoanalytic journal for culture, science and the arts 23/4 (1966), 316-331.
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Bestandteile des gesuchten Namens erkenne. Der einzige Ausweg aus dieser Pattsituation sei, die Aufmerksamkeit von der krampfhaft verfolgten Aufgabe so lange abzulenken, bis der Name von selbst wiederkehre. Während der Sommerferien unternahm ich einmal von dem schönen Ragusa [Dubrovnik] aus eine Wagenfahrt nach einer benachbarten Stadt in der Herzegowina [Trebinje]; das Gespräch mit meinem Begleiter beschäftigte sich, wie begreiflich, mit dem Zustand der beiden Länder (Bosnien und Herzegowina) und mit dem Charakter ihrer Einwohner. Ich erzählte von verschiedenen Eigentümlichkeiten der dort lebenden Türken, wie ich sie vor Jahren von einem lieben Kollegen hatte schildern hören, der unter ihnen lange Zeit als Arzt gelebt hatte. Eine Weile später wandte sich unsere Unterhaltung auf Italien und auf Bilder, und ich hatte Anlass, meinem Gesellschafter dringend zu empfehlen, einmal nach Orvieto zu gehen, um sich dort die Fresken vom Weltuntergang und letzten Gericht anzusehen, mit denen ein großer Maler eine Kapelle im Dom ausgeschmückt [hat]. Ich strengte mein Gedächtnis an, ließ alle Details des in Orvieto verbrachten Tages vor meiner Erinnerung vorüberziehen, überzeugte mich, dass nicht das Mindeste davon verlöscht oder undeutlich sei. Im Gegenteil, ich konnte mir die Bilder sinnlich lebhafter vorstellen, als ich es sonst vermag; und besonders scharf stand vor meinen Augen das Selbstbildnis des Malers, – das ernste Gesicht, die verschränkten Hände, – welches er in die Ecke des einen Bildes neben dem Portrait seines Vorgängers in der Arbeit, des Fra Angelico da Fiesole, hingestellt hat.25
Freud ist der Name des Malers Luca Signorelli entfallen. An dessen Stelle haben sich andere, falsche Namen wie Boticelli und Boltrafio eingeschoben, obwohl die Fresken in allen sinnlichen Details vor seinen Augen erscheinen – insbesondere das Selbstbildnis des Malers mit seinem Vorgänger (Abb. 3, Abb. 4). Die Position des Malers, der etwas abseits am unteren Rand des Bildes steht und dessen Gesicht im Halbprofil zu sehen ist, das mit melancholischem Blick an den Verdammten vorbeischaut, entspricht sowohl der mentalen als auch der räumlichen Position des Psychoanalytikers. Dieser soll während der therapeutischen Sitzung ja die psychische Involvierung und den Augenkontakt mit seinem Patienten vermeiden. Verschwiegen bleiben jedoch die tödlichen Folterungen und sexuellen Ausschweifungen, die man auf keiner anderen italienischen Darstellung des Jüngsten Gerichts in so drastischer Form findet (Abb. 5, Abb. 6). Die nackten Verdammten, Frauen und Männer, die von Teufeln entführt, vergewaltigt, gefoltert und getötet werden, erwähnt er mit keinem Wort, und das, obwohl Freud während seines Aufenthalts in Orvieto graphische Reproduktionen dieser Szenen kaufte.26 Auch im Brief an seine Frau Martha vom 9. September 1897 erwähnt er die Orgie auf dem Fresko mit keinem Wort, sondern verweist auf sie ausschließlich durch einen deiktischen Gestus – „Bilder Signorelli“.27 25
Freud, Sigmund: Zum psychischen Mechanismus der Vergesslichkeit. In: Monatsschrift für Psychiatrie und Neurologie IV/3 (1898), 436-444, hier 437. 26 Tögel 2002, 85. 27 Ebd., 85.
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Vom Stereotyp zum Phantasma: Der Balkan in Reiseberichten
Abb. 3: Luca Signorelli, Selbstporträt mit Fra Angelico, Dom in Orvieto, Kapelle San Brizio, 1499-1502.
Abb. 4: Luca Signorelli, Selbstporträt des Künstlers, Detail.
Abb. 5, 6: Luca Signorelli, Das Jüngste Gericht. Die Verdammten, Dom in Orvieto, Kapelle San Brizio, 1499-1502.
Freud und die Entdeckung des Todestriebes 1898
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An die Stelle des verschwundenen Namens schoben sich für Freud zwei Ersatznamen – die der Maler Sandro Boticelli und Andrea Boltraffio, die für ihre Darstellungen sublimer weiblicher Gestalten berühmt sind. In Boticellis Primavera (1478) oder in seiner Geburt der Venus (1485) sind entblößte Frauenkörper in transparente Stoffe oder in ihr langes blondes Haar gehüllt. In Boltraffios Gemälde Madonna mit dem Kind (1339-99) enthüllt Maria ihre Brust nur, um das Jesuskind zu stillen. Botticelli und Boltraffio repräsentieren somit nicht nur zwei beliebige andere Künstlernamen, sondern auch eine andere Ästhetik – die der sublimen, weiblichen Körper, der verschleierten Frauenakte bzw. der stillenden Mütter.28 Deren Erotik mündet nicht in entfesselte, mit dem Tod konnotierte Sexualität wie bei Signorelli, sondern in positiv konnotierte Jungfräulichkeit, die in reproduktive Mutterschaft übergeht. Freud sieht darin in seiner späteren Schrift „Jenseits des Lustprinzips“ (1920) den Ausweg aus dem Todestrieb. Der Eigenname Signorelli, der mit der Sexualität als dem „Todestrieb“ assoziiert wird, ist aus Freuds Narrativ ausgeschlossen. Dennoch erscheint er wieder in verschleierter Form, transformiert in die idealisierten Frauenakte Boticellis und Boltraffios, bei denen Sexualität mit dem „Lebenstrieb“ konnotiert wird. Im Prozess der Verdrängung von unterdrückten Gedanken dient die Verhüllung des nackten weiblichen Körpers als Vehikel des nonverbalen Diskurses zur Überbrückung des Todestriebes.29 Viele Tage war Freud unfähig, sich an den Namen des Malers in Orvieto zu erinnern. Nach mehrtägiger Qual begegnete er einem gebildeten Italiener, der ihn durch Mitteilung des gesuchten Künstlernamens – Signorelli – von seinem Leiden erlöste. Plötzlich konnte Freud von selbst den Vornamen, Luca, hinzufügen, während „die überdeutliche Erinnerung an die Gesichtszüge des Meisters auf seinem Bilde bald verblasste“.30 Als Freud die Mechanismen seiner Vergesslichkeit untersuchte, erinnerte er sich an ein Gespräch mit einem Arztkollegen, der ihm über seine langjährige Erfahrungen aus Bosnien und der Herzegowina erzählt hatte. Der Kollege sei von den in Bosnien lebenden Türken – womit zu jener Zeit mohammedanische Slawen, also 28
Teile des Kapitels sind unter einem anderen Aspekt – der Verhüllung und Enthüllung des Frauenkörpers im Rahmen des orientalistischen Diskurses – bereits auf Englisch erschienen: Zimmermann, Tanja: Rituals of (Un)veiling. Orientalism and the Balkans. In: Reiche, Claudia/Sick, Andrea (Hrsg.): Do not exist: Europe, Woman, Digital Medium. Bremen 2008, 133-154. 29 Juli Zeh bringt daher in ihrem Reisebericht aus Bosnien und der Herzegowina wahrscheinlich nicht zufällig den Namen desselben Malers ins Spiel. An einem hässlichen Ort, an dem sie unter Sommerhitze und Hunger leidet, beschließt sie daher, nach einem Ort zu suchen, der wie „Boticelli“ klingen soll. Im bosnischen Dorf Počitelj, dessen Name als Anagramm des Künstlernamens gelesen werden kann, findet sie schließlich einen Garten mit Feigenbäumen, deren Früchte paradiesisch gut schmecken (vgl. Zeh, Juli: Die Stille ist ein Geräusch. Eine Fahrt durch Bosnien. Frankfurt a.M. 2001, 160). 30 Freud 1898, 488.
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Bosnier, bezeichnet wurden31 – nicht nur mit besonderer Achtung behandelt worden, sondern diese hätten sich der vom Arzt gestellten Prognose oder Diagnose vollkommen ergeben gezeigt: „Wenn der Arzt dem Familienvater mitteilen muss, dass einer seiner Angehörigen dem Tode verfallen ist, so lautet dessen Erwiderung: ‚Herr, was ist da zu sagen? Ich weiß, wenn er zu retten wäre, würdest du ihm helfen‘.“32 Dieser von dem Kollegen den Bosniern zugeschriebene Charakterzug der Schicksalsergebenheit, interferiert mit einer weiteren Eigenschaft der dortigen Einwohner – „der alles überragenden Wichtigkeit der Sexualgenüsse“.33 Freud und sein Kollege sahen zwischen den beiden „einen intimen Zusammenhang“.34 So habe ein bosnischer Patient jenem einmal zugestanden: „Du weißt ja, Herr, wenn das nicht mehr geht, dann hat das Leben keinen Wert.“35 Vor dem Reisegefährten wagte Freud es jedoch nicht, das tabuisierte Thema der Sexualität und der Todessehnsucht aus Impotenz anzusprechen. Nun stellt er in der Selbstanalyse fest, dass es sich nur vordergründig um das Vergessen, im Kern aber um die Verdrängung jener unterdrückten Anekdote über Sexualität und Tod handele. Auf der Suche nach den Bindegliedern für den verdrängten Namen stößt Freud zwar auf die „inhaltliche Verwandtschaft“36 zwischen dem Jüngsten Gericht Signorellis und der Erzählung des Arztes, nämlich den inneren Zusammenhang von Tod und Sexualität, doch ihm erscheint dieser Zusammenhang als zu geringfügig. Er vermutet dahinter einen weiteren geheimen Mechanismus auf der Ebene der Sprache: Da es sich um die Verdrängung eines Namens aus dem Gedächtnis handelte, war es von vorne herein wahrscheinlich, dass die Verknüpfung zwischen Namen und Namen vor sich gegangen war. Nun bedeutet Signor – Herr; das „Herr“ findet sich aber wieder im Namen Herzegowina. Überdies war es gewiss nicht ohne Belang, dass beide Reden der Patienten, die ich zu erinnern hatte, ein Herr als Anrede an den Arzt enthielten. Die Übersetzung von Signor und Herr war also der Weg, auf welchem die von mir unterdrückte Geschichte den von mir gesuchten Namen in die Verdrängung nachgezogen hatte.37
Die Sprachverwirrung erklärte sich Freud damit, dass er in Ragusa (Dubrovnik) beständig italienisch gesprochen habe, „d.h. mich gewöhnt hatte, in 31
Hangi [1866] 1907, 1. „Weil sie ihr Glaubensbekenntnis eng mit Jenen verknüpfen, von welchen sie es angenommen haben, mit den Türken, nennen sie sich selbst gerne Türken und ihre Religion die türkische. ‚Bei meinem türkischen Glauben‘ ist eine gewöhnliche Beteuerungsformel bei den Moslims. Bei wichtigen Anlässen fragt Einer den Anderen: ‚Was ist geschehen? Sprich, wenn du ein Türke bist!‘“ 32 Freud 1898, 438. 33 Ebd., 438. 34 Ebd., 439. 35 Ebd., 439. 36 Ebd., 439. 37 Ebd., 439.
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meinem Kopf aus dem Deutschen ins Italienische zu übersetzen.“38 Das psychologische Argument der Assoziation untermauert er mit der Prosodie, den Gesetzmäßigkeiten des Reimes. Darauf folgt eine fast literaturwissenschaftliche Analyse des Mechanismus der Verdrängung: Boticelli enthält dieselben Endsilben wie Signorelli; es waren also die Endsilben wiedergekommen, die nicht wie das Anfangsstück Signor eine direkte Beziehung zu dem Namen Herzegowina knüpfen konnte; der mit dem Namen Herzegowina aber regelmäßig verknüpfte Name Bosnien hatte seinen Einfluss darin gezeigt, dass er die Substitution auf zwei Künstlernamen lenkte, die mit den Namen Bo beginnen: Boticelli und dann Boltraffio. Die Findung des Namens Signorelli erwies sich also durch das dahinter liegende Thema, in dem die Namen Bosnien und Herzegowina vorkommen, gestört.39
Doch auch die prosodischen Gesetzmäßigkeiten scheinen ihm letztlich nicht ausreichend, um die Verdrängung des Eigennamens endgültig zu erklären. Er erinnert sich, dass er einige Wochen vorher in dem Ort Trafoi „eine gewisse Nachricht“ bekommen hätte, die mit dem Namen Boltraffio in Beziehung steht, ohne dem Leser zu verraten, um was für eine Nachricht es ging.40 Um seine Analyse dem Leser auch visuell zu veranschaulichen, fügt er an dieser Stelle ein Schema des Verdrängungsprozesses ein (Abb. 7).
Abb. 7: Sigmund Freud, Diagramm des Verdrängungsprozesses, 1898.
38
Ebd., 439. Ebd., 339, 440. 40 Ebd., 440. 39
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Freud beobachtet darin einen Mechanismus der oberflächlichen Assoziation zwischen einzelnen Elementen und deren Substitution. Die Ersetzung bzw. Verschiebung erfolgt auf zwei Achsen, einerseits der vertikalen der Ersetzung und andererseits der horizontalen der Verschiebung, die später zum Grundmodell für den Automatismus von Traumarbeit, Neurosen und Psychosen wurde. Ein halbes Jahrhundert danach griffen Roman Jakobson und Jacques Lacan dieses Modell auf.41 Sie nennen die erste Achse die paradigmatische Vertikalachse (die Achse der Metapher, der Selektion oder Substitution) und die zweite die syntagmatische Horizontalachse (die Achse der Metonymie, der Kombination oder der Kontextualisierung). Diese beiden Achsen regieren sowohl die Poetik als auch die Sprachstörungen, wie z.B. Aphasie. Freuds metaphorische Substitution des Namens „Signorelli“ durch „Boticelli“ und „Boltraffio“ zirkuliert in Italien also in die Richtung vom „Todesprinzip“ zum „Lustprinzip“. Die metonymische Verschiebung führt daher umgekehrt aus Italien auf den Balkan: von „Signor“-elli zu „Her(r)“zegowina und zu dem fatalistischen bosnischen Patienten mit Sexualproblemen, der den Arzt mit „Herr“ anspricht. Bosnien und die Herzegowina repräsentieren somit den Ort „jenseits des Lustprinzips“, an dem Sexualität und Tod austauschbar sind. In einer Fußnote außerhalb des Haupttextes fügt Freud noch ein weiteres Glied in die Vergessenskette um die Herzegowina ein: Als er die Begebenheit einem Kollegen erzählen will, vergisst er nun einen zweiten Namen – den Namen seines Gewährsmannes für die Arztanekdoten aus BosnienHerzegowina. Ich hatte unmittelbar vorher Karten gespielt. Der Gewährsmann heißt Pick; Pick und Herz sind zwei der vier im Spiel vorkommenden Farbennamen, überdies durch eine kleine Anekdote verbunden, in welcher der Betreffende auf sich zeigt und dann sagt: Ich heiße ja nicht Herz, ich heiße Pick. Herz findet sich wieder im Namen Herzegowina; das Herz als krankes Organ spielt selbst eine Rolle in den von mir als verdrängt bezeichneten Gedanken.42
Den Eigennamen „Herz“ liest Freud wie ein Emblem oder einen Rebus – als krankes, gebrochenes Herz – und konnotiert es weiterhin mit der Herzegowina. Beide Anekdoten zusammengenommen verleihen Freuds frühem wissenschaftlichem Text den Charakter eines Kalauers, den er wiederum einige Jahre später in seinem Werk Der Witz und seine Beziehung zum Unbewussten (1905) zum Thema machen wird. In dieser späteren Arbeit findet man 41
Jakobson, Roman/Halle, Morris: Grundlagen der Sprache. Übers. Georg Friedrich Meier. Berlin 1960 (engl. Fundamentals of Language. The Hague 1956), 51-54 (Part II, Kap. 2: „Der Doppelcharakter der Sprache“) und 65-70 (Kap. 5: „Die Polarität zwischen Metaphorik und Metonymik“); Lacan, Jacques: Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse. Das Seminar Buch XI (1964). Textherstellung durch Jacques-Alain Müller. Übersetzt von Norbert Haas. Berlin 1996, 33; Vgl auch: Grigg, Russel: Lacan, Language, and Philosophy. New York 2008, 151-169. 42 Ebd., 442.
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ebenso einen ‚ethnographischen‘ Balkanwitz über den „Orienterpresszug“, den er bei dem österreichischen Schriftsteller und Journalisten Karl Kraus entleiht.43 Freud bemerkt darin die Verdichtung zweier Wörter zu einem – des berühmten „Orientexpress“ und der „Erpressung“. Die Balkanstereotypen lässt er dabei völlig unkommentiert. Damit war Freuds Beschäftigung mit dem Vergessen des Eigennamens Signorelli während des Ausflugs nach Trebinje noch immer nicht abgeschlossen. Drei Jahre später kehrte er wieder zu seinem Prätext zurück. Der unter dem Titel „Vergessen von Eigennamen“ neu bearbeitete Text sollte den ersten vertiefen,44 doch die neue Version verschleierte so manches, was in der ersten bereits enthüllt worden war, so dass der zweite Text weniger den Charakter einer Wieder-Erinnerung als eines Wieder-Vergessens hat. In diesem zweiten Text kommt es gegenüber der ‚Vorlage‘ zu einer Verwissenschaftlichung der Sprache und zu neuen Verschiebungen: Erstens schließt Freud Signorellis Fresken in Orvieto mit dem Selbstbildnis des Meisters vollkommen aus dem Text aus, obwohl er bemerkt, dass es im Akt der Verdrängung nicht nur um einen Übersetzungsvorgang nach prosodischen Gesetzmäßigkeiten ging, sondern auch um eine rebusartige Schrift-BildÜbersetzung. Zweitens beschreibt er die Umstände seiner Reise – deren Schilderung im ersten Aufsatz im anekdotischen Plauderton eines Reiseberichtes gehalten ist – im distanzierten, trockenen Stil einer Chronik. Ich machte mit einem Fremden eine Wagenfahrt von Ragusa in Dalmatien nach einer Station der Herzegowina; wir kamen auf das Reisen in Italien zu sprechen, und ich fragte meinen Reisegefährten, ob er schon in Orvieto gewesen und dort die berühmten Fresken des *** besichtigt habe.45
Der Begleiter bzw. Reisegefährte, von dem man aus dem depressiven Brief vom 22. September 1898 an den befreundeten Berliner Arzt Wilhelm Fließ weiß, dass es sich um den „Berliner Assessor“ Freyhau handelte, wird nun in einen „Fremden“ transformiert. Drittens erfährt der Leser, worum es in der „gewissen Nachricht“, die Freud in Trafoi empfangen hatte, ging, nämlich um den Selbstmord seines eigenen Patienten, der sexuelle Probleme hatte und dem er viel Aufmerksamkeit und Zeit gewidmet hatte. Die zweite Anekdote, in der er den Namen der Arztes Pick vergessen hat, wird nicht erwähnt. Die Sinnlichkeit des Textes und der Bilder wird wie im Bilderverbot eliminiert und ins Symbolische transformiert: Die ikonischen Zeichen des Freskos 43
Freud, Sigmund: Gesammelte Werke chronologisch geordnet. Sechster Band. Der Witz und seine Beziehung zum Unbewussten. Hrsg. von Anna Freud u.a. Frankfurt a.M. 1999, 26f. 44 Freud, Sigmund: Vergessen von Eigennamen. In: Freud, Anna u.a. (Hrsg.): Gesammelte Werke chronologisch geordnet IV. Zur Psychopathologie des Alltagslebens (über Vergessen, Versprechen, Vergreifen, Aberglaube und Irrtum). Frankfurt a.M. 1999, 5-12. 45 Freud [1901] 1999, 7.
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werden zu den gemischten ikonisch-symbolischen Zeichen eines Rebus, das anekdotische Narrativ des Reiseberichts zum wissenschaftlichen Aufsatz. In psychoanalytisch ausgerichteten Studien gelang es, Freuds Verschiebungskette so weit zu vervollständigen, dass weitere Glieder in die Assoziationskette eingefügt werden konnten: In seinem Brief an Wilhelm Fließ vom 31. August 1898 schreibt Freud von seiner enttäuschten Hoffnung auf die Ernennung zum „Herrn Professor“, die der Minister für Bildung, Freiherr von Härtel, vereitelt habe. Auch der ödipale Konflikt mit seinem zwei Jahre zuvor verstorbenen Vater46 sowie mit seinem väterlichen Freund Fließ sind in diesen Kontext gestellt worden.47 Obwohl Freuds Schema zahlreiche psychoanalytische und literaturtheoretische Studien von Lacan bis Anselm Haverkamp gewidmet sind, wurden Freuds Balkanstereotypen, die auf der populären Völkerpsychologie der österreichischen Reiseliteratur gründen, überraschenderweise nie analysiert. Somit avanciert der Balkan nicht nur zu Freuds blindem Fleck, sondern auch zum blinden Fleck der gesamten Freud-Forschung. Wenn man einen Blick auf die zahlreichen österreichischen Reiseberichte über Bosnien wirft, die oft von dort tätigen Ärzten verfasst wurden, entdeckt man hier die Anfänge der Balkan-Thanatologie. Somit manifestiert sich der Todestrieb nicht erst in den Kriegsneurosen als Folge des Ersten Weltkrieges, die Freud als Ausgangspunkt für seine metapsychologische Schrift „Jenseits des Lustprinzips“ (1920) dienten, sondern bereits Ende des 19. Jahrhunderts mit der Emergenz des „Balkans“ als jenseitiger Region. In diesem Zusammenhang sind die zeitgenössischen österreichischen Reiseberichte über Bosnien und die Herzegowina, die Freud vor seiner Reise gelesen haben muss, aufschlussreich. Moriz Hoernes tauft in seinem Reisebericht Dinarische Wanderungen. Kultur- und Landschaftsbilder aus Bosni-
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Lacan, Jacques: Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse. Das Seminarbuch XI. Textherstellung durch Jacques-Alain Miller. Übersetzt von Norbert Haas. Berlin 1996, 33. „Sehen wir nicht, wie dahinter all das sich zeigt, was Freud dazu brachte, in den Mythen vom Tod des Vaters eine Regulierung seines Begehrens zu finden? Letzten Endes trifft er sich hier mit Nietzsche, wenn er, allerdings seinem eigenen Mythos folgend, erklärt, dass Gott tot sei. Kann sein, dass er es aus demselben Grund sagt. Der Mythos des Gott ist tot […] – dieser Mythos ist möglicherweise nur ein Schutz vor der Drohung der Kastration.“ 47 Vgl. Wilden, Anthony: The Repression of the Signifier. In: American Imago 23/4 (1966), 332-366; Weber, Samuel: Rückkehr zu Freud – Jacques Lacans Ent-stellung der Psychoanalyse. Wien [1990] 2000, 107-132; Routier, Pierre: Si vous allez à Orvieto. Contribution à l’analyse de l’oublie des noms propres. In: CyberTrans 5 (1995), 116155 (http://mapageweb.umontreal.ca/scarfond/T5/5-Routier.pdf); Ders.: La leçon de Freud. In: CyberTrans 6 (1995), 205-233. (http://mapageweb.umontreal.ca/scarfond/T6/6-Routier.pdf; Zugriff: 12.06.2008); Owens, Margaret E.: Forgetting Signorelli. Monstrous Visions of the Resurrection of the Dead. In: American Imago 61/1 (2004), 7-33.
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en und Herzegowina (1888) die Strecke von Dubrovnik nach Trebinje in der Herzegowina, einfach den „Weg des Todes“.48 Es bedarf nur ein paar Worte zur Erklärung, warum wir sie einen ‚Weg des Todes‘ nennen. Die Republik Ragusa ist tot; die türkische Herrschaft in den meisten Gebieten, durch welche diese Straße lief, in Bosnien, Serbien, Bulgarien, ist tot, der Verkehr, welcher einst auf derselben herrschte, ist mit der politischen Zugehörigkeit zum Orient abgestorben oder hat sich nach anderen Richtungen gewendet. Nur als befestigte Nachschubslinie im Kriege, als Operationsbasis für mörderische Feldzüge und Guerillafehden […]49
Man befände sich „auf den Spuren der alten und neuen Kriege, Aufstände, Überfälle und Mordtaten“50, „auf einer Gräberstraße zwischen Spuren der Schändung und Verwüstung“.51 Spuren des Todes entdeckt der Autor überall: zum einen in der Landschaft und ihrer Vegetation, wie Schatten und Zypressen, die er als „düster“, „hässlich“, ja „ekelerregend“ bezeichnet, zum anderen in der Physiognomie der Einwohner, den hässlichen Frauentypen mit bronzegelber Haut und brennenden, schwarzen Augen.52 Ferner habe sich die thanatologische Erotik auch in die eintönigen Lieder über Vergewaltigungen53 sowie in die grauenvollen Legenden über den Aberglauben, wie das Einmauern von Liebespaaren in Brückenpfeiler, eingeschrieben.54 Die erste Monographie über Luca Signorelli, die aus der Feder Robert Vischers stammt und 1879 im Stil eines Reiseführers verfasst wurde, enthält wiederum dieselbe Struktur der Unterbrechung linearer Narrative durch Bilder, wie sie sich in Freuds Texten über das Vergessen manifestiert.55 Im Vorwort, noch vor der Beschreibung der Fresken, spricht Vischer den Leser als Reisebegleiter an und lädt ihn zur aufmerksamen Betrachtung des Selbstporträts des Malers ein – des einzigen reproduzierten Bildes aus dem gesamten Freskenzyklus. Da nun erwartete ich stillschweigend, dass mein freundlicher Begleiter, ehe wir uns in den verschiedenen Sälen und Stüblein umschauen, zuerst im Vorzimmer einen Augenblick stillstehe und sich das Bildnis des Meisters recht genau betrachte, die sonderbare, halb widerspenstige, halb bescheidene und schier wehmütige Miene, die
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Hoernes, Moriz: Dinarische Wanderung. Cultur- und Landschaftsbilder aus Bosnien und der Hercegovina. Wien 1888, 168-224, hier 168. 49 Ebd., 174. 50 Ebd., 176. 51 Ebd., 177. 52 Ebd., 184f. 53 Ebd., 186f. Zitiert wird ein Lied über ein Mädchen, das von neun Brüdern Tanković vergewaltigt wurde, die jedoch für ihre Tat von der allmächtigen Natur mit dem Tod durch Blitz bestraft werden. 54 Ebd., 180f. 55 Vischer, Robert: Luca Signorelli und die italienische Renaissance. Eine kunsthistorische Monographie. Mit Signorellis Bildnis. Leipzig 1879.
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sinnigen Augen. Sieht der Mensch nicht wie ein deutscher Landsmann aus und erweckt er nicht Zuneigung, Vertrauen, Ehrfurcht? 56
Das Selbstbildnis Signorellis erinnert Vischer wahrscheinlich wegen der Ähnlichkeiten mit dem Selbstporträt Albrecht Dürers nicht physiognomisch, sondern aufgrund des psychischen Ausdrucks an einen Deutschen. Das Porträt dient als Eintritt ins Bild, bevor der Betrachter mit seinem Reiseführer andere bemalte Zimmer und Säle betritt, in denen die nackten Verdammten vergewaltigt, gefoltert und getötet werden. Auch Signorellis Stil beschreibt der Autor nicht nur mit ästhetischen, sondern auch mit psychologischen Kategorien. Seine Phantasie, sein Stil beruht auf der Gegenüberstellung von Gegensätzen: umbrisch traumhaft und florentinisch klar und fest; züchtig und rücksichtslos das Nackte bloßlegend; elegisch und dramatisch; gemessen, normal, populär und wild, fremdartig, phantastisch; altertümlich und modern; herb und rhythmisch; seltsam befangen und erstaunlich frei und verwegen.57 Das Verhältnis von Bild und Text ist das zentrale Anliegen Vischers, der sich selbst nicht als Kunsthistoriker, sondern als Literat bzw. Analytiker der Literatur, sieht. Das Bild funktioniert für ihn wie ein nicht-analytisches, sensuelles Medium, die Literatur umgekehrt als ein analytisches, temporales: Die Hauptschwierigkeit liegt aber im Unterschied des bildmäßigen, malerischen Vehikels und des sprachlichen. Jenes ist raumgebunden, simultan, auf einmal, ruhig, spannungslos, wesentlich sinnlich und erscheinend; dieses sukzessiv, zeitlich, nacheinander, hüpfend, drängend, dramatisch und wesentlich geistig. Der Literaturhistoriker bewegt sich auf dem gleichen Vehikel wie der Poet; deshalb wird ihm auch die lebendige Verbindung von genetischer und analytischer Betrachtung um so viel leichter als dem Kunsthistoriker, der sich eines anderen Vehikels bedienen muss, und deshalb übertrifft er ihn auch an Popularität und Raschverständlichkeit. Trotz aller Reproduktion, ob sie nun genaues oder ungenaues Gepräge haben, sind eben doch die vielen Gegenstände, worüber der letztere schreibt und worauf er sich teils ausdrücklich, teils stillschweigend bezieht, nicht alle und nicht eigentlich da. […] Der Maler denkt in seelenvollen Formen und wir in Worten. So wenig er im Bilde abstrakte Ideen schildern kann und soll, so wenig sollen und können wir mit unseren Worten einen Ersatz für seine Formen bieten und, versuchen wir es dennoch, so geht im Handumdrehen die Phantasie des Zuhörers über Berg und Tal. […] Das Lessingsche Gesetz, das Naturgesetz, welches einen solchen Wetteifer zwischen Wort und Bild verbietet, steht unerbittlich einer stilvollen Repräsentation der Kunstgeschichte im Wege. Allein, wenn wir auch solchermaßen immer zur Mischung des Beschwerenden mit dem Erquicklichen verdammt bleiben, so können wir uns innerhalb dieser Bedingungen doch so wohnlich als möglich einrichten, können das Beschwerende gewissermaßen isolieren, in einem reservierten Raume, im Hinterhause unterbringen.58
Vischer, der der langen Tradition von der klassischen Antike bis zu Lessings Laokoon (1766) folgt, gibt den ekphrastischen Beschreibungsmitteln der Literatur den Vorrang vor dem Bild. Immer wieder greift er bei der Be56
Ebd., V. Ebd., 162. 58 Ebd., VII. 57
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schreibung der Fresken auf literarische Werke zurück, zitiert aus ihnen und vergleicht sie mit den Bildern. „Das Jüngste Gericht“ in Orvieto sieht er als Illustration von Dantes Inferno, nur hält er dabei Signorelli für „noch pathologischer als Dante“.59 Entschädigt uns Dante mit den eingestreuten Episoden, wo wir es endlich wieder mit konkreten Menschen und Leidenschaften zu tun haben, so bildet dieser Genuss bei Signorelli entscheidend die Hauptsache. An „Fleisch und Blut“ ist hier wahrhaftig kein Mangel. […] Der Reiz des Bösen verbindet sich mit dem Individualitätsprinzip und ergreift so mit Macht und Phantasie einer stark ausgeprägten Künstlernatur. Hierin erscheint Signorelli noch pathologischer als Dante.60
Schon 1870, neun Jahre bevor Vischer seine Monographie über Signorelli verfasste, bewegten sich Kunstgeschichte und Medizin, speziell die Pathologie, aufeinander zu. So stellte Giovanni Morelli, der selbst praktizierender Arzt war, eine neue Methode der Zuschreibung unsignierter Bilder zu ihren Meistern vor. Ihm zufolge sollten auf den Gemälden sekundäre anatomische Einzelheiten, wie Nasen oder Ohren, miteinander verglichen werden, die als Symptome für den jeweiligen Meister zu begreifen seien. Morelli führte damit den medizinischen Symptombegriff in die Kunstgeschichte ein. Noch im 18. Jahrhundert waren diese körperlichen Details der Gegenstand physiognomischer Studien, die den Charakter und die Neigungen des Porträtierten bloßlegen sollten. Carlo Ginzburg unterstreicht hierbei die analoge Vorgehensweise des Kunstkenners, des Psychiaters und des Detektivs, da ihre Methoden gleichermaßen auf der genauen Beobachtung der Details beruhen, die sich als Indizien für verborgene Geheimnisse der Seele offenbaren.61 Morellis Aufsätze erschienen 1874-76 zuerst unter dem Pseudonym Ivan Lermolieff in der Zeitschrift für bildende Kunst und im Jahre 1890 auch in seiner Abhandlung Della pittura italiana, die auch ins Deutsche übersetzt wurde. Peter Swales belegt, dass Freud das Buch während seines Italienaufenthaltes 1897 gekauft hat.62 Wie Reiseberichterstatter und Kunsthistoriker im späten 19. Jahrhundert vereint auch Freud in seinen frühen psychoanalytischen Schriften die poetisch-künstlerische Methode mit der psychologischen. Das Pathologische wird dabei verräumlicht und in Bosnien und die Herzegowina verortet. Die Balkan-Region wird in einen geheimnisvollen Rebus transformiert, dessen Schlüssel die krankhafte Erotik und die fatalistische Todessehnsucht sind.
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Ebd., 196. Ebd., 196. 61 Ginzburg, Carlo: Indizien. Morelli, Freud und Sherlock Holmes. In: Eco, Umberto/Sebeok, Thomas A. (Hrsg.): Der Zirkel oder Im Zeichen der Drei. Dupin, Holmes, Peirce (= Supplemente 1. Hrsg. Hans-Horst Henschen). München 1985, 125-179. 62 Swales, Peter: Freud, la morte e i piaceri sessuali. Sui mecchanismi psichici del Dr. Sigm. Freud. In: Psicoterapia e Scienze Umane XXXVI/1 (2002), 99-125, XXXVI/2, 81-120. 60
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3. Phantasmen des Unverständlichen und Unsichtbaren 3.1. Babylonische Sprachverwirrung Im Zuge des nation building im 19. Jahrhundert wurden die Völkerstereotypen zunehmend psychologisiert und mit diskriminierenden, biologistischrassistischen Theorien angereichert.63 Sie bestanden aus Diskursen und Imaginationen, die sich in reale Texte und Bilder, insbesondere in die Massenmedien wie die illustrierte Presse einprägten. Je angespannter die politische Lage wurde, desto mehr verstärkten sie sich. Bei der Prägung von Balkanklischees erweisen sich die westeuropäischen Reiseberichte im Vergleich zu den osteuropäischen, slawischen als produktiver. Während die Westeuropäer sich meist über Dolmetscher oder über die Gestensprache verständigen mussten, was zu Misstrauen und zu Missverständnissen führte, verlief die Kommunikation zwischen den Slawen, insbesondere zwischen den orthodoxen Russen und den Südslawen, im Geiste der panslawistischen Verbrüderung. Zwei Reiseberichte demonstrieren das jeweilige Muster der Begegnung und der daraus abgeleiteten Stereotypenbildung. Der Russe Aleksandr Popov freut sich auf seiner Reise nach Montenegro (Putešestvie v Černogoriju, 1847) darüber, dass man ihn dort in seiner Muttersprache, auf Russisch, begrüßt und wie ein Familienmitglied nach Hause einlädt. „Russe“, wiederholten die Montenegriner und warfen sich in meine Umarmung. Nach einigen Minuten befand ich mich im Zimmer, in dem der Wladika und der Wesir saßen, umgeben von Montenegrinern und Türken. Sie trafen zusammen, um hier einen Friedensvertrag zu schließen. „Russe“, sagte der Montenegriner, als er mich ins Zimmer führte […] Er [der Wladika] begrüßte mich in fließendem Russisch und stellte mich dem Wesir vor, Rizvan Begović, von Geburt Serbe, wenn auch Mohammedaner! […] „Fühlen Sie sich wie zu Hause!“, sprach der Wladika. […] nach eini63
Zu „nationalen Stereotypen“: Pickering, Michael: Stereotyping. The Politics of Representation. Basingstoke-New York 2001; Hahn, Hans Henning/Hahn, Eva: Nationale Stereotypen. Plädoyer für eine historische Stereotypenforschung. In: Hahn, Hans Henning (Hrsg.) unter Mitarbeit von Scholz, Stephan: Stereotypen, Identität und Geschichte. Die Funktion von Stereotypen in gesellschaftlichen Diskursen (= Mitteleuropa – Osteuropa. Oldenburger Beiträge zur Kultur und Geschichte Ostmitteleuropas). Frankfurt a.M. u.a. 2002, 17-56; Beller, Manfred/Leersen, Joep: Imagology. The cultural construction and literary representation of national characters. A critical survey. Amsterdam-New York 2007; Ewen, Stuart and Elizabeth: Typen & Stereotype. Die Geschichte des Vorurteils. Aus dem Amerikanischen von Dominik Fehrman und Ulrike Seith. Berlin 2009, 122; Einen guten aktuellen Überblick über die Theorien der Stereotypenbildung findet man in: Ruthner, Clemens: Stereotype als Suture. Zur literatur- und kulturwissenschaftlichen Stereotypisierung ‚nationaler‘ Bildwelten. In: Fassmann, Heinz/Müller-Funk, Wolfgang/Uhl, Heidemarie (Hrsg.): Kulturen der Differenz – Transformationsprozess in Zentraleuropa nach 1989. Transdisziplinäre Perspektiven. Göttingen-Wien 2009, 301-322.
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gen Minuten fühlte ich mich tatsächlich so, als wäre ich zu Hause. „Was für ein riesiger Raum trennt Russland und Montenegro, sprach der Wladika, „aber darin, wie schnell wir zusammen kamen, sieht man, dass die Stammesverwandtschaft stärker als jede geographische Teilung ist. Der Russe und der Montenegriner sind immer Brüder, egal wann und wo sie einander begegnen.64
Im Rahmen der panslawistischen Verbindungen stiftet der Stereotyp vom Brudervolk eine allen slawischen Nationen gemeinsame Identität. Nach einem anderen Muster verläuft die Begegnung mit Westeuropäern, die angesichts der fremden Sprachen im Dunklen tappen. Oskar Schmitz flicht in Die Fahrten ins Blaue (1912) aus fremden Worten in Dalmatien eine eigene Balkangeschichte, in der ihm die Rolle eines Ermordeten zukommt. Dann verhandelten die drei zusammen in einem Idiom, in welchem auch die letzten Anker des Verständnisses – lateinisch-italienische Anklänge – von der Wortflut mitgerissen wurden. Sie sprachen offenbar über mich, und es war nicht anders, als gedächten sie, mich zu schlachten, wollten sich aber vorher über die Verteilung der besten Stücke einigen. Ich machte dem ein Ende, indem ich einige ‚Sechserl‘ verteilte und den Ausgang suchte.“65
Ohne kommunikative Grundlage kommt der für jede Interpretation unerlässliche Prozess des Umkodierens und Übersetzens gar nicht erst in Gang. Dem Fremden gelingt es weder, eine dialogische Situation herzustellen, noch sich Gehorsam zu verschaffen. Dialoge münden in Un- und Missverständnis, auf deren Grundlage sich phantasmagorische Prozesse entfalten können, die Übermacht über das Reale gewinnen. Das Unbewusste diktiert fortan das Muster der fortlaufenden Geschichte, auf deren Grundlage sich kein reflektierter Diskurs entfalten kann.66 Das Versetzen des Reisenden in eine präverbale Situation lenkt die Aufmerksamkeit vom Inhalt auf den Rhythmus und den Klang der fremden Sprache. Zugleich kommt es zu einer Verschiebung vom Verbalen ins Visuelle, ins Körperlich-Gestische, das wiederum Vorstellungen von einem körperlichen Ausagieren der Begegnung auf den Plan ruft. 64
Popov, Aleksandr: Putešestvie v Černogoriju. Sanktpeterburg 1847, 3f. «Русс», повторили Черногорци, и бросились обнимать меня. Через несколько минут я очутился в комнате, где сидели Владика и Визирь, окружонные Черногорцами и Турками. Они съехались здесь для заключения мирнаго договора. «Русс», сказал Черногорец, введший меня в комнату. […] Он приветствовал меня чистым Русским языком и представил визирю, который был родом Серб, Ризван Бегович, хотя Магометянин! […] «Будте как дома», говорил Владика, […] Через несколько минут я в самом деле был как дома. «Какое огромное пространство разделяет Россию и Черногорию, говорил Владика, и вот как скоро мы сошлись, видно родство племенное сильнее географических разделений. Русский и Черногорец всегда братья, когда и где бы встречались.» 65 Schmitz, Oskar A.H.: Die Fahrten ins Blaue. Ein Mittelmeerbuch. München 1912, 103. 66 Zur Unterscheidung von nichtreflektiertem Narrativ und reflektiertem Diskurs: Murašov, Jurij: Im Zeichen des Dionysos. Zur Mythopoetik in der russischen Moderne am Beispiel von Vjačeslav Ivanov. München 1999, 1-20.
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Der Balkan wird zum schwebenden Signifikant deterritorialisiert und besteht nur noch aus Klängen, Rhythmen und imaginären Bildern. Die Sprachverwirrung birgt auch Risiken in sich. So dreht Juli Zeh während ihrer Reise durch Bosnien 2001 in der Sommerhitze beim Duschen im Hotelzimmer nicht den Wasserhahn mit dem Buchstaben „H“ auf – auf Kroatisch die Bezeichnung für „Hladna“, kaltes Wasser. Aus Verwirrung interpretiere ich an der Dusche „H“ als Hot, drehe den anderen Hahn auf und verbrühe Gesicht und Brustbein. Zwei Sekunden lang bin ich vom Schmerz gebannt, bis mir gelingt, das kochend heiße Wasser abzudrehen. Fluch über Babel, Fluch den elektrischen Boilern. Unter „Hladna“ kühle ich die brennende Haut. Wenigstens passt die Gesichtsfarbe zum Auge.67
Wie die Psychoanalyse bewiesen hat, fällt gerade der Verbalisierung bei der Bewältigung von phantasmatischen Prozessen eine zentrale Rolle zu. So lassen sich Phantasmen trotz ihrer großen Widerstandsfähigkeit gerade im Dialog, durch lange andauernde Gesprächstherapien, zähmen. Auch das Phantasmagorische in der Literatur lässt sich, wie Renate Lachmann herausgearbeitet hat, nur durch rhetorische Einrahmungen und Benennungen einigermaßen bändigen.68 Diese Funktion der Sprache wird bei der Begegnung mit der fremdsprachigen Kultur außer Kraft gesetzt. Doppeldeutige visuelle Zeichen und präsemiotische Geräusche, die als verborgene Indices gedeutet werden, avancieren zu den wichtigsten Werkzeugen bei der Dekodierung der fremden Kultur. Wie Homi Bhabha gezeigt hat, schildern Reiseberichte in kolonialen Diskursen ambivalente Prozesse, in denen das Phantasmatisch-Fremde durch eigene narzisstische Bilder außer Kraft gesetzt wird.69 So begegnet man auch in Karl Mays fiktiver Reise Die Schluchten des Balkans (1892) zuerst der Polysemie und der Unmöglichkeit, eindeutig den Referenten zu bestimmen. Dem Leser wird zwar Übersetzungshilfe angeboten, die aber nur eine Kette von Assoziationen auslöst. Seinen eigentlichen Namen wusste niemand. El Aßfar, Ssary, Schut, so wurde er genannt, je nach der Sprache, derer man sich bediente. Diese drei Wörter bedeuten ‚der Gelbe‘. Vielleicht hatte er diese Färbung infolge einer Gelbsucht erhalten. Schuta ist das serbische Femininum von Schut und bedeutet ‚die Gelbe‘.70
Auch phonetische Anweisungen zur Aussprache evozieren lediglich den Klang des Balkans: „Das ‚sch‘ des Wortes ist wie das ‚j‘ im französischen ‚jour‘ auszusprechen“.71 Der Balkan wird zum Ort der babylonischen 67
Zeh, Juli: Die Stille ist ein Geräusch. Eine Fahrt durch Bosnien. Frankfurt a.M. 2002 [2001], 213. 68 Lachmann, Renate: Erzählte Phantastik. Zur Phantasiegeschichte und Semantik phantastischer Texte. Frankfurt a.M. 2002, 45-78. 69 Ruthner 2009, 314-318. 70 May, Karl: In den Schluchten des Balkans. Bamberg-Radebeul 2003, 21. 71 Ebd., 72.
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Sprachverwirrung, wo die Sprache ausschließlich der Täuschung und Maskierung dient. Er hatte den Ausruf in walachischer Sprache getan. War er ein Walache? In so unbewachten Augenblicken pflegt der Bestürzte sich oft seiner Muttersprache zu bedienen. „Ich bin ein Serbe, aus Lopatitza am Ibar gebürtig.“72 […] Das war wieder walachisch. Er schien mir doch kein Serbe zu sein.73
Die Kommunikation mit dem Balkanmenschen verläuft für den Fremden notwendigerweise über ikonisch-indexikalische Zeichen, wie Mimik und Gestensprache: „Na, verständlich mache ich mich schon. Geht es nicht mit Worten, so geht es mit Pantomimen. Das Gesichterschneiden ist ja eine Universalsprache, die jeder begreift.“74 Doch diese Universalsprache sagt nur Eins aus – dass der Fremde immer etwas im Schilde führt. Nur Mays allmächtiger, narzisstischer Ich-Erzähler Kara ben Nemsi, der wie ein Apostel den Andersgläubigen die Bibel vermittelt, beherrscht alle Balkansprachen und -dialekte. Mit seiner starken Faust rettet er sich und den Leser aus allen gefährlichen Situationen. Seine sichere Bewegung durch das Land, sein Ritt, wird mit der Beherrschung der Wortkunst, seinem Erzählen, gleichgesetzt.75 Die fremde Sprache zu beherrschen bedeutet, sich auf fremdem Terrain auszukennen. Zeh versucht mit Hilfe eines neuen Esperantos – des „Endepols“, die Kommunikation auf dem Balkan zu meistern. Dieses besteht aus den Wörtern aller Sprachen, die sie beherrscht, und aus Gesten. Schnell beschließe ich die Entstehung einer neuen Sprache: Das Endepol. Es besteht aus zehn englischen, hundert deutschen und einer Menge polnischer Wörter und kommt fast ohne Grammatik aus. Es gibt nur eine Zeit, die Gegenwart, und keine Personen. Dafür zeigende Bewegungen auf mich selbst, den Hund und den Bus. Ich erkläre meinen Plan, fuchtele mit den Armen und könnte ohne weiteres eine Skizze zeichnen, mit gestrichelten Linien und Richtungspfeilen.76
Doch ihr sprachliches Experiment bringt sie nicht weit. Das „Endepol“ erfüllt ausschließlich die phatische Funktion der Sprache (nach Roman Jakobson), die der Herstellung des Kontaktes dient, jedoch keine Inhalte vermitteln kann. 72
Ebd., 72. Ebd., 73. 74 Ebd., 248. „Es war ein eigentümlicher Ritt. Ich erzählend und er still zuhörend. Nur zuweilen warf er eine kurze Frage ein oder sprach ein Wort der Verwunderung aus. Wir ritten im schärfsten Trab und er hatte sehr zu tun, sich an meiner Seite zu halten. Dennoch achtete er mehr auf meine Worte als auf Pferd und Weg und da kam es vor, dass er bei einem Stolpern oder bei einem unerwarteten Sprung seines Gauls den Bügel verlor und dabei ein Kraftwort ausrief, das zu dem Inhalt meiner Erzählung keine ganz passende Interjektion bildete. Aber wir kamen körperlich schnell vorwärts, und geistig oder vielmehr geistlich machten wir auch Fortschritte, wie ich bemerkte.“ 75 Ebd., 249. 76 Zeh 2002, 19. 73
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Endepol versagt, weil die Komponenten „En“ und „De“ ihre Wirkung verfehlen. Wie es sich in einer Unterhaltung gehört, sprechen wir abwechselnd. Ohne dass ich ein Wort seiner Fragen verstehe, gelingen meine ersten drei Antworten mit Bravour: „Aus Deutschland“, „keine Rasse, ein Mischling“, und „er heißt Othello“. Von da an errate ich pro Satz ein Wort. Langsam und deutlich erwidere ich auf Polnisch etwas, dass ich immer sagen wollte. Wir freuen uns, nicken und lächeln wie Bekloppte.77
Die Verwendung des „Endepols“ ist daher eingeschränkt: „Endepol ist nett, aber nicht die richtige Sprache, um ein Buch zu kaufen.“78 Die Mehrsprachigkeit auf dem Balkan färbt auch auf die Vorstellung ab, dass die Balkanländer unfähig sind, in der Politik zu einer gemeinsamen Sprache zu finden. Lange bevor Benedict Andersons die Bedeutung der einheitlichen Schriftsprache für die Nationsbildung hervorgehoben hat,79 kam der Spezialkorrespondent des Daily Telegraph, Granville Fortescue, während des Ersten Weltkriegs zu derselben Schlussfolgerung. In seinem Reisebericht Russia, the Balkans and the Dardanelles von 1915 schließt er von der sprachlichen Vielfalt der Einheimischen auf die gegenseitige Feindschaft und die Unfähigkeit, eine Nation zu bilden.80 Der Nationalsozialist Lutz Koch ging, der Vorstellung der Rassenreinheit folgend, in der Verbindung von Sprache und Nation noch weiter. In seinem 1941 erschienenen Bericht Reise durch den Balkan. 20 000 Kilometer Autofahrt durch Ungarn, Rumänien, Bulgarien, die Türkei, Griechenland, Albanien und Jugoslawien werden sowohl die Sprachen als auch die Völkern als „verfilzt“ vorgestellt und ihnen insofern jegliche Eigenständigkeit abgesprochen. Wie anders tritt uns der Balkan entgegen. Nie gehörte Sprachen, fremde Sitten, ein verfilztes Gemisch von Völkern und Rassen und eine fremde Religion, der Islam, stehen, je weiter wir auf dem Balkan vordringen, um so eindringlicher als Zeugnis der Fremde, des völlig Andersartigen vor uns. Wir sind auf ein Gebiet gelangt, das seit grauen Vorzeiten Tummelplatz eindringender und den Boden ihrer Heimat zäh verteidigender Völker war, von denen jedes eine Spur über die Jahrtausende zurückließ, die heute noch leuchtkräftig genug ist, um das Becken des Balkans zu einem Tummelplatz der blutvollen Geschichte von zwei Jahrtausenden zu machen. 81
Peter Handke lässt im Abschied des Träumers vom Neunten Land. Eine Vergänglichkeit, die vergangen ist. Erinnerung an Slowenien (1991) seine Erfahrung des fremden Landes parallel zum Erlernen der Sprache verlaufen. 77
Ebd., 39f. Ebd., 69. 79 Anderson, Benedict: Imagined Communities. Reflections on the Origin and Spread of Nationalism. London-New York 2006, 37-46. 80 Fortescue, Granville: Russia, the Balkans and the Dardanelles. London 1915, 160. “There is no unity of aim among the heterogeneous races that are joined to form the Austro-Hungarian Empire. No crystallizing sentiment for rallying the peoples of diverse communities exists. There is no common point of view, no common speech, no common future. How can such a nation hold together?” 81 Koch, Lutz: Reise durch den Balkan. 20 000 Kilometer Autofahrt durch Ungarn, Rumänien, Bulgarien, die Türkei, Griechenland, Albanien und Jugoslawien. Berlin 1941, 152. 78
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Am Anfang tut sich der Schriftsteller ebenso schwer mit der slowenischen Sprache wie mit seiner teils slowenischen Herkunft: „Dem Kind aus der deutschen Großstadt waren die slawischen Urlaute ein Gräuel für die Ohren, es fuhr bei Gelegenheit sogar der eignen Mutter deswegen über den Mund.“82 Erst „erzählte Bilder“ und das Lesen der Sprache bringen ihm Slowenien näher, so dass er – obwohl ein Fremder – dort beginnt, sich zu Hause zu fühlen. Dabei wird die Sprache zum Supplement für das Land und seine Geschichte. Die „dinghafte, sanftmütige, ungekünstelt-anmutige“ slowenische Sprache83 nimmt eine gegenständliche Konsistenz an, durch die auch Dinge „gegenständlicher“ und „wirklicher“ erscheinen als im Westen: Sie [die Wörter] entzogen sich nicht […] wie in der Westwelt. 84 […] Über die Einzelheiten hinaus ist eine lange Zeit das ganze Land als solch ein Ding wirksam gewesen, als ein Land der Wirklichkeit, und wie es mir schien, nicht allein für den Besucher, auch für die Ansässigen.“85
Gerade die „Geschichtslosigkeit“ des Landes, das nie ein selbständiger Staat war, ermöglicht laut Handke eine intensive Vergegenwärtigung durch die Sprache.86 Die Sprache verdichtet sich zum sakralen Ort der nationalen Existenz, in der Zeit und Raum in einer gesteigerten Präsenz transzendiert werden. Als 1991 durch ein Volksreferendum die Abtrennung Sloweniens von Jugoslawien und die Gründung eines autonomen Staates beschlossen wurden, sprach Handke den Slowenen bereits aufgrund der Sprache das Recht auf Eigenstaatlichkeit ab. Im Gegensatz zum Serbischen wäre das Slowenische nicht dazu geeignet, Befehle zu formulieren, und folgerichtig auch nicht, einen Staat zu regieren. Was im ersten Idiom sofort geläufig und selbstverständlich aus ihm schallte, trompetete, knarrte, zischte, peitschte, schnellte, verlor in seinem angeborenen jeden Rhythmus, sträubte sich gegen das Laut-Werden, bog sich, gleichsam instinktiv, wie bei Kafka die Kinder, die „unter dem Wind“ laufen, weg von der Aufgeregtheit, kam mit jeder Silbe aus dem Marschtritt, wich aus vor dem Marschblasen, bauschte und buchtete sich zur Melodie, bis der Sprecher seine slowenischen Befehlsversuche schließlich belustigt-schicksalsergeben abbrach.87
Auch bei Handke dient die fremde Sprache nicht der Kommunikation. Sie begegnet ihm als selbstwertiges Ding und Slowenien als Reich der Laute. Zwei Jahre später, als der Krieg in Bosnien wütete, äußerte sich Handke in einem Interview für den Band Die Geographie des Menschen (1993) positiv über die Vielsprachigkeit im ehemaligen, nun zerfallenen Jugoslawien. In 82
Handke, Peter: Abschied des Träumers vom Neunten Land. Eine Vergänglichkeit, die vergangen ist: Erinnerung an Slowenien. Frankfurt a.M. 1991, 9. 83 Ebd., 19. 84 Ebd., 13. 85 Ebd., 15. 86 Ebd., 19. 87 Ebd., 49f.
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Jugoslawien, dem er nachtrauert, seien die unterschiedlichsten Sprachen gerade die Bausteine einer multinationalen Architektur gewesen. Ich empfand Jugoslawien immer als das Gegenteil von einem Turmbau von Babel, wo die verschiedenen Sprachen den Turmbau zum Stoppen gebracht haben. Im Gegensatz dazu fand ich diese Sprachenvielfalt von slawischer, albanischer, ungarischer oder auch rumänischer Sprache in Jugoslawien als fruchtbar, als ob das eher ein Turm himmelwärts gewesen wäre. So habe ich es empfunden – jedenfalls nicht als Hindernis.88
Die Vielfalt der Sprachen mache es möglich, neue Winkel der Welt zu entdecken, die es ohne sie nicht geben würden. Durch die schöpferische Kraft der Benennung erschaffe sie neue Orte, ermögliche neue Begegnungen und rege neue Erzählungen an. Wie vorher das geschichtslose Slowenien existiert nun das sich auflösende Jugoslawien nur noch in der Polyphonie der Sprachen. Die wunderbare Vielfalt der Sprachen! Es ist etwas Herrliches, dass eine Sprache etwas nicht hat, was die andere hat, aber auf eine gewisse Weise ergänzen einander alle. Ich glaube eher, dass diese Sprachenverwirrung – um auf den Turm von Babel zurückzukommen – zuerst etwas sehr Bestürzendes, im Wortsinn hat. Aber, auf die menschliche Ewigkeit bezogen auch etwas sehr, sehr Fruchtbares ist für die Völker – sich untereinander auszutauschen, bis in die Winkel der Sprache, die auch die Winkel der Welt sind. So war das damals in dem Jahr, als ich versucht habe, das Slowenische ein bisschen zu lernen, weil es schön ist, die Orte der Landschaft bezeichnet zu finden, die für mich vorher keine Orte waren. Dadurch, dass sie bezeichnet waren, sind sie Orte geworden. In Slowenien und in Südkärnten, da sehe ich die unscheinbaren Orte gut, – sie bekommen eine Bedeutung. In Frankreich haben diese kleinen Orte für mich keine Bedeutung, aber in Slowenien und Kärnten haben sie für mich Bedeutung, die unscheinbaren, die nicht pittoresken Orte, von denen die Menschen am meisten leben. Wenn man sagt: Ja, da war doch dieser Weg, weißt du noch, da war so ein kleines Dreieck in der Mitte, wo die Wege zusammengekommen sind – da kann man alle Leute zum Reden bringen, nicht nur zum Reden, sondern zum Erzählen. Wenn einer der Politiker das Geheimnis beherrschen würde, wenn ein Politiker ein Erzähler wäre, dann wäre vieles nicht so arg geworden – der würde die Leute zum Erzählen bringen, und Erzählen ist Versöhnen.89
Mit seiner „Geh-Heimat“,90 dem durchwanderten Slowenien, aus dem seine Vorfahren kamen, verständigt sich Handke nicht durch das Sprechen, sondern durch ein der Glossolalie ähnliches Summen: „Und dann wird alles gefährlich, was mit Heimat zu tun hat, wenn das wirklich tiefe, stille Gefühl aufhört, das fast keine Sprache hat, nur manchmal einen Summton, nicht einmal ein richtiges Lied. Wenn das aufhört, ist man verloren.“91 Slowenien und der Balkan werden zu einem Urklang, zur Heimat der Heimat. 88
Handke, Peter: Es gibt eine Geographie des Menschen. In: Maier, Michael/Ferk, Janko (Hrsg.): Die Geographie des Menschen. Gespräche mit Peter Handke, Reiner Kunze, Carl Friedrich von Weizsäcker und Leonardo Boff. Linz 1993, 7-29, hier 9. 89 Ebd., 15f. 90 Ebd., 11; Vgl. auch: Handke, Peter: Die Wiederholung, Frankfurt a.M. 1986. 91 Ebd., 12.
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3.2. Schleier Der psychologischen Dimension der Literatur bei der Auseinandersetzung mit dem Fremden schreibt die deutsch-amerikanische Literaturwissenschaftlerin und Psychoanalytikerin Gabriele Schwab eine derart bedeutende Rolle zu, dass sie Reiseberichte und fiktionale Texte über fremde Länder als „imaginäre Ethnographien“ bezeichnet.92 Literatur beschreibt nicht nur Kulturen, sondern formiert sie als „kulturelle Imaginationen“. Das fremde Land, so Schwab, entfalte sich sozusagen aus dem Narrativ, in das Spuren nicht nur der Erfahrungen, sondern auch der Imaginationen – der Wünsche, Ängste und Phantasien – eingebettet werden. Literatur wird somit zum „experimentellen Feld“ für kulturelle Begegnungen, in die der Autor den Leser einbezieht. In diesem kulturellen Experiment vermischt sich nicht nur das Objektive mit dem Subjektiven, sondern auch das individuelle Erlebnis mit der kollektiven Teilnahme. Psychische Prozesse können dabei ein so großes Ausmaß annehmen, dass das Unbewusste nicht nur mit dem Realen interferiert, sondern es sich beinahe völlig von der Realität entfernt und sie sogar überschreibt. In diesem Fall gehen eher schablonisierte, festgelegte Stereotype in amorphe Phantasmen über, die von dem Real-Sichtbaren entbunden werden und sich ungebändigt im Bereich des Imaginären entfalten.93 Der psychologische Impuls geht aber nicht nur von den Reiseberichten aus, sondern er funktioniert auch in umgekehrter Richtung, nämlich – um sich wieder dem Balkan um 1900 zuzuwenden – von den Ärzten zu den Reiseberichterstattern. Gino Bertolini, der Begründer der psychologistischen Rassenforschung in Italien,94 verwischt in seinem Reisebericht Tra Mussulmani e Slavi. In automobile attraverso Bosnia e Erzegovina, Dalmazia e Croazia (1909) vollkommen die Grenze zwischen Ethnographie und Psychologie und stellt sogar einen Zusammenhang zwischen der Ablehnung von Ärzten und der Häufigkeit von Nervenkrankheiten bei den Bosniern her. Die Mohammedaner haben übrigens sehr wenig Vertrauen zu den Ärzten, was vielleicht nicht ohne Einfluss auf die Gesundheit ihrer Nerven ist. Sie glauben an Amulette 92
Schwab, Gabriele: Imaginary Ethnographies. Literature, Culture & Subjectivity. New York 2012, 1-23. 93 Zum psychoanalytischen Verständnis des Phantasmas: Lacan 1996, 219f. 94 Bertolini, Gino: Balkan-Bilder. Eine Studienreise durch den Hexenkessel von Europa. Autorisierte Übertragung aus dem Italienischen von M. Rumbauer. Leipzig 1909; Le anime criminali; Italia. L’ambiente fisico e psichico; Italien und der Krieg. Ein Rassenkrieg! Übertragen von Adolf Sommerfeld. Mit einem Geleitbrief von Gerhard Hauptmann und einer Einleitung des Übersetzers. Charlottenburg 1914; Die Seele des Nordens. Studien und Reisen durch Norwegen, Schweden und Dänemark. Aus dem Italienischen übertragen von Allan Mac Lean. Berlin 1910 (it. L’anima del nord. Studi e viaggi attraverso Norvegia, Svezia e Danimarca. Milano 1908).
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viel mehr, als an die Ärzte. […] Um ein Amulett herzustellen, schreibt man einige Zeilen aus dem Koran auf, fügt Leinwand und Wachs hinzu, und der Talisman ist fertig. In ein kleines, rotes Zeugläppchen gewickelt, legt man ihn aufs Herz. Nicht selten hängt man ihn auch den Pferden um. Er ist ein Schutz gegen den ‚bösen Geist‘, dient als Liebeszauber und bewirkt, dass ein Weib nicht ein ‚Rosenstrauch ohne Blüten‘ bleibe. Er dient auch dazu, Untreue zu rächen. Man erzählt, dass ein getäuschter Liebhaber einstmals drei Amulette von sich warf und eins dem Winde, das zweite dem Feuer und das dritte dem Wasser weihte. Die schöne Untreue büßte mit dem Tode.95
Die psychischen Krankheiten schreiben sich nun auch in die Seele der Einwohner ein. Auch der Reisende selbst wird im fremden Land von einem psychophysiologischen Rhythmus des Landes erfasst, der ihn – wie sein Auto – zu einer heißen, keuchenden und schnaufenden Maschine transformiert. Nicht immer ging das Automobil wie ein Weberschiffchen, ruhig und schnell! Nicht immer vermochte es, unseren Gedanken einen schnellen, beständigen Flug zu verleihen. Ein kolossaler Dampf umhüllte zuweilen unser ganzes Gefährt und durchschütterte es heftig. Demzufolge erregte und verwirrte sich unsere Phantasie. Beschleunigtes Pochen, mühsames Keuchen, heiße Glut und ein Schütteln und Stoßen – lauter Kundgebungen einer wirklichen, selbstständigen Seele wechselten und folgten einander! […] Und unsere Seele wiederholt innerlich den Rhythmus und die Kadenzen, die außen erklingen… Besonders in heutiger Zeit, wo der Mensch zu wenig sich selber lebt, da er den Vorgängen draußen zu viel Aufmerksamkeit widmet! Er lebt nicht mehr am Herd, sondern am Fenster seines Hauses, von wo aus er die Welt betrachtet.96
In diesem Prozess werden die äußeren Bilder entzogen, um den imaginären, inneren Platz zu machen. Bertolini setzt dafür die freudsche Metapher des Dampfes ein, der sich aus einem überhitzten Auto erhebt und die Reisenden in eine heiße phantasmatische Wolke hüllt: „Ein kolossaler Dampf umhüllte zuweilen unser ganzes Gefährt und durchschütterte es heftig. Demzufolge erregte und verwirrte sich unsere Phantasie.“97 Doch gerade das Eintauchen des fremden Landes in die Dampfwolke ermöglicht dem Reisenden ein exzessives imaginäres Eindringen ins Verborgene. Das geblendete, von seinem Blick getrennte Auge taucht in die imaginierte Substanz ein und wird durch den Verlust der Wahrnehmung zum tastenden Auge.98 Bernhard Weidefels beschreibt in Anlehnung an Merleau-Ponty diesen Effekt als eine Erfahrung der Fremdheit und des „Selbstentzugs, in dem das Sehen sich selbst entgleitet und ein unendliches Sehbegehren auslöst, das in keiner Augenlust Befriedigung 95
96 97 98
Bertolini, Gino: Tra Mussulmani e Slavi. In automobile attraverso Bosnia e Erzegovina, Dalmazia e Croazia. Con fotografie originali. Milano 1909; Dt. Muselman und Slaven. Dalmatien – Istrien – Kroatien – Bosnien und Herzegowina. Zweite Ausgabe. Autorisierte Übersetzung aus dem Italienischen von M.[artha] Rumbauer. Leipzig 1911, 202f. Ebd., 171. Ebd., 171. Zum Verlust (in) der Wahrnehmung: Tholen, Georg Christoph: Die Zäsur der Medien. Kulturphilosophische Konturen. Frankfurt a.M. 2002, 61-110.
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findet.“99 An die Stelle der konkreten Objekte der Betrachtung schiebt sich eine feste simulakrale Substanz, die aus der Verflechtung des Sichtbaren mit dem Nicht-Sichtbaren besteht. Reale Objekte werden simulakralen Bildern gleichgestellt, in ihre imaginäre Ordnung eingeschlossen und schließlich durch sie ersetzt.100 Ähnliche Sehbeschwerden tauchen auch in vielen anderen Reiseberichten101 und in der fiktionalen Literatur über den Balkan auf.102 Die Erforschung des Unsichtbar-Geheimnisvollen geht Hand in Hand mit einer populärwissenschaftlichen Analyse der ausländischen Frauen, die als Hysterikerinnen beschrieben werden und deren Verhalten von dem einer koketten Lolita bis zu dem einer erotisierten, gefährlichen Raubkatze oder Spinnenfrau reiche. Wie Freud verknüpft auch Bertolini Psychopathologie mit Sexualität. In der Tradition der psychopathologischen Forschung Jean-Martin Charcots an der Salpêtrière in Paris (Iconographie photographique de la Salpêtrière, 1876)103 und des Turiner Arztes und Anthropologen Cesare Lombroso (La donna delinquente, la prostituta e la donna normale, 1893) nimmt die Frau den Platz des zentralen Untersuchungsobjekts auf dem Balkan ein. Analog zur ikonographischen Tradition der imperialistischen Malerei, die eroberte Kontinente in Form von entblößten weiblichen Personifikationen 99 100 101
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Waldenfels, Bernhard: Spiegel, Spur und Blick. In: Boehm, Gottfried (Hrsg.): Homo Pictor (= Colloqium Rauricum 7). München-Leipzig 2001, 14-31, hier 29. Vgl. Tholen 2002, 80f. Oft passieren Reisende die Grenzen des Balkans im Traumzustand. Traumbilder rufen wie unterschiedliche Zerrspiegel optische Täuschungen hervor (vgl. Wieman, Bernard: Bosnisches Buch. Kempten-München 1908, 4f.; Londres, Albert: Terror auf dem Balkan. 1932, 126f.; Zeh, Juli: Die Stille ist ein Geräusch. Eine Fahrt durch Bosnien. Frankfurt a.M. 2002, 44, 49). Nicht nur optische Täuschungen, sondern der Gesichtsinn selbst bereitet den Reisenden Probleme. Zeh kämpft seit dem Beginn ihrer Reise nach Bosnien mit Augenproblemen. Bald hat sie das Gefühl, als würden die Augen nicht mehr ihr gehören, als würde ein balkanischer Sandmann die Macht über sie ergreifen (16, 123). Zugleich kann sie nicht mehr entscheiden, ob die Trübung der Sehkraft in ihrem Kopf oder außerhalb entsteht (35, 233). In Graham Greens Kriminal- und Spionageroman Orientexpress (1932) wird der Gesichtssinn im Zug durch die Wärme des Atems getrübt, der die Fensterscheiben beschlagen lässt. Bald bilden sich am Fenster Eisblumen, die eine kaleidoskopartige Wahrnehmung hervorrufen (Green, Graham: Orientexpress. Roman. Hamburg 1990, 11). Auch wenn die Reisenden einmal den Zug verlassen und mit dem Auto auf einer vorherbestimmten Strecke weiterfahren, sehen sie vom entsprechenden Land kein bisschen mehr. Dieses scheint sich selbst in einem Schleier aus Finsternis und Schnee zu verbergen. Auch die Einheimischen, wie z.B. der Taxifahrer, scheinen sich dort instinktiv zu bewegen und nicht ihrem Gesichtsinn zu vertrauen (Green 1990, 149). Erinnert sei an den berüchtigten Fall der Céline, die während ihrer hysterischen Anfälle in erotisierenden Posen photographiert wurde; Vgl. Didi-Huberman, Georges: Ästhetik und Experiment bei Charcot. Die Kunst, Tatsachen ins Werk zu setzen. In: Clair, Jean/Pichler, Cathrin/Pichler, Wolfgang (Hrsg.): Wunderblock. Eine Geschichte der modernen Seele. Wien 1989, 281-296.
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darstellte, werden auch die südslawischen Regionen Kroatien, Dalmatien, Bosnien und die Herzegowina durch reale oder imaginierte Frauen – Milèna, Berta, Milica und Leila – repräsentiert, deren verborgenen Begierden dem Leser preisgegeben werden. Den orientalistischen Stereotypen entsprechend, wirken sie zugleich anziehend und bedrohlich. Hinter dem Eros des Lustprinzips lauert auf den Reisenden stets auch der Thanatos des Todestriebes. Es lebt doch eine seltsame Psyche in der Slawin, sobald sie sich loszulösen weiß von der Unwissenheit, dem Aberglauben und der Wildheit, in der sie aufgewachsen! Ein Abglanz der angeborenen Eigenschaften wird immer aus einer dunkelfarbigen Schönheit leuchten. Ihr Blick wird stets ein wenig in das Unbewusste schweifen, die Neigung zum Übernatürlichen, der despotische Wille wird zu erkennen sein. Erotische Leidenschaft, die in allen Skalen zu erklingen weiß – von der silberhellen Kinderstimme bis zu den Tönen tollen Übermuts und wilder Grausamkeit! […] Milènas Augen waren klar und sanft. Aber wer vermag ihre Tiefe zu ermessen! […] Es gibt Labyrinthe, durch die uns ein seidener Faden führen kann… plötzlich aber stürzen sie zusammen.104
Die erste Frau Milèna, eine kroatische femme fatale aus Otočac in Kroatien, lernt der Reisende tatsächlich kennen. Sie dient dem Berichterstatter als Ausgangspunkt für das Eintauchen in das fremde Land, doch allmählich beginnt sie, mit der dortigen Landschaft zu verschmelzen. Meine Gedanken schweiften zu Milèna zurück, zu jener hochgewachsenen, frischen und gewandten Slawin, mit den tiefen Augen und der tiefen Seele. Tief wie ein Strudel, in den uns das Vergnügen lockt, der uns aber auch den Tod bringen kann! Dieses Weib begleitet die Landschaft… Die Schöne von Otočac lebt hier weiter unter den psychischen Merkmalen dieses an Gegensätzen so reichen Himmelsstriches mit seinen rauen Felswänden, seinen grün schimmernden Weideplätzen. Sie lebt weiter in diesen Tälern, wo sich stundenweise der eifrige Nordwind einfängt oder der feuchtwarme, linde Zephyr des Orients weht. Es ist Milèna, die wollüstige Milèna, mit ihren Meeresaugen, die auf die Berge gerichtet sind!105
Die geheimnisvolle Landschaft verschmilzt metaphorisch mit den verborgenen Regionen der weiblichen Psyche. Der Reisende imaginiert Milènas inneres Leben, das in ihren Augen sichtbar ist, und schreibt ihr ein erotisches Verhalten zu, das vom scheuen Mädchen bis zur grausamen, despotischen Herrin reicht. Als verkehrte Ariadne lockt sie den männlichen Besucher an einem seidenen Faden ins geheimnisvolle Labyrinth hinein, das zu einer tödlichen Falle werden kann. Die Erschließung des Landes mündet in der Metaphorik eines imaginierten Liebesaktes. Die ganze Romantik der slawischen Grazie umschwebte dieses Weib. Ihr Körper war zierlich und doch kräftig, ihr Geist freimütig und entzündbar. Ihre Bewegungen zeugten von Ruhe, aber es war die Ruhe des Meeres… Es lebt doch eine seltsame Psyche in der Slawin, sobald sie sich loszulösen weiß von der Unwissenheit, dem Aberglauben und 104 105
Bertolini 1911, 46, 47. Ebd., 52f.
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der Wildheit, in der sie aufgewachsen! Ein Abglanz der angeborenen Eigenschaften wird immer aus einer dunkelfarbigen Schönheit leuchten. Ihr Blick wird stets ein wenig in das Unbewusste schweifen, die Neigung zum Übernatürlichen, der despotische Wille wird zu erkennen sein. Erotische Leidenschaft, die in allen Skalen zu erklingen weiß – von der silberhellen Kinderstimme bis zu den Tönen tollen Übermuts und wilder Grausamkeit! […] Milènas Augen waren klar und sanft. Aber wer vermag ihre Tiefe zu ermessen! […] Es gibt Labyrinthe, durch die uns ein seidener Faden führen kann… plötzlich aber stürzen sie zusammen.106
Der Erzähler fügt seiner psychomorphotischen Beschreibung sogar das ethnographische Photo einer Frau in Volkstracht hinzu, das diese beim Spinnen zeigt (Abb. 8). Es handelt sich dabei nicht um ein Photo, das während der Reise aufgenommen wurde und die Frau bei der Arbeit in ihrem realen Ambiente zeigte, sondern um ein gestelltes Photo, das im Atelier entstand. Abb. 8: Photographie einer Spinnerin, Gino Bertolini, Muselman und Slaven. Dalmatien – Istrien – Kroatien – Bosnien und Herzegowina, 1911.
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Ebd., 46f.
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Die Frau posiert als Spinnerin, wobei die Spindel zur Metapher des gefährlichen Strudels wird, in dem sich Eros und Thanatos verflechten. Das ethnographische Merkmal wird somit in ein psychologistisches transformiert. Auch in Bosnien und der Herzegowina begegnet der Reisende „blühenden Frauen mit der Spindel in der Hand“.107 Und bei den Herden Türkinnen, üppige und strenge, edle und beschauliche Weiber, die Spindel in der Hand…! […] und meinen Lebensfaden nur um die Spindel einer Hirtin geschlungen! Die Strahlen des Lichts fallen auf und nieder, wie das Augenlid sich senkt und hebt… Das Spiel des Lichts wird Liebesspiel… Und wenn die Sonne dann untergeht… o, lieben, lieben mit ganzer Gewalt, hinuntertauchen in den unendlichen Strudel!… Leila! Leila!108
Das Motiv des Spinnens verknüpft Bertolini mit den Parzen aus der römischen Mythologie, die über den Lebensfaden herrschen.109 Die slawische Frau erscheint auf diese Weise als ‚Spinnenfrau‘, die Männer mit ihrem Faden in das Labyrinth der Leidenschaften lockt, in dem diese schließlich die Zeit vergessen. Je weiter Bertolini ins Land vordringt, desto mehr werden die Frauen ein Produkt der männlichen Phantasie, insbesondere in Bosnien und der Herzegowina, wo es keine Gelegenheit gibt, mit Frauen Bekanntschaft zu machen. Da sie zudem ihre Körper unter Umhängen und Schleiern verbergen, werden sie zu reinen Produkten der Imagination, so wie z.B. die Hirtin Leila. Er stellt sich vor, neben ihr im Gras zu liegen, doch auch in dieser idyllisch-pastoralen Welt lauert Thanatos, denn neben der Wiese befindet sich ein muslimischer Friedhof. Die Weiber hüteten die Herde, zuweilen allein, zuweilen munter schwatzend mit andern Frauen. Die Augen blitzten unter den weißen Stirnbinden… die Gebüsche in der Ferne schienen Liebesgärten… die ganze Luft atmete Liebe… Diese weiche, milde, helle Luft! Und der Himmel schien ein aufgelöstes Türkis… Das Leben lockte zum Leben! Und der Tod… der Tod schaute über Wegränder hinüber! Wieviel türkische Friedhöfe am Fuß der Berge, auf halber Höhe und auf den Hochplateaus! Als ob die Toten den Lebenden den Weg vorzeichnen wollten! Es sind Meilensteine voller Mys-
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Ebd., 115. Ebd., 140. Auch im Weben und Knüpfen von Teppichen in Bosnien wurde mehr als nur ein Handwerk gesehen. Zusammen mit dem Faden fließe auch etwas von der Weberin in den Teppich ein. So dient Robert Michel der Besuch einer Teppichmanufaktur in seinem Reisebericht Fahrten in den Reichsländern (1912) als Einstieg in eine Meditation über die Zeit, das Weben und das Leben. Die darin bekundete Faszination mit der verflossenen Zeit macht die Orientteppiche zu einem lukrativen Geschäft. Der westliche Käufer glaubt schließlich mit ihnen nicht nur ein Luxusobjekt zu erwerben, sondern auch damit etwas von der Lebenszeit der Weberin in den Händen zu halten − eine Mangelware im fortschrittsorientierten, rastlosen Westen; Vgl. Michel, Robert: Fahrten in den Reichsländern. Bilder und Skizzen aus Bosnien und Hercegovina. Mit 25 Zeichnungen von Max Bucherer. Wien-Leipzig 1912, 155f.
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terien! Gewöhnlich findet sie keine Mauer, kein Gehege ein. Der Wind dringt frei hinein… So weht der Wind des Lebens über die Seelen!110
Die ungewöhnliche Tracht der Frauen in Bosnien und der Herzegowina – vor allem die breiten Hosen – leiten den Reisenden dazu ein, im populären Ton das Thema der Androgynität bzw. der Homosexualität und Bisexualität anzureißen: Wir begegneten schönen Frauentypen. Sie trugen weiße, aschgraue oder bläuliche Hosen. Seltsam erwärmten die Sinne, weil die orientalische Weiblichkeit sich aus dieser männlichen Kleidung lebhaft abhob. Wie wäre es, wenn man die homosexuellen Männer hierher schickte, damit sie sich mit dem zweiten Geschlecht aussöhnten?111
Am Ende der Reise gehören alle Frauen, die jeweils unterschiedliche Balkanregionen repräsentieren, zum imaginierten Harem des Reisenden. Wie im Kreis drehen sie sich noch einmal um den polygam gewordenen Erzähler, bevor er das Land verlässt. Milèna!… Berta!… Leila!… Ihr süßen Visionen dieser Wallfahrt! O, lebt noch einmal auf! Lebt auf noch einmal in der Abschiedsstunde! Die Morgengabe – wem gehört sie wohl…? Milèna!… Berta!… Leila!… Aber nein – ! Miliza ist es, die vorüberschreitet! Maria ist es, die immer, immer wiederkehrt…!112
Das Erschließen des Landes durch den imaginierten erotischen Akt mündet letztlich in die Vereinigung der italienischen mit der slawischen Psyche. Umgeben von Frauen schreibt er der slawischen und romanischen Seele einen weiblichen Charakter zu, die in Opposition zum männlichen Gemüt der Germanen und Angelsachsen stünde. Der Reisende hat sich mit dem fremden Land arrangiert und die ungewohnten Züge des Fremden mit dem Eigenen verschmolzen. Die slawische Seele ähnelt äußerlich mehr der lateinischen als der deutschen Seele; sie ähnelt ihr auch mehr, was die Leidenschaftlichkeit anbetrifft. Gerade darum kann man die beiden Rassen weiblich nennen im Gegensatz zu den männlichen Rassen der Deutschen und Angelsachsen.113
Obwohl Bertolini eine neue, durch die Psychoanalyse beeinflusste Völkerpsychologie der Slawen konstruiert, überschreiten seine poetischen Verfahren die Grenze der feststehenden visuellen und verbalen Stereotype und wachsen zu amorphen, entgrenzten Phantasmen an. Laut Slavoj Žižek erzeugt das Imaginäre, das dem Subjekt die Vereinigung mit dem begehrten Objekt (das nicht außerhalb des Subjekts liegt, sondern in ihm selbst als sein eigener Mangel präsent ist) ermöglicht, nicht nur die halluzinatorische Realisation verbotener Wünsche.114 Vielmehr installiere das Phan110 111 112 113 114
Bertolini 1911, 119. Ebd., 194. Ebd., 295ff. Ebd., 251. Žižek, Slovoj: Die Pest der Phantasmen. Die Effizienz des Phantasmatischen in den neuen Medien (= Passagen XMedia). Aus dem Englischen von Andreas Leopold Hofbauer. Hrsg. von Peter Engelmann. Wien 1997, 30f.
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tasma zugleich das Gesetz des Verbots, die symbolische (Selbst-)Kastration, und rückt daher ins Obszöne und Perverse. Darin liegt auch die Paradoxie des Phantasmas, die in seinem Antagonismus stets zwischen Genießen und Schmerz, durch den Verlust des Genießens, oszilliert und dessen Ruf nach exzessiver Verwirklichung schließlich die Bedürfnisse des lebendigen Körpers ignoriert und in den Tod führt. So werden die imaginären sexuellen Erlebnisse Bertolins auf dem Balkan stets mit der Angst verbunden, sich im Labyrinth zu verlaufen bzw. in den Sog des Strudels hineingezogen zu werden. Somit vermittelt das Phantasma zwischen Subjektivem und Objektivem und gehört der Kategorie des Subjektiv-Objektiven an.115 Das Äußere, Objektive verschmilzt auch bei Bertolini mit dem Inneren, Subjektiven in einer untrennbaren Einheit, deren Grenzen im Dampf des Autos unbestimmbar sind. Gerade der Schleier als Zeichen der kulturellen Differenz116 und Metapher der entzogenen Sichtbarkeit117 verstärkte in Bosnien die Erfahrung des Fremden und regte die Phantasie der Reisenden an. Die Gleichzeitigkeit von Sehen und Nicht-Sehen machte aus dem Kleidungsstück eine Projektionsfläche für erotische und thanatologische Phantasmen. So beschreiben Maude und Otto Holbach in ihrem Reisebericht Bosnia and Hercegovina, some wayside wanderings (1908) die furchterregende Wirkung der vollkommen verhüllten Frauengestalten im abendlichen Licht, als wären sie dem Tod persönlich begegnet (Abb. 9). The Turkish women in Mostar, however, are clad in the most hideous, uncannylooking costume imaginable, which is a speciality of Mostar and seen nowhere else in the world. Their figures are completely hidden in an all enveloping black mantle, with a peaked hood that stands out like a cowl over the head and projects half a foot or so beyond the face. If you meet them in the dark you may well start back in affright at such an apparition, and expect to see a death’s head under the cowl!118
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Ebd., 31. Akknet, Meral/Franger, Gaby: Das Kopftuch. Ein Stückchen Stoff in Geschichte und Gegenwart. Frankfurt a.M. 1987; Höglinger, Monika: Verschleierte Lebenswelten. Zur Bedeutung des Kopftuchs für muslimische Frauen. Ethnologische Studien. Wien 2003; Oebbecke, Janbernd: Das ‚islamische Kopftuch‘ als Symbol. In: Muckel, Stefan (Hrsg.): Kirche und Religion im sozialen Rechtsstaat. Festschrift für Wolfgang Rüfner. Berlin 2003, 593-606; Oestreich, Heide: Der Kopftuchstreit. Das Abendland und ein Quadratmeter Islam. Frankfurt a.M. 2004; Wild, Stefan: Zur Symbolik des islamischen Schleiers. In: Schlögl, Rudolf/Giesen, Bernhard/Osterhammel, Jürgen (Hrsg.): Die Wirklichkeit der Symbole. Grundlagen der Kommunikation in historischen und gegenwärtigen Gesellschaften (= Historische Kulturwissenschaft I). Konstanz 2004, 423-438. Endres, Johannes/Wittmann, Barbara/Wolf, Gerhard (Hrsg.): Ikonologie des Zwischenraums. Der Schleier als Medium und Metapher. München 2005, VII; Steiner, Uwe C.: Verhüllungsgeschichten. Die Dichtung des Schleiers. München 2006, 14. M., Maude/Holbach, Otto: Bosnia and Hercegovina, some wayside wanderings. London-New York 1908, 34.
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Abb. 9: Herzegowinische moslemische Frau in Straßentoilette, Anton Hangi, Die Moslims in Bosnien-Hercegovina. Ihre Lebensweise, Sitten und Gebräuche, Sarajevo 1907.
Anders als die Westeuropäer wurden die Russen von der orientalistischen Exotik des Balkans nicht besonders angezogen, weil sie ihren Orient bereits auf dem Kaukasus und in Zentralasien entdeckt hatten. Aleksandr Gil’ferding, der auf seiner Reise durch Bosnien und die Herzegowina und Altserbien (1858) bei den muslimischen Bosniern ein starkes slawisches Element erkennt, interessiert sich zwar für den Schleier als kulturelles Merkmal, verfällt allerdings nicht seiner suggestiven Kraft.119 Robert Michel (1876-1957), heute ein zu Unrecht vergessener österreichischer Schriftsteller deutsch-böhmischer Herkunft aus dem Umkreis von Hugo von Hofmannsthal, war 1898 als Leutnant in Mostar stationiert. Neben Reiseberichten (Mostar, Prag 1909; Auf der Südostbastion unseres Reiches, Leipzig 1915) verfasste er auch zahlreiche orientalistische Erzählungen und Romane über Bosnien und die Herzegowina (Die Verhüllte, Berlin 1907; Die Häuser an der Džamija, Berlin 1915; Halbmond über der Narenta. Bosnische Erzählungen, Wien-Leipzig 1940). In der Erzählung Die Verhüllte wird ein junger österreichischer Soldat, Rêvignies (rêve = Traum), aus Wien nach Mostar versetzt. Der junge, etwas verworrene und träumerische Mann verfügt über eine starke Einbildungskraft und bringt Begeisterung für alles Orientalische auf. Bereits kurz vor der Abreise bemächtigt sich eine schleierhafte Struktur seiner Wahrnehmung. In der Dunkelheit, im Dunst und Nebel erscheinen die Fabriken in Wien wie Moscheen und die Schornsteine 119
Kožančikov, D.E. (Hrsg.): Sobranie sočinenij A. Gil’ferdinga. Tom tretij. Bosnija, Gercegovina i Staraja Serbija. St.-Peterburg 1873.
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wie Minarette. In Bosnien verstärkt sich diese phantasmatische Wirkung der Landschaft und gleicht fortan einem orientalischen Teppich120 bzw. der arabischen Schrift: „die Windung eines türkischen Buchstabens schien in die Natur übertragen“.121 Alles ist einer dauernden Metamorphose, einer Dialektik von Mystifikation und scheinbarer Offenbarung unterworfen. Die Sprache weicht dem Gesang, dem Flüstern und der Beschwörung, das Silhouettenartige und Gestische nimmt zu: „Rêvignies hatte einzelne Wörter so genau vernommen, dass es ihm leicht gewesen wäre, sie mit demselben Tonfall nachzusingen. Er hätte ihm indes gewiss Unbehagen bereitet, dass ihm kein einziges dieser Wörter verständlich war.“122 Was er hört, hört sich wie „Poesie“ und „schönes Rätsel“ an. Hinter dem Schleier scheint eine neue amorphe Materialität auf, die Frauen wie Insekten erscheinen lässt. Die Türkinnen hatten es schwerer gegen den Wind; sie waren in lange dunkle Mäntel gehüllt, die vom Kopf bis zu den Füßen reichten und in zwei eigentümlichen Tuchlappen über den Kopf ragten, so dass ihre ganze Erscheinung die Vorstellung erweckte, als wären sie aufrechtgehende Käfer. In diese Mäntel griff der Wind so sehr, dass er den weiten Vorderschlitz zu öffnen drohte und die Trägerinnen manchmal zwang, sich an die Häusermauern zu pressen, um sich so zu schützen.123
Weder das Alter („in der gleichmäßigen Verhüllung sah eine wie die andere aus und nicht einmal ihr beiläufiges Alter war zu erraten“)124 noch das Geschlecht lässt sich bestimmen („er vermochte nicht zu unterscheiden, ob es ein Mann oder eine Frau sei“).125 Vor allem der Schlitz des Schleiers, hinter dem die weiße, durchsichtige Haut der orientalischen Frau durchblitzt, verspricht das geheime Tor in den Orient zu öffnen: „Durch den vollständigen Besitz einer solchen Frau müssten einem alle tiefsten Geheimnisse des Orients wie mit Zauberschlüsseln mit einem Mal erschlossen werden.“126 Rêvignies folgt einer Frau, „der Perle in der Muschel“, deren Mantelschlitz ihn wie ein Blitz trifft und entführt sie. An einem einsamen Ort reißt er ihren Mantel ganz auseinander: „Und das Kleid fiel und sie stand da in dem durchsichtigen bosnischen Hemd; und das Hemd fiel und Rêvignies nahm sie in die Arme und hob sie auf das Bett.“127 Doch die Kommunikation zwischen dem jungen Mann und der fremden Frau misslingt. Zuerst küsst Rêvignies sie so leidenschaftlich auf den Mund, „dass sie kein Wort hervorbringen konnte.“ Das, „was sie sprach, verstand er nicht.“ Er versucht auch nicht, sich selbst klar zu äußern: „Aber auch er versuchte gar nicht, sich deutlich verständlich zu machen; das wäre in einem solchen Falle zu mühselig gewe120 121 122 123 124 125 126 127
Michel, Robert: Die Verhüllte. Berlin 1907, 19. Ebd., 20. Ebd., 25. Ebd., 15. Ebd., 15. Ebd., 30. Ebd., 18. Ebd., 34.
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sen.“128 Stattdessen redet er ununterbrochen: „Trotzdem war er nicht ruhig, sondern sprach fast unausgesetzt zu ihr. Was er da zu ihr sagte, war eine immerwährende Huldigung, eine ungeordnete Folge phantastischer Gleichnisse, flehender Fragen und Beschwörungen.“129 Doch die Küsse werden nicht erwidert, „ihr ganzer Körper blieb in starrer Unbeweglichkeit“ […] „wie entseelt.“130 Schließlich liegt sie vor ihm, als „hätte er sie getötet“ und „ihr die Seele geraubt“131 – als „schöner Leib“, das „alles menschliche Leben verloren hatte“.132 Doch die tödliche Starre des enthüllten Körpers weicht bald einem statuarischen Eindruck. Aber seine [des Körpers] Unbeweglichkeit hatte jetzt für ihn nicht mehr das Grauenhafte des Todes oder der Krankheit, sondern diese Unbeweglichkeit war wie die schöner Statuen, die so viel Seele und leben haben, dass sie jedwede Bewegung entbehren können.“133
Der Blick des Vergewaltigers, eines verkehrten Pygmalions, transformiert die Entschleierte, deren Körper wie Marmor glänzt, in das Bild des Orients. Auch die Landschaft nimmt eine steinerne Konsistenz an: Die Berge scheinen näher zu kommen und sich schwarz über Mostar zu neigen – „als Ausdruck einer großen Liebe der Steine“, der „Liebe der stummen Dinge“.134 Doch damit ist noch nicht der letzte Schleier des Orients in Bosnien gelüftet. Am Ende der Erzählung wird das gesamte Ereignis durch Rêvignies’ spurloses Verschwinden und seinen Brief erneut geheimnisvoll verhüllt. Aus seinem Brief erfährt der Leser, dass das entführte und verführte Mädchen keine Türkin bzw. muslimische Bosnierin war. Damit wird die Funktion des Schleiers und der Verschleierung rätselhaft. Ein zweiter Brief Rêvignies’, den dieser angekündigt und in dem er seine Adresse schicken will, erreicht nie sein Ziel. Der Held verschwindet spurlos, ohne ein weiteres Lebenszeichen von sich zu geben. Die Lüftung des Schleiers hat offensichtlich nicht nur eine mortifizierende Wirkung auf die Entschleierte, sondern auch auf den Täter. Der Erzähler beendet die Erzählung schließlich mit der weiblichen Perspektive auf das Geschehen: In der Erinnerung des Mädchens, das allerdings keine Türkin war, hinterließ dieses Erlebnis wohl nur ein leichtes Staunen; während es in Rêvignies’ Leben vielleicht tiefer eingeschnitten hat, als ich wagte mir vorzustellen.135
Durch die quasi-emanzipatorische Geste der fremden Frau, die mit dem Schleier wohl nur eine erotische Maskerade betrieben hat, wird der Akt der 128 129 130 131 132 133 134 135
Ebd., 32f. Ebd., 33. Ebd., 34. Ebd., 34. Ebd., 38. Ebd., 36. Ebd., 37. Ebd., 39.
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kolonialistischen Eroberung annulliert. Rêvignies wird vom Täter zum Opfer eines bizarren erotischen Spiels einer Halb-Orientalen transformiert. Das offene Ende bietet sich gerade dazu an, mit orientalistischen Stereotypen gefüllt zu werden. Der Text nimmt letztlich selbst eine schleierhafte Struktur an. Somit bleibt der Schleier nicht nur auf das textile Kleidungsstück beschränkt, sondern erfasst auch das Geflecht des Textes. Wie im kolonialen 19. Jahrhundert136 avancierte die „Lüftung des Schleiers“ zur zentralen Metapher der Eroberung des Balkans und der Zivilisationsmission auch im 20. Jahrhundert. Lutz Koch kündigt in seinem nationalnationalsozialistischen Reisebericht an, dass der Schleier, eine „bröckelige Fassade“, im Kontakt mit der gesunden, sportlichen Zivilisation der Arier bald einstürzen werde. Nur einen Trost gibt es in diesem bunten Durcheinander der verschleierten Frauen und Mädchen für uns Männer aus mittel- und westeuropäischen Gefilden: je schöner die Frau, desto dünner der Schleier. Wenn man durch den schwarzen „Vorhang“ auch nicht die geringste Linie des Gesichts mehr erkennen kann, soll man lieber jeden Versuch der „Entschleierung“ unterlassen, denn es könnte böse Enttäuschungen geben. Man hat das Gefühl, und in Unterhaltungen mit aufgeschlossenen Bosniern erhielt ich auch die Bestätigung dafür, dass die jungen Mädchen, die eingehängt durch die lauten Basargassen trippeln, den Schleier nur noch mit Widerwillen und einer elterlichen Vorschrift gehorchend tragen. Das Gewebe ist zu dünn, das Betragen zu weltlich aufgeschlossen, dass dieser Schleier für diese junge Mädchen mehr sein könnte als eine lästige Fassade, die demnächst unter dem Donnerschlag der Entwicklung brüchig zusammenstürzen wird. Wir sind bei aller Absonderlichkeit des Bildes doch froh, dass wir es in der Sonnenglut der Carsija, des Marktplatzes, noch erhaschen konnten.137
Auch der österreichische Kommunist Josef Martin Presterl zeigt sich in seinem Reisebericht 2000 km durch das neue Jugoslawien (1947) begeistert darüber, dass der Stoff des Schleiers immer dünner wird.138 Die befreiten bosnischen Frauen würden sich auf Frauenversammlungen selbst den Schleier vom Gesicht abreißen. Der Gesang des Muezzins verhallt und von Ferne hört man das Summen der Fabriken. Auf ihren Dächern aber leuchten rote Partisanensterne. „Bei jeder Frauenversammlung nehmen ein paar Dutzend Frauen feierlich ihren Schleier ab! […] Ja, wer hier vor zwei Jahren gestorben und heute wieder erwacht wäre, der könnte sich fast nicht mehr zurechtfinden. So vieles hat sich verändert!“139
Die Säkularisierung und Desakralisierung des Islam, zuerst durch die nationalsozialistische und dann durch die kommunistische Propaganda, wird als Lüftung des phantasmatischen Schleiers durch Aufklärung und Emanzipation inszeniert. 136 137 138 139
Zur Lüftung des Schleiers in den englischen Reiseberichten: Berber 2010, 69-87. Koch 1941,145f. Presterl, Josef Martin: 2000 km durch das neue Jugoslawien. Graz 1947, 24. Ebd., 39f.
Verhüllung und Enthüllung des Balkans im Europa-Diskurs
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4. Verhüllung und Enthüllung des Balkans im EuropaDiskurs: Slavoj Žižeks In Search of Balkania (2001) und Tanja Ostojićs EU-Slip (2004) In den 1990er Jahren, als die Jugoslawien-Nachfolgekriege wüteten und es lange zu keiner Intervention kam, hat Slavoj Žižek öfters unterstrichen, dass der Balkan das Unbewusste Europas repräsentiere.140 In seinen Schriften über den Balkan hat er sich jedoch nie unmittelbar auf Freud berufen. Lediglich eine Photographie der Künstlergruppe „Irwin“ aus Slowenien,141 die 2002 in der Ausstellung In Search of Balkania in Graz gezeigt wurde, thematisiert non-verbal Freuds Verhältnis zum Balkan (Abb. 10). Das fast lebensgroße Photo des slowenischen Philosophen und Lacanianers sei, so liest man im Ausstellungskatalog, anlässlich des 100. Geburtstags von Lacan in Freuds Wiener Haus in der Berggasse 19 vom Photographen Michael Schuster aufgenommen worden.142 Weitere Kommentare zum Photo gibt es nicht. Da weder in Wien noch im Freud-Museum in London ein solches Möbelstück mit einem Baldachin zu finden ist, kann man annehmen, dass die Gruppe Irwin mit Žižek die Performance an einem anderen Ort durchführte und eine andere Couch in Orientteppiche hüllte. Auf der Innenseite des kabinettartigen Raumes unter dem Baldachin hängt nicht der Tempel Ramses II in Abu Simbel, die Graphik nach einem Aquarell des orientalistischen Malers Ernst Koerner (Abb. 11), sondern die Kopie von Gustave Courbets Ölgemälde L’origine du monde, das bekanntlich für die erotische Privatsammlung eines türkischen Diplomaten gemalt wurde.143
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Žižek 1998. Zur Künstlergruppe Irwin: Gržinić, Marina: Fiction Reconstructed. Eastern Europe, Post-Socialism & The Retro-Avantgarde. Wien 2000; Arns, Inke: Laibach, Irwin, Gledališče sestr Scipion Nasice, Kozmokinetično gledališče Rdeči pilot, Kozmokinetično kabinet Noordung, Novi kolektivizem, Neue Slowenische Kunst NSK. Eine Analyse ihrer künstlerischen Strategien im Kontext der 1980er Jahre in Jugoslawien. Regensburg 2002; Monroe, Alexei: Interogation Machien. Laibach and NSK (= Short Cirkuits Series, Ed. Slavoj Žižek). Cambridge/Mass.-London 2005. Conover, Roger/Čufer, Eda/Weibel, Peter (Hrsg.): In search of Balkania. Graz 2002, 66. Photograph Michael Schuster, „Porträt Slavoj Žižek zum 10. Jubiläum der Geburt von Jacques Lacan im Sigmund Freud-Museum”. 2001, 160 x 140 cm. Hintergründe zu Courbets berühmtem Gemälde: Savatier, Thierry: L’origine du monde. Histoire d’un tableau de Gustave Courbet. Paris 2006. Später gehörte das Bild Jacques Lacan, der die Leinwand mit einem andern Gemälde – einer Landschaft des surrealistischen Malers André Masson – bedecken ließ. Die Abdeckung war beweglich, so dass er Courbets L’origine du monde nach Wunsch immer wieder enthüllen und verhüllen, also die Natura in die Frau und umgekehrt die Frau in die Natura transformieren konnte.
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Abb. 10: Irwin, Porträt von Slavoj Žižek in Freuds Haus anlässlich des 100. Geburtstags von Lacan, Photo: Michael Schuster, 2001.
Abb. 11: Freuds Wiener Behandlungszimmer, 1938.
Verhüllung und Enthüllung des Balkans im Europa-Diskurs
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Die lichtdurchfluteten sitzenden ägyptischen Götter und Pharaonen vor dem Eingang in den Tempel in Freuds Behandlungszimmer ersetzt in Žižeks Kabinett das schwarze Loch des nackten Frauentorsos. Während Freud bei den Behandlungsgesprächen auf dem Sessel neben der Couch saß und folgerichtig in Analogie zu den steinernen Figuren auf dem Druck trat, legt sich Žižek selbst, wie Freuds Patienten, aufs Sofa. Wie die Autoren der Reiseberichte den Leser als Mitreisenden ansprechen, haben auch die Organisatoren der Ausstellung in Graz dem Besucher die Gelegenheit gegeben, auf verschiedenen Wegen den Balkanstereotypen zu folgen.144 Auf diese Weise soll die Spiegelfunktion des Balkans wahrgenommen und reorganisiert werden. Gleichzeitig haben sie die englische Pluralform „the Balkans“ durch das Femininum „Balkania“ ersetzt und folgten damit offensichtlich der alten ikonographischen Tradition, nach der eroberte Kontinente als (nackte) weibliche Personifikationen dargestellt wurden. Für Žižek repräsentiert der nackte Torso mit den gespreizten Beinen, der von Courbet ohne jegliche Distanz in realistischer Manier gemalt wurde, das Nicht-Darstellbare bzw. das unmögliche Objekt. In ihm offenbare sich „the gesture of radical desublimation“, „the reversal of the sublime object into abject, into an abhorrent, nauseating excremental piece of slime“.145 Daher stellt das Bild L’origine du monde für Žižek den Gegenpart zu Kazimir Malevičs ungegenständlichem, unfiguralem und nichts repräsentierendem Gemälde Schwarzes Quadrat auf weißem Grund (1915) dar, das er hingegen als „the matrix of sublimation“ begreift.146 In demselben Jahr erklärte Malevič sich in seinem Manifest „Ich bin der Ursprung von allem“ in der Rhetorik eines Demiurgen für den Schöpfer, in dessen „Bewusstsein Welten geschaffen werden“.147 Indem Žižek das realistische Bild des 19. Jahrhunderts durch die Optik der ungegenständlichen Malerei betrachtet, verhüllt er wie Lacan den entblößten Körper der Frau – genauso wie es vor ihm Freud tat, wenn er Signorellis Frauenakte durch die idealisierten Gemälde Boticellis und Boltraffios verdeckt. Auch die serbische Künstlerin Tanja Ostojić erstellte 2001 und 2004 jeweils eine neue Version von Courbets L’origine du monde. Es handelt sich dabei um einen pornographisch enthüllten Frauentorso, der den Balkan repräsentiert, und andererseits um einen Torso mit einem blauen Slip mit goldenen Sternen. Die Künstlerin ließ sich in der ersten Version die Schamhaare 144 145 146 147
Conover, Roger/Čufer, Eda/Weibel, Peter (Hrsg.): In search of Balkania. Graz 2002, 3f. Žižek, Slavoj: The Fragile Absolute – or, why is the Christian legacy worth fighting for? London-New York 2000, 36-39, hier 37. Ebd., 39. Hansen-Löve, Aage A. (Hrsg.): Kazimir Malevič. Gott ist nicht gestürzt! Schriften zu Kunst, Kirche, Fabrik. München 2004, 43.
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in Form von Malevičs Schwarzem Quadrat rasieren und in der Pose der Frau auf Courbets Gemälde photographieren. Die Photos wurden in Serbien als Postkarte verkauft und konnten nur als Souvenir den Westen erreichen. In der Presse erklärte die Künstlerin, sie habe ihr Meisterstück „live“ auch Harald Szeeman, dem damaligen Direktor der Biennale in Venedig (2001), präsentiert. Allerdings weigerte sie sich, ihren enthüllten Körper dem breiten Publikum zugänglich zu machen.148 Im Jahre 2004 entstand die zweite Version in derselben Pose. Dieses Mal verhüllte sie jedoch ihr Geschlecht mit einem blauen Slip, der mit den goldenen Sternen der EU-Fahne dekoriert war. Obwohl die Künstlerin ihr Kunstwerk als „Untitled“ dem Publikum präsentierte, bekam das Photo in der Presse einen Titel – „The EU-slip“ (Abb. 12).
Abb. 12: Tanja Ostojić, Untiteled / The EU-slip, 2004.
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Grzinic, Marina: Malewitsch auf dem Venushügel von Tanja Ostojic. In: Springerin. Hefte für Gegenwartskunst 1 (2002). Transl. Hina Berau. http://www-springerin.at/dyn/heft_text.php?textid=970&lang=de (Zugriff: 15.02.2007).
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Mit dem Photo, das als Vorbild für Plakate diente, warb man in Österreich für kurze Zeit auf ironische Art für die Präsidentschaft des Landes im Europäischen Parlament sowie für die Osterweiterung der Europäischen Union (Abb. 13). Das Plakat löste einen Skandal aus und wurde bald als „PornoPlakat”, das nicht die richtige Vorstellung von der Union verbreite, von den Straßen Wiens entfernt. Obwohl teilweise verhüllt, löste die Erscheinung des Torsos in der von Courbet entliehenen Pathosformel Irritationen aus. Im Jahre 2006 erklärte Ostojić, sie habe mit dem Plakat auf den begehrten Status der EU-Mitgliedschaft sowie auf die europäische Politik der In- und Exklusion aufmerksam machen wollen.149
Abb. 13: Tanja Ostojić, Untiteled / The EU-slip als Plakat auf Wiener Straßen, Photo: David Rych, 2004.
Durch die buchstäbliche Wiederholung, das Kopieren des orientalistischen Gemälde Courbets und dessen Übertragung auf die Balkanproblematik, führten die Gruppe Irwin sowie Tanja Ostojić das permanente Kreisen des Balkanstereotypen vor. Sie zeigten, dass die paradoxale Geste des Enthüllens und Verhüllens nicht nur die Erfahrung des Balkans steuert, sondern sie auch mitgestaltet. 149
Ostojić, Tanja: Statement. 2006, in: http://www.van.at/see/tanja/ot/set01/docu08.htm (Zugriff: 29.07.2010).
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Vom Stereotyp zum Phantasma: Der Balkan in Reiseberichten
5. Positive Balkan-Stereotype Erst mit der Gründung des ersten gemeinsamen südslawischen Staates 1918 begann man, den negativen Balkanstereotypen entgegenzuwirken und ein völkerpsychologisch positives Bild der Slawen auf der Balkanhalbinsel zu konstruieren. Umfassende Werke wie La Pénisule Balkanique. Géographie humaine (Paris 1918; Balkansko poluostrvo i južnoslovenske zemlje. 2 Bde. Beograd 1922, 1934) des serbischen Geographen Jovan Cvijić, Der dinarische Typ und die rassischen Eigenschaften unseres Volkes (Dinarski tip i rasne odlike našeg naroda, Beograd 1932) des serbischen Anthropologen Branimir Maleš und Die Charakterologie der Südslawen (Karakterologija Jugoslovena, Beograd 1939) des kroatischen Ethno-Psychologen Vladimir Dvorniković zeichneten nun ein neues Bild der Völker, die noch vor kurzem, von Fatalismus und Todestrieb gezeichnet, aus der Geschichte herauszufallen schienen.150 Zu einem neuen, vitalistisch geprägten Bild der Südslawen trug auch der deutsche Slawist Gerhard Gesemann bei, Autor der Volkscharaktertypologie der Serbokroaten (1928) und zahlreicher Beiträge im Berliner Jahrbuch der Charakterologie (1924-29).151 Auf der Suche nach Beweisen für die Existenz eines südslawischen Volkscharakters, dem nicht einfach orientalistische Klischees eingeschrieben wurden, stützten sich die Forscher auf die Folklore, auf eigenes Wissen über das Alltagsleben sowie auf Literatur, bildende Kunst und Musik als kollektive Ausdrucksmittel. Die Südslawen, mit denen vor allem die „dinarische Rasse“ der „Serbokroaten“ gemeint war, charakterisiere ein ungebändigter Freiheitswille, ferner unbeugsame Widerstandskraft, Opferbereitschaft und große Kampfkraft, die Bereitschaft zum ritterlichen Heroismus, aber auch patriarchale Strenge, auf den Erhalt fester Moral und von Traditionen bedacht, schließlich der Instinkt für einfache Lösungen sowie die große Solidarität untereinander. Diese Vorstellung formierte sich während des Ersten Weltkrieges. Der panslawistisch gesonnene kroatisch Bildhauer Ivan Meštrović verlieh in seinen monumentalen Skulpturen diesen Tugenden eine visuelle Gestalt. Daneben diagnostizieren die Autoren auch Nebenaspekte wie hitzige Reaktionen, Extremismus, Widersprüchlichkeit und Unausgewogenheit. Dvorniković’ Kritik umfasst ferner immer noch Orientalismen wie Faulheit, einen Mangel an Arbeitskultur und Ausdauer sowie an Pflichtbewusstsein.152 150
Zum völkerpsychologischen Konstruktion des Jugoslawismus vgl.: Jakir, Aleksandar: Dalmatien zwischen den Weltkriegen, München 1999, 347-387; Sundhaussen, Holm: Geschichte Serbiens. 19.-21. Jahrhundert. Wien-Köln-Weimar 2007, 240-251. 151 Sundhaussen 2007, 242. 152 Dvorniković, Vladimir: Karakterologija Jugoslovena. Beograd 2000, 658-662.
Positive Balkan-Stereotype
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Obwohl die Balkanvölker unterschiedlicher „ethnogenetischer“ Herkunft seien, versuchen die Autoren im Geiste des panslawischen Südslawismus die Differenzen einzuebnen. Doch die Verschmelzung orientalischer und okzidentaler, nördlicher und südlicher, slawischer und nicht-slawischer Eigenschaften, hat für Dvorniković auch einen hohen Preis. Sie führe zur Ausprägung eines melancholischen Gemüts und zu innerer Gespaltenheit, „Dualität“ (dvojstvo, dvojstvenost), im Charakter des Südslawen. Der Südslawe ist nicht „böse“, aber es fällt ihm schwer, „gut“ zu werden – eine alte und tragische ethische Dualität des Menschen, nur dass diese bei den Südslawen wegen ihrer komplexen seelischen Zusammensetzung noch besonders akzentuiert und verstärkt ist.153
Der „Dualität“ schreibt Dvorniković die Schuld zu, dass die Südslawen viel zu oft ihr Leben in Illusion verbrächten: Sie lebten zwischen Vergangenheit und Zukunft, ihre Gegenwart, allzu oft im Konjuktiv stehend, bleibe unwirklich. Die duale Lebenseinstellung, die zur Erstarrung und zur gegenseitigen Ausbremsung der südslawischen Völker führe, hindere sie daran, ihre Entwicklungsmöglichkeiten zu verwirklichen. Die Gespaltenheit des Balkanmenschen, wie man sie den Südslawen in Ost und West lange zuschrieb, manifestiert sich hier schließlich in einer gespaltenen Identität – und zwar als Selbstzuschreibung. In den 1930er Jahren führten die Serben ihre vermeintliche Gespaltenheit durch Projektion auf die Nachbarvölker nach außen. Die negativen Aspekte wie Fatalismus oder die Neigung zur Realitätsferne fanden sie nun bei den Nachbarvölkern, mal bei den Bosniern, mal bei den Kroaten – auch in rassistischer Auslegung.154
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Ebd., 978. „Jugosloven nije ‚zao‘, ali mu teško pada da postaje ‚dobar‘ – staro i tragično etičko dvojstvo človečje, samo što je u Jugoslovena još i celokupnim duševnim sastavom naročito naglašeno i pojačano.“ 154 Malović, Ilija: Eugenika kao ideološki sastojak fašizma u Srbiji 1930-ih godina XX veka. In: Sociologija 50/1 (2008), 79-96.
V. Titos „dritter Weg“ 1. Jugoslawien als sowjetisches Spiegelbild Am Ende des Zweiten Weltkrieges wurde ein Teil Mitteleuropas und des Balkans, das sich im Kreuzfaden der sowjetischen und der angloamerikanischen Machtsphäre befand, als „Zwischeneuropa“ bezeichnet.1 1949 bis 1951 gerieten die meisten Länder auf diesem Territorium, wie Polen, die Tschechoslowakei, Ungarn, Rumänien und Bulgarien, durch zwischenstaatliche Verträge vollkommen in die sowjetische Einflusszone. Dem jugoslawischen Partisanenführer Josip Broz (1892-1980), der sich Tito nannte,2 gelang es nach 1948, Jugoslawien sowohl der sowjetischen als auch der westlichen Machtzone zu entreißen. Die Unfähigkeit der Supermächte, gegeneinander Krieg zu führen oder aber Frieden miteinander zu schließen, gab den Ausschlag zur Bildung des spezifischen bipolaren Arrangements des „Gleichgewichts des Schreckens“.3 Ihr Verharren in der Statik dieses Gleichgewichts führte für kurze Zeit zur Entstehung eines Machtvakuums an den äußersten Grenzen ihrer Einflusssphären. Tito nutzte diese Situation aus, um einen „dritten Weg“ zwischen Ost und West einzuschlagen. Bis zu seinem Bruch mit Stalin war der politische Werdegang Titos – wie der der meisten Kommunisten in Europa – aufs Engste mit der Sowjetunion verbunden.4 Die wichtigsten Stationen auf diesem Weg waren seine russische Gefangenschaft als österreichischer Soldat 1915, der Beitritt zur KPdSU 1918, die Heirat mit der sowjetischen Kommunistin Pelageja Belousova 1920 und die beständige enge Zusammenarbeit mit der Parteispitze in der Sowjetunion 1
Koch, Hans: A-Stalinismus und Neo-Stalinismus in den europäischen Volksdemokratien. In: Osteuropa 7/12 (1957), 859-867. 2 Wie Lenin und Stalin, so ließ sich auch Josip Broz mit einem Pseudonym – Tito – anreden. Nach dem Krieg gehörte zur ungeschriebenen Regel der jugoslawischen Presse, ihn mit dem Beinamen zu nennen. Er wurde entweder an den Vor- und Nachnamen angehängt oder aber alleine verwendet (vgl. Puhar, Alenka: Tito in mediji 1-4. In: Delo. Sobotna priloga (16.08.1997), 31). Der Beiname sollte angeblich während des Krieges entstanden sein, und zwar aus dem Personalpronomen „ti“ (du) und dem Demonstartivpronomen „to“ (das). Zu Titos Befehlsstil hätte gehört, auf diese Art Aufgaben zu verteilen (vgl. Sretenović, Stanislav/Puto, Artan: Leader cults in the Western Balkans (194590). Josip Broz Tito und Enver Hoxha. In: Apor, Balás/Behrends, Jan C./Johnes, Polly u.a. (Hrsg.): The Leader Cult in Communist Dictatorship. Stalin and the Eastern Block. Chippenham-Eastbourne 2004, 208-223, hier 210. 3 Mastny, Vojtech/Schmidt, Gustav: Konfrontationsmuster des Kalten Krieges 1946-1956 (= Entstehung und Probleme des Atlantischen Bündnisses bis 1956, 3, Hrsg. Wiggershaus, Norbert/Krüger, Dieter). München 2003, 11. 4 Dedijer, Vladimir: Tito. Biografie. Berlin 1950; Djilas, Milovan: Tito. Eine kritische Biografie. Wien 1980; West, Richard: Tito and the Rise and Fall of Yugoslavia. London 1994.
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Titos „dritter Weg“
bis Ende der 1940er Jahre. Als Mitglied der Kommunistischen Partei Jugoslawiens (seit 1920) reiste er schließlich nach seiner Entlassung aus der jugoslawischen Haft im Jahre 1933 öfters in die Sowjetunion. Dort organisierte er 1935-36 für den Spanischen Bürgerkrieg Transporte mit Freiwilligen aus dem Balkanraum. 1937 ernannte ihn dann Georgij Malenkov, Stalins Anhänger und dessen späterer Nachfolger, zum Generalsekretär der Kommunistischen Partei Jugoslawiens. Es gelang Tito, mehrere stalinistische Säuberungswellen unter den jugoslawischen Kommunisten unbeschadet zu überstehen und sich an der Spitze der Partei zu halten.5 1944 traf er Stalin – der ihm hohe Auszeichnungen, wie den Suvorov Orden und den Orden des Sieges verlieh6 – um die Territorialfragen auf dem Balkan zu klären. Bis 1947 genoss er die volle Unterstützung der Sowjetunion. Jugoslawien galt offiziell bis Anfang des Jahres 1948 als kommunistisches Vorzeigeland. Doch die Anfänge eines eigenständigen Weges kündigten sich bereits 1944-45 an, als Tito – anfänglich mit Stalins Zustimmung – die Gründung einer Balkanföderation der kommunistischen Staaten im Südosten Europas nach dem Vorbild der Sowjetunion vorantrieb.7 Die Föderation sollte nicht nur die Balkan-, sondern auch einige Donauländer umfassen. Neben den jugoslawischen Republiken als einer summa partiorum sollten auch Bulgarien, Albanien, die Tschechoslowakei, Polen, Ungarn, Rumänien und – nach dem erhofften Sieg der Kommunisten unter der Führung von General Markos – auch noch Griechenland dazugehören. Eine Föderation der drei Balkanstaaten – Jugoslawien, Bulgarien und Griechenland – wurde bereits in Ljubo Mirs Propagandabuch La Yougoslavie régénérée im Jahre 1944 angekündigt.8 Konkreter wurden diese Pläne jedoch erst Ende des Jahres 1947, als sie in der jugoslawischen Presse publik wurden. Die Titelseite der Belgrader Wochenzeitung Republika vom 23. Dezember 1947 widmete sich den neu geschlossenen Freundschaftsverträgen zwischen den drei Ländern in Pest und Bukarest. Das neue Jugoslawien präsentiert sich im Leitartikel „Die Donauländer und der Balkan“ („Podunavlje i Balkan“) als vorbildhaftes Modell für einen multinationalen Staat und soll die Gründung einer noch größeren Gemeinschaft initiieren. 5
Casciola, Paolo: Wie Tito die jugoslawische kommunistische Partei eroberte. In: Corrispondenza Sozialista 7 (Juli 1961), http://www.agmarxismus.net/vergrnr/m10yu.htm (Zugriff: 25.01.2012). 6 Sorić, Ante/Trojanović, Radmilo (Hrsg.): S poštovanjem Titu. Izbor iz Zbirki Memorialnog centra ‚Josip Broz Tito’. Zagreb 1986, 30. 7 Zur Umgestaltung Jugoslawiens nach sowjetischem Vorbild: Gibijanskij, Leonid Ja.: Sovetskij Sojuz i Novaja Jugoslavija. 1941-1947gg.. Hrsg. Volkov, V.K. Moskva 1987; Miloradić, Goran: Lepota pod nadzorom. Sovjetski kulturni uticaj u Jugoslaviji 19451955. Beograd 2012. 8 Mir, Ljubo: Das neue Jugoslawien. Übersetzung aus dem Französischen von G. Braun. Zürich-New York 1945 (fr. La Yougoslavie régénérée. Lyon 1944), 102, 104f., 106f.
Jugoslawien als sowjetisches Spiegelbild
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So ist das neue Jugoslawien im Herzen der Donauländer und des Balkans die erste Gemeinschaft neuen Typs geworden, die in nur zwei Jahren ihre feste Organisation unter Beweis stellte und zum Modell und Zentrum wurde, das Vertrauen erweckt; damit wurde es ganz naturgemäß zum Sammelzentrum, das die Initiative für die Gründung der immer breiteren Gemeinschaften weckt.9
Neben dem Artikel prangt das Porträt Stalins. Es wird von einer Lobpreisung zu seinem 68. Geburtstag begleitet, die im Stil der sowjetischen Herrscherpanegyrik gehalten ist. Stalin wird darin als „der größte Mensch der Gegenwart“, den „es nie wieder geben wird“, „der Universalgeist“ und „die Verkörperung des Fortschritts aller Epochen bis heutzutage und von heute an“ bezeichnet.10 Sein Bildnis legitimierte die außenpolitischen Pläne Jugoslawiens, ähnlich wie in der Sowjetunion das Porträt Lenins zur Legitimation von Stalins Politik vereinnahmt wurde (Abb.14).
Abb. 14: Die Donauländer und der Balkan, Republika, 23.12.1947, Titelseite.
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Republika Nr. 112 (23.12.1947), 1. „Tako je nova Jugoslavija postala u srcu Podunavlja i Balkana prva zajednica novoga tipa, koja je u samo ovo par godina pokazala čvrstinu organizacije i postala model i centar koji pobuđuje poverenje i time posve prirodno postaje centar okupljanja i inicijativno deluje na stvaranje sve širih zajednica.“ 10 Ebd., 1.
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Titos „dritter Weg“
Noch vor dem Ende des Krieges, am 11. April 1945, unterschrieben Tito und Stalin einen Vertrag über Freundschaft, gegenseitige Hilfe und Zusammenarbeit zwischen ihren Ländern. Nach dem Krieg unterstützte die Sowjetunion folglich nicht nur die internationale Anerkennung des kommunistischen Jugoslawiens, sondern half auch beim Aufbau des jugoslawischen Presse-, Verlags- und Bildungssystems.11 Tito verfasste 1945 im Gegenzug für die sowjetische Monatszeitschrift Slavjane einen Aufsatz über die „Freundschaft und enge Zusammenarbeit der Völker Jugoslawiens mit den Völkern der Sowjetunion“.12 Darin dankte er den Sowjets für ihre große Unterstützung. Die Zeitschrift, die von dem Allslawischen Komitee in Moskau herausgegeben wurde, rief bereits während des Krieges alle unterdrückten „Brüder Slawen“ zur Vereinigung im Kampf gegen Hitler auf. Jugoslawien wurde dabei immer an erster Stelle, vor der Tschechoslowakei, Polen und Bulgarien, erwähnt.13 Gegen Ende des Krieges berichtete man intensiv über die politischkulturellen Aktivitäten der jugoslawischen Kommunisten.14 In seiner Rede auf dem Gründungskongress der kommunistischen Partei Serbiens in Belgrad am 12. Mai 1945 lobte Tito weiterhin die materielle und moralische Unterstützung seitens der Sowjetunion.15 In den sowjetischen Zeitungen Bol’ševik und Pravda erschienen wiederum äußerst positive Berichte über die politische Entwicklung in Jugoslawien.16 In den jugoslawischen Zeitungen, deren Konzeption und Layout noch bis 1951-52 sehr an die sowjetischen Vorbilder erinnerten, berichtete man umgekehrt über die florierende Wirtschaft und Kultur in der Sowjetunion. Die sowjetische Nachrichtenagentur TASS und ihr jugoslawisches Pendant TANJUG unterschrieben am 7. 11
Gibijanskij 1987, 133f, 145-165; Robinson Joch, Gertrude: Tanjug. Yugoslavia’s Multifaced National News Agency. Illinois 1969; Dies.: Tito’s Maverick Media. The Politics of Mass Communications in Yugoslavia. Illinois 1977; Miloradović, Goran: Lepota pod nadzorom. Sovjetski kulturni uticaji u Jugoslaviji 1945-1955. Beograd 2012. 12 Gibijanskij 1987, 141. 13 Allslawisches Komitet, Brat’ja ugnetennye Slavjane! Obraščenie Vtorogo Vseslavjanskego mitinga v Moskve 4-5 aprelja 1942 goda. In: Slavjane. Ežemesjačnyj žurnal Vseslavjanskogo komiteta 1 (1942), 5-10. 14 Maslarić, Božidar: Boevoe edinstvo narodov Jugoslavii. In: Slavjane. Ežemesjačnyj žurnal Vseslavjanskogo komiteta 4 (1943), 11-14; Franič, Nikola: K 25-letiju obrazovanija Jugoslavii. In: Slavjane. Ežemesjačnyj žurnal Vseslavjanskogo komiteta 13 (1943), 13f.; Stijenskij, Radula: Brat’jam Jugoslavam. In: Slavjane. Ežemesjačnyj žurnal Vseslavjanskogo komiteta 5 (1943), 40; Allslawisches Komitet, Pečat’ borjuščejsja Jugoslaviji. In: Slavjane. Ežemesjačnyj žurnal Vseslavjanskogo komiteta 10 (1944), 34-36; Novoe v jugoslavjanskoj literature. In: Slavjane. Ežemesjačnyj žurnal Vseslavjanskogo komiteta (1946), 6-7, 55ff. 15 Ebd., 141. 16 Ebd., 143.
Jugoslawien als sowjetisches Spiegelbild
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Oktober 1945 einen Vertrag über den Austausch von Informationen und photographischem Material.17 Eine aktive Rolle bei der Herstellung der engen Beziehungen zwischen den Sowjets und den Südslawen übernahm auch das Allslawische Komitee (Vseslavjanskij komitet) in Moskau, das an die panslawistische Tradition anknüpfte und sich besonders über Rundfunk und Presse an die Slawen in anderen Ländern wandte.18 Dieses veranstaltete im Dezember 1946 einen Slawenkongress in Belgrad, auf dem ein Gesamtslawisches Komitee (Obščeslavjanskij komitet) gegründet wurde.19 Seine Aufgabe sollte die Koordination der einzelnen nationalen slawischen Komitees sein, die während des Krieges auf sowjetische Initiative hin entstanden waren. Ein Jahr später folgte die Gründung des Kominforms, das seinen Sitz ebenso in Belgrad hatte. Als Konsequenz einer intensiven Übersetzungstätigkeit erschienen die alten und neuen russischen ‘Klassiker’, wie Tolstoj und Šolochov, auf Serbokroatisch.20 Auch im Bildungsbereich bestimmte die Sowjetunion den Lehrstoff, ihre Lehrbücher wurden schließlich an jugoslawischen Hochschulen eingesetzt. Einen Austausch gab es auch im Ausstellungswesen und im Filmverleih.21 In jugoslawischen Zeitschriften wurde daher regelmäßig über die allgemeine kulturelle Tätigkeit in der Sowjetunion sowie speziell über die Ausstellungen sowjetischer Bildhauer (Muchina, Merkurov, Šader), Architekten und Maler (Gerasimov, Dejneka, Plastova) berichtet.22 In Moskau wurde im Puškin-Museum 1947 eine Kunstausstellung der jugoslawischen Völker (Vystavka iskusstva narodov Jugoslavii) gezeigt, auf welcher die Kunst der jugoslawischen Völker von der Befreiung vom osmanischen Joch bis zum sozialistischen Realismus der Nachkriegszeit 17
Ebd., 143. Fertacz, Sylwester: Von Brüdern und Schwestern. Das Allslawische Komitee in Moskau, 1941-1947. In: Osteuropa 59/12: Gemeinsam einsam. Die slawische Idee nach dem Panslawismus (2009), 139-152. von Rauch, Georg: Eine taktische Waffe. Der sowjetische Panslawismus. Dokumentation. In: Osteuropa 59/12: Gemeinsam einsam. Die slawische Idee nach dem Panslawismus (2009), 115-124. 19 Fertacz 2009, 146. 20 Gibijanskij 1987. 21 Goulding, Daniel J.: Liberated Cinema. The Yugoslav Experience, 1945-2001. Revised and Expanded Edition. Bloomington 2002, 1-32; Levi, Pavle: Disintegration in Frames. Aesthetics and Ideology in the Yugoslav and Post-Yugoslav Cinema. Stanford 2007, 1315; Miloradović 2012, 62ff., 181-239. 22 Vgl. Rom, Aleksandar: Trideset godina sovjetskog valjarstva. In: Republika. Organ jugoslovenske republikanske demokratske stranke, 21.10.1947, 3f. mit Photos der Werke von Sergej Merkurov, Vera Muchina und Ivan Šader; TASS, Kulturna blaga Ukrajine. In: Republika. Organ jugoslovenske republikanske demokratske stranke (28.10.1947), 3; Vgl. Republika. Mjesečnik za književnost, umjetnost i javna pitanja IV (1948), 704; 18
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Titos „dritter Weg“
gezeigt wurde.23 Im Vorwort des Ausstellungskatalogs werden die Jugoslawen panslawistisch als „Blutsbrüder“ (brat’ja po krovi) genannt. In der Zeitschrift Slavjane wird die Einheitlichkeit der jugoslawischen Kunst gepriesen, deren Wurzel nicht von der westeuropäischen, sondern von der byzantinischen und russischen Kunst abgeleitet werden.24 Auch das Massenmedium Radio wurde nach sowjetischem Vorbild ausgebaut und begann eine wichtige Rolle im öffentlichen Leben zu spielen.25 Auf den Titelseiten der jugoslawischen Zeitungen waren die sowjetischen Feste und Gedenktage so allgegenwärtig, als ob es um die eigene staatliche Memoria und die eigene politische Landschaft ginge. So freut sich z.B. der Vorsitzende des jugoslawischen Bundesrates, Vladimir Simić, in der Belgrader Wochenzeitung Republika erschienenen Neujahrsbegrüßung vom 7. Januar 1947 darüber, dass „die jugoslawischen Völker unter dem machtvollen Schutz der Sowjetunion mit dem slawischen Russland an der Spitze, die immer die treueste und unermüdlichste Vorkämpferin des internationalen Friedens und der Sicherheit aller Völker war und bleibt, endlich ihren Weg auch im demokratischen Frieden gefunden haben.“26 In derselben Ausgabe werden die Errungenschaften der Oktoberrevolution − der Heroismus und die geistige Kraft des russischen Volkes − gepriesen. Diese sollen Persönlichkeiten wie Dostoevskij und Lenin erst hervorgebracht haben.27 Im Aufmacher der Republika vom 28. Januar 1947 wird wiederum des 23. Todestags Lenins gedacht.28 Eine Seite weiter folgt sogar ein Interview mit dem „Generalissimus Stalin“, das von der sowjetischen Nachrichtenagentur TASS über23
Izergina, A.: Vystavka iskusstva narodov Jugoslavii v Ėrmitaž. Leningrad 1947, 3. Sidorov, A.: Vystavka iskusstva Jugoslavii. In: Slavjane. Ežemesjačnyj žurnal Vseslavjanskogo komiteta 6 (1947), 50-52. 25 Matković, Marijan: O nekima problemima radiofonije. In: Republika. Mjesečnik za književnost, umjetnost i javna pitanja IV (1948), 382-385; Zur Radiofizierung in der Sowjetunion: Murašov, Jurij: Sowjetisches Ethos und radiofizierte Schrift. Radio, Literatur und die Entgrenzung des Politischen in den frühen dreißiger Jahren der sowjetischen Kultur. In: Frevert, Ute/Braungart, Wolfgang (Hrsg.): Sprachen des Politischen. Medien und Medialität in der Geschichte. Göttingen 2004, 217-245. 26 Simić, Vladimir: Republika. Organ jugoslovenske republikanske demokratske stranke, Nr. 62, XIV, 07.01. 1947, 7. Januar, 1. «Jугословенски народи у оствареноj словенскоj солидарности, под моћном заштитом Совjeтског Савеза на челу са словенском Русиjом, коjа jе била и остаjе наjверниjи и неуморниj поборник међународног мира и безбедности свих народа, коначно су нашли своj пут и у демократском миру, до кога треба неминовно доћи, обезбедиће себи бољу и сигурниjу будућност.» 27 Bobović, Radislav: Ruski narod je vodeći u svijetu. In: Republika. Organ jugoslovenske republikanske demokratske stranke (07.01. 1947), 3. 28 Republika. Organ jugoslovenske republikanske demokratske stranke (28.01.1947), 1. 24
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nommen wurde.29 Am 28. Februar 1947 feierte die Republika zudem das 29jährige Bestehen der sowjetischen Armee und den gemeinsamen Kampf beider Truppen im Zweiten Weltkrieg.30 Am 9. September 1947 ist dann die Apotheose der ewigen Stadt Moskau das zentrale Thema.31 Die sowjetische Hauptstadt wird darin als Heimstatt von Fortschritt, Freiheit und Menschlichkeit porträtiert. Am 4. November 1947 wird schließlich der 30. Jahrestag der Oktoberrevolution begangen.32 Von der sowjetischen Seite aus werden die Jugoslawen ebenfalls nur in den höchsten Tönen gelobt. Im Nachschlagewerk Die Balkanländer (Balkanskie strany) von 1946 liest man beispielweise nur das Beste über „das heroische jugoslawische Volk“.33 Der Kampf gegen die gemeinsamen Feinde der Balkanvölker – zuerst das Osmanische Reich und später Nazi-Deutschland – hätte zur „brüderlichen Solidarität“ und zur Ausbildung der „Idee einer gemeinsamen Balkanföderation“ beigetragen.34 Doch im gleichen Atemzug fügt der Autor V. P. Kolarov hinzu, dass hinter jedem Emanzipationsschritt der Balkanstaaten immer die Russen gestanden hätten, angefangen mit dem Russisch-Osmanischen Krieg 1877-78 bis hin zum Zweiten Weltkrieg. Seit der Zeit der Großen sozialistischen Oktoberrevolution wuchs auf dem Balkan ununterbrochen der Glaube der Werktätigen an die Macht und an die Befreiungsmission des sowjetischen Volkes. Die Balkanvölker leisteten dem Aufruf Stalins Folge, einen Partisanenkampf hinter dem Rücken von Hitlers Räubern aufzubauen und sich mit allen Kräften der faschistischen Tyrannei zu widersetzen. Voran ging das heroische jugoslawische Volk unter der Führung Titos, das seine eigene nationalbefreiende Armee und die antifaschistische Volksversammlung gründete.35
„Auf dem Balkan“, kündigt der Autor an, „brach eine neue Ära an, gekennzeichnet durch die aufrichtige Freundschaft mit der Sowjetunion“.36
29
Republika. Organ jugoslovenske republikanske demokratske stranke (28.01.1947), 2. Republika. Organ jugoslovenske republikanske demokratske stranke (28.02.1947), 1. 31 Republika. Organ jugoslovenske republikanske demokratske stranke (09.09.1947), 1. 32 Republika. Organ jugoslovenske republikanske demokratske stranke (04.11.1947), 1. 33 Petrov, Fedor (Hrsg.): Balkanskie strany. Moskva 1946, 15. 34 Ebd., 6. 35 Ebd., 15. «Со времени Великой Октябрьской социалистической револуции вера трудящихся на Балканах в могущество и освободительную миссию советского народа непрерывно крепла. Балканские народы отклыкнулись на призыв Сталина развернуть партизанскую борьбу в тылу гитлеровскых разбойников, сопротивляться всеми силами фашистской тирании. Впереди шел югославский народ создавший под руководством Тито свою национльно-освободительную армию и Антифашиститское вече.» 36 Ebd., 16. 30
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Titos „dritter Weg“
1.1. Jugoslawien in kommunistischen Reiseberichten: Entbalkanisierung Auch in den Reiseberichten gestandener Kommunisten, wie der des österreichischen Kommunisten slowenischer Herkunft, Schriftsteller und Verleger Josef Martin Presterl 2000 Kilometer durch das neue Jugoslawien37 und Ilja Ehrenburgs Wege Europas (Dorogy Evropy) aus dem Jahre 1947,38 wird immer wieder auf die Russophilie der jugoslawischen Bevölkerung hingewiesen. Presterl erwähnt die Beliebtheit der russischen Spiel- und Dokumentarfilme bei jugoslawischen Kinogängern.39 Ehrenburg berichtet von der serbischen Lehrerin Katja Novaković aus Dalmatien, einer Liebhaberin der russischen Literatur, in deren Zimmer das Bild Gorkijs mit Stalin hängt. Ihr neunzigjähriger Vater wartet schon seit seiner Kindheit darauf, dass die Russen wieder in Serbien einmarschieren: „Ich war ein kleiner Bub, habe Schweine gehütet, als die Russen nach Serbien kommen…“.40 Der schwerhörige Alte behauptet sogar, die sowjetischen Kanonen vor Belgrad bis nach Dalmatien gehört zu haben – jedoch nicht mit seinen Ohren, sondern mit seinem Herzen.41 Andere wiederum müssen die russische Sprache erst erlernen. So scheint es für den jungen Aktivisten Drago Živković schwieriger zu sein, die russische Grammatik zu lernen, als die Faschisten zu besiegen.42 Doch seine Entschiedenheit sowohl im Kampf als auch beim Lernen versprechen laut Ehrenburg baldige Erfolge. Gleichzeitig mit der Übertragung des sowjetischen Lebensstils nach Jugoslawien schienen auch die Balkanklischees, die dieser Region seit dem 19. Jahrhundert anhafteten, zumindest für die Kommunisten überwunden zu sein. Ehrenburg verkündet, dass der ‚Balkan‘ nicht mehr auf dem Balkan zu verorten sei. Einst war das Wort Balkan ein Synonym für nationale Feindschaft, Bruderkriege, Palastrevolutionen, Ignoranz und Wildheit der Sitten. Diese Zeiten sind vorbei. Der 37
Presterl, Josef Martin: 2000 km durch das neue Jugoslawien. Graz 1947; Obwohl Josef Martin Presterl im Spanischen Bürgerkrieg kämpfte, Häftling im KZ-Dachau war und noch im Jahre 1947 Jugoslawien als ein kommunistisches Paradies beschrieb, half ihm sein Reisebericht 1948 dennoch nicht, die titoistische Säuberung zu überstehen. So wurde er mit seiner Verlobten Hildegard Hahn auf der Reise durch Jugoslawien verhaftet und bald danach als angeblicher Gestapoagent in den sog. „Dachauer Prozessen“ am 26. April 1948 zum Tode verurteilt und am 18. Mai 1948 hingerichtet. Vgl. Halbrainer, Heimo: Josef Martin Presterl (1916-1948). Spanienkämpfer, Autor, Verleger. In: Zwischenwelt. Zeitschrift für Kultur des Exils und des Widerstands 24/3 (2007), 18-22; http://www.kpoe-steiermark.at/aid=3284.phtml (Zugriff: 17.01.2010). 38 Ehrenburg, Ilja: Wege Europas. Zürich 1947. 39 Presterl 1947, 12, 93. 40 Ebd., 136. 41 Ehrenburg 1947, 136. 42 Ebd., 137.
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Balkan erlebt jetzt eine Epoche des kulturellen Aufstiegs, des geistigen Glühens, des Schöpfertums; und wenn noch irgendein „Balkan“ im früheren Sinne dieses Wortes existiert, so bestimmt nicht hier auf dem Balkan.43
Das Land schaukelt sich im ekstatischen kommunistischen Schwung im Stil des sowjetischen Ersten Fünfjahrplans von 1929-33, der in nur vier Jahren erfüllt wurde, in eine neue Zukunft. Aber nirgends habe ich so einen Aufschwung gesehen, wie hier. Der neue Staat konnte nicht auf einmal Reichtum oder, sagen wir, Wohlhabenheit gewähren, doch er hat die Freiheit gegeben, und wenn die Menschen in den föderativen Republiken „Tito! Ti-to!“ skandieren, legen sie diese zwei Silben einen tiefen Sinn hinein: sie begrüßen nicht nur den siegreichen Soldaten, sie begrüßen ihre Zukunft. […] Das Unmögliche wird dann möglich. Solche Stunden durchlebt jetzt Jugoslawien.44 […] Diesem Volk ist der Aufschwung eher eigen, als die Methodik, und in der Vergangenheit hatten sie öfters durch Heldenmut, als durch Organisation gesiegt; aber jetzt bauen die Partisanen von gestern, rechnen und berechnen – sie wollen hinter der Zeit nicht zurückbleiben.45
Auch Presterl verschiebt den Balkan vom Rande ins Herz Europas. Dabei bedient er sich wie Ehrenburg der sowjetisch anmutenden Aufschwungsrhetorik des Ersten Fünfjahresplans. Folgen Sie auf der Karte dem wilden Lauf der Drina oder dem breiten Tal der Save oder der majestätischen breiten Donau, dort werden bald neue Kraftwerke entstehen und Licht und Kraft in die entlegendsten Gebiete des Landes bringen… Neue Industrien wachsen aus dem Boden, neue Hochöfen, neue Stahlwerke, neue Eisenbahnlinien… Dort, wo die Karte heute noch wildes Bergland zeigt, wird bald der Klang der ersten Lokomotiven ertönen…Und mit dem Gelingen der gewaltigen Industrialisierungspläne rückt das bisher abseits gelegene Land wirtschaftlich an das Herz Europas heran… Und damit ändert sich auch seine bisheriges Stellung auf dem Balkan.46
Auch er berauscht sich am neuen Land, das „voll Farben und Leben, voll Tempo und immer neuen Überraschungen“47 sei. Die neue Brücke glänzt in der Morgensonne. Dann fahren wir in Belgrad ein, wo uns eine Welle voll heißen, unbändigen Lebens entgegenschlägt. Ein Rennen und Jagen, ein Tempo, wie nirgendwo sonst. Träger kommen, Straßenhändler stürzen auf den Bahnsteig… Schuhputzer und Zeitungsverkäufer…48
Die Geschwindigkeit steigere sich beinahe zu einem fieberartigen Zustand, der neue Menschen, die sich anders bewegen, erschaffe. „Es scheint, als wolle man hier keine Zeit verlieren,“49 äußert er sich begeistert über die 43
Ehrenburg, Ilja: Wege Europas. Zürich 1947, 156f. Ebd., 100f. 45 Ebd., 103f. 46 Presterl 1947, 3f. 47 Ebd., 3. 48 Ebd., 10. 49 Ebd., 23. 44
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kraftvolle Dynamik. Auch die Rhetorik der Zeitverknappung und Ökonomisierung wurde bereits in den 1920er Jahren in der Sowjetunion erfunden. Man hat heute keine Zeit in Belgrad und das Leben verläuft in einem eigenartigen Fieberzustand… Der Freiheitskrieg hat andere Menschen geschaffen… Das sind nicht mehr die Belgrader von gestern, die apathisch ihrer Arbeit nachgehen, nein, das sind heute andere Menschen! Wenn man nach Arbeitsschluss vor einem Fabriktor steht und auf die herauskommenden Arbeiter schaut, dann fällt einem sofort ihre besondere Haltung auf… sie sind ja Herren der Fabrik geworden und sie lieben heute ihre Fabrik, ihre Maschine… Gehört doch alles dem Staat, und der Staat, das sind sie selbst!“50
Die Geschwindigkeit mache sich in allem bemerkbar – in der Arbeit, in den Gedanken, im Aufbau; sie stehe im starken Kontrast zu seiner apathischen, statischen Heimat Österreich. Ja, hier gilt nur, wer in der Arbeit etwas leistet. Wie anders fliegen hier die Gedanken: Aufbau – Frieden – Fortschritt! Neue Schulden, neue Bibliotheken, neue Kulturhäuser, neue Fabriken… Fieber und Tempo, und wieder sehe ich die Schutthaufen meiner Heimat vor mir und die gebückten Menschen mit trostlosen Augen…51
Der kosmische Rhythmus von Tag und Nacht sei außer Kraft gesetzt. Es gebe keine ruhige Minute mehr, keinen Schlaf mehr. So wie die Maschine nie müde wird, so scheint sich auch der sozialistische Mensch in ein perpetuum mobile des sozialistischen Aufschwungs zu verwandeln. Lokomobile pusteten herbei und Traktoren kamen. Bald ratterten die Betonmaschinen unter improvisierten Wellblechdächern und die junge Stoßbrigade stürzte sich singend auf die gefährliche Stelle. Kompressoren heulten und Axtschläge klangen hell durch die bosnischen Berge. Die Arbeit ruhte nicht mehr. Tag und Nacht gab es nicht mehr, und in der Nacht flackerten die großen Karbidlampen auf. Eine Brigade kam, die andere ging. Unmögliches wurde hier möglich gemacht. Und die Jungen sangen dabei. Tausende Hände packten und überlisteten die gleitende Erde. Bald wird es keine gefährdete Stelle mehr geben in Brčko-Banovići. Es gibt hier keine Planung nach Jahren, denn alles wird nach Stunden und Tagen berechnet. […] Helden der Arbeit bringt die Strecke hervor und jeder denkt angestrengt nach, wie er seine Leistung verbessern könnte. Selbst das Halten der Schaufel spielt dabei eine Rolle und das Verladen der Loren, das Rammen der schweren Pfähle und das Tempo der Betonmaschinen.52
In der ruhigen und einsamen bosnischen Landschaft ertönt nicht mehr der Gesang der Vögel, sondern der rhythmische Lärm von Maschinen und Werkzeugen. Bergauf und bergab auf den Höhen und in den Tälern, die einmal so still und verlassen in der Hitze des Sommers, unter dem Schnee des Winters waren, begleiten uns die Rufe der arbeitenden Jugend, das Klopfen der Hämmer, das Zischen der Bohrer im Gestein, hier klingt das Leben, das Jugoslawien heute erfüllt, die Freude am Bau 50
Ebd., 16. Ebd., 31. 52 Ebd., 32. 51
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der Zukunft.53 […] Die Sonne glüht, aber die Hämmer klingen hell gegen das Gestein, und der Rhythmus des Klingens ermüdet nicht in der Hitze.54
Der Reisende nimmt schließlich alles in Form von Statistiken wahr, in denen materielle Körper zu immateriellen Kraftvektoren werden: „Die vielen Zahlen drehen sich vor unseren Augen, denn sie leben, diese Zahlen, und aus ihren Linien treten die schwitzenden Leiber der Jungen hervor, und ihre prallen Muskeln, ihren schlagenden Herzen bewegen diese Zahlen…55 Die beschleunigte Geschwindigkeit des sozialistischen Aufbaus habe, so Presterl, eine neue Ära auf dem Balkan herbeigebracht: „Was wir eben gesehen hatten, war das große Fanal einer neuen Zeit auf dem Balkan, eine überwältigende Heldensymphonie der Arbeit und Begeisterung einer neuen Jugend.“56 Das ganze Land ist zu einem riesigen Ameisenhaufen geworden, wo jeder lebt, um zu arbeiten: „Und ganz Jugoslawien ist zu einem einzigen großen Bauplatz geworden, in dem ein neuer Arbeitsstil den Alltag beherrscht.“57 Der Lärm des sozialistischen Aufbaus übertönt den Gesang des Muezzins und die befreiten bosnischen Frauen reißen sich auf Frauenversammlungen selbst den Schleier vom Gesicht ab.58 Die Säkularisierung und De-Sakralisierung des Islam durch die kommunistische Propaganda wird als Lüften des Schleiers inszeniert. Seine Abnahme wird zur Metapher der Modernisierung, Aufklärung und Emanzipation wie in den Erzählungen und Reiseberichten über Bosnien aus dem 19. und frühen 20. Jahrhundert. Die kommunistische Propaganda im Dienste Jugoslawiens ist also indirekt noch einem völkerpsychologischen Balkanbild verpflichtet, das seinen Ort in orientalistischen und imperialistisch-kolonisatorischen Diskursen hat. Sind die sozialistischen Errungenschaften in Bosnien ein „Märchen aus Tausend und einer Nacht?“ fragt sich Presterl am Ende seines Besuchs in Bosnien und beantwortet zugleich die Frage: „Nein, Wirklichkeit!“59 Gar so reibungslos scheint die Aufklärungsarbeit doch nicht verlaufen zu sein, wie in seinem Reisebericht dargelegt: 1950 wurde das Tragen des Schleiers in Jugoslawien per Gesetz verboten.60 Verstöße wurden mit hohen Bußgeldern oder gar Freiheitsstrafen geahndet. Die Bußgelder für das Tragen des Schleiers betrugen 50 000 Dinar, was einem Jahreseinkommen eines Arbeiters entsprach und die Gefängnisstrafe konnte bis zu zwei Jahre betragen. 53
Ebd., 34. Ebd., 35. 55 Ebd., 41. 56 Ebd., 42. 57 Ebd., 84. 58 Ebd., 39f. 59 Ebd., 41. 60 Anonym: Die letzten Schleier fallen. Tito modernisiert die Muselmaninnen. In: Die Zeit 41 (12.10.1950). In: Zeit online, http://www.zeit.de/1950/41/Die-letzten-Schleier-fallen (Zugriff: 19.11.2008). 54
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1.2. Vom homo balcanicus zum homo sovieticus: Abram Rooms Partisanenfilm In den Bergen Jugoslawiens (1946) Wie der Balkan angeblich durch die sowjetisch angeführte Mission aus der Rückständigkeit auf den Weg der Aufklärung geführt wurde, führt Abram Rooms Film In den Bergen Jugoslawiens (V gorach Jugoslavii) aus dem Jahre 1946 besonders anschaulich vor.61 Darin werden die Serben und Montenegriner, die zu Beginn des Films den alten Balkanstereotypen entsprechend dargestellt werden, im Prozess einer kommunistischen Zivilisierung nach sowjetischem Vorbild in neue sozialistische Menschen transformiert. Der Volksaufstand gegen den Okkupator beginnt im Film in Analogie mit der Vorgeschichte des Balkans – als Attentat: Ein mutiger Gymnasialschüler erschießt mitten auf der Straße einen hohen deutschen Befehlshaber. Die Szene erinnert an Gavrilo Princips Anschlag auf den österreichischen Thronfolger Franz Ferdinand, der den Ersten Weltkrieg auslöste. Die Landschaft – karge Berge und Schluchten – bedient ebenso die alten Balkanstereotypen. Die von der Zivilisation abgeschnittenen Berge Bosniens und Montenegros mit Hirten und Bauern (Abb. 15) sowie die orientalische Kulisse Mostars mit verschleierten Frauen (Abb. 16) bilden den Hintergrund der Partisanenbewegung. Die Angreifer und ihre Kollaborateure werden dagegen vor einer Großstadtkulisse zeigt, vor bourgeoisen Palästen und dem ersten Hochhaus in Belgrad im amerikanischen Stil, dem Albanien-Palast von 1940.
Abb. 15: Karge Berglandschaft in Jugoslawien, Abram Room, In den Bergen Jugoslawiens, 1946.
61
Abb. 16: Orientalischer Innenraum in Mostar, Abram Room, In den Bergen Jugoslawiens, 1946.
Zimmermann, Tanja: From the Haiducks to the Bogomils: Transformation of the Partisan Myth after World War II. In: Kino! Partizanski film [Kino! Partisan film] 10. Ed. Barbara Wurm. Ljubljana 2010, 62-70, hier 63ff; Miloradović 2012, 187ff., 252-257.
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Die Kampfszenen der kleinen Gruppen von Tito-Partisanen, die in burlesken Angriffen einen deutlich überlegenen Feind überlisten, wirken wie unorganisierte Raubüberfälle der Hajduken – sie geschehen spontan, werden unprofessionell durchgeführt und überzeugen letztlich nicht. So wird eine faschistische Division von einer Handvoll schlecht bewaffneter Aufständischer überwältigt, die feigen Feinde jedoch nicht getötet, sondern als unreife Männer zu ihren Müttern nach Hause in Italien zurückschickt (Abb. 17). Abb. 17: Italienische Faschisten ergeben sich ohne Kampf, Abram Room, In den Bergen Jugoslawiens, 1946.
Die Völker Jugoslawiens – ausgenommen Tito und die engsten Mitglieder des jugoslawischen Zentralkomitees – werden diesem primitiven Bild entsprechend als einfache, kräftige und impulsive Bauern in Volkstrachten und Schafsfellen gezeigt (Abb. 18). Öfter als moderne Schusswaffen wenden sie Messer und Axt an. Der Anführer des Aufstandes trägt Titos illegalen Decknamen aus dem Jahre 1939 – Slavko Babić (Abb. 19).
Abb. 18: Der Anführer des Aufstandes Slavko Babić im Schafspelz, In den Bergen Jugoslawiens, 1946.
Abb. 19: Slavko Babić mit der Axt in der Hand, Abram Room, In den Bergen Jugoslawiens, 1946.
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Dennoch repräsentiert Babić den jugoslawischen Partisanenanführer Tito nicht. Vielmehr wird er zu einer Art balkanischem Doppelgänger Titos bzw. zu dessen zweiten, archaischen Ich. Am Anfang des Films könnte er mit einem rebellischen Kaukasier oder einem aufständischen Serben oder Montenegriner aus dem 19. Jahrhundert verwechselt werden, am Ende – wenn er seine Frau verlässt, um sich der Partisanenfamilie anzuschließen – ähnelt er jedoch zusehends dem jungen Stalin, bevor dieser Lenins Nachfolger wurde (Abb. 20, Abb. 21).
Abb. 20: Slavko Babić entscheidet sich für die Partisanen-Familie, Abram Room, In den Bergen Jugoslawiens, 1946.
Abb. 21: Der Tod Slavko Babićs, Abram Room, In den Bergen Jugoslawiens, 1946.
Anders als Babić wird Tito von Anfang an dem sowjetischen Ideal eines uniformierten Menschen entsprechend dargestellt, der in seinem Habitus mit dem langen Militärmantel Stalin nach der Machtübernahme ähnelt. Babić wird zwar schlussendlich auch in einen „neuen Menschen“ verwandelt, doch stirbt er am Ende des Films auf der Belgrader Festung Kalemegdan, um dem genuin sowjetischen Menschen Platz zu machen. Auch die Kampfmoral der Tito-Partisanen hängt in den entscheidenden Augenblicken von der Sowjetunion ab, wie es die kurz vor dem entscheidenden Kampf über das Radio eingespielte Musik Čajkovskijs und die ebenso rechtzeitig über Funk eintreffende Nachricht über den Sieg von Stalingrad nahelegen. Erst am Ende des Films, als die militärisch gut ausgestattete und straff organisierte Rote Armee mit Flugzeugen, Panzern und Kanonen („Stalin-Orgel“) Tito und seinen Partisanen zur Hilfe eilt, um gemeinsam die Hauptstadt Belgrad einzunehmen, setzt sich in den Kampfszenen der sowjetische Kanon des organisierten Massenkampfes durch (Abb. 22, Abb. 23).
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Abb. 22: Russische Kanonen, Abram Room, In den Bergen Jugoslawiens, 1946.
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Abb. 23: Russische Panzer, Abram Room, In den Bergen Jugoslawiens, 1946.
Nach dem Sieg über die Nazis und ihre Kollaborateure, die Tschetniks und Ustascha, schwingt ein Partisan vor dem Reiterdenkmal des Königs Miloš Obrenović mit der jugoslawischen Fahne, womit eine Kontinuität des Heroismus seit dem Befreiungskrieg von den Osmanen im 19. Jahrhundert bis zum Partisanenkrieg hergestellt wird (Abb. 24). Die befreiten Volksmassen auf den Straßen Belgrads, die jugoslawische und sowjetische Fahnen sowie Banner mit Porträts Titos und Stalins tragen, könnten mit sowjetischen Paraden in Moskau oder Leningrad verwechselt werden. In der Schlussszene salutiert Tito mit seinen sowjetischen „Brüdern“, die einander wie ein Ei dem anderen gleichen, vor der sowjetischen und jugoslawischen Fahne (Abb. 25).
Abb. 24: Partisan schwingt die jugoslawische Fahne vor dem Reiterdenkmal des Königs Miloš Obrenović, Abram Room, In den Bergen Jugoslawiens, 1946.
Abb. 25: Tito salutiert mit den Sowjets vor der sowjetischen und jugoslawischen Fahne, Abram Room, In den Bergen Jugoslawiens, 1946.
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Die naive, manchmal gar karikierte Volkstümlichkeit, die den jugoslawischen Freiheitskämpfern im Film zugeschrieben wird, ist ein bewusst eingesetztes ideologisches Stilmittel, mit dem die führende Rolle der Sowjetunion unterstrichen wird. Der Partisanenkrieg in Jugoslawien erscheint dadurch als kleiner Ableger des sowjetischen Großkampfes. Es wird suggeriert, dass die Tito-Partisanen ohne die Sowjets den Sieg niemals hätten erringen können. Bei der Instrumentalisierung der Balkanstereotypen, durch welche die TitoPartisanen karnevalisiert werden, griffen die Sowjets die aus dem 19. Jahrhundert stammende Tradition der orientalistischen Darstellung des Balkans auf. Wie in der Beschreibung des bulgarischen Aufständischen Insarov in Turgenevs Roman Am Vorabend (Nakanune) von 1860, so schwankt auch die sowjetische Inszenierung der Südslawen zwischen der Liebe zu den „jüngeren Brüdern“ und den Balkan-Klischees.
1.3. Sozialistischer Realismus nach sowjetischem Vorbild Anfang der 1930er Jahre wurde in der Sowjetunion der sozialistische Realismus als der einzig richtige Literatur- und Kunststil verordnet.62 Er dominierte die offizielle Kunstproduktion bis Ende der 1970er Jahre nicht nur in der Sowjetunion, sondern auch in den Satellitenländern.63 Getragen von die62
Zum frühen sozialistischen Realismus in der Sowjetunion der 1930er Jahre: Groys, Boris: Gesamtkunstwerk Stalin. München 1988; Günther, Hans: Die Verstaatlichung der Literatur. Entstehung und Funktionsweise des sozialistisch-realistischen Kanons in der sowjetischen Literatur der 30er Jahre. Stuttgart 1984; Papernyj, Vladimir: Architecture in the age of Stalin: Culture two. Cambridge u.a. 2002 (russ. Orig. Kul’tura dva, Ann Arbor 1984); Zum späten sozialistischen Realismus nach 1956: Milčakov, Jani: Poetik und Politik. Geschichte und Literatur zwischen „Sozrealismus“ und „Realsozialismus“. In: Richter, Angela/Bayer, Barbara (Hrsg.): Geschichte (ge-)brauchen. Literatur und Geschichtskultur im Staatssozialismus. Jugoslawien und Bulgarien. Berlin 2006, 19-32. Milčakov bezeichnet den poststalinistischen Sozrealismus nach 1956 bis 1989 als Kontrolle ohne Kanon. Drei Kriterien, welche die Künstler einhalten mussten, seien das Vortäuschen der Normalität, der Verzicht auf gesellschaftliche Kritik sowie die Verwendung von narrativen Archetypen („Trotzkist“, „Spion“ oder „Verräter“). 63 Zum sozialistischen Realismus in den Satellitenstaaten: Petiškova, Tereza (Hrsg.): Češkoslovenský socialitzický realismus, 1948-1958. Praha 2002 (Ausstellungskatalog); Murawska-Muthesius, Katarzyna: A „new body” for the „new nation” and the search for its prototypes. A chapter in the advancement of Socialist Realism in Poland, 1949 – 1955. In: Ames-Lewis, Francis (Hrsg.): Art and politics. Warszawa 1999, 171-186; Dies.: Curator’s memory. The case of the missing „Man of Marble”, or the rise and fall of socialist realism in Poland. In: Wessel, Reinink (Hrsg.): Memory & oblivion. Proceedings of the XXIXth International Congress of the History of Art held in Amsterdam, 1-7 September 1996. Dordrecht u.a. 1999, 905-912; Damus, Martin: Malerei der DDR. Funktionen d. bildenden Kunst im Realen Sozialismus. Reinbek b. Hamburg 1991; Conermann, Gisela: Bildende Kunst in der sowjetischen Besatzungszone. Die ersten
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sem Geiste verurteilte Andrej Ždanov auf dem Ersten Allsowjetischen Kongress der Schriftsteller im Jahre 1934 die kapitalistische bürgerliche Literatur als verkommen und ihre Romantik als lebensfremd.64 Der sozialistische Realismus mit seiner „wahrheitsgetreuen, korrekten Darstellung der Wirklichkeit in ihrer revolutionären Entwicklung“ sollte hingegen der „ideologischen Umformung und Erziehung der Werktätigen im Geiste des Sozialismus“ dienen. Seine Themen sollten daher der Aufbau der neuen Gesellschaft und deren Erbauer (Arbeiter, Kollektivbauern, Parteifunktionäre, Wissenschaftler, Ingenieure, Pioniere) sein, die auf optimistische, gar revolutionäre Weise gezeigt werden sollten. Der Künstler – nach Stalins Dictum „Ingenieur der menschlichen Seele“ – sei dazu verpflichtet, den Menschen im Geiste des Sozialismus umzuformen und zu erziehen – ohne die Furcht, dabei tendenziös zu sein. Dazu soll er die besten Mittel vergangener Epochen – Genres, Stile, Formen und Methoden – auswählen und anwenden. In seiner frühen Phase wich der sozialistische Realismus der Gegenwart regelrecht aus.65 Stattdessen wurden wichtige geschichtliche Ereignisse umgeschrieben. Sie wurden als Präfigurationen des Sieges der Bolschewiki in der Oktoberrevolution in Perspektive gesetzt. Sieben Jahre später noch, kurz vor dem Eintritt der Sowjetunion in den Krieg, wurden dieselben Vorschriften auf der großen Ausstellung der besten Werke sowjetischer Künstler (Vystavka lučšich proizvedenij sovjetskich chudožnikov) in der Tretjakow-Galerie in Moskau erneut in einem scheinbar allumfassenden Themenkatalog resümiert und exemplifiziert. Die großen Ideen der Revolution widerzuspiegeln, die Bilder ihrer Funktionäre und Führer zu übermitteln, den heroischen Kampf des sowjetischen Volkes in den Jahren des Bürgerkrieges zu zeigen, den sozialistischen Aufbau, neue Formen im gesellschaftlichen Leben, im Alltag und in der Produktion widerzuspiegeln, die Natur unserer unermesslichen, wunderschönen Heimat darzustellen, den sowjetischen Menschen das Gesicht zu verleihen – dies ist noch bei weitem nicht das volle Verzeichnis der hinreißenden und ehrenvollen Aufgaben, an deren Erfüllung die sowjeti-
Schritte bis hin zum sozialistischen Realismus im Spiegel der Zeitschrift „Bildende Kunst“ von 1947 bis 1949. Frankfurt a.M. 1995; Åman, Anders: Die osteuropäische Architektur der Stalinzeit als kunsthistorisches Problem. In: Dolff-Bonekämper, Gabriele (Hrsg.): Städtebau und Staatsbau im 20. Jahrhundert. München u.a. 1996, 131150; Goeschen, Ulrike: Vom sozialistischen Realismus zur Kunst im Sozialismus. Die Rezeption der Moderne in Kunst und Kunstwissenschaft der DDR. Berlin 2001; Schultz, Deborah: Private and public artistic identity in socialist realist Romania. Arnold Daghani in context. In: Centropa 3 (2003), 116-131. 64 Shdanov [Ždanov], Andrei: Rede auf dem 1. Unionskongress der Sowjetschriftsteller 1934. In: Über Kunst und Wissenschaft. Stuttgart 1952, 3-12; Zur Doktrin des sozialistischen Realismus: Sander, Hans-Dietrich: Marxistische Ideologie und allgemeine Kunsttheorie (= Veröffentlichungen der List Gesellschaft 67). Basel-Tübingen 1975, 17-46. 65 Sander 1975, 32f.
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schen Künstler arbeiten. Unsere Wirklichkeit ist wunderschön – sie dient als reiche Quelle, aus der die Künstler die unterschiedlichsten Themen schöpfen können.66
Sie blieben bis in die 1950er Jahre bindend. In den 1970er Jahren wurde dieser Katalog, insbesondere in der Sowjetunion und in der DDR, noch lauthals gepriesen.67 Auch Stalins anderes Diktum, dass der Künstler das Leben kennen muss – jedoch nicht „tot, nicht einfach als ‚objektive Realität‘, sondern in seiner revolutionären Entwicklung“ – wurde erneut aufgegriffen.68 Der genannten Ausstellung – „einer Summe der realistischen Strömungen in der Sowjetunion der letzten 23 Jahre“ – wurde enorme Bedeutung zugeschrieben, da sie „mit ihrer politischen, wissenschaftlichen und künstlerischen Bedeutung alle früheren Ausstellungen der sowjetischen Kunst übertraf“.69 Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden die Vorschriften des sowjetischen, sozialistischen Realismus für alle sozialistischen Länder auf dem Weg in den Kommunismus verbindlich. Nach einer Phase der Lockerung in der Kriegszeit rief das Zentralkomitee 1946-47 wieder zur Disziplin auf. Auf der Ausstellung der Kunst der Völker Jugoslawiens (Vystavka iskusstva narodov Jugoslavii) in Moskau im Jahre 1947 lobte die sowjetische Kunsthistorikerin A. Izergina daher „die einheitliche Entwicklungslinie“ wie auch „die nationalen Züge“ der jugoslawischen 66
Vystavka lučšich proizvedenij sovjetskich chudožnikov. Putevoditel’ [Die Ausstellung der besten Werke der sowjetischen Künstler. Ein Führer]. Moskau 1941, 5. «Отразить великие идеи револуции; передать образы ее деятелей и вождей; показать героическую борьбу советского народа в годы гражданской войны; отразить социалистическую строительство, новые формы в общественой жизни, в быту, на производстве; изобразить природу нашей необъятной, прекрасной родины; дать образ советского человека – вот тот далеко не полный перечень увлекательных и почетных задач, над выполнением которых работают советские художники. Наша действительность прекрасна – она служит богатым источником, откуда художники могут черпать самые разнообразные темы.» 67 Lukin, Jurij A.: Der aktive Charakter der Kunst des sozialistischen Realismus. In: Marxistisch-leninistische Ästhetik und das Leben. Moskau 1976, 229-239; Eckelt, Michael: Das verkümmerte Leben. Sozialistischer Realismus, Kunstproduktion, Kuturrevolution. In: Das Unvermögen der Realität. Beiträge zu einem anderen materialistischen Ästhetikum. Berlin 1974, 155-184; Kuhirt, Ulrich: Wege zum sozialistischen Realismus. Zu Tendenzen des Kunstschaffens in der Sowjetunion während des Aufbaus der Grundlagen des Sozialismus. In: Bildende Kunst 1977, 487-490; Kulikova, Irina: Sozialistischer Realismus und soziale Realität. In: Actes du Sixième Kongrès International d’Esthétique. Uppsala 1972, 207-208; Dies.: Der sozialistische Realismus. Die fortschrittliche Methode der Gegenwart. In: Kulikova, Irina/Sis, A.: Marxistisch-leninistische Ästhetik und das Leben. Moskau 1976, 240-252; Pacht, Erwin/Batt, Kurt/Feist, Peter H.: Einführung in den sozialistischen Realismus. Berlin 1975; Koch, Hans: Zur Theorie des sozialistischen Realismus. Berlin 1975; Jarmatz, Klaus/Beyer, Ingrid (Hrsg.): Der Fortschritt in der Kunst des sozialistischen Realismus. Analysen und Aufsätze. Berlin 1974. 68 Vystavka lučšich proizvedenij sovjetskich chudožnikov, 6. 69 Ebd., 6.
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Kunst, die sich im Interesse an der realen Welt, in der Liebe zu den Menschen und zur Natur des Heimatlandes, im Optimismus und in der Lebensfreude“ zeigen würden.70 Ab 1950 wurden in der Tretjakow-Galerie in Moskau alle zwei Jahre allsowjetische Ausstellungen organisiert (1950,71 1952,72 195473), auf denen kanonische Bilder gezeigt wurden. Diese Bemühungen um eine Vereinheitlichung des künstlerischen Stils mündeten 1958 in der großen Internationalen Ausstellung der Werke der darstellenden Kunst aus sozialistischen Ländern (Vystavka proizvedenij izobrazitel’nogo iskusstva socialističeskich stran). Ebenda wurde sichtbar, dass z.B. die nationalen Traditionen der asiatischen Länder zwar eine Rolle spielten, sie aber in der Motivwahl und im Geiste jedoch alle dem sozialistischen Realismus verpflichtet blieben.74 Dort präsentierten zwölf sozialistische Länder – Albanien, Bulgarien, Ungarn, Vietnam, die DDR, China, Korea, die Mongolei, Polen, Rumänien, die UdSSR und die Tschechoslowakei – die Errungenschaften des sozialistischen Realismus in ihren eigenen nationalen Varianten. Jugoslawien nahm wegen der erneuten Abkühlung der Beziehungen zur Sowjetunion im Jahre 1957 nicht daran teil. Parallel zu dieser großen Ausstellung wurden 1957 und 1958 auch kleinere Ausstellungen organisiert, die sich der Kunst befreundeter Länder (wie Polen, die DDR, Rumänien, Bulgarien und Albanien) widmeten.75 In Jugoslawien blieb der sozialistische Realismus von 1945 bis 1950, d.h. noch zwei Jahre nach dem Bruch Titos mit Stalin, die führende Kunstrichtung.76 Im Jahre 1948, kurz vor dem Ausschluss Jugoslawiens aus dem Kominform, veröffentlichte die Kulturzeitschrift Republik. Monatsschrift für Literatur, Kunst und öffentliche Fragen (Republika. Mjesečnik za književnost, umjetnost i javna pitanja) in Zagreb mehrere Aufsätze, die weiterhin die Kultur nach sowjetischem Vorbild forderten. Čedomir Minderović verlangte auf dem Plenum des Verbandes der Schriftsteller Jugoslawiens im November 1947 in seiner Rede „Über unmittelbare Aufgaben unserer Literatur und unserer Literaturschaffenden“ von der neuen jugoslawischen Literatur, dass sie parallel zum ersten Fünfjahresplan der wirtschaftlichen und 70
Izergina 1947, 6f. Sysoev, P.M. (Hrsg.): Vsesojuznaja chudožestvennaja Vystavka 1950 goda. Moskva 1952. 72 Sysoev, P.M. (Hrsg.): Vsesojuznaja chudožestvennaja Vystavka 1952 goda. Moskva 1953. 73 Emel’janova, I.D./Rozanova, V.A. (Hrsg.): Vsesojuznaja chudožestvennaja Vystavka: živopis’, skul’ptura, grafika, plakat, dekor. Moskva 1955. 74 Obretenov, A.: Vystavka proizvedenij izobrazitel’nogo iskusstva socialističeskich stran. Moskva 1958. 75 Mytareva, Kira: Vystavka proizvedenij izobrazitel’nogo iskusstva iz pol’skih muzeev. Moskav 1957; Obretenov, A.: Sovremennoe izobrazitel’noe iskusstvo NR Bolgarii. Moskva 1958; Rumynskaja narodnaja Respublika. Moskva 1958; Vipper, B.R.: Vystavka proizvedenij iz muzeev Germanskoj demokratičeskoj Respubliki. Moskva 1958. 76 Miloradović 2012, 129-239. 71
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politischen Entwicklung des Landes folgen sollte.77 Denn das neue Jugoslawien sei durch seinen Befreiungskampf und den Aufbau der Volksdemokratie nach der Sowjetunion das erste Land, dessen Schritte im Ausland von Millionen mit Sympathie und Begeisterung verfolgt würden. Unter solchen Bedingungen haben die Lage und die Entwicklung unserer Literatur, das Bestehen und die Tätigkeit des Verbandes jugoslawischer Schriftsteller – neben der Literatur der sowjetischen Brudervölker – eine besondere Bedeutung sowohl im Land, vor dem Antlitz unserer Volksschichten, als auch im Ausland, im Bezug auf andere Völker, im Bezug auf die Literaturen, das kulturelle und allgemein gesellschaftliche Leben und die Entwicklung anderer Länder. Unter dieser besonderen, starken Beleuchtung verliert jedes Phänomen unserer Literatur seinen engen, ausschließlich literarischen Charakter – es wird zum allgemeinkulturellen, gesellschaftlichen Phänomen sowohl im Bezug auf unsere Völker als auch im Bezug auf die Völker anderer Länder.78
So wie in der Sowjetunion, so soll auch in Jugoslawien die Literatur „Ausdruck des Lebens, der Anstrengungen, der Siege und der Bestrebungen unseres Menschen der breitesten Volksschichten, des Menschen des neuen Jugoslawiens“ sein.79 Jugoslawische Zeitungen sollen zur „künstlerischliterarischen Tribüne“ werden. Sie sollen „erziehen und durch den Kampf um die Sauberkeit der theoretisch-künstlerischen Ideen und den künstlerisch ausgedrückten Inhalt über die Entwicklungstendenzen unserer Wirklichkeit, unserer Gesellschaft und unserer Menschen die Kriterien der Leser schärfen“.80 Nicht nur die Zusammenarbeit zwischen den brüderlichen Republiken, sondern auch mit allen anderen slawischen Völkern im Ausland soll noch stärker intensiviert werden.81 Unsere Schriftsteller müssen die kulturelle und literarische Zusammenarbeit zwischen den brüderlichen Republiken verstärken, damit durch ein noch tieferes Kennenlernen aller unserer Völker mit ihren kulturellen Traditionen, Errungenschaften und der gegenwärtigen literarischen Aktivität diese Kenntnis zu unserem Allgemein-
77
Minderović, Čedomir: O neposrednim zadacima naše književnosti i naših književnih radnika. In: Republika. Mjesečnik za književnost, umjetnost i javna pitanja Nr. 1 Jg. 4 (1948), 1-8. 78 Ebd., 2. „U takvim uslovima, stanje i razvitak naše književnosti, postojanje i rad Saveza književnika Jugoslavije – posle književnosti bratskih sovjetskih naroda imaju naročiti značaj, kako u zemlji, pred licem naših narodnih slojeva, tako i u inostranstvu, u odnosu na druge narode, u odnosu na književnosti i kulturni i opštedruštveni život i razvitak drugih zemalja. U tome naročitom, jakom osvetljenju svaka pojava naše književnosti gubi isključivi usko književni karakter – ona postaje jak opštekulturni, društveni činilac i u odnosu na naše narode i u odnosu na narode drugih zemalja.” 79 Ebd., 2. 80 Ebd., 2. 81 Ebd., 3, 6f.
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gut und zum neuen Faktor unseres allgemeinen kulturellen und gesellschaftlichen Fortschritts werden.82
Als Vorzeigebeispiel nennt der Autor einerseits den Besuch jugoslawischer Kulturdelegationen in der UdSSR, in Albanien, Ungarn, Polen und Deutschland sowie andererseits die Schriftsteller aus Albanien, Bulgarien, Ungarn, Rumänien, der Tschechoslowakei, Polen und Frankreich, die in Jugoslawien als Gäste tätig seien. Der kroatische Dichter Marin Franičević weist in seiner im sowjetischen Stil gehaltenen Rede mit dem Titel „Einführung in die Diskussion über unsere Zeitungen“ auf die Mängel im jugoslawischen Zeitungswesen hin. Dazu gehören etwa dekadente, prinzipienlose, formalistische Beiträge ohne ideologische Stärke.83 Weitere Schwächen seien die Verschlossenheit der Literatur vor dem Leben und vor der Aktualität, sowie schlechte und oft falsche Kritik, der es an Schärfe und kämpferischem Geist mangele, ein übermäßig großer Anteil an Übersetzungen und eine zu geringe Förderung der jungen Schriftsteller. Diese sollten über die jüngsten Ereignisse wie den Befreiungskrieg und den Aufbau des Landes, über Fabriken, Zadruga-Organisationen, die Agrarreform, neue Maschinen, Straßen und Häfen, schreiben. Von den Zeitungsredaktionen verlangt der Autor eine klare Ideenausrichtung, Genauigkeit und bessere Organisation. Trotz starker Kritik schließt Franičević optimistisch: „Die Literatur des sozialistischen Realismus wird zwar nicht allein durch Deklarationen geschaffen, aber so werden wir wenigstens entschlossen diesen Weg beschreiten, auf den uns unsere ganze Wirklichkeit hinführt.“84 Der Vorsitzende des Verbandes jugoslawischer Schriftsteller, der spätere Nobelpreisträger Ivo Andrić, richtet sich in seinem Beitrag direkt an die Schriftsteller. Er will sie auf ihre neuen Aufgaben aufmerksam zu machen, die in der Erneuerung und dem Aufbau nicht nur des ganzen Landes, sondern auch eines neuen Menschen bestehen sollten.85 Der kroatische Dichter und Kritiker Radovan Zogović verlangt auf der Sitzung des Verbandes kroatischer Schriftsteller außerdem, dass diese „künstlerisch breit und lebendig unsere gegenwärtige Geschichte, ihre schweren und ruhmreichen Abschnitte, unsere Gesellschaft und den zeitgenössischen Menschen wider82
Ebd. 5. „Naši književnici moraju da pojačaju kulturnu i književnu saradnju između bratskih republika da bi, još dubljim upoznavanjem svih naših naroda sa njihovim kulturnim tradicijama, tekovinama i savremenom književnom aktivnošću, to poznavanje postalo naša opšta svojina i nov činilac našeg opšteg kulturnog i društvenog napretka.” 83 Franičević, Marin: Uvod u diskusiju o našim časopisima. In: Republika. Mjesečnik za književnost, umjetnost i javna pitanja Nr. 1 IV (1948), 8-17, hier 11. 84 Ebd., 17. „Književnost socijalističkog realizma ne stvara se samim deklaracijama, ali barem ćemo odlučno poći tim putem, kojim nas vodi čitava naša stvarnost.” 85 Andrić, Ivo: Riječ književnicima Hrvatske. In: Republika. Mjesečnik za književnost, umjetnost i javna pitanja IV (1948), 217-220.
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spiegeln [sollen].“86 Um „den Massenheroismus, die unglaubliche Widerstandsfähigkeit und den Fleiß unseres ganzen Volkes“ auszudrücken, sollte man sich der Methode des sozialistischen Realismus nach dem Vorbild Maksim Gorkijs bedienen. Der Leser, selbst Arbeiter, lebe demzufolge mit der Arbeit und freue sich über den Fortschritt, den der Schriftsteller beschreibt. Trotz der niedrigen literarischen Qualität lobt der Autor den Almanach Auf der Bahnstrecke (Na pruzi, 1947) über den Aufbau der Strecke Brčko-Banovići. Dieser stellt in seiner Mischung aus Fragmenten, Skizzen, Reportagen und Liedern, das Produkt eines Schriftstellerkollektivs, wie die der Proletkunst in der Sowjetunion, dar.87 Er ruft auch zu einem Wettbewerb im Schreiben von Liedern über die jugoslawische Befreiungsarmee und die Arbeitsbrigaden auf. Der Kritiker Jovan Popović polemisiert noch auf der Titelseite der 1948 neu gegründeten Zeitschrift Književne novine (Literarische Neugkeiten), dem Organ des Verbands der jugoslawischen Schriftsteller, gegen die idyllischen bürgerlichen Darstellungen. Die heroische Wirklichkeit könne keine Idylle ertragen, weil die Anstrengungen, die Überwindung der Schwierigkeiten und der Kampf um den Aufbau des Neuen dem Leben „Schönheit und Größe“ verleihen würden. Der Idealismus dagegen verkleinere sie und mache sie oberflächlich. So schließt er: „Nicht die Idylle, sondern eine tiefe, wahrhafte, leidenschaftliche, kritische Begeisterung verlangt der Aufschwung unserer Wirklichkeit.“88 Als repräsentativ für die stalinistische Ästhetik in der bildenden Kunst Jugoslawiens galten die preisgekrönten Arbeiten des Bildhauers Antun Augustinčić und des Malers Slavko Pengov.89 Erster, der zugleich Vorsitzender der Union der bildenden Künstler Jugoslawiens und Mitglied des Allslawischen Komitees war, errichtete in Batina Skela an der Donau ein dreißig Meter hohes Denkmal zu Ehren der Roten Armee (Abb. 26). Die Personifikation des sowjetischen Heeres mit Schwert und Fackel an der Spitze des Obelisken ist ein Konglomerat aus der antiken Nike von Samotrake und Vera Muchinas Skulptur Arbeiter und Kolchosbäuerin, die im Jahre 1937 auf der Pariser Weltausstellung vor dem sowjetischen Pavillion aufgestellt wurde (Abb. 27).90 So wie das Vorbild Muchinas stellte auch 86
Horvat, Joža: Naš rad i naši zadaci. In: Republika. Mjesečnik za književnost, umjetnost i javna pitanja IV (1948), 220-234, hier 220f. 87 So wie in der Sowjetunion, so wurde auch in Jugoslawien nach dem Krieg in den späten 1940er Jahren dieses Genre gepflegt; vgl. auch Autor: Almanah omladinske pruge Nikšić-Titograd. Titograd 1948. 88 Popović, Jovan: Reč književnika. In: Književne novine. Organ saveza književnika Jugoslavije 1 (17.02.1948), Titelseite. „Ne idiličnost, nego duboko, istinito, strasno, kritičko oduševljenje traži zamah naše stvarnosti.“ 89 Zum sozialistischen Realismus in der slowenischen Monumentalmalerei: Pavlinec, Donovan: Slovenski inženirji človeških duš. Monumentalne stenske poslikave socialističnega realizma. In: Zbornik za umetnostno zgodovino. Nova vrsta 44 (2008), 114-138. 90 Zimmermann, Tanja: Jugoslawien als neuer Kontinent – politische Geografie des ‚dritten Weges’. In: Jakiša, Miranda/Pflitsch, Andreas (Hrsg.): Jugoslawien – Libanon.
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Augustinčić seine Skulptur auf einen gigantischen Sockel. Der Vorbildcharakter dieser Skulptur für den sowjetischen Kanon in Jugoslawien stellt sich auch in den Reiseberichten Josef Martin Presterls 2000 Kilometer durch das neue Jugoslawien und Ilja Ehrenburgs Wege Europas heraus.91 Sie diente dem späteren Denkmal der Gefallenen von Sreten Stojanović aus dem Jahre 1951 als Vorbild.92 Die Skulptur wirkte sogar auf die Sowjetunion zurück, was sich in dem über 80 Meter hohen Denkmal mit dem Titel Mutter-Heimat ruft (Rodina Mat’ zovet) des sowjetischen Bildhauers montenegrinischer Herkunft Evgenij V. Vučetič manifestiert, das dieser in den Jahren 1959-67 zum Gedächtnis der Schlacht von Stalingrad auf dem Mamaj-Hügel in Volgograd errichtete.
Abb. 26: Antun Augustinčić, Das Denkmal für die Rote Armee, Batina Skela an der Donau, 1948.
Abb. 27: Vera Muchina, Arbeiter und Kolchosbäuerin, Weltausstellung in Paris, 1937.
Das Vorbild für den sozialistischen Realismus in der Malerei war das monumentale Wandfresko in Titos Regierungsvilla am Bleder See, das 1948 den Preis des Komitees für Kultur und Kunst Jugoslawiens erhielt (Abb. 28).93 Verhandlungen von Zugehörigkeit in den Künsten fragmentierter Kulturen. Berlin 2012, 73-100, hier 74ff; Miloradović 2012, 234ff. 91 Presterl 1947, 56; Ehrenburg 1947, 114. 92 Miloradović 2012, 234ff. 93 Nagrade Komiteta za kulturu i umetnost jugoslovenskim književnicima i umetnicima. In: Književne novine. Organ Saveza književnika Jugoslavije 4 (09.03.1948), 1ff.
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Abb. 28: Slavko Pengov, Wandmalerei in der Regierungsvilla in Bled, Ausschnitt, 1947.
Es zeigt die siegreiche Partisanenarmee, die das Proletariat und das verarmte Bauerntum in die Freiheit führte. Pengov hatte sich bereits in den 1930er Jahren mit religiöser Kirchenmalerei einen Namen gemacht. Das hinderte ihn allerdings nicht daran, nun als Maler des sozialistischen Realismus Karriere zu machen. So durfte er neben dem Gebäude des Zentralkomitees in Belgrad auch das slowenische Parlament in Ljubljana dekorieren. Vor allem die frühen Partisanendenkmäler der Bildhauer Boris Kalin (Gefangener, 1954), Zdenko Kalin (Partisanendenkmal auf dem Hl. Urh, Befreiung und Gefangene, Freiheitskampf, 1949), Karel Putrih (Partisanendenkmal auf dem sv. Urh, 1949), Lojze Dolinar (Rekonstruktion, 1946, Bombenangriff, Denkmal für die getöteten Patrioten bei Jajnica, 1954), Pavao Perić (Transport des verwundeten Partisanen) und Radeta Stanković (Relief Befreieung Belgrads, Neuer Friedhof in Belgrad, 1954) befolgten noch lange den sowjetischen Kanon (Abb. 29).94
94
Bihalji Merin, Oto (Hrsg.): Yugoslav Sculpture in the twentieth century. Beograd 1955, 122f., 125-129, 133, 138, 142-144.
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Abb. 29: Zdenko Kalin/Karel Putrih, Arbeit und Jugend, Partisanendenkmal, Villa Rožnik in Ljubljana, 1949.
Der damalige Kulturminister Milovan Djilas, später Dissident, verlangte unmittelbar nach der Ausschließung des Landes aus dem Kominform auf dem V. Kongress der Kommunistischen Partei Jugoslawiens von den Kulturschaffenden die Unterstützung des klassischen Marxismus („Reinheit der marxistisch-leninistischen Theorie“) und des jugoslawischen Patriotismus.95 Gleichzeitig wurden jedoch schon Gulags nach sowjetischem Vorbild eingerichtet, in denen mutmaßliche Stalinisten interniert werden sollten. Djilas propagierte doppelzüngig trotzdem weiterhin die Liebe zur Sowjetunion sowie die Grundsätze des sozialistischen Realismus. Auch Zogović forderte, sich nicht von sowjetischen, sondern von westlichen Erscheinungen wie Antihumanismus, Individualismus, Nationalismus, Pessimismus, Formalismus, Antirealismus oder Dekadenz sowie von der falschen Fortschrittlichkeit 95
Djilas, Milovan: Iz izveštaja Milovana Djilasa o agitaciono-propagandnom radu CK Komunističke partije Jugoslavije. In: Književne novine 24 (27.07.1948), 2.
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(novatorstvo) zu befreien.96 Beide Reden waren nicht gegen die Sowjetunion gerichtet und auch Stalin wird immer wieder von beiden Autoren zitiert. Anstatt eine Attacke gegen die Sowjetunion zu lancieren, wollten sie vielmehr einen Rückfall in den westlichen Kapitalismus verhindern. So sandte die Union der jugoslawischen Schriftsteller, angeführt von ihrem Vorsitzenden Ivo Andrić, noch im November 1948 zum Jahrestag der Oktoberrevolution ein Gratulationstelegramm an die sowjetischen Schriftsteller. Es wurde auf der Titelseite der Književne novine vom 9. November veröffentlicht. Das Telegramm begleiten die Porträts Lenins und Stalins aus der Hand der sowjetischen Künstler A.I. Troickij und N. Andrejev.97 Auch in der Karikatur, der effektivsten Waffe der Propaganda, blieb die sowjetische Produktion vorbildhaft.98 Noch am 17. Mai 1949 forderte Branko Šotra – ein Oberst der jugoslawischen Armee sowie Maler und seit 1948 Rektor der Akademie für angewandte Künste in Belgrad – die jugoslawischen Künstler in seinem Vortrag „Die Fragen unserer Karikatur“ auf, sämtliche Elemente des sozialistischen Realismus anzuwenden und diese von zeitgenössischen sowjetischen Vorbildern zu kopieren.99 So griffen Karikaturen, unabhängig davon, ob sie in der sowjetischen Pravda oder in der jugoslawischen Karikaturzeitung Jež erschienen, dieselben Motive und dieselben Stereotype auf.100 Zum Standardrepertoire gehörten dabei die Angriffe gegen den westlichen Imperialismus und dessen Hegemoniestreben, aber auch Angriffe gegen eine auf Ausbeutung der Bodenschätze abzielende, diskriminierende Außenpolitik des Westens, die schließlich den Weltfrieden gefährde. Ebenso wurde die westliche Politik der Einmischung angeprangert und unliebsame Politiker der Gegenseite wurden gelegentlich mit Adolf Hitler verglichen. Während die sowjetische Karikatur nach 1948 unmittelbar Tito attackierte, war die jugoslawische Karikatur vorsichtiger und richtete sich eher indirekt gegen die Satellitenländer.
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Zogović, Radovan: O jednoj strani boarbe za novu, socijalističku kulturu i umjetnost. Riječ Radovana Zogovića u diskusiji na Petom kongresu KPJ. In: Književne novine 24 (27.07.1948), 3; Anonym: Peti kongres komunističke partije Jugoslavije“. In: Republika IV, 733-744. Književne novine 39 (09.11.1948), Umschlagseite. Zogović, Radovan: O karikaturi. Povodom izložbe jugoslovenskih karikaturista. In: Književne novine 17 (09.06.1948), 3. Dobrivojević/Miletić 2004, 164. Vgl. Luburić, Radonica: Vrući mir hladnog rata. Hladni rat i sukob Staljin-Tito u karikaturama sovjetske, informbirovske i politemigrantske štampe, Podgorica 1994.
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2. Die schablonenhafte Befreiung von der sowjetischen Schablone 2.1. Gegenseitige Orientalisierung. Die Balkanisierung Jugoslawiens und die Asiatisierung der Sowjetunion Das Kominform schloss Jugoslawien am 28. Juni 1948 – dem symbolisch bedeutsamen St. Veitstag (Vidovdan), dem Jahrestag der Niederlage der Serben auf dem Amselfeld – aus der „einträchtigen Familie“ der kommunistischen Staaten aus. In der darauf folgenden Übergangsphase, in der sich Jugoslawien vom Ostblock trennte, um einen „dritten Weg“ des sich „selbstverwaltenden“ Volkes zu beschreiten, griffen sowohl sowjetische als auch jugoslawische Politiker die kulturellen Stereotypen vom Balkan sowie von Russland auf. Aktuelle politische Fragen wurden auf diese Weise historisiert, zeitlich und räumlich verschoben und mit geschichtlichen Querverweisen auf alte imperiale Diskurse untermauert. In der Resolution des Imformbüros, die die Pravda am 28. Juni 1948 auf der Titelseite veröffentlichte, wurde der Kommunistischen Partei Jugoslawiens das Abkommen von der „richtigen Linie“ des Stalinismus auf den alten Irrweg des „Marxismus-Leninismus“ vorgeworfen.101 Im Land tauchten angeblich Erscheinungen des kapitalistischen Imperialismus auf. Dazu gehöre die Auflösung der Partei in einer parteilosen Masse und die Verabschiedung neuer Privateigentumsgesetze. Die Kommunistische Partei Jugoslawiens organisiere darüber hinaus geheime Versammlungen eines „sektantisch-bürokratischen Typs im halblegalen Zustand“ und lehne die „brüderliche Hilfe“ der Sowjetunion ab. Der Zustand in Jugoslawien wird letztlich als „Entartung“ (preroždenie) bezeichnet und die kommunistische Regierung Jugoslawiens als „ein schändliches, gänzlich türkisches, terroristisches Regime“ (pozornyj, čisto tureckij, terorističeskij režim) diffamiert. Die Schrift stellte Jugoslawien also nicht nur als eine von der kommunistischen ‚Rechtgläubigkeit‘ abgefallene Sekte dar, die einen kommunistischen ‚Raskol‘ schüre, sondern griff auch den alten Diskurs der Balkanisierung auf. Die sowjetische Übermacht wurde von den jugoslawischen Politikern im Gegenzug mit dem rückständigen Tataren-Joch verglichen. Im Ton ähnelten diese Attacken den gegen Russland gerichteten Pamphleten von Gottfried Wilhelm Leibniz, in denen dieser die Russen als „Türken des Nordens“ und als „Barbaren“ bezeichnete, vor denen sich Europa schützen sollte.102 Die 101 102
Rezoljucija Informacionnogo bjuro o položenii v Kommunističeskoj partii Jugoslavii. In: Pravda 181 (28.06.1948), 1. Benz, Ernst: Leibniz und Peter der Große. Der Beitrag Leibnizens zur russischen Kultur-, Religions- und Wirtschaftspolitik seiner Zeit. Berlin 1947 (= Leibniz zu seinem 300. Geburtstag 1646-1946), 5.
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Orientalisierung Russlands wurde im 19. Jahrhundert durch weitere Denker der Aufklärung vorangetrieben, darunter Voltaire, der Comte de Ségur und der Marquis Adolphe de Qustin.103 Die asiatische Komponente Russlands war deshalb bis hin zu André Gide und Jacques Derrida der rote Faden der Debatte über die russische Identität.104 Über die Asiatisierung Russlands diskutierte nicht nur Westeuropa. In Russland selbst spaltete sich die Intelligenzija in ein pro-westliches und ein pro-östliches Lager, das mit einer antieuropäischen, asiatischen Identität kokettierte. In den Schriften des prowestlichen und zum Katholizismus konvertierten Schriftstellers Nikolaj Čadaaev werden die Russen wegen ihres vermeintlichen asiatischen Charakters sogar als ein Nomadenvolk ohne Physiognomie und Geschichte bezeichnet.105 Die Gespaltenheit des Landes zwischen Asien und Europa wurde das Leitmotiv zahlreicher literarischer Werke und philosophischer Essays, angefangen bei Puškin und Dostoevskij bis hin zu Nikolaj Berdjajev und Andrej Belyj.106 Im Zuge des politischen Projekts eines Eurasianismus, das Pavel Troubeckoj in den 1920er Jahren initiierte, forderte man sogar die Trennung von den europäischen Traditionen. Die asiatische Komponente Russlands wurde dabei ins Positive gewendet und die Gemeinsamkeiten der Russen mit den asiatischen Völkern wurden hervorgehoben.107 Mit diesem Diskurs war auch der kroatische Schriftsteller Miroslav Krleža, der nach 1948 zum wichtigsten Ideologen des „dritten Weges“ avancierte, bestens vertraut. Der orientalistische Asien-Topos taucht schon in den 1920er Jahren in seinem Reisebericht Ausflug nach Russland (Izlet u Rusiju, Zagreb 1926) auf.108 Bereits in Berlin – dem ‚Eingangstor’ in die Sowjetunion, an dem sich zu dieser Zeit viele russische Emigranten aufhielten – nahm Krleža eine gewisse asiatische Stimmung wahr.109 In seiner Rede auf dem 103 104 105
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Vgl. Wolff 2004. Scott, David: Semiologies of Travel. From Gautier to Baudrillard. Cambridge 2004, 110-160. Tschadaajew, Peter: Apologie eines Wahnsinnigen. Geschichtsphilosophische Schriften. Leipzig 1992, 26; Vgl. auch Groys, Boris: Die Erfindung Russlands. München-Wien 1995, 22f. Sahni, Kalpana: Crucifying the Orient. Russian Orientalism and the Colonisation of Caucasus and Central Asia. Oslo 1997, 33-89. Zur eurasischen Bewegung in Russland: Frank, Susanne: Europa und die Grenzen im Kopf. In: Kaser, K./Gramshammer-Hohl, D./Pichler, R. (Hrsg.): Wieser Enzyklopädie des europäischen Ostens, Bd. 11. Klagenfurt 2003, 197-226. Zum kroatischen Mythos des Schutzwalls gegen den Islam, der auch in den Kriegen der 1990er Jahre wieder auflebte vgl.: Žanić, Ivo: Nationale Symbole zwischen Mythos und Propaganda. In: Melčić, Dunja (Hrsg.): Der Jugoslawien-Krieg. Wiesbaden 2007, 2. aktualisierte und erweiterte Auflage, 286-292. Krleža, Miroslav: Izlet u Rusiju 1925. Jubilarno izdanje u povodu devedesetih godina proteklich od autorova rođenja. Hrsg. Ivo Frangeš. Sarajevo 1985, 127. „Gdje počnije Evropa, a gdje svršava Azija, precizno odrediti nije stvar posvema jednostavna. […] U
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Dritten Schriftstellerkongress in Ljubljana im Jahre 1952, als nicht nur politisch, sondern auch kulturell ein „dritter Weg“ beschritten werden sollte, begreift er die Opposition von Ost- und Westblock als eine dramatische Konfrontation von Europa mit Asien, d.h. Russland. Die orientalistischen Balkan- und Asien-Mythen vom Osmanen- und Tatarenjoch dienten beiden Staaten jeweils als Metapher für die angebliche primitive Rückständigkeit, die grausame Rechtlosigkeit und die despotische Autokratie des anderen. In beiden Fällen verschmolz die Identität des Gegners mit der ihres ehemaligen Herrschers: Aus den Jugoslawen wurden Türken und aus den Russen Asiaten. Die panslawistische „Brüderlichkeit“ unter den Slawen wurde vergessen. Man betrachtete einander nicht mehr als ein christliches Slawenvolk, sondern als ein islamisches Turkvolk. Man grub dafür die alten Stereotype aus dem 19. Jahrhundert wieder aus. Durch ihre Wiederbelebung wurde die Sowjetunion dem jugoslawischen und westeuropäischen Leser als ein rückständiges, notwendig reaktionäres Land präsentiert, das die Rolle des Pioniers bei der Durchführung des Kommunismus nicht mehr übernehmen könne. Im anonymen Vorwort zur Broschüre Tito contra Stalin. Streit der Diktatoren in ihrem Briefwechsel aus dem Jahre 1949, die in der Europäischen Verlagsanstalt in Hamburg erschien,110 wurde die geheime Streitkorrespondenz der beiden Parteispitzen ins Deutsche übersetzt. Der nur scheinbar neutrale Herausgeber – die Einleitung in die Streitkorrespondenz verfasste das Zentralkomitee der Kommunistischen Partei Jugoslawiens – beobachtet den Versuch der Sowjetunion, „sich Vasallen zu schaffen, und zwar in einem Verhältnis, das weit über all das hinausgeht, was man bisher unter diesem Wort zu begreifen gewohnt war“.111 Jede geistige Regung werde innerhalb dieses Vasallenstaates von Anfang an als „Majestätsbeleidigung“ oder „Ket-
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Berlinu, na primjer, osjeća se na svakome koraku, kako današnji velegradski način života još uvijek nije toliko urbaniziran te bi se moglo govoriti o nekoj određenoj i konačnoj pobjedi Grada nad Azijom. Azija je zona atonalne muzike, veoma niske higijenske ljestvice, u sjeni demonskih WC-ova, i državnih granica, na kojima liberalni rukopisi prdstavljaju krijumčarsku robu, ali i u Aziji serviraju se danas cigarete u srebrnom staniolu.“ / „Präzise zu bestimmen, wo Europa beginnt und wo Asien endet, ist keine ganz einfache Sache. […] In Berlin, zum Beispiel, empfindet man auf jedem Schritt, wie die heutige großstädtische Lebensweise noch nicht so urbanisiert ist, dass man über einem bestimmten und endlichen Sieg der Stadt über Asien sprechen könnte. Asien ist die Zone der atonalen Musik, einer sehr niedrigen hygienischen Stufe, im Schatten dämonischer WCs und der Staatsgrenzen, auf denen liberale Handschriften Schmugglerware repräsentieren, aber auch in Asien serviert man heute Zigaretten im silbernen Stanniol.“ Die Europäische Verlagsanstalt wurde mit britischer Militärlizenz 1946 in Hamburg gegründet. Anonym: Tito contra Stalin. Streit der Diktatoren in ihrem Briefwechsel. Hamburg 1949, s.p. (Vorwort).
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zerei“ behandelt. Hinter dieser Methode Stalins sehen die Herausgeber noch weit mehr als nur eine „typische asiatische Laune“.112 Der Begriff der „Unterjochung“ taucht schließlich regelmäßig in den Schriften der jugoslawischen Ideologen auf.113 Tito bereicherte diese Metaphorik der Unterdrückung auf dem VI. Kongress der kommunistischen Partei Jugoslawiens zusätzlich durch Ausdrücke wie „die Versklavung ganzer Völker“, „Ausplünderung“ oder „Wegschleppen“.114 Stalins Methoden würden sogar die des DschingisKhan übertreffen: „Dies sind asiatische Methoden, vor denen sogar Dschingis-Khans Ruhm verblasst.“115 Da im Jahre 1952 auch China zur kommunistischen Weltmacht aufstieg, korrigierte der Herausgeber diese Zeile und strich daraus das Wort „asiatisch“. Titos Versprecher, deren Korrektur auf einem weißen Blatt Papier lose der Broschüre beigelegt wurde, fällt dem Leser eher potenzierend als mindernd auf. Sie prägt sich wie ein Motto von Stalins Politik ein. Auch der jugoslawische Außenminister Edvard Kardelj stellt in seiner Rede im Parlament vom 1. April 1952, die noch in demselben Jahr in der Broschüre Zu den Grundlagen der sozialistischen Demokratie in Jugoslawien erschien, den „dritten Weg“ Jugoslawiens als einen Kampf im Namen des sozialistischen Fortschritts gegen die Degeneration der proletarischen Revolution zum orientalischen Despotismus dar. Daher sind wir, jugoslawische Kommunisten, nicht nur im Interesse der Völker Jugoslawiens, sondern auch des sozialistischen Fortschrittes überhaupt aufgetreten, als wir uns sowohl dem sowjetischen aggressiven Hegemoniedruck als auch der antisozialistischen Ideologie widersetzten, die die herrschende Sowjetbürokratie aufgebracht hat, um die Degeneration einer proletarischen Revolution zu einem staatskapitalistischen bürokratischen Despotentum zu rechtfertigen.116
Die Rückständigkeit der Sowjetunion, so Kardelj, verhindere die Diktatur des Proletariats. Diese habe sich daher in einen Staatsbürokratismus verwandelt.117 Um sich in den rückständigen Verhältnissen überhaupt behaupten zu können, habe die Diktatur des Proletariats einen bürokratischen Apparat erzeugt, der 112
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Ebd., s.p.: „Diese Methode als eine etwa typische asiatische Laune einiger besonders raffinierter Machthaber anzusehen, scheint uns verfehlt. Denn dazu ist sie viel zu sorgfältig in ein Netz allgemeiner psychologischer Erkenntnisse und organisatorischer Machtfunktionen eingewoben, als dass man hier von einem Zufall sprechen dürfte, der vielleicht nach dem Ableben des einen oder anderen konkreten Herrschers seine Wirkung einstellt.“ Vgl. Kardelj, Edward: Über die prinzipiellen Grundlagen der Außenpolitik Jugoslawiens. Frankfurt a. M. 1950, 3. Broz-Tito 1952, 6. Ebd., 25. Kardelj, Edvard: Zu den Grundlagen der sozialistischen Demokratie in Jugoslawien. Bad Godesberg 1952, 15. Ebd., 8.
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sich schließlich auch das Proletariat selbst unterworfen habe.118 Die Schuld an der Rückständigkeit schiebt Kardelj dem russischen Bauerntum zu. Er blendet jedoch dabei aus, dass die russischen Bauern mehrere Jahrhunderte lang in Leibeigenschaft lebten und kein Privateigentum besaßen. Wie für Stalin, so ist auch für Kardelj jeder russischer Bauer ein Kulak und damit ein Überrest des alten Systems des Großgrundbesitzertums. Gerade durch die Bekämpfung dieses rückständigen, den sozialistischen Fortschritt lähmenden Phänomens sei Stalin zum zaristischen Despoten aufgestiegen. In politischer Hinsicht ist die bürokratische Despotie Stalinschen Typs, wie wir gesehen haben, ein Produkt des rückständigen sowjetischen Dorfes. Wenn ich sage, dass der Stalinismus ein Produkt des Sowjetdorfes ist, dann will ich damit nicht sagen, dass er auch die Interessen eines Dorfes vertritt, sondern dass es zu ihm nicht kommen konnte oder nur sehr schwer hätte kommen können, wäre Russland nicht ein rückständiges, überwiegend bäuerliches Land gewesen. Im Gegenteil, wir alle wissen, dass die sowjetische Bürokratenkaste mit dem Bauerntum blutig abgerechnet hat und noch heute abrechnet, und das nicht nur mit den Kulaken, sondern mit dem Bauerntum überhaupt. Aber gerade die Existenz dieses starken Besitzerelementes, das die revolutionären sozialistischen Tendenzen der Arbeiterklasse lähmte, hat das Auftauchen und die Entwicklung der Stalinschen Despotie eigentlich erst ermöglicht.119
So wie die proletarische Revolution durch den hohen Anteil von Bauern in der sowjetischen Bevölkerung behindert werde, so entspringe auch die Macht der Parteibosse nicht der proletarischen Revolution, sondern einer älteren imperialen Tradition. In Stalins System verschmilzt für Kardelj also die Rückständigkeit der bäuerlichen Volksmasse mit der ihrer Parteianführer. Ihre Macht resultiert weniger aus der Oktoberrevolution und stammt vielmehr von den asiatischen Despoten und ihren Nachfolgern, den Zaren.120 Der zweite Ideologe des „Titoismus“,121 Milovan Đilas, hebt am 18. März 1950 in seiner Rede mit dem Titel „Auf neuen Wegen des Sozialismus“ vor den Belgrader Studenten hervor, dass die Begleiterscheinung dieses Phänomens das Anwachsen der Rolle des Parteivorsitzenden sei, die sich nach dem Vorbild der Zarenverehrung zur „Götzenanbetung“ steigere.122 Wegen ihrer „aus der Vergangenheit ererbten dunklen Instinkte“ könne die Sowjetunion die Rolle des Pioniers im Aufbau des Sozialismus nicht mehr innehaben. Die sowjetische Führungsrolle sei daher auf Jugoslawien übergegangen, denn
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Ebd., 8. Ebd., 9. Ebd., 14f. Der Begriff „Titoismus“ bezeichnet seit der Mitte der 1950er Jahre in Westeuropa den jugoslawischen „dritten Weg“ nach dem Streit mit Stalin (vgl. Bauer, Ernst: Was ist Titoismus? In: Zeitschrift für Geopolitik 25 (1954), 220-229). Djilas, Milovan: Auf neuen Wegen des Sozialismus. Rede vor Belgrader Studenten am 18. März 1950. Belgrad 1950, 9f., 12-14.
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„der Weg auf dem wir heute gehen, ist neu in historischer Hinsicht, denn bis heute hat kein einziges sozialistisches Land diesen Weg beschritten“.123 Als der sowjetische Außenminister Molotov im eigenen Lande die von Lenin prophezeite Übergangsperiode zwischen dem Kapitalismus und dem Kommunismus für bereits vollendet erklärte, verkündete er damit sozusagen die Aufhebung der Zeit und deklarierte somit für die Sowjetunion eine posthistorische Situation. In Jugoslawien bemühte man sich dagegen, diese Konstellation mit Hilfe des dialektischen Materialismus vor dem Hintergrund der russischen Geschichte zu verstehen.124 Wegen ihrer Rückständigkeit, des Überbleibsels ihrer geschichtlichen Relikte, könne die Sowjetunion den Kommunismus nicht vollkommen realisieren. Jugoslawische Politiker präsentierten sich dagegen als Post-Stalinisten, die diese Etappe auf dem Weg in den Kommunismus, wie von Lenin beschrieben, bereits erfüllt bzw. übererfüllt hätten. Doch auch an Jugoslawien blieb der Orientalismus weiterhin haften. Der deutsche Journalist Peter Grubbe (alias Klaus Volkmann, dessen NaziVergangenheit 1995 aufgedeckt wurde)125 stellt die neue Bündnispolitik Jugoslawiens in die Tradition des alten Balkan-Diskurses. In seinem Buch Herrscher von morgen? (1964) spricht er dem Land seinen europäischen Charakter ab. Gerade die Nicht-Zugehörigkeit Jugoslawiens zu Europa, die „kleinasiatischen Einschläge“, die sich in der antiimperialistischen und antikolonialistischen Gesinnung der jugoslawischen Völker zeigten, würden es Tito ermöglichen, gemeinsam mit den ehemaligen Kolonialländern Asiens, Afrikas und Südamerikas eine eigenständige Dritte-Welt-Politik zu gestalten. Jugoslawien gehört zum Randgebiet Europas. Es hat Jahrhunderte unter türkischer Herrschaft gestanden. Die Auswirkungen davon sind noch heute deutlich erkennbar. Kultur und Zivilisation des Landes sind nicht eindeutig europäisch wie in Westeuropa oder auch in Polen oder in der Tschechoslowakei; sondern sie zeigen kleinasiatische Einschläge. Auch das religiöse Bekenntnis der Bevölkerung lässt die Bindung an Kleinasien erkennen. Über vierzig Prozent der Einwohner Jugoslawiens sind griechisch-orthodox; fast ein Achtel der Bevölkerung ist sogar mohammedanisch. Gewiss, geographisch gehört Jugoslawien zu Europa, und ihrer Hautfarbe nach sind die Jugoslawen Weiße, Europäer. Aber auf Grund ihrer Religion, ihrer Kultur, auf Grund der geschichtlichen Überlieferung des Landes fehlt ihnen jedes Gefühl der Überlegenheit nicht nur gegenüber Afrikanern, sondern auch gegenüber Asiaten, das viele
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Ebd., 17. Ebd., 4, 7f., 10. Zu Peter Grubbe [Klaus Volkmann]: Kleine-Brockhoff, Thomas: Der Verwalter des Schlachthauses. Deutsches Doppelleben: Wie ein Mann sich selbst und seine Umwelt 50 Jahre lang betrog. In: Die Zeit 42 (1995), http://www.zeit.de/1995/42/Der_Verwalter_des_Schlachthauses_Deutsches_Doppelle ben_Wie_ein (Zugriff: 10.12.2010).
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Europäer haben.126 […] Zunächst von den Türken, dann von Österreich-Ungaren unterworfen und regiert, entwickelte das jugoslawische Volk ein ähnliches Ressentiment gegenüber den europäischen Herrschernationen und einen ähnlichen Drang nach Freiheit und Unabhängigkeit, wie ihn die Völker Asiens und Afrikas empfanden und wie er die Geschichte Asiens und Afrikas in den letzten Jahrzehnten bestimmt hat. Sie verstehen daher die Gedanken und Motive der blockfreien Völker viel besser, als man die im übrigen Europa versteht, dem die Freiheit selbstverständlich ist, weil es die Welt seit Jahrhunderten regiert.127
Gegen eine derartige Verortung Jugoslawiens wandte sich Miroslav Krleža in seinem Aufsatz „Sie schicken uns nach Asien“, der 1948 auf der Titelseite der neu gegründeten Zeitschrift Književne novine erschien.128 Im Gegenzug zur ideologischen Angleichung Jugoslawiens an Asien und Afrika stärkte man im Inneren den politischen Zusammenhalt einzelner Teilrepubliken. Das geschah durch die Deutung der jugoslawischen Lage zwischen Ost und West als einer „feindlichen Umzingelung“, der man statthaft standhielt.129
2.2. Der Kampf um den Primat. Original versus Kopie Die sowjetische ‚Liebe‘ gegenüber den ‚jüngeren Brüdern‘ auf dem Balkan nahm 1948 neue Züge an. Am 16. März 1948 erschien auf der Titelseite der Pravda die Rede des in Moskau eingetroffenen Präsidenten der kommunistischen Partei Bulgariens, Georgi M. Dimitrov. Darin bedankt er sich beim russischen Volk für die zweifache Befreiung seines Landes vom fremden Joch – einerseits von dem türkischen und andererseits von dem des nationalsozialistischen Deutschlands. Der Dankesrede Dimitrovs folgt die Ankündigung eines neuen Vertrags zwischen Bulgarien und der UdSSR, der die Freiheit und Unabhängigkeit Bulgariens garantieren sollte. Drei Tage später, am 19. März, berichtet die Pravda abermals auf Seite eins von der „unzerstörbaren Union“ zwischen Bulgarien und der Sowjetunion. Aus dem Vertragstext geht hervor, dass jedwede außenpolitische Entscheidung und militärische Aktion Bulgariens nur noch in „gegenseitiger Absprache“ mit der Sowjetunion vorgenommen werden durfte. Mit diesem Vertrag wurde der bereits am 1. August 1947 unterzeichnete Vertrag zwischen den beiden „Brüdervölkern“ – dem bulgarischen 126 127 128 129
Grubbe, Peter [Klaus Volkmann]: Herrscher von morgen? Macht und Ohnmacht der blockfreien Welt. Düsseldorf-Wien 1964, 127. Ebd., 127f. Krleža, Miroslav: „Upućuju nas u Aziju“. In: Književne novine 2 (24.02.19948), Umschlagseite. Mir 1945, 16-21; Vgl. auch: Kumer, Anton: Die Grundlagen des „nationalen Prinzips“ in Jugoslawien und seine Rolle im Prozess der Unabhängigkeitserlangung Sloweniens. Ein Analysenmodell (= Nomos Politik 105). Baden-Baden 1999, 237ff.
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und jugoslawischen130 – außer Kraft gesetzt und mit ihm die Gründung einer kommunistischen Balkanföderation – „der Morgenröte einer neuen, hellen Epoche der Balkanvölker“131 – aufgegeben. In der Tageszeitung Pravda änderten sich im Frühjahr 1948 auch die Darstellungen Stalins. Das alte Doppelporträt aus den späten 1920er und frühen 1930er Jahre, bei dem Lenin als Lebendiger an der Seite Stalins steht,132 tauchte nun wieder auf. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs avancierte allerdings Stalin als Sieger über den Nationalsozialismus und als Befreier der Völker Osteuropas zum alleinigen Vorbild. Er bot sich daher als Modell für die jeweiligen nationalen Führerkulte in den einzelnen Satellitenstaaten an. In dem Augenblick, in dem Stalin von den osteuropäischen Satellitenstaaten bedingungslosen Gehorsam auf dem Weg in den Kommunismus verlangte, wurde seine ‚rechtgläubige‘ Linie jedoch erneut mit der Präsenz eines noch lebendigen Lenins beglaubigt. Bereits im Neujahrsgruß an die Bürger in der Pravda vom 1. Januar 1948 heißt es dementsprechend, dass die Völker der Sowjetunion unter dem Zeichen Lenins und der Führung Stalins als Vorbild für die ganze Menschheit von einem Sieg zum nächsten auf dem Weg zum Kommunismus schreiten.133 Der Abdruck des Doppelporträts P. Vasil’evs auf der Titelseite der Pravda am 5. März 1948 kündigt schließlich die expansive Außenpolitik Stalins an, die in demselben Monat einsetzte (Abb. 30).134 130 131 132
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Vgl. Republika Nr. 92 (5. August 1947), 1. Vgl. Republika Nr. 109 (2. Dezember 1947), 1. „Jugoslavija i Bugarska gospodari svoje sudbine. Kraj jedne mračne i osvitak nove svetle epohe balkanskih nardoda.” Nicolosi, Riccardo: Die Überwindung des Sekundären in der medialen Repräsentation Stalins. Versuch über die politische Theologie der Stalinzeit. In: Fehrmann, Gisela/Linz, Erika/Schumacher, Eckard/Weingart, Brigitte (Hrsg.): Originalkopie. Praktiken des Sekundären. Köln 2004, 122-139. Der sekundäre Status Stalins gegenüber dem primären Lenin wurde durch unterschiedliche Bildstrategien der Überbietung oder der Usurpation überwunden: Auf den Plakaten und in den Filmen der 30er Jahre erschien Lenin immer öfters als schlechteres Original – als bloßer Redner gegenüber Stalin, dem Mann der Tat, als stumme steinerne Ahnenskulptur im Hintergrund oder als visionäre Erscheinung Stalins. Den Vordergrund dominiert der treue Schüler Stalin als Vollender der Revolution, der seinen ur- und vorbildlichen Meister übertroffen hat. Pravda Nr. 1 (1. Januar 1948), 1. «Под знамением Ленина, под водительством Сталина идут народы СССР от победы к победе. Своим воодушевляющим примером они показывают всему человечеству, что век капитализма приходит к концу, что открыты надежные пути к всеобщему миру и прогрессу народов, что мы живем в такой век, когда все дороги ведут к коммунизму!» Ein ähnliches Doppelporträt von dem von Stalin preisgekrönten Maler N. Toidze wurde auf der ersten Seite der Pravda (Nr. 49) vom 29. März 1949, dem Tag der sowjetischen Jugend, veröffentlicht. Stalin und Lenin, der sich als dessen Schatten etwas im Hintergrund befindet, stehen auf dem Rednerpult und zeigen mit ausgestrecktem Arm, wo es hingehen soll. Jugendliche unter dem Pult wiederholen die Geste Stalins und Lenins, wobei der erste ein Buch in der Hand hält, auf dem in chronologischer Folge die Namen Marx, Engels, Lenin und Stalin folgen.
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Abb. 30: P. Vasil’ev, V. I. Lenin und I. V. Stalin, Pravda Nr. 126, 5. März 1948, Titelseite.
Stalin und Lenin, die nebeneinander an einem Tisch sitzen, stecken auf dem Bild die Köpfe zusammen. Im hellen Vordergrund liest Stalin lächelnd vom Blatt vor, während sich Lenin nachdenklich und mit gerunzelter Stirn aus dem schattigen Hintergrund zu ihm hinüberbeugt. Stalin hat also entweder seine Aufgabe vor Lenin gemeistert – schließlich hält dieser in der rechten Hand noch einen Stift und legt die Linke auf das noch nicht zu Ende beschriebene Blatt. Die Einstellung Stalins, die bessere Kopie all seiner Lehrer zu sein, begleitete seine Revision der Schriften der ‚Urväter‘ des Kommunismus.135 Am 20. März 1948 erhielt das Zentralkomitee der Kommunistischen Partei Jugoslawiens zum ersten Mal einen Brief des Zentralkomitees der UdSSR. Der Unterzeichner war Stalins Außenminister Vjačeslav Molotov. Dieser Brief leitet die Streitkorrespondenz zwischen Stalin und Tito ein, welche letztlich mit dem Ausschluss Jugoslawiens aus dem Kominform am 135
Vgl. Broz-Tito 1952, 18f. „Stalin nimmt zur Zeit ständig Engels aufs Korn, den er widerlegt und umarbeitet, besonders in Fragen der zaristischen russischen Außenpolitik. […] Der arme Engels wusste nicht, dass sein Artikel eines Tages Stalin noch mehr auf seine imperialistischen Nerven gehen würde, als, sagen wir, dem russischen Zaren. Andererseits hat sich Stalin bemüht, Engels’ Prophezeiung, die sich in der Oktoberrevolution bewahrheitete, mit der heutigen Sowjetpraxis in ihrer imperialistischen Politik zunichte zu machen.“
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28. Juni 1948 endete.136 Aus dem „streng geheimen“ Bericht des sowjetischen Botschafters in Budapest, G. M. Puškin, an Molotov vom 22. März 1948 geht beispielweise auch hervor, dass die sowjetische Führungsspitze sehr irritiert auf die Rede Milovan Ðilas’ vor dem Budapester Parlament reagiert hatte. In dieser hätte Ðilas „den neuen Weg und neue Formen des Freiheitskampfes und der Unabhängigkeit“ in Jugoslawien hervorgehoben.137 Puškin bemerkt, dass Ðilas die Rolle Jugoslawiens überschätzte und die sowjetische Delegation nicht mit ausreichendem Respekt behandelt habe. Der sowjetische Botschafter in Belgrad, Anatolij I. Levrent’ev, protokollierte darüber hinaus am 3. Mai 1948 in seinem ebenso streng geheimen Tagebuch das Gespräch mit dem ungarischen Botschafter Z. Santo. Darin stellte er fest, dass in Jugoslawien „ein besonderer, nationaler Sozialismus“ entwickelt werde.138 Mitte Juni 1948 überreichten sogar das ungarische, polnische und rumänische Zentralkomitee dem Zentralkomitee der Sowjetunion eine streng geheim verfasste „Lehre aus den Fehlern der kommunistischen Partei Jugoslawiens für die kommunistische Partei Ungarns, Polens und Rumäniens“.139 Alle drei Parteien verurteilen darin die Fehler Jugoslawiens und geben zugleich ihre eigenen Fehler zu. Die ungarische Partei wirft sich in ihrer Selbstkritik vor, die Entstellungen der kommunistischen Lehre zugelassen zu haben. Drei ihrer Mitglieder hätten verbreitet, dass „die Partei die Lehre von Marx – Engels – Lenin – Stalin in Übereinstimmung mit den ungarischen Bedingungen anwendet und weiter entwickelt“.140 In der Presse wären außerdem antisowjetische Beiträge erschienen, ohne dass die Sowjetunion über den katastrophalen Zustand im Land ausreichend informiert worden sei. An öffentlichen Orten hingen oft die Porträts der lokalen Parteianführer und nicht das Stalins. Ähnlich lauten auch die ‚Selbstanklagen‘ und ‚Schuldbekenntnisse‘ anderer Nationalparteien. In der sowjetischen Presse verurteilten unter der Schlagzeile „Ausländische Reaktionen“ die Satellitenstaaten und die kommunistischen Parteien des Westens Jugoslawien einstimmig.141 Die anti-jugoslawische Propaganda begleiteten Beiträge über die „Quellen der 136
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Zu Titos Bruch mit Stalin: Anikeev, A. S.: Kak Tito od Stalina ušel. Jugoslavija, SSSR i SŠA v načal’nyj period „cholodnoj vojny” (1945-1957). Hrsg. Novopašin, Ju. S. Moskva 2002; Džaja, Srečko M.: Die politische Realität Jugoslawiens (1918-1991). Mit besonderer Berücksichtigung Bosnien-Herzegowinas (= Untersuchungen zur Gegenwartskunde Südosteuropas, Bd. 37, Hrsg. Hösch, Edgar/Nehring, Karl). München 2002, 121-131. Volokotina, T. V./Muraško, G. P./Naumov, O. V. u.a. (Hrsg.): Sovetskij faktor v Vostočnoj Evrope. 1944-1953. T.1 1944-1948. Dokumenty. Moskva 2002, 570f. Ebd., 579-581. Ebd., 589-618. Ebd., 591. Pravda Nr. 182 (30.6.1948), 4; Nr. 183 (1.7.1948), 4; Nr. 184 (2.7.1948), 4; Nr. 185 (3.7.1948), 3; Nr. 186 (4.7.1948), 3 usw.
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sowjetischen Macht“ und die „leninistisch-stalinistische Völkerfreundschaft“.142 Die Pravda veröffentlichte offene Briefe der jugoslawischen prosowjetischen Kommunisten mitsamt deren Unterschriften.143 Zugleich richtete sich die Aufmerksamkeit auf die Medien, vor allem auf Presse und Plakate.144 Auch nach dem Ausschluss Jugoslawiens aus dem Kominform wurde die jugoslawische Presse und die der Satellitenstaaten sorgfältig ausgewertet, um jede hieraus gewonnene Information an die sowjetische Parteispitze weiterzuleiten. Lavrent’ev berichtet Molotov Anfang Juli von einem Artikel in der jugoslwischen Parteizeitschrift Borba vom 30. Juni 1948. Darin sei von einem problematischen jugoslawischen Projekt die Rede. Es handelt sich dabei um das Vorhaben, eine eigene kommunistische Geschichte des Balkans und der Südslawen zu schreiben, ohne dabei den Einfluss der KPdSU und den Beitrag der Roten Armee bei der Befreiung des Landes zu berücksichtigen.145 Der Leninismus werde hierbei nicht in Stalins Auslegung vermittelt – man unterschlage also wichtige Worte Stalins. In der Rede zum 31. Jahrestag der „großen sozialistischen Oktoberrevolution“ am 6. November 1948 äußert Molotov „unter dem machtvollen Banner Lenins und Stalins“ noch die Überzeugung, dass das von den verräterischen Nationalisten geführte Jugoslawien bestimmt bald wieder zu ihrer „einträchtigen Familie“ zurückkehren werde. Zu dieser Überzeugung führe ihn der Glaube an die politische Tradition der Serben, die in der Vergangenheit immer wieder den Schutz bei ihren russischen „Brüdern“ gesucht hätten.146 Die Rede vom Verrat diente Molotov wohl auch als Anspielung auf den KosovoMythos. Schließlich spielt dieses Motiv in der Erzählung der Schlacht auf dem Amselfeld eine wichtige Rolle. Zudem war der Ausschluss Jugoslawiens aus dem Informbüro ebenso symbolträchtig am Jahrestag dieser Schlacht, dem St.Veits-Tag (28. Juni), erfolgt. In mehreren Ausgaben der Pravda vom Juli bis September erschienen im Gestus einer großen Anklage die Namen der prosowjetischen jugoslawischen Kommunisten, die die „nationalistische“ 142 143 144
145 146
„Velikij istočnik sily sovetskogo naroda“. Pravda Nr. 1985, 3.7.1948, 1; „Pod znameniem lenisko-stalinskoj družby narodov“. Pravda Nr. 1986 (4.7.1948), 1. Pravda Nr. 205 (27.7.1948), 7; Pravda Nr. 206 (24.7.1948), 4; Pravda Nr. 219 (6.8.1948), 4. „Povišat’ rol’ pečati v socialističeskom sorevnovanii” [Die Rolle derPresse im sozialistischen Vergleich] Pravda Nr. 181 (9.7.1948), 1: „O političeskom plakate” [Über das politische Plakat], Pravda Nr. 210 (28.7.1948), 3. Volokotina/Muraško, G. P./Naumov, O. V. (Hrsg.), 621f. Molotow, W. [Vjačeslav] M.: Fragen der Außenpolitik. Reden und Erklärungen. April 1945 – Juni 1948. Moskau 1949, 640. „Der Verrat der leitenden nationalistischen Gruppe Jugoslawiens fügte dem eigenen Volk großen Schaden zu, aber es ist nicht daran zu zweifeln, dass die Kommunistische Partei Jugoslawiens, gestützt auf ihre internationale Traditionen, Wege finden wird, damit Jugoslawien erneut in die einträchtige Familie eintreten kann, die die UdSSR und die Länder der neuen Demokratie vereint. (Beifall.)“
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Politik ihres Anführers kroatischer Herkunft verurteilten. Doch Molotovs Überzeugung, dass die jugoslawische Parteispitze beseitigt und durch eine sowjetfreundliche ersetzt würde, erfüllte sich nicht. Vielmehr brach in Jugoslawien in der Presse und im Radio ein großer Propagandakrieg los,147 in dem Tito geschickt Stalins eigene Methoden gegen diesen selbst richtete. Mit Hilfe einer durchdachten Medienpolitik, die den großen Gegner einerseits kopierte, ihn aber zugleich zur schlechteren Variante des Marxismus erklärte, konnte Tito die sowjetische Macht einerseits beerben und sich zugleich als getreuere Verwirklichung des Originals darstellen. Gilles Deleuze unterscheidet in Differenz und Wiederholung zwei Methoden, mit denen die Macht eines herrschenden Gesetzes außer Kraft gesetzt werden kann und die in diesem Zusammenhang Anwendung fanden. Die erste, „humoristische“, erklärt das Gesetz für sekundär, abgeleitet und entlehnt – also für eine leere Wiederholung. Die zweite, „ironische“, wiederholt das Gesetz buchstäblich nach Vorschrift – sie realisiert es wörtlich durch Wieder-Holung, wobei ihre Zitathaftigkeit der dandyartigen Übererfüllung der Anstandsregel entspricht.148 Bei der Degradierung der Sowjetunion – des Pioniers im Kampf um den Aufbau des Sozialismus – bedienten sich Tito und seine Ideologen als ‚ironische Humoristen‘ beider Methoden. Denn Jugoslawiens sozialistische Re-Produktion der Sowjetunion wollte nicht bloß eine Verdoppelung, sondern vielmehr eine Substitution des Originals sein. In ihre Streitschriften flochten die jugoslawischen Anführer daher als Metatext die medientechnologische Metapher der „Schablone“ ein, die die sowjetische Metapher der „richtigen Linie“ ersetzen sollte. So karikierten Titos Ideologen zunächst die „richtige Linie“, von der Jugoslawien nach Auffassung der Sowjets abweiche, als eine „Schablone“. Diese Wendung stellte zwei unterschiedliche Verständnisse des Kopierens einander gegenüber. Jugoslawien behauptete, sich einerseits von der sowjetischen Schablone befreit zu haben und präsentierte sich andererseits jedoch zugleich als eine getreuere Realisierung des Marxismus. Jugoslawische Ideologen versicherten deshalb, sich viel genauer an die kommunistischen Grundlehren zu halten als Stalin, dessen Revision der Schriften der kommunistischen ‚Gründungsväter‘ das Original verfälscht habe. Sie warfen der Sowjetunion die „Anwendung fertiger Rezepte“ und die „Erstarrung der Form“ vor. Die Ursachen dafür glaubten sie in der Rückstän147 148
Zum Medienkampf zwischen Tito und Stalin: Dedijer, Vladimir: Tito. Autorisierte Biografie. West-Berlin 1953, 381-385. Deleuze, Gilles: Differenz und Wiederholung. Aus dem Französischen von Joseph Vogl. München 1997 (fr. Différence et répétition. Paris 1968), 20. „Man ficht die Ordnung des Gesetzes als sekundär, abgeleitet, entlehnt, ‚allgemein‘ an; man denunziert im Gesetz ein Prinzip zweiter Hand, das eine ursprüngliche Kraft verfälscht oder eine ursprüngliche Macht usurpiert. Dagegen wird andererseits das Gesetz umso sicherer zu Fall gebracht, wenn man zu den Folgen hinabsteigt, wenn man sich ihm mit übergenauer Sorgfalt unterwirft.“
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digkeit des Landes zu finden. Die Resistenz der reaktionären Kräfte habe derart die Umsetzung der abstrakten Theorie in die konkrete Praxis verhindert. Jugoslawien sei es hingegen gelungen, die Aufgaben auf dem Weg in den Kommunismus schneller und konsequenter zu erfüllen bzw. überzuerfüllen. Daher befinde sich das Land in einer bereits fortgeschritteneren Phase des Kommunismus und habe sogar als Avantgarde des Kommunismus zu gelten. Mit Hilfe der Rhetorik einer Befreiung von der Schablone und einer getreueren Realisierung des marxistischen Ur- und Vorbildes149 stellte sich Jugoslawien also im Vergleich mit der UdSSR – dem ersten und ältesten sozialistischen Land – nicht nur als alternative, sondern auch als bessere Führungsmacht dar. Die sowjetischen Anführer, die der jugoslawischen Führungsspitze vorwarfen, vom „richtigen Weg“ bzw. von der „richtigen Linie“ abgekommen zu sein, sahen im „dritten Weg“ hingegen eine usurpatorische Verdopplung des Abdrucks, ein Duplikat, das eine verschobene Nebenspur hinterlasse. Wie in literarischen Doppelgängergeschichten entbrannte zwischen den beiden Parteispitzen in der Folge ein Wettkampf um die Setzung des ersten, ursprünglichen Zeichens – es ging um die behauptete Originalität der eigenen sozialistischen Position. Jugoslawien begründete sein Verhältnis zum Marxismus im Sinne der indexikalischen Kontiguität. Durch den unmittelbaren Kontakt zur marxistischen Quelle, den Schriften von Marx und Engels, sei Jugoslawien das originellere Land. Die Sowjetunion beschwörte dagegen eher ein ikonisches Ähnlichkeitsverhältnis. Dieses sollte notwendigerweise durch die Sowjetunion als erster Kopie begründet sein. Gemäß dieser Argumentation ist nur das erste Abbild, das nach dem Original entsteht, kopierenswert. Entsprechend sollten sich alle weiteren Replikate nach dem ersten Abbild richten. Dem Ausschluss Jugoslawiens aus dem Kominform ging eine Streitkorrespondenz zwischen den beiden Führungsspitzen voran, die die jugoslawische Regierung ins Deutsche übersetzen ließ, um die Rezeption sowohl in Westeuropa als auch in den westslawischen bzw. ehemals zur Donaumonarchie gehörenden Satellitenstaaten zu ermöglichen. Die Diskursivierung der imperialen Ansprüche, die in der Sowjetunion nicht öffentlich stattfand,150 erfolgte in Jugoslawien öffentlich, ja geradezu vor einem internationalen Publikum. Die als „vertraulich“ gekennzeichneten Briefe zwischen Tito und Stalin wurden in der Broschüre Tito contra Stalin. Streit der Diktatoren in 149
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Ihr Verhältnis zum Ur- und Vorbild begründen die Titoisten durch das erneuerte Studium der frühen Schriften Marx’ und Engels’. Wenn sie z.B. der kommunistischen Partei 1952 den vormärzlichen Namen „Bund der Kommunisten“ gaben, inszenierten sie damit eine ‚Renaissance‘, eine Rückkehr zu den Quellen des Marxismus. Die Streitkorrespondenz zwischen Tito und Stalin erschien zwar in Auszügen als Sonderbroschüre des Pravda-Verlags in Moskau 1948, war den Parteispitzen in der UdSSR und in den Satellitenstaaten aber ausschließlich als Typoskript zugänglich.
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ihrem Briefwechsel (1949) veröffentlicht. In der einleitenden Erklärung rechtfertigt das Zentralkomitee der KPJ seine Aktion als eine Reaktion: „Durch die Verbreitung dieser als vertraulich betrachteten Briefe sind wir der Verpflichtung enthoben, sie geheim zu halten und können ihren Inhalt jetzt einer breiten Öffentlichkeit bekannt geben.“151 Die Bekanntmachung der geheimen politischen Akten verhalf Jugoslawien im Westen zu einem demokratischen Image. Die westeuropäische und amerikanische Öffentlichkeit sah in Jugoslawien – mindestens bis zum Erscheinen von Milovan Djilas’ ‚revidiertem Porträt‘ Titos in The New Class. An Analysis of The Communist System von 1957152 – eine ‚humanere‘ Variante des Kommunismus. Auch in der Broschüre nimmt die Frage des Kopierens eine zentrale Stelle ein. Im Brief vom 4. Mai wirft die UdSSR der jugoslawischen Parteispitze in immer schärfer werdendem Ton die Abweichung vom MarxismusLeninismus sowie eine antisowjetische Einstellung vor, die dem Wetteifern mit der Sowjetunion entspringe. Tito und sein Umkreis brüsteten sich damit, originelle Methoden anzuwenden, die in Wirklichkeit jedoch kopiert seien. So sei die viel gepriesene Strategie des Partisanenkampfes keine Erfindung Titos, sondern schon vorher von der Roten Armee und speziell von General Kutusov erfolgreich erprobt worden. Anders als die Jugoslawen würden sich die Russen nicht einbilden, diese Kampfstrategie erfunden zu haben. Der Mangel an Bescheidenheit geht bei den jugoslawischen Führern so weit, dass sie sich Verdienste zuschreiben, die ihnen nicht zukommen. Nehmen wir zum Beispiel die Frage der Kriegswissenschaft. Sie wollen aller Welt einreden, sie hätten die marxistische Kriegswissenschaft durch eine neue Theorie ergänzt, nach welcher der Krieg als Zusammenspiel der regulären Truppen, der Partisanenabteilung und der nationalen Rebellen betrachtet werden muss. Diese sogenannte Theorie ist jedoch uralt und stellt für die marxistische Kriegswissenschaft durchaus nichts Neues dar. Bekanntlich hatten die Bolschewiki solche kombinierte Aktionen der regulären Truppen, der Partisanen-Detachemente und der nationalen Erhebungen während der ganzen Periode des Bürgerkriegs in Russland (1918-21) in Anwendung gebracht, und zwar in viel größerem Maßstab, als dies in Jugoslawien der Fall war. Aber die Bolschewiki haben nie behauptet, mit der Anwendung dieser Methode eine kriegswissenschaftliche Neuerung eingeführt haben. Sie haben nie so etwas behauptet, weil diese gleiche Methode schon lange vor ihrer Zeit zur Anwendung gekommen war, 151 152
Anonym: Tito contra Stalin. Streit der Diktatoren in ihrem Briefwechsel. Hamburg 1949, 5. Djilas, Milovan: Die neue Klasse. Eine Analyse des kommunistischen Systems. München 1957. Weitere Enthüllungen des ‚wahren‘ Gesichts Titos: Djilas, Milovan: Land ohne Recht. Köln 1958; Ders.: Anatomie einer Moral. Eine Analyse der Streitschriften. München 1961; Ders.: Gespräche mit Stalin. Frankfurt a.M. 1962; Ders.: Tito. Eine kritische Biographie. Wien 1980 (am. Tito. The Story from Inside, New York); Ders.: Mon ami, mon ennemi. Paris 1980; Ders.: Idee und System. Politische Essays. WienMünchen 1982; Ders.: Jahre der Macht. Kräftespiel hinter dem Eisernen Vorhang. Memoiren 1945-1966. München 1983.
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nämlich durch Feldmarschall Kutusow im Jahre 1812, im Kampf gegen die napoleonischen Truppen. Und auch Feldmarschall Kutusow hatte nicht behauptet, diese Methode erfunden zu haben, denn schon vor ihm hatten sie 1808 die Spanier im Kampf gegen die napoleonischen Truppen benutzt. Aus dem eben gesagten geht also hervor, dass die jugoslawischen Führer etwas, das in Wirklichkeit 140 Jahre alt ist, als militärwissenschaftliche Neuerung betrachten und sich einen Verdienst zuschreiben, der in Wirklichkeit den Spaniern zusteht.153
Bereits 1947 kündigte Marschall Tito in Wie wir es machen. Bericht über den Weg, den Jugoslawien geht das eigenständige Vorgehen an, das Jugoslawien von der sowjetischen Schablone befreien sollte: „Die innere Entwicklung in unserem Lande hat, wie in jedem Lande, ihre Eigenart, und es hieße nach der Schablone arbeiten, wollte man die Entwicklung in unserem Lande ohne weiteres auf andere Länder übertragen oder umgekehrt.“154 Kardelj wirft der UdSSR in der 1948 veröffentlichten Broschüre Die Außenpolitik Jugoslawiens die dogmatische Erstarrung ihrer politischideologischen Formen vor. Hier [in der Sowjetunion] bewältigte die Form den Inhalt, das allgemeine Rezept – die schöpferische Anwendung des Marxismus-Leninismus, und das Dogma – den lebendigen revolutionären Gedanken.155 […] Nur seelenlose Dogmatiker können glauben, dass dieser Prozess einheitlich, nach einer Schablone und ohne Schwierigkeiten von statten gehen kann.156
In der Schrift Über die Volksdemokratie in Jugoslawien (1950) erklärt er, was er unter dem „dritten Weg“ bzw. dem Begriff des „Dritten“ versteht. Dabei beschreibt er den „neuen Weg“ Jugoslawiens paradoxerweise als einen traditionellen Weg, auf dem nicht der Inhalt, sondern ausschließlich die Form geändert wurde. Wir behaupteten immer, dass es sich nicht um prinzipiell neue Wege, sondern um verschiedene Formen auf dem Wege der allgemeinen sozialistischen Entwicklung handelt, um Formen, die sich von den bisher in der UdSSR bekannten stark unterscheiden können, deren Inhalt und allgemeine Entwicklungsrichtung aber die gleichen sein müssen.157
Die jugoslawische „Volksdemokratie“ – für die Sowjetunion ein Abweg in den Kapitalismus, für Jugoslawien dagegen eine Form der proletarischen Selbstverwaltung, in der die Arbeiterklasse das Interesse der Mehrheit des 153 154 155 156 157
Tito contra Stalin 1949, 62f. Tito, Marschall: Wie wir es machen. Bericht über den Weg, den Jugoslawien geht. Berlin 1947. Kardelj, Edvard: Die Außenpolitik Jugoslawiens. Exposé anlässlich der Budgetdebatte der Nationalversammlung der FVRJ am 29. XII. 1948. Belgrad 1949, 46. Ebd., 48. Kardelj, Edvard: Die sozialistische Demokratie in der jugoslawischen Praxis. S.l. 1950, 24.
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Volkes vertritt – leitet Kardelj unmittelbar von Marx ab. In ihr würde „die Diktatur des Proletariats im wahrsten Sinne dieses Wortes einen VolksCharakter bekommen“ und sei daher „die wahrste Volksdemokratie“.158 Deswegen sei es vollkommen falsch, „wenn jemand dem Begriff der Volksdemokratie einen prinzipiell neuen Inhalt zu geben versucht, etwas ‚Drittes‘ zwischen der Diktatur der Bourgeoisie und der Diktatur des Proletariats“.159 Nach Kardelj ist der „dritte Weg“ weder Abweg noch neuer Weg, er führe hingegen zum schöpferischen Ursprung. Er sei das ad fontes der kommunistischen Revolution, während Stalins Revision von Marx und Engels schlechte Abdrücke des Originals reproduziere. In diesem Zusammenhang verwendet der marxistische Philosoph Svetozar Stojanović, Mitglied der Gruppe Praxis, in seinem Essay „Etatismus – sozialistisch verkleidet“ (1967) tatsächlich die Bezeichnung „Renaissance“, um jene Wiedergeburt des Marxismus in Jugoslawien zu unterstreichen.160 Auch Tito betont in der Schrift Die Fabriken in Jugoslawien werden von Arbeitern verwaltet (1950), dass man in Jugoslawien beim Aufbau des Sozialismus keine „fertigen Rezepte“ und keine „Schablonen“ wie in der Sowjetunion benutze.161 Die Befreiung von der Schablone korreliert paradoxerweise mit der buchstäblichen Befolgung der Lehre Marx’. Aber heute bauen wir selbst den Sozialismus in unserem Lande auf, wir benutzen keine Schablonen mehr, sondern wir lassen uns von der marxistischen Lehre leiten und gehen unseren Weg unter Berücksichtigung der besonderen Verhältnisse, die in Jugoslawien bestehen. Die Schablonen haben uns bis heute viele Schwierigkeiten gebracht, und noch immer spüren wir die schweren Folgen, denn die Schablone ist tief in die Praxis unserer Menschen eingedrungen, und jetzt machen sie sich nur schwer davon frei, auch wenn sie es selbst wollen.162
Die Besonderheit des jugoslawischen Weges in den Kommunismus besteht für Tito darin, dass „wir die marxistische Lehre in unserer Zeit und unserer Praxis in engster Übereinstimmung mit den besonderen Verhältnissen, die in Jugoslawien bestehen, anwenden“.163 Jedes sozialistische Land sollte seinen eigenen Weg zum Urbild des Marxismus finden, ohne dabei die sowjetische Schablone anwenden zu müssen. Ein anonymer Artikel mit dem Titel „Das Schicksal in eigener Hand“, der in der Propagandazeitschrift Jugoslawien im Herbst 1950 erschien, versteht vor allem die neu eingeführte Selbstverwaltung der Arbeiter als eine Befreiung von der Schablone: „Die Notwendigkeit, 158 159 160 161 162 163
Ebd., 43. Ebd., 43. Brockmann, Marie Christine: Titoismus als besondere Form des Kommunismus. München 1994, 101. Tito 1950, 11. Ebd., 11. Ebd., 25.
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neue Formen der Betriebsleitung einzuführen, erwuchs dem bewussten Bestreben, viele ungeeignete Schablonen abzuschaffen und mit Überresten und Vorurteilen der Vergangenheit aufzuräumen.“164 Die jugoslawische „Praxis“ wurde bald zum Motto des Sonderweges. Das Schlagwort tauchte immer wieder in den Reden und Schriften jugoslawischer Politiker auf. 1963 griffen schließlich mehrere jugoslawische Philosophen den Begriff auf, stellten ihn ins Zentrum ihres Schaffens und schlossen sich zur sogenannten Praxis-Gruppe zusammen. Ihr Ziel war es, den Begriff philosophisch und in Abgrenzung vom sowjetischen Leninismus-Stalinismus zu begründen bzw. zu explizieren.165 Die Praxis-Gruppe, der später nicht nur jugoslawische, sondern auch deutsche Philosophen wie Erich Fromm, Herbert Marcuse und Ernst Bloch angehörten, bestand bis 1975. Sie wurde letztlich von demselben Titoismus, den sie in den 1960er Jahren gegen den Stalinismus verteidigte, verboten, nachdem sie ihn auf dessen eigene Schablonenhaftigkeit hingewiesen hatte. Der Spannungsverhältnis von Originalität und Kopie wurde insbesondere im Umgang mit den Schriften der ‚Urväter‘ des Marxismus ausgetragen. Đilas stellt in seiner Rede Auf neuen Wegen des Sozialismus von 1950 die Bemühungen der UdSSR bloß, für sich nicht nur ein Monopol auf die Auslegung der marxistischen Schriften zu reklamieren, sondern auch eine verfälschende Revision zu betreiben, in der die Lehren von Marx, Engels und Lenin verdreht würden.166 Selbst wenn es „gute Bücher“ gäbe, würden sie falsch auf die konkrete Wirklichkeit angewandt, weil die sowjetischen Theoretiker die gegenwärtige Übergangsperiode „unhistorisch, undialektisch und dogmatisch“ für bereits abgeschlossen erklärten.167 Jeder Prozess in einem Land, so Đilas, müsse „in seiner historischen Entwicklung gesehen werden“, denn „in Folge andersartiger allgemeiner historischer Bedingungen und andersartiger Verhältnisse in den beiden Ländern sei es zu unterschiedlichen Entwicklungstendenzen gekommen“.168 In Đilas’ Rede macht sich eine neue Strategie der Herabsetzung des Gegners durch die Schablonen-Metapher bemerkbar: Der Sowjetunion wird nicht nur wegen der Erstarrung ihrer politischen Lehre zu einer Schablone die schöpferische Kraft abgesprochen. Vielmehr hinterlässt ihre schlechte Matrize auch schlechte, das Original verfälschende Abdrücke. Die Gründe dafür leitet Đilas, wie Tito und Kardelj, wiederum aus der russischen Vergangenheit ab: Die Sowjetunion sei ein 164 165
166 167 168
Anonym: Das Schicksal in eigener Hand. In: Jugoslawien. 1950, 3-16, hier 3. Zur Praxis-Gruppe vgl.: Rütten, Barbara: Am Ende der Philosophie? Das gescheiterte Modell Jugoslawien – Fragen an Intellektuelle im Umkreis der PRAXIS-Gruppe. Klagenfurt 1993; Brockmann 1994. Djilas 1950, 8f. Ebd., 12f. Ebd., 10f.
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rückständiges Land ohne wirtschaftliche Grundlage für die Schaffung einer neuen Klasse. Jugoslawien sei aber gerade wegen seiner großen Liebe und Nähe zur Sowjetunion berufen, sie zu kritisieren. Allein diejenigen, die die Sowjetunion am meisten geliebt und am konsequentesten auf der gleichen Basis mit ihr gekämpft haben, die am entschlossensten für den Sozialismus gekämpft haben, konnten auch die einzigen natürlichen und berechtigten Kritiker des bestehenden Zustandes in der Sowjetunion bzw. im Sozialismus werden.169
Auch Kardelj greift 1951 in der Broschüre Neues Jugoslawien in der zeitgenössischen Welt (Nova Jugoslavija u savremenom svetu) Đilas’ Strategie auf. Er weist auf die Bemühungen der Sowjetunion hin, mit verkürzten, aus ihrem Kontext herausgelösten Zitaten der ‚Urväter‘ die theoretischen Grundlagen zu verfälschen, um so die tagespolitischen Ziele zu legitimieren. Die sowjetische Theorie hat immer wieder versucht, diese Frage zu verschleiern, sich hinter den verkehrten und falsifizierten Varianten der marxistischen Theorie zur Rolle des Bewusstseins unter sozialistischen Bedingungen zu verbergen; sie hat, was die gesellschaftlichen Fakten und die Analyse dieser objektiven Fakten angeht, mit Zitaten operiert und ihnen die gesellschaftliche Wirklichkeit angepasst – alles entsprechend den jeweils aktuellen Bedürfnissen der Tagespolitik.170
Sowjetische Ideologen werden dem Leser als reine Theoretiker präsentiert, die unfähig seien, ihre theoretischen Konstrukte in die Praxis umzusetzen und sie historisch zu verankern. Es gibt Menschen, denen alles klar ist, solange es um Theorie geht, und die Angst haben den alltäglichen Kampf auf zwei Fronten zu führen und in den unruhigen Wellen der Praxis zu schwimmen, weil sie befürchten, dass der Wind sie von der Hauptrichtung abbringen könnte. Solche Menschen waren – selbstverständlich nie kreativ – und können auch heute nicht die Geschichte gestalten.171
Kardelj betont die Notwendigkeit einer gründlichen Revision der stereotypischen, sowjetischen Auffassung der Entwicklung des Sozialismus. Seiner Meinung nach sollten in diesem Zusammenhang vielmehr die speziellen Entwicklungsformen eines Landes berücksichtigt werden. Denn in der Sowjetunion herrsche kein Krieg des Sozialismus gegen den Kapitalismus, sondern ein Klassenkampf, in dem progressive sozialistische Kräfte mit Elementen der eigenen Vergangenheit ringen würden. Đilas setzt in dersel169 170
171
Ebd., 18. Kardelj, Edvard/Djilas, Milovan: Nova Jugoslavija u savremenom svetu. Beograd 1951, 20. „Sovjetska teorija uvek je nastojavala da to pitanje zamagli, da se sakrije iza izokrenutih i falsifikovanih varijanti marksističke teorije o ulozi svesti u uslovijama socijalizma, te je umesto sa društvenim faktima i analizom tih objektivnih fakata operisala citatima i teženjem društvene stvarnosti na te citate – sve prema trenutnoj potrebi tekuće politike.“ Ebd., 22.
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ben Broschüre zudem, wenn er auf die Sowjetunion zu sprechen kommt, den Begriff „sozialistisch“ stets in Anführungszeichen. Damit wird die Bezeichnung der Sowjetunion als „sozialistisch“ zum bloßen Zitat bzw. zur rhetorischen Formel. Auch diese Vorgehensweise ist keine Erfindung der jugoslawischen Rhetorik, sondern findet ihr Vorbild in den Schriften Lenins, der in seinen Reden die Losungen der politischen Gegner als leere Formeln exponierte. Auf diese Weise sollte deren Beziehung zum Signifikat verloren gehen.172 In der jugoslawischen Broschüre folgt auf die Kritik der Sowjetunion das Eigenlob. Die jugoslawische Partei sei imstande geblieben, den nach vorne gerichteten, fortschrittlichen Geist der Revolution zu erhalten und sich von allen Schablonen zu befreien: Dieser Geist [des Fortschritts] hat stets in unserer Revolution vorgeherrscht. Sie war immer kritisch gegen sich selbst und gegen die Aktion der sozialistischen Kräfte in anderen Ländern. Ihr war stets jene bürokratische Selbstzufriedenheit fremd, die so kennzeichnend ist für die sowjetischen Machthaber. Sie hat stets nach vorn geblickt und nach ihren sozialistischen Zielen gestrebt, aber niemals voller Ehrfurcht auf Vorbilder und festgelegte Schablonen zurückgeblickt; sie musste niemals ihre Praxis geheiligten Dogmen anpassen und sich vor dem stalinistischen Fetisch verbeugen; sie hat nie auch nur den Versuch gemacht, sich mit fremden Federn zu schmücken, sondern hat, soweit sie dies unter den Verhältnissen in Jugoslawien konnte und verstand, Formen gefunden, die ihrem eigenen Inhalt und dem Entwicklungsgrad der jugoslawischen Wirtschaftskräfte entsprachen. […] Die sozialistische Kritik muss auch schöpferisch sein, sie muss auf neue Formen und neue Verhältnisse hinweisen.173
Der Höhepunkt der antisowjetischen Propaganda wurde im November 1952 mit Titos Rede auf dem VI. Parteitag des Bundes der jugoslawischen Kommunisten erreicht. Darin lässt er verlauten, dass die Sowjetunion „auf dem Wege der russischen Zaren weiterschreitet“. In Jugoslawien dagegen sei der paradiesische Zustand der Gleichberechtigung der Völker, die sich darüber hinaus selbst verwalten, erreicht. Mit diesem „epochalen historischen Akt“ sei der Gedanke Marx’ und Engels’ zur „lebendigen Wirklichkeit“ geworden.174 Im Leitartikel der kommunistischen Zeitung Borba, der am fünften Jahrestag des Ausschlusses aus dem Kominform erschien und außerdem in fehlerhaftem Deutsch in der Broschüre Fünf Jahre danach abgedruckt wurde, zieht Kardelj eine Bilanz der letzten fünf Jahre: Als die kommunistische Partei Jugoslawiens vor fünf Jahren entschlossen und ohne Schwanken sich den sowjetischen Hegemonieabsichten gegen Jugoslawien widersetzte, gab es in der Welt nur wenige Menschen, die in diesem Konflikt etwas mehr sahen als nur eine bedeutsame Änderung auf der internationalen politischen Arena. 172 173 174
Kujundžić, Dragan: The Returns of History. Russian Nietzscheans After Modernity. New York 1997, 115-134. Kardelj/Djilas 1951, 16f. Ebd., 27.
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Erst recht aber ahnten nur ganz wenige Menschen in diesem Konflikt den Beginn einer neuen Phase in der Entwicklung des Sozialismus überhaupt.175
Stalin wird weiterhin nicht nur zum Kopisten, sondern gar zum Fetischisten, zum Anbeter einer erstarrten Form, erklärt: „In dieser Umwandlung alter revolutionärer Losungen und Argumente in Dogmen und Fetische, hinter denen eine reaktionäre und antisozialistische Praxis durchgeführt wurde, war Stalin überhaupt Meister.“176 Nicht die Sowjetunion, sondern Jugoslawien setzte, so Kardelj, das erste Zeichen für einen modernen Sozialismus in Osteuropa. Gerade diese Originalität Jugoslawiens habe den eifersüchtigen Zorn Stalins auf sich gezogen. Es ist kein Zufall, dass sich Stalins giftigste Wut gerade gegen Jugoslawien richtete. Die jugoslawische sozialistische Revolution entwickelte sich aus eigenen gesellschaftlichen und politischen Bedingungen und siegte mit den eigenen Kräften der jugoslawischen Arbeiterklasse und der jugoslawischen Werktätigen. Daher schuf sie selbstständige revolutionäre führende Kräfte und selbstständige sozialistische Konzeptionen, die nicht vom Bürokratentum angenagt waren wie jene Konzeptionen, die Stalin zugleich mit den eingesetzten Regierungen in Osteuropa heimisch machte.177 […] Mit Recht sagten wir daher, der Widerstand der sozialistischen Kräfte Jugoslawiens gegen die sowjetische Hegemonieaspiration bedeutete den Beginn eines neuen Zeitabschnitts in der Entwicklung des internationalen Sozialismus.178
Vladimir Dedijer, der dritte Theoretiker des Titoismus, nennt in seiner 1953 in West-Berlin und in London veröffentlichten Biographie Titos, den jugoslawischen Anführer sogar „das Gewissen Stalins, das Gewissen, das Stalin verloren hat“.179 So wurde in Jugoslawien in den späten 1940er und frühen 1950er Jahren ein scheinbar post-stalinistischer Diskurs der überwundenen Geschichte geführt, parallel zum Stalinismus in der Sowjetunion und in den Satellitenstaaten. Das Land stellte sich dar, als hätte es alle sozialistischen Planvorgaben auf dem Weg in den Kommunismus nicht nur erfüllt, sondern sogar übererfüllt. Meisterhaft verstand es Tito, durch den Gestus historischer Aufklärung die eigene Diktatur nach innen zu festigen und zugleich nach außen als solche zu verschleiern. Die äußere „Ent-Stalinisierung“ korrelierte in Jugoslawien wiederum mit einer inneren „Re-Stalinisierung“ des Staatsapparates.
175 176 177 178 179
Kardelj 1953/b, 3. Ebd., 4. Ebd., 7. Ebd., 8. Dedijer, Vladimir: Tito. Autorisierte Biographie. Berlin 1953 (serbokr. Josip Broz Tito. Belgrad 1953; Tito. Belgrad 1953; engl. Tito speaks, his self portrait and struggle with Stalin. London 1953).
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2.3. Zum Begriff des „dritten Weges“ Auch die Bezeichnung der „dritte Weg“ wurde ursprünglich nicht von Titos Ideologen, sondern von den Sowjets geprägt. Der damalige Außenminister und oberste Theoretiker des jugoslawischen Sonderwegs, Edvard Kardelj, verrät in seiner Schrift Über die Volksdemokratie in Jugoslawien (1950), dass die Sowjets diese Formel zuerst abfällig für den jugoslawischen Abweg von der „richtigen Linie“ verwendeten.180 Von 1948 bis 1952 tauchte in Jugoslawien der Begriff des „dritten Wegs“ nur sporadisch als sowjetisches Zitat auf. Kardelj lehnt ihn noch im Jahre 1950 kategorisch ab. Jugoslawien beschreite keinen Ab- oder Irrweg, sondern befinde sich auf dem richtigen Weg – in einer von Marx prophezeiten Übergangsphase: „Es ist daher offensichtlich vollkommen falsch, wenn jemand dem Begriff der Volksdemokratie einen prinzipiell neuen Inhalt zu geben versucht, etwas ‚Drittes‘ zwischen der Diktatur der Bourgeoisie und der Diktatur des Proletariats.“181 Der „dritte Weg“ hat zu diesem Zeitpunkt noch keine räumliche, sondern eine ausschließlich zeitliche Dimension, indem Titos Ideologen behaupteten, sich in einer bereits fortgeschritteneren Phase des Sozialismus zu befinden. Der Unterschied zwischen Jugoslawien und der Sowjetunion wurde auf der diachronen Achse gezogen. Im Laufe der 1950er Jahre nahmen jugoslawische Ideologen den ursprünglich pejorativ gebrauchten Begriff der „Drittheit“ in ihren offiziellen Wortschatz auf und wandelten ihn nachträglich in ein positives Motto um. Auf dem sechsten Kongress der Kommunistischen Partei Jugoslawiens im Jahre 1952 bekam die Bezeichnung erstmals auch eine räumliche Dimension. Sie stand seither für den politisch wie ideologisch eigenständigen Weg Jugoslawiens zwischen Ost und West. Der eine, zum Beispiel die Sowjetunion, rüstet sich und die Satelliten auf, um mit Gewalt seine Ziele zu erreichen, die unterworfenen Länder in der Unterordnung zu halten, neue Gebiete an sich zu reißen und weitere Völker zu unterjochen. Die anderen rüsten auf, um das bewaffnete Gleichgewicht in der Welt herzustellen. […] Die dritten, die kleinen Völker, wie zum Beispiel Jugoslawien, rüsten auf, um einer Aggression Widerstand zu leisten und sich ihre Unabhängigkeit, ihren Bestand zu erhalten.182
In dem Augenblick, in dem Jugoslawien den ödipalen ‚Vatermord‘ an der Sowjetunion beging und sich als konsequenterer Vollstrecker des Sozialismus darstellte, wurde der pejorative sowjetische Begriff des „dritten Weges“ in einen positiven Identifikationsbegriff gewendet. Trotz der Beibehaltung des kommunistischen Einparteiensystems wurde das Projekt des „dritten 180 181 182
Kardelj, Edvard: Über die Volksdemokratie in Jugoslawien. Belgrad 1950, 9f., 21, 25. Ebd., 43. Broz-Tito, Josip: Der sechste Kongress der Kommunistischen Partei Jugoslawiens. Hrsg. Presse- und Informationsbüro der Jugoslawischen Botschaft. Bonn 1952, 4.
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Weges“ durch die politisch-ideologische Abgrenzung vom sowjetischen Stalinismus-Leninismus geprägt. Die jugoslawische Distanzierung von der Sowjetunion interpretierte man im Westen zuerst als eine allmähliche Demokratisierung, die schließlich eines Tages zur Abkehr vom Einparteiensystem führen würde. Doch Kardelj wies schon 1953 in seiner Schrift Die sozialistische Demokratie in der jugoslawischen Praxis die Hoffnung der westlichen Demokratien zurück, dass Jugoslawien unter sowjetischem Druck dazu getrieben sei, den „Weg des Demokratismus“ einzuschlagen.183 Vielmehr bemühe sich das Land, so Kardelj, um eine „zeitgemäße sozialistische Praxis“, die sich keineswegs den bourgeoisen parlamentarischen Demokratien anverwandeln werde. In seiner Schrift Fünf Jahre danach aus demselben Jahr kündigt er eine „neue Phase in der Entwicklung des Sozialismus“ an, in der die sowjetischen „Fehler“ korrigiert und „der Arbeiterklasse des Sowjetblocks neue sozialistische Perspektiven eröffnet“ werden sollten.184 Auf diese Art versuchte sich Jugoslawien der Weltöffentlichkeit weder als ein sowjetischer Satellitenstaat noch als eine abgespaltene Fraktion der großen kommunistischen Schwesternpartei, sondern als eine eigenständige Alternative zu präsentieren, die sich zwischen Ost und West etabliert hatte.
2.4. Titoismus als marxistische Neo-Avantgarde Nach dem Bruch mit der Sowjetunion behaupteten die Titoisten, sie seien die Avantgarde des Kommunismus. Ein Mitbegründer der Praxis-Gruppe, der Zagreber Philosoph Rudi Supek, verwendet in seinen Schriften, wie etwa in „Das Ziel der jugoslawischen schöpferischen Marxisten. Avantgarde einer kommunistischen Reformation?“ (1966), häufig die Bezeichnung „Avantgarde“ als Synonym für den „dritten Weg“.185 Der Gebrauch des Begriffes beschränkte sich jedoch nicht nur metaphorisch auf das politische Vokabular. Um die ideologische Abgrenzung von der Sowjetunion zu unterstreichen, griff auch die jugoslawische Bildpropaganda zwischen 1949 und 1952 öfters die Formen der frühen russischen Avantgarde auf und richtete sich damit gegen die stalinistische Ästhetik des sozialistischen Realismus. Die avantgardistisch anmutenden Photos, die auf Verfahren von Gustav Kljucis und Aleksandr Rodčenko zurückgriffen, wurden zugleich auch als Agit-Prop für
183 184 185
Kardelj, Edvard: Die sozialistische Demokratie in der jugoslawischen Praxis. S. l. 1953, 1. Kardelj, Edvard: Fünf Jahre danach. Die sowjetische „Friedensoffensive“ im Lichte der jugoslawischen Erfahrungen. Bonn 1953, 3, 7f., 14. Brockmann 1994, 81.
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den jugoslawischen Sozialismus eingesetzt. So konnte man sozusagen den Pionier des Kommunismus mit den eigenen Waffen schlagen. Die Broschüre Tito contra Stalin, welche 1949 die „asiatischen“ Methoden der Sowjetunion bloßlegen sollte, schmückte eine anonyme Illustration. Diese griff das zentrale Element des konstruktivistischen Revolutionsplakats Ėl Lisickijs mit dem Titel Schlag die Weißen mit dem roten Keil (1919) auf. Auf dem sowjetischen Propagandabild, auf dem die runden und spitzen geometrischen Formen für die politisch-ideologische Opposition zwischen den beiden Parteien des Russischen Bürgerkriegs – den Weißen und den Roten – stehen, sticht ein rotes Dreieck in einen weißen Kreis (Abb. 31). Auf der jugoslawischen Broschüre bricht wiederum ein roter Keil vom fünfzackigen roten Stern, dem sowjetischen Staatsemblem, ab, als er in die Landkarte Jugoslawiens einsticht (Abb. 32).
Abb. 31: Ėl Lisickij, Schlag die Weißen mit dem roten Keil / Bej belych krasnym klinom, 1919-20.
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Titos „dritter Weg“ Abb. 32: Anonym, Tito contra Stalin. Streit der Diktatoren in ihrem Briefwechsel, Hamburg 1949, Titelseite.
Die Illustration eignet sich wie in einem Zitat die symbolisch aufgeladene Formensprache der russischen Avantgarde an, um mit ihr als Waffe das erstarrte Staatsemblem der Sowjetunion zu zerstören.186 Die Nachahmung dekonstruiert das Vorbild durch eine quasi-avantgardistische Paraphrase bzw. das ironische Pastiche eines durch Stalin ‚überwundenen‘ Stils sowjetischer Propaganda. Diese humoristisch-ironische Strategie geht beinahe den künstlerischen Neo-Avantgarde-Bewegungen der 1960er und 1970er Jahre in Osteuropa voraus.187 Derselben neo-avantgardistischen Ästhetik wie auf der Umschlagseite der Propaganda-Broschüre Tito contra Stalin begegnete man in den frühen 1950er Jahren auch in der 1949 neu gegründeten Zeitschrift Jugoslavija, die den „dritten Weg“ im In- und Ausland propagieren sollte. Vor allem die 186
187
Vgl. auch Zimmermann, Tanja: Copying the Soviet imperial narratives. Tito’s “third path” – a Neo-Avant-Garde of Marxism. In: Word & Sense. A Journal of Interdisciplinary Theory and Criticism in Czech Studies IX-X (2009), 148-158. Hal Foster (The Return of the Real. The Avant-Garde and the End of the Century. Cambridge/Mass.-London [1996] 2001) sieht in diesem Prozess, den die retroaktiven Signifikationen und Symbolisierungen ex post kennzeichnen, Parallelen zu der von Freud diagnostizierten traumatischen Nachträglichkeit – der späteren Nachwirkung eines früheren Traumas.
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Photos von Industrielandschaften, die in der Herbstausgabe von 1950 erschienen, sind im Stil Aleksander Rodčenkos gehalten. Dazu zählen die Bilder der Photographen Slavko Smolej, M. Pavić und Hristifor Nastasić vom Neubau des Hütten-Kombinats in Sisak sowie ihre Aufnahmen vom Bohrturm in Gojlo in Kroatien (Abb. 33) und von der Montage der CowperApparate in Sisak (Abb. 34) als auch die Photos vom feierlichen Stapellauf des neuen Schiffs „Sarajevo“ in der Schiffswerft in Rijeka.
Abb. 33: Hristifor Nastasić, Der Bohrturm in Gojlo, 1950. Abb. 35: Anonym, Arbeiter, 1960.
Abb. 34: Slavko Smolej, Die Montage der Cowper-Apparate in Sisak, 1950.
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Die Aufnahmen aus extremen Blickwinkeln, senkrecht von oben oder von unten, begleiten ‚Oden‘ an den Aufbau des Landes, der durch die Industrialisierung, Elektrifizierung und Selbstverwaltung zustande gekommen sei (Abb. 34).188 Nur solange Tito zu den Ursprüngen des Kommunismus zurückkehren wollte, zeigten sich die Propagandaplakate und -photographien vom russischen Konstruktivismus beeinflusst. Dem Kopieren des Konstruktivismus folgte bald, mit stalinistischer Geste, seine Unterdrückung: Der Vereinnahmung der Avantgarde folgte auch in Jugoslawien ihre Auslöschung.
2.5. Tito – Stalin ex post Als Stalin im März 1953 starb, sagte Edvard Kardelj das Ende des Stalinismus in der Sowjetunion voraus. Als eine äußerst persönliche Form der Diktatur, gebunden an die Person Stalins, sei der Stalinismus in der Sowjetunion unwiederholbar, ja tot. Stalin kann durch keine Persönlichkeit ersetzt werden, nicht so sehr wegen seiner persönlichen Qualitäten, als vor allem deswegen, weil sich derartige Systeme persönlicher Diktaturen in der Geschichte nicht wiederholen. Es gibt mehrere mögliche Formen für die Weiterentwicklung in der Sowjetunion, aber keine von ihnen kann stalinistisch sein. Im Gegenteil, seine Nachfolger, gegen die sich jetzt alle Sünden des Stalinismus erheben, die die Ursache für die Schwäche ihrer heutigen Positionen sind, diese Nachfolger sind zwar gezwungen, sich Stalins Namen zu bedienen, um die Autorität der Macht und die Einheit des herrschenden Bürokratenapparates aufrechtzuerhalten, aber zugleich sind sie bereits gezwungen, auf die unpopulärsten Elemente aus Stalins System und seiner Politik zu verzichten, um irgendwie die Unterstützung der Massen zu erhalten, die sie jetzt am dringendsten brauchen. Es kommt nicht darauf an, in welchem Maße sie das bewusst tun, aber schon die Entwicklung der Dinge drängt sie in diese Richtung, und das schon seit dem ersten Tage nach Stalins Tod. Wir alle wissen, dass Stalin noch nicht einmal beerdigt war, als sein Gebäude sich schon zu ändern begann. Der tote Stalin wird auch weiterhin öffentlich gefeiert, an sein Werk aber wurde bereits die Axt gelegt.189
Titos Biograph Vladimir Dedijer verneinte zwar noch im Jahre 1953 jegliche Parallelen zwischen Tito und Stalin. So habe ihm Tito selbst gesagt, dass „Menschen Geschichte machen oder eine bedeutende Rolle spielen, soweit sie Teil ihres Volkes geworden sind“, um sich vom bürokratischen Stalin zu distanzieren.
188 189
Bihalji-Merin, Oto (Hrsg.): Jugoslawien. Illustrierte Zeitschrift. Im Herbst 1950. Belgrad 1950, 3-5, 7, 14. Kardelj, Edvard: Fünf Jahre danach. Die sowjetische „Friedensoffensive“ im Lichte der jugoslawischen Erfahrungen. Hrsg. von der Presse- und Informationsabteilung der jugoslawischen Botschaft, Mehlem/Rhein. Bonn 1953, 13.
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Aber gibt es diese Anbetung in Jugoslawien, wie man sie Stalin gegenüber in der UdSSR findet? Wird Tito mit der Sonne verglichen, ist Tito unfehlbar, schickt man ihm zu seinem Geburtstag Telegramme, dass man „sich vor ihm zu Boden wirft“, wie dies bei Stalins 70. Geburtstag geschehen ist. Ist Tito „der gottgesandte Führer des Volkes“, wie der Sowjetpatriarch namens Stalin kürzlich mit der einst in Russland unter dem Zaren üblichen Formulierungen bezeichnet wurde? All das gibt es in Jugoslawien infolge unserer ganz andersgearteten Entwicklung nicht.190
Ein Jahr später, 1954, wurden Dedijer und Đilas als Dissidenten verhaftet. Dedijer konnte 1955 in die USA emigrieren, während Đilas bis 1966 im Gefängnis saß. Erst als die Ära des Stalinismus in der Sowjetunion zu Ende ging und auch in Jugoslawien Titos ‚stalinistischer‘ Führungsstil korrigiert wurde, erblickte der bis dahin geblendete Westen nachträglich in Tito einen Stalinisten. Der westdeutsche Rechts- und Politikwissenschaftler Ernest Bauer stellt in seinem Aufsatz „Was ist Titoismus?“ (1954) fest, dass die jugoslawische Doktrin „nichts Selbständiges, sondern lediglich eine Abkehr gegen die Anschuldigungen des Kominform“ sei.191 Die Wiederaufnahme der diplomatischen Beziehungen mit der Sowjetunion im Jahre 1954 und der Besuch Chruščevs am 26. Mai 1955 stellten Titos „dritten Weg“ in Frage. Das Rätsel um Titos Abkehr von den Sowjets im Jahre 1948 hat noch nicht aufgehört, und schon verbreiten manche Zeitungen das sensationelle Gerücht: Tito kehrt zu Russland zurück! Gleichzeitig werden jene Stimmen lauter, die schon immer der Meinung waren, dass es sich beim Kominform-Streit um ein groß angelegtes Manöver des Weltkommunismus handelte und die jugoslawischen Kommunisten im Geheimen immer mit den Sowjets in Verbindung standen.192
Bauer kritisiert den Westen, Titos Absetzung von der Sowjetunion als eine Annäherung an die westeuropäischen Demokratien aufgefasst zu haben.193 Vielmehr zeige Titos Politik zur gleichen Zeit sowohl die Symptome einer Annäherung an den Osten (Erneuerung der diplomatischen Beziehungen mit der Sowjetunion, Beibehaltung der kommunistischen Doktrin, Kirchenfeindlichkeit, strengerer Kurs in der Innenpolitik) als auch an den Westen (Fortsetzung der anglo-amerikanischen Wirtschafts- und Waffenlieferungen an Jugoslawien). Bauer erklärt sich diese scheinbare Paradoxie mit der Tatsache, dass Tito ein neues kommunistisches Balkan-Imperium gründen möchte. Jedenfalls will Tito aber eines: neben der Sowjetunion und China die dritte selbständige kommunistische Macht der Welt sein, wobei der ganze Balkan zu seinem Einflussgebiet gehören sollte. Deshalb das große Interesse Titos für Mao-Tse-tung und auch für gewisse, kommunistisch beeinflusste Bewegungen Asiens. […] Wenn man nun eine Hypothese über Titos weiteres Verhalten aufzustellen versuchte, müsste 190 191 192 193
Dedijer 1953, 415. Bauer, Ernest: Was ist Titoismus? In: Zeitschrift für Geopolitik 25 (1954), 220-229, hier 227. Bauer, Ernest: Tito und die Sowjetunion. In: Osteuropa 2 (1954), 94-100, hier 94. Ebd., 96.
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man vor der Voraussetzung ausgehen, dass der gegenwärtige Schwebezustand zwischen West und Ost dem jugoslawischen Diktator am meisten zusagen dürfte. Nur auf diese Weise bleibt er für beide Seiten interessant, nur so kann er jene Rolle spielen, die er heute in der Weltpolitik innehat.194
Auch der Historiker Hans Koch stellte 1957 fest, dass „das Phänomen Stalin, in der eigentlichen Sowjetunion von Trotzkij bis Chruschtschow nicht unbestritten, seinen Widerpart auch in den zwischeneuropäischen Volksdemokratien fand“.195 Während der Antistalinismus seinen Höhepunkt in der „zweiten Oktoberrevolution“ 1956196 erreichte, ging er nach der Niederschlagung des Ungarn-Aufstandes im selben Jahr in einen „latenten A-Stalinismus“ über. Schon ein Jahr später „nach dem erfolgreichen Abschuss der sowjetischen interkontinentalen Raketen (26.8.1957) und besonders nach dem gelungenen Start der Erdsatelliten (4.10. und 2.11.1957) wich die a-stalinistische Strömung einem bewussten oder unbewussten Neo-Stalinismus“.197 Den NeoStalinismus definiert Koch als jene ideologisch begründete und praktisch geübte Form des Marxismus-Leninismus, die sich nach dem Tode Stalins aus der Krise des XX. Parteitages und der sog. Zweiten Oktoberevolution in Ost- und Zwischeneuropa herausgebildet hat. Der NeoStalinismus stellt sich im Grunde genommen als die alte Form der sowjetischen Weltanschauung dar, aus der nur der sog. – auf Stalin bezogene – Persönlichkeitskult ausschied, der es dafür aber gelang, weite Schichten des bisher abseits stehenden, fälschlich so genannten Nationalkommunismus zurückzugewinnen. Auf eine Formel gebracht, könnte man mit einiger Überspitzung und in vorsichtiger Vereinfachung urteilen: Neo-Stalinismus ist gleich Marxismus und Leninismus minus (stalinistischer) Persönlichkeitskult plus (reformierter) Nationalkommunismus.198
Die Lehren Stalins seien nur zurückgedrängt und nicht beseitigt worden. Tito sei zwar seit dem Kominformstreit (28. Juni 1948 bis 9. Mai 1955) der Wegbereiter des Antistalinismus, doch „über einen echt nach-stalinistischen Totalitarismus ist er nicht hinausgekommen“.199 Schon in dem ersten DjilasProzess im Jahre 1954 habe Tito gezeigt, dass er „nach stalinistischem Ritus und unter Anwendung stalinistischer Totalität“ verfahre. Die jugoslawische Verfassung vom 13. Januar 1953 verlieh Tito zudem ähnliche Machtbefugnisse, wie sie Stalin von der stalinistischen aus dem Jahre 1936 erhielt.200 Die Ähnlichkeit der beiden tritt für Koch insbesondere in Titos Anspruch, ein neues Imperium zu gründen, hervor.
194 195 196 197 198 199 200
Ebd., 100. Koch, Hans: A-Stalinismus und Neo-Stalinismus in den europäischen Volksdemokratien. In: Osteuropa 7/12 (1957), 859-867, hier 859. Amtliche Entstalinisierung am XX. Parteikongress in Moskau im Februar 1956. Ebd. Ebd., 864f. Ebd., 866. Kumer 1999, 210.
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Ein weiteres Indiz für die Wahlverwandtschaft Titos mit Stalin ist sein geradezu renaissanceartiges Gefühl für die Macht in einem national organisierten Großraum. Wie der Kaukasier aus Tiflis die zweihundert Nationalitäten Neurusslands und hundert Stämme Zwischeneuropas zu einem eurasischen Reich russischer Nation vom Pazifik bis zum Atlantik zu bündeln träumte, so strebt beharrlich und konsequent der Kroate Altösterreichs zu einem südslawischen Reich serbischer Nation von der Donau bis zur Ägäis, vom Schwarzen Meer bis zur Adria. Aus diesem südslawischen Raumgefühl (in Umkehrung Stalins „sozialistisch“ lediglich nach der Form, aber national nach dem echten Gehalt) trieb er beharrlich seine Politik der balkanischen Integration: 1946 rief er (damals noch Partner Moskaus) die jugoslawisch-albanischen Gesellschaften für Eisenbahnwesen, Erdölgewinnung, Bergbau und Elektrifizierung ins Leben; am 27. November 1947 verkündete er, natürlich im Einvernehmen mit seinem bulgarischen Partner Dimitrow in Sofija, beide würden eine so enge und allgemeine (bulgarisch-jugoslawische) Zusammenarbeit herbeiführen, „dass die Frage einer Föderation nur noch eine Formalität sein werde“. Im Juni 1948, knapp vor Ausbruch des Kominformstreites, fügte er in das Parteiprogramm der Kommunistischen Partei Jugoslawiens die Forderung nach „Einheit der Völker Bulgariens, Jugoslawiens und Albaniens“ ein – Programme und Aufgaben, die einst schon der Kaisertitel byzantinischer Imperatoren und großbulgarischer Zaren geschmückt hatten; selbst die kommunistische Partisanenbewegung des nordgriechischen Generals Markos unterstütze er 1948 moralisch und materiell, nicht nur als glaubensverwandter Kommunist, sondern abermals im Blick auf eine Großraumpolitik an der Ägäis. Diese Pläne sind bis heute nicht erloschen. Stalinistisch ist schließlich Titos allgemein bekannte Abneigung gegen den Westen. Wie Stalin, so nahm auch Tito westliche Subsidien und Anbiederungen entgegen, ohne je auch nur für Sekunden sein östliches Gesicht zu verlieren. Mit einem Unterschied: Stalin fürchtete den Westen und hasste ihn zugleich. Tito aber hasst den Westen, ohne ihn fürchten zu müssen: er fürchtet nur den Osten, ohne ihn hassen zu können.201
Vielmehr sieht Koch in Titos Politik eine Rückkehr zum Vorstalinismus und befürchtet, dass sich aus ihm ein neuer Stalinismus entwickeln könnte. Dieser Stalinismus müsste sich wegen der allgemeinen Diskreditierung des Alten neuer Formen bedienen, um solcherart ‚verkleidet‘ als eine Neuerung zu erscheinen. Wenn die Änderungen im Kommunismus nach Stalins Tod darauf hinauslaufen sollten, dass er lediglich zum Vorstalinismus zurückkehrt, wäre es ebenso möglich, dass er nach einiger Zeit wiederum in einen Stalinismus mündet – wenn auch wegen des anderen Führers unter einem anderen Namen, der ihn möglicherweise ungefährlicher erscheinen ließe. Es wäre auch denkbar, dass der Stalinismus, da er in seinen alten Formen diskreditiert ist, sich neuer Formen bedient, um sein zentrales Prinzip der monolithischen Partei zu retten oder aufzufrischen.202
In seiner späten, kritischen Biographie Titos, die erst in dessen Todesjahr (1980) erschien, macht auch Milovan Đilas Tito beinahe zu einem Russen. Schließlich spricht er ihm die Kenntnisse des Serbokroatischen ab. 201 202
Ebd., 866f. Bartsch, Günther: Djilas und Kołakowski. Demokratischer Kommunismus und kommunistische Demokratie? In: Osteuropa. Zeitschrift für Gegenwartsfragen des Ostens 15/5 (1965), 289-295, hier 289.
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Am schlechtesten drückte er sich jedenfalls im Serbokroatischen aus. Sein geringster Fehler war, dass er kroatische und serbische Ausdrücke durcheinander brachte. Aber in seinen Reden benutzte er häufig Russizismen, und da er, wie es die Art der Menschen aus der Zagorje ist, die Worte lang zog, erweckte er bei Menschen, die ihn nicht kannten, den Verdacht, keiner der Unseren, sondern ein Russe zu sein. Von Intellektuellen konnte man ironische Bemerkungen hören: Er habe sich nicht einmal die Mühe gemacht, Serbokroatisch zu sprechen.203
Bereits in seinen Memoiren aus den 1960er Jahren beobachtete der einstige Mitkämpfer Titos, dass „ein Gespenst, das Gespenst des ‚Stalinismus‘, erneut in Osteuropa umhergeht, nunmehr aber jedem Staat gesondert in Geist und Gestalt angepasst“.204 In seiner Paraphrase von Marx’ Manifest der Kommunistischen Partei (1848) vergleicht er Stalins Machtprinzip mit dem Vampirismus, der sich in Osteuropa wieder wie eine Infektionskrankheit ausbreite. Aber Stalin ist ein Vampir, der noch in der Welt umgeht und noch lange umgehen wird. Von seinem Erbe haben sich alle losgesagt, viele aber schöpfen noch Kraft aus ihm, etliche nehmen sich ihn auch ungewollt zum Vorbild. Chruschtschow hat sich mehrfach von ihm losgesagt, aber ihn gleichwohl bewundert. Die heutigen sowjetischen Führer bewundern ihn nicht, wohl aber wärmen sie sich an seiner Sonne. Selbst bei Tito ist – etwa fünfzehn Jahre nach seiner Entzweiung mit Stalin – der Respekt vor dessen staatsmännischem Format neu aufgelebt. Und so frage und erforsche ich mich auch selbst: ist denn dieses Grübeln über Stalin nicht schon an und für sich ein Zeichen seines Fortdauerns in mir?205
Schließlich vergleicht Đilas Stalin mit dem Großinquisitor aus Dostoevskijs Roman Die Brüder Karamazov (1878-80), also dem Repräsentanten der institutionalisierten Kirche, die sich schon längst von ihrer geistigen Quelle, der ursprünglichen Lehre Christi, abgekoppelt hat. In der Art des Großinquisitors aus „Die Brüder Karamazow“ hatte er begriffen, dass er Gott, – hier die Kameradschaft in der Partei und die egalitäre Gesellschaft –, töten musste, um die Institutionen des sowjetischen Systems und der kommunistischen Organisation zu retten.206
In Dostoevskijs „Poem des Großinquisitors“ geht es um die Konfrontation zwischen dem Großinquisitor und dem plötzlich auf Erden zurückgekehrten Christus. Das zentrale Thema ist der Austausch des Originals – Heilands –, mit der Kopie – der Kirche. Der Großinquisitor empfindet dessen Rückkehr als eine unerlaubte Einmischung in das Werk der Kirche, denn die Kirche verwaltet nicht nur das Erbe Christi, sondern soll auch sein Werk zu Ende bringen. Wie die Institution Kirche die Jahrhunderte zuvor offenbarte und seither bewahrte ‚Urspur‘ Christi löscht bzw. verändert, so werden auch die konkreten Lehren Lenins in den abstrakten „Leninismus“ 203 204 205 206
Djilas, Milovan: Eine kritische Biographie. Aus dem Kroatischen übertragen von Peter Walcker. Wien-München u.a. 1980 (serbokr. Druženje s Titom, Manuskript), 17. Djilas, Milovan: Idee und System. Politische Essays. Wien u.a. 1982, 57. Ebd., 109. Ebd., 120.
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und analog die Lehren Stalins in den „Stalinismus“ transformiert. Wie der Großinquisitor im Roman Christus mit der kirchlichen Institution austauscht, so weicht im Stalinismus auch die kommunistische Kameradschaft dem bürokratischen System. Wie die Institution Kirche die Bemächtigung der ‚Urspur‘ nicht als verfälschendes Kopieren, sondern als rechtgläubige Befolgung des Urbildes auffasst, so wird auch die imperiale Macht des Kommunismus als Verwaltung des Erbes der ‚Urväter‘ betrachtet. Dabei wird unentscheidbar, was Original und was Kopie ist. Diese Austauschbarkeit hebt auch Đilas in seiner späten Charakterisierung Stalins hervor, die mit dem sakralen tremendum angereichert ist und damit die Bewunderung für diesen an die Stelle derjenigen für Tito setzt. In Stalin kann man Wesenszüge aller früheren Tyrannen entdecken – von Nero und Caligula bis zu Iwan dem Schrecklichen, Robespierre und Hitler. Doch ebenso wie irgendeiner von diesen ist er auf seine Art neu und originell. Von ihnen allen ist er der kompletteste und erfolgreichste gewesen und obwohl seine Gewaltherrschaft die perfideste und totalste gewesen ist, erscheint es mir nicht nur zu sehr vereinfacht, sondern auch unzutreffend, ihn als Sadisten oder Kriminellen zu betrachten.207
Đilas sieht sogar im Lenin-Kult, den Chruščov nach der Abrechnung mit Stalin wiederbelebte, „eine Spielart und Fortsetzung des Stalin-Kultes“.208 So kehren sowohl die Sowjetunion als auch Jugoslawien wieder zu den Urbildern zurück, um ihre Abbilder zu erneuern. Die Flucht zu Lenin mildert die stalinistische Tyrannei, hebt sie jedoch nicht auf, die Flucht zu Lenin verlängert das Festkrallen der Bürokratie an Gewalt und Illusionen. Aber weder diese Flucht noch das Weiterflüchten zu Marx, – dem „alten“ wie dem „jungen“ – vermag die Unkreativität der Gewalt zu verdecken, eine Unkreativität, die derart total ist, dass sie sogar das eigene Ideal zerstört.209
Für Djilas bestehen zwischen Leninismus, Stalinismus und Titoismus keine Unterschiede. Alle drei sind nur wiederkehrende, bessere oder schlechtere Kopien des Marxismus. Ohne die Unterschiede zwischen Jugoslawien und dem Ostblock zu vernachlässigen, hat die jüngere Geschichtsschreibung sehr wohl herausgestellt, dass der Stalinismus für zahlreiche Elemente im Aufbau von Titos jugoslawischen ‚Experiment‘ als Vorlage diente.210 Die äußere „Entstalinisierung“ korrelierte mit der inneren „Re-Stalinisierung“. Gerade in der Phase der nach außen vollzogenen Abgrenzung von der Sowjetunion weisen Titos Regierungspraktik und Medienpolitik nach innen auffällige strukturelle Analogien 207 208 209 210
Ebd., 124. Ebd., 142f. Ebd., 143. Ramet, Sabrina P.: Die drei Jugoslawien. Eine Geschichte der Staatsbildung und ihrer Probleme. München 2011, 231-260; Sundhausen, Holm: Jugoslawien und seine Nachfolgestaaten 1943-2011. Eine ungewöhnliche Geschichte des Gewöhnlichen. WienKöln-Weimar 2012, 37-112.
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zum sowjetischen Ur- bzw. Vorbild auf. Zu nennen wären der Entwurf der sozialistischen Staatsymbole211, die Organisation des kommunistischen Einparteisystems212 und der Geheimpolizei OZNA (1944-1946) bzw. UDBA (1946-1991), die mit der Unterstützung von Stalins geheimdienstlichen Berater erfolgte;213 der Umgang mit jugoslawischen ‚Trotzkisten‘, die in Schauprozessen verurteilt wurden214 bzw. die Abrechnung mit Konkurrenten aus den eigenen politischen Reihen215; die Gründung des jugoslawischen ‚Gulags‘ (1949-1963), in dem die Gefangenen Zwangsarbeit im Steinbruch verrichten mussten, dem Hunger und der Kälte ausgesetzt wurden und wo Inhaftierte andere Inhaftierte folterten216; die Durchführung der Bodenreform 211 212
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Vgl. Sorić/Trojanović (Hrsg.) 1986. Starič Vodušek, Jerca: Stalinismus und Selbst-Sowjetisiserung in Jugoslawien. Von der kommunistischen Partisanenbewegung zu Titos Einparteisystem. In: Creuzberger, Stefan (Hrsg.): Gleichschaltung unter Stalin? Die Entwicklung der Parteien im östlichen Europa 1944-1949. Paderborn u.a. 2002, 219-238. Boeckh, Kathrin: Zur Religionsverfolgung in Jugoslawien 1945-1953. Stalinistische Anleihen unter Tito. In: Clewing, Konrad/Schmitt, Oliver Jens (Hrsg.): Südosteuropa. Von vormoderner Vielfalt und nationalistischer Vereinheitlichung. München 2005, 431-461, hier 406. Torkar, Igor: Umiranje na obroke. Ljubljana 1984 (dt. Sterben auf Raten, Klagenfurt 1991); Boro Krivokapić, (Hrsg.), Dahauski procesi, Beograd 1990; Žajdela, Ivo: Komunistični zločini na Slovenskem. Ljubljana 1991; Jančar, Drago (Hrsg.): Temna stran meseca. Kratka zgodovina totalitarizma v Sloveniji 1945-1990. Zbornik člankov in dokumentov. Ljubljana 1998. Zu Milovan Đilas als politischer Figur: Bauer, Ernest: Milovan Djilas – Fall eines Ideologen. In: Osteuropa 2 (1954), 102-103; R. V.: Der dritte Djilas-Prozess. In: Osteuropa 12 (1957), 909-912. Bartsch, Günther: Djilas und Kołakowski. Demokratischer Kommunismus und kommunistische Demokratie? In: Osteuropa. Zeitschrift für Gegenwartsfragen des Ostens 15/5 (1965), 289-295; Ders.: Djilas und Kołakowski II. In: Osteuropa. Zeitschrift für Gegenwartsfragen des Ostens 15/6 (1965), 385-392. Der aus Montenegro stammende Schriftsteller, Philosoph und Staatsmann Djilas war auch ein Theoretiker des „Titoismus“. In dieser ‚rechtgläubigen‘ marxistischen Bewegung gehörte er bis 1954 dem ‚inneren Kreis‘ um Tito an. Bis 1948 war er Anhänger Stalins und der Sowjetunion. Danach forderte er wegen des sowjetischen Staatbürokratismus eine Rückkehr zu Marx und Engels. Nach seinen erfolgreichen Wahlergebnissen in der Republik Montenegro 1953 und der Veröffentlichung seines Aufsatzes Die Anatomie einer Moral (serbokr. Anatomija jednog morala) in der Dezember-Ausgabe der Zeitschrift Nova Misao (Neuer Gedanke), in dem er ‚alte‘ Partisanen angriff und eine Parteireform forderte, wurde er aller Ämter entbunden, gezwungen, seine Thesen zu wiederrufen und schließlich verhaftet. Kurz nach seiner Entlassung aus der Haft wurde er wegen seines „antijugoslawisch[en] und antisozialistisch[en]“ Buches The New Class. An Analysis of The Communist System (New York 1957) wieder verhaftet. Eine weitere Verhaftung folgte 1962 nach der Veröffentlichung des Buches Gespräche mit Stalin. Vgl. die jugoslawischen Entsprechungen von Aleksandr Solženicins Roman Archipel Gulag (1973), die bereits Ende der 1960er bzw. Anfang der 1970er Jahre entstanden und meist erst nach Titos Tod veröffentlicht werden konnten: Danilo Kišs Grobnica za Borisa Davidoviča (1976. Dt. Ein Grabmal für Boris Dawidowitsch. 1983), Branko Hofmans Noč do jutra (1981. Dt. Nacht bis zum Morgen. 1983), Dušan Jovanovićs Karamazovi
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(Nationalisierung) und die Durchsetzung des Fünfjahresplans zur Industrialisierung des Landes im Jahre 1947217; die Vielvölkerpolitik mit dem Versuch, ein a-nationales jugoslawisches Staatsverständnis zu prägen (Verdrängung der nationalen und religiösen Unterschiede, Mythos von der multiethnischen „Brüderlichkeit und Einheit“)218, die Kirchenfeindlichkeit (sowohl gegen den Katholizismus als auch gegen die Orthodoxie)219, die Gestaltung der Kinderund Jugendorganisationen220, die Medienpropaganda und Agitation221, der
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(1981), Antonije Isakovićs Tren 2. Kazivanja Čeperku, (1982), Vitomil Zupans Leviatan (1982), Slobodan Selenićs Pismo/glava (1982); Zur jugoslawischen „Gulag“-Literatur: Marković, M.: Pereispitivanja. Informbiro i Goli otok u jugoslovenskom romanu. Beograd 1986; Gruenewald, Oskar: Yugoslav Camp Literature. Rediscovering the Ghost of a Nation’s Past-Present-Future. In: Slavic review 46/3-4 (1987), 513-528; Münnich, Nicole: Das Grauen erzählen. Vergangenheitsdeutungen in literarischen und historiographischen Texten am Beispiel des jugoslawischen ‚Umerziehungslagers’ Goli otok. Leipzig 2005; Dies.: Jugoslawische Literarische Geschichtskonzeption als Katalysator im gesellschaftlichen Umbruchprozess. Die Goli otok-Literatur nach dem Tode Titos. In: Richter, Angela/Bayer, Barbara (Hrsg.): Geschichte (ge-)brauchen. Literatur und Geschichtskultur im Staatssozialismus. Jugoslawien und Bulgarien. Berlin 2006, 205-220; Zu Titos Konzentrationslager: Markovski, Venko: Goli otok. The island of death. A diary in letters (= East European monographs 163). Boulder 1984; Banac, Ivo: With Stalin against Tito. Cominformist Splits in Yugoslav Communism. Ithaca-London 1988; Mihailović, Dobroslav/Blečić, Mihalo (Hrsg.): Goli otok (= Politika. Posebno izdanje). Beograd 1990; Stojanović, Milinko B.: Goli otok. Anatomija zločina. Beograd 1991; Paraga, Dobroslav: Goli otok. Istočni grijeh Zapada. Zagreb 1995; Scotti, Giacomo: Goli otok. Italiani nel gulag di Tito. Trieste 1997; Vukadinović, Ilija: Moskva, Guberevec, Goli otok. Beograd 2001; Milko, Mikola: Delo kot kazen. Izrekanje in izvrševanje kazni prisilnega, poboljševalnega in družbeno koristnega dela v Sloveniji v obdobju 1945-1951. Celje 2002; Kostić, Petar: Psihološka anatomija Golog otoka. Študija. Beograd 2002; Kosić, Ivan: Goli otok. Najveći Titov konclogor. Rijeka 2003. Čepič, Zdenko: Agrarna reforma in kolonizacija v Sloveniji 1945-1948. Ljubljana 1995. Simon, Gerhard: Nationalismus und Nationalitätenpolitik in der Sowjetunion. Von der totalitären Diktatur zur nachstalinistischen Gesellschaft. Baden-Baden [1979] 1986; Ramet, Sabrina: Nationalism and federalism in Yugoslavia, 1963-1983. Bloomington 1984; Wachtel, Andrew Baruch: Making a nation, breaking a nation. Literature and cultural politics in Yugoslavia. Stanford 1998; Sundhaussen, Holm: Jugoslawien und seine Nachfolgestaaten. Konstruktion, Dekonstruktion und Neukonstruktion von ‘Erinnerungen’ und Mythen. In: Flacke, Monika (Hrsg.): Mythen der Nationen. 1945 – Arena der Erinnerungen. Begleitbände zur Ausstellung. Bd. 1. Berlin 2005, 373-413; Jović, Dejan: Yugoslavia. A State that Withered Away. Purdue 2009, 54-61. Buchenau, Klaus: Orthodoxie und Katholizismus in Jugoslawien 1945-1991. Ein serbisch-kroatischer Vergleich. Wiesbaden 2004; Boeckh 2005; Ramet, Sabrina: Cross and commissar. The politics of religion in Eastern Europe and the USSR. Bloomington u.a. 1987. Vgl. Erdei, Ildiko: ‘The Happy Child’ as an icon of Socialist Transformation. Yugoslavia’s Pioneer Organisation. In: Lampe, John R./Mazower, Mark (Hrsg.): Ideologies and National identities. The Case of Twentieth-Century Southeastern Europe. Budapest-New York 2004, 154-179. Rančić, Dragoslav/Putniković-Matić, Rada/Tomašević, Nebojša: Tito in the world press. On the occasion of the 80. Birthday. Belgrade 1973; Robinson Joch, Gertrude: Tanjug. Yugoslavia’s multi-faced national news agency. Illinois 1969; Dies.: Tito’s
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Aufbau des ‚Herrscherkultes‘, der wie in der Sowjetunion die Form der politischen Theologie annahm.222 So wird in Presterls Reisbericht 2000 km durch das neue Jugoslawien (1947) das Warten auf Titos Ankunft in mystisch-eschatologische Worte gefasst – ähnlich wie die Ankunft Lenins in der Sowjetunion.223 Wie der Messias ist auch Tito überall präsent und dennoch nie sichtbar.224 Marschall Tito! Wie oft leuchte dieser Name auf den Zäunen und Mauern, auf Dächern und Giebeln… Nachts, da brennt er in allen Farben in den Lichtreklamen… Tito! Das ist ein Begriff geworden in Millionen Herzen und morgen wird er nach Laibach kommen und die ganze Stadt hat für ihn ihr schönes Festgewand angezogen…225 […] Zum ersten Mal hatten die südslawischen Völker in ihm einen gemeinsamen Befreier gefunden, denn Tito war überall: In Serbien und Kroatien, in Slowenien und Montenegro, in der Herzegowina und in Mazedonien, er schmiedete im praktischen Kampfe die Freundschaft dieser Völker zu einer unlösbaren Kraft zu-
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maverick media. The politics of mass communications in Yugoslavia. Illinois 1977; Luburić, Radonica: Vrući mir hladnog rata. Hladni rat i sukob Staljin-Tito u karikaturama sovjetske, informbirovske i politemigrantske štampe [Der heiße Frieden des Kalten Krieges. Der Kalte Krieg und Stalin-Tito-Zusammenstoß in der Karikatur der sowjetischen Presse des Informbüros]. Podgorica 1994; Puhar, Alenka: Tito in mediji 1-4. In: Delo (16.08.1997), (23.08.1997), (30.08.1997), (6.9.1997); Dobrivojević, Ivan/Miletić, Aleksandar R.: Istok i zapad u jugoslovenskoj karikaturi 1948-1952. In: Istorija 20. Veka 2 (2004), 163-174; Leposavić, Radonja (Hrsg.): VlasTito. Iskustvo past present. Beograd 2004; Zur sowjetischen Propaganda und Agitation: Murašov/Witte (Hrsg.) 2003; Günther, Hans/Hänsgen, Sabine (Hrsg.): Sovetskaja vlast’ i media. St. Petersburg 2005. Zum Tito-Kult: Kuljić, Teodor: Tito – sociološkoistorijska studija. Beograd 1998; Fister, Vesna: “Ti, naše pesmi začetek!” – Kult osebnosti maršala Tita v pesmih od vojne do 1980. In: Časopis za kritiko znanosti 30 (2002), 217-231; Brkljačić, Maja: Tito’s bodies in Word and Image. In: Narodna umjetnost 40 (2003), 99-128; Mojić, Dušan: Evolucija kulta Josipa Broza Tita. Analiza štampe. In: Srpska politička misao 2/1. Beograd 1995; Sretenović, Stanislav/Puto, Artan: Leader Cults in the Western Balkans (1945-90). Josip Broz Tito and Enver Hoxha. In: Apor, Balás/Behrends, Jan C./Johnes, Polly u.a. (Hrsg.): The Leader Cult in Communist Dicatatorship. Stalin and the Eastern Block. Chippenham-Eastbourne 2004, 208-223; Dimitrijević, Bojan B.: Armija – oslonac Titovog kulta ličnosti 1945-1954. In: Istorija 20. veka 2 (2004), 97122; Petzer‚ Tatjana: Tito – Symbol und Kult. Identitätsstiftende Zeichensetzung in Jugoslawien. In: Richter/Bayer (Hrsg.) 2006, 113-130; Zivojinovic, Marc: Der jugoslawische-Tito Kult – Mythologisierte Motive und ritualisierte Kulthandlungen. In: Ennker, Benno/Hein-Kircher, Heidi (Hrsg.): Der Führer im Europa des 20. Jahrhunderts. Marburg 2010, 181-199; Zimmermann, Tanja: Yugoslav partisan Poetry: Songs for the Leader. In: Jakiša, Miranda (Hrsg.): Partisans. Narrative, Staging and Afterlife. Bielefeld 2014. Vgl. Majakovskijs, Vladimir: Gedicht Vladimir Il’ič Lenin (1925). In: Majakovskij, Vladimir: Sočinenija v trech tomach. Tom 3. Moskva 1973, 203-229; Zu LeninLiedern: Garstka, Christoph: Das Herrscherlob in Russland. Katharina II., Lenin und Stalin im russischen Gedicht. Ein Beitrag zur Ästhetik und Rhetorik politischer Lyrik. Heidelberg 2005, 367-373. Presterl 1947, 72. Ebd., 67.
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sammen… Und was Tito im Krieg war, das bedeutet er auch im Frieden für das Land. Alle Fortschritte gehen auf ihn zurück und er verstand es, das Volk zu höchsten Leistungen anzuspornen. Selbst seine Gegner müssen anerkennen, das Tito zu den größten Feldherren und Staatsmännern unserer Tage gehört…226
Von den 1960er bis in die 1980er Jahre, sogar noch nach Titos Tod, wurden zahlreiche Sammlungen von Tito-Liedern veröffentlicht.227 Das darin verbreitete Herrscherlob richtete sich am Vorbild der sowjetischen Lenin- und Stalin-Lieder aus. Darüber hinaus wurden sie mit Elementen der serbischen Heldenepik, des barocken Herrscherlobes sowie der religiös-mystischen Liebeslyrik angereichert. Die Tageszeitungen veröffentlichten Briefe und Telegramme an Tito wie die Pravda in der Sowjetunion an Stalin.228 Vergleicht man die jugoslawischen Massenveranstaltungen – wie Titos Geburtstagsfeier am 25. Mai (nach der Kritik des Stalinkultes 1956 in den „Tag der Jugend“ umbenannt)229 – mit sowjetischen Festen,230 so fallen auch hier zahlreiche strukturelle Parallelen in der Inszenierung und Choreographie auf. Auch die Anstalten um Titos Beisetzung haben ihre sowjetische Parallele in der Errichtung des LeninMausoleums.231
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Ebd., 73. Fister 2002; Brkljačić 2003; Dies.: Popular culture and communist ideology. Folk-epics in Tito’s Yugoslavia. In: Lampe/Mazower (Hrsg.) 2004, 180-210; Zimmermann 2013. Perica, Vjekoslav: Balkan Idols. Religion and Nationalism in Yugoslav States. Oxford 2002, 89-108 (Kap. 6: „United we stand, divided we fall: The civil religion of brotherhood and unity”); Buchpublikationen: Tito an Pioniere. 1950; Tito an die Jugend. 1950; Dokumentarfilme: Wie wir das Versprechen gehalten haben. 1958, Brief an Tito. 1962, Wir lieben dich. 1973. Magnusson, Kjell: Secularization of ideology: The Yugoslav Case. In: Arvidsson, Claes/ Blomqvist, Lars E. (Hrsg.): Symbols of Power. The Eesthetics of Political Legitimation in the Soviet Union and Eastern Europe. Stockholm 1987; Brkljačić 2003; Die schriftlichen Quellen (Programmvorschriften) und deren Entwicklung anhand des Filmmaterials seit 1948 (36 Filmaufnahmen) wurden noch nicht ausgewertet. Der Massenspektakel war von einem mehrwöchigen Staffellauf durch alle Republiken Jugoslawiens begleitet, getragen von allen jugoslawischen Nationalitäten – zuerst von Soldaten, später von Sportlern, Arbeitern und Studenten. Jedes Jahr am 25. Mai wurde im Belgrader Zentralstadion der Jugoslawischen Volksarmee die Übergabe der Staffel an Tito gefeiert und im Fernsehen übertragen. Der Staffellauf wurde auch nach Titos Tod bis 1987 fortgesetzt, als es zu einem Skandal um das Plakat für die Feierlichkeit kam: Den Eklektizismus des jugoslawischen Herrscherkultes parodierte die Künstlergruppe „Der neue Kollektivismus“, die als ikonographische Vorlage Richard Kleins nationalsozialistisches Plakat „Das Dritte Reich – Allegorie des Heldentums (1936) übernahm und damit den 1. Preis gewann (vgl. Arns, Inke: Laibach, Irwin, Gledališče sestr Scipion Nasice, Kozmokinetično gledališče Rdeči pilot, Kozmokinetično kabinet Noordung, Novi kolektivizem, Neue Slowenische Kunst NSK. Eine Analyse ihrer künstlerischen Strategien im Kontext der 1980er Jahre in Jugoslawien. Regensburg 2002, 76-82). Rolf 2006. Brkljačić 2001; Miloradović 2012, 217-227.
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Wie in der Sowjetunion die Städte St. Petersburg in Leningrad und Volgograd in Stalingrad umbenannt wurden, so änderte man auch in Jugoslawien 1945-46 den Namen einer Reihe von Städten. Voraussetzung dafür war, dass die Stadt eine kommunistische Vergangenheit besaß sowie im Krieg heldenhaftes Verhalten gezeigt hatte als auch viele Verluste davon getragen haben musste.232 In einer ersten Welle wurden so Titograd (vorher Podgorica) in Montenegro, Titova Korenica in Kroatien, Titovo Užice in Serbien und Titov Vrbas in der Vojvodina mit dem Namen des Staatsoberhauptes versehen. Die Städte stellten „aus Liebe zu ihrem Anführer“ einen Antrag auf Namensänderung, die anschließend per Gesetz erfolgte. Zur Erinnerung an Tito wurden in einer zweiten Welle nach Titos Tod im Jahre 1981 weitere Städte nach ihm umbenannt. Dazu gehörten Titovo Velenje in Slowenien, Titov Drvar in Bosnien und Titova Mitrovica (vorher Kosovska Mitrovica) im Kosovo. Anders als in der Sowjetunion, wo in der Pravda meist Reproduktionen offizieller Gemälde mit dem Porträt Stalins erschienen, bediente man sich in Jugoslawien zur Inszenierung des Anführers der Photographie.233 Tito wurde immer mitten in einer Menschenmenge photographiert, etwa beim Besuch von Fabriken, beim Empfang von Politikern oder Schülern. Maler wurden aber auch in Jugoslawien beauftragt, Porträts von Tito anzufertigen. Reproduktionen dieser Gemälde wurden in allen öffentlichen Räumen aufgehängt.234 Tito erschien in zahlreichen Dokumentarfilmen235 und, wie Stalin, in wenigen Spielfilmen, wie z.B. in Sutjeska (dt. Die fünfte Offensive – Kesselschlacht an der Sutjeska, 1978), dort gespielt vom bekannten Hollywood-
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Vgl. Korica, Budimir/Kostić, Dragoslav: Tito-gradovi. Titograd, Titova Korenica, Titove Užice, Titov Veles. Beograd 1977. Eine systematische Auswertung der Tito-Photographien, der Tito-Porträts und ihrer Reproduktionen in der bildenden Kunst steht noch aus. Die Frage der Repräsentation nahm Maja Brkljačić (2003) anhand eines Reliefs aus den 1960er Jahren in Angriff. Als Ausgangspunkt diente ihr dabei Louis Marins De la représentation (1994). Leider blieb gerade dasjenige Reliefbild, auf dem Tito vor Lenins Mausoleum erscheint, ohne Kommentar. Vgl. Stele-Možina, Melita/Jakac, Božidar: Portret Tita. Ljubljana 1972; Muzej 25. maj (Hrsg.): Tito i umetnici. Beograd 1978; Muzej 25. maj (Hrsg.): Likovna zbirka Josipa Broza Tita. Beograd 1978; Pahor, Božidar/Menaše, Helena: Tito v risbah jugoslovanskih umetnikov. Ljubljana 1978; Timotejević, Slavko/Lenart, Branko: Tito v reprodukcijah. Beograd 1984; Lenart, Branko: Tito in Reproduktionen. In: Transit 14 (1997), 73-80; Zimmermann 2014. Prunk, Gottfried/Rühle, Axel (Hrsg.): Josip Tito in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. Reinbek bei Hamburg 1973; Zahlreiche Tito-„Dokumentationen“, z.B. zu Titos Besuchen in verschiedenen jugoslawischen Städten (Marschall Tito und slowenische Pioniere. 1950, Tito – der oberster Befehlshaber. 1972, Titos Blick in die Zukunft und Tito – der Weg der Freundschaft und der Zusammenarbeit. 1977, Josip Broz Tito. 1980, Abschied in Ljubljana. 1981), sind nur noch in Filmarchiven des ehemaligen Jugoslawien zu sehen. Sie sind zwar inventarisiert, aber nicht ausgewertet.
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Schauspieler Richard Burton.236 Sein Erscheinungsbild in der Öffentlichkeit wandelte sich innerhalb der 35 Jahre seiner Herrschaft vom enthobenen „Marschall“, „Lehrer“ und „Fürsorger“ zum menschennahen „Kameraden“ und „Freund“.237 Die ‚Humanisierung‘ der Tito-Darstellungen darf jedoch nicht nur als Entfernung vom stalinistischen Vorbild betrachtet werden. Auch Stalin ließ sich ab 1952 freundlich lächelnd und sanft blickend, von der verarmten Menschenmenge umgeben darstellen. Beispiel hierfür sind Viktor Klimašins Plakate aus der Serie Durch Indien, die er auf der Allsowjetischen Kunstausstellung 1952 in Moskau ausstellte. Die englische Inschrift warb um das indische Volk mit den Worten: „We stand for peace and champion the cause of peace. Stalin“.238 Trotz der jugoslawischen Beschwörung des Neuen waren Titos Strategien, Stalin zu diskreditieren, nicht originell: Niemand anderes als Stalin selbst hatte sich der sowjetischen Öffentlichkeit nach dem Tod Lenins als dessen bessere, zu größerer Vollkommenheit gelangte Kopie präsentiert. Auf dem „dritten Weg“ Jugoslawiens treten weniger die Brüche zwischen dem titoistischen und stalinistischen System als vielmehr die Kontinuitäten zwischen ihnen sowie ihre gemeinsamen Vorbilder und deren allmähliche Umwandlung in Derivate und Hybride in den Vordergrund. Nicht der Inhalt der Abgrenzungsrhetorik, sondern die strukturellen Gemeinsamkeiten zwischen den beiden politischideologischen Systemen legen die Analogien bloß.239 Gerade die kleine Ab236
237 238
239
Goulding 2007, 1-61; Brkljačić, Maja: Tito’s bodies in Word and Image. In: Narodna umjetnost 40/1 (2003), 99-128; Zu den jugoslawischen Partisanenfilmen: Marković 2006, 37-39; Jakiša, Miranda: Down to Earth Partisans. In: Wurm, Barbara (Ed.): KINO! Partizanski film 10. Ljubljana 2010, 54-61; Dies.: Der ‚tellurische Charakter‘ des Partisanengenres: Jugoslavische Topographie in Film und Literatur. In: Kilchmann, Esther/Pflitsch, Andreas/Thun-Hohenstein, Franziska (Hrsg.): Topographie pluraler Kulturen. Europa vom Osten gesehen. Berlin 2011, 209-225; Dies.: Memory of Past to Come: Yugoslavia’s Partisan Film and the Fashioning of Space. In: Zimmermann, Tanja (Hrsg.): Balkan memories. Media Constructions of National and Transnational History. Bielefeld 2012, 111-120. Mojić 1995; Dimitrijević 2004; Zimmermann 2014. Sysoev, P.M. (Hrsg.): Vsesojuznaja chudožestvennaja Vystavka 1950 goda. MoskvaLeningrad 1952, s.p.; Ders.: Vsesojuznaja chudožestvennaja Vystavka 1952 goda. Moskva 1953, 85. Strohm, Karl Gustav: Moskau und Belgrad. Vorspiel einer Reise. In: Osteuropa 3 (1955), 200-204; Ders.: Die sowjetisch-jugoslawischen Verhandlungen. In: Osteuropa 4 (1955), 284-289. Bauer (1954) stellt fest, dass der Wortschatz in Jugoslawien und der Sowjetunion wieder ähnlich wurde. Die Presseberichte in den Zeitungen Pravda, Izvjestija und Krasnaja zvezda über Jugoslawien sind wieder freundlich. Zur zweiten Abkühlung zwischen Jugoslawien und der UdSSR: Bogetić, Dragan: Drugi jugosolovensko-sovjetski sukob 1958. i koncept aktivne miroljubne koekzistencije. In: Istorija 20. veka 2 (2004), 123-154; Neue Dokumente über das Verhältnis Jugoslawiens und der UdSSR zwischen 1953-55 bespricht Luburić, Radonica: Pomirenje Jugoslavije i SSSR-a 1953-1955. Tematska zbirka dokumenata. Drugo izdanje. Podgorica 2007.
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Titos „dritter Weg“
weichung – die räumliche Verschiebung der Signifikanten beim Kopieren des Vorbildes auf den Balkan – ermöglichte es Tito sowohl das große sowjetische Imperium zu beerben als auch ein kleines jugoslawisches Imperium der Mitte zu gründen. Indem sich Tito von Stalin absetzte, wurde er zum anderen, ja wahrhaften Stalin, der, mindestens nach innen, den gleichen Anspruch auf imperiale Macht erhob. Die nicht nur im politischen System, sondern auch bei der Analyse der Propaganda in Text und Bild so evidente Identifikation mit der Sowjetunion wurde nie offen eingestanden.
3. Der „dritte Weg“ als doppelte Negation Als die Gründung der Balkanföderation, die sich weit über Jugoslawien hinaus erstrecken sollte,240 an den imperialen Ansprüchen der Sowjetunion in Osteuropa gescheitert war, schloss Tito mit Griechenland und der Türkei im August 1953 den Balkanpakt241 über gegenseitige militärische Hilfe ab. 1954-55 begann er das ambitiöse Projekt einer institutionalisierten „Bewegung der Blockfreien“ (serbokr. pokret nesvrstanih, „Nicht-Eingeordnete“) mit dem indischen Präsidenten Nehru und dem ägyptischen Präsidenten Nasser zu verwirklichen, das 1956 vertraglich auf der Insel Brijuni an der Adria besiegelt wurde.242 Auf der ersten Gipfelkonferenz der zur „dritten Welt“ angewachsenen Bewegung 1961 in Belgrad traten bereits 25 meist kommunistisch ausgerichtete, jedoch nicht Moskau-hörige Staaten Afrikas, Südasiens und Lateinamerikas dem lockeren Bündnis bei.243 Die Neuausrichtung fing mit der Umdeutung des Begriffs des „dritten Weges“ an. Als der abfällige sowjetische Terminus in den 1950er Jahren zum positiven Motto der jugoslawischen Außenpolitik der Blockfreiheit 240
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Zum Verlauf des Konflikts um die Balkanföderation: Gibijanskij 1987, 133f.; Ders.: The 1948 Soviet-Yugoslavia Clash. Historiographic Versions and new Archival Sources. In: Fischer, Jasna/Gabrič, Aleš/Gibianskii, Leonid J. u.a. (Hrsg.): Jugoslavija v hladni vojni/Yugoslavia in the Cold War. Ljubljana 2004, 27-47; Ramet 2011, 243248; Sundhaussen 2012, 82-91. Zum Balkanpakt: Bekić, Darko: The Balkan pact. The still-born of the Cold War. In: Fischer/Gabrič/Gibianskii u.a. (Hrsg.) 2004, 107-142. Tripkov, Djoko: Spoljna politika Jugoslavije 1953-1956. In: Fischer/Gabrič/Gibianskii u.a. (Hrsg.) 2004, 71-81; Mišković, Nataša: The Pre-History of the Non-Aligened Movement: India’s First Contact with the Communist Yugoslavia, 1948-50. In: India Quarterly 65/2 (2009), 185-200. Zur Bewegung der Blockfreien: Autorenkollektiv Skaal: Die Bewegung der Blockfreien. Herausforderung an die schweizerische Aussenpolitik. Von Bandung bis Colombo, Zürich 1978; Baumann, Gerhard: Die Blockfreien-Bewegung. Konzept, Analyse, Ausblick. Melle 1982 (= Forschungsbericht. Konrad-Adenauer-Stiftung 19).
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avancierte, bedienten sich Titos Ideologen erneut des Verfahrens der ironischen Aneignung von Begriffen – der sowjetischen Imitation mit umgekehrtem Vorzeichen. Der „dritte Weg“ entstand folgerichtig nicht als Synthese von Ost und West, sondern als die Negation beider. Man bestritt aus der Position der „Drittheit“ heraus sowohl die Gangbarkeit des ersten als auch des zweiten Weges, welche als Irrwege bezeichnet wurden. Der „dritte Weg“ wurde auch im Lande niemals als Konzept eines allmählichen oder graduellen Übergangs vom Kapitalismus westlicher Art in den Kommunismus östlicher Art akzeptiert, sondern nur im Sinne einer doppelten Ausschließung von außen: Für die Sowjets kompromittierte sich Jugoslawien mit dem „Imperialismus“ und den „kapitalistischen Phänomenen“, für den Westen blieb es ein halb stalinistisches Land. Die doppelte Perspektive von Ost und West auf das Land wurde der ideologischen Selbstdarstellung im Sinne einer zweifachen Negation eingeschrieben. Die Definition des Eigenen als doppelte Verneinung des Fremden begann man bald zu historisieren und von der häretischen Bewegung der Bogomilen abzuleiten, die sich Ende des 10. Jahrhunderts von Bulgarien aus bis nach Bosnien augebreitet hatte.244 In dieser antifeudalistisch ausgelegten religiössozialen Bewegung mit dualistischer Weltanschauung,245 die um die Mitte des 15. Jahrhunderts verschwunden war, sahen die intellektuellen Führer Jugoslawiens den „dritten Weg“ vorweggenommen. Die häretische Bewegung eignete sich schließlich bereits in Österreich-Ungarn246 ebenso wie im sozialistischen Jugoslawien für zahlreiche pseudo-historische Spekulationen und mythische Konstrukte – vor allem mit dem Ziel, die bosnischen Muslime 244
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In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und erneut in den 1990er Jahren wurde in Bosnien, Kroatien und Serbien eine kontroverse Diskussion über die Bogomilen geführt. Dabei versuchten Historiker und Politiker, die Bogomilen für die Vorgeschichte der jeweiligen Nation zu vereinnahmen (vgl.: Lovrenović, Dubravko: Povijest est magistra vitae. O vladavini prostora nad vremenom. Sarajevo 2008; Žanić, Ivo: Nationale Symbole zwischen Mythos und Propaganda. In: Der Jugoslawien-Krieg. 2. aktualisierte und erweiterte Auflage, Hrsg. Dunja Melčić. Wiesbaden 2007, 293-297). Zur bogomilischen Heräsie und anderen Heräsien mit dualistischer Weltanschuung: Stoyanov, Juri: The Other God: Dualist Religions from Antiquity to the Cathar Heresy. Yale 2000. Okey, Robert: Taimin Balkan Nationalism: The Habsburg ‘Civilizing Mission’ in Bosnia, 1878-1914. Oxford-New York 2007, 71, 104; Eine Parodie auf den Umgang des österreichisch-ungarischen Adels mit dem Bogomilentum in Bosnien verfasste der österreichische Schriftsteller Franz Josef Xaver von Königsbrunn-Schaup (1857 Celje1916 Leipzig) in seinem Werk Die Bogumilen: Bosnischer Roman, das mehrere Auflagen (Dresden 1886, Dresden 1895, München-Leipzig 1909) erreichte. Darin dienen die Bogomilen dem österreichisch-ungarischen Adel als Maskerade in exotischem Ambiente. In Sarajevo wird beispielweise ein Bogomilen-Klub für freie Liebe gegründet, der keinen Zusammenhang mit den historisch überlieferten Bogomilen hat, sondern nur als ein entleerter Kult für ‚ätherische‘ Vorstellungen, Mode, Flirts, den Karriereaufstieg oder gar zur Spionage dient.
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retrospektiv zu europäisieren bzw. sie zu etwas Drittem (weder Ost noch West) zu erklären. Wie Titos „dritter Weg“, so wurde auch religiöse Überzeugung ex negativo gegenüber zwei in den benachbarten Kulturen herrschenden Orthodoxien bestimmt. Die jugoslawische Parteispitze kokettierte seit den 1950er Jahren in ihrer Selbstdarstellung immer wieder mit Analogien zum Bogomilentum. Die Anhänger der negativen Theologie bedienten sich der Verneinung und der Absonderung als einem Dritten zwischen Teismus und Atheismus.247 Ebenso entsprang auch die Rhetorik des „dritten Weges“ der Verneinung sowohl des sowjetischen als auch des westeuropäisch-amerikanischen Weges. Im jugoslawischen Modell des „dritten Weges“ tauchten aber auch weitere Phänomene auf, die Sektenbewegungen kennzeichnen. Aage HansenLöve, der eine umfassende Typologie der religiösen Häresien in Russland entwarf und ihre Literarisierung in der Moderne verfolgte, zählt den sekundären Ursprung zu den Hauptmerkmalen der häretischen Bewegungen.248 Dieser stehe in „Konterdependenz“ zur primären Rechtgläubigkeit. Die Abspaltung von einer Orthodoxie sei demnach immer sekundär gegenüber der bestehenden Religion. Sie stelle zugleich einen regressiven Schritt hinter das als primär gesetzte Modell dar, da sie auf einen Urzustand vor einer vermeintlichen Deformation zurückgerichtet sei. Ein weiteres Merkmal der Häresie sieht er in ihrer extremen Diskontinuität und in ihrem ebenso regressiv-archaischen wie auch progressiv-vorwegnehmenden Zeitverständnis. Ferner sei das Häretische auch dadurch gekennzeichnet, dass es keinen Aufschub ins Semiotische kenne, sondern das Geistige in einem physischkörperlichen Akt in reiner Evidenz erlebe. Alle diese Merkmale tauchten im modernen Gewand auch im jugoslawischen „dritten Weg“ auf. Neben der doppelten Verneinung sowohl des sowjetischen als auch des westeuropäisch-amerikanischen Modells entstand in Jugoslawien ein neues Zeitverständnis – die Vorstellung von Antizipation, der Vorwegnahme der politischen und kulturellen Manifestationen des „dritten Weges“ im Mittelalter. Diese Auffassung der Kontinuität und Dialektik von Vergangenem und Gegenwärtigem führte zu einer Synchronie des Asynchronen. So interpretierten die jugoslawischen Ideologen die urtümliche, primitive Kunst der Bogomilen als künstlerische Avantgarde und Vorwegnahme der jugoslawischen volksnahen sozialistischen Kunst, die als Spur der Vergangenheit stets in der zeitgenössischen Kunst präsent bleibt. Auch den exzessiven Konsum und die sinnliche Genusskultur, die mit dem Beginn des Tourismus in 247 248
Derrida, Jacques: Wie nicht sprechen. Verneinungen. Wien 2006 (fr. Comment ne pas parler. Dénégations. Paris 1987), 15. Hansen-Löve, Aage A.: Allgemeine Häretik, russische Sekten und ihre Literarisierung in der Moderne. In: Orthodoxien und Häresien in den slavischen Literaturen. Wiener Slawistischer Almanach. Sonderband 41. Hrsg. von Rolf Fieguth. Wien 1996, 171-294.
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den 1950er Jahren begann, setzten die kommunistischen Eliten Jugoslawiens als Beweis dafür ein, dass der sozialistische Paradieszustand der erlösten Arbeiterklasse in Jugoslawien bereits hic et nunc realisiert würden. Somit schlug das Tito-Jugoslawien nicht nur einen neuen politischen „dritten Weg“ ein, sondern es begann auch eine neue, positive jugoslawischbalkanische Identität der Drittheit als doppelte Negation zu konstruieren. Für diesen Zweck nutzten Titos Ideologen die hegemonialen Blickregime und Projektionen aus Ost und West aus, die im 19. Jahrhundert die Balkanstereotypen geprägt hatten. Negativ besetzte, mit dem Balkan in Verbindung gebrachte Begriffe wie „Gesetzlosigkeit“ und „Rückständigkeit“ wurden in diesem Prozess ins Positive gewendet. Erinnerungen an das räuberische Hajdukentum und den brutalen Bürgerkrieg wurden durch den heldenhaften Kampf der Partisanenarmee gegen die Nazis, deren Kollaborateure, die kroatischen Ustascha, die serbischen Tschetniks und die slowenischen Domobranci, sowie andere Verräter überschrieben.249 An die Stelle des Primitivismus trat die Idee des ursprünglich-archaischen Volkstums und der terra vergine – des neugeborenen Jugoslawiens als einer „dritten Welt“ zwischen Ost und West.250 Wie in Russland bzw. in der Sowjetunion durch die Umkehrung der orientalistischen Projektionen Westeuropas eine positive eurasische Identität gestiftet wurde,251 so wurden auch in Jugoslawien negative Balkanbilder ins Positive gewandt. Dabei wurden traumatische Ereignisse verdrängt oder umgeschrieben, so dass falsche Deckbilder an ihre Stelle traten.
3.1. Die Kampagne gegen den sozialistischen Realismus In allen Bereichen der Kultur suchte man seit 1948 intensiv nach einem eigenständigen jugoslawischen Stil, der sich sowohl von der westeuropäischen als auch von der russischen Kunst und Literatur unterscheiden sollte. Ab 1950 startete in der jugoslawischen Presse eine Kampagne gegen den sozialistischen Realismus. Anlässlich der Biennale in Venedig in demselben Jahr stellte der kroatische Kunsthistoriker Grgo Gamulin in seinem Aufsatz „Über die Lage unserer bildenden Kunst“ (1950) eine symptomatische Ideenlosigkeit der sow249 250
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Zimmermann 2010. Zimmermann, Tanja: Jugoslawien als neuer Kontinent – politische Geografie des ‚dritten Weges’. In: Jakiša, Miranda/Pflitsch, Andreas (Hrsg.): Jugoslawien – Libanon. Verhandlungen von Zugehörigkeit in den Künsten fragmentierter Kulturen. Berlin 2012, 73-100. Zum Eurasianismus in Russland: Bassin, Marc: Russia between Europe and Asia. The Ideological Construcion of Geographical Space. In: Slavic Review 50 (1991), 1-17; Frank, Susanne: Eurasianismus. Projekt eines russischen „dritten Weges“ 1921 und heute. In: Kaser/Gramshammer-Hohl/Pichler 2003, 197-226.
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jetischen Kunst sowie der Kunst anderer osteuropäischer Länder fest. Dreißig Jahre nach der Oktoberrevolution könne man noch immer keine Ergebnisse präsentieren. Stattdessen verliere man sich in leerer Rhetorik, begleitet von theatralischen Deklarationen, oder im oberflächlichen, narrativ-beschreibenden Naturalismus. Von den jugoslawischen Künstlern verlangt Gamulin, die Wahrheit sowohl über die jugoslawische Heimat als auch über die Kommunistische Partei Jugoslawiens zu sagen, zugleich aber auch die theoretische Position des Sozialismus zu verteidigen.252 Jugoslawien solle ferner die Führung in der Entwicklung der Malerei übernehmen, die auf den Grundlagen des klassischen Marxismus aufgebaut werden müsse. In der zeitgleichen Besprechung der großen Ausstellung der slowenischen Impressionisten in Ljubljana (1950) macht Gamulin deutlich, dass der Impressionismus mit seinen oberflächlichen Lichteffekten, die keine reale Gegenständlichkeit und Formenkonsistenz wiedergeben können, keinesfalls vorbildhaft für die Kunst des jugoslawischen Sozialismus sein kann.253 In der Architektur wird analog hierzu die „Gotik“ der Stalinzeit angegriffen.254 Eine neue Kursrichtung im sozialistischen Realismus kündigt auch Branko Šotra auf dem Kongress der jugoslawischen Künstler im Mai 1950 an, ohne sie jedoch zu präzisieren.255 Die neuen jugoslawischen Vorschriften aus demselben Jahr 1950 sagen zwar, welche Stilrichtung nicht mehr befolgt werden darf, sie verraten jedoch nicht, welche Werke auf diesem neuen Weg als Vorbild dienen könnten. Die endgültige Abkehr vom sozialistischen Realismus proklamierte der kroatische Schriftsteller Miroslav Krleža,256 der seit 1947 der Vizepräsident der Jugoslawischen Akademie der Wissenschaften und die führende intellektuelle Autorität unter Tito war, auf dem Schriftstellerkongress im Jahre 1952 in Ljubljana.257 In seiner Rede, die zwischen dem 6. und 10. Oktober 1952 in den wichtigsten jugoslawischen Zeitungen erschien,258 stellt er die Mängel 252 253 254 255 256
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Gamulin, Grgo: O položaju naše likovne umjetnosti. In: Književne novine 7 (1950), 3. Gamulin, Grgo: Prilog diskusiji o impresionizmu. In: Književne novine 10 (1950), 3; Ders.: Na temu impresionizma. In: Književne novine 16 (1950), 3f. Ribnikar, Vladislav: Oblakoderi u Moskvi. Lažna gotika kao izraz „socijalističkog realizma“. In: Književne novine 49 (1952), 5f. Šotra, Branko: O našoj likovnoj umjetnosti. In: Književne novine 19 (1950), Titelseite. Zu Krležas und Andrićs Verhältnis zur Kommunistischen Partei Jugoslawiens: Ðilas, Milovan: Literatur und Politik – Krleža und Andrić. In: Jahre der Macht. Kräftespiel hinter dem eisernen Vorhang. Memoiren 1945-1966. Mit einem Vorwort von Wolfgang Leonhard. Aus dem Serbokroatischen von Branko Pejaković. München 1983, 64-71. Zur Doktrin des sozialistischen Realismus im Jugoslawien der 1930er Jahren: Džaja, Srečko M.: Die politische Realität Jugoslawiens (1918-1991). Mit besonderer Berücksichtigung Bosnien-Herzegowinas (= Untersuchungen zur Gegenwartskunde Südosteuropas, Bd. 37, Hrsg. Hösch, Edgar/Nehring, Karl). München 2002, 79ff., 121-131. Republika 8 Nr. 10-11 (1952), 205-243; Borba 17 Nr. 238 (6.10.1952), 4-5; Politika 49 Nr. 14302, 4-5; Vjesnik 12 Nr. 2335 (6.10. 1952), 2, 5; Oslobođenje 9 Nr. 1857 (7.10.1952), 4; Naprijed 9 Nr. 42 (10.10.1952), 3-6; vgl. Krleža, Miroslav: Svjedo-
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sowohl des westeuropäischen individualistischen l’art pour l’art als auch des sowjetischen sozialistischen Realismus fest.259 In Entsprechung zum „dritten Weg“ Jugoslawiens in der Politik sollten auch Literaten und Künstler einen „dritten Weg“ einschlagen, der sich den Einflüssen von Ost und West zu entziehen habe. Das letzte Jahrzehnt unserer Geschichte zeigt sich weder als Plagiat noch als Widerspiegelung einiger westeuropäischen Bewegungen, weil wir auf dem Balkan und an der Donau das einzige sozialistische Land sind, das sich zu seiner eigenen politischen Form alleine, aus eigener Kraft, nach dem Gesetz der eigenen historischen Entwicklung durchkämpfte. Demnach braucht unsere Literatur nicht die Imitation der westeuropäischen zu werden, weil sie heute nicht im Rahmen der politischen und kulturellen Imitation alter Vorbilder erscheint und weil sie endlich mit eigener Stimme zu sprechen beginnen soll.260
Der Ästhetik des sozialistischen Realismus wirft Krleža vor, veraltet, epigonal, entleert, dilettantisch, im Kanon verfangen und von niedriger handwerklicher Qualität zu sein. Schon in den 1930er Jahren setzte er sich gegen die künstlerische ‚Gleichschaltung‘ ein und propagierte einen „Volksrealismus“ (narodni realizam).261 Seine Abwehrhaltung gegen den sowjetischen Kanon führte 1939 – trotz seiner persönlichen Freundschaft mit Tito – zur Abkühlung seiner Beziehungen zur Kommunistischen Partei Jugoslawiens.262 Nach dem Bruch Titos mit Stalin war allerdings der Augenblick gekommen, in dem er seine alte Überzeugung wieder öffentlich vertreten konnte. Krleža wurde dadurch zum Hauptideologen der neuen Richtung − des „dritten Weges“ in der Literatur und Kunst. In dieser Funktion rechnet er mit dem sozialistischen Realismus ab: Ždanovs Ästhetik ist eine ideenlose und unfruchtbare Paraphrase der vulgären sozialdemokratischen Vorkriegstheorien, die im zentraleuropäischen Rahmen während der Zweiten Internationale Ende des vergangenen Jahrhunderts gepflegt wurden und in
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čanstva vremena. Književno-estetske variacije. Hrsg. Ivo Frangeš. Sarajevo 1988, 219f. Krleža, Miroslav: Govor na kongresu književnikov u Ljubljani. In: Frangeš (Hrsg.) 1988, 7-48, hier 9. Ebd., 46. „Poslednji decenij naše historije ne javlja se kao plagijat ili kao odraz nekih pokreta zapadnoevropskih, pošto smo mi na Balkanu i na Dunavu jedina socijalistička zemlja koja se do svog vlastitog socijalističkog političkog oblika probila vlastitimi snagama, po zakonu svog vlastitog historijskog razvoja. Naša književnost prema tome ne treba da bude imitacijom zapadnoevropskom, jer se ona danas ne javlja kao dijelo u okviru političke i kulturne imitacije starih uzora, i jer treba konačno da progovori svojim vlastitim glasom.“ Rizvanbegović, Azra: Das sozrealistische Paradigma und seine Anwendung im ehemaligen Jugoslawien. In: Richter, Angela/Bayer, Barbara (Hrsg.): Geschichte (ge-) brauchen. Literatur und Geschichtskultur im Staatssozialismus. Jugoslawien und Bulgarien. Berlin 2006, 373-386. Miloradović 2012, 100-107.
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der internationalen sozialistischen Bewegung bis zum Ersten Weltkrieg 1914-1918 ihre Vorrangstellung behaupteten. Im russischen Sektor der Dritten Internationale sind sie dort in Erscheinung getreten, wo man in der Frage der Tendenz in der bildenden Kunst nie über besonders originelle Kenntnisse der westeuropäischen malerischen Problematik verfügte; diese programmatische Ikonographie schränkte dann die persönliche Erfindungskraft durch eine ganze Reihe kanonischer Vorschriften auf ein Minimum ein. […] Nach dem Gesetz der Anziehungskraft der sozialistischen Masse zogen die Vorschriften eine relativ große Zahl der nicht besonders begabten Mitläufer (poputčik) an, so dass sich der Dilettantismus, hinter der Maske der revolutionären Ideologie und diszipliniert in der Masse schreitend, als ein von der Partei organisierter Künstler, gegen „die aristokratische Minderheit der westeuropäischen künstlerischen Elite“ verschwor. Eifersüchtig auf die handwerkliche Präzision bedacht, wodurch er sich für seine künstlerische Minderwertigkeit schadlos hielt, begann dieser unbegabte professionelle Künstler, Zeitgenosse der Sezession und Sozialdemokrat, sich an die sozialdemokratische Masse anzulehnen, die durch den politischen Plebiszit organisiert wurde; unter dem Einfluss der Parteilichkeit, der Parteidisziplin und der Solidarität begann diese, in den (parteilich organisierten) Dilettanten ein Sprachrohr der eigenen propagandistischen Parteiinteressen zu sehen. Während sie mit ihrer Parteilichkeit ihre eigene Defizite an künstlerischer Begabung gewaltsam zu beheben versuchten, haben sich diese schlechten und einfallslosen Propagandakünstler in penetrante Denk-Ästheten verwandelt, die eine politische, „sozialistisch“ bildende Kunst simuliert haben, die den Geschmack vergiftete und letztlich narrative Gerasimovščina [nach Aleksandr Gerasimov benannt] als Ideal der gegenwärtigen sozialistischen Generationen geboren hat.
Krleža stellt eine Rückständigkeit des künstlerischen Ausdrucks fest, die auch den politisch-ideologischen Diskurs gekennzeichnet habe. Mit seinem Vorwurf des Dilettantismus greift er die sowjetische Kunstdebatte der späten 1920er Jahre auf, in der die sogenannten Produktionskünstler die handwerklich angefertigten Kunstwerke und die Staffeleimalerei ihrer AvantgardeVorgänger als dilettantisch bezeichneten.263 Das Pathos des sozialistischen Realismus vergleicht Krleža außerdem mit demjenigen der religiösen Kunstwerke des Katholizismus. Im Pathos der Grabdenkmäler der gefallenen Heroen und Opfer zahlreicher Kriegszyklen, im Kult der heiligen Krieger, die ihr Leben für die Idee der ideellen, staatlichen, imperialen und kolonialen Eroberung gegeben haben, und im Triumph und entäußerten Enthusiasmus des Sieges der Idee über die unzähligen „feindlichen, destruktiven und bösen Mächte“ spricht aus dieser bürgerlichen Kunst vor allem das Mysterium der Kreuzigung auf Golgatha.264
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Zimmermann, Tanja: Abstraktion und Realismus im Literatur- und Kunstdiskurs der russischen Avantgarde. München-Wien 2007 (= Wiener Slawistischer Almanach, Sonderreihe: Intermedialitat 68, Bd. 4, Hrsg. Aage A. Hansen-Löve), 227-241. Ebd., 22. „U patosu nadgrobnih spomenika palih junaka i žrtava mnogobrojnih ratnih ciklusa, u kultu svetih ratnika, koji su položili svoje živote za misao idejnog, državnog, imperijalnog i kolonijalnog osvajanja, i u triumfu i u vansebnom zanosu idealne pobjede nad bezbrojnim ‚neprijateljskim, destruktivnim i zlim silama’ iz ove građanske Umjetnosti progovara, uglavnom, golgotski misterij Raspeća.”
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Dieser ihrem Geiste nach katholizistischen Kunst solle man sich widersetzen, indem man von den anonymen protestantischen Grafikern lernt, wie sie ihre Glaubensgegner bekämpft haben. Dabei stellt Krleža die Reformation als eine säkularisierte, laizistische und soziale Bewegung dar,265 wie es später auch die DDR tat. Da der protestantische Glaube seit der Gegenreformation im 17. Jahrhundert auf jugoslawischem Boden praktisch vollkommen verschwunden war, wurde der Vergleich von der Gegenwart abgekoppelt und historisiert. In der Rhetorik des Kalten Krieges bestimmt Krleža als Aufgabe der jugoslawischen Literatur, einen eigenständigen Weg, weder Ost noch West, zu verteidigen. Unsere sozialistische Literatur muss den südslawischen sozialistischen status quo verteidigen, weil sie damit unseren sozialistischen und damit logischerweise auch unseren nationalen und kulturellen Bestand verteidigt. Unsere sozialistische Literatur muss als künstlerische Propaganda und als Propaganda vor dem Ausland (das von unserer Literatur und unserer Kunst keine Ahnung hat) mit einer Reihe ihrer Werke beweisen, wie wir seit je, seitdem es uns gibt, um freies künstlerisches Schaffen gekämpft haben, für die Simultaneität der Stile, für das Prinzip der freien Gedankenäußerung, auf der Linie ihrer unabhängigen moralischen und politischen Überzeugung. Heute, in diesem tragischen Dilemma, wenn man uns auf der Seite unserer Ideale mit einem offensichtlichen Mord droht und uns auf der Seite des bürgerlichen Westens (der uns schon Jahrhunderte als balkanische Raja leugnet) der Wind fauliger Sympathien erstickt, mit dem Gesicht zu diesen Spaltungen zugewandt den Frieden zu predigen, Bücher zu schreiben und sich zu bewaffnen – das sind die Aufgaben, denen keine einzige Literatur und Kunst der westeuropäischen Welt gewachsen wäre.266
Im Vorwort der 1952 wieder ins Leben gerufenen Zeitung Danas 52 bezeichnet Krleža die Nachkriegszeit von 1945-48 als eine Periode der „sozialtendenziösen literarischen Apologetik“.267 Das Jahr 1948 habe eine literarische Krise hervorgerufen, in der sich die Schriftsteller entweder nach dem russischen oder nach dem westeuropäischen Extrem richteten. Die neue Zei265 266
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Ebd., 31. Ebd., 43f. „Naša socijalistička književnost ima da brani južnoslovjenski socijalistički status quo, jer time brani naš socijalistički, a prema tome, logično, i naš narodni i kulturni opstanak. Naša socijalistička književnost treba, kao umjetnička propaganda pred inostranstvom (koje o našoj književnost i o našoj umjetnosti pojma nema) da serijom svojih djela dokazuje kako smo se mi oduvjek, otkad nas ima, borili za slobodu umjetničkog stvaranja, za simultanitet stilova, za načelo slobodnog izricanja mišljenja, po crti svog neodvisnog moralnog i političkog uvjerenja. Danas, u ovoj tragičnoj dilemi, kada nam sa strane naših ideala prijete očitnim umorstvom, a sa strane građanskog Zapada (koji nas poriče stoljećima, kao balkansku raju) duši vjetar gnjlih simpatija, licem pred ovim raskolima propovijedati mir, pisati knjige i naoružavati se, to su zadaci, kojimas ne bi bila dorasla ni jedna književnost ni umjetnost zapadnoevropskog svijeta.” Krleža, Miroslav: Uvodna riječ časopis „Danas 1952“. In: Sa uredničkog stola. Jubilarno izdanje u povodu devedesetih godina proteklich od autorova rođenja. Priredio Ivo Frangeš. Sarjevo 1983, 56-72, hier 60.
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tung sollte daher die doppelte Aufgabe übernehmen, einerseits das Forum für die Kritik des Rückständigen und des Reaktionären zu werden und andererseits die These des tertium non datur zwischen der lateinischen und griechischen Kultur zu überwinden. Der „dritte Weg“ soll folglich das tertium comparationis des lateinischen und orthodoxen Kulturkreises werden.268 Die Entscheidung Jugoslawiens gegen den sozialistischen Realismus wurde schließlich 1953 in Titos offizielle Biographie aufgenommen, in der Vladimir Dedijer von der Abneigung des Staatsoberhauptes gegen diese sowjetische Doktrin berichtet. „Ich habe mir Gerassimow und alle diese modernen Maler damals in Moskau angesehen. Das ist überhaupt keine Malerei, obgleich sie es ‚sozialistischen Realismus‘ nennen. Es hat aber nichts zu tun mit diesem Namen. Man hat den Eindruck, als ob die Bilder von Leuten ohne Seele gemacht worden seinen, die eher einen Spaten als einen Pinsel benutzt haben“, schloss er [Tito] lachend.269
Damit wurde zwar der sozialistische Realismus offiziell überwunden, aber der Weg der Kunst nicht nur in Richtung Osten, sondern gleichermaßen in Richtung Westen versperrt.
3.2. Titos programmatisches Historiengemälde – der Bauernaufstand von 1573 Einen auf den ersten Blick von der Sowjetunion unabhängigen Stil prägte der kroatische Maler Krsto Hegedušić. Bereits 1939 malte er ein Bild über den slowenisch-kroatischen Bauernaufstand gegen die Feudalherren im Jahre 1573, den der Aufständische Matija Gubec anführte.270 Nach dem Krieg realisierte er das Motiv im Monumentalformat. Dazu entwarf er 1947 eine neue Skizze, die er auf Kartons übertrug. 1948 führte er das Werk schließlich in Öl und Tempera aus.271 Das Monumentalgemälde mit dem Titel Die Schlacht bei Stubice 1573 erhielt 1949 den ersten Preis der jugoslawischen Regierung (Abb. 36). Auf dem Bild kämpfen die Bauern unter dem roten Banner als einfaches Fußvolk mit ihren Geräten und Werkzeugen gegen das militärisch besser ausgestattete Reitervolk der Feudalherren.
268 269 270
271
Ebd., 68. Dedijer 1953, 411. Das Motiv taucht fast gleichzeitig auch in Miroslav Krležas Balladen von Petrica Kerempuh (Balade Petrice Kermpuha. 1936) auf, die während des Zweiten Weltkrieges von den kroatischen Kommunisten gesungen wurden; Žanić 1998, 24. Krsto Hegedušić. Vorwort Miroslav Krleža. Über das Werk: Vladimir Maleković. Chronik: Darko Schneider, Zagreb 1974, 119f.
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Abb. 36: Krsto Hegedušić, Die Schlacht bei Stubice, 1948.
Als radikaler Sozialist sympathisierte Hegedušić schon vor dem Krieg mit den Kommunisten.272 In den 1930er Jahren wurde er zum Lehrer der „naiven“ Bauernmaler – der Autodidakten Ivan Generalić und Franjo Mraz, die ihrerseits das Bauern-Malkollektiv „Die Malerschule von Hlebine“ gründeten. 1945 wurde er zum Professor an der Akademie der Künste in Zagreb ernannt, 1947 avancierte er zum Meister. 1948 trat er der Kommunistischen Partei Jugoslawiens bei. Den Höhepunkt seiner Karriere erlebte er 1949, als er Mitglied der Jugoslawischen Akademie der Wissenschaft und Kunst in Zagreb (JAZU) wurde. In den 1950er Jahren übte er durch seine Ausstellungsbesprechungen im Bulletin des Instituts für Bildende Künste der Jugoslawischen Akademie der Wissenschaften und Kunst einen großen Einfluss auf die jugoslawische Kunstszene aus.273 Das Motiv der Schlacht bei Stubice 272 273
Zu Hegedušćs Leben und Werk: Hegedušić 1974; Maleković, Vladimir: Krsto Hegedušić. Leben und Werk. Dresden 1985. Vgl. Hegedušić, Krsto: Osvrt na anketu zagrebačke Radiostanice o našoj likovnoj kritici. In: Bulletin Instituta za Likovne Umjetnosti Jugoslavenske Akademije Znanosti i Umjetnosti 1 Heft 3-4 (1953), 56-59; Ders.: Otvaranje istarske dvorane u gliptoteci dne 7. Listopada 1954. In: Bulletin Instituta za Likovne Umjetnosti Jugoslavenske Akademije Znanosti i Umjetnosti 3 Heft 7 (1955), 35; Ders.: Govor na otvorenju izlozbe Zagrebacki Triennale. In: Bulletin Instituta za Likovne Umjetnosti Jugoslavenske Akademije Znanosti i Umjetnosti No. 9/10 (1956), 100; Ders.: 1956. Slavko Stolnik -
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wiederholte er 1969 im Gemälde Anno Domini 1573, das als Festvorhang das Nationaltheater in Zagreb schmückte. 1971 erhielt er den Auftrag, das 124 Quadratmeter große Wandbild der Schlacht von Sutjeska, dem wichtigsten Historienfresko des Partisanenkrieges, am Gedenkort in Tjenište in Bosnien und der Herzegowina zu malen. Hegedušić, der zwar von Ėjzenštejns avantgardistischen Propagandafilm Panzerkreuzer Potemkin begeistert war, fand 1937 nur wenige gute Worte für Vera Muchinas Monumentalskulptur Arbeiter und Kolchosbäuerin, die auf der Weltausstellung in Paris präsentiert wurde. In seinem Tagebucheintrag vom 30. September 1937 berichtet er von seiner Enttäuschung. Was für eine Enttäuschung! Aber hier, in dieser russischen sozialen Kunst sind die Kinderarbeiten, am Anfang der Ausstellung, noch die besten. Später kommen nur Stalins in Naturgröße, darunter gibt es nichts. Einer in der Mitte auf einem Sockel, die Arbeit des Bildhauers Merkurov, hat in napoleonischer Haltung den Daumen ins Hemd gesteckt. Stalin unter den Befehlshabern der I. Kavallerie von Gerasimov. Vom selben Maler Stalin auf dem VI. Parteikongress in weißem Hemd in seiner Szenerie aus rotem Plüsch. Stalin hier, Stalin dort. Und welch ein Kretinismus von einem Gemälde, wie die Oper Carmen an Bord eines Kriegsschiffes gegeben wird. Sogar unser Iveković ist kein bisschen schlechter als Gerasimov. Messonier ist ein Genie im Vergleich zu diesen kriegslustigen ‚optimistischen Malern‘. Repin ist hundert Mal besser als dies alles. Wenn das soziale Malerei ist, dann bin ich kein sozialer Maler.274
Nach dem Besuch der Ausstellung habe Hegedušić in Paris einem im Untergrund arbeitenden Kommunisten begegent, dem er von seiner Enttäuschung berichtete. Im Gespräch mit ihm habe Hegedušić die sowjetische Kunst mit der des Dritten Reiches gleichgesetzt.275 Diesen Gedanken habe der andere zwar interessant gefunden, jedoch meinte jener, dass er als Sozialist über die sowjetische Malerei nicht so sprechen dürfe. Erst 1949 erfuhr der Maler angeblich, wer sein Gesprächspartner in Paris war. In seinem Tagbuch vom 25. November 1949, an dem er von der Verleihung des Preises für Die Schlacht bei Stubice berichtet, kommt er wieder auf das Gespräch mit Marschall Tito zurück.
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milicioner slikar. In: Bulletin Instituta za Likovne Umjetnosti Jugoslavenske Akademije Znanosti i Umjetnosti 4 Heft 9-10 (1956), 50. Hegedušić 1974, 114. „Kakvog li razočaranja! Pa tu, u toj ruskoj socijalnoj umjetnosti još su najbolji radovi djece, izloženi na početku priče. A poslje sami Staljini naravne veličine, ispod naravne veličine nema. A jedan u sredini na podestu u napoleonskoj pozi, drži palac zataknut u bluzi, rad kipara Merkurova. Staljin među šefovima I. konjičke armije od Gerasimova. Od istog slikara Staljina na VI. partijskom kongresu u beloj rubaški u dekori crvenog pliša. Staljin sim, Staljin tam. Pa onaj kretenizam slike, kako se opera Carmen održava na palubi jednog ratnog broda. Pa naš Iveković nije ništa lošij od Grekova. Messonier je genije spram tih ratobornih ‚optimističkih slikara‘. Rjepin je od svega toga sto puta bolji. Ako je to socijalno slikarstvo, onda ja nisam socijalni slikar.” Ebd., 115.
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Dieses Gemälde war das Thema des Tages, weil es seinen Platz im Kabinett des Marschalls fand. Man sprach über den Sozrealismus und das Kominform. In diesem Zusammenhang noch ein Wort über den wandelbaren Charakter unserer Kritik und Kritiker. G.G. hat in der Republik Nr. 10-11 das Gemälde „Die Schlacht bei Stubice“ angegriffen, hat jedoch als Mitglied der Bundesjury ohne Zögern dafür gestimmt, dass man mir den ersten Preis für dieses Gemälde verleihe, so dass die Preisvergabe einstimmig beschlossen wurde. In diesem Augenblick nahm der Marschall das Wort. Unter anderem erinnerte er sich daran, wie er sich mit mir noch im Jahre 1937 über den Sozrealismus unterhalten hatte. „[…] Genosse Hegedušić erinnert sich vielleicht nicht mehr daran. Aber das war auf dem Boulevard Sevastopol zur Zeit der internationalen Pariser Ausstellung. Ich habe ihn gefragt, ob er im sowjetischen Pavillon war und was er von der gegenwärtigen russischen Malerei hält. Hegedušić lehnte sie kategorisch ab. Er fand, dass diese Malerei keinen Zusammenhang mit der sozialistischen Kunst habe, wie er sie verstehe. Zu jener Zeit war ich der Meinung, die ich auch noch heute vertrete, dass politisch gesehen Hegedušić nicht recht hatte, weil man damals die Sowjetunion und ihre aktuelle Malerei nicht angreifen durfte. Zumindest nicht seitens derjenigen, die sich für Sozialisten hielten. Aus seiner künstlerischen Sicht betrachtet hatte jedoch Hegedušić recht.“ Dieses Gespräch habe ich vollkommen vergessen und ich konnte mir damals nicht mal im Traum vorstellen, dass ich mit Tito spreche. Es war mir ziemlich peinlich, als Tito sprach…276
Als Krleža auf dem dritten Schriftstellerkongress 1952 von den jugoslawischen Schriftstellern verlangt, dass sie – wie die Maler der Reformation – zu Dichtern des Massenaufstandes werden sollen, sieht er in Hegedušićs Werk eine Aktualisierung dieser Malerei. Die Maler der Reformation, große Dichter der Massenaufstände, gehen auf geniale Art mit Kontrasten um wie mit denen zwischen der Armut der hungrigen und misshandelten pauperisierten breiten Bauernmassen und dem reich gedeckten Tisch der Magnaten; sie bewegen sich durch das Geklirr der Waffen und der Schlachten und meistern dabei souverän die schwierigsten Probleme der dekorativen Malerei; von der Dynamik des Pferdegedränges bis zum Todesgestöhne an den Orten der Folter, von allen möglichen Perspektiventricks der Landschaftsdarstellung bis zur klassi276
Hegedušić 1974, 119f. „Ta je slika bila tema dana jer je našla mjesto u kabinetu Maršala. Razgovaralo se i o socrealizmu i kominfromu. S tim u vezi o promenljivosti ćudi naše kritike i kritičara. G.G. je u ‘Republici’ br. 10-11 napao sliku ‘Bitka kod Stubice’, a kao član saveznog žirija glasao bez rezerve da mi se dodjeli prva nagrada za tu istu sliku, tako da je nagrada prošla jednoglasno. U jednom momentu uzeo je riječ Maršal. Među ostalim je spomenuo kako je sa mnom razgovarao o soz-realizmu još 1937. Drug Hegedušić se možda toga neće sjećati. A bilo je to na Bulevaru Sevastopol u vrijeme međunarodne pariske izložbe. Pitao sam ga da li je bio u sovjetskom paviljonu i šta misli o sadašnjem ruskom slikarstvu. Hegedušić je bio kategorično protivan. Smatrao je da to slikarstvo nema veze sa socijalnom umjetnošću kakvom je on shvaća. Tada sam smatrao, a smatram i danas, da sa političke strane gledano, Hegedušić nije bio u pravu, jer se tada nije smjelo napadati Sovjetski Savez bez obzira na izgled njihovog aktualnog slikarstva. Bar ne sa strane onih koji su se smatrali socijalistima. Dok gledano sa umjetničke strane gledišta i svog gledišta Hegedušić je bio u pravu… Bio sam potpuno zaboravio na taj razgovor i nisam tada ni sanjati mogao da razgovaram sa Titom. Bio sam prilično u muci kada je Tito govorio…“
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schen Virtuosität in alltäglichen Details der Geste, der Waffen, der menschlichen oder der Pferdebewegung, bis zu dekorativen Triumphen, zum postumen Pomp, zu Totentänzen, hysterischen Halluzinationen und Monstren, die damals wie heute in Europa heulten. Das war eine Zeit, in der unter dem Einfluss der Massenkunst auch der junge Holbein für das Repertoire der Schlachten entbrannte und seine erhabene, klassische, Erasmussche Attitüde der Neutralität aufgab, so dass sich selbst der wilde Ulrich von Hutten für das kalte aristokratische Genie Holbeins begeisterte.277
Bereits 1933 setzte sich Krleža in seinem „Vorwort zu den Drau-Motiven des kroatischen Malers Krsto Hegedušić (Predgovor podravskim motivima Krste Hegedušića)“ für die sozialen Motive des Malers ein, die das schwere Leben des Volkes vorführen. Hegedušićs malerisches Bestreiten des Unwürdigen, Negativen, Rückständigen, Verkümmerten und Ungehobelten, sein lauter Hass gegen das Hässliche, Verirrte und Verworfene, das Arme und das Bespuckte, seine ununterbrochene und sture Neigung für das Ausgerottete, Verfaulte, Degenerierte und Verwelkte, durch die die grobe, brutale, blutige, dunkle, traurige und hoffnungslose Realität (stvarnost) watet, dieses rebellisch abenteuerliche Ausschlagen und die Verflechtung des Ekelhaften und Kannibalischen mit dem Mitfühlenden und Stillen, diese Verachtung unserer nicht zeitgemäßen, dummen, durch Vorurteile verdunkelten mittelalterlichen Rückständigkeit, diese kühne Neigung zum Ausweg, zur Heilung und zur Liquidation solcher Motive – das ist der subjektive Aufbau von Hegedušćs malerischem Aufstand, die Bedingung seiner persönlichen Begabung.278
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Ebd., 31. „Veliki pjesnici masovnih buna i ustanaka, slikari Reformacije genijalno barataju kontrastima: između bijede gladne i izmercvarene širokih pauperiziranih seljačkih masa i bogatih velikaških trpeza, oni se kreću kroz zveket oružja i bitaka suvereno svladavajući najteže probleme dekorativnog slikarstva. Od dinamike konjačkih gužvi do smrtonosnog jauka na mučilima, od svih perspektivnih trikova pejsaža do klasične virtuoznosti u svakodnevnim detajlima geste, oružja, kretnje ljudske ili konjske, do dekorativnih trijumfa, do posmrtne pompe, do mrtvačkih balova, histeričnih halucinacija i pošasti, koje su urlale Evropom kao i danas. To je bilo vrijeme kada se pod utjecajem masovne umjetnosti čak i jedan mlađi Holbein zapalio da postane reporterom bitaka, napustivši svoju uzvišenu, klasičnu, erazmovsku atitudu neutralnosti, tako te se i sam divlji Ulrich von Hutten oduševio hladnim aristokratskim genijem Holbeinovim.“ Krleža, Mirsolav: Predgovor podravskim motivima Krste Hegedušića. In: Likovne studije. Jubilarno izdanje u povodu devedesetih godina proteklich od autorova rođenja. Hrsg. Ivo Frangeš. Sarajevo 1985, 239-272, hier 269. „Hegedušićevo slikarsko poricanje nedostojnog, negativnog, zaostalog, zakržljanog, nezgrapanog, njegova glasna mržnja ružnog, zagaženog, odbačenog, bijednog i popljuvanog, njegova neprekidna i tvrdoglava sklonost za iskorijenjeno, gnjilo, degenerirano, uvelo, po čemu gazi gruba, surova, krvava, mračna, tužna, beznadna stvarnost, uporno to pustolovno ritranje i sprepletavanje odvratnog i ljudožderskog s bolećivim i umirujućim, taj prezir naše nesuvremene, glupe, predrasudama zamračene, srednjevjekovne zaostalosti, ta smiona težnja za izlazom, za izlečenjem i za likvidacijom tih motiva, to je subjektivna građa Hegedušićeve slikarske pobune, uvjetovanje njegovim ličnim darom.“
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Hegedušićs Malerei sei eine „Diagnose unserer Wirklichkeit“, keine Karikatur, sondern „praktische Anwendung der These über die soziale Tendenz in unserer Malerei“.279 Er stelle deklassierte Menschen dar, über die „die ökonomischen Imperative des heutigen Europas wie Attila hinüberziehen.“280 Im Vorwort zum Ausstellungskatalog aus dem Jahre 1974 stilisiert Krleža die Person Hegedušić’ selbst – obwohl dieser eine Ausbildung an der Akademie in Zagreb abgeschlossen hat – zum ungebildeten, aufständischen Bauern, dessen Manier grob wie sein hartes Leben sei. Als rebellischer Pamphletist malt er mit brüllender Stimme demagogische Flugblätter auf die Ruinen der jahrhundertealten Verdammnis; er malt demagogisch grob, bäuerlich intoniert, gegen das idiotische, des Menschen unwürdige, bettelarme Leben gerichtet. Seine Bilder sind politische Provokation. Wie Schillers „Glocke“ begräbt er Tote und ruft alles Lebende zum Aufruhr auf. Er schimpft leidenschaftlich und flucht und wenn es auch augenblicklich vorkommt, als wäre seine Malerei tatsächlich hoffnungslos dunkel, sein politisch engagierter Hass auf die halb leibeigene, analphabetische, barocke Armut wie Ätze, scharf wie Teufelselixier, ist auch dieser elementare Hass die einzige Voraussetzung, um das Grauen hervorzurufen und auf diese Art die verdammte Wirklichkeit zu beherrschen.281
Mit dem Thema des Bauernaufstandes schloss die neue sozialistische Historienmalerei Jugoslawiens wieder einmal uneingestandenermaßen an die frühe Phase der historischen Malerei in der Sowjetunion an. Im Jahre 1939 wurde in Moskau eine große Ausstellung der russischen Historienmalerei vom 18. bis zum 20. Jahrhundert eröffnet. Ihre Aufgabe war es, den sowjetischen Künstlern beizubringen, wie man das größte aller historischen Ereignisse – den Sieg der proletarischen Revolution – darstellen soll. Die Summe aller Schlüsselbegebenheiten der russischen Geschichte wurde demgemäß auf die Oktoberrevolution hin perspektiviert. Nur im Werk der sowjetischen Künstler können in ganzer Fülle die wesentlichsten Etappen des revolutionären Kampfes in der Vergangenheit aufgedeckt werden. Der sowjetische Künstler, der sich diesen Themen zuwendet, verfügt, mit MarxismusLeninismus ausgestattet, über jene Fähigkeit der tiefgründigen Verallgemeinerungen, die unumgänglich die Qualität des vollwertigen historischen Werkes bilden müssen. Nur der sowjetische Künstler kann begreifen, dass der sozialistische Realismus die 279 280 281
Ebd., 270. Ebd., 270. Krsto Hegedušić. Predgovor Miroslav Krleža. O dijelu Vladimir Maleković. Kronika Darko Schneider. Zagreb 1974, 6. „Kao buntovni pamfletist on piše demagoške letke urlajući iz glasa nad razvalinama vjekovnog prokletstva, on piše demagoški grubo, pučki intonirano protiv idiotskog čovjeka nedostojnog, prosjačkog života. Njegove slike su politička provokacija. On kao Schillerovo ‚Zvono‘ pokapa mrtve i pozive sve živo na uzbunu. On strastveno psuje i proklinje i koliko god se na trenutak pričinja da je njegovo slikarstvo doista bezizgledno mračno, njegova politički angažirana mržnja polukmetske, nepismene, barokne bijede izjeda jetko kao đavolski eliksir i ova elementarna mržnja jedini je preduvjet da se izazove groza i tako prevlada ukleta stvarnost.“
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einzige kreative Methode ist, die es gestattet, dargestellte Ereignisse mit größter Überzeugungskraft zu enthüllen. Der lebende Teilnehmer des größten historischen Kampfes des ganzen sowjetischen Volkes – der sowjetische Künstler – hat alle Möglichkeiten, viel breiter und tiefer die Aufgaben der historischen Malerei zu lösen, als seine Vorgänger in der Klassengesellschaft das tun konnten. Nicht nur ein Ereignis aus der entfernten Vergangenheit wird für ihn das wahre historische Thema sein, sondern auch jene Ereignisse aus seiner allernächsten Gegenwart, die historische Meilensteine im Kampf der Menschheit für den Aufbau der kommunistischen Gesellschaft sind.282
Der russische Maler Vasilij Surikov (1848-1916) wird im Ausstellungskatalog als vorbildhaft hervorgehoben. Schließlich habe er in den Gestalten der Bauernrevolutionäre (des Kosakenanführers Stepan Razin und Emeljan Pugačev) nicht die Siege der Zaren, sondern „den revolutionären Kampf des Volkes für die Befreiung der Menschheit von der Jahrhunderte lang andauernden Sklaverei“, dargestellt.283 In den Jahren 1937, 1950 und 1955 wurden folglich in Moskau drei Surikov-Ausstellungen organisiert.284 Im Jahre 1948 fand eine Surikov gewidmete Konferenz in Moskau statt.285 Im selben Jahr wurden auch seine Briefe veröffentlicht.286 Auch in Jugoslawien galten nach dem Zweiten Weltkrieg Bauernaufstände als Vorläufer der proletarischen Revolution. Nach 1948 gewann das Thema wieder eine neue, aktuelle Interpretation. Der slowenische Ideologe Boris Ziherl bezeichnete sie in einem Aufsatz „Slowenien und das slowenische Volk“ als „Moment des Erwachens des nationalen Bewusstseins bei den 282
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Goldštejn, Sof’ja: Russkaja istoričeskaja živopis’. Vystavka 1939 g. Moskva 1939, 47. «Лишь в творчестве советских художников могут быть с найбольшей полнотой раскрыты значительнейшие этапы револуционной борьбы в прошлом. Обращаясь к кругу этих тем, советский художник, воокруженный марксизмом-ленинизмом, обладает той возможностью глубоких обобщений, которые должны составлять необходимое качество полноценного исторического произведения. Только советский художник может осознать, что социалистическый реализм является единственным творческим методом, который позволяет с наибольшей убедительностью раскрыть изображаемые события. Живой участник величайшей исторической борьбы всего советского народа, - советский художник имеет все возможности гораздо шире и глубже, чем это могли сделать его предшественники в классовом обществе, разрешить задачи исторической живописи. Подлинно исторической темой для него будет не только событие далекого прошлого, но и те события ближайшей его современности, которые яавляются историческими вехами борьбы человечества за построение коммунистического общества.» Ebd., 46. Galuškina, Ann S.: Vasilij Ivanovič Surikov, 1848-1916. Moskva 1937; Družinin, S.: Surikov. Putevoditel’ po vystavke. Moskva 1937; Gor, G./Petrov, V.: Vasilij Ivanovič Surikov, 1848-1916. Moskva 1955. Gor, G./Petrov, V.: V. I. Surikov. K stolitiju so dnja roždenija Vasilija Ivanoviča Surikova. 1848-1948. Moskva 1948. Surikov, Vasilij I.: Pis’ma, 1868-1916. Hrsg. M.N. Grigor’eva. Moskva 1948.
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Massen des Volkes“, in dem das Nationale mit den Zielen des Klassenkampfs übereingestimmt habe.287 Der slowenisch-kroatische Bauernaufstand stand daher als Massenbewegung zweier jugoslawischer Völker einerseits für die Brüderlichkeit und Einheit der Ethnien, andererseits für den Klassenkampf gegen die Fremdherrschaft. Damit wurde er zur Präfiguration nicht nur des Partsisanenkampfes gegen die Nazis, sondern auch des Widerstandes gegen den despotischen sowjetischen Bürokratismus. Seit 1949 schmückte Hegedušićs Schlacht bei Stubice Titos Arbeitszimmer in Belgrad als eine Art visuelles Motto. Vor dem Gemälde ließ sich der neue Herrscher des Kleinimperiums häufig mit allen Insignien der Macht photographieren (Abb. 37). Abb. 37: Tito in seinem Arbeitszimmer mit Hegedušićs Gemälde im Hintergrund, Photo.
Auf die symbolische Identifikation Titos mit dem Bild in seinem Rücken haben Fritzroy MacLean und Ivo Žanić hingewiesen.288 Durch die slowenisch287
288
Ziherl, Boris: Über Slowenien und das slowenische Volk. In: Jugoslavija. Illustrierte Zeitschrift. Im Herbst 1950. Ed. Oto Bihalji-Merin. Belgrad 1950, 29. „Die Übereinstimmung des Moments des nationalen und der Klassengegensätze in diesem Kampf förderte das Erwachen des nationalen Bewusstseins bei den Massen des Volkes.“ Žanić, Ivo: Nationale Symbole zwischem Mythos und Propaganda. In: Melčić, Dunja: Der Jugoslawien-Krieg. Handbuch zu Vorgeschichte, Verlauf und Konsequenzen. 2. aktualisiert und erweiteret Auflage. Wiesbaden 2007, 286-292, hier 290f.; vgl. auch:
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kroatische Herkunft des Aufständischen Matija Gubec, der aus derselben Region Kroatiens wie Tito stammte, ergab sich auch der persönliche Bezug zum Staatsführer. Im Bild verschmolz Titos private Ikonographie, seine slowenischkroatische Abstammung aus einer Bauernfamilie, mit der Geschichte des Volkes – mit dem Kampf gegen den nationalsozialistischen und dann gegen den stalinistischen ‚Goliath‘. Hegedušićs Bauernaufstand avancierte durch seine Wiederentdeckung, durch die Vergrößerung und die Ausstellung im Zentrum der Macht im Jahre 1948-49 zur Allegorie des „dritten Weges“, des selbständigen Sonderweges der jugoslawischen Volksmassen in den Sozialismus.
3.3. Die mittelalterlichen Antizipationen des „dritten Weges“. Die Ausstellung L’art médiéval yougoslave im Palais de Chaillot in Paris 1950 Die kulturtheoretische Grundlage für die Ästhetik des „dritten Weges“ legte Miroslav Krleža mit seinem Katalogbeitrag zur Ausstellung L’art médiéval yougoslave im Jahre 1950 im Palais de Chaillot in Paris. Dem Organisationskomitee gehörten neben Krleža renomierte französische und jugoslawische Mediävisten, wie Paul Deschamps, Marc Thibout, Denis Jalabert und Cvito Fisković an. Für die aufwendige Ausstellung wurden Kopien und Abgüsse angefertigt, wofür die Föderative Volksrepublik Jugoslawien die Gelder bereitstellte (Abb. 38, Abb. 39, Abb. 40). Die Ausstellungsräume wurden nach dem Vorbild der Ausstellung Kosovo Fragments des kroatischen Bildhauers Ivan Meštrović 1915 im Victoria & Albert Museum in London aufgebaut, die wie ein Tempel der südslawischen Kultur inszeniert wurde. Meštrovićs Ausstellung hatte sich schließlich als erfolgreiches Mittel der visuellen Propaganda erwiesen, als mit ihr während des Ersten Weltkrieges für die Gründung des Königreichs der Serben, Kroaten und Slowenen geworben wurde.289 Milovan Đilas bezeichnete sie in seinen Memoiren zwar als viel zu teuer, erkannte jedoch an, dass sie „die Vorurteile über die Südslawen als primitives Volk außerhalb der europäischen Kultur abbaute“.290 Mit diesem öffentlichen Akt im Zentrum der westeuropäischen Kultur setzte die Konstruktion einer neuen, positiven Balkanidentität ein sowie der Entwurf einer spezifischen Kulturologie des „dritten Weges“.
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MacLean, Fritzroy: Tito. A Pictorial Biography. London 1980, 20f., 110f. „The painting in the background meant much to him, representing his own struggle with a much stronger army.” Wachtel 1998, 63ff.; Clegg, Elisabeth: Meštrović, England, and the Great War. In: The Burlington magazine 144 (2002), 740-751. Đilas 1983, 70.
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Abb. 38: Der Eingang ins Palais de Chaillot in Paris mit dem Plakat zur Ausstellung L’art médiéval yugoslave, 1950. Abb. 40: Der große GrabsäulenSaal, Ausstellung L’art médiéval yugoslave, 1950.
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Abb. 39: Portal des Meisters Radovan, im Hintergrund der Saal mit Bruchstücken von Originalfresken, Ausstellung L’art médiéval yugoslave, 1950.
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Für Krleža kündigt sich der sozialistische „dritte Weg“ bereits im Mittelalter an. Die südslawische Literatur und Kunst von damals würden von der Vitalität und Widerstandskraft der jugoslawischen Zivilisation zeugen, aus der schließlich ein einziges sozialistisches Land emporgewachsen sei. Warum sollten wir die dramatischen Kämpfe für die europäischen Grundgesetze der Freiheit nationaler Zugehörigkeit, des Denkens, des Redens, der Sprache, des Glaubens und des künstlerischen Schöpfertums, diese heldenhaften und geradezu tragischen Kämpfe um unser moralisch-intellektuelles, politisches und künstlerisches Dasein vor eintausend Jahren nicht als einen Beweis für die Kraft unserer Vitalität anerkennen, die auch noch heute der einzige Bürge für unser Leben ist? Es ist wahr, dass seit den ersten Tagen unserer Existenz auf dem Balkan zahlreiche Zivilisationen, welche die unsere umgaben, im Dunkel der Geschichte verschollen sind, und dass unsere die einzige unter den westeuropäischen und den balkanisch-mediterranen Zivilisationen ist, die slawisch blieb. Ebenso ist sie die einzige, die sozialistisch ist.291
Die Denkmäler in glagolitischer Schrift, die von der Fortsetzung der Mission der ‚Slawenapostel‘ Kyrill und Method auf jugoslawischem Boden zeugen, die Fresken der autokephalen orthodoxen Kirche in Serbien und Makedonien sowie die Stelen der bosnischen Bogomilensekte schlugen, laut Krleža, einen „dritten Weg“ zwischen Ost und West bereits im Mittelalter. Die Manifestationen dieser autonomen Kunst korrelieren mit der Souveränität des sozialistischen Jugoslawiens bzw. mit dem autonomen, von der Moskauer Orthodoxie unabhängigen Weg in den Sozialismus. Die jugoslawische mittelalterliche Zivilisation entstand auf dem Gegensatz zwischen Byzanz und Rom, d.h. in jenem Raum, in dem Jahrhunderte hindurch zwei autokratische Kreise aufeinanderstießen: der des Patriarchats von Konstantinopel und der des cäsarischen lateinischen Papsttums. Unsere Zivilisation „in artibus“, die in ihrer Geschichte niemals Osten und niemals Westen war, erscheint in diesen Koordinationen des Geistes und des künstlerischen Stils als eine dritte Komponente, die an und für sich durch ihr inneres Bewegungsgesetz stark genug war, um nicht stehen zu bleiben, und widerstandsfähig genug, um sich nicht passiv den stärkeren Kräften unterzuordnen, die zivilisierter waren als sie selbst. […] Die Politogenesis unserer mittelalterli291
Krleža, Miroslav: Die Ausstellung der jugoslawischen mittelalterlichen Malerei und Plastik. In: Jugoslawien. Illustrierte Zeitschrift. Im Herbst 1950. Hrsg. Oto BihaljiMerin. Beograd 1950, 52-61, hier 54; Krleža, Miroslav: Izložba jugoslovenskog srednjovjekovnog slikarstva i plastike. In: Književne novine 23 (06.06.1950), Umschlagseite: „Dramatske borbe za evropske principe slobode narodnosti, misli, govora, jezika, vjerovanja i umjetničkog stvaranja, ove herojske, upravo tragičke borbe za naš moralno-intelektualni, politički i umjetnički opstanak prije tisuću godina, mi nemamo razloga da ne priznamo kao dokaz za snagu vlastitog vitaliteta, koji nam je i danas jedinim garantom našega života. Istina je, da su od prvih dana naše egzistencije na Balkanu mnogobrojne civilizacije oko naše nestale u mraku historije, a naša je među zapadnoevropskim i balkanskim mediteranskim civilizacijama jedina, koja je ostala slovjenska isto tako, kao što je jedina, koja je socijalistička.“; Ders.: Srednjovjekovna umjetnost naroda Jugoslavije. In: Likovne studije. Jubilarno izdanje u povodu devedesetih godina proteklich od autorova rođenja. Priredio Ivo Frangeš. Sarajevo 1985, 8.
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chen Souvärenität, ebenso wie der Kampf um die Selbstständigkeit der Kirche in seiner bogumilischen, serbischen und glagolitischen Variante beweisen uns, dass unsere Menschen schon im frühen Mittelalter nicht so denken wollten, wie man rings um sie dachte, und dass sie nicht wollten, dass man ihnen eine solche fremde Lebens- und Denkweise als Vorbild aufdränge, dem sie sich unterzuordnen hätten.292
Das neue föderative Jugoslawien betrachtet Krleža einerseits als Überwindung der mittelalterlichen Kultur auf jugoslawischem Boden, andererseits als Vorwegnahme des zukünftigen sozialistischen Paradieses. Die Föderative Volksrepublik Jugoslawien als jugoslawische sozialistische Föderation ist eine revolutionäre und geschichtliche Tatsache, die einerseits unser Mittelalter überwindet, andererseits aber durch eine ganze Reihe seiner moral-politischen und kulturellen Elemente unsere Entwicklung in den kommenden Jahrhunderten vorwegnimmt. Diese mittelalterliche kulturelle Kundgebung eines sozialistischen Landes will keine selbstgefällige Apologie unserer Vergangenheit sein, doch hat sie ebensowenig Ursache, diese wertvollen künstlerischen Dokumente nicht als einen Beweis für die schöpferische und künstlerische Begabung unseres Volkes vorzuweisen, das unter sehr schweren und politisch außergewöhnlich komplizierten Verhältnissen wirkte und durch die Kräfte behindert wurde, welche uns negierten und die die Schaffung einer – wie auch immer gearteten – künstlerischen Zivilisation ungünstig beeinflussten. […] Die heutige sozialistische Antizipation ist nur das dialektische Gegenstück zu einer ganzen Reihe unserer mittelalterlichen Antizipationen.293
Die Antizipation – ein theologischer,294 philosophischer,295 rhetorischer296 und narratologischer297 Begriff – wird für Krleža zu dem Schlagwort der jugosla292
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Kerleja 1950, 14; Krleža 1950, 55; Krleža 1985, 19. „Južnoslovenska srednjovjekovna civilizacija nastala je na antitezi Bizantije i Rima, to jest u prostoru, gdje se stoljećima sudaraju dva autokratska kruga: patrijarhata carigradskog i cezarskog papstva laternskog. Nikad u svojoj historiji Istok i nikad Zapad, naša se civilizacija in artibus javlja u ovima koordinacijama duha i umjetničkog stila kao treća komponenta koja je sama po sebi, po svom unutrašnjem zakonu kretanja, bila dovoljno jaka da se ne zaustavi, i dovoljno otporna da se pasivno ne podredi civiliziranijim snagama od sebe same. Da naši ljudi nijesu već u ranom Srednjem vijeku htjeli misliti na način kako se mislilo oko njih, i da nisu htjeli da im se takav inostrani način života i mišljenja nametne kao model kome treba da se podrede, to nam dokazuje politogeneza naših srednjovjekovnih suvereniteta isto tako kao i borba za samostalnost crkve u bogumilskoj, srpskoj i glagoljaškoj varijanti.“ Kerleja 1950, 14; Krleža 1950, 55. Vgl. Kendel, André: Geschichte, Antizipation, Auferstehung. Theologische und texttheoretische Untersuchung zu W. Pannenbergs Verständnis von Wirklichkeit. Frankfurt a.M. u.a. 2001; Mihai Nadin (Hrsg.): Anticipation. Die Ursache liegt in der Zukunft. Basel 2002. Vgl. Kugelmann, Lothar: Antizipation. Eine begriffsgeschichtliche Untersuchung. Göttingen 1986. Vgl. Lausberg, Hans: Handbuch der literarischen Rhetorik. Eine Grundlegung der Literaturwissenschaft, Bd. I. München 1960, 425. Genette, Gérard: Die Erzählung. Aus dem Französischen von Alexander Knop. Mit einem Vorwort von Jochen Vogt. München 1998, 25, 45-54.
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wischen Kultur. Die früheren künstlerischen Manifestationen im südslawischen Raum sind für ihn demnach proleptische Aussagen vom Kommen des sozialistischen Reiches, die sich im Tito-Jugoslawien erfüllen sollen. Indem einzelne Zeitabschnitte der Vergangenheit nicht nur an der Gegenwart partizipieren, sondern als Prophetien sogar die Zukunft vorwegnehmen, wird die Trennung zwischen Vergangenheit und Gegenwart aufgehoben. Auf diese Weise werden weit voneinander liegende Kulturen in ein Kontinuitäts- und Korrelationsverhältnis gebracht. Das jugoslawische Territorium wird so zum Ort des Eschatons – einer Einheit nicht nur der Völker, sondern auch von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Diese neue Auffassung von Raum und Zeit erlaubt es Krleža, die Wiege der europäischen Zivilisation nach Jugoslawien zu verorten und eine neue Geneologie der Kunst, die sich von Werkstattzusammenhängen befreit, zu postulieren. So behauptet er, dass die serbischen und makedonischen Fresken nicht in den Rahmen der ausklingenden spätpaläologischen Malerei von Byzanz gehören, was in der internationalen Kunstgeschichtsforschung unbestritten war. Seiner Meinung nach schöpfen sie vielmehr unmittelbar aus antiken hellenistischen Quellen und nehmen überdies die Protorenaissance Giottos vorweg.298 Zu beweisen, dass von unseren Leuten auch Michelangelo, Bramante und El Greco gelernt hatten, dass es ohne unsere Architekten weder Avignon noch den Palast in Urbino und auch nicht der neapolitanische Castell Nuovo gegeben hätte, dass es ohne unsere Dichter keinen Humanismus an der Donau und keine Renaissance in Budim gegeben hätte, dass unsere Leute die erste Geschichte der römischen Kirche geschrieben hatten, dass wir die erste italienische Grammatik geschrieben haben, den Protestantismus von Method bis Flatius entwickelt hatten, dass wir hundertfünfzig Jahre vor Newton das Spektrum entdeckt hatten, die ersten Grundsteine des slawischen Phraseologismus, der Slawistik, der Byzantologie, der Atomistik gelegt hatten, dass wir Hunderte von Schauspielern, Baumeister, Architekten, Bildhauern, Malern, Ideologen und die manichäische Universität gehabt hatten, dass wir refugium haereticorum totius mundi waren, dass wir vor Cimabue und Buoninsegna plastische Malerei gehabt hatten, dass wir die Volksliteratur bereits fünf Jahrhunderte haben, dass wir für die lateinische und griechische Kirche mehr Märtyrer gegeben hatten, als Italien zusammen mit Carigrad an Einwohner hatte, dass wir kontinuierlich vom XIV. bis zum XX. Jahrhundert gekämpft hatten, dass wir der unmittelbare Grund für die Spaltung von Rom und Byzanz waren, dass wir in diesem Krieg den Sozialismus auf eine Million Siebenhundert Tausend angehoben haben usw. – ein solches Plädoyer pro domo bedeutet Nationalist und imperialistischer Spion zu sein.299
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Diesen Gedanken, den die kunsthistorische Forschung schon längst verworfen hatte, konnte Krleža dem Roman De bruiloft der zeven Zigeuners von 1939 (dt. Die Hochzeit der sieben Zigeuner. Hamurg 1956, 24f.) des niederländischen Schriftstellers A. Den Doolaaard oder dem 1947 erschienen Reisebericht Ilja Ehrenburgs (Wege Europas, 150f.) entlehnen. Krleža 1985, 119f.
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Krleža gleitet in seinem „Plädoyer pro domo“ von „unseren Leuten“ zum „wir“ über. Damit verbindet er nicht nur völlig unterschiedliche Kulturen miteinander, sondern er synchronisiert auch das Asynchrone. Seiner Überzeugung nach spiele in der Geschichte nicht die volle Entfaltung einer bestimmten Kunstrichtung die Hauptrolle, sondern die wegweisende Antizipation – die Avantgarde. Krleža schlussfolgert daher, dass gerade die genannten Antizipationen der jugoslawischen Kultur die westeuropäische Kultur angeregt und ihr die Möglichkeit gegeben hätten, sich in voller Blüte zu entwickeln.300 Durch das Prisma der Antizipation als einer Projektion in die Zukunft erscheinen für Krleža auch bescheidene künstlerische Zeugnisse der Vergangenheit an der Peripherie als wertvolle Glieder einer zukünftigen Kultur, die nur unter günstigen historischen Umständen zur vollen Blüte gelangen könne. Diesen Gedanken äußerte vor ihm schon der panslawistisch gesonnene Zagreber Bischof Strossmayer in seinem Brief vom 10. April 1872 an den Historiker Franjo Rački.301 Es gibt aber in unserer Zivilisation auch solche Elemente, die sich unter dem Begriff der ideenhaften und ideologischen Antizipationen vergleichen lassen, die sich unter günstigeren Umständen zweifellos in eine Methode oder in ein System oder in originelle schöpferische Elemente der eigenen Zivilisation entwickelt hätten, wenn sie nicht unter der Gewalt der Eroberer verschwunden wären.302
Auch auf dem zweiten Schriftstellerkongress 1950 unterstrich Krleža nochmals den Gedanken über die Mehrwertigkeit des scheinbar Minderwertigen. In seiner Rede lobt er die kulturelle Widerstandsfähigkeit der Jugoslawen gegenüber den Mächten aus Ost und West und betrachtet auch den jugoslawischen ‚Aufstand’ von 1948 in der Nachfolge der religiösen Widerstandskämpfe der Bogomilen gegen die West- und Ostkirche im Mittelalter. Alle diese Antizipationen beweisen, das es sich um einen ebenso standhaften und widerstandsfähigen Non-Konformismus unseres eigenständigen Elementes handelt, das sich nicht den alten Kräften unterordnen ließ, weder in der gesprochenen Sprache
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Krleža 1950, 61. Vgl. Šišić, Ferdo: Korespondencija Rački – Strossmayer. Knjiga prva: od 6. okt. 1860. do 28. dec. 1875 (= Posebna djela Jugoslovenske akademije znanosti i imjetbnosti). Zagreb 1928, 172. „Iz sličnih elemenata, da nije narod slavjanski posrnuo u kulturi, mogla bi [se] upravo tako lijepa umjetnost razviti, kô što se je u Italiji razvila iz Giottovih kasnih elemenata.“ Krleža 1983, 81. „[…] ali da u našoj civilizaciji ima i takvih elemenata koji se mogu svrstati pod pojam idejnih i ideoloških anticipacija, koje bi se pod povoljnim okolnostima bile nesumnjivo razvile do metode ili do sistema ili do originalnih stvaralačkih elemenata vlastite civilizacije, da nije nestala pod nasiljem osvajača.”
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noch in der Schrift, weder im Glauben noch in der Kunst und auch nicht in den politischen Beziehungen der Unterordnung und der Minderwertigkeit.303
Im Sinne einer politischen Eschatologie ist der „dritte Weg“ Jugoslawiens für Krleža eine zeitlose Idylle, in der die Vergangenheit zugleich in die Zukunft weist, so wie die endzeitliche Aufhebung der Geschichte bereits in der Gegenwart aufscheint. Er räumt Jugoslawien dabei nicht nur auf dem Balkan, sondern auch im breiteren europäischen Rahmen eine zentrale Rolle ein. Die Peripherie wird also durch das Prisma der Antizipation zum Zentrum erklärt und das Zentrum umgekehrt zur Peripherie.
3.3.1. Die häretische Sekte der Bogomilen und das „neue sozialistische Sehen“ Die Identifikation des ‚neuen‘ Jugoslawiens mit den Bogomilen bot sich von Beginn an, da auf der Titelseite der Pravda am Tag der Ausschließung Jugoslawiens aus dem Kominform über geheime Versammlungen eines „sektiererisch-bürokratischen Typs im halblegalen Zustand“ berichtet wurde.304 Krleža stellte fortan ein Verzeichnis aller Schimpfwörter zusammen, mit denen die Sowjets die Titoisten bezeichneten. Davon stammten viele aus dem Bereich des Sektiererischen, wie z.B. die „Verirrten“, „Ungläubigen“, „Heiden“, „Abtrünnigen“, „Idolanbeter“, „Gottlose“, „Hexer“ oder „Arianer“.305 Wie im Falle des „dritten Weges“ wurde erneut Pejoratives ins Positive gewendet und in eine identitätsstiftende Figur umgemünzt. Für Krleža ist die bogomilische Häresie die Keimzelle sowohl der Souveränität Jugoslawiens als auch des unabhängigen Weges des Landes in den Sozialismus.306 303
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Krleža, Miroslav: Riječ u diskusiji na drugom kongresu književnika Jugoslavije (1950). In: Frangeš (Hrsg.) 1988, 113-121, hier 117. „Osnovna formula naše civilizacije danas i ovdje bila je: da su mnogobrojne civilizacije oko nas na mediteranu i Balkanu nestale u mraku historije, a naša da je među zapadnoevropskim i balkanskim jedina koja nije polatinjena ni grecizirana, isto tako kao što je jedina koja je danas socijalistička, na temelju svoje vlastite revolucionarne borbe. […] Sve te anticipacije dokazuju nam da se radi o jednako postojanom i jednako otpornom nonkonformizmu našeg vlastitog elementa koji se nije dao podrediti stranim snagama ni u govoru ni u pismu, ni u vjeri ni u umjetnosti, niti u političkim odnosima podređenosti i manjevrijednosti.“ Pravda 181 (28. Juni 1948), 1. Krleža, Miroslav: Riječ u diskusiji na drugom kongresu književnika Jugoslavije (1950). In: Frangeš (Hrsg.) 1988, 113-121, hier 118. Zur Beschäftigung Krležas mit den Bogomilen: Tadić, Ladislav: Miroslav Krleža i bogumilski mit. In: Bosna Fransciscana 27 (2007), 197-210. Tadić entdeckt die Spuren des Bogomilentums vor allem in Krležas literarischem Werk, jedoch nicht in dessen Kulturpolitik des „dritten Weges“.
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Bei seiner Neuinterpretation der Bogomilenbewegung konnte er auf das berühmte Pionierwerk des kroatischen Historikers, Politikers und Begründers der kroatischen Akademie der Wissenschaften, Franjo Rački (1828-1894),307 zurückgreifen. Dieser führt schließlich in seinem Buch Die Bogomilen und Patarener (Bogomili i patareni, Zagreb 1870), das 1931 in Belgrad neu aufgelegt wurde,308 die rasche Konversion der breiten Bevölkerungsschichten im spätmittelalterlichen Bosnien zum islamischen Glauben auf das Bogomilentum zurück. Im gegenseitigen Hass der drei unterschiedlichen Religionsgemeinschaften, der Ost-, der Westkirche und der Häresie, sieht er die Motivation dafür, dass die Bosnier „den Türken liebten“ und sich – anders als Griechen und Serben – kampflos den Mohammedanern gebeugt hätten.309 Die heutigen bosnischen Moslems repräsentieren für Rački die Nachfahren der nach der osmanischen Eroberung plötzlich und fast spurlos verschwundenen Bogomilen bzw. Patarener: „Tauschen wir die bosnischen Patarener mit den heutigen bosnischen Moslems aus, stellen wir das alte Bild der religiösen Verhältnisse in Bosnien her […].“310 Damit ‚slavisierte‘ Rački die bosnischen, slawisch sprechenden Moslems, die bis dahin als Türken, also als Ansiedler aus dem Osmanischen Reich galten. Seitdem bat sich das Bogomilentum für eine Art ‚Re-Missionierung‘ bzw. ‚Rückübersetzung‘ des Islams an. Die Muslime wurden aus dieser Sicht zu christlichen Häretikern, die in der Geschichte einen anderen, dritten Weg beschritten hatten. Račkis These übernahm auch der britische Archäologe Sir Arthur Evans, der Autor des berühmten Reiseberichts Through Bosnia and the Herzegovina on foot (1876), der in der Verfolgung des Bogomilismus die Ursache für die Entzweiung der Südslawen sah.311 Krleža interessiert nicht der religiöse Hintergrund des Bogomilentums, sondern vielmehr dessen staatsbildende Aspirationen: „Die Bogumilen waren keine anarchoide Sekte, sondern eine staatlich organisierte Laiengemeinde, 307
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Zur Tätigkeit Račkis: Gross, Marijana: Vijek i djelovanje Franje Račkoga. Zagreb 2004; Beschnitt, Wolf Dietrich: Der Nationalismus bei Serben und Kroaten 18301914. Analyse und Typologie der nationalen Ideologie. München 1980, 161-172. Rački, Franjo: Borba Južnih Slovena za državnu neodvisnost. Bogomili i Patareni. Hrsg. Jovan Radonić. Beograd 1931. Rački, Franjo: Bogomili i patareni. II izdanje u spomenu stogodišnjice od rođenja Franje Račkog. Hrsg. Franjo Šanjek. Zagreb 2003, 122ff. Ebd. Evans, Sir Arthur: Serbia’s greatest battle. In: Harvay, F.W./Oman, C./Evans, Sir Arthur u.a.: The Lay of Kosovo. Serbia’s Past and Present (1389-1917) and Three Serbian Ballads, London. S.t., 18-20, hier 20: “The seeds of still worse discord lay in Bosnia itself, where the Catholic persecution of the puritan and quasi-Manichaean Bogomili was to bear fruit in the wholesale conversion of the latter to Mohammedanism. Regional interests and religious jealousies were thus for over five centuries to rivet the bondage of the Serbian people and to bar the way to any political union between the kindred members of the South Slav race.”
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die in internationalem Ausmaß die Rolle des höchsten Schiedsrichters zwischen der Lombardei und den Albigensern spielte.“312 Im mittelalterlichen Bosnien, insbesondere im 14. Jahrhundert unter dem König Tvrtko I. Kotromanić (1376-1391), hätten sich die Bogomilen so weit ausgebreitet, dass sie den Status einer Staatskirche erreicht hätten. Zu diesem Zweck konnte Krleža auf ein weiteres Werk Račkis, Der Kampf der Südslawen für die Eigenstaatlichkeit im XI Jahrhundert (Borba Južnih Slovena za državnu neodvisnost u XI vieku, Zagreb 1875), zurückgreifen, das ebenso 1931 in Belgrad neu aufgelegt wurde. Auch hier betrachtet er die drei südslawischen mittelalterlichen Staatsformationen der Bulgaren, der Kroaten und der Serben als Bemühungen um einen südslawischen Nationalstaat. Umzingelt von den gleichen Feinden in Ost und West, hätten sie angestrebt, einen slawischen Staat überall dort zu gründen, wo das slawische Bewusstsein erhalten bliebe. Der Panslawist Rački bedauert, dass es wegen der Kirchenspaltung nicht zu einer Union der Südslawen kommen konnte. Unfähig, sich mit den Nachbarslawen zu vereinen, hätten die Kroaten als erste bereits im 12. Jahrhundert ihre Eigenstaatlichkeit an Ungarn verloren. Damit hätte sich der Abstand zwischen den Südslawen immer mehr vergrößert. Auch im skulpturalen Werk der Bogomilen, den ornamental und primitiv figural geschmückten Grabstelen (stečci), hätten sich die bogomilischen Künstler nie dem herrschenden Kanon gefügt. Sie hätten schließlich alles auf ihre eigene Art und Weise betrachtet (Abb. 41). Ihr scheinbarer künstlerischer ‚Analphabetismus‘ ist für Krleža in Wahrheit das neu und anders sehende Auge – das avantgardistische Auge der jugoslawischen terra vergine. Die bogumilischen Bildhauer, frei von jeder künstlerischen Manier ihrer Zeit, betrachteten die sie umgebenden Dinge und Erscheinungen auf ihre eigene Weise und waren darin zweifellos eine Art von Erfindern. […] diese slawischen Bildhauer wirkten nicht im ideologischen Vakuum eines barbarischen Analphabetismus, wie das auf Grund der Unkenntnis der elementarsten kultur-historischen Tatsachen jener Zeit angenommen wird. Dass sie sich den künstlerischen Manieren ihrer Zeit nicht fügten, ist nur eine der bogumilischen Idiosynkrasien, die im Rahmen dieser Problematik als Einzelheit eines moralisch-intellektuellen Gedankensystems auftritt. […] Ist diese Plastik wirklich im ursprünglichen Sinne des Begriffes barbarisch? Es handelt sich um die naiven und frischen Beobachtungen eines künstlerisch jungfräulichen Landes („terra vergine“), das bis heute ein ganz unbekanntes Land geblieben ist. Es handelt sich um eine besondere Konzeption der Welt und des Lebens, um eine ganze bogumilische Kosmologie, von der wir heute, leider, nicht viel wissen und auch das Wenige, was uns davon bekannt ist, erfuhren wir aus dem Inquisitionsmaterial der römischen Kurie, die mehr als vierhundert Jahre mit dem Schwert des Geistes und der Materie den Kampf gegen die bogumilische Ketzerei vorgegangen war.313
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Krleža 1950, 58. Kerleja 1950, 15f.; Krleža 1950, 56f.
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Abb. 41: Bogomilischer Sarkophag in Radmilje, L’art médiéval Yugoslav, Paris 1950.
Das neo-avantgardistische Konzept des „dritten Weges“, das trotz der Abgrenzung von der Sowjetunion noch immer dem (früh)sowjetischen Modell verpflichtet blieb, wurde nun durch ein neues, einheimisches ersetzt. Dieses wurde den landesspezifischen jugoslawischen Eigenschaften, wie der Multikulturalität und der Zugehörigkeit zu verschiedenen Kulturkreisen, aufgepfropft. So wie sich die künstlerischen Avantgarden für die Kunst der Primitiven interessiert hatten, so erkannte man auch in Jugoslawien – das sich eben als sozialistische Neo-Avantgarde verstand – die primitivistischen Elemente in der eigenen mittelalterlichen Kultur als progressive Vorbilder und förderte deshalb einen Neo-Primitivismus. Auf diese Weise wurde das avantgardistische ‚neue Sehen‘ aus extremen Blickwinkeln, das einer neuen sozialistischen Perspektive verpflichtet war, durch ein scheinbar jungfräuliches ‚neues Sehen‘ vom Beginn des sozialistischen Zeitalters ersetzt. Mit Hilfe der Rački-Lektüre konstruierte Krleža eine ‚bogomilische Perspektive‘ des Dazwischen, die weder dem Osten noch dem Westen verpflichtet war. So wie Alexis de Tocqueville in De la démocratie en Amérique (2 Bde., 1835, 1840) die Vereinigten Staaten von Amerika als Realisierung eines sozial-politischen Modells, als realisierte Utopie betrachtete, die in der
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Folgezeit auch Europa erreichen sollte,314 so ist auch für Krleža das neue Jugoslawien modellbildend. Wie die erste amerikanische Kolonie Virginia ist auch Jugoslawien eine terra vergine,315 auf der ein neues gesellschaftliches Modell realisiert wird. Sieht Tocquille die Anfänge Amerikas in der elitären, sektiererischen Abspaltung von Europa und in der Materialisierung der innovativen Idee der Demokratie,316 so stellt Krleža die Bogomilen als Antizipation des „dritten Weges“ dar, die durch das ‚neue Sehen‘ den jugoslawischen Sonderweg bereits im Mittelalter eingeschlagen hätten. Während man in Jugoslawien das Bogomilentum für den „dritten Weg“ vereinnahmte, führte die historische Umwertung der Bogomilenbewegung im kommunistischen Bulgarien in eine andere Richtung. In Sofia erschien 1954 Dimităr Angelovs Untersuchung Das Bogomilentum in Bulgarien (Bogomilstvoto v Bălgarija), die noch im selben Jahr ins Russische übersetzt wurde.317 Eingeführt und im marxistischen Sinne kommentiert wurde es von der russischen Byzantinistin und Balkan-Spezialistin Zinaida V. Udal’cova. Im Vorwort begrüßt sie die aktive Teilnahme des Autors an der ‚neuen‘, im Zeichen des Marxismus-Leninismus betriebenen bulgarischen Historiographie. Diese stellte schließlich das Bogomilentum nicht mehr als eine in sich verschlossene Sekte, sondern als sozialen Klassenkampf zwischen den bulgarischen Bauern und den plebejischen Stadtbewohnern dar. Trotz Angelovs marxistischen Ansatzes vermisst Udal’cova eine noch stärkere Betonung des Kampfes gegen die offizielle orthodoxe Kirche. Der Autor hätte außerdem versäumt, die sozialen Motivationen und politischen Ansichten der Bogomilen deutlich zu schildern. Sie bemängelt darüber hinaus die übermäßige Idealisierung der Herrscher wie auch die Überschätzung der Rolle von Individuen, wie z.B. des Begründers der Bewegung, des Popen Bogomil. Der Verfasser sei zu einer falschen Schlussfolgerung gekommen, wenn er behauptet, dass die Bogomilenbewegung zur Zeit des Königs Kalojan Ende des 12. und Anfang des 13. Jahrhunderts ihre anti-feudale Einstellung eingebüßt und die Staatsmacht sogar unterstützt habe. Ebenso verwirft sie seine Überzeugung, dass der Klassenantagonismus zur Zeit der türkischen Eroberungen in den Hintergrund getreten sei. Udal’cova besteht ferner auf der Spezifik und der Eigentümlichkeit des Bogomilentums in Bulgarien und grenzt es von den südfranzösischen Sekten der Katharer und Albigenser ab. In ihrer Auslegung des Bogomilentums in Bulgarien orientiert sich die Wissenschaftlerin 314 315
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Scott 2004, 118-121. Der Begriff terra vergine entlehnte Krleža wahrscheinlich Gabriele D’Annunzios Novellensammlung Terra vergine (1882), in der süditalienische Bauern als archischurspürngliches Volk gezeichnet werden. Tocqueville, Alexis de: De la démocratie en Amérique. Souvenirs. L’ancien régime et la révolution. Introductions et notes de Jean-Claude Lamberti et de Françoise Mélonio. Paris 1986, 64ff., 72f. Angelov, Dimităr: Bogomil’stvo v Bolgarii. Perevod s bolgarskogo N.N. Sokolova. Redakcija i predislovie Z.V. Udal’cova. Moskva 1954, 3-25.
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an der sowjetischen Deutung der Bauern- und Kosakenaufstände Emeljan Pugačevs und Stepan Razins, die gemeinhin als vorbürgerliche Revolutionen dargestellt wurden. Doch während die vorbürgerlichen Erhebungen aus der Sicht der Sowjetunion stets nur als Vorstufe der Großen Oktoberrevolution zu werten waren, wurde das Bogomilentum in Jugoslawien nicht nur als eine massenhafte, antifeudale Volksbewegung, sondern nach der Logik der Antizipation als Vorstufe des „dritten Weges“ gedeutet. Im gleichen Zuge mit der Bogomilisierung der jugoslawischen Kultur wurde auch der Partisanenführer Josip Broz Tito mit einem aufständischen Bogomilen verglichen. In Bihalji-Merins Reisebericht Jugoslawien. Kleines Land zwischen den Welten (1955) fällt ihm die Rolle des Begründers der Sekte zu. Ist der einstige Metallarbeiter, der Partisanenführer, der Volksführer und Marschall eine Art Luther, der sich gegen den Papst aus Moskau auflehnt, der den Zehnten absagt und die Bereitschaft, sich ökonomisch und ideologisch auszulöschen im Namen der allein seligmachenden Ostkirche?“ […] „Vielleicht nicht Luther“, sagt mein Partner, „vielleicht nicht der Organisator der Opposition gegen die Weltenmacht des Katholizismus, vielleicht ein Rebell, ein Sektenführer, ein häretischer Bogumile?“ [….] Vielleicht gleicht Tito dem Erasmus, als er auf der Rheinbrücke in Basel stand, zwischen den Ufern des Rheins, zwischen den Ufern der Zeiten, sein eigenes Schattenbild in der Tiefe schauend. In seinem einsam wissenden Lächeln war die Absage an jeglichen menschlichen Unfehlbarkeitsanspruch enthalten. Er war gegen das Gottmenschentum der Päpste, aber auch voller Vorbehalte und Distanz gegen Bilderstürmer, protestantische Fanatiker und Bürokraten Gottes…318
Bihalji-Merin greift hier die Gedanken Krležas auf und schließt, dass der Skrupel der Ost- und Westkirche die Bevölkerung zum neuen Glauben geführt hätte. Der Tradition des Bogomilentums schreibt der Autor sogar die Schüsse Gavrilo Princips auf den österreichischen Thronfolger Franz Ferdinand im Jahre 1914 in Sarajevo zu – obwohl das Attentat am St. Veitstag erfolgte und Princip sich damit eindeutig in die orthodoxe Tradition der Schlacht auf dem Amselfeld, die eben auch an einem 28. Juli ausgefochten wurde, stellte. Der bedeutendere Teil des Volkes hatte ohne listigen Hintergrund, aus Entbehrung und Trotz gegen die gewissenslosen und habgierigen Macht- und Prunkorganisationen der Kirche die neue und zugleich uralte Lehre der bosnischen Kirche angenommen, wie es immer aufbegehrte gegen fremde und heimische Tyrannei in spontanen Aufständen und organisierten Attentaten, deren jüngster Nachhall die Schüsse von Sarajevo waren.319
Bihalji-Merin fordert zudem eine neue Geschichtsschreibung, welche die Bogomilen aus der verzerrenden Ost- und Westperspektive befreien würde. Diese Aufforderung enthält selbstverständlich implizit auch den Aufruf, eine neue jugoslawische Geschichte Jugoslawiens zu schreiben, welche die Er-
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Bihalji-Merin 1955, 34f. Ebd., 189.
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eignisse der Vergangenheit neu darstellen soll – weder aus westlicher noch aus sowjetischer Sicht. Wenn Religionen zu Dogmen, Kirchen zu bürokratisch-administrativen Machtorganisationen werden, erhebt sich die Stimme der unverwirklichten Ideen von neuem, von der offiziellen Macht der Häresie genannt, verfolgt und geahndet durch Schismaprozesse und Scheiterhaufen. […] Wir müssen den Akten der katholischen Kirche misstrauen, weil ihre Verlautbarungen propagandistisch wirken sollten. Es könnten da Parallelen zu den Prozessen von Moskau, Budapest und Prag, zu manchen Prozessen unserer Zeit gezogen werden.320
Die Grabsteine der Bogomilen sind für Bihalji-Merin die neuen jugoslawischen Wallfahrtsorte. Unter ihnen lägen nicht nur die Bogomilen, sondern auch Gläubige anderer Religionsgemeinschaften begraben: „Die Steine schweigen. Wer weiß, wer unter ihnen begraben lag, Bogomilen oder Katholiken, Pravoslaven [Orthodoxe] oder gar Mohammedaner?“321 So wie Bosnien im Mittelalter zum Zentrum des religiös-sozialen Aufstandes wurde, so sei das Land auch im Zweiten Weltkrieg zur Arche der Partisanenbewegung geworden: „Es ist die Romanija, der Ararat Bosniens, der Berg der Offensiven, wo die Arche der Partisanen landete, als die Sintflut hereinbrach.“322 In denselben Katakomben wie die Bogomilen hätten sich im Zweiten Weltkrieg auch die Partisanen verborgen. Im Ort Jajce, dessen Name „Ei“ bedeutet (slow. jajce) bzw. damit etymologische verwandt ist (serbokr. jaje), habe während des Krieges, am 29. November 1943, das erste jugoslawische Parlament unter der Führung Titos getagt. Jajce, der Sitz der mittelalterlichen bosnischen Könige hoch in den Bergen,323 und das neue Jugoslawien hätten also denselben Ursprung, nämlich ab ovo. Bihalji-Merin imaginiert Tito schließlich noch als modernen Bogomilen. Und in der Leere und Stille dieses Saals, vom schrägen Licht der Seitenfenster angeleuchtet, sehe ich das nachdenklich gewissenhafte kühne Gesicht des Sprechers. Die Stimme Titos durchdringt in ihrer wachen Intensität Raum und Zeit, das dumpfe Gelärm der Kämpfe und Offensiven. Ich trage sie in meinem Ohr, da ich hinabsteige zum Wasserfall von Jajce, zu jener monumentalen Kulisse der Natur.324
Den Zusammenhang zwischen dem Bogomilentum und den Partisanen stellt auch der erfolgreichste aller jugoslawischen Partisanenfilme, der für den Oscar nominierte Film Die Schlacht an der Neretva (Bitka na Neretvi, 1969) des Regisseurs Veljko Bulajić her. Darin kämpft, eingekesselt vom fremden und vom heimischen Feind, eine Handvoll Partisanen, versteckt hinter den Bogomilenstelen, heldenhaft bis zum letzten Mann gegen eine ganze Armee von Tschetniks (Abb. 42, 43). 320 321 322 323 324
Ebd., 188f. Ebd., 189. Ebd., 185. Zur Bedeutung von Jajce im Mittelalter: Mekanović, Husein Seiko: Mit i simbol. Bosanski grad Jajce. In: Bosna Franciscana 27 (2007), 177-196. Bihalji-Merin 1955, 236.
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Abb. 42: Partisanen, versteckt hinter den Bogomilenstelen, Veljko Bulajić, Die Schlacht an der Neretva, 1969.
Abb. 43: Partisanin im Schutz der Bogomilenstelen, Veljko Bulajić, Die Schlacht an der Neretva, 1969.
Krleža und Bihalji-Merin waren allerdings nicht die ersten, die eine Analogie zwischen der Sektenbewegung und dem Kommunismus herstellten. Bereits der Wiener Kulturhistoriker und Slawist Josef Leo Seifert (1890-1950),325 der Mitglied der 1892 gegründeten Österreichischen Leo-Gesellschaft (nach Papst Leo III. bernannt) war, die sich um die Union der Ost- und Westkirche bemühte, sah eine innere Verbindung zwischen dem Bogomilentum und der Oktoberrevolution. Er betrachtet das Bogomilentum als die Keimzelle der späteren Oktoberrevolution und stellt eine Analogie zwischen der Sektenbewegung und dem Bolschewismus her, wie in den Freimaurer-Kreisen und um
325
Hüttl-Hubert, Eva-Maria: Josef (Leo) Seifert. In: Österreichisches Biographisches Lexikon 1815-1950 12/56. Wien 2005, 137f.
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sie herum in den 1920er und 1930er Jahren spekuliert wurde.326 In seinen Abhandlungen „Das heroische und das franziskanische Christentum“ (1926), „Die Rolle der Slawen in der Geschichte Europas“ (1926) sowie in einem Buch Die Weltrevolutionäre. Von Bogomil über Hus zu Lenin (1931) verkettet Seifert zudem teleologisch reformierte religiöse Bewegungen, geheime Vereinigungen und philosophische Richtungen zu einer einheitlichen, Jahrhunderte andauernden Strömung, die schicksalhaft eine immer gewaltigere Kraft entfalt habe (Abb. 44).
Abb. 44: Josef Leo Seifert, Die Rolle der Slawen in der Geschichte Europas, 1926.
Die Traditionslinie, die im 10. Jahrhundert mit den Bogomilen beginne, setze sich im Westen zuerst bei den Patarenern in Norditalien wie auch bei den Albigensern und den Katharern in Südfrankreich fort und habe schließlich auch Franz von Assisi beeinflusst. Über die Waldenser erreiche sie im 15. Jahrhundert Wickliff in England, die Hussiten und die Böhmischen Brüder in Böhmen und über Comenius auch die Freimaurer. Eine eher spiritistisch ausgerichtete Strömung führe zu den Pietisten, zu Swedenborg und Schelling und von dort zu den polnischen Messianisten und den Slawophilen in Russland. Eine zweite, revolutionäre Bewegung finde ihre Nachfolger in den Jakobinern sowie in Hegel und Marx, bis sie schließlich die Bolschewiken erreiche. Für Krleža dagegen sind die Titoisten die wahren Erben des Bogomilentums und Jugoslawien das wahre Erbe des slawischen Föderalismus. 326
Vgl. Bostunič, Grigorij: Masonstvo i russkaja revolucija. Pravda mističeskaja i pravda real'naja. Novi Sad 1921; Ders.: Masonstvo v svojej suščnosti i projavlenijach. Beograd 1928; Hasselbacher, Friedrich: Freimaurer als Weltrevolutionäre. Berlin 1935.
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3.3.2. Der jugoslawische Neo-Primitivismus: „Naive“ und „Autodidakten“ Den Stil der bogomilischen Grabmäler interpretierte Krleža in seinem Vorwort zur Pariser Ausstellung von 1950 nicht als ephemeres, niederes Kulturgut, sondern als letztes Zeugnis einer verlorenen Kultur, geradezu als ein jugoslawisches „Atlantis“,327 das durch einen anhaltenden Primitivismus sowie Frische und Unbändigkeit, gekennzeichnet sei. Die negative Rückständigkeit wurde durch den positiv konnotierten Archaismus ersetzt. Jugoslawische Kunst präsentierte sich nicht mehr als Derivat oder Hybrid des Ostens und des Westens, sondern als Wiege der europäischen Zivilisation. Zwei Jahre später regte er als Vizepräsident der Jugoslawischen Akademie der Wissenschaften und Künste sowie Direktor des Lexikographischen Instituts in Zagreb die Ausgabe einer zwölfbändigen Enzyklopädie Jugoslawiens an, deren erster Band 1954 erschien. In der ersten Redaktionssitzung betonte er die Rolle der Enzyklopädie beim Aufbau eines sozialistischen kulturellen Bewusstseins, das weder integral noch partikulär sein dürfte.328 Vor allem sollte das Nachschlagewerk ein verbessertes, sozialistisches Geschichtsbild vermitteln: „Nur durch sozialistische Gleichberechtigung, ohne privilegierte Klasse, auf volkstümlicher, demokratischer Grundlage, kann man eine Zivilisation aufbauen, die würdig ist, Zivilisation des Volkes genannt zu werden.“329 Ferner forderte Krleža auf dem dritten Kongress der jugoslawischen Schriftsteller 1952, dass Literatur und Kunst nach einem künstlerischen Ausdruck für das ganze Volk suchen sollten. Schließlich sei die sozialistische Revolution in Jugoslawien eine Massenbewegung gewesen, die nun auch künstlerisch nachvollzogen werden sollte.330 Zugleich wurden auch Ausstellungen der jugoslawischen Volkskunst im In- und Ausland organisiert, wie z.B. die Schau im Gewerbemuseum in Zürich Ende 1949. Der jugoslawische Gesandte in der Schweiz, Milan Ristić, 327
328 329 330
Kerleja 1950, 17. «On croit ici contempler les ruines d’une Atlantide disparue dans les âges et qui, à travers un voile argenté, nous conte des événements et des choses aujourd'hui entièrement inconnus.» Krleža, Miroslav: Referat na plenumu centralne redakcije Enciklopedije Jugoslavije 12. VI 1952. In: Sa uredničkog stola. Sarajevo 1983, 75-102. Ebd., 80. „Samo socijalističkom ravnopravnošću, bez privilegirane klase, na pučkoj, demokratskoj osnovi, može se graditi civilizacija koja je dostojna da je zovemo ljudskom.“ Krleža 1988, 44. „Književno i umjetničko tumačenje historijskomaterijalističke koncepcije pojedinih elemenata naše kulturne svijesti predstavlja danas osnovno pitanje. U okviru najvećeg masovnog pokreta u našoj historiji, koji je revolucionarnom borbom ostavio principe socijalizma, traže se danas naučna, književna, umjetnička i ideološka ostvarenja na intelektualnoj podlozi jedne problematike, koja metodički još nije ispitana sa stanovišta najelementarnijeg poznavanja intelektualno-moralne, kulturnohistorijske, estetskomorfološke, ekonomske i sociološke anatomije našega građanskog društva.“
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hebt im Vorwort des Ausstellungskatalogs hervor, dass das Ziel der Ausstellung es sei, „in erster Linie die schöpferischen Eigenschaften der breiten jugoslawischen Volkschichten zu zeigen“.331 Wenn die Volkskunst der Spiegel eines Volkes ist, dann kann man wahrlich in den Kunstschöpfungen der jugoslawischen Völker mit Leichtigkeit ihre Charaktereigenschaften, ihre lichten und glänzenden geschichtlichen Traditionen, ihre Leiden und Schmerzen, ihre Freuden wie auch ihren Kampf um ein freies selbständiges Leben, ihr ständiges Streben nach einer besseren und glücklicheren Zukunft erkennen. Kurz, die Volkskunst ist das unzerstörbare Pantheon des jugoslawischen Volkes.332
Der Kurator Predrag Milosavljević weist angesichts der Exponate auf „einen epischen und strengen Charakter“ der Jugoslawen hin, „der von ihrem schweren Kampfe gegen die verschiedenen Eroberer geformt wurde“.333 Derselbe Kurator veröffentlichte in der Zeitschrift Jugoslavija 1949 ein Lob der Volkskunst, die er als „a permanent living form of expression of the broadest strata of people“, „national cradle“ und „a primeval power which may be compared with the strength and magnitude of geological formations“ bezeichnet.334 Er vergleicht schließlich die Bedeutung der Volkskunst mit der einer kleinen Quelle, die ebenso wie die Flüsse zur Entstehung eines großen Stromes beitrage. Zudem lobt er den eigenständigen Stil und Geschmack der Künstler aus dem Volk wie auch die reinen, originellen Formen ihrer Kunst. Die besonders kreativen Zentren der Volkskunst verortet er in den am wenigsten entwickelten Regionen Jugoslawiens, in Makedonien, Bosnien und der Herzegowina sowie im Kosovo. Der volkstümliche Stil der bogomilischen Grabmäler und die Forderung nach einer neuen Kunst für das Volk trugen wesentlich zur Herausbildung eines neuen ästhetischen Kanons der „naiven Volkskunst“ bei – einer stark folkloristisch gefärbten jugoslawischen Variante des sozialistischen Realismus, die seit den 1950er Jahren propagiert wurde. Besonders gefördert wurden Bauernmaler bzw. Autodidakten,335 deren vorgeblich jungfräuliches Auge das terra vergine Jugoslawien am besten erfassen würde (Abb. 45, Abb. 46, Abb. 47). 331 332 333 334 335
Volkskunst aus Jugoslawien. Ausstellungskatalog. Zürich 1949, IV. Ebd., IV. Ebd., VII. Milosavljević, Perdrag: National Art. In: Yugoslavia. Illustrated Magazin (1949), 40-43. Zur naiven Kunst in Jugoslawien: Bihalji-Merin, Oto: Die Naiven der Welt. Stuttgart u.a. 1971; Ders.: Die Kunst der Naiven. Themen und Beziehungen. München 1975; Greverus, Ina-Maria: Ästhetische Orte und Zeichen. 2005, 186-202 („Imagination der Nähe. Naive Malerei“); Kordiš, Meta: Jugoslovanska naivna in popularna kultura. In: Ars & Humanitas. Revija za umetnost in humanistiko III/1-2 (2009), 212-247; Zimmermann, Tanja: Socialistic Neo-Primitivism in Art history in Tito’s Yugoslavia, In: Jerzy Malinowski (Hrsg.): The History of Art History in Central, Eastern and SouthEastern Europe. Toruń 2012, 211-216.
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Abb. 45: Vojislav Stanić, Ochsen, 1956.
Abb. 46: Petar Smajić, Bauer, 1956.
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Titos „dritter Weg“ Abb. 47: Mijo Smok, Kopf eines Mannes mit Schnurrbart, 1956.
Zur Popularisierung dieser „naiven Künstler“ im In- und Ausland trug der Kurator Oto Bihalji-Merin bei, der seit den 1950er bis in die 1970er Jahre zum wichtigsten Ausstellungsmanager Jugoslawiens avancierte. Schließlich gehörte die „naive Kunst“ (naivna / izvorna / samonikla umjetnost) als Erbe der Volkskunst bis zu diesem Zeitpunkt zu den Richtungen der jugoslawischen Kunst, die am häufigsten im Ausland ausgestellt wurden.336 In der 336
Bihalji-Merin, Oto/Gvozdanović, Mirjana: Naive Kunst in Jugoslawien. Ausstellungskatalog. Wien-Zagreb 1963; Winterberg, Ernst (Hrsg.): Naive Malerei aus Jugoslawien. Ausstellungskatalog. Frankfurt a.M. 1966; Naive Malerei aus Jugoslawien. Ausstellungskatalog. Nürnberg 1968; Bauernmaler aus Jugoslawien. Ausstellungskatalog. Düren 1970; Naive Malerei aus Jugoslawien. Ausstellungskatalog. Düsseldorf 1973; Böse schöne Welt. Naive Kunst aus Jugoslawien aus der Sammlung Gerhard Ledić. Ausstellungskatalog. Graz 1975; Naive Kunst aus Jugoslawien. Ausstellungskatalog. München 1980; Bedeutende Naive aus Jugoslawien. Gemälde auf Glas und Leinwand von Ivan Generalić, Josip Generalić, Mijo Kovačić u.a. Ausstellungskatalog. Essen 1984.
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Broschüre Die Kunst der Naiven in Jugoslawien (1959), die als letzter Band der Reihe Jugoslavija. Illustrierte Zeitschrift erschien, erläutert Bihalji-Merin – den deutschen Kunsthistoriker Wilhelm Uhde zitierend – den Unterschied zwischen der Naivität eines Kindes und der eines naiven Bauernkünstlers bzw. Autodidakten: „Die Naivität des Kindes ist nur ein Übergang, eine Station auf der Reise in das Land des Wissens und Könnens, der Zauberei von Perspektive und Anatomie. Hier aber ist die Naivität endgültig, sie ist konserviert, wieder gefunden.“337 Insbesondere lobt er die Malerschule von Hlebine, ein Kollektiv der Bauernmaler, das schon in den 1930ern aktiv war. Diese Maler, die in den 1950er Jahren ihre künstlerische Tätigkeit wieder aufnahmen, wurden nun für die neue neo-primitivistische Ideologie Jugoslawiens vereinnahmt (Abb. 48). Auch die Thematik ihrer Bilder passte sich der neuen politischen „Realität“ an: Während ihre Malerei in den 1930er Jahren beeinflusst von der Neuen Sachlichkeit soziale Kritik übte, Armut und schweres Leben der Bauern im Kampf mit der Natur zeigte, wurde das Leben im ‚neuen‘ Jugoslawien meistens als irdisches Paradies dargestellt (Abb. 49), in dem Fortschritt und Archaismus Hand in Hand gehen.
Abb. 48: Ivan Generalić, Kastanien werden geröstet, 1950. 337
Bihalji-Merin, Oto: Die Kunst der Naiven in Jugoslawien. In: Jugoslawien. Illustrierte Zeitschrift 17 (1959), 5.
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Abb. 49: Mara Puškarić-Petras, Schwimmer an der Petrička, 1977.
Kritisch wurden nun nur diejenigen gezeigt, die dieses Paradies verlassen haben, wie die Gastarbeiter.338 Doch wenn man diese scheinbar autarke jugoslawische Volkskunst unter die Lupe nimmt, erweist sie sich auf den zweiten Blick als sehr international. Sie inspiriert sich bei der Skulptur der außereuropäischen „Primitiven“ aus Afrika und Ozeanien, bei der französischen Romanik oder bei der Höhlenmalerei, bei Malern wie Pieter Breugel (Abb. 50), Henri Rousseau und Louis Vivin. Die Autarkie des jugoslawischen „dritten Weges“ verband sich also paradoxerweise zugleich mit dem Internationalismus.339 Diese Aneignung internationaler Anregungen betrachtete man weder als verspätete Rezeption, als Nachzüglertum einer peripheren Region noch als Nachahmung der Vorbilder aus den kulturellen Zentren. Archaisierende und primitivistische Ausdrucksformen wurden vielmehr als authentische Hervorbringungen einer ‚gesunden‘ Eigenart angesehen. ‚Jungfräuliche‘ Künstleraugen würden überall Verwandtes finden; dadurch könnten sie Jahrhunderte der ost- und westeuropäischen Tradition ausblenden. Die Autarkie und der Internationalismus sind zu einem Oxymoron – einem autarken Internationalismus bzw. einer internationalen Autarkie – verschmolzen. 338 339
Vgl. Dugina, Franjo: Gastarbajter svatba (Gastarbeiterhochzeit), 1981-83. In: Naivni 87 (Ausstellungskatalog). Zagreb 1987, 27. Zimmermann, Tanja: Einleitung. In: Dies. (Hrsg.): Balkan Memories. Media Construction of National and Transnational History. Bielefeld 2012, 11-30, hier 13ff.
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Abb. 50: Dragan Gaži, Hochzeitsfest, 1956.
Obwohl die Quellen der „Naiven“ in der westeuropäischen Malerei, insbesondere bei Henri Rousseau und Louis Vivin zu suchen sind, stellt sie Bihalji-Merin als Nachfolger der mittelalterlichen, bogomilischen Bildhauer aus Bosnien und Serbien vor. Die naiven Künstler Jugoslawiens können zudem – wenn auch oft unbewusst – aus den unterirdischen Strömen alter und echter Volkskunst schöpfen. Die Vergangenheit ist noch nicht abgebrochen, die Formen bogumilischer Sarkophage, serbischer Bauerngräber, geschnitzter Hirtenstäbe, gestickter und gewebter Bauerngewänder, unter Glas gemalter Votivbilder reichen bis in unsere Zeit hinein. So muss wohl eine innere Notwendigkeit bestehen, dass Bauern, Fischer und Handwerker in vielen Teilen des Landes ihr Sein und Fühlen in die Sprache der Kunst zu transponieren versuchen, als müssten sie etwas von jenem verlorenen Paradies wiedergewinnen, in dem jeder Mensch die Sprache der Ursprünglichen Bildhaftigkeit verstand und besaß.340
Ebenso pries Bihalji-Merin den ersten (akademischen) Lehrer der Bauernmaler von Hlebine, Krsto Hegedušić. Dieser durfte freilich bereits 1948 in seiner ‚groben‘ Manier das Kabinett Titos mit seinem Historiengemälde des Bauern-
340
Ebd., 35.
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aufstandes austatten.341 Die Kunst der Naiven wurde nicht auf einige wenige ‚Stars‘ beschränkt, sodass viele Künstler namentlich auftreten durften. Die „naive Kunst“ gehörte zu den Richtungen der jugoslawischen Kunst, die in den 1960er und 1970er am häufigsten im Ausland ausgestellt wurden: 1963 in Wien, 1964 in Darmstadt, Linz und Salzburg, 1966 in Frankfurt am Main, 1967 in München, 1968 in Zürich, Nürnberg, Wuppertal und Düsseldorf, 1969 in Klagenfurt, Bonn, Düsseldorf und Basel, 1970 München, 1973 Düsseldorf, 1975 Graz.342 In Zagreb wurde 1952 eine Kunstgalerie der naiven Malerei gegründet, die mehrmals ihren Namen änderte: Seljačka umjetnička galerija (Bäuerliche Kunstgalerie), seit 1956 Galerija primitivne umjetnosti (Galerie der primitiven Kunst), seit 1994 Hrvatski muzej naivne umjetnosti (Kroatisches Museum der naiven Kunst). In ihr wurden auch zahlreiche internationale Ausstellungen der naiven Kunst organisiert, besonders große in den Jahren 1963, 1970, 1973 und 1975. Auch in anderen Orten Jugoslawiens wurden Galerien der naiven Kunst eröffnet, wie z.B. Salone der samorastniki („Alleinwüchsige“/„Selbstgewachsene“) in Trebnje und der naiven Bildhauer in Kostanjevica in Krka in Slowenien sowie die Galerija samoukih likovnih umjetnika (Galerie der Künstler-Autodidakten) der in Svetozarevo in Kroatien. Ähnliche Galerien oder neue Abteilungen der „naiven Kunst“ in Museen wurden auch in anderen Republiken gegründet. Auch andere Ausdrucksformen der Volkskultur, wie z.B. der Volkstanz und die Volksmusik,343 erhielten in den 1950er Jahren eine neue Bedeutung. War in Josef Martin Presterls Reisebericht von 1947 der Kreistanz kolo vor allem eine Metapher für die „Brüderlichkeit und Einheit“ der Völker in der geplanten Balkanföderation,344 so mutiert er 1955 bei Bihalji-Merin in eine Metapher des archaischen jugoslawischen Volkstums. Den Bauer im braunen Rock aus selbstgewobener Wolle, dessen Ärmel am Ellenbogen ein wenig durchgescheuert waren, zog es in den Reigen. Er reihte sich in den Kreis ein und seine Füße sprangen rasch und gewandt und vollführten die höchst kunstvollen Figuren. Nichts erinnerte an die Tänze der Stadt, an Walzer, Tango oder Rumba, keine Nähe der Tanzpaare von Brust zu Brust. Der Rhythmus, die Kraft der Musik verband alle Tänzer in einer Gemeinschaft, gleichgültig, ob Männer oder Frauen. Langsam bildete sich die Kette, wenn die Musiker mit dem Bogen über die Streichinstrumente glitten. Einige begannen den Schritt, die anderen zögerten noch, als hielte sie der Boden und die Nüchternheit des täglichen Lebens, bis sie dann doch, einer nach dem andern, ergriffen von der Gottheit des Tanzes, sei es Pan, Dionysos 341
342 343
344
Bihalji-Merin, Oto: Das Werk des Malers Krsto Hegedušić. In: Jugoslawien 18 (1959), 1-16. Vgl. Anm. 336. Zur kommunistischen Förderung der Folkore in Jugoslawien vgl. auch. Miloradović 2012, 291-304. Presterl 1947, 11, 15, 19, 31, 36.
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oder ein namensloser Gott der Slawen, hingezogen wurden und sich fortbewegten, streng in der Haltung mit dem fast steifen Oberkörper, rasch im Schritt, gebunden und doch frei, als wäre es ein Dienst, den sie tun müssten und von dem sie nicht lassen könnten.345
Das Bogomilenland ist zugleich auch der Ort, wo Menschen mit Hilfe der Folklore von der alten zur neuen, sozialistischen ‚Religion‘, zum Titoismus, übertreten. Dementsprechend übertönt in Bihalji-Merins Reisebericht ein im Stil eines Volksliedes gehaltenes Partisanenlied die Kirchenglocken. Die sich versammelten Kolo-Tänzer verknüpfen sich schließlich im sektiererischen Kreistanz und werden auf diese Weise zu einem Art lebendigen ‚Stonehenge‘ des Partisanenkampfes. Die Mädchen stehen unter blühenden Apfelbäumen und zögern, aber mächtiger beginnen Kolo und Lied. In den Glockenschlag hinein, wie eingewebt in ein altes Kirchentuch, wie mit Gold hineingestickt sind die neuen Worte, die feierlich und fast rituell im Garten der Kirche gesungen werden: das Lied von Titos Zug durch die Wälder und über die Berge der Romanija.346
Das Volkstümlich-Bogomilische blieb auch in den nächsten Jahrzehnten das Markenzeichen der jugoslawischen Bildkultur. Einen dekorativ-volkstümlichen Charakter trugen zudem zahlreiche abstrakte Werke des sogenannten „sozialistischen Ästhetizismus“.347 Unter diesem Begriff wurden verschiedene Richtungen der jugoslawischen abstrakten Kunst zusammengefasst, deren nie zu Ende geführte Abstraktion stets im FigurativOrnamentalen und Neo-Primitivistischen aufging. Auch die Partisanendenkmäler der späten 1960er und frühen 1970er Jahre, insbesondere die des Bildhauers Bogdan Bogdanović, folgten dem Stil der Bogomilenstelen (Abb. 51).
345 346 347
Bihalji-Merin 1955, 17. Ebd., 185. Marković, Predrag J.: Vom sozialistischen Realismus bis zum sozialistischen Ästhetizismus. Die merkwürdige Entwicklung der ästhetischen Ideologie der jugoslawischen Kommunisten. In: Richter, Angela/Bayer, Barbara (Hrsg.): Geschichte (ge-)brauchen. Literatur und Geschichtskultur im Staatssozialismus. Jugoslawien und Bulgarien. Berlin 2006, 33-44.
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Titos „dritter Weg“ Abb. 51: Bogdan Bogdanović, Partisanendenkmal in Knjaževac in Serbien, 1969-71.
Auch die immer wieder im Ausland ausgezeichneten jugoslawischen Filme über die ‚Zigeuner‘, die ein wichtiges jugoslawisches Exportprodukt darstellten, fügten sich in den Kanon der sozialistischen Ethno-Exotik auf dem Balkan ein. Einige von ihnen haben internationale Preise gewonnen, wie z.B. Aleksander Petrovićs Federsammler (Skupljači perja, 1967), Slobodan Šijans Wer singt denn da (Ko to tamo peva?, 1984), Goran Paskaljević Schutzengel (Anđeo čuvar, 1987) oder Emir Kusturicas Zeit der Zigeuner (Dom za vešanje, 1989). Mit ihrer parergonalen Stellung an der Peripherie der industriellen Welt, ihrer Transnationalität und Ethno-Exotik verkörperten die ‚Zigeuner‘, so Dina Iordanova, eine projektive Identifikation und Selbstrepräsentation des Balkans nach außen.348 Auch die Ethno-Musik in diesen Filmen erreichte große Popularität und wurde getrennt von den Filmen verkauft. Es war daher nur ein kleiner Schritt, das jugoslawische Volkstum in den 1980er Jahren wieder zu beleben und medial aufzufrischen – diesmal jedoch im Dienst der aufgewachten Nationen, wie etwa im sogenannten „EthnoPop“ in Serbien und in der neuen ‚Volksdichtung‘ über die neuen Helden der Nation aus den politischen Reihen.349 348 349
Iordanova, Dina: Cinema of Flames. Balkan Film, Culture and the Media. London 2001, 213-232. Vgl. Žanić, Ivo: Flag on the Mountain. A Political Anthropology of War in Croatia and Bosnia. Translated by Graham McMaster with Celia Hawkesworth. London 2007 (kroat. Prevarana povijest, Zagreb 1998).
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3.4. Tertium datur. Vielfalt als ästhetische Einheit 3.4.1. Im Reigen der Völker Als nach dem Ersten Weltkrieg neue multinationale Staaten – die Sowjetunion, die Tschechoslowakei und das erste Jugoslawien – entstanden, versuchten ihre Staatsführer jeweils eine einheitliche nationale Identität zu bilden, die den Zusammenhalt der neuen Gemeinschaften sichern sollte. Dabei hatten sie mit zahlreichen Problemen zu kämpfen, die Folge ihrer unterschiedlichen historischen Rechtssysteme und kulturellen Traditionen waren. In Jugoslawien sei laut Hans Lemberg die Situation für die Stiftung einer gemeinsamen Identität besonders schwierig gewesen, weil das Territorium auch von den ehemaligen Grenzen von Zis- (Länder der österreichischen Krone im Staatsgefüge der habsburgischen Doppelmonarchie) und Transleithanien (Länder der ungarischen Krone im Staatsgefüge der habsburgischen Doppelmonarchie) sowie des Osmanischen Reiches durchzogen wurde.350 Wie in der Tschechoslowakei in der Regierungszeit der Präsidenten Masaryk und Beneš eine vollkommene Verschmelzung der beiden Nationen durch eine einheitliche nationale Identität der „Tschechoslowaken“ angestrebt und die beiden Sprachen als zwei Formen des gemeinsamen Tschechoslowakischen angesehen wurden, entwickelte man ähnliche Konzepte auch in Jugoslawien. Dort erkannte man drei slawische Stämme (plemena) – Serben, Kroaten und Slowenen – an, während andere slawische Völker, wie Bosnier, Makedonier und Montengriener, sowie die nicht-slawischen Albaner nicht berücksichtigt wurden. All diese Völker sollten im neuen gemeinsamen Staat zu einem einheitlichen jugoslawischen Volk heranwachsen. Auf allen Gebieten der Kultur, in der Literatur, der Sprachpolitik, der Presse und in der Denkmalpolitik, bemühte man sich um eine synthetische jugoslawische Kultur unter serbischer Führungsrolle – dem „Jugoslawentum“ (jugoslovenstvo).351 Sogar der serbische Mythos der Schlacht auf dem Amselfeld sollte zu einem gesamtjugoslawischen ausgeweitet werden, indem man die Rollen unterschiedlichen Helden zwischen den drei „Stämmen“ verteilte.352 Diese Bemühungen wichen nach 1928, als Stjepan Radić, der Anführer der Kroatischen Bauernpartei, im jugoslawischen Parlament von einem serbischmontenegrinischen Nationalisten erschossen wurde, dem Jugoslawentum 350
351 352
Lemberg, Hans: Unvollendete Versuche nationaler Identitätsbildung im 20. Jahrhundert im östlichen Europa. Die „Tschechoslowaken“, die „Jugoslawen“, das „Sowjetvolk“. In: Berding, Helmut (Hrsg.): Nationales Bewußtsein und kollektive Identität. Studien zur Entwicklung des kollektiven Bewusstseins in der Neuzeit 2. Frankfurt a.M. 1994, 581-607. Wachtel 1998, 19-127. Ebd., 65f.
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unter serbischer Dominanz.353 Das Jugoslawentum-Konzept scheiterte endgültig nach dem Attentat auf den König Alexander 1934 in Marsailles, das von kroatischen und serbischen Separatisten durchgeführt wurde. Die Kommunisten, die bereits in den 1920er Jahren die viertstärkste Partei in Jugoslavien waren (bis zu ihrem Verbot 1924), setzten sich nach dem Krieg für eine sozialistische „Brüderlichkeit und Einheit“ ein, deren Grundstein im multinationalen Partisankampf während des Zweiten Weltkrieges gelegt wurde. Diese sollte die Integration aller jugoslawischen Nationen als einer summa partiorum ermöglichen.354 Die Tito-Regierung hatte ein zwiespältiges Verhältnis der alten Idee des Jugoslawismus gegenüber: Das alte Konzept repräsentierte einerseits die nationalistischen großserbischen Aspirationen, andererseits bot es sich jedoch zugleich als identitätsstiftenede Grundlage für die geplante Balkan-Föderetion an.355 Auf der Ebene der politischen Rhethorik sprach man jedoch dem alten Konzept jegliche Verwendbarkeit ab. Man gründete im November 1925 die Volksrepublik Jugoslawien als Föderation von sechs Republiken und erkannte fünf konstitutive Nationen an: Serben, Kroaten, Slowenen, Montenegriener und Mazedonier, wobei Bosnier erst 1962 als Nation anerkannt wurden.356 Mit dem Konzept des „dritten Weges“ und der antietatistischen „Selbstverwaltung“ (samoupravljanje), die 1950 Edvard Kardelj entwarf,357 schmolz diese plurale Einheit durch die ideologische Abgrenzung vom Osten und vom Westen noch stärker zusammen. Neben der mythisch-historischen Begründung Jugoslawiens als einem „Dritten“ zwischen Ost und West wurde auch in der Tagespolitik an der Konstruktion einer neuen Ideologie gearbeitet, die das multikulturelle Volkstum in den Vordergund rücken sollte. So kündigte Tito bereits in seiner Rede auf dem Zweiten Kongress der (kommunistisch dominierten) Volksfront Jugoslawiens im Jahre 1947 einen eigenständigen Weg in den Kommunismus an, der „der inneren Entwicklung des Landes“ entspringen solle.358 Die Volksfront – eine „neue, nationale, auf den Grundsätzen einer wahren Volksdemokratie beruhende Volksverwaltung“359 bzw. eine „alle 353 354 355 356
357 358 359
Jović 2009, 48-53, 55. Wachtel 1998, 128-172. Jović 2009, 54-61. Der Politikwissenschaftler Dejan Jović (Yugoslavism and Yugoslav Communism. From Tito to Kardelj. In: Djokić, Dejan (Hrsg.): Yugoslavism. Histories of a Failed Idea 1918-1992. London 2003, 157-181) zählt das mangelnde Staatbewusstsein bzw. den dezentralistischen Anti-Etatismus zu den wichtigsten Gründen für den Zerfall Jugoslawiens nach Titos Tod. Durch die neue, von Kardelj entworfene Verfassung von 1974 wurde dieser noch gestärkt. Jović, 60, 64-67. Tito, Marschall: Wie wir es machen. Bericht über den Weg, den Jugoslawien geht. Berlin 1947, 7. Ebd. 18.
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Teile des Volkes umfassende politische Organisation“,360 an deren Spitze die kommunistische Partei stehe – soll demnach die neue politische Grundlage Jugoslawiens bilden. Als „Massenorganisation mit demokratischem Charakter“, die Wahlergebnissen zufolge 95% der Bevölkerung unterstützen würden, könne nur sie die nationale Gleichberechtigung und die Brüderlichkeit aller Völker in einem Mehrvölkerstaat wie Jugoslawien gewährleisten.361 Auch Kardelj weist in der Broschüre Die kommunistische Partei Jugoslawiens im Kampfe für das neue Jugoslawien, für die Volksregierung und den Sozialismus (1948) die sowjetische Beschuldigung der „nationalistischen Autarkie“ energisch zurück. Er begründet dies damit, dass sich das sozialistische Volk in Jugoslawien „selbst führt und dabei von den marxistischen Gesetzmäßigkeiten und den Erfahrungen Lenins und Stalins geführt wird“.362 Auf juristischer Ebene wurde der demokratische Volkscharakter des jugoslawischen Sozialismus mit einem neuen, von Kardelj erarbeiteten Grundgesetz zur „Arbeiterselbstverwaltung“ bekräftigt. Durch die in Jugoslawien angeblich fortgeschrittene Form des Kommunismus sei der Staat schwächer geworden und sei gemäß der marxistischen Doktrin bereits auf dem Weg zu seinem „Absterben“. Denn bei uns verwalten sich die Völker selbst, es werden ihnen nicht von außen, von einer sogenannten führenden Nation irgendwelche Leiter aufgezwungen, und zwar einfach aus dem Grunde, weil wir das Bestehen irgendeines führenden Volkes bestreiten.363
Das jugoslawische Gegenprogramm zum sowjetischen Etatismus berief sich auf Marx’ Kommunistisches Manifest, in dem mit dem letzten Akt der kommunistischen Revolution – der Übertragung der Produktionsmittel auf die „assoziierten Individuen“ und „freien Produzenten“ – eine Auflösung des Staates prophezeit wurde. Auf dieser Stufe des Klassenkampfes sei das Eigentum nicht mehr entweder Staats- oder Genossenschaftseigentum. Statt-
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Ebd., 21. Dieses Wahlergebnis wurde durch die Überwachung der Stimmabgabe garantiert. Die hohe Analphabetenquote wurde schließlich als Vorwand benutzt, um die Wahlzettel durch Radiergummibällchen zu ersetzen. Das Geräusch des fallenden Bällchens verriet, für welche der zwei Urnen – entweder für die „fortschrittliche“ oder für die „reaktionäre“ – sich der Wähler entschied; Vgl. Ehrenburg, Ilja: Wege Europas. Einzig autorisierte Übertragung aus dem Russischen. Zürich 1947, 107f. Ehrenburg beurteilt diese Art der Wahldurchführung durchaus positiv als eine Notwendigkeit. Kardelj, Edvard: Die kommunistische Partei Jugoslawiens im Kampfe für das neue Jugoslawien, für die Volksregierung und den Sozialismus. Referat auf dem V. Kongress der KPJ. Belgrad 1948, 32. Tito, Josip Broz: Die Fabriken in Jugoslawien werden von Arbeitern verwaltet. Berlin 1950, 17.
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dessen werde es als gesamtgesellschaftliches Eigentum kollektiviert.364 Der singularisierende Begriff „Staat“ war dem sowjetischen Staatsbürokratismus verhaftet und verschwand deswegen aus der Rhetorik jugoslawischer Politiker. Er wurde durch den pluralisierenden und basisdemokratisch anmutenden Begriff der „Völker“ (narodi) bzw. der „Werktätigen“ (radnici) ersetzt. Im Referat auf dem Fünften Kongress der Kommunistischen Partei Jugoslawiens, der nach dem Ausschluss des Landes aus dem Kominform vom 21. bis zum 28. Juli 1948 tagte, betonte Kardelj, dass sich die Vereinigung der südslawischen Völker auf Basis ihrer Gleichberechtigung vom national konnotierten, bürgerlichen Begriff des Volkes abgelöst habe.365 Auch im Verfassungsgesetz über die Grundlagen der gesellschaftlichen und politischen Ordnung der föderativen Volksrepublik Jugoslawien und über die Bundesorgane der Gewalt von 1953, das als ein Dezentralisierungsprogramm mit der Stärkung einzelner Republiken, deren Parteien und Pressezentren anstieß, löst sich für Kardelj die nationale Frage auf – und zwar durch die Gleichberechtigung aller Werktätigen in der sozialistischen Produktionsweise.366 Das kollektive Eigentum sowie die Aufteilung des Nationaleinkommens nach dem Prinzip der ökonomischen Beihilfe an die Rückständigen unter den sechs Teilrepubliken hätten die einzelnen Nationen zu einer jugoslawischen Gemeinschaft zusammengeführt. Die individuelle Produktion und der überwiegend naturale Austausch verursachten zu Beginn der menschlichen Zivilisation den Zerfall der ursprünglichen Stämme und die Entstehung örtlicher gesellschaftlicher Gemeinschaften und feudaler provinzialer Gruppen bzw. Nationen. Die große kapitalistische Produktion und das Aufkommen eines weiten Warenmarktes und Geldverkehrs hatten das Entstehen moderner kapitalistischer Nationen zur Folge. Dem gegenüber bilden sowohl die sozialistische Produktion auf Grundlage des gesellschaftlichen Eigentums an Produktionsmitteln, als auch der Weltaustausch der Güter eine Voraussetzung für das Entstehen breiterer internationaler Gemeinschaften. Der Prozess des Werdens solcher Gemeinschaften bedeutet weder eine Verneinung der nationalen Sprachen noch eine Verneinung nationaler Elemente in der Kultur, wohl aber eine grundsätzlich neue Kategorie des gesellschaftlichen Entscheidungsprozesses. Noch mehr, die nationale Gleichberechtigung ist eine der wesentlichen Voraussetzungen für einen normalen Ablauf dieses Prozesses.367
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Vgl. auch: Kumer, Anton: Die Grundlagen des „nationalen Prinzips“ in Jugoslawien und seine Rolle im Prozess der Unabhängigkeitserlangung Sloweniens. Ein Analysenmodell (= Nomos Politik 105). Baden-Baden 1999, hier 180f. Kardelj, Edvard: Die kommunistische Partei Jugoslawiens im Kampfe für das neue Jugoslawien, für die Volksregierung und den Sozialismus. Referat auf dem V. Kongress der KPJ. Belgrad 1948, 29-35. Kardelj, Edvard: Verfassungsgesetz über die Grundlagen der gesellschaftlichen und politischen Ordnung der föderativen Volksrepublik Jugoslawien und über die Bundesorgane der Gewalt. Belgrad 1953, 27-31. Ebd., 29.
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In diesem Zustand sei der Begriff der Nation, so Kardelj, obsolet geworden. Nicht die Verschmelzung von Nationen, Sprachen und Kulturen sei als Grund dafür anzusehen, sondern vielmehr die Kollektivierung des Eigentums. Wenn wir also von einer einheitlichen sozialistischen jugoslawischen Gemeinschaft sprechen, so sind wir damit dennoch nicht zu Anhängern der konfusen Theorien von der Einheit der jugoslawischen Nationen in Form einer jugoslawischen Nation im alten Sinne des Wortes geworden. Würden wir uns mit solchen Plänen befassen, so würden wir sehr wenig Sinn für geschichtliche Tatsachen und für objektive Gesellschaftsgesetze an den Tag legen. Die alte und verrufene Theorie des sogenannten „integralen Jugoslawentums“ war und wird auch in Zukunft sowohl reaktionär als auch undurchführbar bleiben. Unsere sozialistische Gemeinschaft entwickelt sich nicht auf Grund nationalistischer Theorien über die Verschmelzung von Sprachen oder nationaler Kulturen. Sie ist auf dem gemeinsamen gesellschaftlichen Interesse aller werktätigen Leute ohne Rücksicht auf ihre nationale Zugehörigkeit begründet und ist deshalb auch gefestigter als irgendeine andere mögliche Gemeinschaft.368
In der Sozialistischen Volksrepublik Jugoslawien sei also eine sozialistische Gemeinschaft neuen Typs realisiert worden, in der „Sprache und nationale Kultur zum nebensächlichen Faktor werden“ und niemand mehr daran gehindert werde, „sich anderen werktätigen Leuten gleich zu fühlen, unabhängig davon welche Sprache sie sprechen“.369 Das ist also der Faktor, der die Gemeinschaft der jugoslawischen Nationen zur Gemeinschaft der jugoslawischen werktätigen Leute heranbildet und der es ermöglicht, dass sich jeder Werktätige mit Stolz einen Jugoslawen nennen kann, einen Angehörigen der jugoslawischen sozialistischen Gemeinschaft, ohne sich damit weder seiner nationalen Zugehörigkeit noch der Liebe zu seiner nationalen Sprache und Kultur entsagen zu müssen.370
Der ethnisch-politisch gefärbte Begriff der Nation verschwand hinter einem ethnographisch-folkloristischen Begriff des Volkes, der als Homonym narod sowohl Volk als auch Nation bezeichnet. Damit wurde der Unterschied zwischen den beiden bereits auf der sprachlichen Ebene nivelliert. Ebenso verwendete man auch den Begriff ljudstvo (Volk), der nicht zur Bezeichnung der Staatsnation verwendet wird, sondern eher für das „einfache“ Volk oder für die „Völker“ in folkloristischen Zusammenhängen steht. So wie Jugoslawien keine Staatsnation war, sondern sich nach „Völkern“ (narodi) und „Völkerschaften“ bzw. „Volkszugehörigkeiten“ – der Neologismus narodnosti als Bezeichnung für größere Minderheiten, wie z.B. für die KosovoAlbaner – organisierte,371 so versuchte man gesetzlich auch keine Staatsspra368 369 370 371
Ebd., 29. Ebd., 30. Ebd., 30. Zur Nationalitätenfrage in den 1950 und 1960er Jahren in Jugoslawien: Wachtel, Andrew Baruch: Making a nation, breaking a nation. Literature and cultural politic in
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che, sondern die gleichrangige Verwendung der verschiedenen Sprachen im öffentlichen Leben durchzusetzen.372 Auf der Ebene der Republik wurde demzufolge in allen Bereichen des Lebens die Sprache des dort lebenden Volkes verwendet. Auf der Bundesebene, in der Legislative und der Exekutive hatte jedoch das Serbokroatische den Vorrang. Auch Titos öffentliches Erscheinungsbild wurde dem postulierten jugoslawischen Volkscharakter angepasst.373 Die Rhetorik der „Selbstverwaltung“ verbarg die Gestalt des Herrschers und der Staatsbürokratie hinter dem Kollektivkörper des Volkes. Tito, Bauernsohn und Schlosser aus dem Volk, verschmolz mit ihm. In der Republika vom 27. Mai 1947 wurde er als „Mensch aus dem Volk“ bezeichnet, der „untrennbar mit den jugoslawischen Völkern verbunden“ sei. Er sei die „Verkörperung“ (otelotvorenje) der Volksbestrebungen und „Symbol ihrer geistigen, politischen und moralischen Einheit.“374 Ein Jahr später, am 25. Mai 1948, wurde dem Leser die Bedeutung des Staffellaufes (Titova štafeta) als Symbol für die „Verstärkung und Aufwärmung der Brüderlichkeit“ erläutert.375 In der Photographie wurde Tito mitten in seinem Volk, beim Besuch von Schulen und Fabriken gezeigt. Im Herrscherlied wurde seine Gestalt mit Land und Leuten verwoben. Im Vorwort zum Sammelband Tito in der Poesie von 1972 wird er als naturund volksnaher „Träger der Brüderlichkeit und Einheit“ bezeichnet.376 Aber auch in der künstlerischen Poesie ist Tito, wie sich ihn das Volk vorstellte, Freund der Menschen, der Kinder, der Pioniere. Er glaubt an die Unsterblichkeit des Volkes, wie das Volk an seine Unsterblichkeit glaubt. Tito ist Mutter, Vater und Bruder. Mit ihm unterhalten sich unsere Flüsse: Pliva, Neretva, Sutjeska und mit ihm werden Maiwünsche der Kinder und Mädchen geboren. Der Himmel ist blau wie Titos Augen, und er ist das Bewusstsein, die Stärke und unser Hunger nach Liebe. Er ist Vater der Freiheit und des Glücks für die Völker und sein Name enthält Liebe, Brüderlichkeit und Freude.377
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Yugoslavia. Stanford 1998, 139f; Gabrič, Aleš: Nacionalno vprašanje v Jugoslaviji v prven povojnem obdobju. In: Fischer, Jasna/Gabrič, Aleš/Gibianskii, Leonid J. u.a. (Hrsg.) 2004, 403-424; Dick, Christiane: Die bošjaštvo-Konzeption von Adil Zulfikarpašić. In: Digitale Osteuropa-Bibliothek. Geschichte 5. 2003. Die albanische Sprache, die zwei Drittel der Bevölkerung in der autonomen Provinz Kosovo sprachen, wurde nicht auf der Republik- bzw. Provinzebene verwendet. Zur Gewichtung einzelner Sprachen in Jugoslawien: Kumer 1999, 247ff. Zimmermann 2014. Republika Nr. 82 (27.05.1947), 1. Republika Nr. 134 (25.05.1948), 1. Humo, in: Tahmiščić (Hrsg.) 1972, s.p. Ebd., s.p. „Pa i u umjetničkoj poeziji Tito je onakav kakvog ga je narod zamišljao, prijatelj ljudi, djece i pioniera. Vjeruje u besmrtnost naroda, kao što narod vjeruje u njegovu besmrtnost. Tito je majka, otac, brat. S njime razgovaraju naše rijeke: Pliva, Neretva, Sutjeska i rađaju se majske želje djece i djevojaka. Nebo je plavo, kako oči
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Wie in der Sowjetunion,378 so trat auch in Jugoslawien die Ethnographie in den Dienst der neuen multinationalen Ideologie. Beide sahen die Völker in den verschiedenen Regionen ihres jeweiligen Landes auf dem gemeinsamen Weg des kommunistischen Fortschritts, der sie aus der feudalen Rückständigkeit hinausführe. Während regionale Traditionen in der Sowjetunion jedoch stets als ein störendes Überbleibsel des Feudalismus wahrgenommen wurden, wurde in Jugoslawien nicht nur das bäuerliche Volkstum, sondern auch die geschichtliche Dimension des Folklorismus aufgewertet. So widmete sich der sechste Kongress der Folkloristen Jugoslawiens im Jahre 1959 in Bled der Widerspiegelung des Befreiungskampfes der jugoslawischen Völker in der Folklore. Dušan Nedeljković preist in seinem Beitrag die Volkskreativität zur Zeit der Volksrevolution, des Befreiungskampfes und des Aufbaus des Sozialismus in Jugoslawien.379 Erst nach fünfzehn Jahren systematischen Sammelns und Auswertens könne man die große schöpferische Kraft erkennen und den vollen Umfang des Volksliedes (insgesamt gab es über 20.000 Lieder) einschätzen. Nach dem Krieg, behauptet der Autor, habe das Volkslied durch den Streit mit dem Kominform und durch sozialistische Großprojekte (z.B. der Bau der Eisenbahnstrecke Brčko-Banovići oder des Stadtteils Neues Belgrad) einen neuen Impuls erhalten. Das Volkslied habe daher immer die aktuellsten Fragen der Revolution aufgegriffen und bliebe immer „aktuell“ und „parteinah“. Andere Autoren analysierten Tito- und Parteilieder in verschiedenen Phasen des Kampfes sowie in verschiedenen Republiken, einschließlich im Kosovo bei den Kosovo-Albanern − allerdings ohne zwischen Volks- und Propagandaliedern zu unterscheiden. Die Massenbeteiligung bzw. Massenansprache wird auf diese Weise mit dem Volk gleichgesetzt, an deren Spitze die Partei steht. Um den Zusammenhalt des neuen multinationalen Chronotopos zu gewährleisten und ihn zugleich nach außen abzuschotten, wurde ein Kulturprogramm entworfen, das sowohl zentripetal als auch zentrifugal ausgerichtet war. Das integrative, zentripetal ausgerichtete Programm der kommunistischen „Brüderlichkeit und Einheit“ sollte die ethnischen, religiösen und kulturellen Unterschiede zwischen den Völkern Jugoslawiens nivellieren und letztlich abschaffen. Parallel dazu wurde ein desintegratives, zentrifugales
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Tita, a on je savjest i jakost i naša glad za ljubavlju. On je otac slobode i sreće za narode, a samo mu ime sadrži ljubav, bratstvo i sreću.“ Zur Ethnologie und zu ethnographischen Ausstellungen in der Sowjetunion: Hirsch, Francine: Getting to Know „The Peoples of the USSR“: Ethnographic Exhibits as Soviet Virtual Tourism, 1923-1934. In: Slavic Review 62/4 (Tourism and Travel in Russia and the Soviet Union) (2003), 683-709. Nedeljković, Dušan: Narodno stvaralaštvo u periodu narodne revolucije, oslobodilačkog rata i izgradnje socijalizma Jugoslavije. In: Rad Kongresa folklorista Jugoslavija VI. – Bled 1959. Hrsg. Zmaga Kumer. Ljubljana 1960, 137-164.
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Programm der Pflege folkloristischer Gegensätze propagiert, das die inneren Antagonismen zu bloß ästhetischen Kontrasten herunterspielen sollte. Ivo Vadnjal, ein nach Buenos Aires emigrierter Slowene, beobachtet in seinem Artikel „Probleme jugoslawischer Vereinigung“, der 1955 in der Emigrantenzeitschrift Svobodna Jugoslavija in München erschien, zudem wie die Kontraste zwischen den jugoslawischen Völkern von der Reiseagentur Putnik als touristisches Lockmittel eingesetzt wurden. Der Prospekt begründet – durchaus originell – die Anziehungskraft Jugoslawiens damit, dass er es als Land der Kontraste präsentiert. Die Kontraste fand und betonte der Prospekt nicht nur in der Schönheit der Landschaft (die Slowenischen Alpen gegenüber der Küste Dalmatiens, die ertragsreiche Ebene der Vojvodina gegenüber dem Karst an der Krka und ihren Höhlen usw. usw.), nicht nur in den Denkmälern der Vergangenheit (das Zusammentreffen der römischen und byzantinischen Zivilisation auf unserem Boden, die altslawische Kultur, die Invasion des Islam), sondern auch in den Menschen, in ihrem Charakter, in ihren Traditionen, Bräuchen, in ihrer Folklore und, ja, auch in ihrem Glauben. Alle jene Quellen und Ursachen unserer inneren Antagonismen, die während der gesamten Dauer des ersten Jugoslawiens und im Zweiten Weltkrieg unter uns so viel heißes Blut hat aufwallen lassen, hat der Prospekt, soweit der Umfang es erlaubt hat, offen gelegt. Er stellte die Antagonismen sogar vor der ganzen Welt bloß, vergrößerte sie irgendwie auf eine poetische Art und machte sie als „Kontraste“ der touristischen Propaganda dienstbar.380 […] Jedwede nationale Besonderheit, sei sie kulturell, philologisch, folkloristisch usw., hat für ihn [den Kommunismus] nur die Bedeutung des Lokalkolorits; und nichts mehr.381
Seit den 1950er Jahren erschienen in Jugoslawien und im Ausland zahlreiche Bildbände mit Kunstphotographien, die das kontrastreiche Land zusehends in eine Postkarte transformierten. So teilt Arnold Schulz im Begleitwort zum illustrierten Buch Jugoslawien. Ein Bildwerk (1960) das Land nicht in unterschiedliche geographische Regionen, sondern ordnet es vielmehr formal nach kontrastreichen photographischen Motiven. 380
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Vadnjal, Ivo: Problemi jugoslovanskega zedinjenja. In: Svobodna Jugoslavija. Kulturno-politična revija I/3. München 1955, 5-18, hier 5. „Prospekt je – vsekakor orignalno – privlačnost Jugoslavije baziral na tem, da je ona dežela kontrastov. Kontraste je ta prospekt našel in poudarjal ne le v pokrajinskih lepotah (Slovenske Alpe napram dalmatinski obali, plodovita vojvodinska ravan napram krškemu Krasu in njegovim jamam itd. itd.), ne samo v spomenikih preteklosti (srečanje rimske in bizantinske civilizacije na naših tleh, staoslovanska kultura, invazija Islama) temveč v ljudeh, v njihovem značaju, tradicijah, običajih in šegah, v njihovi folklori in, da, tudi v njihovem verovanju. Kolikor mu je pač dovoljeval obseg, je ta prospekt privlekel na dan, jih razgalil pred vsem svetom im morda celo nekako poetično povečal vse tiste izvore in razloge naših notranjih antagonizmov, ki so toliko hude krvi povzročili med nami ves čas prve Jugoslavije in druge svetovne vojne, ter jih kot ‚kontraste‘ postavili v službo turistične propagande.” Ebd., 8. „Kakršnakoli narodna posebnost, kulturna, filološka, folklorna itd. Ima zanj le vrednost lokalnega kolorita in nič več.“
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Jugoslawien ist ein Land voller Seltsamkeiten und Gegensätze. Moscheen, moderne Hochhäuser, Barock- und Renaissancepaläste, Alpenschlösser und halbzerfallene Burgen, römische Amphitheater und türkische Wehrtürme, verträumte Dörfchen und moderne Städte, Adriapalmen und weite Tabakfelder – alles zieht auf dieser Fahrt in buntem Wechsel am Besucher vorüber. Die überraschenden Unterschiede der landschaftlichen und kulturellen Eindrücke üben einen besonderen Reiz auf die Fremden aus: Für sie gleicht Jugoslawien oft einem Traumland.382
Die photographische Montage disparater Motive zu einer ästhetischen Einheit zerstört den Realitätsbezug zum Land, das dem Betrachter vielmehr als unwirkliches „Traumland“ vorkommt. Jugoslawien erstarrt folglich zum bunten, zeitlosen Bildwerk und wird als solches wahrgenommen. Das ist vielleicht der beste Vergleich: wer nach Jugoslawien kommt, der blättert hier gleichsam in einem alten, vergilbten Album, nur die letzten Seiten muss jemand mit Erinnerungen unserer Tage beklebt haben. […] Und die ersten Blätter dieses Albums: Im Norden die Ausläufer der Alpen, im Westen die adriatische Küste mit dem Karst dahinter. Die Moscheen im Süden gleichen dagegen einem Märchen aus „Tausendundeiner Nacht“. Anders der Osten mit seinen weiten Ebenen und dem „Eisernen Tor“. Überall aber als bunte Farbtupfer die Trachten eingestreut. Das alles ist Jugoslawien – ein Reiseland, wie es sich viele erträumen.383
Auf ein Photoalbum visueller Reize reduziert, eignet sich das Land für alle möglichen Projektionen. Für die Abenteurer besteht es nach wie vor aus geheimnisvollen Bergen und Schluchten, für die Liebhaber der guten Küche ist es ein abwechslungsreiches Schlaraffenland, für die Nostalgiker ein fern von der Zivilisation gelegener Ort des Archaisch-Ursprünglichen und für die breiten Touristenmassen verspricht es eine kleine Weltreise. Ab 1949 gab Oto Bihalji-Merin zweimal jährlich die prächtig illustrierte, großformatige Zeitschrift Jugoslavija heraus – zuerst in drei, später sogar in fünf Sprachen: auf Serbokroatisch, Englisch, Deutsch, Französisch und Russisch. Als eine Mischung aus Propaganda, Reiseführer und Kunstzeitung, ausgestattet mit zahlreichen Schwarzweiß- und Farbphotographien sowie Reproduktionen, warb sie im In- und Ausland für den „dritten Weg“. Bis zu ihrer Einstellung im Jahre 1959 erschienen achtzehn aufwändige und prachtvoll illustrierte Hefte. Einige von ihnen wurden zusätzlich von speziellen Kunstmappen begleitet.384 Die erste Ausgabe von 1949 bietet einen Über382 383 384
Schulz, Arnold: Jugoslawien. Ein Bildwerk. Aufnahmen. München-Pullach, s.t. [um 1960], s.p. Ebd., s.p. Die Kunstmappen enthielten Reproduktionen der Fresken aus Sopoćani, der Ikonen von Ohrid, der jüdischen Miniaturmalerei aus Bosnien, der Antikensammlung des Nationalmuseums in Belgrad, der serbischen Volkstrachten, der Fresken aus Istrien, der Gemälde Petar Lubardas von der Schlacht auf dem Amselfeld, der Trachten und Ornamente der jugoslawischen Völker, der Volkskunst aus Serbien, der archäologischen
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blick über das ganze Land unter Titos Führung. Es präsentiert sich darin als farbenfrohes Mosaik der Völker, Landschaften und Traditionen: Jugoslavia is, from a national point of view, a mosaic-country. Five free nations live on her territory of only 256.589 square kilometres, firmly linked together, but each heaving its own past, culture and traditions. Nature herself, like a sculptor moulding a relief, has formed the diversity of this country.385
Multinationalität verschmolz mit geographischer Vielfalt. Das jugoslawische Territorium wurde intensiven Semiotisierungsprozessen unterworfen, vergleichbar mit denen, die bei der Ausdehnung der imperialen Ansprüche Russlands oder Amerikas beobachtet wurden.386 Die Schönheit der Natur, der Reichtum an Bodenschätzen, der Fleiß des Volkes und die schnelle Industrialisierung führten unter der Führung Titos zum Aufschwung der Wirtschaft, des Sozialwesens und der Künste. Einige Hefte der Zeitschrift wurden einzelnen Republiken gewidmet – Slowenien (1950), Makedonien (1951), Bosnien und der Herzegowina (1953), Montenegro (1954), Kroatien (1956) und Serbien (1957) – deren Geschichte und Kultur im Lichte der sozialistischen zur ‚Erlösung‘ des Volkes wurden. Dabei scheinen sie – obwohl sie verschiedenen Kulturkreisen angehörten – eine ununterbrochene, stets eigenständige Entwicklung durchlaufen zu haben. Durch die landschaftlichen Gegensätze (Berge und Ebenen, Industrielandschaft und Nationalparks) und die folkloristische Vielfalt (Ornamente, Trachten, Tänze, Lieder) werden religiöse und ethnische Antagonismen sublimiert. Berge reimen sich auf diese Weise mit Ebenen und mit dem Meer, Fabriken mit der Architektur der Antike und der Renaissance (Abb. 52, Abb. 53), die Trachten und Tänze der nördlichen Republiken mit denen der südlichen, die Physiognomien des Nordens mit denen des Südens (Abb. 54, Abb. 55), die traditionellen Berufe wie Fischer, Hirte, Weberin und Baumwollpflückerin mit den neuen des Bauarbeiters, Schweißers und der Telefonistin (Abb. 56, Abb. 57) sowie letztlich die frühchristlichen Mosaike, die mittelalterlichen Fresken und die bosnischen Grabsteine der Bogomilen mit der Kunst der naiven Bauernmaler im 20. Jahrhundert.
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Ausgrabungen aus der Zeit der Illyrer sowie der jugoslawischen Skulptur des 20. Jahrhunderts. Anonym: Yugoslavia. In: Yugoslavia. Illustrated magazin 1 (1949), 3-11, hier 3. Bassin, Mark: Imperial Visions. Nationalist imagination and geographical expansion in the Russian Far East, 1840 – 1865. Cambridge u.a. 1999; Scott, David: Semiologies of Travel. From Gautier to Baudrillard. Cambridge 2004, 110-160.
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Abb. 52: M. Grčević, Die Überreste der Kuppel des Vestibuls, Diokletian-Palast in Split, 1950.
Abb. 54: Julija Gril-Dabac, Dudelsackpfeifer von der Insel Rab, 1951.
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Abb. 53: S. Smolej, Wassertunnel bei Moste, 1950.
Abb. 55: Tošo Dabac, Montenegrinerin aus Centinja, 1952.
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Abb. 56: M. Pfajfer, Neue Elektromaste, 1950.
Titos „dritter Weg“
Abb. 57: M. Pavić, Ohrider Fischer besichtigen ihre Netze, 1952.
Das Nationale wird so durch das Volkstümliche überwunden und geht in der Folklore auf. Religiöse und ethnische Konfliktpotenziale werden zu einer positiv gewerteten, folkloristischen Mannigfaltigkeit ästhetisiert, wie es etwa der Schwerttanz der Kosovo-Albaner zeigt (Abb. 58).
Abb. 58: P. Karamatijević, „Kampf um das Mädchen“. Schwertertanz aus der Rugova Schlucht, Kosovo, 1952.
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Gerade dem Tanz als einer nichtsprachlichen Ausdrucksweise fällt dabei eine eminente Rolle zu. In ihm sieht man den Ausdruck für den Charakter des Volkes, sein Denken, seine Sorgen und Wünsche sowie aller wichtigen Ereignisse seines Lebens.387 Der Kreistanz kolo avanciert zu wichtigsten Metapher der „Brüderlichkeit und Einheit“ Jugoslawiens. In Presterls Reisebericht 2000 km durch das neue Jugoslawien (1947) durchzieht das Motiv des Tanzes nicht umsonst die Beschreibung der jugoslawischen Republiken.388 Im Kreistanz werden die Völker wie Brüder und Schwestern zusammengeführt. Auch der reisende Fremde, der österreichische Kommunist, wird ein Glied dieser bunten Kette, die sich um Tito windet: „Schöne Kololieder sind im Kriege entstanden, eine ganze Titolegende. Volkshelden werden besungen, sowie die Leistungen tapferer Frauen.“389 Alle Kommunisten der Donau- und Balkanländer finden noch 1947, als Tito eine Balkan-Föderation plante, im Kolo zusammen. Nach 1948 wurde diese sozialistische Idylle auf die Völker Jugoslawiens begrenzt, doch ab 1956 mit der Bewegung der Blockfreien auf die Kontinente Asien und Afrika ausgedehnt. Unter dem Banner des Folklorismus wurden stets nicht nur nationale, sondern auch soziale Gegensätze eingeebnet – so letztlich auch das Gefälle zwischen Industriestaaten und Entwicklungsländern. Dubravka Ugrešić setzt sich in ihren Essays Kultur der Lüge (1991-95) angesichts des Bosnien-Krieges mit dem „Titoismus“ auseinander. Sie schreibt darin, dass die neue Ideologie einen „(scheinbaren oder wirklichen) Internationalismus“ implizierte –„selbst wenn nur er, Tito, reiste und wir die Pressephotos aus fernen Ländern bewunderten“. „Brüderlichkeit und Einheit“ seien das Motto dieses real-imaginären Internationalismus. Es schien „einen gemeinsamen Kulturraum“ und „einen (scheinbaren oder wirklichen) Antistalinismus“ zu beschreiben.390 Im Kolo sieht sie das wichtigste Symbol der titoistischen Begriffe der Brüderlichkeit, Einheit und Folklore verwirklicht. Das wichtigste Symbol ist der Kolo, der jahrelang bei Staatsfeierlichkeiten dargeboten wurde. Am Kolo beteiligten sich die Vertreter der Völker und Nationalitäten Jugoslawiens in ihren Trachten. Alle tanzten einträchtig die Tänze aller. Dieser Kolo – ein für Gebildete wie Analphabeten verständliches symbolisches Bild Jugoslawiens – hat sich heute in sein Gegenteil verkehrt, in eine Todesschlinge.391
In den späten 1980er und frühen 1990er Jahren, als der Nationalismus aufkam und sich in den Medien der Zerfall Jugoslawiens bereits abzeichnete, sind gerade diese Symbole zur Zielscheibe der Parodie und der Karikatur geworden. 387 388 389 390 391
Čubelić, Tvrtko: Plesovi naroda Jugoslavije. In: Jugoslavija VI (1952), 2-19. Presterl 1947, 11, 15, 19, 31, 36. Ebd., 19. Ugrešić, Dubravka: Die Kultur der Lüge. Aus dem Kroatischen von Barbara Antkowiak. Frankfurt a.M. 1995, 14. Ebd., 74.
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3.4.2. Im Reigen der Geschichte Indem das sozialistische Jugoslawien an die mittelalterlichen Antizipationen des „dritten Weges“ anknüpfte, konnte das Vergangene positiv bewertet werden. Durch die Auffassung des eigenen Ursprungs als Quelle der Schöpfung konnten die kulturellen Verbindungen zum Osten und Westen, die seit dem Mittelalter bestanden, verschleiert werden. Die jugoslawische Kultur präsentierte sich deshalb nicht mehr als Derivat von oder als Hybrid aus Ost und West, sondern als die Wiege der europäischen Zivilisation. Mit Hilfe dieses neuen Selbstbewusstseins, das sich in der Überzeugung niederschlägt, nicht nur in einem schönen, sondern auch in einem traditionsreichen Land zu leben, wo Vergangenheit und sozialistische Gegenwart ineinander über- bzw. aufgehen, wurde der neue jugoslawische Patriotismus gestärkt.392 Wir sind Patrioten, weil wir ein so schönes und reiches Land haben, so allseitig begabte und zu allem fähige Völker (narode). Wir sind Patrioten, weil wir den Sozialismus aufbauen und weil wir im Kampf für unsere Freiheit und unser Glück zugleich auch für die Freiheit und das Glück der Menschheit kämpfen.393
Auf dem dritten Kongress der jugoslawischen Schriftsteller 1952, auf dem das Ende des sozialistischen Realismus in Jugoslawien besiegelt wurde, sprach Krleža sogar von einer Interferenz von sechs Jahrhunderten zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart: „Wie sollten wir unsere Wirklichkeit beschreiben, wenn nirgendwo auf der Welt das passiert, was bei uns vor sich geht, wo sich im Rahmen einer jeden Erscheinung Kreise von sechs Jahrhunderten synchron durchdringen […]“.394 Von jugoslawischen Schriftstellern und Künstlern verlangt er ferner, an dem Aufbau einer neuen Zivilisation des Volkes zu partizipieren, die sich von der eigenen Geschichte leiten lassen solle. Der sozialistische Aufbau verlangt nach einem kühnen sozialistischen Bewusstsein, aufgebaut auf der bereicherten Erinnerung an seine eigene Geschichte. Diese beweist uns durch eine Menge zahlloser Argumente, dass unser sozialistischer Weg der einzig richtige ist. Nur durch sozialistische Gleichberechtigung, ohne privilegierte Klas-
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Kranjec, Miško: O kulturnom jedinstvu. In: Književne novine 18 (15.06.1948), 3. Đilas, Milovan: Ekspoze ministra Milovana Đilas o razvitku kulturnog života u Jugoslaviji. In: Književne novine 11 (27.04.1948), Titelseite: „Mi smo patrioti što imamo tako divnu i bogatu zemlju i tako svestrano obdarene i za sve sposobne narode. Mi smo patrioti zbog toga što izgrađujemo socijalizam, što se – boreći se za svoju slobodu i izgradujući svoju sreću – istovremeno borimo se i za slobodu i sreću čovječanstva.“ Krleža 1988, 9. „Kako bismo mogli da opišemo našu stvarnost kada se nigdje na svijetu na zbiva to što se zbiva kod nas, gdje se u okviru svake pojave sinkrono prožimaju krugovi od šest stoljeća […].“
Der „dritte Weg“ als doppelte Negation
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se, auf volkstümlicher, demokratischer Grundlage, kann man eine Zivilisation aufbauen, die würdig ist, Zivilisation des Volkes genannt zu werden.395
Er fordert die Autoren auf, zu „Sammlern und Archivaren“ des kulturellen Bewusstseins Jugoslawiens zu werden. Ihre Aufgabe sei es, die in den Kriegen zerstreuten und beinahe verschwundenen Elemente der jugoslawischen Kultur zu einer Synthese zusammenzuführen. In diesem Sammeln „atomisierter Fragmente“ der Geschichte sollten die Spaltungen zwischen den Völkern und den Zeiten überwunden werden, die regionalen Ausprägungen jedoch sichtbar bleiben. Das ganze politische, kulturelle und intellektuelle Bewusstsein zu versammeln, das nach Jahrhunderten der Niederlagen heute zerstreut und verkleinert in zahlreichen und isolierten Regionalismen existiert, alle nötigen Elemente in einer Synthese zu vereinen, die nicht der Kult der romantischen Phrasen sein wird, sondern eine wahrhafte dichterische Darstellung der Fakten, der riesigen Masse der imposanten kreativen Energie einen programmatischen Rahmen zu geben, die ganze Tragik unserer eigenen Spaltungen und wechselseitigen Negationen darzulegen – das müsste unsere grundlegende Mission sein.396
Die Propagandazeitschrift Jugoslavija setzte das Verfahren der konfliktlosen Verschmelzung des Verschiedenen nicht nur auf der Ebene des Gesamtkonzepts, sondern auch auf der Ebene einzelner Text- und Bildnarrative ein. So stehen Photos des antiken Diokletian-Mausoleums und des Reliefs Arbeit und Jugend (1948) der sozialistischen Nachkriegsbildhauer Zdenko Kalin und Karel Putrih nebeneinander (Abb. 59). Nur ein erfahrenes Auge kann den Unterschied bemerken. Die Skulptur des jugoslawischen sozialistischen Realismus wird auf diese Weise nicht mehr in den Rahmen des sowjetischen sozialistischen Realismus gestellt, wie vor 1948, sondern als ein vergrößertes Fragment der antiken Skulptur präsentiert. Das Mausoleum und das Relief verbinden sich im Sinne der Antizipation miteinander.
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Ebd., 80. „Socijalistička izgradnja traži smionu socijalističku svijest, izgrađenu na obogaćenom pamćenju svoje vlastite historije koja nam bezbrojnom množinom argumenata dokazuje da je naš socijalistički put jedino ispravan. Samo socijalističkom ravnopravnošću, bez privilegirane klase, na pučkoj, demokratskoj osnovi, može se graditi civilizacija koja je dostojna da je zovemo ljudskom.“ Ebd., 48. „Sakupiti svu političku, kulturnu i intelektualnu svijest danas raspršenu i usitnjenu poslije vjekovnih poraza po mnogobrojnim i izoliranim regionalizmima, sabrati sve potrebne elemente u sintezi koja ne će biti kult romantičnih fraza, nego istinit pjesnički prikaz fakata, dati ogromnoj masi impozantne stvaralačke materije programatski okvir, objasniti i protumačiti svu tragičnost naših vlastitih raskola i uzajmnih negacija, to bi trebalo da bude našom osnovnom misijom.”
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Abb. 59: N. Štiler, Unter der Kuppel des Diokletian-Mausoleums und Zdenko Kalin/Karel Putrih, 1950.
Auch der begleitende Text von Oto Bihalji-Merin, „Die Heimkehr des Diokletian“ (1950), stellt eine zeitenthobene Synchronie des Asynchronen her. Der Diokletatianspalast in Split, in dessen Mauern sich die Einwohner der Stadt eingerichtet haben, dient als Ort der Zusammenkunft der Zeiten. Antike Gebäude und Renaissancepaläste, Tempel heidnischer Götter und Basiliken stehen nebeneinander. Rom und Venedig meißelten am steinernen Gesicht dieser Stadt. Und die großen slawischen Architekten und Bildhauer Juraj Dalmatinac und Andreja Buvina. Das Volk, das von den Bergen hinabgestiegen war mit seinen Waffen, Bräuchen und Liedern, war slawisch. Und die Fischer in den leise tanzenden Segelbooten, deren Flanken mit silbergrau blinkenden Fischen gefüllt sind, mit graugrünen Melonen, Feigen und Oliven und die Händler auf dem Markt im Schatten der Mauer des Diokletian-Palastes sind slawische Fischer und Bauern. Sie waren es, die die Partisanengruppen bildeten, sich auf den Höhen sammelten und in opferbereiten Aktionen Land und Heimat gegen die Soldateska des Faschismus verteidigten.397
Dasselbe Volk der Bauern und Fischer, das den Diokletianspalast vor Jahrhunderten besiedelte, habe also auch am Partisanenkampf teilgenommen. Auch im Reisebericht Bihalji-Merins findet man dieselbe Art der Parallelisierung des Alten und des Neuen. Dort setzt er die Kuppeln der Hochöfen im bosnischen Zenica mit herausragenden Bauwerken verschiedener Hochkulturen gleich – mit den chinesischen Pagoden, den ägyptischen Pyramiden, dem griechischen Parthenon und sogar mit dem Petersdom in Rom. 397
Bihalji-Merin, Oto: Die Heimkehr des Diokletian. In: Jugoslawien. Illustrierte Zeitschrift. Hrsg. Oto Bihalji-Merin. (Herbst 1950), 107-113, hier 107f.
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Sehen Sie die Hallen und die Cowpers. Sie erheben sich in kubistischem Pathos aus den Urwäldern und der Unwissenheit. Sind sie weniger schön als die Pagoden und Pyramiden der Vergangenheit? Vielleicht sind sie für die kluge und herzlose Zeit unseres Jahrhunderts genauso charakteristisch wie der Parthenon für die Griechen des fünften Jahrhunderts. […] mächtig wölbt es sich über uns wie die Kuppel einer Kathedrale. […] „Ist etwa die Kuppel der Peterskirche, unter der die Litaneien der Heiligen gesungen werden, bewundernswürdiger?“, sagt der Direktor und zwinkert mir fröhlich-selbstbewußt zu.398
Das jugoslawische Konzept der Antizipation verschmolz verschiedene Zeiten und ihre Zeugnisse in Propagandabroschüren und Prospekten zu einer ästhetischen Einheit der Völker und der Geschichte.
4. Jugoslawien als Kippbild 4.1. Die Häresie innerhalb der Häresie Vom fernen Argentinien aus kritisierte der slowenische Emigrant Ivo Vadnjal die Aktualisierung der Bogomilensekte zu politisch-ideologischen Zwecken des „dritten Weges“ und ihre Parallelisierung mit dem Titoismus. Er erkannte darin eine neue Strategie des jugoslawischen Kommunismus, einerseits die Säkularisierung des Landes voranzutreiben und andererseits das Bogomilentum als eine Art Ersatzreligion zu installieren. So konvenierte ihm [dem Kommunismus] die „Wiederentdeckung“ des Bogumilentums, weil es den Widerstand unseres Volkes gegen die kirchlichen Ingerenzen aus dem Ausland darstellt und ist also eine Art (an den Haaren herbeigezogene) Parallele zu Titos Auseinandersetzung mit dem Vatikan. Außerdem ist das Bogumilentum ein ausgestorbener Glaube, der keinen mehr infizieren kann.399
Die Kritik kam jedoch nicht nur von den Gegnern des Kommunismus, sondern stammte auch aus den eigenen Reihen. Parallel zur Etablierung des Bogomilen-Mythos tauchte innerhalb der kommunistischen Partei bereits eine neue ‚Häresie‘ auf: Im August 1950 erschien in der Zeitschrift Književne novine (Literarische Neugkeiten) unter dem Titel „Häretische Geschichte“ („Jeretička priča“) eine politische Satire des Partisanenschriftstellers Branko Ćopić. Der Autor thematisiert darin eine andere Art der Ketzerei – nämlich Erscheinungen kapitalistischen Konsums innerhalb des 398 399
Bihalji-Merin 1955, 220, 225. Vadnjal 1955, 8. „Tako mu je na pr. konveniralo „ponovno odkritje“ bogomilstva, ker ono oličuje upor našega naroda napram cerkvenim ingerencijam iz tujine in je torej nekaka (za lase privlečena) paralela Titovega spora z Vatikanom; poleg tega da je bogumilstvo izumrla vera, ki ne more več okužiti nikogar.”
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jugoslawischen Kommunismus.400 Der Ort der Handlung ist eine luxuriöse, von einer hohen Mauer umgebene und von ihrer Umwelt abgetrennte Villa an der adriatischen Küste. Dort darf sich die neue sozialistische Oberklasse – Minister, Generäle und Direktoren mit ihren Verwandten und Geliebten – erholen. Allen anderen, sogar den mit Orden ausgezeichneten Sturmarbeitern (udarnici), bleibt diese elitäre Idylle verschlossen. Diese neuen ‚Häretiker‘ grenzen sich also nicht nur von Ost und West ab, sondern auch vom eigenen Volk. Aus den gelangweilten Gesprächen der Privilegierten geht hervor, dass sie sich vom Volk längst entfremdet haben. Sie verbringen ihr Leben in dekadenten Ausschweifungen und im Träumen von noch höheren Posten. Drei beigefügte Karikaturen von Žuko Džumhur pointieren diese Satire: Die erste zeigt die von Langeweile verzerrten Gesichter der obersten Kader (Abb. 60), die zweite illustriert aus der Vogelperspektive ihren Aufenthaltsort, den ummauerten hortus conclusus (Abb. 61), die dritte bildet schließlich eine schicke Limousine ab, mit der die neue Oberklasse in die Stadt fährt (Abb. 62).
Abb. 60-62: Žuko Džumhur, Illustrationen zu Branko Ćopićs „Häretische Geschichte“, 1950.
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Ćopić, Branko: Jeretička priča. In: Književne novine. Organ Saveza književnika Jugoslavije 3/34 (22.08.1950), 2, 3.
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Mit dem Topos des sozialistischen Hedonismus wurde ein weiteres Element aufgegriffen, das die Verfolger des Bogomilentums diesem schon im Mittelalter zugeschrieben hatten – die hedonistische Ausschweifung und freie Liebe.401 So mythologisierten bereits der parodistische Roman Franz Josef Xaver von Königsbrunn-Schaups Die Bogomilen (Dresden 1895) und Jasna Belovićs sittengeschichtliche Studie Das Liebesleben auf dem Balkan (Dresden 1927) die sinnliche Liebe in Bosnien nicht als orientalisches, sondern als bogomilisches Erbe der dualistischen Weltanschauung. Die jugoslawische Zensur reagierte heftig auf die systemkritische Satire des bosnischen Schriftstellers. Der Kritiker Dušan Popović warf in einer der folgenden Ausgaben der Zeitschrift dem Autor und dem Karikaturisten vor, ein „Falsifikat“ produziert zu haben, das den sozialistischen Widerspiegelungstheorien nicht standhalten könne.402 Durch welches Land zieht Ćopić, was für Menschen trifft er? […] Das ist eine erfundene Welt Ćopićs, das ist eine gesellschaftliche Realität, die es nicht gibt, verzerrte Beziehungen zwischen Menschen, Figuren, die wir nirgendwo treffen. Diese Realität wäre sogar in einem kurzen Traum unerträglich!403
Ćopićs Land ist keine Utopie des „dritten Weges“ mehr, sondern eine Dystopie.404 Das verzerrte Bild, dem das Wiederspiegelungspostulat abgesprochen wird, wird dennoch als Spiegelbild erkannt. Die Satire, die sich gegen die Menschen richtet, die angeblich „alles für den Sozialismus gegeben hätten“,405 wird mit einem „Fluch“ (kletva) verglichen, mit dem der Autor angeblich sowohl die antikommunistische Propaganda des Westens als auch die antikapitalistische Agitation der Sowjetunion unterstütze.406 Wie in der Sowjetunion Ende der 1920er Jahre der führende Kritiker der frühen Stalin-Zeit, Leopol’d Averbach, die Satire verurteilte,407 so fragt sich auch der jugoslawische Kritiker, ob man dieses Genre überhaupt braucht. In der Sowjetunion warf man dieser Gattung vor, auf der inhaltlichen Ebene feindselige kleinbürgerliche Elemente zu pflegen sowie formal mit einer unerwünschten Doppeldeutigkeit zu arbeiten. Die kritische Erzählung Ćopićs wurde folglich in Jugoslawien zur Ketzerei erklärt – und damit zur Häresie innerhalb der Häresie. 401 402 403
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Stoyanov 2000. Popović, Dušan: Klevetička satira. In: Književne novine. Organ Saveza književnika Jugoslavije 3/48 (1950), 2f. Ebd., 5. „Ne, to je nekakav izmišljeni Ćopićev svet, to je društvena stvarnost koja ne postoji, izvitopereni odnosi među ljudima, likovi koje nigde ne srećemo – ta njegova stvarnost’ bi i u kratkom snu bila neizdržljiva! Ebd., 5. Ebd., 5. Ebd., 5. Vgl. Averbach, Leopol’d: O celostnych masštabach i častnych Makarach. In: Oktjabr’ 11, 1929, In: Natal’ja Kornienko/Elena Šubina (Hrsg.): Andrej Platonov. Vospominanija sovremennikov. Materialy k biografii. Moskva 1994, 256-265.
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Obwohl Ćopićs Kurzgeschichte in keine der Gesamtausgaben des Autors einging und der Autor bis zu seinem Selbstmord im Jahre 1984 vom Geheimdienst überwacht wurde, nahmen die jugoslawischen Ideologen bald auch diese kritische Debatte auf, um sie in eine positive, identifikatorische Denkfigur zu kippen. Die amerikanischen Kredite nach Titos Bruch mit Stalin ermöglichten schließlich die Bildung einer neuen Konsumkultur unter den Bedingungen des Sozialismus. Diese wurde – so Branislav Dimitrijević – zu dem signifikanten Merkmal des „dritten Weges“, bei dem die Produkte nicht mehr vom Arbeitsaufwand getrennt seien.408 Die Konsumwaren wurden einerseits zum distinktiven Merkmal gegenüber dem Ostblock, ihr Vorhandensein unter den Bedingungen des ‚humanen‘ jugoslawischen Sozialismus andererseits zum distinktiven Merkmal gegenüber dem ausbeuterischen Kapitalismus des Westens. So erscheinen in den jugoslawischen Spielfilmen der 1950er und 1960er Jahre oft westliche Konsumprodukte, die im sozialistischen Kontext jedoch ein positives Vorzeichen der Arbeiterbefreiung erhalten. Ein Beispiel hierfür ist Ljubomir Radičevićs Liebe und Mode (Ljubav i moda, 1961), in dem eine Werbung für das italienische Motorrad Lambretta zitiert wird, auf dem ein hübsches, emanzipiertes Mädchen durch die Stadt fährt. Allerdings wird dabei der Warenfetischismus sowohl des Produktes als auch des Werbebildes verkannt. Die zur Schau gestellte Ware wird, so Dimitrijević, sorgfältig ausgewählt, damit sie nicht mit dem sozialistischen Wertesystem in Konflikt gerät. Der emanzipatorische, motorisierte Aufbruch des Mädchens aus der traditionellen häuslichen Umgebung in die Großstadt und sein Umgang mit dem männlich konnotierten Fahrzeug bahnen der Konsum-Häresie den Weg. Die Körperkultur des Genusses bis hin zum exzessiven Konsum wurde in Jugoslawien als Verkörperung des sozialistischen Ideals des erlösten Arbeiters hic et nunc gedeutet. Diesen häretischen Aspekt des Kommunismus machte auch die sogenannte „schwarze Welle“ des jugoslawischen Kinos zum Thema, wie Želimir Žilniks Frühe Werke (Rani radovi, 1969) und vor allem Dušan Makavejevs WR – Mysterien des Organismus (WR-Misterije organizma, 1971). In Makavejevs Film wird die marxistische bzw. freudomarxistische Theorie Wilhelm Reichs aus den 1920er und 1930er Jahren verbreitet, der die sexuelle Revolution ins Zentrum rückte. Die jugoslawische Zensur verhängte ein Vorführungsverbot der beiden Filme, das sie erst in den 1980er Jahren lüftete. Im Westen wurden sie jedoch auf Filmfestivals gezeigt409 und bereits in den 1960er und 1970er Jahre im Rahmen der Jugendbewegungen rezipiert. Auch bei Makavejev wird der „dritte Weg“ aufs Engste mit Sinnlichkeit und Genusskultur verknüpft. In einer Episode wird 408
409
Dimitrijević, Branislav: Sozialistischer Konsumismus, Verwestlichung und kulturelle Reproduktion. In: Groy, Boris/Heiden, Anne von der/Weibel, Peter (Hrsg.): Zurück aus der Zukunft. Osteuropäische Kulturen im Zeitalter des Postkommunismus. Unter Mitarbeit von Anja Herrmann und Julia Warmes. Frankfurt a.M. 2005, 195-277. Der Goldene Bär in Berlin 1969.
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der gut gebaute russische Eisläufer Vladimir Ilič, der Lenins Geburtsnamen trägt, auf einer Tournee durch Jugoslawien von der Kommunistin Milena, einer Anhängerin der Theorie Reichs, verführt. Von Milenas ehemaligem Geliebten in ihren Kleiderschrank gesperrt, tritt er – behängt mit ihrer Unterwäsche – voller Faszination für den „dritten Weg“ schließlich wieder aus dem Schrank hinaus: „You know, I’ve been to the East and I’ve been to the West, but it was never like this…“ (Abb. 63, 64).
Abb. 63, 64: Dušan Makavejev, Vladimir Ilič tritt aus Milenas Schrank, Film WR – Mysterien des Organismus (WR-Misterije organizma), 1971.
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Doch der asketische Ivan Iličs verirrt sich mit seinem puritanischen Stalinismus nicht auf den „dritten Weg“. Nach dem exzessiven Liebesakt mit Milena hackt er seiner Geliebten schließlich den Kopf mit der Klinge seines Eislaufschuhs ab. Der „dritte Weg“ hat sich also bereits so weit vom sowjetischen Sozialismus entfernt, dass er mit ihm nicht mehr friedlich vereint werden kann.
4.2. Ein janusgesichtiges Land Durch die zweifache Häresie gegenüber Ost und West ermöglicht der „dritte Weg“ in seinem Erscheinungsbild die Vorzüge beider Systeme zu bündeln. In einer geschickten propagandistischen Doppelstrategie präsentierte sich das Land nach innen und nach Osten als wohlhabende sozialistische Idylle, nach Westen als touristisches Konsumparadies. Mit enormer Produktion verlockender touristischer Bilder versuchte man in den 1950er und 1960er Jahren nicht nur Ost- und Westeuropäer für einen Urlaubsaufenthalt im Land zu begeistern, sondern auch international für die ‚humane‘ sozialistische Ideologie des „dritten Weges“ zu werben. Dazu wurde das neue Medium der Photographie eingesetzt, die das Indexikalische und Dokumentarisch-Beglaubigende mit den Strategien der Werbung verband. Auch in der Propagandazeitschrift Jugoslavija wurden Photos von erholten, gut aussehenden Urlaubern in modischer Bekleidung gezeigt, wie man sie im Westen trug (Abb. 65, Abb. 66). Auch mit dem Medienwechsel von der bildenden Kunst zur Photographie – einmalig in den sozialistischen Nachkriegsländern – unterstrich und beglaubigte Jugoslawien die Modernität des eigenen Landes. Anders als bei den Photos der sowjetischen Arbeiter, wie in Arkadij Šajchets, Maks Al’perts und Salomon Tules’ 24 Stunden im Leben der Familie Filipov (1931), auf denen sich die traute Familie auf Liegematten am Meer ausruht,410 tritt bei den jugoslawischen Photographen die erotische Komponente in den Vordergrund. Sie wird schließlich durch modische Details, wie eng anliegende Röcke (Abb. 67), betonte Taillen (Abb. 68) oder Hotpants unterstrichen (Abb. 69). Anders als die sowjetischen Arbeiter, die immer in Gruppen gezeigt werden, dürfen ihre jugoslawischen Pendants ihre Freizeit auch individuell und scheinbar unkontrolliert verbringen (Abb. 70).
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Dewitz, Bodo von (Hrsg.): Sowjetische Fotografien. Politische Bilder. Die Sammlung Daniela Mrázkowá. Ausstellungskatalog. Köln 2009, 17 (Abb. III/16), 151 (Abb. 149).
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Abb. 65: Tošo Dabac, Städtisches Strandbad in Dubrovnik, 1956.
Abb. 67: Tošo Dabac, Die Stadtmauern in Dubrovnik, 1956.
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Abb. 66: M. Grčević, Strand bei Makarska, 1950.
Abb. 68: M. Grčević, Stadtpark in Dubrovnik, 1956.
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Abb. 69: M. Djordjević, Auf dem Gipfel des Kablar in Serbien, 1956.
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Abb. 70: Tošo Dabac, Mit dem Segelboot auf offenem Meer, 1956.
Was der sozialistische Realismus in der Sowjetunion auf Gemälden zeigte – die Bilder sollten im Einklang mit Ždanovs-Postulat der „wahrheitsgetreuen, korrekten Darstellung der Wirklichkeit in ihrer revolutionären Entwicklung“ zum Zwecke der „ideologischen Umformung und Erziehung der Werktätigen im Geiste des Sozialismus“411 stehen –, das beglaubigten in Jugoslawien die Photographien. Doch die Urlaubsbilder an der Küste sollten nach innen nicht als Zeichen des westlichen Konsumverhaltens interpretiert werden. Im Gegenteil, sie sollten als Bilder des erlösten sozialistischen Arbeiters gedeutet werden, der die Früchte seiner Arbeit im jugoslawischen Paradies genießen kann. In einer durchaus einmaligen Weise bediente Jugoslawien die touristischen Projektionen seiner kapitalistischen Nachbarn, die es zugleich nach innen und nach Osten zur kommunistischen Idylle umkodierte: Was im eigenen Lande und in anderen kommunistischen Ländern als politische Idylle galt, wurde im Westen als touristisches Souvenir wahrgenommen. Auch dies unterstreicht die ‚ketzerische‘ Stellung des sozialistischen Jugoslawien als einer Häresie zwischen Ost und West. Die Diskrepanz in der Wahrnehmung Jugoslawiens im Inneren und im Westen bringen besonders deutlich zeitgenössische Reiseberichte hervor. Noch im Jahre 1948 wehrte man sich in Jugoslawien gegen eine touristi411
Shdanov, Andrei: Rede auf dem 1. Unionskongress der Sowjetschriftsteller 1934. In: Über Kunst und Wissenschaft. Stuttgart 1952, 5-10.
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sche Darstellung des Landes im Westen. So verreißt Milan Bogdanović den Reisebericht der russisch-französischen Schriftstellerin Elza Triolets (Ella J. Kagan), der Schwester von Lilja Brik und der Frau von Louis Aragon.412 Dieser erschien unter dem Titel „Sentimentale Reise“ – in Anspielung an Laurence Sternes und Viktor Šklovskijs Sentimentale Reise – in der französischen linken Tageszeitung Ce soir Ende des Jahres 1947. Der Kritiker wirft ihr einen falschen Ton vor, der nicht kompatibel mit der jugoslawischen Wirklichkeit und unpassend für einen fortschrittlichen Leser sei: „‚Sentimental‘ über das Neue Jugoslawien zu schreiben, das heute als erstes Land nach der Sowjetunion den Sozialismus aufbaut, bedeutet touristisch oberflächlich zu bleiben, in einer Atmosphäre, in der dieser Ton völlig unpassend ist.“413 Ihre Beschreibung sei zwar voller Sympathie, jedoch ohne jegliches Interesse für die neue Realität. Sie nehme alles bunt impressionistisch und pittoresk kraft ihrer Sinne wahr wie in den Märchen aus Tausend und eine Nacht. In ihrem orientalistischen Schreibstil in der Tradition kolonialer Reiseberichte schenke sie Zigeunern, exotischen Trachten und dem Gedränge auf den Märkten mehr Aufmerksamkeit, statt den Wandel im Leben und den Erfolg der sozialistischen Wirtschaftsplanung zu beschreiben. In ihrer Sucht nach Exotik schildere sie Jugoslawien so, als würde sie sich in Algerien oder in der libyschen Kirenaika befinden. In ihrer simplizistischen Wahrnehmung des Partisanenkampfes vergleiche sie diesen mit der französischen Résistance. An Tito fasziniere sie nur seine mit Gold bestickte Uniform. Der Aufbau neuer Straßen und Eisenbahnstrecken durch die heldenhafte jugoslawische Jugend sei für sie nur ein sportliches Jugendcamp und sie begreife seine wichtige Bildungsfunktion nicht. In ihren kapitalistischen Augen seien das moderne Industrie- und gepflegte Agrarland nicht ein Produkt des befreiten jugoslawischen Arbeiters, sondern der Ausdruck des amerikanischen Geldes. Die neutralen Schweizer Rolf Roth und Eugen Naef erblickten 1952 in ihrem Reisebericht Unsere „Balkan“-Reise in den Lebensgewohnheiten der kommunistischen Eliten Jugoslawiens hingegen nicht nur erste kapitalistische Konsumerscheinungen, sondern gar von Grund auf dekadentes Verhalten. Denn auch Kommunisten lieben Glanz und Feste. Je höher sie auf der Stufenleiter der Macht stehen, desto mehr gleichen ihre Anlässe konventionell-kapitalistischen Gepflogenheiten. Umzüge mit Transparenten und Sprechröhren, anschließenden hitzigen Diskussionen und viel Wein und Bier in den Spelunken, Tanzen auf Strassen und wackligen Holzbühnen, mögen für das Parteivolk das einzig richtige sein. Die 412 413
Bogdanović, Milan: Prijateljski, ali nesentimentalan osvrt na „Sentimentalno putovanje“ gospođe Elze Triolet“. In: Književna republika 2 (17.02.1948), 2. Ebd., 2. „‚Sentimentalno‘ pisati o Novoj Jugoslaviji, koja danas, posle Sovjetskog Saveza, prva ostvaruje socijalizam, znači ostati turistički površan, u jednoj atmosferi gde je taj ton potpuno neprikladan.“
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Großen der Partei jedoch, und nicht zuletzt auch ihre Frauen, sehnen sich nach Festen und einem Milieu, wo Champagner, Truthähne, Perserteppiche, Kellner im Livrée, Perlenketten, Pelzmäntel und goldene Kronleuchter eine ausschlaggebende Rolle spielen. Dubrovnik nun ist wie geschaffen, um den kommunistischen Machthabern jenes Milieu zu bieten, in dem sie ihrem gesellschaftlichen Leben internationales Format angedeihen lassen können. Es dient ihnen als Kongress-, Festival- und Ferienstadt; selbst verwöhnte Westeuropäer verweilen gerne in ihren Mauern. Was sonst in Jugoslawien nirgends zu finden war, das haben wir hier angetroffen: Sonnenöl, amerikanische Leicafilme, amerikanisches Autoöl, Pelz- und Lederwaren, Andenken aller Art. In den Hotels fließt warmes Wasser, und die Speisekarten sind auf Französisch geschrieben. Verschiedene Ausstellungen, so eine Gemäldesammlung mit Bildern aus dem 15. und 16. Jahrhundert, eine Ausstellung mit Darstellungen alter Goldgruben, gemischte Sammlungen des Dubrovniker Archivs bilden mit den feudalen Palästen, in denen pompöse Konzerte und Theater zur Aufführung gelangen, den kulturellen Hintergrund des gesellschaftlichen Lebens. Wer ist denn Gast in dieser Wunderstadt? Viele Ausländer, die es sich leisten können, teure Ferien zu machen oder als Kongressmitglieder die Rechnung von irgendeiner staatlichen oder Verbandstelle bezahlen zu lassen, und dann natürlich die inländische Elite, hohe Funktionäre der jugoslawischen kommunistischen Partei, Fabrikdirektoren, Regierungsmitglieder, alle umgeben von mehr oder weniger hübschen, aber immer mondänen Frauen.414
Der amerikanische Wirtschaftsexperte John Kenneth Galbraith, der 1958 nach Polen und Jugoslawien eingeladen wurde, um Vorträge über die Wirtschaftsprinzipien des Kapitalismus zu halten, erinnert schließlich in seinem auf Tagebuchnotizen basierenden Reisebericht nicht nur an die Abwesenheit des sozialistischen Realismus in der Belgrader Architektur, sondern auch an einen deutlich weniger ‚kalvinistischen‘ Geist als in Polen. The Yugoslavs are not so Calvinist as the Poles. They are committed to supplying consumers’ goods, including those that must be imported, in the present. This is in line with a pronouncement of Tito who has said that those who won socialism should enjoy at least some of its fruits. 415 […] After the austerity of Poland I still find myself revelling in the luxury of life here – excellent food or wine, good service, and people who seem to be enjoying themselves. I suspect that I am too much of a hedonist to make a good modern socialist. The same might be true of the Yugoslavs.416
Der Hedonismus, dem das Land samt seinem Anführer verfallen sei, und die Führungskader, die sich in Limousinen-Konvois herumfahren ließen und in zahlreichen luxuriösen Residenzen in allen sechs Republiken abwechselnd hausten, machten nun aus den Jugoslawen Abtrünnige des Kommunismus. Sie seien unfähig, sich an die strengen, asketischen Vorschriften des ‚orthodoxen‘ Kommunismus, der zahlreiche Entbehrungen und Opfer fordere, zu halten. Den jugoslawischen „dritten Weg“ zwischen Kapitalismus und Sozia414 415 416
Roth, Rolf/Naef, Eugen: Unsere „Balkan“-Reise. Solothurn 1952, 74f. Galbraith, Jogn Kenneth: Journey to Poland and Yugoslavia. Cambridge/Mass. 1958, 79f. Ebd., 81.
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lismus charakterisiert Galbraith folgerichtig als „capitalism with social mistakes“ bzw. „socialism with capital mistakes.“417 Die Körperkultur des Genusses bis hin zum exzessiven Konsum wurde in Jugoslawien dagegen als Verkörperung des sozialistischen Ideals des erlösten Arbeiters hic et nunc interpretiert. Bihalji-Merin deutet in seinem propagandistischen Reisebericht den neuen Wohlstand als Ergebnis der hochentwickelten sozialistischen Produktionsweise, die den Arbeitern ihre Produkte nicht entäußere. In der nahen Zukunft sieht er alle Werktätigen in ihren schicken Wohnungen mit modernen Unterhaltungsmedien hausen. Ihre Freizeit würden sie zudem in der Zukunft in mondänen Sportanlagen und Urlaubsparadiesen verbringen. Wir möchten unsere Industrie nicht nur maschinell, sondern im Bewusstsein der Menschen begründen. Wir wollen, dass die Arbeiter eines Tages sagen: Wir benötigen nicht nur Walzwerke und Hochöfen, sondern auch Duschen und Bäder! Wir können ohne Radioapparat nicht auskommen! Wir brauchen Grünanlagen mit Tennisplatz! Erst wenn sie solche Forderungen stellen, werden sie das Erreichte beschützen. Sie werden ihre Maschinen besser verstehen und bedienen.418 […] Die Arbeiter haben sich bereits in ihre modernen Quartiere eingelebt. Manche von ihnen fuhren im vorigen Jahr zum ersten Mal ans Meer. Vor einem halben Jahrhundert waren sie Hörige, die letzten fast auf europäischem Boden. Vor einem Dutzend Jahren noch lebten sie in der Abgeschlossenheit und Unwissenheit ihrer ländlichen Welt.419
Nach dem Prinzip des Kippbildes, in dem ein doppeldeutiges, ambivalentes Motiv auf zweifache Art gelesen werden kann,420 wurde Jugoslawien im Inneren anders als im Ausland wahrgenommen.
4.3. Der Konsum-Körper des Herrschers Dass Tito nicht nur in der theoretischen Auslegung des Marxismus, sondern auch auf dem Gebiet der Medienpropaganda Stalin schließlich überholte, bezeugt seine Popularität und eine Tito-Nostalgie, die in den Ländern des ehemaligen Jugoslawiens, vor allem in Slowenien, Kroatien und Serbien, gewissermaßen bis heute anhält.421 Seine Transformation in eine Medienge417 418 419 420
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Ebd., 85. Bihalji-Merin 1955, 223. Ebd., 225. Unter doppeldeutigen Bildern (ambiguous images) versteht man Bilder, die nach dem Prinzip der „Kippfigur“ (Ludwig Wittgenstein) eine doppelte Lesart ermöglichen. Vgl. dazu: Gamboni, Dario: Potential images. Ambiguity and indeterminancy in modern art. London 2002; Krieger, Verena/Mader, Rachel (Hrsg.): Ambiguität in der Kunst. Typen und Funktionen eines ästhetischen Paradigmas. Köln/Weimar/Wien 2010, 65-88. Velikonja, Mitja: Titostalgija. Študija nostalgije po Josipu Brozu/Titonostalgia. A study of nostalgia for Josip Broz. Ljubljana 2009.
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stalt bekunden zahlreiche Internetseiten, die von dort aus betrieben werden.422 Zu dieser Popularität konnte Tito nur durch die langjährige Medienpropaganda gelangen, die zu seinen Lebzeiten betrieben wurde und die nun zur Zielscheibe postmoderner und postkommunistischer Parodien geworden ist. Der postjugoslawische Tito-Kult nahm die Form des entleerten Pathos, der entpolitisiert und von den ethischen Zielen des ‚humanen‘ Sozialismus entbunden wurde. In dieser Rolle konstruiert ihn auch der kroatische Regisseur Vinko Brešan in seinem Film Marschall Titos Geist (Maršal, Kroatien 1999), der auf der Berlinale 2000 den Wolfgang Staudte-Preis erhielt. Darin wird Tito aus ökonomischen Gründen für das Ferienland „Sozialismus“ ‚wiederbelebt‘, um die Besucherzahl anzuheben und den Einheimischen ein besseres Einkommen zu gewährleisten. Alte Partisanen und Nostalgiker aus anderen ehemals kommunistischen Ländern sollten als Gäste angelockt werden. Für die russischen und chinesischen Touristen gesellen sich zu der Maskerade bald auch „Stalin“ und „Mao Zedong“. An die Stelle des politischen, mystischen Körpers des Herrschers (Ernst Kantorowicz)423 trat in Jugoslawien in den späten 1960er Jahren vielmehr der hollywoodhafte Konsum-Körper des Herrschers. Die Mystik der politischen Theologie, die sich um den Lenin-Kult ausgebildet hatte und auf Stalin übertragen worden war,424 ersetzte in Jugoslawien das mediale Konsumbild. Titos sowjetische Vorbilder Lenin und Stalin wurden nun durch das amerikanische Vorbild John F. Kennedys ersetzt.425 So wie JFK mit der glamourös gekleideten und frisierten First Lady Jacqueline während des Walhlkampfs in einem Cabriolet durch amerikanische Städte fuhr, so stattete auch Tito mit seiner Frau Jovanka auf die gleiche Weise den jugoslawischen Städten Besuche ab (Abb. 71, Abb. 72).
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http://www.titoville.com/ (Slowenien, seit 1994), http://marsal.blog.hr/ (Kroatien), http://www.rex.b92.net/vlastitoiskustvo/tim.html und http://www.bratstvo.cjb.net (Serbien). Kantorowicz, Ernst: Die zwei Körper des Königs. Eine Studie zur politischen Theologie des Mittelalters. Aus dem Amerikanischen von Walter Theimer. Stuttgart 1992 (amer. The King’s Two Bodies. A Study in Medieval Poltical Theology. Princeton 1957). Zur Lenin- und Stalin-Verehrung als politischer Religion: Ryklin, Michail: Kommunismus als Religion. Die Intellektuellen und die Oktoberrevolution. Aus dem Russischen von Dirk und Elena Uffelmann. Leipzig 2008. Zur engen Verflechtung von Mystik und Medien vgl.: Andree, Martin: Medien, Mystik, Medienmystik. Die Phantasmen der Präsenz und der unio mystica als medientheoretische Fundamentalprobleme. In: Berensmeyer, Ingo (Hrsg.): Mystik und Medien. Erfahrung – Bild – Theorie. Unter Mitarbeit von Martin Spies (= Mystik und Medien IV. Hrsg. K. Ludwig Pfeiffer, Klaus Vondung). München 2008, 31-54. Zum Kennedy-Kult: Posener, Alan: John F. Kennedy in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. Reinbek 1991; Schild, Georg: John F. Kennedy. Mythos und Mensch. Göttingen 1997.
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Abb. 71: Tito auf der Fahrt durch Titograd, frühe 1960er Jahre.
Abb. 72: Peter Žibert, Tito mit Jovanka, frühe 1960er Jahre.
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Pomp und massenmedial erzeugte Emotionen im Stile Hollywoods wurden Teil der jugoslawischen Politik, die ebenso wie in den Vereinigten Staaten seit den 1950er Jahren im Fernsehen übertragen wurde.426 Um den glamourösen Effekt zu verstärken, ließ sich Tito darüber hinaus oft mit Hollywood-Stars wie Sophia Loren, Kirk Douglas oder Yul Brynner sowie mit exotischen Tieren, die er in den Ländern der Dritten Welt geschossen hatte, ablichten.427 Seine asketische Kindheit und Jugend voller Leiden und Entbehrung, die in zahlreichen Anekdoten und Biographien als ein Exemplum der kommunistischen Partisanenvita dargelegt wurden,428 erlaubten es, den jugoslawischen Anführer in luxuriösem Ambiente zu zeigen. Wie idyllische Urlaubs- und Konsumbilder galt auch Titos luxuriöses Leben als Beweis für die Realisierung der sozialistischen Utopie hic et nunc. Zugleich vermittelten Photographie und Fernsehen Nähe und Präsenz. Sie inzenierten Tito als volksnahe Gestalt, der sein Leben zusammen mit seinen Völkern genießt. Durch den Umstieg Jugoslawiens auf die medialen Propagandastrategien des Westens gelang es dem Land, wenigstens nach außen ein vertrautes, demokratisches Bild zu vermitteln.
4.4. Von den Schluchten des Balkans in den Wilden Westen: Jugoslawien als neuer Kontinent Die Landschaft bekam in Jugoslawien nicht nur im Rahmen der touristischen Werbung eine zentrale Rolle, sondern sie diente auch als ein wichtiges Mittel im Prozess der transnationalen Identitätsstiftung. In der Zeitschrift Jugoslavija wurde sie als Vermittlerin zwischen den jugoslawischen Völkeren eingesetzt. Reiseberichte, die sich an ein jugoslawisches Publikum wandten, wie Ratimir Stefanovićs Notizen von unseren Almen (Zapisi iz naših planina, Belgrad 1951) oder Mihajlo Lalićs Unterwegs geschrieben (Usput zapisano, Belgrad 1952), priesen in einem Atemzug sowohl den guten Charakter der einzelnen jugoslawischen Völker als auch die landschaftlichen Schönheiten. Die Geschichte der Völker sowie ihre Charakter schrieben sich als Spur in die geologischen Formen ein und verschmolzen mit ihnen. Ihre Mannigfaltigkeit, manchmal auch ihre Dissonanz, umschreibt Oto Bihalji-Merin in seinem Reisebericht Jugoslawien. Kleines Land zwischen den Welten (1955) als eine Bewegung der Erd- und Zeitschichten, die stets nach Aufständen, Kriegen und Revolutionen eintrete. In Jugoslawien sei also wie nach einem Vulkanausbruch oder einem Erdbeben das Rückständige mit dem Modernen in Berührung gebracht worden. 426 427 428
Zur Verbreitung des Fernsehens in Jugoslawien: Miloradović 2012, 58f. Majnarić, Miljenko (Hrsg.): Brijuni (= Biseri jadrana). Zagreb 2003, 66-71. Brkljačić 2005.
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Revolutionäre Erschütterungen haben die Völker in Bewegung gesetzt: eine Wanderung durch Raum und Zeit, ein Strömen der ländlichen Bevölkerung in die Städte und die Zivilisation hat begonnen. Große Massen wurzeln noch im Bauern- und Hirtendasein, in Patriarchalität und Folklore. Und noch weiter dahin steht die Stummheit des Analphabetentums, in der neuen Generation formal liquidiert, dessen Schatten aber noch auf Landschaft, Seele und Geschehnisse fallen. In dieser großen Wanderung aber haben die Vortrupps bereits den nuancierten Bund dissonanter Kulturräume des zwanzigsten Jahrhunderts betreten.429
Noch vor dem Kongress der Blockfreien in Belgrad, gelang es der virtuosen jugoslawischen Kunstphotographie − insbesondere dem kroatischen Starphotographen Tošo Dabac430 und seinen Kollegen – die terra vergine Jugoslawien noch weiter nach Westen zu verschieben und als einen ‚neuen Kontinent‘ abzulichten (Abb. 73, 74, 75). In ihren Photos der jugoslawischen Nationalparks greifen sie schließlich die abstrakten Bildverfahren der frühen amerikanischen Photographie der frontier aus der Zeit der Entdeckungsreisen nach Arizona und Colorado in den 1870er und 1880er Jahren auf. Wie in den Photos der amerikanischen Photographen Timothy O’Sullivan (Abb. 76), William Henry Jackson und Carleton E. Watkins wird die Landschaft durch die Auswahl der Motive und durch pathetisch arrangierte Hell-DunkellKontraste zu imposanten Panoramen umgestaltet. Die Schluchten des Balkans wurden auf diese Weise zum jugoslawischen Wilden Westen, einem noch unerforschten Land der unendlichen Möglichkeiten.
Abb. 73: Tošo Dabac, Mazedonisches Motiv, 1960. 429 430
Bihalji-Merin, Oto/Bihalji-Merin, Lise: Jugoslawien. Kleines Land zwischen den Welten. Stuttgart 1955, 43. Zu Tošo Dabac: Hrvatske, Grafički zavod (Hrsg.): Tošo Dabac. Fotograf/Photographer. Foreword by Radoslav Putar. Zagreb 1969.
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Abb. 74: Djordje Popović, Die Bucht von Kotor in Montenegro, 1960.
Abb. 75: Tošo Dabac, Erdpyramiden bei Foča, 1960.
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Abb. 76: Timothy O’Sullivan, Canyon de Chelle in Arizona, 1870er Jahre.
Die markantesten Photos von Dabac und anderen prominenten Landschaftsphotographen erschienen im Bildband Jugoslawien in Form und Gestaltung, der 1960 in Belgrad veröffentlicht wurde. In der Einleitung zu den Photographien stellt Živorad Stojković einen inneren Bezug zwischen der Natur und der Kultur, speziell zwischen der Vielfalt der natürlichen Formen der Landschaft und der entbehrungsvollen Geschichte der jugoslawischen Völker, her. In seine moderne Geschichte tritt dieses Land mit soviel Formen und Gestalten ein, wie viele verschiedene Eroberer diese Länder durchzogen haben. […] Die Gestaltung Jugoslawiens, sein Land und seine Formen, wurden demnach sowohl von der Geographie als auch von der Geschichte dieses Gebietes bedingt.431
Seitdem sich die jugoslawische Regierung an der Spitze der BlockfreienBewegung in der internationalen Politik Gehör verschaffen konnte, präsentierte sich das Land nicht mehr als „dritter Weg“, sondern vielmehr als „dritte Welt“. In dieser Gestalt bot sich Jugoslawien in den 1960 und 1970er Jahren als Kulisse für zahlreiche west- und ostdeutsche Indianerfilme an. Die Kunstphotographie im Dienste der jugoslawischen Bildpropaganda hatte also Früchte getragen: Jugoslawien eignete sich nun als Folie sowohl für ost- als auch für westeuropäische Projektionen samt ihren jeweiligen zivilisatori431
Stojković, Živorad: Jugoslawien in Form und Gestaltung. Beograd 1960, IX.
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schen Missionen. So kämpften die Indianer432 aus Ost und West im ‚Wilden Westen‘ der jugoslawischen Nationalparks gegen jeweils anders definierte Feinde. Dabei standen sich auf Ebene der männlichen Hauptdarsteller der Franzose Pierre Brice und der Serbe Gojko Mitić gegenüber, die einen jeweils vergleichbaren Starstatus besaßen (Abb. 77).
Abb. 77: Pierre Brice und Gojko Mitić in Karl-May-Verfilmung Unter Geiern, 1964.
So war Brice der Held der westlichen Winnetou-Filme433 und Mitić die Berühmtheit der Indianerfilme der DEFA.434 In den Filmen unterscheidet sich 432 433
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Im 19. Jahundert wurden die Südslawen und Polen in westeuropäischen Reiseberichten öfters mit Indianern verglichen (vgl. Hahn 2002, 29). Der Schatz im Silbersee. 1962; Winnetou I. 1963; Old Shatterhand. 1964; Winnetou II. 1964; Unter Geiern. 1964; Der Ölprinz. 1965; Winnetou III. 1965; Old Surehand I. 1965; Winnetou und das Halbblut Apanatschi. 1966; Winnetou und sein Freund Old Firehand. 1966; Winnetou und Shatterhand im Tal der Toten. 1968; Mein Freund Winnetou. 1979. Die Söhne der großen Bärin. 1966; Chingachgook, die große Schlange. 1967; Spur des Falken. 1968; Tödlicher Irrtum. 1969; Weiße Wölfe. 1969; Osceola. 1971; Tecumseh. 1972; Apachen. 1973; Ulzana – Schicksal und Hoffnung. 1974; Blutsbrüder. 1975; Severino. 1977; Blauvogel. 1979; Der Scout. 1983; Zu den DDR-Indianerfilmen: Habel,
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der freie, stolze Stamm der Indianer im Osten wesentlich von dem im Westen. Der westliche Häuptling, der schlussendlich als Christ stirbt,435 geht zusammen mit Old Shatterhand gegen unchristliche Schurken vor. Der östliche Häuptling kämpft hingegen mit seinem Stamm gegen den westlichen Imperialismus und Kapitalismus. So wird beispielweise am Anfang des Films Die Söhne der großen Bärin (1966), einer Verfilmung des sechsbändigen Roman-Zyklus (1951-1962) der DDR-Ethnologin, Althistorikerin und Schriftstellerin Liselotte Welskopf-Heinrich (1901-1979) die Aufmerksamkeit auf das negativ, mit Mord konnotierte Geld gerichtet – zuerst als Münze, dann als Papiergeld und schließlich als Goldstück. Auf dem Territorium Jugoslawiens, dem ‚Reservat‘ des Ostens und des Westens, verlief also die neue frontier. Jugoslawien wurde auf diese Weise zum Ort der Begegnung und der Konkurrenz verschiedener Ideologien.436 Die Propaganda- und zugleich Werbephotographie vereinheitlichte also die unterschiedlichen Lebensräume der Völker Jugoslawiens zu einer ästhetischen Nationalgeographie mit historischer Memoria. Als ambivalente Kippfigur zwischen Ost und West vereinte sie zudem unterschiedliche ideologische Projektionen in der Fiktion eines „dritten Wegs“ bzw. einer „dritten Welt“. So sublimierte sie die Schluchten des Balkans zu einem geheimnisvollen neuen Kontinent, in die Vorwegnahme einer blockfreien Globalisierungsidylle in einem Zwischenreich. Diesem schien nicht der Kollaps, sondern eine Ausdehnung in ungeahnte Weiten beschieden.
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Frank-Burkhard: Gojko Mitić, Mustangs, Marterpfähle. Die DEFA-Indianerfilme. Das große Buch für Fans. Berlin 1997. Vgl. die Todesszene in Harald Reinls Winnetou III (1964-65), in der Winnetous Seele von den Kirchenglocken zu sich gerufen wird. Dabei geht es um eine gegenüber Karl Mays Roman (1893) bereits abgeschwächte Variante der christlichen Mission, bei der Winnetous Tod vom Gesang des „Ave Maria“ begleitet wird. In den jugoslawischen Übersetzungen Karl Mays wurde das christliche Motiv durch die Zensur gestrichen. So bezeichneten die DEFA-Filmmacher, die dem amerikanisierten westdeutschen Film einen ethnographisch authentischeren und zugleich antikapitalistischen, ostdeutschen Indianerfilm entgegenstellen wollten, mit den Originalorten der Dreharbeiten nicht Kanada, wo Liselotte Welskopf-Heinrich ihre Romanvorlage ansiedelte, sondern Jugoslawien, wo die ersten westdeutschen Indianerfilme gedreht wurden. Sie sind also nicht nur aus dem Wunsch entstanden, das Leben der Indianer authentischer darzustellen, sondern auch als eine Reaktion auf die filmische Besetzung des ‚Freiraums‘ Jugoslawien.
VI. Die Wiederkehr der Mythen: Erinnerungspolitik 1. Die Heldenepik und das „Wüten der Mythen“ Das jugoslawische kulturpolitische Konzept des „dritten Weges“ wertete die mit dem Balkan konnotierten pejorativen Begriffe, wie Rückständigkeit und Primitivität, um. Mit dem Beginn der jugoslawischen Zerfallskriege in den 1990er Jahren wurde der positiv konnotierte Archaismus und Stillstand der Zeit jedoch erneut von den alten Balkanstereotypen verdrängt.1 Seinen Völkern wurde wieder ein primitives, rückständiges mythisch-archaisches Denken zugeschrieben, dessen anachronistische Fortdauer bis in die Gegenwart verantwortlich für die in Jugoslawien ausgebrochene Krise sei. Vor allem die serbische Heldenepik, die den Kampf gegen die Türken feiert, sah man als Tiefenschicht der mythisch-historischen Narrative an, durch welche die Vergangenheit stets präsent und lebendig gehalten wird. Selbst die Herausgeber des Sammelbandes Das jugoslawische Desaster (1995) geben den alten, aus dem Mittelalter stammenden Gegensätzen eine Mitschuld für den Ausbruch der Katastrophe. Nach langjähriger Verdrängung und Unterdrückung im Tito-Jugoslawien hätten sich diese Gegensätze in einer vorher unvorstellbaren Eruption energetisch entladen. Eine solche Explosion des Hasses – das dürfte inzwischen jedem Betrachter deutlich sein – kommt nicht von ungefähr; in ihr liegen vielmehr alte Antagonismen, die in sprachlichen, konfessionellen, staatspolitischen, ideologischen sowie mentalen Gegebenheiten und Prozessen ihren Grund haben.2
Oft sah man hinter moderner, nationalistischer Propaganda, hinter neuen Formen des medial angeheizten Rassismus die balkanische Vormoderne am Werk. Dem blinden Rückfall in alte Mythen – „einer Denkform, die Ansichten der Welt – Weltanschauung – in erzählten Handlungen darbietet“3 – weist Reinhard Lauer in seinem Beitrag „Das Wüten der Mythen“ die Schuld zu, dass die grausame Poesie alter Zeiten in der politischen Realität wieder zum Leben erweckt worden sei. 1
Kolstø, Pål: Myths and Boundaries in South Eastern Europe. Burlington 2005; Čolović, Ivan: Kulturterror auf dem Balkan. Essays zur Politischen Anthropologie. Osnabrück 2011, 55-88; Zimmermann, Tanja: Introduction. In: Dies.: Balkan Memories. Media Constructions of National and Transnational Histories. Bielefeld 2012, 11-16; Karačić, Darko/Banjeglav, Tamara/Govedarica, Nataša: Revizija prošlosti. Politike sjećanja u Bosni i Hercegovini, Hrvatskoj i Srbiji od 1990. Godine. Sarajevo 2012. 2 Lauer, Reinhard/Lehfeldt, Werner: Vorwort der Herausgeber. In: Dies. (Hrsg.): Das jugoslawische Desaster. Historische, sprachliche und ideologische Hintergründe. Wiesbaden 1995, 1. 3 Lauer, Reinhard: Das Wüten der Mythen. Kritische Anmerkungen zur serbischen heroischen Dichtung. In: Lauer/Lehfeldt (Hrsg.) 1995, 146.
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In der Zeit, die wir durchleben, hat sich eine neue Lust und Empfänglichkeit für mythisches Denken verbreitet, wie sie nach dem mythenzerstörerischen Debakel des zweiten Weltkrieges gar nicht mehr vorstellbar war. Vor allem in Südosteuropa, der jetzt lichterloh brennenden Krisenregion, und hier vor allem bei den Serben – aber nicht nur bei ihnen –, konnte man seit langem beobachten, dass alte mythische Traditionen namentlich in der Poesie neu belebt, gesichtet und gedeutet wurden. […] Diese Mythen, die zuvor im zweckfreien Garten der Dichtung blühten, treten ins Leben, beginnen zu wüten.4
Kriegsgräuel wurden als Relikt mythischer Rituale gedeutet, in dem ein unbewältigter furor serbicus, ähnlich dem furor teutonicus im Zweiten Weltkrieg, wieder an die Oberfläche geschwemmt worden sei: „Ein blutrünstiges, rituelles Sich-Austoben am getöteten Feind bricht aus atavistischen Tiefen hervor […]. Über solche Helden und solche Taten sang das Volk seine Lieder.“5 Dieser Umgang mit der ‚untoten‘ Vergangenheit – die Regression in die irrationalen Erklärungsmuster eines mythischen Denkens, das untergründig stets fortgewirkt hatte – wurde dafür verantwortlich gemacht, dass es nach dem Zerfall Jugoslawiens zu nationalistischen Ausschreitungen, zum Bürgerkrieg und schließlich zum Genozid kam. Vor allem in der Volksdichtung, die eigenwillige serbische Helden und ihre brutalen Taten verherrlicht – wie den Königssohn Marko (Marko kraljević) – sah man noch in den Kriegsgräueln der 1990er Jahre den verborgenen mythischen Kern am Werk.6 Das Oszillieren des besungenen Helden zwischen Heroismus und Verbrechen, Freundschaft und Feindschaft würde regelrecht zum semantischen Missbrauch einladen: „Dieser Motivkatalog kommt dem nahe, was wir heute täglich als Kriegshandlung aus der Presse erfahren. Fatal daran ist, dass sich niemand bemüht hat, die geballte Ladung von Inhumanität, die in diesen Liedern steckt, zu entschärfen.“7 Anders als die Brüder Grimm, die begeistert auf die Liedersammlung Vuk Stefanović Karadžićs reagiert hätten, habe bereits Goethe auf die Gefahr der Balkan-Dichtung hingewiesen, die wegen ihrer „barbarischen“ Brutalität nur in revidierter Form publikationsfähig sei.8 Die Zurückführung der postkommunistischen Gräueltaten mit dem mittelalterlichen Kampf gegen die Türken war nur eine der Reaktionen auf die Ge4
Ebd., 107f. Lauer 1995, 127. 6 Ebd., 107f., 127, 129f., 147. 7 Ebd., 129f. 8 Ebd. 147. „Goethes Diktum über die besondere Grausamkeit und Barbarei der serbischen Lieder hätte es nahegelegt, die in ihnen enthaltenen Mytheme einer entscheidenden demystifizierenden, entlarvenden Kritik auszusetzen, wie sie seit der Aufklärung bei allen zivilisierten Nationen auch geleistet wird: in Deutschland von Heinrich Heine über Bertolt Brecht bis Peter Hacks und Heiner Müller, bei den Franzosen von Voltaire bis Anouilh, bei den Italienern bei Pirandello, bei den Russen schon seit Puškin, bei den Kroaten mit äußerster Radikalität bei Krleža, Marijan Matković und Slobodan Schneider. Bei den Serben gibt es indessen nur wenige, die sich der mythischen Obsession entgegenstellten.“ 5
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waltausbrücke der 1990er Jahre. Eine andere war der Verlgeich zwischen dem Nazi-Regime und der postkommunistischen Ära in Jugoslawien.9 Analogien sieht der Volkskundler Klaus Roth vor allem im Umgang mit der jugoslawischen Folklore. Ethnographische Erkenntnisse wurden aus politisch-ideologischen Interessen zu einer Art „Folklorismus“ umgeschrieben: Wie sich in der Nazi-Zeit die ethnographische Forschung auf das Nationale, Rassische, Bäuerlich-Ursprüngliche der deutschen Volkskultur konzentrierte, so diente sie, so Roth, in Jugoslawien zu nationalistischen Zwecken. Auf dieser Grundlage wurde eine nationale Volksgemeinschaft gestiftet, deren Zweck die Diskriminierung anderer Nationen (und Rassen) war. Die Revitalisierung alter nationalistisch-folkloristischer Muster und den Eskapismus in die historische Vergangenheit bezeichnet Roth als „regressiven Nationalismus“.10 Lauer wie Roth machen die Resistenz des mythischen Denkens und die Regression in irrationale Erklärungsmuster dafür verantwortlich, dass es nach dem Zerfall Jugoslawiens zu nationalistischen Ausschreitungen, zum Bürgerkrieg und schließlich zum Genozid kam. Bei ihnen wie bei vielen Zeitgenossen, die entsetzt auf die Bürgerkriege mitten in Europa reagierten, bestätigt die kulturanthropologische These von der Resistenz mythischer Narrative ein letztes Mal das Klischee vom rückständigen, blutrünstigen Balkan.11 Nicht nur in der westlichen Perzeption, sondern auch in der serbischen Kriegspropaganda wurden die Analogien zwischen dem mittelalterlichen Kampf gegen die Türken und dem gegenwärtigen Krieg gegen die muslimischen Bosnier aufgerufen. Der Dokumentarfilm Serbian Epics des in London lebenden polnischen Regisseurs Paweł Pawlikowski, der 1992 in der Republika Srpska gedreht wurde, scheint die These Lauers und Roths zu bekräftigen.12 In der Dokumentation inszenieren sich Radovan Karadžić und seine Anhänger als Heldenepik deklamierende Gusle-Spieler.13 In ihren alten und 9
Roth, Klaus: Folklore and Nationalism. The German Example and its Implications for the Balkans. In: Ethnologia Balkanica 2 (1998), 69-79. 10 Ebd., 74. 11 Peter Handke ironisierte sie in seinem Reisebericht Eine winterliche Reise zu den Flüssen Donau, Save, Morawa und Drina oder Gerechtigkeit für Serbien (1996), in dem er vermerkt, dass Reinhard Lauer sogar den Vornamen des serbischen Dichters Vuk (dt. Wolf) buchstäblich als eine wort-mythische Gefahr versteht: „Neubearbeitung durch Prof. Dr. Reinhard Lauer, der so ziemlich im selben Jahr [1992, T.Z.], geheuert von FAZ, dort wiederholt das gesamte serbische Volk, mitsamt seinen Dichtern, an welchen die Aufklärung vorbeigegangen sei, von, sagen wir, dem Romantiker Njegoš bis zu Vasko Popa, der gefährlichsten Mythenkrankheiten zeiht, siehe Identifizierung mit dem Wolf!, siehe Popas Wolfsgedichte!“. (Ebd., 52). 12 Filmausschnitte können auf folgender Internetseite abgerufen werden: http://www.youtube.com/watch?v=bTZkNLWDzJo (Zugriff: 01.05.2013). 13 Vgl. auch: Zimmermann, Tanja: The Voice of Gusle and its Resistance to Electrification. In: Meise, Nils/Zakharine, Dmitri (Hrsg.): Electrified Voices. Medial, SocioHistorical, and Cultural Aspects of Voice Transfer, Göttingen 2012, 403-410.
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neu komponierten Liedern ziehen sie Parallelen zwischen der Schlacht auf dem Amselfeld aus dem Jahre 1389 und dem Bosnien-Krieg von 1992. Das Musikinstrument verwandelt sich in den Händen des Sängers, der kurz zuvor sein Maschinengewehr abgelegt hat, zur Waffe der politischen Propaganda. Die Gusle, deren Form oft anthropomorphe Gestalt annimmt, wird vom Deklamator als Mitkämpfer und Zeuge der opfervollen serbischen Geschichte angesprochen. Das Instrument wird somit zum Mediator der Geschichte, die in den Händen des Sängers immer wieder aufs Neue aktualisiert wird. Hey gusle, beloved music-maker. You have always accompanied the Serbian tribe. Ever since the Slavs came to the Balkans, the gusle has been the Serb’s best friend. Since I took you, gusle, in my hand, how often I had to wipe tears from my eyes, remembering the wounds of my great tribe.14
Auch zwei Karikaturen aus den Jahren 1988-89 weisen auf die Verschmelzung des Instruments mit dem serbischen Volk hin, dessen Stimme es repräsentiert. In der ersten mit dem Titel „Wir und Gusle zählen 200 Millionen…“ spielt der slowenische Zeichner Albin Rogelj auf das politisch angestrebte Großserbien an, das zusammen mit dem Volksinstrument Gusle 200 Millionen Stimmen erlange (Abb. 78). In der zweiten Karikatur des serbischen Zeichners Jugoslav Vlahović nimmt das Instrument die Opferrolle an. Während die eine Hand den Hals der Gusle und die andere den Bogen hält, sägt ihr eine dritte, nicht sichtbare den Hals ab (Abb. 79). In Pawlikowskis Dokumentation erscheint Radovan Karadžić nicht nur als Gusle-Spieler, sondern lässt sich auch vor dem Porträt des serbischen Sprachforschers und Liedersammlers Vuk Stefanović Karadžić filmen. Somit reiht er sich mit seinem gleichklingenden Nachnamen in dessen Stammbaum ein. Die Heldenepik begleitet in der Dokumentation den Beschuss von Sarajevo, die politischen Reden und Verhandlungen serbischer Politiker, den Gottesdienst in einer serbisch-orthodoxen Kirche auf dem Amselfeld und den Empfang der aus London eingetroffenen Erben der serbischen KönigsDynastie Karađorđević in ihrem Mausoleum in Oplenac. Die monotone, einfache Begleitmusik der Gusle wird als Differenzierungsmerkmal der polyphonen Geräuschkulisse der westlichen Medien gegenübergestellt. Wie der kroatische Literatur- und Medienwissenschaftler Ivo Žanić ausführt, wurde der Gusle in der nationalistischen Kriegspropaganda eine zentrale Rolle zugewiesen. Ihren politischen Einsatz bezeichnet er gar als „politische Musikologie“.15 Mit nonverbalen Mitteln begleitete sie öffentliche Wahlkampfauftritte der Politiker und wurde zu diesem Zweck auch über Fernsehen und Radio übertragen. Systematisch und stufenweise führt Žanić vor, wie die jugoslawischen Medien seit den 1980er Jahren die archaischfolkloristischen Inhalte (darunter Guslelieder) adaptierten, aktualisierten und performativ zur Propaganda instrumentalisierten. 14 15
Pawlikowski 1992. Žanić 2007, 41-108, hier 63.
Die Heldenepik und das „Wüten der Mythen“
Abb. 78: Albin Rogelj, „Nas i gusala 200 miliona“, Nedeljne informativne novine, 23.10. 1988.
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Abb. 79: Jugoslav Vlahović, Guslespiel, Nedeljne informativne novine, 30.07.1989.
In diesem Prozess fanden die Volksdichtung und die orale Tradition (Heldenepik) zumeist als Zitat Eingang in die aktuelle Politik. Auch Genres, die sich bloß an der Folklore und der Volkskultur orientieren, wurden aufgerufen, so z.B. die Epen über die Rache an den osmanischen Erobern wie Der Bergkranz (Gorski vijenac, 1847) von Petar Petrović Njegoš über das Massaker an den Montenegrinern, die zum Islam konvertierten, oder Ivan Mažuranićs Der Tod des Smail-aga Čengić (Smrt Smail-age Čengića, 1846) über die Ermordung des bosnischen Herrschers Čengić.16 Vor allem die Presse, so Žanić, brachte in den 1980er Jahren die epische Dichtung wieder in Umlauf. Narrative, die von solchen Gewalt-Topoi durchdrungen sind, operierten Žanić zufolge auf zwei Ebenen, einer direkten, informativ-aktuellen und einer indirekten, figurativen und zitierend-wiederholenden.17 Pawlikowskis Dokumentation wirft er vor, eine positive, fast idyllisch-romantische Darstellung des freien, naturnahen und kriegerischen Hajdukenlebens in den 16 17
Ebd., 23f. Ebd., 14. „To this extent they are comparable with myth, because, like it, they define and reinforce essential categories for the society that generates and absorbs them: the moral, aesthetic and cognitive that acquire their legitimacy simply by being repeated in text after text, in programme after programme.“
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Bergen vorzutäuschen.18 Sie greift darin die alten Balkanstereotypen der „edlen Primitiven“ aus dem Reisebericht Black Lamb and Grey Falcon (1941) der Engländerin Rebecca West auf. Das Umfunktionieren der Gusle vom Volks- ins politische Instrument begann nicht erst in den 1990er Jahren, sondern bereits im 19. Jahrhundert. Schon damals wurde die Gusle nicht nur von den Serben, sondern auch von dem deutschen Historiker Leopold von Ranke als Träger des serbischen Gedächtnisses aufgefasst. In seiner Studie Die serbische Revolution. Aus serbischen Papieren und Mitteilungen (1829),19 die von Vuk Stefanović Karadžićs Liedersammlung beeinflusst wurde,20 betrachtet er die Volkslieder als Teil der anonymen oral history. Die Nachrichten, aus denen unser serbisches Memoire erwachsen, sind aus dem Munde der Teilnehmer geschöpft. […] Alle diese und andere Zeugnisse, erläuternde Briefe und Urkunden, hat der getreue Sammler serbischer Lieder, Vuk Staphanowitsch Karadschitsch zusammengebracht.“21
Im ersten Kapitel mit dem Titel „Lage der Dinge vor den Bewegungen. Nationale Sinnesweise und Poesie“ stellt Ranke eine enge Verschränkung der serbischen Poesie mit Nation und Geschichte fest, wodurch das Individuelle in den Hintergrund trete und dem Kollektiven den Vorrang überlasse. Es erscheinen diese Gedichte als das gemeinschaftliche Produkt der nationalen Anlagen und Richtungen. Auch von den neuesten wusste Niemand den Dichter anzugeben; man vermeidet sogar dafür zu gelten, und in der Tat wird wenig danach gefragt. Da sie in einer festen Verwandlung begriffen sind, die eben das Lied, welches fast missfällt, wenn es von minder Begabten vorgetragen wird, in dem Munde eines glücklichen Sängers, in welchem nationaler Sinn und Geist lebendiger ist, rührt und hinreißt, so kommt so viel darauf nicht an. Das Volk hält sie fast für natürliche Erzeugnisse. Man hat bemerkt, dass es in dem serbischen Ungarn gleichsam Schulen gebe, in welchen die Blinden diese Lieder lernen; allein das ist schon nicht mehr das Rechte. In den Bergen von Serbien und Herzegowina braucht man sie nicht lange zu lernen. Jedermann weiß sie ohnehin. 22
Der Gusle räumt Ranke beim Vortragen der Lieder eine zentrale Rolle ein. In ihrer Musik spiegele sich der heldenhafte, kriegerische Charakter des Vol-
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Žanić 2007b, 250-254. Rankes Buch über die Geschichte Serbiens wurde äußerst populär: 1847 wurde es ins Englische übersetzt und 1853 bereits ein weiteres Mal aufgelegt, 1856 folgte eine russische und 1864 eine serbische Übersetzung. 20 Mala prostonarodna slaveno-serbska pjesmarica (Wien 1814), Narodna srpska pesmarica (2 Bde., Wien 1815); Narodne srpske pesme (Leipzig 1924). 21 Ranke, Leopold: Die serbische Revolution. Aus serbischen Papieren und Mitteilungen. Hamburg 1929, IIf. 22 Ebd., 35. 19
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kes.23 Gerade über das Heldenlied, das an allen Treffpunkten der Menschen, in Wirtshäusern, auf Festen und vor Klöstern, gesungen wird, wird die Geschichte kommuniziert und aktualisiert. Somit wird sie ihrer Vergangenheit entrissen und in eine lebendige Geschichte verwandelt: „Das ist wohl der Betrachtung wert, wie die Geschichte der Nation, von dem Gedicht ergriffen, hierdurch erst in einen nationalen Besitz verwandelt, und für das lebendige Andenken gerettet worden ist.“24 Während die Gusle in den 1990er Jahren ausschließlich mit der orthodoxen serbischen Nation in Verbindung gebracht wurde, war sie im 19. Jahrhundert noch ein Religion und Nation übergreifendes Volksinstrument gewegewesen. Sie verband alle Balkanslawen, ungeachtet ihrer Religion und ihres sozialen Status.25 Ranke schreibt dem Volkslied nicht nur ein ikonisch-beschreibendes Verhältnis zum besungenen Gegenstand zu, sondern sieht in ihr eine Verschmelzung von Poesie und Leben. Auch diese Poesie eines armen Landvolkes, welches fähig gewesen ist, die Aufmerksamkeit von Europa auf sich zu ziehen, ist eben ein Abbild von dem Leben desselben, eine geistige Reproduktion seiner Zustände. […] Was ist nun der Gegenstand dieser Lieder, die so völlig in das Leben verflochten sind, und sich unbewusst aus demselben erheben? Was man lebt, spricht man aus. Das innere Dasein, von welchem Tun und Lassen, Erscheinung und Bewegung ausgehen, tritt sich in dem Worte selbst entgegen: reiner, sich selbst verständlicher, mitteilbarer. In dem Lichte des allgemeinen Gedankens, der Wahrnehmung oder Ahnung des Ganzen fasst die Poesie die einzelnen Erscheinungen, und bringt sie gleichsam nochmals hervor: höchst naturgetreu, nachahmend, nachbildend, jedoch in reinen Formen; individuell und symbolisch, zugleich sinnlich und geistig.26
Während Ranke die Einbindung der serbischen Epik in die Gegenwart und ins Leben unterstrich, betonte der Slawist Cyprien Robert in seiner Studie Die Gusle und das Volkslied bei den Slawen (Le gouslo et la poésie populaire des slaves, 1853) umgekehrt ihre Macht, die Vergangenheit in unveränderter Form zu konservieren. Les siècles se succèdent, avec eux la société change et se transforme, mais les œuvres nouvelles des gouslars ressemblent toujours aux anciennes. Au milieu du tourbillon de nos modes et de nos arts, le gouslo reste intact, comme ces chênes séculaires des forêts vierges dont les racines poussent incessamment des rejetons pareils en tout au
23
Ebd., 34f. Ebd., 40. 25 Ebd., 36; vgl. auch Žanić 2007, 41ff. 26 Ebd., 36. 24
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vieux tronc vermoulu qui les a produites; aussi est-ce dans la poésie que la fraternité des nations slaves se montre avec le plus d’évidence […].27
Aus den beiden Texten geht hervor, dass aus dem transnationalen Volkslied auf dem Balkan zunehmend eine serbische politische Äußerung wurde, die bald einen expliziten politischen Anspruch auf Eigenstaatlichkeit formulierte. Ihre Rezeption durch den deutschen Historiker und den Slawisten in Frankreich drückte zugleich auch das Verlangen der westeuropäischen Völker aus, das Osmanische Reich wie vorher aus Griechenland nun auch aus Serbien zurückzudrängen. Das Bündnis von alt und modern, von Archaik und Fortschritt, von Folklore und Massenmedien existierte – wie im vorigen Kapitel gezeigt wurde – bereits seit den 1950er Jahren in Tito-Jugoslawien. Die Konstruktion einer bogomilischen Vergangenheit, die als Antizipation des sozialistischen Jugoslawiens galt, ferner die damit einhergehende kulturelle Synchronie des Asynchronen, in der sich unterschiedliche Kulturen und Zeiten berührten, sowie die Propagierung der Volkskunst und der „naiven“ Bauernmaler waren folkloristische Formen des Politischen. Sie alle dienten der Konstruktion des „dritten Weges“ und einer transnationalen jugoslawischen Erinnerungskultur. Seit den 1980er Jahren wurde dieselbe Folklore jedoch in den Dienst der einzelnen, zunehmend nationalistischen Erinnerungskulturen überführt. Nicht der Bruch mit Tito-Jugoslawien, sondern vielmehr deren bruchlose Fortsetzung, bisweilen sogar die Steigerung des Folkloristischen auf der nationalen Ebene, waren dafür verantwortlich, dass die Volkslieder wichtige Instrumente der nationalistischen Propaganda wurden. Was sich auf den ersten Blick wie Balkanfolklore anhört, erweist sich auf den zweiten als modernes, massenmediales Phänomen.28 Es bedurfte also keiner Regression ins Mittelalter, um die Folklore erneut zu politischen Zwecken zu instrumentalisieren. Die serbische Heldenepik wurde durch die Kontexte, in die sie nunmehr eingestellt wurde, in so verheerender Weise wirksam. Einige dieser Lieder wurden etwa in Pawlikowskis Dokumentation während der Belagerung von Sarajevo vorgetragen. In dieser Form waren sie nicht mehr Ausdruck der Volkskultur, sondern gesungene Hasspredigten, die sich gegen die muslimischen Bosnier richteten. Insofern können die Erkenntnisse der amerikanischen Rhetorikforscherin Judith Butler über rassistische Hassreden in den U.S.A. für das Verständnis der serbischen Heldenepik und ihrer Instrumentalisierung für den Krieg und die ethnische Säuberung fruchtbar gemacht werden. 27
Robert, Cyprien: Le gouslo et la poésie populaire des slaves. In: Revue des Deux Mondes II (1853), 1159-1200, hier 1163. 28 Zum Bündnis zwischen Politik und populärer Kultur vgl. auch: Borsò, Vittoria/Liermann, Christiane/Merziger, Patrick (Hrsg.): Die Macht des Populären. Politik und populäre Kultur im 20. Jahrhundert (= Reihe Kultur- und Medientheorie). Bielefeld 2010.
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In ihrer Untersuchung Hass spricht. Zur Politik des Performativen (1997) unterstreicht sie, dass das hasserfüllte Sprechen bis hin zu rassistischen Äußerungen weder einen Urheber hat noch einen Akt souveräner Macht darstellt.29 Typischerweise verhalten sich die Hassprediger so, als würde die Sprache selbst, die als Sediment der Geschichte und ihrer Sprecher zur Konvention geworden ist, aus der Tiefe eines kaum mehr zu legitimierenden Kampfes reden. Einen ähnlichen Status nimmt in Serbien die sprichwörtlich gewordene Heldenepik ein. Die juristischen Bemühungen, das verletzende Sprechen einzudämmen, neigen dazu, den „Sprecher“ als schuldigen Handlungsträger zu isolieren. Damit wird aber die Verantwortlichkeit des Sprechers fehlkonstruiert: Tatsächlich ist der Sprecher gerade wegen des Zitatcharakters des Sprechens für seine Äußerungen verantwortlich. Der Sprecher erneuert die Zeichen der Gemeinschaft, indem er dieses Sprechen wieder in den Umlauf bringt und damit wiederbelebt. Die Verantwortung ist also mit dem Sprechen als Wiederholung, nicht als Erschaffung verknüpft.30
Die performative Kraft der Sprache wird nicht durch den Inhalt, sondern durch das Aufrufen der Tradition, durch ihre Aktualisierung und Zirkulation in einem neuen Kontext entfaltet. Gerade die Wiederholung bestimmter Worte verwandle die Sprache in ein kodiertes Gedächtnis und füllt sie mit Geschichtlichkeit. In ihrer Argumentation geht Butler von John Austins sprachpragmatischem Ansatz aus,31 ergänzt ihn jedoch durch Derridas Auffassung der Iteration als Aufpfropfung.32 Die sprachlichen Äußerungen machen in diesem Prozess einen metaleptischen Sprung in der Zeit, in dem sich auch ihr Sinn erst nachträglich konstituiert. Lässt sich die Iterabilität bzw. die Zitathaftigkeit der Äußerung nicht gerade als das metaleptische Verfahren beschreiben, mittels dessen das Subjekt, das die performative Äußerung „zitiert“, als nachträglicher und fiktiver Ursprung dieser Äußerung hergestellt wird? Das Subjekt, das das gesellschaftlich verletzende Wort äußert, wird erst von der langen Kette verletzender Anrufungen mobilisiert: Es erlangt einen vorläufigen Status, in dem es die Äußerung zitiert und sich damit selbst als Ursprung der Äußerung schafft. Dieser Subjekt-Effekt ist aber nur eine Folge des Zitierens, ein abgeleiteter Effekt einer nachträglichen Metalepse, die das aufgerufene geschichtliche Vermächtnis von Anrufungen im Subjekt als „Ursprung“ der Äußerung verbirgt.33
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Butler, Judith: Hass spricht. Zur Politik des Performativen. Aus dem Englischen von Katharina Menke und Markus Krist. Frankfurt a.M. 2006 (amer. Excitable speech. A politics of the performative. NY 1997). 30 Ebd., 67f. 31 Austin, John L.: How to do things with words. Cambridge [1956] 1950. 32 Derrida, Jacques: Signatur Ereignis Kontext. In: Ders.: Randgänge der Philosophie. Hrsg. von Peter Engelmann. Wien [1976] 1999, 325-351. 33 Butler 1997, 81.
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Im Falle der serbischen Heldenepik verstärkt sich die Iterabilität bzw. Wiederholung umso mehr, als diese schon per se, als Volkslied, den Prinzipien der mündlichen Sprache, dem ständigen Wiederholen (Parallelismus, Antithese, Anapher, Epipher, Epitheton, Alliteration, Assonanz usw.) zu mnemotechnischen Zwecken folgt. Zu spezifischen psychodynamischen Mitteln der oralen Literatur, die ihre Hörer fesselt und sich in ihr Gedächtnis einprägt, zählt Walter J. Ong neben dem Ton, der Mimik und der Gestik folgende Eigenschaften: die Addition (statt, wie gewöhnlich, der Subordination) im Aufbau des Textes, die Aggregation, d.h. ein phraseologisch-schematischer Satzaufbau, die Redundanz bestimmter Textteile und die Homöostase von Motiven, d.h. der Erhalt lediglich von relevant erscheinenden Textelementen, ferner den formalen Traditionalismus, die Nähe zum Leben und zum Situativen, den agonalen kämpferischen Ton mit einer exzessiven Darstellung der Gewalt und des Bizarren, die emphatische Einfühlung und Teilnahme des Erzählers am Erzählten sowie die Sakralisierung des Wortes, dem magische Kräfte zugesprochen werden.34 Dabei handelt es sich im postkommunistischen Jugoslawien freilich nicht mehr um eine „primäre Oralität“, die in den Kulturen ohne Speichermedien besteht, sondern um eine „sekundäre“, deren mündliche Sprachstrukturen bereits unter dem Einfluss der modernen Speichermedien entstanden sind und über sie verbreitet werden (Radio, Fernsehen). Volksdichtung und populäre Unterhaltungsmedien gingen vielmehr Hand in Hand; so fand die Heldenepik in Serbien gleichzeitig im sogenannten Turbo-Folk, einer Mischung aus traditioneller Volksmusik und Pop- oder Rockmusik, eine moderne Entsprechung. Die von der Gusle begleitete oder in nationalistischen Schlagern vorgetragene Heldenepik spiegelte eine vermeintlich ursprünglich-authentische Epik des Volkes ein, wobei der Kontrast zu den westlichen Massenmedien musikalisch inszeniert und ideologisch ausgespielt wird. Die folkloristische Pseudo-archaik erweist sich weniger als Form der Regression als vielmehr als bewusst eingesetzte, anti-westliche Demonstration. Der Appell zur Rückbesinnung auf die Ursprünge der Nation wird zum Aufruf dazu, die territoriale Geschichte Serbiens neu zu schreiben, und zwar nicht mit den Mitteln der Poesie. Svetlana Boym bezeichnet solche nationalistischen Formen der Erinnerungspolitik, die in Osteuropa nach dem Fall des Kommunismus weit verbreitet waren, als „restaurative Nostalgie“.35 Während das Vergangene im Namen einer „reflexiven Nostalgie“ laut Boym als ein unabgeschlossener Prozess wahrgenommen wird, wobei wie in der Archäologie nur noch Ruinen aufgedeckt werden können, bemüht man sich unter den Vorzeichen der „restaurati34
Ong, Walter J.: Oralität und Literalität. Die Technologisierung des Wortes. Opladen 1987, 37f. 35 Boym, Svetlana: Future of Nostalgia. New York 2001, 49-54.
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ven Nostalgie“ um die Rekonstruktion oder den Wiederaufbau des Verlorenen. Während die „reflexive Nostalgie“ die unüberwindbare Kluft in der Zeit wahrnimmt, versucht die restaurative Nostalgie zeitliche Risse zu füllen, Kontinuitäten herzustellen oder sie gar zu erfinden. Während die reflexive Nostalgie eher individuell ausgerichtet ist, geht die restaurative kollektiv, oft konspirativ vor und setzt sich mit der nationalen oder nationalistischen Erinnerung gleich. Man rekurriert auf rituelle Praktiken symbolischer Natur, um die Vergangenheit heraufzubeschwören. Die restaurative Begegnung mit dem VerlorenVergangenen vergleicht Boym daher mit der Wiederbelebung einer alten Photographie: “The past for the restorative nostalgic is a value of the present; the past is not a duration but a perfect snapshot. Moreover, the past is not supposed to reveal any signs of decay; it has to be freshly painted in its ‘original image’ and remain eternally young.”36 Beim restaurativen Umgang mit der Vergangenheit geht das Moderne, wie Boym herausarbeitet, ein paradoxes Bündnis mit dem Archaischen ein: “The more rapid and sweeping the pace and scale of modernization, the more conservative and unchangeable the new traditions tend to be.”37 Je stärker die Rhetorik der Verbundenheit mit der Vergangenheit auf Kontinuität aus ist, desto selektiver wird der Umgang mit Geschichte. Boym zufolge gleiten nationale und nationalistische Gemeinschaften folgerichtig nicht regressiv in unvordenkliche Zeiten, sie transponieren vielmehr das Vergangene in die Gegenwart, wobei die Vorzeit nicht in ihrer epischen Breite auf den Plan gerufen wird, sondern als Patchwork vermeintlich archaischer Erinnerungen aktualisiert wird. Was hier belebt wird, ist nicht die traumatische ‚Urszene‘ der Geschichte, sondern vielmehr die nachträgliche Umarbeitung und Neuinterpretation der Erinnerung. Traumatische Erlebnisse und aggressive Impulse haben ihre Wurzeln nicht in einer unauslöschlichen, untergründig fortlebenden Vorvergangenheit. Sie werden durch die jeweils gegenwärtigen Ereignisse ausgelöst. So entfaltet auch das Historische seine fatale Wirkungskraft erst im Modus der Nachträglichkeit, in einer als vorkodiert imaginierten Gegenwart – als verspätete Wiederkehr unter umgekehrtem Vorzeichen.38 Durch die umschreibende und überschreibende Erneuerung der historischen ‚Urszene‘ kommt es zu Verschiebungen und Verdichtungen der ursprünglichen Bedeutung. Das „Wüten der Mythen“ auf dem Balkan ist, mit Butler und Boym gelesen, folgerichtig nicht Zeichen des Atavismus oder des Archaismus des homo balcanicus, sondern vielmehr ein mediales Ereignis – die Instrumentalisierung neu erfundener Historie im nationalistischen Kontext. 36
Ebd., 49. Ebd., 50. 38 Zum psychoanalytischen Konzept der Nachträglichkeit bei Freud: Kirchhoff, Christine: Das psychoanalytische Konzept der „Nachträglichkeit“. Zeit, Bedeutung und die Anfänge des Psychischen. Gießen 2009, 141-180. 37
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2. Die Schlacht auf dem Amselfeld: Nationalismus und Sakralisierung Das Bündnis der neuen Medien mit einer reduktionistisch dargestellten Geschichte lässt sich in Jugoslawien seit den 1980er Jahren insbesondere an der medialen Uminterpretation der Schlacht auf dem Amselfeld von 1389 verfolgen. Die mittelalterliche Schlacht, die in der Tito-Ära angesichts des multinationalen Partisanenkampfes in den Hintergrund rückte, wurde im spätkommunistischen Serbien zum zentralen, nahezu einzigen Mythos erhoben. Nicht nur in Serbien, sondern auch bei den anderen südslawischen Nationen, die einen autonomen Staat anstrebten, wurden im Vorfeld oder im Zuge der Abtrennung von Jugoslawien alte Mythen wiederbelebt oder neue erfunden.39 Wie im Panslawismus die Idee einer slawischen Verwandtschaftsbeziehung von Stamm und Blut auflebte, so instrumentalisierten die Nationalisten dieselbe Vorstellung unter rassistischem Vorzeichen.40 Besonders die Mythen, mit denen man für die Gründung des multinationalen jugoslawischen Staates warb, wurden zur Zielscheibe der Zerlegung der gemeinsamen Geschichte.41 Während die Schlacht auf dem Amselfeld seit dem Ersten Weltkrieg als gemeinsamer Kampf aller Südslawen (einschließlich Bosnier) und nichtslawischen Albaner gegen das türkische Joch gedeutet wurde, warb man seit den späten 39
Zu den wiederbelebten und neu erfundenen Mythen in den jugoslawischen Nachfolgestaaten: Sundhaussen, Holm: Jugoslawien und seine Nachfolgestaaten. Konstruktion, Dekonstruktion und Neukonstruktion von ‚Erinnerungen’ und Mythen. In: Flacke, Monika (Hrsg.): Mythen der Nationen. 1945-Arena der Erinnerung. Bd. 1. Berlin 2004, 373-413; Kolstø 2005; Brunnbauer, Ulf: Illyrer, Veneter, Iraner, Urserben, Makedonen, Altbulgaren… Autochtonistische und nicht-slawische Herkunftsmythen unter den Südslawen. In: Zeitschrift für Balkanologie 42 (2006), 37-62; Lovrenović 2008; Kuljić, Theodor: Umkämpfte Vergangenheit. Die Kultur der Erinnerung im postjugoslawischen Raum. Berlin 2010; Perica, Vjekoslav/Gavrilović, Darko: Political Myths in Former Yugoslavia and Successor States. A Shared Narrative. Dordrecht 2011; Bratož, Rajko: Das Veneter-Ideologem bei den Slowenen. In: Lauer, Reinhard (Hrsg.): Erinnerungskulturen in Südosteuropa. Bericht über die Konferenz der Kommission für interdisziplinäre Südosteuropa-Forschung im Januar 2004, Februar 2005 und März 2006 in Göttingen (= Abhandlung der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen N.F. 1). Berlin-Boston 2011, 1-35; Čolović 2011; Skordos, Adamantios: Makedonischer Namensstreit und griechischer Bürgerkrieg. Ein kulturhistorischer Erklärungsversuch der griechischen Makedonien-Haltung 1991. In: Südosteuropa Mitteilungen, 51 (2011), 3656; Ders.: Griechenlands Makedonische Frage. Bürgerkrieg und Geschichtspolitik im Südosten Europas, 1945-1992 (= Moderne europäische Geschichte 2). Göttingen 2012. 40 Zur Zerlegung der Mythen der Brüderlichkeit und Einheit: Zimmermann, Tanja. Der Umschlag der jugoslawischen „Brüderlichkeit und Einheit“ in die Rhetorik des Brudermords. In: Drews-Sylla, Gesine/Makarska, Renata (Hrsg.): Neue alte Rassismen. Differenz und Exklusion in Europa nach 1989. Bielefeld 2014 (im Druck). 41 Wachtel 1998, 54-60.
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1980er und frühen 1990er Jahren mit demselben, nun nationalistisch umgewerteten Mythos für die Desintegration Jugoslawiens. Die Bosnier und die Albaner wurden nun der türkischen Seite zugeordnet, aus den ehemaligen Mitkämpfern wurden Erzfeinde. Im Folgenden wird dargelegt, mit welchen Strategien der Kosovo-Mythos vom 19. Jahrhundert bis in die Gegenwart zu entgegensetzten Zwecken instrumentalisiert wurde.
2.1. Das Amselfeld in Reiseberichten. Die Entstehung eines mythischen Narrativs Die Schlacht auf dem Amselfeld, in der am 28. Juni, dem St. Veitstag (Vidovdan) des Jahres 1389 serbische und bosnische Verbündete dem ottomanischen Heer unterlagen,42 geriet Mitte des 19. Jahrhundert nicht nur in den Fokus der nationalen, serbischen, sondern auch der internationalen Politik. Die serbische Niederlage, umgedeutet zum moralischen Sieg, nahm erst im Rückblick schicksalhafte Züge an. Erst mit dem serbischen Freiheitskampf und der Zuspitzung der „türkischen Frage“ wurde sie in den Mittelpunkt gerückt. Der englische Generalkonsul in Serbien, Andrew Archibald Paton, machte in seinem Bericht Servia, the youngest member of the European family (1845) den Leser mit den wichtigsten Elementen der Amselfeld-Legende vertraut: der Entscheidung des serbischen Fürsten Lazar für das himmlische statt für das irdische Reich, der Heldentat Miloš Obilićs, der mitten im osmanischen Lager den Sultan Murat erstochen habe, und dem Verrat Vuk Brankovićs, der im entscheidenden Kampf seinem Schwager Lazar nicht zur Hilfe geeilt sei.43 Für den englischen Diplomaten manifestiert sich in der mittelalterlichen Schlacht der Anfang eines Jahrhunderte andauernden Kampfes der Serben um ihren Platz in der europäischen Völkerfamilie. Russische Reiseberichterstatter zeigen dagegen nur wenig Interesse an dem vermeintlich so entscheidenden Ereignis. In den fast gleichzeitigen Be42
Zu den historischen Hintergründen und zur Ausbildung von Legenden um die Schlacht auf dem Amselfeld: Sundhausen, Holm: Kosovo: ‚Himmlisches Reich‘ und irdischer Kriegsschauplatz. Kontroversen über Recht, Unrecht und Gerechtigkeit. In: Südosteuropa. Zeitschrift für Gegenwartsforschung 48 (1999), 237-257; Ders.: Kosovo – Eine Konfliktgeschichte. In: Clewing, Konrad/Reuter, Jens (Hrsg.): Der Kosovo-Konflikt. Ursachen, Verlauf, Perspektiven. Klagenfurt u.a. 2000, 65-88; Zirojević, Olga: Das Amselfeld im kollektiven Gedächtnis. In: Bremer, Thomas/Popov, Nebojša/Stobbe, Heinz-Günther (Hrsg.): Serbiens Weg in den Krieg. Kollektive Erinnerung, nationale Formierung und ideologische Aufrüstung. Berlin 1998, 45-61. 43 Paton, Andrew Archibald: Servia, the youngest member of the European family: or, a residence in Belgrade, and travels in the highlands and woodlands of the interior, during the years 1843-1844. London 1845, 219-228.
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richten V.I. Grigorovičs über seine Reise durch die slawischen Länder (Donesenia V.I. Grigoroviča ob ego putešestvii po slavjanskim zemljam) aus den Jahren 1844-47 ist das Ziel der Reise noch nicht das Amselfeld, sondern die Klöster auf dem Missionsweg der ‚Slawenapostel‘ Kyrill und Method, die von Ohrid in Mazedonien bis an die Adria und an das Ionische Meer reisten. Dennoch erwähnt der Slawist Grigorovič (1815-1876) in seinen panslawistisch gefärbten Berichten, die sich vorwiegend altkirchenslawischen Manuskripten widmen, auch die mündliche Überlieferung, die sich um die Heldengestalt von Marko Kraljević rankt. Diese sei in den Volksliedern von Thessaloniki und Ohrid bis an die Donau omnipräsent.44 Der russische Konsul in Sarajevo, Aleksandr F. Gil’ferding, veröffentlichte seine Reise durch Bosnien, die Herzegowina und Altserbien (Poezdka po Bosnii, Gercegovini i staroj Serbii, 1858) im Rahmen der Serie Aufzeichnungen der Russischen Geografischen Gesellschaft (Zapiski Russkogo Gografičeskego Obščestva). Die 1845 gegründete Gesellschaft45 entschied sich 1873 für eine Neuauflage der gesammelten Werke des verstorbenen Gil’ferding (1831-1872) – mit der Begründung, dass gerade diese Länder bis vor kurzem für die russischen Reisenden unzugänglich gewesen wären und daher auch von allen Ländern Europas am wenigstens bekannt seien.46 Zudem stünden die Bewohner dieses Gebietes, die (orthodoxen) Slawen, den Russen besonders nahe. Gil’ferding beruft sich in seiner Darlegung der Schlacht auf dem Amselfeld auf die Volksüberlieferung, deren Angaben er für „ziemlich wahrscheinlich“ hält.47 An der Schlacht hätten neben den vereinten Südslawen auch nicht-slawische Völker, die Ungarn und die Albaner unter der Führung Georgij Kastriots teilgenommen. Er wundert sich, warum Fürst Lazar die strategisch unkluge Entscheidung getroffen hatte, die Türken auf dem Amselfeld und nicht in der Schlucht Kačanik anzugreifen, obwohl ihnen das Territorium besser vertraut gewesen war als den Angreifern. Mehr als der tatsächliche Verlauf der Schlacht interessieren ihn die Volkslieder – die Schatzkammer des serbischen Volkes. Diese entnimmt er nicht den serbischen Editionen von Karadžić, sondern einer dalmatinischen Liedersammlung aus dem 18. Jahrhundert.48 Für den Leser werden Liederauszüge ins 44
Grigorovič, V. I.: Donesenia V. I. Grigoroviča ob ego putešestvii po slavjanskim zemljam. Izdanie otdelenija russkago jazyka i slovesnosti Impertorskoj akademii nauk. Kazan’ 1916, 179f. 45 Zu den Aktivitäten der Russischen Geografischen Gesellschaft vgl.: Weiss, Claudia: Wie Sibirien ‚unser‘ wurde – Die Russische Geografische Gesellschaft und ihr Einfluss auf die Bilder und Vorstellungen von Sibirien im 19. Jahrhundert. Göttingen 2007. 46 Kožančikov, D. E. (Hrsg.): Sobranie sočinenij A. Gil’ferdinga. Tom tretij. Bosnija, Gercegovina i Staraja Serbija. St Petersburg 1873, III. 47 Ebd., 167-198. 48 Ebd., 168, Anm. 1. Gil’ferding nennt ein Sammelband aus der Bibliothek des Franziskanerklosters in Dubrovnik, Popjevke slovinske skupje gg. 1758 u Dubrovniku, den
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Russische übersetzt, wie ein Lied über den Streit der beiden Schwiegersöhne des Fürsten – des Helden Miloš Kobilić (Obilić) und des Verräters Vuk Branković – vor der entscheidenden Schlacht. Außer Volksliedern zieht Gil’ferding als Quelle auch altkirchenslawische Chroniken und Viten hinzu, denen er entnimmt, dass die Serben jener Zeit nur wenig historisches Verständnis gehabt hätten.49 Auch in diesen frühen schriftlichen Zeugnissen, als das zentrale Ereignis der serbischen Geschichte noch stark präsent sein musste, fehlen Fakten.50 Zudem drückten sie keinen persönlichen Standpunkt aus, seien vielmehr der byzantinischen Phraseologie verhaftet und beschrieben die serbischen Herrscher in pharisäischen, beschönigenden Sätzen, obwohl man aus der Geschichte über ihre dynastischen Fehden im Bilde sein muss. Man erfahre aus ihnen weder etwas über das mittelalterliche Leben in Serbien noch etwas über die geschichtlichen Ereignisse: „Wie anziehend sind die russischen Chroniken, ja sogar die unverständlichen byzantinischen Historiker, nach dem Lesen der serbischen historischen Erzählungen und Viten!“51 Nicht die Chroniken der orthodoxen Kirche, sondern das serbische Volk habe in seinen Liedern die Geschichte Serbiens lebendig nacherzählt. In Russland, das seine imperialen Ansprüche auf den Balkan immer ausdrücklicher als Schutzmacht der südslawischen Stammesbrüder legitimierte, gab es keinen Platz für einen serbischen Kosovo-Mythos. Die Begeisterung für Serbien wuchs bei anderen Slawen während des erfolgreichen serbischen Befreiungskampfes, der 1878 mit der Gründung der Königreiche Serbien und Montenegro und einer eingeschränkten Autonomie Bulgariens zu Ende ging. Der tschechische Jurist und Reiseschriftsteller Gustav Rasch (1825-1878) widmete sein in Prag veröffentlichtes Buch Der Leuchtturm des Ostens. Serbien und die Serben (1874) der kriegerischen Jugend Serbiens. Im Vorwort preist er einerseits die serbische Befreiung aus eigenen Kräften, die im Norden des Landes die Herrschaft der „asiatischen Barbaren“ beendet habe, andererseits die serbische Verfassung vom 2. Juni 1869, die das Aufblühen der Kultur sowie den Fortschritt im Handel, im Transport und im Bildungswesen ermöglicht habe.52 Auch Rasch ist bestens mit allen Details der Kosovo-Legende vertraut53 und weiß, dass sich die Reliquien des „Zaren Lazar“ nicht mehr im Kloster Ravanica, sondern in Vrdnik befinden. Wie bei seinen Vorgängern wird die Schlacht auf dem Amselfeld als gemeinsame Schlacht aller Südslawen und der Albaner gegen die Osmanen Ghjuro Mattei Dubrovčanin zusammengetragen hatte und dem 1764 noch achtzehn Lieder von Iozo Bettondich hinzugefügt wurden. 49 Ebd., 189-193. 50 Ebd., 194. 51 Ebd., 194. „Kak russkie letopisi, kak daže bestolkovye Vizantinskie istoriki kažutsa privlekatel’nymi posle čtenija Serbskich istoričeskich skazanij i žitij!“ 52 Rasch, Gustav: Leuchtturm des Ostens. Serbien und die Serben. Prag 1874, VII-XV. 53 Ebd., 299f.
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bezeichnet: „Auf dem Plateau von Kossovo in Albanien standen am Vidovdan – am Tage des Heiligen Vitus – die vereinigten Serben, Bosnier und Albanesen unter dem Serbenzar Lazar den Osmanen gegenüber“.54 Lady Georgina Mary Muir Sebright Mackenzie bedauert in Travels in the Slavonic provinces of Turkey-in-Europe (1877), dass von der großen Schlacht auf dem Amselfeld keine Spuren mehr zeugen. Unhappily, the verdure and the breeze are all that now testify of Europe on the field of Kossovo [sic]. Old chronicles tell that at the time when a Turkish army first appeared on it the country was well cultivated and peopled with villages; […] Yes, in those days Kossovo belonged to Europe – to a society, though rude, of activity and progress; but it was conquered to be a pasture-ground for Turkish horses, on just such a showery morning as this, some five hundred years ago.55
Dieser Mangel wird allerdings durch ihre immer lebhaftere Vorstellungskraft kompensiert. Im Gedächtnis der Menschen sei die Schlacht bis heute präsent geblieben, was vor allem in den Volksliedern Niederschlag fände. Die Erinnerung an die Schlacht wird dem Reisenden so lebendig vermittelt, dass er den Eindruck bekomme, als hätte er selbst an ihr teilgenommen. Das Scenario ähnelt einem Theaterstück oder sogar einem Reenactment. […] and so fresh remains its memory that to this day it is scarcely possible for a traveller to converse for more than a few minutes with a genuine Serbian without hearing the name of Kossovo. After five centuries, the lessons taught by the defeat are constantly applied; the loss of the country is an ever-rankling thorn. We have ourselves been present when Serbians quarrelling were quieted by the remonstrance, “What, will we strive among yourselves like your fathers before the battle of Kossovo?” and we have heard a Serbian peasant answer, when praised for bringing in a large load of wood, “Ay, but it is time we Serbians should gather in our wood from the field of Kossovo.” As for any one, who has been much in Serbia, and has studied the national traditions and songs, he will at last come to feel almost as if he had been at the battle of Kossovo himself, so minutely is every detail enumerated, so vividly are the motives and actions realised, so deep the lines, so strong the colours, in which the principal characters are drawn.56
Jeder Serbe zwischen der Donau und dem Adriatischen Meer sei so gut mit allen Namen der legendären Helden vertraut, als wären sie seine Verwandten und Vorfahren gewesen.57 Auch den Ablauf der Schlacht, wie z.B. den Sakramentempfang vor Beginn des Kampfes, beschreibe das Volk bis ins Detail, als habe es selbst daran teilgenommen.58 Die Kosovo-Schlacht sei deswegen zum Symbol des serbischen Martyriums und der europäischen Niederlage 54
Rasch 1874, 372. Mackenzie, Sebright: Georgina Mary Muir: Travels in the Slavonic provinces of Turkey-in-Europe. London 1877, 182f. 56 Ebd., 183f. 57 Ebd., 186. 58 Ebd., 188. 55
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geworden: „Thus was Kossovo severed from Europe, and thus it became a pasture for Turkish cavalry.“59 Auch Franz Scherer berichtet in Bilder aus dem serbischen Volks- und Familienleben (1882) über die Rhapsoden, welche die Heldenlieder auf dem Nationalinstrument Gusle begleiten und auf diese Weise an die nächste Generation weitergeben. Da nimmt wohl auch der Starešina oder auch sonst ein sangskundiges Mitglied der Hausgenossenschaft die ‚Gusle‘ von der Wand herab und rezitiert eine jener Rhapsodien, an welchen die serbische Volkspoesie so ungemein reich ist. Vortrefflich passen zu diesen echt volkstümlichen Gesängen, welche an die Zeit der Iliade und die Odyssee erinnern, die monotonen Klänge der einsaitigen ‚Gusle‘. Die herrliche „Lazarica“ mit ihrer Schilderung der Schlacht am Amselfelde (,,Kosovopolje“), die Lieder von „Marko Kraljević“, dem „Königssohn“ und zugleich dem urwüchsigsten aller Liebeshelden der weiten Erde, dessen denkwürdige Abenteuer alleine schon ein umfangreicher Sagenkreis verherrlicht; ferner das prachtvolle Lied von dem heldenmütigen Verteidiger der Feste Stalač, dem tapferen Vojvoden Prijesda und seiner ebenso tugendhaften als heldenmütigen Gattin, Frau Jela – und all die vielen anderen Lieder, welche die bewegte Vergangenheit des einstigen Serbenreiches schildern und mit deren Inhalt fast jeder Serbe vertraut ist, – alle diese geschichtlichen Gesänge nebst noch mancher anderen Perle serbischer Dichtung jener längst entschwundenen Zeit, sind ein Gemeingut des serbischen Volkes. Von keinem einzigen dieser alten Lieder weiß man, wer sie gedichtet. – Und wie diese Lieder noch heute vom serbischen Volke geliebt und gepflegt werden, so war dies auch schon vor Jahrhunderten der Fall. Die Söhne haben die Kunst des Sanges, so zu sagen, von den Vätern ererbt; keine Silbe wurde eigenmächtig von ihren Nachkommen hinzugefügt, kaum ein Ton an der ursprünglichen Melodie geändert. Die schlichten, ländlichen Hausgenossenschaften mit ihrem mächtigen Familienherde waren somit durch Jahrhunderte hindurch fast die einzigen Pflegestätten der serbischen Volkspoesie und mit dieser vielleicht auch zugleich – der nunmehr wieder errungenen nationalen Freiheit!60
Adolphe d’Avril widmet in seinem Reisebericht Voyage sentimental dans les pays slaves, par Cyrille (1876) den serbischen Balladen einen großen Abschnitt. Insbesondere im Kosovo-Zyklus und in den Liedern über den Hajduken Marko sieht er den Ausdruck der serbischen Seele: «surtout la poésie qui, en remontant jusqu’au moyen âge, offre les caractères les plus propres à chaque population […] et servira à caractériser, par exemple, chacun des groupes slaves d’une manière saisissante».61 D’Avril stellt sie anderen europäischen Epen – dem germanischen Nibelungenlied, dem französischen Chanson de Roland, dem spanischen El Cid und dem russischen Igor-Lied – zur Seite.62 Die Kosovo-Legende, die er mit allen Details und Ausschmückungen kennt, 59
Ebd., 192. Scherer, Franz: Bilder aus dem serbischen Volks- und Familienleben. Neusatz/Novi Sad 1882, 68-70. 61 Avril, Adolphe de: Voyage sentimental dans les pays slaves, par Cyrille. Paris 1876, 84. 62 Ebd., 83-118. 60
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vermittelt er dem Leser in lebendiger Dialogform, als ob die Entscheidungen im Vorfeld der Schlacht noch bevorstehen würden. Die Schlacht wird einerseits immer theatralischer beschrieben und andererseits mit statistischen Angaben zur Anzahl der Kämpfer und ihrer Ausrüstung konkretisiert. In der neu gegründeten serbischen illustrierten Presse wie Srpska zora. Zabavno – poučni list sa ilustracijama (Die Serbische Morgenröte. Unterhaltsam-didaktisches Blatt mit Illustrationen 1876-81) erschienen gleichzeitig die ersten Bilder der kämpfenden Südslawen,63 wie die beiden berühmten Reproduktionen „Verletzter Montenegriner“64 und „Herzegowinaer an den Ruinen des verbrannten Hauses“65 des tschechischen Malers Jaroslav Čermák. Bald begannen auch die serbischen Maler ihre leidensvolle und zugleich heldenhafte Geschichte in Historienbildern zu verewigen, wie etwa Jaroslav Ferdo Kikerc, dessen Gemälde „Das Kosovo-Mädchen“ (Kosovska devojka) in der Zeitschrift Serbische illustrierte Nachrichten (Srpske ilustrovane novine, 1881-82) reproduziert und kommentiert wurde.66 In den späten 1880er Jahren wurde das Kosovo bereits im Zusammenhang mit den zukünftigen Aspirationen Serbiens genannt und für großserbische Pläne vereinnahmt. Emile de Laveley konstatiert in seinem bereits 1887 ins Englische übersetzten Reisebericht, dass serbische Patrioten Pläne für die Eroberung von Altserbien, dem Kosovo und Makedonien, schmieden würden: What are the future aims of Servia? They are vast and limitless, like the dreams of youth. High-minded patriots see the Empire of Dushan re-born in a far-off future, which is a mere chimera. […] Practical patriots see only one near aim, the annexation of Old Servia […].67
Zugleich bedauert er, dass zwischen den einzelnen Völkern, die einst gemeinsam gegen die Türken kämpften, Hass ausgebrochen sei: “Why, then, are there now these rivalries, hatreds, and efforts at supremacy amongst these peoples who ought to unite?”68 Harry C. Thomson beschreibt in The outgoing Turk. Impressions of a journey through the Western Balkans (1897) die orthodoxen Feierlichkeiten anlässlich des Gedächtnistages der Schlacht auf dem Amselfeld, die von einem zunehmenden Hass zwischen der serbischen und kroatischen Bevölkerung begleitet wird. 63
Ženarija, Ivana: Heroji, politika, svakodnevica: ilustrovani svet Srpske zore (18761881). Beograd 2012. 64 Srpska Zora 1 (Januar 1976), 21. 65 Srpska Zora 9 (September 1879), 165. 66 Zum Kosovo-Kult in der serbischen Historienmalerei: Makuljević, Nenad: Umetnost i nacionalna ideja u XIX veku. Sistem evropske i srpske vizuelne kulture u službi nacije. Beograd 2006, 76-82. 67 Laveleye, Emile de: The Balkan Peninsula. Übers. Mary Thorpe, Mary. London-New York 1887, 206. 68 Ebd., 246f.
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Not long after Corpus Christi day I saw an equally interesting celebration of the Orthodox Church – the anniversary of the battle of Kossovo, that last great fight, on June 15th 1389, when the life of the Serb nation was extinguished for centuries. It is to every Serb a consecrated day – a day of mourning for the past, but of a never dying aspiration for the future. At Knin, in Dalmatia, in the midst of a Catholic population, are several Serb villages, one of which bears the name of Kossovo. This year more than 10 000 peasants assembled there to celebrate the anniversary of the battle. The Catholic Croats do not share in and have no sympathy with these patriotic rites, for the Orthodox Christians are to them heretics, whom they hate almost as much as they do the Turks. […] The religious hatred existing between these Slav peoples, who are one and the same race in language and blood, is greatly to be regretted, but it is idle to hope that it will ever be obliterated, or in any sensible degree lessened. If a common misery could not unite them, it is vain to imagine that now, under happier auspices, any reconciliation can be effected. To the Serbs not only is their Church the one true faith, but to it they anchor their hope of becoming once again a great and powerful nation. I attended, in Sarajevo, a solemn service for the soul of the Serb king, Lazar, who was killed at Kossovo, and in the evening I was present at a Serb concert, where the national music was played, and national songs were sung. Everywhere there was open and undisguised enthusiasm; the passionate outburst of a crushed and outraged people in the first intoxication of comparative freedom.69
In ihrem ersten Reisebericht über Serbien, Through the land of Serbs (1904), gibt die Engländerin Mary Edith Durham das Gespräch mit einem Serben wieder. Aus diesem geht hervor, in welch immer stärker werdendem Maße die Erinnerung an die heroische Vergangenheit die serbische politische Gegenwart und Zukunft bestimmt. “Look at the few old churches that the Turks have left us. In those days we were not behind the whole of Europe. Our past was heroic; our future looks black. I am an old man, and I shall die with all my hopes disappointed. No one in the West knows how we have suffered. I, of course, remember when the Turks still occupied our forts.” They sang me snatches of Servian ballads, all monotonous wails over the slaying of someone by the Turks, ending in a cry for vengeance. I commented on their unrelieved melancholy. “Ah, Fraulein,” said the elder, “it is the suffering of five hundred years, and it is your nation that keeps the Turk in Europe.”70
In The burden of the Balkans (1905) berichtet Durham von den Jubiläumsfeierlichkeiten am 15. Juni und von der Bereitschaft der Bevölkerung, jeden Reisenden zu den Gedenkstätten der Schlacht zu führen.71 Zugleich beobachtet sie, wie in den Volksliedern die Grenze zwischen der faktischen Geschichte und der fiktiven Mythologie zunehmend verwischt wird. The popular hero of a mass of Servian ballad poetry, his exploits, as there chronicled, belongs often to the realm rather of mythology than history. […] His doughty deeds did not actually affect the fate of his nation, but, handed down in popular song, they 69
Thomson, Harry C.: The outgoing Turk. Impressions of a journey through the western Balkans. New York 1897, 31f. 70 Durham, Mary Edith: Through the land of Serbs. London 1904, 202. 71 Durham, Mary Edith: The burden of the Balkans. London 1905, 39.
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have undoubtedly helped largely to keep alive the tradition of Servian nationality through the dark centuries of Turkish rule, and the memory of him is still fresh in the lands that he swayed.72
Drei Jahre später besuchte Durham das Amselfeld. Obwohl die Orte serbische Namen tragen, sei die Bevölkerung bereits vorwiegend albanisch, schreibt sie in ihrem Reisebericht High Albania (1909).73 Dennoch würden die Serben das Gebiet als ihr eigenes betrachten, als sei es der Opferaltar des serbischen Volkes. Der Mythos der Schlacht, der in den Balladen besungen wird, überschreibt die reale Geographie. There spread out, burnt, and parched before us for miles and miles, was Kosovopolje, the fatal field on which the Turks gained the victory that established them, even to this day, in Europe – the Armageddon of the Servian people. ‚Kosovo-polje‘, said the Serb briefly. It summed up all the fate of his race. In the spring every year, he added, all the unploughed land is covered with blood-red flowers that grow in memory of the fight; they are sent by God. We struck across the great plain, uncultivated, desolate, and undulating; the parched turf was split into yawning cracks by the drought, the scrub hawthorn burnt brown, the track dusty, and we reached the Sitnitza, crawling shrivelled between banks of cracked mud – the river that once ran red with the blood of heroes. “Thy Milosh, O lady, fell by the cold waters of the Sitnitza, where many Turks perished. He left a name to the Servian people that will be sung so long as there are men and Kosovo field” – runs the ballad. Over this dreary plain spread the Turkish army, “steed by steed, warrior by warrior; the spears were like unto a black forest; the banners like the clouds, their tents like the snows; had rain fallen from the heavens it would have dropped, not upon the earth, but upon goodly steeds and warriors.”74
Der Geograph und Reiseberichtautor Hugo Grothe (1869-1954), der das Kosovo während der Balkankriege 1912-13 besuchte, fragt sich in seinem Bericht Durch Albanien und Montenegro. Zeitgemäße Betrachtungen zur Völkerkunde, Politik und Wirtschaftswelt der westlichen Balkanhalbinsel (1913), wem das Gebiet eigentlich gehöre – den Serben, die es aus mythischhistorischen Gründen beanspruchen oder den Albanern, die dort die Mehrheit der Bevölkerung stellen. Dort in Altserbien, wo der Kampf der Rassen sich oft hartnäckig und schonungslos abgespielt hat, stehen sich albanische und serbische Ansprüche hart gegenüber. Als Kampfpreis fordert Serbien sein ,,Altserbien“. Wie begründet sich diese Bezeichnung, und welche Umrisse hat dieses von nationaler Phantasie aufgebaute Gebiet? Sind seine Bewohner Serben oder Albaner, oder wann herrschte hier das eine oder andere dieser Völker? Welche Trennung baut Rasse, Sprache, Religion zwischen
72
Ebd., 40f. Durham, Mary Edith: High Albania. London 1909, 278. “The place-names, it will be noted, are all Serb. The driver, himself a Serb, said regretfully that everywhere the majority of the population is Albanian.” 74 Ebd., 278f. 73
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ihnen auf, wann und wie mischten sie sich? Das sind die Momente, die eine nähere Prüfung zur Untersuchung bringen muss.75
Auch er beobachtet den immer engeren Zusammenhang zwischen den Volksliedern und den politischen Ansprüchen der Serben.76 Demetra Vaka – hinter diesem Pseudonym verbirgt sich Mrs. KennethBrown – hebt in The heart of the Balkans (1917) während des Ersten Krieges bereits eine Parallele zwischen dem Kampf der Serben gegen die Türken und dem Kampf der Belgier gegen die Deutschen hervor. Servian history I had known long before I had ever thought of going through the Balkans. It is a history made up of great battles and great glories. It contains Kossovo, fought and lost in the fourteenth century, and glorious as any of the battles of ancient Greece. Servia then fought against Turkey, as Belgium fought against the Germanic invasion, in our time. Like Belgium she fell, but there fell with her Sultan Amurad; and though Turkey was successful – as Germany was – the crest of the wave broke, and Europe was saved. Servia’s bleeding body, like Belgium’s, lay across the pathway of the conqueror, a bulwark he could not scale. From the glorious past of a great Servia, I was brought back to a small Servia, harassed and hampered, and misgoverned by Servia, the Undaunted the degenerate son of a licentious king.77
Das Kosovo nimmt seit dem Ersten Weltkrieg nicht nur bei den Serben, sondern auch bei den alliierten Engländern einen bedeutenden Platz als Ort des Märtyrertums ein. Der Deutsche Ernst von Hesse-Wartegg vertrat in seinem im selben Jahr verfassten Reisebericht Die Balkanstaaten und ihre Völker. Reise, Beobachtung und Erlebnisse (1917) bereits die Auffassung, die Volkslieder gäben falsche Vorbilder für die serbische Jugend ab, da sie diese dazu verleiteten, zu schnell zur Waffe zu greifen.78 Der Mord – wie das Attentat auf den serbischen König Milan Obrenović und seine Gemahlin 1903 in Belgrad oder der Mordanschlag auf den österreichischen Thronfolger Franz Ferdinand und seine Gemahlin 1914 in Sarajevo zeigen – sei in Serbien ein anerkanntes politisches Mittel. Aus diesem Grund hätte das Land die höchste Mordrate in Europa. Hesse-Wartegg spricht dem Kosovo-Mythos seine religiöse Komponente ab und reduziert ihn auf ein rein nationalistisches, politisches Instrument der serbischen Elite. Man muss nämlich wissen, dass der Serbe nicht aus religiösem Gefühl seiner Kirche leidenschaftlich anhängt, sondern weil sie für ihn ein Harnisch ist für sein Volkstum. So kommt es, dass die serbische Intelligenz, die in ihrer überwiegenden Mehrheit 75
Grothe, Hugo: Durch Albanien und Montenegro. Zeitgemäße Betrachtungen zur Völkerkunde, Politik und Wirtschaftswelt der westlichen Balkanhalbinsel. München 1913, 155f. 76 Ebd., 182. 77 Vaka, Demetra: The heart of the Balkans. Boston 1917, 116. 78 Hesse-Wartegg, Ernst von: Die Balkanstaaten und ihre Völker. Reise, Beobachtung und Erlebnisse. Regensburg 1917, 41.
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atheistisch ist und alle kirchlichen Einrichtungen anderer Konfessionen ironisiert, die eigene Kirche und deren Priester, wo immer notwendig, energisch verteidigt.79
Die Entwicklung, welche die Narrative über die Kosovo-Schlacht von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg durchliefen, macht deutlich, dass sie nicht nur in der serbischen, sondern auch in der breiten europäischen Imagination einen wichtigen Platz einnahmen. Im angelsächsischen Sprachraum wurde sie demnach als Ursprung der christlichen Religiosität, des sich aufopfernden Heldentums und der südslawischen Einigkeit betrachtet, während sie im deutschen Sprachraum im Gegenteil als Ursache für dynastische Fehden, gewöhnlichen Mord und politische Attentate galt. Hinter diesen Auslegungen der Schlacht verbargen sich konkrete geopolitische Ziele, ging es doch darum, den jeweiligen imperialen Einfluss auf dem Balkan zu verankern.
2.2. London – die ‚Brutstätte‘ des Kosovo-Mythos während des Ersten Weltkrieges: Robert William Seton-Watson und Ivan Meštrovićs Kosovo-Tempel Die serbischen Volkslieder waren nicht die einzige Quelle für die Wiederbelebung des Kosovo-Mythos. Eine zweite wichtige ‚Brutstätte‘ war die antideutsche und anti-österreichische Kriegspropaganda der Alliierten in Großbritannien während des Ersten Weltkrieges. Der britische Historiker und Berater des Intelligence Bureau des Außenministeriums, Robert William Seton-Watson, Autor der Bücher The Southern Slav Question and the Habsburg Monarchy (London 1911) und The Rise of Nationality in the Balkans (New York 1918),80 war Mitorganisator einer großen Ausstellung des kroatischen Bildhauers Ivan Meštrović (1883-1962) im Victoria & Albert Museum in London im Sommer 1915.81 Die Kosten für die aufwändige Werkschau der Monumentalskulpturen wurden komplett von der serbischen Exilregierung in London getragen, die die Ausstellung als politischen Propagandaakt einsetzte.82 Die Skulpturen mit dem Titel „Kosovo-Fragmente“ warben nicht 79
Ebd., 41. Seton-Watson, Hugh/Seton-Watson, Christopher: Introduction. In: Seton-Watson, Hugh u.a. (Hrsg.): R.W. Seton-Watson and the Yugoslavs. Correspondence I: 1906-1941. London-Zagreb 1976, 11-40, insbesondere 22, 25-33; Zu Seton-Watson vgl. auch: May, Arthur J.: Seton-Watson and the Treaty of London. In: The Journal of modern history 29/1 (1957), 42-47; Ders.: R.W. Seton-Watson and British Anti-Habsburg Sentiment. In: American Slavic and East European Review 20/1 (1961), 40-51. 81 Zu Meštrovićs Tätigkeit in England: Wachtel 1998, 63f.; Clegg, Elisabeth: Meštrović, England, and the Great War. In: The Burlington magazine 144 (2002), 740-751. 82 Protokolle (Interview Memorandum, Minute Paper) des Direktors des Victoria & Albert Museums in London, Sir Cecil Smith, vom 7. Januar und 27. Februar 1915. Aufge80
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nur für einen neuen jugoslawischen Staat mit serbischer Vorrangstellung, sondern auch für den Kampf der Alliierten.83 Es handelte sich um Werke, die 1908 bis 1914 entstanden sind und teilweise bereits auf einer Ausstellung in Zagreb 1910, auf der Internationalen Ausstellung in Rom 1911 sowie in Belgrad 1912 gezeigt wurden.84 Nun erhielten sie eine neue Funktion. Die Protokollnotizen85 sowie die Korrespondenz des engagierten britischen Historikers mit dem Direktor des Museums, Sir Cecil Smith,86 und den südslawischen Politikern, geben Einblick in die Vorbereitung der Ausstellung sowie andere begleitende Aktivitäten, welche die europäische Öffentlichkeit von der Notwendigkeit der Gründung eines südslawischen Staates überzeugen sollten. So schreibt der kroatische Reeder Božo Banac aus Dubrovnik, der während des Krieges seine Schiffe den Alliierten zur Verfügung stellte, in einem Brief vom 10. Dezember 1914 an Seton-Watson, dass die Vorbereitungen für die Gründung eines jugoslawischen Komitees auf Hochtouren liefen. Das Komitee87 solle seine Arbeit, also die Einsetzung für die Gründung eines südslawischen Staates und die Aufklärung Europas in dieser Angelegenheit, am 31. Januar 1915 aufnehmen. Seine Begründer seien der kroatische Politiker Dr. Ante Trumbić, der zugleich Vorsitzender des Komitees sei, der kroatische Zeitungsherausgeber und Politiker Frano Supilo, der serbische Politiker Nikola Stojanović aus Bosnien und der Bildhauer Ivan Meštrović. Banac berichtet ebenso über die Planung einer Ausstellung von Meštrovićs Skulpturen in London und bittet Seton-Watson darum, niemandem davon zu erzählen, da sonst die Gefahr bestehe, dass Österreich den Transport der Werke aus Split nach London verhindere.88 Seton-Watson rät Trumbić in einem Brief vom 13. März 1915 dazu, auch den berühmten französischen Bildhauer Auguste Rodin als Ehrenmitglied für das Komitee zu zeichnet von Mr. Maclagan. Archiv des Victoria & Albert Museums, Blythe House, London. 83 Lécation Royal de Serbie, London, 10. März 1915. 84 Machiedo Mladinić, Norka: Političko opredjeljenje i umjetnički rad mladog Meštrovića. In: Časopis za suvremenu povijest 41/1 (2009), 143-170. 85 Interview Memorandum vom 29. Mai 1915. Aufgezeichnet von Mr. Maclagan. Archiv des Victoria & Albert Museums, Blythe House, London. 86 Der Brief von Seton-Watson vom 15. Juni 1915. Archiv des Victoria & Albert Museums im Blythe House in London. 87 Zur Tätigkeit des Südslawischen Komitees in London vgl.: Robinson, Connie: Yugoslavism in the Early Twentieth Century: The politics of the Yugoslav Committee. In: Djokić, Dejan/Ker-Lindsay, James (Hrsg.), New Perspectives on Yugoslavia. Key Issues and Controversis. London/New York 2011, 10-26; Zu Meštrovićs Tätigkeit im Südslawischen Komitee: Machiedo Mladinić, Norka: Prilog proučavanju djelovanja Ivana Meštrovića u Jugoslavenskom odboru. In: Časopis za suvremenu povijest 39/1 (2007), 133-156. 88 Seton-Watson, Hugh u.a. (Hrsg.): R.W. Seton-Watson and the Yugoslavs. Correspondence I: 1906-1941. London-Zagreb 1976, 189.
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begeistern.89 Trumbić antwortet ihm bereits am folgenden Tag und teilt mit, dass es Meštrović gelungen sei, Rodin für die südslawische Sache zu gewinnen.90 In einem Brief vom 15. März 1915 an die Frau des serbischen Außenministers, Mabel Grujić, schreibt Seton-Watson über die Vorbereitung von Vorträgen, Pamphleten und anderen Aktivitäten, welche die Ausstellung und die Feier des St. Veitstags begleiten sollten. Er zählt zahlreiche angesehene Persönlichkeiten aus hohen Kreisen der Londoner Gesellschaft auf, die er für ein Vidovdan-Komitee (Kossovo-Day-Committee) gewinnen möchte. I am writing several pamphlets – “The Spirit of the Serb” – a lecture given at London University since I returned, and now appearing in a volume on “The Spirit of the Allies”. I hope to arrange its appearing separately in pamphlet form, for purpose of propaganda […] Meanwhile we are organizing the Meštrović Exhibition, as a presentation of the Southern Slav idea in stone. The Victoria and Albert Museum is housing it, and we are engaged in forming an honorary committee. I hope it may be composed somewhat as follows: – Grey, Runciman, Samuel, Balfour, Curzon, Crawford, Cardinal Bourne, Bishop of London, Countess Benckendorff, Mrs. Asquith, Lady Whithehead, Rodin, Lavery, Sargent, Brangwyn, Tweed, Ricketts, Gill, Roger Fry, Prof. Mackail and Flinders Petrie, Sir Cecil Smith, Sir A. Evans, T.P., Noel B., Steed, Trevelyan, Christian and myself. When we have a fair selection of these, we shall try to get Queen Alexandra or Princess Louis (as a sculptress). We shall publish an illustrated catalogue and organize weekly ‘crushes’ during the exhibition, with occasional lectures. Our object is of course to show that the Croats and Serbs have a culture of their own, and that its best representatives regard themselves as a single people with two names.91
Aus dem Brief erfährt man ferner, dass sich auch die Tschechen um Professor Masaryk an der Gründung von ähnlichen Komitees beteiligen würden.92 Im Herbst desselben Jahres, am 15. Oktober 1915, hielt der tschechische Philosoph und spätere Präsident der Tschechoslowakei Tomáš Garrigue Masaryk seine Antrittsvorlesung am King’s College in London über kleine, staatenlose Völker, in dem er den Heroismus und die Bedeutung einer eigenen kulturellen Überlieferung als entscheidende Elemente für die Erhaltung der Nation hervorhob. Beide Komponenten sah er im serbischen Kosovo-Mythos gegeben, der in den serbischen Volksballaden überliefert worden sei und sich als wirksames erzieherisches Mittel sogar bei ungebildeten Bauern erweise. Während des letzten Krieges gegen die Türken war ich zufälligerweise in Serbien, und ein serbischer Offizier erzählte mir seine Erfahrungen vom Schlachtfelde. Als er an der Spitze seines Regimentes von Bauernsoldaten die Ebene von Kosovo, das berühmte „Feld der Amseln“, erreicht hatte, befiel das ganze Detachment eine Toten89
Ebd., 198. Ebd., 198. 91 Ebd., 202. 92 Ebd., 202. 90
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stille. Die Mannschaft und ihre Offiziere entblößten ohne jedes Kommando ihre Häupter, bekreuzigten sich, und jeder von ihnen versuchte sanft zu schreiten, um nicht den ewigen Schlaf seiner heroischen Vorfahren zu stören. (Hier ahmte mein Freund, ganz in die Erinnerung an jenes große Ereignis verloren, unbewusst ihren Gang nach, und seine Stimme verfiel in ein Lispeln, als er sich der Stille seiner Soldaten erinnerte.) Viele von den gebräunten Gesichtern wurden von unbewussten Tränen feucht, wie das Gesicht meines Freundes war, als er davon sprach. Auch ich war tief gerührt durch die Wiedergabe seiner Erzählung. Wie viele von den deutschen Professoren, welche gegen Serbien rasen, sind Ihrer Ansicht nach einer Träne dieser ungebildeten Bauern würdig?93
In der Ausstellung wurden das Selbstporträt des Bildhauers Ivan Meštrović im Profil mit prominenter Adlernase (Abb. 80), die Skulptur des Helden der Schlacht auf dem Amselfeld, Miloš Obilić (Abb. 81), das Reiterdenkmal des Königsohns Marko (Abb. 82), Reliefs und Skulpturen von serbischen Kriegern (Abb. 83, 84) und deren Witwen mit ihren Säuglingen (Abb. 85), von versklavten Serben sowie das Modell eines Kosovo-Tempels (Abb. 86, Abb. 87), das einmal am Ort der Schlacht errichtet werden soll, gezeigt. Einige von ihnen, fotografiert von B.O. Hoppé, wurden im Ausstellungskatalog reproduziert.
Abb. 80: Ivan Meštrović, Selbstporträt, London 1915.
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Abb. 81: Ivan Meštrović, Der Held Miloš Obilić, London 1915.
Masaryk, Tomáš Garrigue: Das Problem der kleinen Völker in der europäischen Krisis. Autorisierte Übersetzung aus dem Englischen mit einer Einleitung von Dr. Jan Reichmann. Praha-Leipzig 1922, 35ff.
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Abb. 82: Ivan Meštrović, Königssohn Marko, London 1915.
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Abb. 83: Ivan Meštrović, Verletzter serbischer Krieger mit dem Kosovo-Mädchen, London 1915.
Abb. 84: Ivan Meštrović, Serbischer Krieger im Kampf, London 1915. Abb. 85: Ivan Meštrović, Witwe mit Säugling, London 1915.
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Die Skulpturen und Reliefs wurden als „Fragmente des Kosovo-Tempels“ betitelt, wobei der Name einerseits ruinenhafte Reste aus einer vergangenen Zeit, andererseits die im zeitgenössischen Krieg von den Bomben zerstückelten Leichname der Soldaten evoziert. Neben Rodin und Seton-Watson werden als Mitglieder des Ausstellungskomitees noch der Dichter Emile Verhaeren, der Maler John Singer Sargent sowie Sir Arthur Evans, der Autor der bekannten Reiseberichte über Bosnien Through Bosnia and Hercegovina on foot during the insurrection (1876) und Illyrian lettres, A revised selection of correspondence from the Illyrian provinces of Bosnia, Erzegovina (1878), genannt. In Meštrovićs Skulpturen treten noch keine spezifisch orthodoxen Merkmale des Mythos in den Vordergrund. Trotz der Kuppel erinnert das Modell eher an assyrisch-babylonische, ägyptische und griechische Tempelbauten als an eine orthodoxe Kirche (Abb. 86, 87, 88).
Abb. 86: Ivan Meštrović, Entwurf des Kosovo-Tempels, London 1915.
Abb. 87, 88: Ivan Meštrović, Modell des Kosovo-Tempels, London 1915.
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Die Südslawen mit den Serben an der Spitze werden als ein mythischarchaisches Heroenvolk ohne nationale und religiöse Unterschiede inszeniert.94 Das Kunstwerk steht also im Dienst einer gemeinsamen südslawischen Idee der nationalen Einigung. Der Kosovo-Mythos ist im Jahre 1915 ein Mythos der Synthese und nicht des Zerfalls wie zu Beginn der Kriege um den Zerfall Jugoslawiens. Der Autor des ersten Katalogtextes „Meštrović and his Arts“, James Bone, versteht das Werk des Bildhauers als feurige Kriegskunst („the beauty of flames, which is fire itself“), die sakrale Elemente beinhalte und nicht nur der Orthodoxie, sondern dem gesamten Christentum angehöre.95 Sein Werk repräsentiere nicht nur das Leiden des serbischen, sondern auch des belgischen Volkes. Where (until last year in Belgium) but in the Balkans did Europeans know the look on the face of the tortured dead, and how young widows, fugitive from a ravaged land, sat in sorrow? In all its phrases his art is religious art, its worship of freedom, its expression of the Christian legends are founded on emotional experiences that come from reality.96
Trotz der expressiven Stilmischung, in der assyrische und griechische Elemente mit dem Erbe Michelangelos und Rodins verschmelzen, wird Meštrovićs Werk als rein christlich empfunden. Denn in den Zeiten des Krieges, so Bone, entstehe das Bedürfnis nach einem heroischen, mythisch-archaischen Kunstausdruck. In ordinary times the art of Meštrović might be too alien to England with our tradition of decorum and comfort, but in these times of stress the mood has been impelled upon us through which we can see and feel the message of his terrible images and the deep pitifulness, too, that lies within them. His heroic art, indeed, is almost the only art that does not seem alien to these mighty days.97
Bone erinnert an den Serbischen Pavillon auf der Internationalen Ausstellung in Rom 1911, auf der Meštrović bereits einige seiner Skulpturen ausgestellt und den ersten Preis gewonnen hatte. In London seien zudem an diesem Werk, das keine Parallelen in der modernen Kunst habe, auch seine Schüler, „SerboKroaten“ aus Serbien, Kroatien, Montenegro, Bosnien und Dalmatien, beteiligt gewesen. In den Archivdokumenten tauchen diese jedoch nicht auf. Das Meisterwerk eines Individuums wird auf diese Weise zum Denkmal eines südslawischen Kollektivs uminterpretiert – eines solchen, das in der Zukunft auch einen südslawischen Staat aufbauen soll. Eingehend beschreibt Bone die suggestive Wirkung des Tempelbaus mit einer Loggia aus Karyatiden und einer Sphinx am Eingang (Abb. 89), die den Betrachter prüfend mustert. 94
Zur Herstellung der synthetischen jugoslawischen Kultur und zu Mestrovićs Beitrag zu diesem Prozess: Wachtel 1998, 19-127. 95 Bone, James: Meštrović and his Arts. In: Exhibition of the Works of Ivan Meštrović. London 1915, s.p. 96 Ebd., s.p. 97 Ebd., s.p.
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Abb. 89: Ivan Meštrović, Sphinx und Karyatiden, London 1915.
Außerdem rühmt er die Skulpturen der trauernden Witwen mit ihren einfachen unmittelbaren Gesten und das monumentale Reiterdenkmal des legendären Königssohn Marko, des „serbischen Sigfried“: “In his noble caryatides he has given an eternal formula to the grave enduring Serbian women of the country; his heroes seem memories of the tall Serbian shepherds that loomed over in his youth; his widows are mothers of Serbia.”98 Für Bone verkörpern die Skulpturen nicht nur die Erinnerung an die Vergangenheit, sondern weisen ebenso als Prophezeiung in die Zukunft (“a single fury of national memories and aspirations”). The memories of their common past with its humiliations and sorrows kept alive by the constant incoming of fugitives from the Turkish oppression in Macedonia had made possible their federation and inspired their art. Mourning widows, their mission of life sealed for ever, desperate heroes, advancing Turks moving stealthy their heads lowered under a guardian arm, their right hand behind them with the ready sword, a strangely sinister apparition.99 98 99
Ebd., s.p. Ebd., s.p.
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Meštrović wird nach dem Vorbild der alten Künstlerlegenden, wie etwa von Giotto, zu einem Hirtenjungen mit künstlerischem Naturtalent stilisiert und sein Werk als “the daemonic urgency of archaic art and of the entranced singleness of the Italian primitives” charakterisiert. Meštrovićs Inspiration leitet er von den serbischen Volksliedern ab, die auch im kargen Dalmatien gesungen werden würden. His inspiration was the noble and vivid folk-song of his country, and something of the starkness and grandeur and terrible silhouettes of the wild hills seems to remind in his work. His subject was the death and resurrection of the Serbian race. […] This inspiration he found in the folk song of his country was intensified by the conditions of his life in Dalmatia, almost within hearing of the horrors of Turkish rapine and massacre. […] Mestrovic had the fortune to spend his early days in a land throbbing with an unwearied poetry, and touching on every side the primitive realities of suffering and life and death.
Die erneute Niederlage der Serben im Ersten Weltkrieg – der jugoslawische König Peter verlor die Schlacht auf dem Amselfeld und musste auf die Insel Korfu flüchten – wird letztlich dennoch vom Glauben an den zukünftigen Sieg überblendet: “Hail to Kossovo day, for it will be followed by the day of victory!”100 Der Autor des zweiten Katalogtextes über “Meštrović and the Yugoslav Idea”, der Historiker Seton-Watson, erblickt in Meštrovićs „südslawischem Pantheon“ die Verkörperung der Volksballaden über die Hajduken-Räuber und die Uskok-Piraten. Diese Lieder hätten schließlich in ihrer reinsten Form in mündlicher Überlieferung in Dalmatien überlebt.101 These splendid ballads, unequalled for directness and imagination, saved perhaps by the ballads of the Anglo-Scottish Border, have been chanted at every fair and festival by the gusla-players, who celebrate the prowess of Milos and Marko, of Zrinsky and Frankopan, and of many a famous “haiduk” chief. […] He grew up under the impression of Serbo-Croat popular poetry, which has survived in a purer form in the highlands of Dalmatia than perhaps in any other portion of Southern Slav territory. Until he was approaching manhood, these ballads were practically his only reading; and many others still exist by oral tradition. The ancient Slavonic liturgy which has been sung for over 1,000 years in some of the churches along the coast, has not been without its effect upon the language, and some critics have attempted to trace the “faraway” archaic flavour which is so noticeable in his work to this continuity of Slavonic tradition in his Dalmatian house.102
An der Sammlung der Heldenlieder hätten sich sowohl orthodoxe als auch katholische Geistliche beteiligt und dadurch zur Erhaltung einer gemeinsamen südslawischen Tradition beigetragen. 100
Ebd., 31. Seton-Watson, Robert William: Meštrović and the Yugoslav Idea. In: Exhibition of the Works of Ivan Meštrović. London 1915, s.p. 102 Ebd., s.p. 101
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Nor should one all-important factor be left unmentioned. The priests of the Serb Orthodox Church bravely kept the national flame burning in the long night of Turkish oppression, and equal credit is due to the Catholic clergy among the Croats, who have always been the true leaders of national aspiration from the Franciscan friar Kacic, who in the eighteenth century revived the tradition of popular poetry in Bosnia and Dalmatia, to the great Croat patriot Bishop Strossmayer whose centenary celebration has been submerged by the tragedy of a world-war.103
Teile des Tempels – die „Apotheose der jugoslawischen Idee“ und das „Symbol der nationalen Träume“ – seien bereits im Jahre 1911 in Zagreb und Rom und im Jahre 1912 in Belgrad ausgestellt worden; dort seien sie “widely accepted as a true expression of Serbian national tradition”.104 Seton-Watson macht Meštrović zum jugoslawischen Künstler par excellence und erklärt den südslawischen Geist seiner Werke mit den politischen Hintergründen der panslawistischen Einigungsbewegung. The short period of Meštrović’s artistic activity coincides with a period of unexampled development and unrest in the political life of his nation, and it is essential to point out that the chief impetus to the growing movement in favour of Serbo-Croat Unity came from his own province of Dalmatia. Alike in politics, in literature and in art, the moving spirits of the past ten years have been Dalmatian Croats, and the student movement which has played so great a part in Southern Slav history was at least as strong among the Croats of Dalmatia as among the Serbs of Bosnia. […] “In the Balkan sun,” exclaimed another on a public platform, “we see the dawn of our day.” Some knowledge of these facts is essential to a true understanding of Meštrović; for the man and his work are thoroughly imbued with the spirit which animates the younger generation of Yugoslavs. Indeed he combines to a remarkable degree an intimate sympathy with historic tradition and primitive feeling, and the keenest possible interest in the present day fortunes of his race.105
In den Skulpturen manifestiere sich die elementare Kraft der Serben, die sich auch im Kampf gegen Österreich bewährt und sie auf die Seite der Alliierten geschlagen habe: “Their native force and virility reveal to us the secret of the Serbian revival, and help us to understand the unconquerable spirit which has thrice repelled Austria’s ‘punitive expeditions’, and so nobly vindicated Serbia’s place in the ranks of the Allies.”106 Im anonym verfassten Katalogteil erfährt der Leser, dass das Amselfeld nicht nur “the most memorable of landmark in Balkan history” sei, sondern auch ein Ort des Christentums und der slawischen Idee: “It was at one and the same time a blow dealt at Christendom and at the Slav idea, and it has taken five and a-half centuries finally to avenge the blow. To-day we are witnessing in the movement for Yugoslav Unity the realization of long submerged ideals.”107 Meštrović hätte mit sei103
Ebd., s.p. Ebd., s.p. 105 Ebd., s.p. 106 Ebd., s.p. 107 Ebd., s.p. 104
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nen Werken den Grundstein für die christliche, südslawische Einigung gelegt und damit eine südslawische „Walhalla“ geschaffen. To him Kosovo is a historic watchword, the expression of a nation’s soul; and hence the battlefield of Kosovo that Balkan Flodden, in whose common disaster every Christian people of the Peninsula shared, and which in its expiation seems an omen of future harmony and union is the only possible site for the Southern Slav Valhalla, which he has conceived as the artistic interpretation not merely of Serb national and religious aspirations, but of the wider teachings of humanity.108
Auch die angloamerikanische Kriegsberichterstattung bediente sich einer ähnlich pathetischen Sprache wie die Londoner Pamphlete. Der Spezialkorrespondent des Daily Telegraph, Granville Fortescue, hebt beispielsweise in einem Beitrag den Heroismus und die Opferbereitschaft der Serben hervor: “In passing to the position of Serbia it is not necessary to emphasize the sacrifice made by this Slav nation. The world knows how heroically it has maintained itself against a ruthless invader and how it has withstood the ravages of disease”.109 Bei seinem amerikanischen Kollegen William Frederick Bailey kann man den modernen Krieg kaum von der historischen Schlacht auf dem Amselfeld unterscheiden, die zeitgenössischen Kampfaktionen werden von ihr überblendet. Visions of battles and bloodshed, of Turkish atrocities, of impaled Christian corpses, seem, every now and again, to loom up like thunder-clouds across the sun’s face. For this spot is Serbia’s Calvary! Far below sparkle the great rivers which in early spring overflow their banks and cover, like a vast grey sea, the immense plain. […] Backwards and forwards, backwards and forwards swayed the frenzied armies –“Jesus!”– “Allah!” “Jesus!” – “Allah!” The far-off echo of the war-cries seem to sound again, to come back across the silence of ages, bringing remembrance of that bloody noonday, which resulted in the complete rout of Mahomet and the Crescent, and victory for John Hunyades, John Capistrano and the Cross. 110
Auch serbische Intellektuelle im Exil, wie Dr. Lazare Marcovitch, der 191619 öfters in der Genfer Exilzeitung La Serbie publizierte,111 bedienten sich derselben Rhetorik der Aufopferung. Am 8. Juli 1917 unterstreicht er, dass kein anderes Volk ein so großes Blutopfer geleistet hätte wie die Serben.
108
Ebd., s.p. Fortescue, Granville: Russia, the Balkans and the Dardanelles. London 1915, 189. 110 Bailey, William Frederick: The Slavs of the war zone. New York 1917, 185ff. 111 In Genf erschien 1917 zum zweiten Mal auch Sreten Stojkovićs Liedersammlung Lazarica oder der Kampf im Kosovo. Volksepos in 24 Liedern, die zuvor 1908 in Belgrad veröffentlicht worden war (Stojković, Sreten J.: Lazarica ili Boj na Kosovu. Narodna epopeja u 24 pesme. Iz narodnih pesama i njihovih odlomaka sastavio Sr. J. Stojković. Ženeva [Genf] 1917; Stojković, Sreten J.: Lazarica ili Boj na Kosovu. Narodna epopeja u 25 pesama. Iz narodnih pesama i nihovih odlomaka sastavio. S.I. Stojković [Lasariza oder der Kampf auf dem Amselfeld]. Beograd 1908. 109
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History can already furnish examples of nations paying for their national unity with their blood. But the efforts of the Serbian people, the sacrifices they have made, and continue to make, in order to assure their independence and to free their Serbian, Croatian and Slovene brethren from a foreign yoke, surpass all that has been seen up to this time, and in the presence of this spectacle, so tragic from the human point of view, so noble and so significant from the point of view of the destinies of nations, the friends and the enemies of our nation will be able to understand why Serbia maintains this life and death struggle. The communiqués speak of square kilometres set free, but Serbian bloodshed in torrents indicates the aim, the only possible, the only conceivable aim, the complete and total liberation of our nation.112
Das Vidovdan-Komitee in London, in dem Seton-Watson eine führende Funktion innehatte, ermöglichte es den Exilserben, ab 1915 den St.Veitstag in England zu feiern. Es wurde zu diesem Zeitpunkt nicht mehr nur der Schlacht auf dem Amselfeld gedacht, sondern auch der aktuellen Ereignisse: 1915 musste die serbische Armee mit König Peter I. das erst 1912-13 eroberte Kosovo-Territorium räumen. Zahlreiche Pamphlete begleiteten die Feierlichkeiten, wie die Schrift The Lay of Kossovo. Serbia’s Past and Present (1389-1917) and Three Serbian Ballads (London 1917), die mit einer Auflage von 85 000 Exemplaren vertrieben wurde. Darin wurden die Beiträge der Komiteemitglieder aus dem Daily Express noch einmal gemeinsam veröffentlicht und außerdem serbische Balladen hinzugefügt. For the first time for centuries last year the Serbs were not able to celebrate their great national festival in freedom in their own country. Their British friends most graciously made it possible for them to observe Kossovo Day in Great Britain a tribute, of course, to the heroism of the Serbs, but also a proof of the great interest of the British public in the Serbian people and of an increasing appreciation of their cause.113
Alice and Claude Askew beschwören in „Kossovo day heroes whose memory will never fade“ die Auferstehung der toten Krieger, deren Geist die kämpfenden serbischen Soldaten anfeuern sollte. If only the dead could rise! Ah, if only our dead heroes could rise from their graves on this plain and lead back into battle! Lazar, Milosh Obilitch, Kosanchich Ivan, why do you slumber? Is Serbia to be lost a second time? […] Hail to Kossovo Day, for it will be followed by the day of victory! The day when Serbia will leap up from the dust and, binding her torn locks about her forehead, will once more resume her crown, and twisted in and out that shining circlet will be the fadeless laurel leaves that the living and the dead have won for her on the field of honour.114
112
Marcovitch, Dr. Lazare: Serbia and Europe, 1914-1920. Belgrade 1920, 81f. Harvay, F.W./Oman, C./Evans, Sir Arthur/Gjorgjevitsch, T.V./Askew, Alice and Claude/Chesterton, G.K.: The Lay of Kossovo. Serbia’s Past and Present (1389-1917) and Three Serbian Ballads. London 1916, s.p. 114 Askew, Alice and Claude: Kossovo Day Heroes whose memory will never fade. In: The Lay of Kossovo. Serbia’s Past and Present (1389-1917) by F.W. Harvay, C. Oman, Sir Arthur Evans, T.R. Gjorgjevitch, Alice and Claude Askew, G.K. Chesterton, 113
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Gilbert Keith Chesterton transformiert in „The thing called a nation. The spiritual issue of the war“ die historische Niederlage der Serben auf dem Amselfeld in einen spirituellen Sieg der heiligen Krieger, die sich im Zeichen des Christentums geopfert haben. Five hundred years ago our Allies the Serbians went down in the great Battle of Kossovo, which was the end of their triumph and the beginning of their glory. For if the Serbian Empire was mortally wounded, the Serbian nation had a chance to prove itself immortal; since it is only in death that we can discover immortality. […] It was under the sign by which Constantine conquered that Lazar fell in a failure that has been as fruitful as martyrdom. And that sign, which Constantine saw in heaven above his eagles, should be enough in itself to convey that mystery of Christendom which must always be a menace to its enemies, and above all to the Prussian, its last and its most insolent enemy.115
Lazars Martyrium vergleicht Chesterton mit einem Sakrament, das die serbische Nation an der heiligen Stätte Amselfeld gestiftet habe. And the chief fruit of this philosophy is the national idea itself, the sacramental sense of boundary, the basis in an almost religious sense of agriculture, the idea of having a home upon this earth, which the Arab armies out of the deserts can hardly even be said to have violated, having never even begun to understand.116
Zwischen 1915 und 1917 folgten weitere Publikationen des Kossovo-DayCommittee: Kossovo Day, 1389-1916 und Religion and Nationality in Serbia (1915) des orthodoxen Priesters Nicolas Velimirovic,117 T. R. Gjorgjevics Serbia and Kossovo, M. Curcins Notes on Serbian History, Seton-Watsons Serbia. Yesterday, To-day and Tomorrow, The Spirit of the Serb (1915), Serbian Ballads (1917), Serbia’s War of Liberation, Victor Bérards Heroic Serbia (1916), Fanny S. Copelands The Women of Serbia, mit einem Vorwort von Lady Paget, Without Home and Country eines anonymen serbischen Dichters sowie zahlreiche Postkarten mit Mr. Bernard Partridges Zeichnungen mit dem Titel Heroic Serbia. Im Brief vom 16. Juli 1916 an den serbischen Geographen und Ethnologen Jovan Cvijić berichtet SetonWatson über die Erfolge seiner Kampagne. and The Three Ballads. For the Anniversary of the Kossovo Day Celebration in Great Britain on the 28th of June 1916, published by the Kossovo Day Committee. London 1917, 29-31, hier 31. 115 Chesterton, G.K.: The thing called a nation. The spiritual issue of the war. In: The Lay of Kossovo. Serbia’s Past and Present (1389-1917) and The Three Ballads by F.W. Harvay, C. Oman, Sir Arthur Evans, T.R. Gjogjevitch, Alice and Claude Askew, G.K. Chesterton. For the Anniversary of the Kossovo Day Celebration in Great Britain on the 28th of June 1916, published by the Kossovo Day Committee. London 1917, 32-35, hier 32f. 116 Ebd., 34. 117 Velimirovic, Father Nicholas (Hrsg.): Kossovo Day, 1389-1916. With a decorative design of Tzar Lazar by Mr. Radovani. London 1915; Velimirović, Father Nicholas: Religion and Nationality in Serbia. With prefatory note by R.W. Seton-Watson. London 1915.
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Notre agitation pour le Vidovdan est allée admirablement. Nous avons organisé vers 70 meetings dans tout le pays le 28 juin: on a parlé de la Serbie dans plus de 12.000 écoles: nous avons «circularisé» plus de 23.000 églises, et beaucoup ont tenu des célébrations d’intercession (par example, St. Margaret’s, Westminster, l’église paroissienne du Parlament). On a donné 1000 cinémas, Il y avait des articles – et de très bons – dans presque tous la presse de Londres et des provinces est dans les grandes revues. Nous avons distribué et vendu des masses de brochures sur la Serbie et les Jugoslaves.118
Überall steht Serbien im Vordergrund. Es soll als Sammelbecken aller südslawischen Völker dienen. Der orthodoxe Priester Velimirović ist in Religion and Nationality in Serbia (1915) überzeugt, dass die serbische orthodoxe Kirche das beste spirituelle Medium für die nationalen Ideale sei, die alle religiösen Unterschiede überwänden. A proof of the above may be seen in the life of a whole nation throughout several centuries. I mean the Yugoslavs – Serbs, Croats, and Slovenes – who are one and the same nation in language, in blood, in destiny, and in their aspirations, and who to-day as one man desire to shake off the Austro-Hungarian yoke, and to build up a single undivided State with free Serbia and Montenegro. The proof alluded to consists in this, that in the great national struggle for national union and freedom which Serbia has now waged for a hundred years, her people have risen superior to all divergences of creed between the Orthodox and Catholic Churches, and have held fast only to that which unites, not to that which divides in religion.119
Auch nach dem Krieg erscheinen in England noch Pamphlete wie z.B. A war book aus dem Jahre 1919. Darin ist ein Gedicht Jean Milines abgedruckt, in dem die Serben als „gekreuzigte Nation“ bezeichnet werden – wie Polen in der Zeit der polnischen Teilungen.120 A nation crucified, a people in exile. Oppression, terrible tyranny of wrong. Blank black horizon, starless night so long. O Most Just God! Sleeps Thy slow justice still? Tarries it yet awhile? A Sculptor prophet: strange flame from the dark Gleaming through forms known, yet unknown. The living tree, the vital bronze, the sentient stone, The elemental clay wrapping anew the age-long hidden spark. We stand confounded, our thickened eyeballs dim. Life’s clamour deafly falls on unturned ears; We see the circling of the eternal spheres; We hear the immortal Sons of God chant the unending hymn.121
118
Seton-Watson, Huge (Hrsg.) u.a.: R.W. Seton-Watson and the Yugoslavs. Correspndence I: 1906-1941. London-Zagreb 1976, 270. 119 Velimirović, Father Nicholas: Religion and Nationality in Serbia. With prefatory note by R.W. Seton-Watson. London 1915, 6f. 120 Vgl. Mickiewicz, Adam: Księgi narodu polskiego i pielgrzymstwa polskiego. Paris 1832 (dt. Die Bücher des polnischen Volkes und der polnischen Pilgerschaft. Paris 1833). 121 Anonym: A War Book. London 1919, s.p.
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Somit trug Europa, insbesondere England, zur Intensivierung und Internationalisierung des Kosovo-Mythos entscheidend bei. Die Serben sind als leidendes und sich heroisch aufopferndes Volk in das europäische Gedächtnis eingegangen, das den katholischen Polen zu Seite gestellt wurde. Wie der polnische Dichter Adam Mickiewicz avancierte auch Meštrović zum Künstler-Propheten. In den 1920 und 1930er Jahren gehörte er zu den berühmtesten südslawischen Künstlern im In- und Ausland, wie aus den Katalogtexten hervorgeht.122 Hermann Wendel erwähnt den erfolgreichen Bildhauer in seinem Reisebericht Kreuz und quer durch den slawischen Süden. Von Marburg bis Monastir, von Belgrad bis Buccari. Krainer Tage (1922). Die Freigebigkeit des SHS Staats hat dem heute Siebenunddreißigjährigen mit einem lebenslänglichen Ehrensold von dreitausend französischen Franken monatlich, bitte, monatlich, irdische Sorgen von den Schultern genommen; früher musste er sich, Kind blutarmer dalmatinischer Eltern, Hirtenbube, Steinmetzlehrling in Spalato, unbemittelter Kunstakademiker in Wien, redlich durchhungern. Heute kennt ihn die Welt als größten bildenden Künstler des Südslawentums. Sein gewaltiger Vidovdan-Tempel ist als Ganzes erst im Holzmodell fertig; von seiner gegliederten Wucht zeugen, ausgeführt, die Karyatiden, die Sinnbilder und Sagengestalten; zum Gedächtnis an den Untergang der serbischen Freiheit auf dem Felde von Kosovo wird er jetzt wohl auf dem Berge Avala bei Belgrad erstehen. Ja, größter nationaler Prophet, hat Mestrović die manchmal lahmende Seele seines Volkes steil emporgerissen; die Heroika derer, die ihm durch gleiches Blut verbunden sind, hat er in unvergänglichen Stein geschrieben.123
Obwohl Meštrović zuerst in Wien im Umkreis der Sezession und dann bei Rodin gelernt hatte, leitet der österreichische Kunsthistoriker Josef Strzygowski anlässlich der Ausstellung des österreichischen Kulturbundes in Wien 1935 Meštrovićs Begabung von dessen kämpferischem südslawischem Blut ab und betrachtet seine Werke folglich als Inkarnation des südslawischen Volksgeistes.124 Aus Drniš, einem Gebirgsorte, die Bucht von Šibenik bergauf, nahe der Grenze von Bosnien geboren, hat Meštrović das Ringen der Kroaten mit den Türken im Blute. Das Amselfeld sollte der Träger eines Siegesdenkmals werden, jene durch die Völkerschlacht von 1389 geweihte Stätte, die in der Sage weiterlebt und durch den Meister erst recht in den Mittelpunkt jugoslawischer Einheitsbestrebungen gerückt werden würde. Bis jetzt ist ihm das nicht geglückt, sein Traum in Gips ruht im Museum zu 122
Vgl. Vizner-Livadić, Dr. Branimir/Vojnović, Ivo/Milčinović, Andrija: Izložba Meštrović- Rački. S.t., s.l. [Zagreb 1910]; Ali, A. Yusuf: Ivan Městrović: A monograph. Meštrović and Serbian sculpture. London 1916; Strajnić, Kosta: Ivan Meštrović. Beograd 1919; IV. kolektivna izložba Ivana Meštrovića u Zagrebu. Zagreb 1932; Ćurčin, M.: Meštrović. Zagreb 1933; Táborský, Fr.: Ivan Meštrović. S 25 vyobrazeními. Praha 1933; Ivan Meštrović. Ausstellung des Österreichischen Kulturbundes. Wien 1935; Heroische Bildhauerkunst. Fünf Werke von Ivan Meštrović. Budapest 1939. 123 Wendel, Hermann: Kreuz und quer durch den slawischen Süden. Von Marburg bis Monastir, von Belgrad bis Buccari. Frankfurt a. M., 26f. 124 Ivan Meštrović. Ausstellung des Österreichischen Kulturbundes. Wien 1935, s.p.
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Belgrad, das Amselfeld hat noch nichts von dem Seitenstück zum Diokletianpalast in Spalato und seinem Peristyl abbekommen. […] Jedenfalls handelt es sich um ein Stück Volkstum in seiner besten werbenden Kraft, uns Deutschen Österreichs näherstehend als irgendein anderes Volk der alten Monarchie. Was Meštrović aus kroatischer, heute jugoslawischer Seele in seine Werke legt, ist uns, die wir einst im engen Raume miteinander lebten, so vertraut, dass nicht erst die überströmend sinnliche Neigung des Meisters dazukommen muss, um ihn uns trotz alles Fremdartigen nahe zu bringen. Es ist ein Stück südslawischen Volkstums, das uns da entgegentritt, Leben, wie wir es heute in Wien selbst nur noch im Volkskundemuseum aus seinen greifbarsten Resten aufnehmen können.125
Auch bei einer Ausstellung in Budapest 1939, kurz vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges, wird sein Werk als Ausdruck der südslawischen Nationalität und Geschichte gepriesen. Seine individuelle Begabung geht völlig im südslawischen Kollektiv auf. Aber der Abstand zwischen seiner Eigenart und der Kunst Italiens ist groß. Zu tief ist sein Wesen in seinem eigenen Volk verwurzelt. Letzen Endes ist jede Kunst national. Denn in ihr ringt sich das Eigenste einer Nation zum Licht empor. In ihr verraten sich auch bisher unbekannt gebliebene Zusammenhänge mit anderen Völkern. Kunst ist Äußerung der seelischen Spannung nicht nur eines Einzelnen, sondern eines ganzen Volkes. So wird die Kunst zu einer Art höherer Geschichtsschreibung. Nur sollten die Menschen lernen, in ihr besser zu lesen! Was durch Jahrhunderte stumm im Unterbewussten der Massen schlummerte, erwacht plötzlich und ringt in einem einzigen Menschen nach Ausdruck. […] das Aufflammen der Volksseele in einem einzelnen Individuum; in einem Genius… Und nun schafft dieser Genius Werke, in denen sich eine neue Epoche seines Volkes ankündigt, ein neues Stadium der Entwicklung, ein neuer Abschnitt der Geschichte… Neben dem nationalen Moment spielt in der Kunst bekanntlich auch noch ein anderes Moment eine wichtige Rolle: die Natur, das Klima, das landschaftliche Bild der Heimat des Künstlers…126
Meštrović’ Werk als „elementare Gefühlsäußerung des südslawischen Volkes“127 verbinde den Norden mit dem Süden und verkünde das große Reich der Südslawen. Sein Volk hat geheimnisvolle Zusammenhänge. Mit dem Norden und mit dem Süden. Und gerade in MEŠTROVIĆ beginnen die verschollenen Wurzeln aus der Urzeit neu zu keimen… […] Die Wiederaufrichtung eines großen südslawischen Reiches nach dem Ende des Weltkrieges war für MEŠTROVIĆ als Menschen die Er125
Ebd. Heroische Bildhauerkunst. Fünf Werke von Ivan Meštrović. Budapest 1939, 7. 127 Ebd., 8. „Welch andere Sprache spricht die Natur im Osten des Adriatischen Meeres! Zwar prangt auch hier ein schmaler Küstenstreifen in südlicher Üppigkeit. Aber oben auf den steilen Höhen, wo der Karst nackt, zerklüftet, felsig, sturmumtost in die Wolken ragt, wo die Natur den Bewohnern die spärlichsten Gaben auch nur gegen harte Arbeit gönnt, sind die Voraussetzungen für Frohsinn und Lächeln kaum gegeben. Ernst, düster und schweigsam ist das Land, ernst und schweigsam sind seine Menschen. Wenn sich in diesen grauen Bergen einer Kehle ein Lied entringt, ist es entweder von einer tiefen Melancholie und Schwermut oder es ist ein harter Kampfgesang. Dies sind die elementaren Gefühlsäußerungen des südslawischen Volkes.“ 126
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füllung seines sehnlichsten Traumes, für MEŠTROVIĆ als Künstler ein gewaltiges Aufrauschen aller seelischen und schöpferischen Kräfte. Und er, der zeitlebens mit der Geschichte seines Volkes versponnenen war, wird nun ihr gewaltiger Künder.128
Wie der Bildhauer Meštrović, so verschwand auch die Kosovo-Schlacht hinter den politisch motivierten Mythologien der südslawischen Einheit. Nach der Gründung des Königreichs der Serben, Kroaten und Slowenen 1918 wurde der Kosovo-Mythos weiterhin gesamtjugoslawisch gedeutet. Den Helden der Volkslieder dichtete man schließlich in Übereinstimmung mit der Erzählung eine jeweils unterschiedliche ethnische Herkunft an.129 Erst die Pioniere des jugoslawischen Films − Josip Novak, Drago Chloupek, Kosta Novaković und Dragoljub Gosić – stellen das Kosovo in ethnographischen Filmen als Zentrum allein der serbischen Geschichte und des serbischen Volkstums dar.130 Die Albaner tauchen im diesen Filmen nicht auf. Den Regisseuren Novaković und Gosić dient die Gegenwart im Kosovo nur als Rahmen für die historische Präsentation der legendären Szenen der Schlacht sowie des serbischen Leidens in den nachfolgenden Jahrhunderten. Doch der Film endet schließlich in der ruhmreichen Gegenwart mit dem Aufzug der königlichen Armee. So wird Kontinuität zwischen den sich aufopfernden Kriegern der mittelalterlichen Schlacht von 1389 und den serbischen Soldaten im Jahre 1939 hergestellt – doch das Opfer wird vom Sieg überschrieben.
2.3. Die Auferstehung der Heiligen Krieger in Serbien 1989 Bereits vor dem Ende des Kommunismus wurde nicht nur auf dem Balkan, sondern auch in anderen Ländern Osteuropas, insbesondere in Polen und Russland, die staatlich unterdrückte Religion bzw. Kirche als eine Rahmeninstitution wiederentdeckt, innerhalb der eine aktive politische Betätigung unabhängig von der offiziellen Parteilinie möglich wurde.131 In einer ersten Phase boten die Kirchen oft ein Forum für eine Opposition, die sich nicht in Parteien organisieren durfte. In einer zweiten wurden sie, unterstützt von religiös geprägten nationalen Mythen, immer wieder in den Dienst patriotischer und nationalistischer Zwecke gestellt.132 Auch nach der Einführung der 128
Ebd., 9f. Wachtel 1998, 79ff. 130 Novak, Josip: Die Hochzeit des Königssohns Marko (Ženidba Kraljevića Marka), 1928; Chloupek, Drago: Durch unser Kosovo (Kroz naše Kosovo), 1932; Novaković,Kosta/Gosić, Dragoljub: Die Feier des 550. Jubiläums der Schlacht auf dem Amselfeld (Proslava 550-godišnjice Kosovske bitke), 1939. 131 Vgl.: Osterkamp, Jana/Schulze, Renate (Hrsg.): Kirche und Sozialismus in Osteuropa (= Recht und Religion in Mittel- und Osteuropa. Sonderband 1). Wien 2007. 132 Buchenau, Klaus: Kämpfende Kirche. Jugoslawiens religiöse Hypothek (= Erfurter Studien zur Kulturgeschichte des orthodoxen Christentums 2). Frankfurt a.M. 2006. 129
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parlamentarischen Demokratie blieb die Religion bzw. eine auf Religion rekurrierende Rhetorik in der Politik und in den öffentlichen Medien sehr präsent. Der russische Philosoph Michail Ryklin deutet in seinem Buch Kommunismus als Religion. Die Intellektuellen und die Oktoberrevolution (2008) dieses Phänomen in Russland als eine Fortwirkung der jahrzehntelangen Ausübung des Kommunismus als einer politischen Religion,133 die die wahre Religion ersetzt habe. Der alte kommunistische Herrscherkult um Lenin und Stalin, der die religiöse Transzendenz in die materialistische Immanenz überführt habe, sei in der postkommunistischen Ära nicht überwunden worden. Vielmehr sei er nun fester Bestandteil der wiederbelebten Religion und der modernen Herrscherkulte in Russland. Die Menschen kehren zurück in eine Kirche, die sich von Stalin und ihrer Unterstützung eines atheistischen Regimes nicht nur nicht distanziert, sondern Stalin – teils explizit, teils konkludent durch ausbleibenden Protest – zu einem konsequenten Freund und Förderer des Glaubens erklärt und ihn mit einer erfundenen religiösen Vorgeschichte ausstaffiert. Faktisch wird so erneut ein Kompromiss zwischen Staat und Kirche geschlossen: Der Glaube wird als Ritual wiedererlangt, während er als seelischer Zustand (Liebe, Toleranz, Gnade) negiert wird.134
Ähnliche Phänomene konnte man in der jugoslawischen spät- bzw. postkommunistischen Zeit der späten 1980er und frühen 1990er Jahren beobachten. Auch hier wurde eine Form der politischen Religion erzeugt, die mit nationalistischen Politikformen einherging. Die politisierte Religion bzw. die mit sakralen Begriffen durchdrungene politische Rhetorik aktualisierte die alte Idee vom heiligen Krieg, mittels der kriegerische Aktionen gegen die Andersgläubigen nicht nur sanktioniert, sondern sogar ins Sakrale erhoben wurden. Durch den Rückbezug auf die Situation der orthodoxen Religion vor der islamischen Eroberung nahmen die muslimischen Bosnier die Rolle der Ungläubigen an. Während im Tito-Jugoslawien die Bosnier als Nachfolger der Bogomilen den Keim des „dritten Weges“ verkörperten, erklärte die Karadžić-Regierung in der Republika Srpska sie wieder rückwirkend zu Türken und stellte eine politische Konkordanz zwischen dem mittelalterlichen Kampf der Serben gegen das Osmanische Reich und dem modernen Bosnien her. Die traditionellen Medien der Religion – Ikone, Fresko, Gottesdienst und Kirchenprozession – wurden in moderne Massenmedien wie Bild133
Zum Begriff der politischen Religion vgl.: Schmitt, Carl: Politische Theologie. Vier Kapitel zur Lehre von Souveränität. Berlin 2004; Kantorowicz, Ernst H.: Die zwei Körper des Königs. Eine Studie zur politischen Theologie des Mittelalters. Aus dem Amerikanischen von Walter Theimer. Stuttgart 1992 (amer. The King’s Two Bodies. A Study in Medieval Poltical Theology. Princeton 1957). 134 Ryklin, Michail: Kommunismus als Religion. Die Intellektuellen und die Oktoberrevolution. Aus dem Russischen von Dirk und Elena Uffelmann. Frankfurt a.M.-Leipzig 2008, 186.
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reproduktion, Pressefotografie, Fernseh- und Kinobilder, Hörspiele und Massenveranstaltungen ‚übersetzt‘ und mit diesen konflationiert.135 Diesen Prozess kann man beispielhaft an den medialen Aufarbeitungen der Schlacht auf dem Amselfeld verfolgen. Angela Richter untersuchte in diesem Zusammenhang, wie in serbischen literarischen Werken dieser Zeit das Kosovo-Thema wiederbelebt wurde.136 Als Beispiel nennt sie den Beitrag des Dichters Ivan Negrišorac „Serbische Dichtung und die Frage des Bestehens“ in der Zeitschrift Letopis Matice Srpske aus dem Jahre 1992. Der Autor spricht darin von der „dominierenden mentalen Figur der heiligen Krieger“, die bereit seien, Sünden auf sich zu laden, um die Einheit der Welt und die himmlische Ordnung zu bewahren. Im Roman des serbischen Politikers und Schriftstellers Vuk Drašković, Der russische Konsul (Ruski konsul, 1988), begibt sich der Held Ilija Jugović, der denselben Namen wie die heldenhaft gefallenen Vater und Söhne Jugovići aus der Kosovo-Ballade trägt, auf die Suche nach der serbischen Identität. Er findet sie schließlich im Mythos und der orthodoxen Eschatologie. Die Beobachtungen Richters zur medialen Aktualisierung des KosovoMythos lassen sich mit Blick auf die 1988-89 in den visuellen Medien in Serbien verbreiteten Bilder ergänzen. Erst die Expansion des Motivs der heiligen Krieger aus der Literatur mittels ausgeklügelter Strategien und Praktiken in die Massenmedien entfaltete dessen Sprengkraft. Durch diese massenmediale Verbreitung verstärkte sich nicht nur die Performanz des Motivs. Zugleich wirkte die medialisierte Religion retroaktiv auf die verstärkt nationalistische Politik zurück, der sich die Muster der religiösen Andacht und der orthodoxen Ikonographie aufprägten. In diesem dynamischen reziproken Prozess der Profanierung des Sakralen und der Re-Sakralisierung des Profanen wurde die Grenze zwischen den beiden Zonen verwischt. Im Sommer 1988 erschien auf der Umschlagseite der Sonderausgabe der Belgrader Wochenzeitung Politika intervju das Detail eines Freskos, das die heiligen Krieger gemäß einem in der Ostkirche geläufigen ikonographischen Typus darstellt (Abb. 90).
135
Zur Verschränkung von Religion und Medien vgl.: Berensmeyer, Ingo (Hrsg.): Mystik und Medien. Erfahrung – Bild – Theorie. Unter Mitarbeit von Martin Spies. München (= Reihe Mystik und Moderne IV. Herausgegeben von K. Ludwig Pfeiffer und Klaus Vondung); Malik, Jamal/Rüpke, Jörg/Wobbe, Theresa (Hrsg.): Religion und Medien. Vom Kultbild zum Internetritual. Münster 2007. 136 Richter, Angela: Rückgriffe auf den Vidovdan-Mythos in literarischen Werken des 20. Jahrhunderts. In: Behring, Eva/Richter, Ludwig/Schwarz, Wolfgang F. (Hrsg.): Geschichtliche Mythen in den Literaturen und Kulturen Ostmittel- und Südosteuropas (= Forschung zur Geschichte und Kultur des östlichen Mitteleuropas 6). Stuttgart 1999, 381-392.
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Abb. 90: Heilige Krieger, Politika intervju. Boj na Kosovu, 28. Juli 1988, Titelblatt.
Drei gerüstete, orthodoxe Heilige, die heiligen Areta, Naster und Nikita, bereiten sich auf den Kampf vor. Der Linke hält in einer Hand den Speer, mit der anderen lehnt er sich auf das Schwert. Der Mittlere zieht seine Waffe mit kraftvoller Geste aus der Scheide. Der Rechte schreitet bereits mit erhobenem Schwert in den Kampf. Die Reproduktion begleitet die Unterschrift „Kampf im Kosovo“ („Boj na Kosovu“). Die Zeitschrift wurde vom führenden und traditionsreichen Verlagshaus Politika herausgegeben und widmete sich normalerweise aktuellen politischen Themen. Darin erschienen Interviews mit jugoslawischen Spitzenpolitikern oder Kommentare zu den neuesten politischen Entwicklungen. Das Sonderheft vom 28. Juli 1988 befasste sich jedoch genau einen Monat nach dem Jahrestag der Schlacht auf dem Amselfeld mit dem vergangenen historischen Ereignis. Allerdings stellte es auch hier einen Bezug zu den gegenwärtigen politischen Trends her.
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Die Herauslösung der Krieger aus ihrem ursprünglichen sakralen Kontext und ihr Auftritt auf der Umschlagseite einer politischen Illustrierten brachten semantische Verschiebungen mit sich. Sucht man nach der Provenienz des Wandfreskos, stellt man überrascht fest, dass das Fresko nicht – wie erwartet – aus einer mittelalterlichen orthodoxen Kirche aus der Provinz Kosovo stammt. Es befindet sich vielmehr im Nordchor der Kirche der Hl. Dreieinigkeit in Resava (Manasija), etwa 130 km südöstlich von Belgrad in der Nähe von Despotovac (Abb. 91). Abb. 91: Heilige Krieger, Nordchor DreifaltigkeitsKirche in Resava/ Manasija, 1407-18.
Die Kirche liegt also nicht ‚im Herzen Altserbiens‘, sondern im äußersten Norden des serbischen mittelalterlichen Reiches. Sie wurde zwei bis drei Jahrzehnte nach der Schlacht auf dem Amselfeld, etwa von 1407 bis 1418, ausgemalt. Ihr Auftraggeber war der letzte serbische Despot Stefan Lazarević (1389-1427) – der Sohn des legendären Fürsten Lazar (1371-1389). Dieser wurde in der Schlacht auf dem Amselfeld gefangen genommen, anschließend enthauptet und letztendlich in der Auferstehungskirche in Priština begraben. Seine sterblichen Reste ließ man vermutlich im Jahre 1391 unter dem neuen
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Patriarch Danilo III. in Lazars Stiftungskirche (zadužbina) Ravanica überführen. Bald nach seinem Tod wurde der Fürst von der serbischen orthodoxen Kirche als Großmärtyrer (velikomučenik) heilig gesprochen.137 In Resava residierte der Sohn bereits als Vasall und Schwager des Sultans Bajesid. Kruševac, der Regierungssitz seines Vaters, war laut Reiseberichten nach Serbien aus dem 19. Jahrhundert durch die Errichtung der ersten Moschee auf serbischem Gebiet in den Augen des Volkes entheiligt worden.138 Der Ausschnitt in Politika intervju wurde oben so beschnitten, dass die ikonographisch dazugehörenden Märtyrer in den Medaillons nicht zu erkennen sind. Dadurch wird die ursprüngliche Parallelisierung der kämpfenden mit der sich aufopfernden Kirche – und damit der Gedanke des Opfertodes der heiligen Krieger – ausgeblendet. Die Heiligen, die im sakralen Gebäude die Idee eines zeitlosen Kampfes der Kirche gegen das Böse verkörpern, werden durch die Unterschrift „Kampf im Kosovo“ für die politische Gegenwart vereinnahmt. Die sakrale Transzendenz kippt in die totale Immanenz um. Der Raum wird durch die Ortsangabe eingegrenzt und komprimiert. Der Titel lenkt die Semantik von den Kriegern (ratnici) auf den Krieg (rat) und stellt das sakrale Bild in einen neuen Rezeptionsrahmen. Man liest die Bildunterschrift nicht als Titel, sondern als Schlagzeile,139 die über eine aktuelle militärische Auseinandersetzung berichtet. 137
138
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Zur Ausbildung des Lazar-Kultes vgl.: Popović, Miodrag: Vidovdan i časni krst. Ogled iz književne arheologije. Beograd 1976; Radojčić, Djordje S.: Izbor patrijarha Danila III. i kanonizacija Lazara. In: Glasnik Skopskog naučnog društva 21 (1940), 33-81; Ćurčić, Slobodan: Gračanica and the Cult of the Saintly Prince Lazar. In: Zbornik radova vizantološkog instituta XLIV (2007), 465-472, hier 468; http://www.crkva.se/slava_lazar.htm (Zugriff: 07.10.2008); Stevanović, Slavica: Zur Genese eines Herrscher-Mythos am Beispiel des serbischen Fürsten Lazar. In: Ackermann, Christiane/Barton, Ulrich (Hrsg.): „Texte zum Sprechen bringen“. Philologie und Interpretation. Festschrift für Paul Sappler. Tübingen 2009, 155-170. Vgl. Kanitz, Franz: Serbien. Historisch-ethnographische Reisestudien aus den Jahren 1859-1868. Leipzig 1868, 24; Rasch, Gustav: Der Leuchtturm des Ostens. Serbien und die Serben. Prag 1874, 229. Zur Schlagzeile: Tannenbaum, P.H.: The Effect of Headlines on the Interpretation of News Stories. In: Journalism Quarterly 30 (1953), 189-197, hier 197: „[…] the headline sets the stage, as it were, for the manner in which the story is read. It establishes the frame of reference within which the facts of the story are perceived. It creates the first mood or impression which subtly and perhaps unconsciously dominates the reader’s attention as he pursues the whole story. In the way, it provides a lens through which the remainder of the story or article is perceived.” Vgl. auch Büscher, Helmut: Emotionalität in Schlagzeilen der Boulevardpresse. Theoretische und empirische Studien zum emotionalen Wirkungspotential von Schlagzeilen der BILD-Zeitung im Assoziationsbereich „Tod“ (= Europäische Hochschulschriften, Reihe I: Deutsche Sprache und Literatur 1557). Frankfurt am Main u.a. 1996, insbesondere 7f., 139; De Knop, Sabine: Metaphorische Komposita in Zeitungsüberschriften. Tübingen 1987; Liehr-
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Statt direkt auf „die Schlacht auf dem Amselfeld“ (bitka na Kosovu polju) hinzuweisen, macht die Bildunterschrift mittels eines nur geringfügig modifizierten Ausdrucks „den Kampf im Kosovo“ (boj na Kosovu) zum Kontext des Bildes namhaft. Ein solches Quasi-Synonym für die historische Schlacht taucht hier nicht zum ersten Mal auf. Bereits in der berühmten Sammlung der Heldenlieder von Vuk Stefanović Karadžić aus dem Jahre 1845 findet sich diese Wendung.140 Später umschreibt sie die Anstrengungen des 1878 gegründeten Königreichs Serbien, das damals noch osmanische Kosovo-Gebiet (Altserbien) in den serbischen Staat zu integrieren, was schließlich 1913 im sogenannten Zweiten Balkankrieg von Erfolg gekrönt war. Durch die Ersetzung des Lexems „Schlacht“ (bitka) durch „Kampf“ (boj) hat sich die Semantik der Schlagzeile verschoben – und zwar in die entgegengesetzte Richtung zu jener Verschiebung, die durch die Wahl des Bildausschnitts vorgenommen wurde. Während dieser den biblischen Kampf für die zeitgenössische Kriegsabsicht konkretisiert, dehnt die Unterschrift die einmalige kriegerische Aktion auf einem begrenzten Gebiet zu einer fortdauernden kriegerischen Auseinandersetzung auf dem gesamten Territorium der Kosovo-Provinz aus.141 Die Präsenz der heiligen Krieger (ratnici) lässt darauf schließen, dass der Kampf sich bereits zum Krieg ausgeweitet hat. Sie rufen das bekannte serbische Sprichwort in Erinnerung: „Auch wenn wir die Schlacht verloren haben, den Krieg haben wir nicht verloren.“ (Iako smo izgubili bitku – nismo izgubili i rat.) In den Gestalten dieser Ritterheiligen, die in den Kampf um das Kosovo marschieren, schlägt die Opfermetaphorik in Kriegsmetaphorik um. Ihr Bild tauchte 1988-89 in verschiedenen Informations- und Unterhaltungsmedien auf. Die Redaktion von Politika intervju, der nach der Mediensäuberung im Jahre 1987 vorrangig Anhänger Miloševićs angehörten,142 zitiert im Vorwort
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Molwitz, Claudia: Über den Zusammenhang von Design und Sprachinformation. Sprachlich und nicht-sprachlich realisierte Wissens- und Bewertungsprozesse in Überschriften und Fotos auf den Titelseiten zweier Tageszeitungen (= Europäische Hochschulschriften, Reihe XXI: Linguistik, Bd. 183). Frankfurt am Main u.a. 1997. Karadžić, Vuk Stefanović: Srpske narodne pjesme. Knj. 2 u kojoj su pjesme junačke najstarije. Wien 1845. Ein Hinweis auf den Austausch der beiden Lexeme in den Texten aus dem Jahre 1989 findet sich auch bei Zirojević, Olga: Das Amselfeld im kollektiven Gedächtnis. In: Bremer, Thomas/Popov, Nebojša/Stobbe, Heinz-Günther (Hrsg.): Serbiens Weg in den Krieg. Kollektive Erinnerung, nationale Formierung und ideologische Aufrüstung. Berlin 1998, 45-61, hier 60. Zur Mediensäuberung in Serbien in den Jahren 1986-87: Nenedović, Aleksandar: Die Politika im Sturm des Nationalismus. In: Bremer/Popov/Stobbe (Hrsg.) 1998, 279-298; Veljankovski, Rade: Die Wende in den elektronischen Medien. In: Bremer/Popov/ Stobbe (Hrsg.) 1998, 299-317; Marković, Zoran M.: Die Nation: Opfer und Rache. In: Bremer/Popov/Stobbe (Hrsg.) 1998, 319-337; Milivojević, Snežana: Die Nationalisie-
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zu dem reich mit Fresken und Historienmalereien illustrierten Heft einen Auszug aus der Rede des Historikers Sima Ćirković, der zugleich Mitglied der serbischen Akademie der Wissenschaften und Künste und des Zentralkomitees der serbischen kommunistischen Partei war. Dieser betrachtet das sich annähernde Jubiläum als eine „Prüfung“ (ispit, provera), die nur bestanden werden könne, wenn das Verhältnis von Traditionellem und Aktuellem ins Gleichgewicht gebracht werde. Dabei dürfe die Geschichte weder vergessen werden noch solle sie, wie Ćirković unterstreicht, allein die zeitgenössischen Probleme lösen. Das Jubiläum sollte daher „schön, gut und universell“ gestaltet werden, damit „wenigstens die Kinder und Enkelkinder nicht gleichgültig bleiben“.143 Sogar die Werbung in dem Heft passt sich dem Leitthema und der Aufforderung an, Tradition und Gegenwart versöhnlich zusammenzubringen: So werden die südserbischen Rotweinsorten „Zar Lazar“, „Zarin Milica“ sowie ein Branntwein, auf dessen Etikett der kämpfende hl. Georg erscheint, angepriesen. Es handelt sich dabei um Produkte, die in Kruševac, dem früheren Sitz des Fürsten Lazar, hergestellt wurden (Abb. 92). Der Fürst und seine Frau auf dem Weinetikett tragen den höchsten Würdentitel des orthodoxen Staates.144 Da Lazar weder der Nemanja-Dynastie entstammt noch zu Lebzeiten die Zarenehre erlangt hatte, weisen die Titel wohl auf himmlische Ehren hin. Denn der Legende zufolge, die sich in Chroniken und Hagiographien ausbildete, wurde der Fürst (knez) vor der Schlacht vor die Wahl gestellt, sich entweder für das ewige himmlische Reich und die Niederlage oder aber für das irdische Reich und den Sieg über die Osmanen zu entscheiden. Da er sich für die Aufopferung und das Himmelsreich entschieden hatte, kann man im Rotwein auch eine Anspielung auf das eucharistische Blut sehen.
143 144
rung des täglichen Lebens. In: Bremer/Popov/Stobbe (Hrsg.) 1998, 339-355; Brunnbauer, Ulf: Medien in Serbien. In: Ostwest-Gegeninformationen 11/1 (1999), 35-40, http://www-gewi.kfunigraz.ac.at/csbsc/ostwest/11-1-99-Brunnbauer.htm (Zugriff: 25.09.2008); Brosses, Renaud de La: Politička propaganda i projekt ‚Svi Srbi u jednoj državi’. Posledice instrumentalizacije medija za ultranacionalističke svrhe. 2003, http://www.un.org/icty/bhs/cases/milosevic/documents/docpros/expert/rep-srb-b.htm, Zugriff: 27.09.2008. Politika intervju (28.07.1988), 1. Zum Verhältnis von Kirche und Staat in der Orthodoxie: Kostjuk, Konstantin: Der Begriff des Politischen in der russisch-orthodoxen Tradition. Zum Verhältnis von Kirche, Staat und Gesellschaft in Russland (= Politik- und kommunikationswissenschaftliche Veröffentlichung der Görres-Gesellschaft 24). Paderborn u.a. 2000.
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Abb. 92: Werbung für die südserbischen Rotweinsorten „Zar Lazar“, „Zarin Milica“, Politika intervju. Boj na Kosovu, 28. Juli 1988.
Gleichzeitig mit der Erscheinung des Heftes mit den heiligen Kriegern auf der Umschlagseite im Sommer 1988 begannen fieberhafte Vorbereitungen auf das 600jährige Jubiläum der Schlacht auf dem Amselfeld, das ein Jahr später gefeiert werden sollte. Die Reliquien des Fürsten Lazar ließ der serbische Patriarch German deshalb in einer über Monate andauernden Prozession aus Belgrad über mehrere heilige Stätten in Serbien und Bosnien und der Herzegowina (Vrdnik, Ozrena, Tronoše, Ćelije, Šabac, Valjevo, Kragujevac, Žiče, Ljubostinja, Pavlica) auf das Amselfeld überführen.145 Sie wurden am St. Veitstag in Gazimestan, dem Ort der Schlacht, zur Schau gestellt und im Kloster Gračanica im Gottesdienst verehrt. Nach der Feier brachte man die Reliquien über mehrere Stationen (Niš, Kruševac, Manasija) schließlich ins Kloster Ravanica, wo sie ihre endgültige Ruhestätte fanden. Dieser Tag erwies sich seit der serbischen Niederlage gegen das Osmanische Reich immer wieder als schicksalshaft: zunächst für Serbien (Attentat auf den Thronfolger Franz Ferdinand), dann für Alt- (Vidovdan-Verfassung von 1921) und schließlich für Neu-Jugoslawien (Ausschließung aus dem Kominform). Der St. Veitstag avancierte dadurch zur symbolischen Zeitschwelle. Den Höhe145
Radić, Radila: Die Kirche und die ‚serbische Frage‘. In: Bremer/Popov/Stobbe (Hrsg.) 1998, 183-2003, hier 189; Perica, Vjekoslav: Balkan Idols. Religion and Nationalism in Yugoslav States. Oxford 2002, 128.
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punkt des 600jährigen Jubiläums bildete Miloševićs Rede. Nicht nur die orthodoxe Kirche und die Politik, sondern auch die Presse und die Unterhaltungsindustrie entdeckten das im sozialistischen Staat lang verdrängte Thema der Religion und der serbischen Nation wieder. Der periphere Kosovo-Raum, die am wenigsten wirtschaftlich entwickelte Region Jugoslawiens, wurde durch unterschiedliche mediale Strategien und Praktiken nicht nur resakralisiert, sondern er wurde zu dem zentralen Ort der Präsenz des Heiligen. Seit dem Tod des jugoslawischen Präsidenten Josip Broz Tito im Jahr 1980 hatten sich im ökonomisch rückständigen Kosovo die ethnischen Auseinandersetzungen zwischen der Mehrheit der albanischen und der Minderheit der serbischen Bevölkerung verschärft.146 Die Rücknahme des Autonomie-Status des Kosovo im Jahre 1988 wurde auch mit dem Schutz der heiligen Stätte der Orthodoxie legitimiert. Nach dem ungeklärten Brand der Patriarchatskirche in Peć 1980 konnte darüber erst öffentlich diskutiert werden.147 Die mittelalterlichen Fresken, aber nicht nur die aus den serbischen Klöstern im Kosovo, eroberten die Umschlagseiten der Tageszeitungen. In der serbischen Presse, in den Geschichtsbüchern148 wie auch in einem 1986 anonym verfassten Memorandum der Serbischen Akademie der Wissenschaften und Künste,149 griff man verstärkt wieder auf die religiöse Rhetorik zurück. Die Akademiemitglieder gründeten bereits im Jahre 1983 ein Komitee für die Erforschung der Situation im Kosovo, dem Dimitrije Bogdanović,150 Sima Ćirković und Radovan Samardžić angehörten. Sie wirkten auch an der Veröffentlichung eines Sammelbandes mit den Beiträgen eines runden Tisches über die dramatische Situation im Kosovo 1988 mit.151 Durch die Verwen146
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Zu den politischen Hintergründen der Kosovo-Unruhen: Silber, Laura/Little, Allan: Bruder Krieg. Der Kampf um Titos Erbe. Deutsche Bearbeitung von Walter Erdelitsch. Graz-Wien-Köln 1995; Weller, Mark: The Crisis in Kosovo 1989-1999. Cambridge 1999 (= International Documents and Analysis 1), 15ff.; Sundhaussen 1999; Sundhaussen, Holm: Kosovo: ‚Himmlisches Reich‘ und irdischer Kriegsschauplatz. Kontroversen über Recht, Unrecht und Gerechtigkeit. In: Südosteuropa. Zeitschrift für Gegenwartsforschung 48 (1999), 237-257; Ders.: Kosovo – Eine Konfliktgeschichte. In: Clewing, Konrad/Reuter, Jens (Hrsg.): Der Kosovo-Konflikt. Ursachen, Verlauf, Perspektiven. Klagenfurt u.a. 2000 , 65-88; Ramet, Sabrina: The Three Yugoslavias. State-Building and Legitimation, 1918-2005. Washington u.a. 2006, 325-379. Perica 2002, 123-132. Pavlović, Momčilo: Jugoslovenska-srpska istoriografija o Kosovu. In: Istorija 20. veka 2 (2004), 179-188. Milosavljević, Olivera: Der Missbrauch der Autorität der Wissenschaft. In: Bremer/ Popov/Stobbe (Hrsg.) 1998, 159-182; Marković, Pedrag J./Ković, Miloš/Milićević, Nataša: Developments in Serbian Historiography since 1989. In: Brunnbauer, Ulf (Hrsg.): (Re)Writing History – Historiography in Southeast Europe after Socialism (= Studies on South East Europe 4). Münster 2004, 277-316. Autor des Buches Knjiga o Kosovu. Belgrad 1985. Ivić, Pavle (Hrsg.): Zbornik Okruglog Stola o Naučnom Istraživanju Kosova, održanog 26. i 27. februara 1985. godine. Belgrad 1988.
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dung biblischer Lexeme, wie z.B. „Exodus“ für die Auswanderung der Serben aus dem Kosovo-Gebiet, wurden nicht nur Parallelen zwischen dem auserwählten jüdischen und dem ‚auserwählten‘ serbischen Volk hergestellt.152 Die rückläufige Geburtenrate der Serben im Kosovo wurde hyperbolisch als „physischer, politischer, rechtlicher und kultureller Genozid“ bezeichnet.153 Die für das Schicksal des jüdischen Volkes vorbehaltenen Lexeme, verliehen den aktuellen politischen Ereignissen eine biblische Tragweite und vermittelten der serbischen Bevölkerung das Bewusstsein einer historischen Opferrolle ihres Volkes. Holm Sundhaussen stellt in diesem Zusammenhang zuspitzend fest, dass damit drei Epochen – der mittelalterliche Kampf gegen das Osmanische Reich, der Kampf gegen die kroatischen Ustascha im Zweiten Weltkrieg und die zeitgenössischen Auseinandersetzungen mit der albanischen Mehrheit im Kosovo – als heilsgeschichtliche Etappen miteinander parallelisiert wurden. Da in allen drei Fällen auch die Religion eine entscheidende Rolle spielte, wurde der Kampf als ein ‚Clash of Civilisations‘ inszeniert, in dem Serbien die Rolle des Schutzwalls des Christentums bzw. der orthodoxen Rechtgläubigkeit zufiel. Vor dem Hintergrund dieser Debatte beschloss das serbische Parlament im Juli 1988, die jugoslawische Verfassung aus dem Jahre 1974 zu ändern, wodurch im November die Autonomie der Provinzen Kosovo und Vojvodina abgeschafft wurden. Vom Armenhaus Jugoslawiens stieg das Kosovo 1989 wegen seiner historischen Bedeutung zum „reichsten und ältesten Zentrum Serbiens“ (Kosovo, najbogatije i najstarije središte Srbije) auf.154 Im Juni 1989 machten alle Medien − sei es im Bereich der Wissenschaft, der Kultur, der Nachrichten oder der Unterhaltung − das Kosovo zum Hauptthema. Die serbische Akademie der Wissenschaften und Künste organisierte eine internationale Konferenz. Auf dem Amselfeld wurden Konzerte organisiert, die im Fernsehen übertragen wurden. In dem noch nicht abgeschlossenen Bau der Kirche des hl. Sava in Belgrad, dem größten orthodoxen Kuppelbau nach dem Vorbild der Hagia Sofia in Istanbul, wurde eine Liturgie für 150.000 Menschen abgehalten, an der Prominente aus der Politik, Kultur und Unterhaltung teilnahmen.155 In Kunstgalerien wurden Bilder mit den Motiven aus der 152
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Blagojević, Marina: Der Exodus aus dem Kosovo. Ein serbisches Trauma im Propagandakrieg. In: Bremer/Popov/Stobbe (Hrsg.) 1998, 75-91; Zur religiös motivierten Mobilisierung zum Krieg in Jugoslawien: Perica, Vjekoslav: Balkan Idols. Religion and Nationalism in Yugoslav States. Oxford 2002, 123-132. Zur Popularisierung des Begriffs „Genozid“ in den 1980er und 1990er Jahren in Serbien: Sundhaussen 2001; Ders.: Jugoslawien und seine Nachfolgestaaten. Konstruktion, Dekonstruktion und Neukonstruktion von ‚Erinnerungen’ und Mythen. In: Flacke, Monika (Hrsg.): Mythen der Nationen. 1945 – Arena der Erinnerungen. Begleitbände zur Ausstellung. Bd. 1. Berlin 2004, 373-413. Politika 79 (28.6.1989), 10; Politika 81 (30.6.1986), 15. Politika 76 (25.6.1989), 8; Politika 77 (26.6.1989), 9.
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Schlacht auf dem Amselfeld ausgestellt.156 Den Lesern wurden die Ikonographie und die Bedeutung der heiligen Krieger erklärt.157 Serbische Verlage veröffentlichten Bücher über die Kosovo-Helden,158 Liederbücher mit alten und neu gedichteten Balladen, die auch in der Tageszeitung Politika veröffentlicht wurden. Dazu gehört z.B. die Kosovo-Hymne von Dragutin J. Iljić aus dem Jahre 1889 mit dem Refrain „Heilige Knochen der Urväter/ das serbische Volk ruft nach ihnen:/ Mörder vom Kosovo/ Segnet von jetzt an uns!“159 Neben zahlreichen soziologischen, kunstgeschichtlichen, essayistischen und religiösen Büchern über das Kosovo160 erschien auch eine Sonderausgabe der Zeitung Zavičaj (Heimat). Im Radio wurden Hörspiele übertragen, in denen das Historische mit dem Aktuellen und dem Zukünftigen collagiert wurde, wie z.B. in Dušan Radulovićs Boj na Kosovu (1989).161 Die Radiosendung fingiert ironisch den Bericht über eine Gruppe von Historikern, die nach langen Jahren ein epochales Werk über die Kosovo-Schlacht zum Abschluss brächten. Aus einem verstaubten Archiv hätten sie heterogenes dokumentarisches Material ausgegraben – Pergamente, Tonbandaufnahmen und Videos, die von dem über Jahrhunderte und Generationen andauernden Kampf zeugten. Die Sendung wird durch fingierte Werbung für einen Ofen unterbrochen, die an die verbrannte Patriarchatskirche in Peć (serb. Ofen) anspielt: „Brennt leicht – geht nie aus! Der Ofen „Kapatrijaršija!!!“162 Durch die Verschiebung der Wortgrenze wird aus der „Pećka patrijaršija“, dem Patriarchat von Peć, der Ofen „Kapatrijaršija“. Eine nächste Störung der Sendung verursachen die Reporter, die sich plötzlich mitten an
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Politika 75 (24.6.1989), 11. Politika 79 (28.6.1989), 9. Mihaljčić, Rade: Junaci kosovske legende. Belgrad 1989; Ders.: Lazar Hrebljanović. Istorija, kult, predane. Belgrad 1989. Politika 77 (26.6.1989), 19. „Svete kosti pradedova/ Srpski narod zove vas:/ Ubojice, sa Kosova,/ Blagoslovite od sad nas!“ Vgl. Komnenić, Milan: Kosovski polom. Šabac 1988; Jovicić, Vladimir/Petrović, Milorad/Jovicić, Olja (Hrsg.): Kosovo u svesti i nadahnuću srpskoga naroda. Belgrad 1988; Antić, Gavrilo: Boj na Kosovu. Istorija i predanje. Belgrad 1989; GajićZlatković, Nada: Boj na Kosovu. Nadahnuće srpskim pesnicima (= Ausstellungskatalog der Nationalbibliothek Serbiens). Belgrad 1989; Mihaljčić, Rade: The battle of Kosovo in history and popular tradition/Boj na Kosovu u istoriji i narodnom sećanju. Belgrad 1989; Ders.: Junaci kosovske legende. Belgrad 1989; Ders.: Kraj srbskog carstva. Belgrad 1989; Ders.: Lazar Hrebljanović. Istorija, kult, predanje. Belgrad 1989; Simović, Ljubomir: Boj na Kosovu. Belgrad 1989 (2. Aufl.); Đerić, Branislav: Kosovska bitka. Vojnoistorijska rasprava. Belgrad 1989; Milošević, Predrag: Sveti ratnici. Borilačke veštine u Srba. Belgrad 1989. Radulović, Dušan: Boj na Kosovu. 1989, http://www.yurope.com/people/nena/Index/Boj_na_Kosovu.html (Zugriff: 07.10.2008). Ebd., „Pali se lako – ne gasi nikako! Peć ‘Kapatrijaršija’!!!“
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der Front befinden: „Hören Sie zu, liebe Zuhörer, die Panzer kommen!“163 Auf der mittelalterlichen Burg wird vom serbischen Adel ein Brief im Stil der sozialistischen politischen Reden an den Fürsten Lazar verfasst, der jedoch nicht beendet wird. Denn die Jugovići – die Heldenfamilie aus der Kosovo-Ballade wie auch die populäre Bezeichnung für die Jugoslawen (jugovići) – können sich nicht einigen. Der Aufruf zur Mobilisierung geht im Gerede unter. Die Schlacht wird verloren, weil auf der Burg keiner weiß und auch nicht wissen möchte, was auf dem Schlachtfeld wirklich passiert. Das Hörspiel endet mit dem sprichwörtlich gewordenen Spruch: „Ich denke dennoch, dass, auch wenn wir die Schlacht auf dem Amselfeld verloren haben, wir den Krieg nicht verloren haben!“164 Zvonimir Kostićs Hörspiel Lazar, der große Fürst (Lazar, veliki knez) wurde am 28. Juni übers Radio übertragen und am 29. Juni als Spektakel am Denkmal in Kruševac aufgeführt.165 Als Grund für die Wahl der historischen Thematik nennt der Autor die Tatsache, dass es in Serbien zu einem Kontinuitätsbruch im kollektiven Gedächtnis gekommen sei. Man kenne demnach durch Shakespeares Werke die englischen Könige besser als die serbischen durch die Werke der heimischen Dichter. Am Ende des in Politika gedruckten Interviews erlaubt er sich auch ein Wortspiel: Das Amselfeld (Kosovo polje) ist ein „leeres Feld“ (prazno polje). Die Nachrichten über die Veranstaltungen wurden von Feuilletonartikeln einiger Akademiemitglieder begleitet, wie z.B. von Radovan Samardžić. Er beklagt, dass dem serbischen Volk alles weggenommen wurde, was es in Kriegen je erobert habe.166 Daher würde sich Serbien in einem „ununterbrochenen Krieg“ (neprekidni rat) befinden. Der Kosovo-Schwur – die Entscheidung des Fürsten Lazar für das himmlische Reich – und sein Vermächtnis bestimme den Nationalcharakter der Serben.167 Bogdan Petronijević zieht außerdem Parallelen zwischen der serbischen und jüdischen Geschichte, die beide voller Vertreibungen und Leid seien. Die Schuld daran hätte der gespaltene Status Serbiens (wegen der Autonomie des Kosovo und der Vojvodina) als orthodoxes Land in Jugoslawien.168 Neben zahlreichen religiösen Schriften sowie Kunst- und Geschichtsbüchern über die KosovoSchlacht erschienen 1988-89 auch zahlreiche Quasi-Geschichtsbücher zum Zwecke der anti-albanischen Propaganda.169 Ein Beispiel hierfür ist Janko 163 164 165 166 167
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Ebd. Ders., „Ja ipak mislim da iako smo izgubili Kosovsku bitku – nismo izgubili i rat!“ Žikić, Slobodan: Knez na Slobodištu. In: Politika (23.6.1989), 12. Samardžić, Radovan: Kosovsko opredeljenje Srba. In: Politika 75 (24.6.1989), 75. Ebd., 75. „Zaista, kosovsko opredeljenje najdublje je usečena crta koja obeležava zajednički karakter Srba. Ako se tom narodu, kao što se više puta htelo, iz njegove istorijske savesti silom izbaci predanje o Kosovu, to neće više biti isti narod.“ Petronijević, Bogdan: Ja više nikome neću da se izvinjavam i pravdam zato što sam Srbin. In: Politika 78 (27.6.1989), 11. Djordjević, Mirko: Die Literatur der populistischen Welle. In: Bremer/Popov/Stobbe (Hrsg.) 1998, 225-241.
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Vujinovićs Reisebericht Das Kosovo ist ein hässlicher Gerichtsort (Kosovo je grdno sudilište, Belgrad 1989). Das Buch wurde im Verlag „Die Bibliothek des VII. Jahrhunderts“, mit dem folgenden, speziell auf die KosovoThematik zugeschnittenen Motto veröffentlicht: „Sechs Jahrhunderte sind seit der Kosovo-Schlacht vergangen. Mit welchen Erkenntnissen treten wir in das VII. Jahrhundert der Post-Kosovo-Ära?“ Typisch für das Genre des Reiseberichts ist die Verschmelzung von Berichten über die Geschichte des bereisten Landes mit Essays über die dortige aktuelle politische Situation sowie die Verbindung von Beschreibungen der Landschaftskulisse mit Porträts der leidenden Menschen als auch die Fusion von Volkspoesie und Sprichwörtern mit politischen Losungen. Hier begleiten allerdings erschütternde Fotos mit scheinbar präzisen Angaben die Fresken der Erzengel und der heiligen Krieger. Im Kapitel mit dem titelgebenden Sprichwort „Das Volk wird alles vergolden“ (Sve će to narod pozlatiti)170 berichtet der Erzähler z.B. von dem Serben Miodrag Vojinović aus Orovica an der Drina, der während einer Demonstration von einem albanischen Polizisten angeschossen wurde. Dieser wollte den Täter aber nicht nennen, weil man ihm für sein Schweigen eine neue Wohnung versprochen habe. Die Erzählung illustrieren nun zwei Bilder. Einerseits unterbricht ein Photo eines Mannes mit seinem Kind auf dem Arm den Text. Auf der gegenüberliegenden Seite ist andererseits ein Freskoausschnitt eines der inzwischen bekannten heiligen Krieger als bas-de-page-Figur zu sehen (Abb. 93).171
Abb. 93: Janko Vujinović, Kosovo je grdno sudilište, Beograd 1989.
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Denselben Titel trägt auch eine Erzählung des serbischen Schriftstellers Laza Lazarević (1851-1890) aus dem Jahre 1882. Vujinović, Janko: Kosovo je grdno sudilište. Belgrad 1989, 208, 209.
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Die Bildunterschrift, die den Leser über das Photo aufklärt, kommentiert das Bild und bietet sich als Gebrauchsanweisung für den Betrachter an:172 „Die Šiptari [der pejorative Ausdruck für Kosovo-Albaner], die alte Frauen und Mädchen vergewaltigt haben, haben die Auswanderung aus dem Kosovo angetrieben. Der unglückliche Vater, Stojan Protić, hatte seine verunglückte Tochter, das dreizehnjährige Mädchen Lepa (die Schöne) im Maisfeld gefunden. Die Untersuchung hatte die Verbrecher nicht ausfindig machen können.“173 Die Information, die die Bildunterschrift verbreitet, besteht aus einem genauen und einem ungenauen Teil. Ungewöhnlich für einen Bericht mit einem derartigen Inhalt ist die Nennung des Opfers bei seinem vollen Namen. Das iterative Geschehen im Kosovo gewinnt mit der Nennung des Opfers eine spezifisch individuelle, genuine Einmaligkeit – nach Susan Sontag ein Merkmal jener Photographien, die einen moralischen Impuls auslösen wollen.174 Zur gleichen Zeit jedoch fehlen die üblichen informativen Angaben zu Ort und Datum. Die Aussage wird zwar personalisiert, aber aus dem Bereich des linear Historischen in den Bereich des sich zyklisch Wiederholenden überführt.175 Vater und Tochter verschmelzen zur figura des Exemplums. Das sorgfältig arrangierte Photo,176 auf dem die Protagonisten posierend in die Kamera schauen, entspricht der Praxis des komponierenden Kunstgriffs der frühen Photographie des späten 19. Jahrhunderts, die noch mit langen Belichtungszeiten zu kämpfen hatte. Die Photographie – spätestens seit der Kriegsberichterstattung der späten 1920er Jahre das Medium des ungestellten, momentanen Erlebnisses – erstarrt hier also trotz ihrer indexikalischen Evidenz wieder zum ikonischen Zeichen, zum Genre des Andachtsbildes. Durch den schlechten Schwarz-Weiß-Druck wird zudem die Differenz zwischen dem technisch-denotativen und dem kultu172
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Zur Rolle der Bildunterschriften: Sontag, Susan: Das Leiden anderer betrachten. Aus dem Englischen von Reinhard Kaiser. München-Wien 2003 (engl. Regarding the pain of Others. NY 2003), 17: „Jedes Foto wartet auf eine Bildlegende, die es erklärt – oder fälscht.“ Vujinović 1989, 208. „Šiptari su silujući starice i devojčice doprineli iseljavanju sa Kosova. Nesrećni otac Stojan Protić je pronašao unesrećenu kćerku, trinaestogodišnju devojčicu Lepu u kukuruzištu. Istraga nije otkrila zločince.“ Sontag, Susan: Über Fotografie. Aus dem Amerikanischen von Maerk W. Rien und Gertrud Baruch. Frankfurt a.M. 2004 (amer. On Photography, New York 1977), 22f.: „Moralische Empfindungen sind aber in die Geschichte eingebettet, deren personae konkret, deren Situationen immer spezifisch sind. So gelten nahezu entgegengesetzte Regeln für die Verwendung der Fotos zur Erweckung der Begierde und für ihre Verwendung zur Erweckung des Gewissens. Die Bilder, die das moralische Gewissen mobilisieren, beziehen sich immer auf eine bestimmt historische Situation. Je allgemeiner ihre Aussage ist, desto geringer die Wahrscheinlichkeit, dass sie etwas bewirken.“ Flusser, Vilém: Für eine Philosophie der Fotografie (= Edition Flusser, Hrsg. Andreas Müller-Pohle). Berlin 2006, 55f. Susan Sontag (Sontag 2003, 29) vergleicht das Foto, dem sie als Standbild eine nachhaltigere Wirkung zuschreibt, mit einem Zitat, einer Maxime und einem Sprichwort.
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rell-kodierten Medium – das Photo und das Fresko gehören beide einem anderen reproduktiven Medium an – aufgehoben. Einerseits wird durch die Gleichbehandlung das Photo der Ikone angenähert. Zwar entspricht das Motiv des seine Tochter tragenden Mannes keinem traditionellen Ikonentyp. Doch rufen die frontale Komposition und der Bildausschnitt unterhalb des Arms des Mannes sowohl den Typus der Madonna als auch speziell den der Pietà in Erinnerung. Andererseits wird das Fresko als eine Presseillustration aktualisiert: Der Krieger steht nunmehr für den bewaffneten Demonstranten. Das Photo, das den Text visuell ergänzt und emotional verstärkt, kann noch im Rahmen der Erzählung gelesen werden. Der heilige Krieger außerhalb des Textes, zu dem jegliche Angabe fehlt, fällt hingegen aus diesem Rezeptionsrahmen heraus. Statt mit dem Text korrespondiert er mit dem Photo auf der gegenüberliegenden Seite. Schließlich blickt er mit zurückgewandtem Kopf auf das Bild zurück, während er gleichzeitig mit erhobenem Schwert nach rechts aus der Buchseite heraus zur Tat zu schreiten scheint. Nicht das sakrale Bild beglaubigt das Foto, sondern umgekehrt, die Photographie bestätigt die Präsenz und das Handeln des Kriegers. Dem lesenden Betrachter stellt das Fresko damit ein dynamisch-pragmatisches imitatio- und conformatio-Modell für sein Verhalten bereit, das man von Andachtsbildern kennt. Das Ziel dieser Bildstrategie ist die Angleichung des Betrachters an den heiligen Krieger – wie dieser soll auch der Leser die Waffe erheben und zur Tat schreiten. 1988 verfasste der bekannte serbische Schriftsteller Ljubomir Simović177 ein Historiendrama in Blankversen über die Schlacht auf dem Amselfeld, das in Serbien schnell zum Bestseller wurde. Das Drama mit dem Titel Kampf im Kosovo (Boj na Kosovu) erhielt schließlich bereits 1989 und 1991 Neuauflagen.178 Es war außerdem die Vorlage für die gleichnamige Verfilmung des Regisseurs Zdravko Šotra, die genau eine Woche vor dem Jubiläum der Schlacht in die Kinos kam und am St. Veitstag auch im Fernsehen gezeigt wurde. Zu diesem doppelten Zweck der Vorführung wurde der Film mit elektronischen Kameras wie ein Fernsehfilm und nicht als Kinofilm gedreht. Vom Journalisten Ljubomir Basić erfährt man, dass die Dreharbeiten innerhalb eines Monats beendet wurden.179 Der Kritiker Milan Vlajčić bedauert, dass nicht der erste Film über die Schlacht auf dem Amselfeld von Kosta Novaković und Dragoljub Gosić aus dem Jahre 1939 ausgestrahlt wurde. Denn der neue Film sei mit seiner unpassenden Stilisierung ein missglücktes Hybrid aus einem Theaterstück und historischem Spektakel. Er eigne sich
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Der Schriftsteller avancierte Ende 1988 zum Korrespondenzmitglied der Serbischen Akademie der Wissenschaft und Kunst. Im Jahre 2002 fertigte der Autor eine zweite Variante seines Poems an, aus der er alle Elemente, die zur Kriegspropaganda dienten, entfernte. Basić, Ljubomir: Dijalog sa istorijom. In: Politika (23.6.1989), 13.
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deswegen eher als ein Hörspiel.180 Im Film vermisst er zwei romantische Elemente aus den Balladen – erstens den Schwur des Fürsten Lazar und zweitens das Amselfeld-Mädchen (Kosovska devojka), die den verwundeten Kriegern Wasser spendet. Denn im Film sind alle Krieger bei ihrer Ankunft bereits tot. Dafür wurde jedoch der historisch umstrittene Verrat durch Vuk Branković aufgenommen. Im Film werden keine artificia, also keine Fresken, gezeigt. Stattdessen tritt nach dem Vorbild von Andrej Tarkovskijs Film Andrej Rublëv deren vermeintlicher Schöpfer auf. Es handelt sich um den Mönch Makarij, der fast alle Kirchen des Fürsten Lazar geschmückt haben soll. Er folgt dem Aufruf des Patriarchen, vor der Schlacht auf dem Amselfeld an der Kommunion der serbischen Ritter teilzunehmen. Im dichten Nebel vom richtigen Weg abgekommen, begegnet er dem blinden Mönch Teofan, der sein Wegweiser wird. Auf die Frage, in welche Richtung sie gehen sollen, gibt der Blinde die Antwort, dass alle Wege, die man nehme, auf das Amselfeld führen. Denn „heute gibt es in Serbien keinen andern Weg, als den, der ins Kosovo oder vom Kosovo wegführt“.181 Das Kosovo wird also zum Zentrum der Kreisstruktur einer absurden Welt bzw. zur Ringfigur der ewigen Gottheit, die sich überall hin erstreckt. Geführt von dem blinden Mönch erreicht der Maler rechtzeitig sein Ziel, denn „den Weg ins Kosovo sieht man auch ohne Augen“.182 Mircea Eliade hat in seinem Buch Das Heilige und das Profane herausgestellt, dass der sakrale Raum von einer Inhomogenität gekennzeichnet ist, sodass in ihm keine planmäßige Orientierung möglich ist.183 Die Bewegung im sakralen Raum erfolge nicht durch die Wahl eines Weges, sondern sie beruhe auf instinktivem Suchen und Finden.184 In ihm verberge sich eine axis mundi, ein Zentrum, in dem die Ebenen des Himmels und der Erde durchbrochen werden würden.185 Auch das Kosovo in Simovićs Drama ist kein kartographischer Ort (lieu), in dem man sich gemäß einer geometrischen Ordnung bewegen könnte. Vielmehr ist er, um mit Michel de Certeau zu sprechen, ein relativer, relationaler Raum der Erfahrung (espace).186 Er wird durch die zurückgelegte Strecke (parcours), durch die Raumpraktiken bestimmt, die den 180 181
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Vlajčić, Milan: Drama o kosovskom izboru. In: Politika (23.6.1989), 13. Simović 1989, 11f.: „Jeste, na tu! Ali se ide i na onu tamo! I na onu onamo! I na onu stranu s koje si došao! [...] Svaki će te pramac tamo odvesti! Danas u Srbiji nema drugog puta do puta na Kosovo, ili sa Kosova!“ Ders. 1989, 39. „Put na Kosovo se i bez očiju vidi!” Eliade, Mircea: Das Heilige und das Profane. Vom Wesen des Religiösen. Frankfurt a.M. (fr. La sacré et le profane. Paris 1965) 1984, 23. Simović 1989, 28. Ders., 44. Certeau, Michel de: Praktiken im Raum. In: Dünne, Jörg/Günzel, Stephan (Hrsg.): Raumtheorie. Grundlagen aus Philosophie und Kulturwissenschaften. Frankfurt a.M. 2006, 345-353.
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Raum generieren.187 Doch ist er ein Erfahrungsraum besonderer Ordnung. Autor und Regisseur beschwören jeweils ein Ambiente, das seine Koordinaten nur durch die inneren, religiösen Bewegungsanweisungen erhält, in dem das äußerlich Sichtbare kein Orientierungswissen mehr bereithält. Beeindruckt von der Kraft der geistigen Augen Teofans will auch der Maler-Mönch seine gesunden Augen aufgeben, um jenseits der Grenze des Sichtbaren zu sehen – jener Grenze, die er beim Malen des Jüngsten Gerichts mit dem Pinsel beinahe schon einmal verwischt hätte. Teofan verspricht ihm, dass er noch heute auf dem Amselfeld die Sehkraft seiner leiblichen Augen verlieren werde. Die beiden Mönche erreichen das Ziel in dem Augenblick, als der Patriarch Spiridon am Morgen des St. Veitstages vor der Kirche Johannes des Täufers in Samodreža mit dem Gottesdienst beginnt. Im Augenblick der Kommunion (Abb. 94) und der Segnung der serbischen Ritter ruft er heilige Krieger und Erzengel herbei: Ich rufe herbei den heiligen Krieger Georg, den heiligen Krieger Demetrius, den heiligen Prokopius, den heiligen Theodor Tiron, Theodor Stratilat, den heiligen Merkur, den heiligen Arthemius, den heiligen Nikita, den heiligen Eusebius, den Erzengel Gabriel, und den Ruhm der Nemanja-Dynastie, den Erzengel Michael, den Michael mit zwölf Flügeln und bitte sie: Richtet uns auf, unterstützt uns und führt uns, damit wir in den Kampf gehen wie Schnitter zur Ernte, und damit wir mit reichlichem Brot aus dem Kampf zurückkehren! Strahl’ auf uns heute und erhelle uns, Himmel, fülle dich mit den Ikonen, mit den Ikonen auf heiligen Fahnen, und stärke uns, damit wir würdig für ewiges und seliges Leben kämpfen!188
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Ebd., 351f. „Der Unterschied in den beiden Beschreibungsformen liegt offensichtlich nicht in dem Vorhandensein oder Fehlen der Praktiken begründet, sondern in der Tatsache, dass die Karten, die einen eigenen Ort bilden, an dem die Produkte des Wissens ausgestellt sind, Schaubilder mit lesbaren Resultaten bilden. Die Erzählungen vom Raum heben im Gegensatz dazu die Aktivitäten hervor, die es erlauben, den Raum an einem aufgezwungenen und nicht ‚eigenen’ Ort trotzdem zu ‚verändern’ […] Von dem Volksmärchen bis zu den Beschreibungen von Wohnungen werden die Erzählungen durch eine Steigerung des ‚Handelns’ belebt.“ Simović 1989, 156f. „Prizivam i molim svetog ratnika Georgija, i svetog ratnika Dimitrija, i svetog Prokopija, svetog Teodora Tirona, i Teodora Stratilata, svetog Merkurija, svetog Artemija, svetog Nikitu, svetog Jevsevija, i arhangela Gavrila, i slavu Nemanjića, arhangela Mihaila, Mihaila sa dvanaest krila: podignite nas, i podržite, i povedite, da u boj uđemo ko žeteoci i iz žetve sa obilnim chlebom iz boja vratimo! Obasjajte nas danas, i ozarite, napunite se, nebesa, ikonoma, ikonama na svetim zastavama, i osnažite nas, da se dostojno borimo za večnuju i blaženuju žizan!”
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Die Wiederkehr der Mythen: Erinnerungspolitik Abb. 94: Fürst Lazar bei der Kommunion, Zdravko Šotra, Kampf im Kosovo (Boj na Kosovu), Belgrad 1989.
Wie sich im Kampf die „Ernte“ in Brot verwandeln soll, so soll den serbischen Rittern in der mystischen Kommunion die Kraft der heiligen Krieger verliehen werden. Die christliche Metaphorik interferiert hier mit der heidnischen Metaphorik des Mähens.189 In diesem sakramentalen Bildverständnis sind die Urbilder − die heiligen Krieger − vom Himmel heruntergestiegen und haben die Gestalt ihrer Abbilder − die der serbischen Krieger − angenommen, die sich in ihrem Dienst opfern werden. Die Differenz zwischen dem Bildkörper und dem menschlichen Körper geht in einer unio mystica auf. Der Vorgang der zweiten Inkarnation im Bild dreht sich um – in eine umgekehrte Bildwerdung. Nicht die menschliche Natur des Göttlichen verkörpert sich im Bild, sondern das Heilige verkörpert sich in den Menschen. Die, die solcherart am Göttlichen partizipieren, fahren zudem als tableau vivant in den Himmel auf. Der Film zeigt allerdings keine Ikone: Es handelt sich hier also nicht um eine Epiphanie, sondern um den Rückzug des Sichtbaren in unsichtbare Bilder, von der pictura ins imago, vom Materiellen ins Immaterielle. Dieselbe Transformation macht während der Schlacht auch der Maler Makarij durch, der vom sehenden Maler zum blinden Seher wird (Abb. 95).
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Die Anrufung der heiligen Krieger ähnelt hierbei dem altrussischen Igor-Lied (Slovo o polku Igorove), das vom Feldzug des Fürsten Igor’ Svjatoslavič aus dem Jahre 1185 gegen die Steppennomaden (Polovzer) handelt; Vgl. Das Igorlied. Eine Heldendichtung. Der altbjelorussische Text mit der Übertragung von Rainer Maria Rilke und der neubjelorussische Text von Ryhor Baradulin. Vorwort von Jazep Biełavieżski in der Übersetzung von Ferdinand Neureiter. Heidelberg 1987, 45. „An der Nemira breiten sie Köpfe wie Garben aus; sie dreschen mit Dreschflegeln aus Stahl. Leben legen sie auf die Tenne, und wie die Kornschwinger tun, worfeln sie aus den Leibern die Seelen. Nicht mit Körnern waren der Nemiga blutige Ufern besät; ihre Saat waren die Gebeine russischer Söhne.“
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Abb. 95: Maler Makarij und der blinde Mönch Teofan, Zdravko Šotra, Kampf im Kosovo (Boj na Kosovu), Belgrad 1989.
Am St. Veitstag feiert man schließlich nicht nur die christlichen Heiligen. Der Name Vid enthält zugleich noch zwei Homonyme – einerseits den Namen der heidnischen slawischen Gottheit des Krieges und des Wahrsagens Vid bzw. Svetovid und andererseits das Lexem „vid“, die Sehkraft. Erst als 1892 der Tag in Serbien zum kirchlichen Feiertag proklamiert wurde, avancierte Vid zusammen mit dem Propheten Amos und dem Fürsten Lazar zum Heiligen, der auch an diesem Tag verehrt wird.190 Nach der AmselfeldLegende sollen die Tränen der verletzten Krieger, die ins Wasser oder aufs Gras fielen, den Blinden, die sich mit ihnen die Augen gerieben haben, wieder die Sehkraft verliehen haben.191 Im Kontext des Rückzugs des Sichtbaren in unsichtbare Bilder hat der Maler also seine Sehkraft nicht verloren, sondern in einem anderen Sinne eben erst gewonnen. Schließlich wird er durch diese umgekehrte Bildwerdung zum Mediator Gottes. Der Blick auf die äußeren, materiellen Bilder wird verschlossen, während der Blick auf die inneren geistigen, immateriellen Bilder – in Form mnemotechnischer Bildandacht – geöffnet wird. Es geht folglich nicht mehr um das Sehen, sondern um das Einprägen, das Archivieren des geheiligten Bildes. Wie in Simovićs Drama und in Šotras Film, so erhielt das KosovoTerritorium auch in den Reden der Politiker die Struktur eines erzählten Raumes.192 Nicht nur die Wahrnehmung des Raumes, sondern auch die Wahrnehmung der Zeit im Kosovo änderte sich 1989. Die Umschlagseite der Politika 190 191 192
Reljić, Slobodan: Od Svetovida do Vidovdana. In: Politika 79 (18.6.1989), 12; vgl. Popović: Vidovdan i časni krst. Ogled iz književne arheologije. Beograd 1976. Zirojević 1998. Certeau 2006, 345. „Im Verhältnis zum Ort wäre der Raum ein Wort, der ausgesprochen wird, das heißt, von der Ambiguität einer Realisierung ergriffen und in einen Ausdruck verwandelt wird, der sich auf viele verschiedene Konventionen bezieht.“
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am 28. Juni kündigt die „Kosovo-Ära“ als eine Zeit der Helden an. Denn im Kosovo soll das Schicksal Jugoslawiens und des Sozialismus entschieden werden.193 Der anonyme Autor erinnert daran, dass Europa durch die historische Amselfeld-Schlacht gerettet wurde − Serbien, das nicht für sich gekämpft hatte, dagegen nicht. Daher hätte der Tod der serbischen Soldaten immer eine tiefere Bedeutung und das serbische Volk eine historische Mission. Als Milošević am 28.6.1989 seine Rede auf dem Amselfeld, „im Herzen Serbiens“ (u srcu Srbije) hielt, bediente er sich dieser bereits geläufigen Kriegsmetaphorik: Sechs Jahrhunderte später, heute, befinden wir uns wieder in Schlachten und vor Schlachten. Diese sind keine bewaffneten, obwohl auch solche noch nicht ausgeschlossen sind. Aber unabhängig von der Art der Schlachten können diese nicht gewonnen werden ohne Entscheidungskraft, Tapferkeit und Selbstaufopferung. Ohne diese Eigenschaften, die im Kosovo so lange vorher schon vorhanden waren.194
Als der Krieg in Jugoslawien tatsächlich ausbrach und sich auf Bosnien und Herzegowina ausweitete, griff auch die serbische Armee195 den Diskurs über die heiligen Krieger auf. Der Oberst Borislav D. Grozdić verfasste 1994 im Rahmen seiner Fortbildung in Politikwissenschaft eine Magisterarbeit über Orthodoxie und Krieg. Beitrag zur Erforschung der Auffassung vom Krieg bei den Serben (Pravoslavlje i rat. Prilog proučavanju shvatanja Srba o ratu), die 2001 in aktualisierter Form in Belgrad erschien.196 Darin stellt er die Kontinuität zwischen den mittelalterlichen heiligen Kriegern und der modernen serbischen Armee explizit her:197 Es ist kaum bekannt, dass man am St. Veitstag auch der Oberhäupter, der Krieger und aller anderer gedenkt (parastos), die im Krieg ihr Leben für die Verteidigung der Orthodoxie und des Vaterlandes gegeben haben – vom Kampf im Kosovo bis zum letzten Krieg, das heißt vom Kosovo bis zum Kosovo. […] Die serbische Kirche unterscheidet zwischen dem Gedenken an den Fürsten Lazar auf einer Seite und dem Gedenken an andere großer Männer, Oberhäupter und Kämpfer auf der anderen Seite, die im Kosovo oder in den späteren Verteidigungs- und Befreiungskämpfen verschollen sind, aber nicht als Heilige bekannt sind. Gewiss gibt es außer dem Fürsten 193 194
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Anonym: Kosovsko vreme. Srpski narod je slavio i slavi svoje junake a prepoznaje izdajnike. In: Politika (28.6.1989), Umschlagseite. „Šest vekova kasnije, danas, opet smo u bitkama, i pred bitkama. One nisu oružane, mada i takve jos nisu isključene. Ali bez obzira kakve da su, ove bitke se ne mogu dobiti bez odlučnosti, hrabrosti i požrtvovalnosti. Bez tih dobrih osobina koje su onda davno bile prisutne na Kosovu Polju.” Zur Rolle der Armee im Jugoslawien der 1980er Jahre: Hadžić, Miroslav: Selbstverteidigung statt Landesverteidigung: Die Rolle der Armeeführung im Kontext jugoslawischer Krise. In: Bremer/Popov/Stobbe (Hrsg.) 1998, 243-259. Grozdić, Borislav D.: Pravoslavlje i rat. Belgrad 2001 (Magisterarbeit 1994). Die zeitgenössischen Krieger wurden nicht nur sakralisiert, sondern – wie Ivan Čolović in The Politics of Symbol in Serbia. Essays in Political Anthropology (Translated from the Serbian by Celia Hawkesworth. London 2002, 48-56) gezeigt hat – auch heroisiert und erotisiert.
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Lazar viele heilige Serben – Kämpfer vom Kosovo des Jahres 1389 bis zu dem letzten Widerstand gegen die Aggression des Nordatlantikpaktes im Jahre 1999.198
Aus dem Bereich des Mythisch-Religiösen treten die heiligen Krieger hier für einen Augenblick ins Linear-Historische, um samt der Geschichte wieder in den mythischen Zyklus zurückzukehren. Das virtuelle Gebiet des Religiösen wird also aktualisiert. Zwei reziproke Prozesse, einer der Säkularisierung des Heiligen und einer der Re-Sakralisierung des Gegenwärtigen, laufen aufeinander zu. Die Bewegung, die diese mythischen Überformungen der kriegerischen Selbstdarstellungen beschreiben, ist nicht nur zirkulär, sondern auch spiralförmig. Sie entspricht dem Weg ins Kosovo, der zunächst in den Krieg und erst dann in den Himmel führt. Unter dem Vorzeichen des Nationalismus fand das religiöse Bildgut mit Hilfe der neuen visuellen Medien seinen Weg zurück in eine davon entwöhnte sozialistische Welt. Nicht nur das religiöse Bild legitimiert den Krieg. Der Krieg aktualisiert, nahezu beglaubigt die Religion. Der 53. Eurovison Song Contest fand im Mai 2008 in Belgrad statt – also drei Monate nach dem Verlust des Kosovo im Februar. Serbien präsentierte sich dabei der Weltöffentlichkeit mit dem Lied Oro der Sängerin Jelena Tomašević (Text: Dejan Ivanović), das nach dem ekstatischen Kreistanz trauernder Witwen benannt ist.199 Das Liebeslied, das Elemente der Volksmusik aufweist, spielt auf die volkstümliche Ballade „Das Kosovo-Mädchen“ an, die in der Schlacht ihren Geliebten verloren hat und hofft, ihn am St. Veitstag wiederzusehen. Wer liebkost meinen Liebsten? Wer weckt diese schläfrigen Lippen? Vergiss nicht meinen Namen, wenn man beginnt dich zu küssen. Meine Ähre, schlafe nicht. Liebkose ihn, wiege mich in den Schlaf. Brich nicht das Eis, 198
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Grozdić 2001, 112f. „Malo je poznato da se na Vidovdan, osim prazdnovanja, obavlja i pomen (parastos) za starešine, vojnike i sve druge koji su u ratu položili svoje živote za odbranu vere pravoslavne i otačastva od Kosovskog boja do poslednjeg rata, a to znači od Kosova do Kosova. […] Srpska crkva čini razliku pominjući na Vidovdan, s jedne strane, svetog Kneza, a s druge, ostale velemože, starešine i borce koji su izginuli na Kosovu ili u kasnijim odbrambenim i oslobodilačkim ratovima, a nisu poznati kao svetitelji. Sigurno je da osim svetog kneza Lazara ima mnogo svetih Srba – boraca, od Kosova 1389. do poslednjeg suprotstavljanja agresiji Severnoatlantskog pakta, 1999. godine.“ Zum Oro: Risteski, Ljupčo S.: Posmrtno oro v tradiciite na balkanskite Sloveni. In: Studia Mythologica Slavica III (2000), 133-148.
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es gibt kein Wasser. Salze nicht meine Wunde, es gibt keine Tränen. Wer meinen Oro zu spielen beginnt, soll ihn nicht für uns zwei spielen. Ähre, wiege mich in den Schlaf. Nuna nej, nuna nuna nuna nunu nunu nej Nuna nej, nuna nuna nuna nunu nunu nej Am St.Veitstag weck mich auf, damit ich ihn wieder sehe. (Refrain) Am St.Veitstag, weck mich auf noch einmal, damit ich ihn sehe.200
Nicht nur im Refrain des Liedes zieht der Kosovo-Mythos weiter seine Kreise. Die Kriegsmetaphorik um das Amselfeld schlägt wieder, wie im Jahre 1999, in eine Trauermetaphorik um.
2.4. Die Sakralisierung des Kosovo 1999 in Russland und im Westen Während der NATO-Angriffe auf Serbien 1999 erfasste Russland und Serbien eine neue orthodox motivierte panslawistische Welle, die sich vorwiegend in symbolischen Akten wie in gegenseitigen Besuchen der Patriarchen, gemeinsamen Pilgerfahrten und in Pop-Songs manifestierte.201 Die Empathie für Serbien regte zahlreiche panslawistische Publikationen an.202 Im gleichen Zuge 200
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„Ko li miluje/ milo moje/ Ko li usne te snene budi/ Ne zaboravi ime moje/ Kada krene da/ da te ljubi./ Klasje/ moje ne spavaj/ Njega ljubi/ mene uspavaj. Ne lomi mi led/ vode nema/ Ne soli mi ranu/ suza nema/ Ko li zaigra/ oro moje/ Neka ne igra za nas dvoje/ Klasje, meine uspavaj. Nuna nej, nuna nuna nuna nunu nunu nej/ Nuna nej, nuna nuna nuna nunu nunu nej/ Na Vidovdan/ probudi me/ Da ga opet pogledam. (Refrain) Na Vidovdan/ Probudi me Još jednom, da ga pogledam.“ Perica, Vekoslav: A Post-Communist Serbo-Russian Romance: Eastern Relic of the Pan-Slavic Myth. In: Gavrilović, Darko/Perica, Vjekoslav (Hrsg.): Political Myths in the Former Yugoslavia and Successor States. A Shared Narrative. Dodrecht 2011 (= Institute for Historical Justice and Reconciliation Series 1), 35-44. Vgl. Nad Vostokom i Zapadom. S ljubov’ju k Serbii. Moskau 1999; Rižkov, N. I./Tetekin, V. N.: Jugoslavskaja golgofa. Moskau 2000; Malinov, A. V.: Zapad ili čelovečestvo? Istoriosofija balkanskogo konflikata. St. Petersburg 2000; Romanenko, C. A.: Jugoslavija, Rossija i „slavjanskaja ideja“. Vtoraja polovina XIX-načalo XXI veka. Moskau 2002; Savel’ev, Ju. P.: V ogne balkanskoj vojny. Sbornik dokumentov i materia-
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wurde die Situation im Kosovo mit der in Tschetschenien verglichen.203 Die fundamentalistische russische Zeitung Orthodoxie oder Tod (Pravoslavie ili smert’) ging sogar so weit, das angegriffene Serbien mit dem Golgatha, das serbische Volk mit Christus und die Auswirkungen des Angriffs mit der Apokalypse zu vergleichen. Die Titelseite einer Spezialausgabe aus dem Jahre 1999, die den Genozid an der serbischen Bevölkerung thematisiert, wird von einer trauernden Frau mit hochgezogenen Augenbrauen illustriert (Abb. 96). Erschüttert blickt sie auf eine serbische Kirche, die von Kampfflugzeugen überflogen wird. Der Künstler kombiniert die expressive, religiöse Bildsprache der mittelalterlichen Freskomalerei mit Elementen des Comicstrips und schafft damit eine interessante visuelle Parallele zum Ethno-Pop. Abb. 96: Trauende Frau auf dem serbischen Golgatha, Orthodoxie oder Tod. Das serbische Golgatha 1999, Titelseite.
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lov o „vozdušnoj vojne“ NATO protiv Jugoslavii s 24 marta do 10 ijunija 1999 g.. St. Petersburg 2002. Abramov, Aleksej: Transformacija rossijskoj voennoj doktriny – uroki Kosovo i Čečni, Hrsg. George C. Mashall Center. European Center for Security, GarmischPartenkirchen 2000.
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Es handelt sich um eine Madonna-Figur, wie man sie von Kreuzigungsdarstellungen oder Beweinungsbildern kennt, die hier nicht als KosovoMädchen (Kosovska devojka), sondern als Kosovo-Mutter (Kosovska majka) erscheint. Sie repräsentiert nicht nur die serbischen Mütter, die – wie die Mutter der Jugovići aus dem Kosovo-Liederzyklus – ihre Männer und ihre Söhne im Kampf verloren haben. Zugleich avanciert sie zur Personifikation Serbiens, das um das verlorene Land und das orthodoxe Erbe trauert. Wie zuvor in der serbischen Presse, wurde das religiöse Bild auch in Russland in die propagandistische Affektsprache übertragen. Die Strategie der Vermischung der orthodoxen Ikonographie mit der aktuellen anti-westlichen Politik wurde in zahlreichen Publikationen der orthodoxen Kirche in Serbien und Russland fortgesetzt. Ein Beispiel hierfür ist die Umschlagseite des in Serbien auf Englisch und Russisch erschienen Buches Crucified Kosovo. Desecrated and Destroyed Orthodox Serbian Churches and Monasteries in Kosovo and Metohia (June 1999-July 2001).204 Der Patriarch der serbischen orthodoxen Kirche, Pavle, steht auf dem Cover vor einem Kreuz und senkt, wie der gekreuzigte Christus, seinen Kopf auf die Brust.205 2007 erschien unter demselben Titel auch eine DVD des Regisseurs Bane Milošević, auf der dasselbe Bild prangt. Ebenso bediente sich die serbische orthodoxe Zeitschrift Pravoslavlje. Novine srpske partrijaršije auf der Umschlagseite ihrer Märzausgabe 2002, auf der ein orthodoxer Priester vor einem Panzer stehend abgebildet ist, dieses Verfahrens. Dabei beliebt es unentscheidbar, ob der abgebildete Panzer der KFOR auf den orthodoxen Priester schießt oder ob er ihn verteidigt.206 Nicht nur die orthodoxe Propaganda griff nach Metaphern aus der sakralen Ikonographie. In seinem Buch Die Strategie der Täuschung zitiert Paul Virilio Tony Blair, der im Kosovo-Krieg eine neue Form des Krieges sah, „bei dem es mehr um die Werte als um Territorium geht.“207 Im diesem Krieg offenbaren sich für Virilio das Ende der Geopolitik und „die Erfindung eines sogenannten humanitären Krieges“, in dem die Frage der universalen Werte an die Stelle der Territorien und der Souveränität der Staaten getreten sei.208 Diese Art der Deterritorialisierung, die durch das Global Positioning System (GPS) den Zugang zum Weltraum eröffnet habe, hätte zur Erfindung eines „heiligen laizisti-
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208
Folić, Ljubiša (Hrsg.): Crucified Kosovo. Desecrated and Destroyed Orthodox Serbian Churches and Monasteries in Kosovo and Metohia (June 1999-July 2001). 3rd revised and expanded edition/Raspjatoe Kosovo. Oskvernjonnye i uničtožennye pravoslavnye serbskie hramy i manastyri v Kosovo-Metohii (ijun 1999 g.-maj 2001 g.). 3e pererabotannoe i dopolnennoe izdanie, Prizren u.a 2001. http://www.kosovo.net/ckos/ckos01.jpg (Zugriff: 18.06.2008). http://pravoslavlje.spc.rs/broj/983 (Zugriff: 28.09.2008). Virilio, Paul: Information und Apokalypse. Die Strategie der Täuschung. Aus dem Französischen von Bernd Wilczek (= Edition Akzente), München-Wien (fr. La bombe informatique, Paris 1998; Stratégie de la déception, Paris 1999) 2000, 139. Ebd., 140.
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schen Krieges“ geführt.209 Den panoptischen Blick, die globale Fernüberwachung, vergleicht Virilio mit dem allsehenden Auge Gottes: „Nachdem Gottes Auge Kain bis ins Grab verfolgte, überfliegt nun das Auge der Humanität auf seiner Suche nach Verbrechern die Ozeane und Kontinente.“210 In beiden Fällen − das eine Mal durch die medialisierte orthodoxe Ikonographie und Andacht, das andere Mal durch die neuen elektronischen Kriegstechnologien − wurde der konkrete Ort (lieu) Kosovo in einen heterotopen Raum (espace) im Sinne von Michel Foucault verwandelt. Darin nimmt das Territorium eine neue, simulakrale Bildmaterialität an. Diese transformiert den konkreten Ort in einen virtuellen und aktualisiert ihn anschließend in dieser Form.211 Foucault schreibt heterotopen Räumen, die trotz aller Techniken noch immer nicht als vollkommen entsakralisiert gelten, die Eigenschaft des Spiegels zu: Durch diesen Blick, der gleichsam tief aus dem virtuellen Raum hinter dem Spiegel zu mir dringt, kehre ich zu mir selbst zurück, richte meinen Blick wieder auf mich selbst und sehe mich nun wieder dort, wo ich bin. Der Spiegel funktioniert als Heterotopie, weil er den Ort, an dem ich bin, während ich mich im Spiegel betrachte, absolut real in Verbindung mit dem gesamten umgebenden Raum und zugleich absolut irreal wiedergibt, weil dieser Ort nur über den virtuellen Punkt jenseits des Spiegels wahrgenommen werden kann. 212
So wie der Spiegel trotz seiner virtuellen Natur wirklich existiert und eine Rückwirkung auf den Betrachter ausübt, so hat auch ein heterotoper Raum − das Kosovo − eine retroaktive Wirkung auf seine Betrachter in Ost und West.
2.5. Dekonstruktion der serbischen mythischen Narrative bei Marina Abramović Die mythischen Narrative Serbiens, aber auch die Projektionen des Ostens und des Westens auf Serbien und den Balkan wurden von der Performancekünstlerin Marina Abramović radikal ironisiert.213 Seit den 1990er Jahren versah sie einige ihrer Werke mit dem Attribut „Balkan-“, wie z.B. Balkan 209 210 211
212 213
Ebd., 145. Ebd., 152. Virilio, Paul: Die Auflösung des Stadtbildes. In: Dünne, Jörg/Günzel, Stephan (Hrsg.): Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften. In Zusammenarbeit mit Hermann Doetsch und Roger Lüdeke. Frankfurt a.M. 2006, 261-273. Foucault, Michel: Von anderen Räumen. In: Dünne/Günzel (Hrsg.) 2006, 317-329, hier 321. Zu Marina Abramović: Laub, Michael/Abramović, Marina/Grifasi, Fabrizio u.a.: Marina Abramović. The biography of biographies. Photos by Alessia Bulgar. Milano 2004; Enßlen, Michael: Inszenierung der Selbstentfremdung. Performance und Publikum in „Rhythm O“ von Marina Abramovic. In: Kritische Berichte 31/2, 2003, 86-92; Celant, Geramano: Marina Abramović. Public body. Installations and objects 1965 – 2001. Milano 2001.
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Barock (1997),214 How We in Balkan Kill Rats (1997) oder BalkanEroticEpics (2007).215 Damit stellte sie sie absichtlich in einen stereotypen Rezeptionsrahmen. Während der Performance Balkan Barock, die sie 1997 im serbischen Pavillon auf der Biennale in Venedig aufführte, saß sie fünf Tage lang auf einem Haufen Rinderknochen, die sie von Fleischresten reinigte und dabei serbische Volkslieder sang (Abb. 97).
Abb. 97: Marina Abramović, Balkan Barock, Biennale in Venedig, 1997.
Um sie herum hingen wie ein Triptychon drei große Videoleinwände, auf die Kinderphotos von ihr sowie Photos ihrer Eltern (der Vater war General und die Mutter Majorin der jugoslawischen Armee) projiziert wurden. Man kann die Installation auch als Anspielung auf das Pietà-Motiv und indirekte Anspielung auf den aus der serbischen Epik bekannten Kosovo-Mythos auffassen. So gelesen, beweint Abramović als eine Art Kosovo-Mädchen oder als Kosovo-Mutter die Knochen der Getöteten. Neben der spezifisch serbischen schwingt eine dezidiert antiserbische Lesart des Balkanmythos mit: Die Knochen evozieren zugleich die Ausgrabungen der Massengräber in Srebrenica. Die Beweinung geht in die rituelle Reinigung über, der nationale serbische Mythos wird in einen transnationalen Balkan-Mythos transformiert, in dem auch bosnische Opfer ihren Platz wieder einnehmen. In dem Video BalkanEroticEpics (2005, 12 Min)216 führt Abramović in kurzen Sequenzen sexuellen Aberglauben aus dem Balkanraum vor und 214 215 216
Witschke, Erich: Balkan Baroque. Marina Abramović auf der 47. Biennale in Venedig. In: Kunst und Kirche 60/4 (1997), 234-235. Abramović, Marina: Balkan epic. A cura die Adelina von Fürstenberg. Ginevra u.a. 2006. http://www.dailymotion.com/video/xk7m0_balkaneroticepicmarinaabramovic (Zugriff mit Anmeldung wegen expliziten Inhalten: 27.07.2009).
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vermischt diesen wiederum mit dem Kosovo-Mythos. In einem Interview mit Frederik Carlström äußert sie sich zu ihrem Video und beschreibt es selbstironisch als eine Art Stippvisite ihrer eigenen jugoslawischen Kultur. Außerdem habe sie mit dieser Arbeit den erotischen Phantasmen über den Balkan ein eigenes Bild verliehen. Als Quelle gibt sie nicht näher präzisierte mittelalterliche Handschriften an und beruft sich auf eine pagane Tradition in Jugoslawien, die in sozialistischen Zeiten fortgelebt habe. How to take something like porn and translate it to an art piece. This was the real problem. And the only thing I was thinking: ‘Let’s go back to my own culture.’ And my own culture has very much to do with kind of paganism. I don’t know about other Eastern European Countries, but in Yugoslavia sex was something that was very open, very free. Every song, every kind of way that girls are dressing, the talk, the jokes are extremely sexual and very explicit. And I was thinking that sex is healthy in this country. Food is good and sex is healthy. Everything else is fucked up, but this is another story. […] So I started looking at old material. 14th century, 17th century, 18th century, up to 19th century, these old manuscripts from library archives. And I found more and more of these pagan rituals that made me believe that this was rooted in our culture from the medieval age.217
Abramovićs ungenaue Angaben über die mittelalterlichen Handschriften entsprechenden Inhaltes lassen sich nicht überprüfen. Im Video tritt sie ganz in schwarz gekleidet auf, was ihr einen professionellen oder gar akademischen Eindruck verleiht. Sie erklärt dem Zuschauer in kurzen Sätzen den Balkan-Aberglauben und illustriert ihn jeweils in einer kurzen Video- oder Animationssequenz. In einer Szene stehen in serbischer Nationaltracht gekleidete Männer mit entblößtem und erigiertem Penis in einer Reihe, in einer anderen streicheln im Kreis stehende Mädchen und Frauen auf einer Wiese ihre entblößten Brüste (Abb. 98). Beide Szenen begleitet der Gesang der berühmten Sängerin Olivera Katarina, die alte Volkslieder vorträgt, welche von Svetlana Spajić zusammengetragen wurden. In der ersten Szene wird ein orthodoxes Lied gesungen; die Männer erweisen sich als blasphemisch dargestellte heilige Krieger. O Lord, save Thy people Blessed is Thy name Forgive us, Lord, our sins Committed on the Earth Look upon us suffering In the world Slavic souls Nobody understands us Our fate’s not worth a penny Remember the times of glory In Thy name to wars we went The war is our eternal cross 217
Ebd., 65f.
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Our life is of a true faith Long live our Slavic faith The war is our eternal cross Long live our true Slavic faith.218
Abb. 98: Marina Abramović, Balkan Erotic Epic, Video, 2005.
Das Lied, das die Frauen begleitet, verschränkt das Motiv des KosovoMädchens, das die Verwundeten nach der Schlacht mit Wasser versorgt, mit dem Motiv der Madonna lactans. The maiden was sitting by the cold gravestone Mourning for her darling, crying, all alone. Then she heard his calling from the tomb’s green grass. It is I, my darling, your wife to be Have my two pillars, take them, don’t you see? On the pillars, flowers you young I bring Look my dear, together we sawed them last spring. I can’t take your pillow, I can’t take the dear. My white arms are rotten, young I’m living here. Go home, my dear maiden, put them to bed Kiss the cross and remember me.219
218
219
„Spasi Bože ljude svoje/ Blagosloveno neka je tvoje ime/ Oprosti Bože grehe/ Koje smo počinili na zemlji. Vidiš Bože kako strada/ Na zemlji slovenska duša/ Nas niko ne razume i naša/ Sudbina ne vredi ni groša. Seti se bože onih slavnih vremena/ Kada smo ratovali u tvoje ime/ Rat je večito naše breme/ Naš život je istinska sudbina/ Naš je život pravoslavni. Rat je večito naše breme/ Naš je život pravoslavni.“ „Sedi cura pokraj ladnog groba/ Oplakuje milog, dragog svoga. Glas se čuje iz trave zelene/ Ko to plače ko to zove mene. Ja sam dragi verenica tvoja/ Evo primi dva jabluka moja i na njima cveće što sam brala/ Što sam tobom leto provela. Ne mogu ti
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In westeuropäischen Reiseberichten von Reisen in den Balkanraum, insbesondere nach Bosnien, werden keine erotischen Rituale, wohl aber Hochzeitsbräuche und Liebesamulette beschrieben. Ein Beispiel hierfür wäre Adolf Strauszs Bosnien. Land und Leute. Historisch-ethnographische Schilderung (1884).220 In Jasna Belovićs Buch Das Liebesleben auf dem Balkan von 1927, das sich an einen westeuropäischen Leser richtet, begleiten Zeichnungen und Fotos schöner Mädchen in Nationaltrachten die balkanischen Werbungs- und Hochzeitsrituale. Allerdings sind die Körper dieser Frauen stets ausreichend verhüllt, was den moralischen Standards Westeuropas entsprach. Man kann also annehmen, dass Abramović in ihrem Video einerseits das europäische Phantasma einer besonderen Balkan-Erotik ins Bild setzt und dabei andererseits das balkanische Kokettieren mit Nationalstolz, sexueller Potenz und Krieg desavouiert. One thing is when you have the idea, but it’s totally different when you see it happening in reality. Just the image of men dressed in these national costumes with erections, standing and looking into the camera, you know, this vision in the head… It is really much stronger when you see it in reality. I was overwhelmed by this image because you’re touching national pride, you’re touching this ideas of muscular energy, touching the idea of sexual energy as a cause of war, as a cause of disaster, as a cause of love. […] It becomes a kind of transcendental image and I was really impressed by the image when it was realised in front of the camera for me. And usually when you have male genital organs, there’s always something happening: either they’re making love, or they are making strip-tease or some kind of action. Here, just by making them static, and absolutely not moving them, you completely go somewhere else in this image. It became somehow an image of new Balkan heroes.221 […] Also there are some images that came out of my mind and they are not really part of the books. The image of woman massaging the breasts: this is something I didn’t read in any book. […] They are looking to the sky and massaging the breasts. And this was an image I wanted to make. And then from nowhere this woman, Svetlana Spajić came to me who had been collecting archaic Serbian songs, recording and also singing them to preserve them from being forgotten. So I asked her to take part in the film. So the woman massaging the breasts with her singing seemed to function in many cultures, almost universally.222
Mit ihren Performances greift Marina Abramović nicht nur die serbischen Mythen an, die während des Krieges missbraucht wurden, sondern sie führt auch die westeuropäischen Klischees der Wahrnehmung des Balkans ironisch vor.
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primiti tvoje jabluke/ Bele su mi istrulele ruke. Kući nosi i na kreveti meti/ Krst poljubi pa se mene seti.” Strausz, Adolf: Bosnien. Land und Leute. Historisch-ethnographische Schilderung. Bd. 2. Wien 1884, 34f. Ebd., 66f. Ebd. 67f.
VII. Thanatologische Phantasmen der Balkan-Kriege 1. Medien im Ausnahmezustand. Metatexte, Metabilder und Referenzverluste im Bosnienkrieg 1992-95 Der Golfkrieg von 1991 ging als erster technisch perfekter Krieg in die Mediengeschichte ein,1 der Kosovo-Krieg von 1999 wurde als seine Fortsetzung betrachtet.2 Beide ermöglichten durch den Einsatz von Elektronik und Satelliten eine Telepräsenz in ‚Echtzeit‘, beide galten als erfolgreich, ‚sauber‘, nahezu ‚humanitär‘. Der Bosnienkrieg 1992-95, der für das Versagen sowohl der Kriegsberichterstattung als auch Europas politischer Entscheidungsträger steht, wird wie ein blinder Fleck der Mediengeschichte behandelt. Dennoch markiert gerade dieses Versagen einen roten Faden in der Kriegsberichterstattung über die Balkankriege, die sich vom Dokumentarischen entfernte und in thanatologischen Phantasmen verlor. Nicht nur der Bosnien-Krieg, sondern alle Kriege um den Zerfall Jugoslawiens nach 1991 wurden ohne Kriegserklärung begonnen und über weite Strecken als Bürgerkriege geführt.3 Der serbische Präsident Slobodan Milošević interpretierte die Streitigkeiten vor dem Hintergrund der völkerrechtlichen Position des zerfallenden Staates, dessen territoriale Integrität um jeden Preis bewahrt werden sollte. Die Führungen der anderen jugoslawischen Republiken, vor allem Sloweniens und Kroatiens, die ihre Unabhängigkeit am 25. Juni 1991 erklärten, beriefen sich im Gegensatz dazu auf das Selbstbestimmungsrecht der Völker, das die Abspaltung legitimierte. Anfang April 1992 folgte Slowenien und Kroatien auch Bosnien, das wegen der multiethnischen Zusammensetzung als „Jugoslawien im Kleinen“ galt. Dieser Konflikt öffnete einen rechtsfreien Raum – einen Ausnahmezustand – in dem die gewaltsamen Aktionen von den einen als separatistische Bürgerkriege, von den anderen als zwischenstaatliche Auseinandersetzungen betrachtet wurden. Besonders hart traf es Bosnien und die Herzegowina, wo drei Kriegsparteien gegeneinander kämpften: die Armee der bosnischen Serben, die von der serbischen Regierung unterstützt wurde; die bosnischen Kroaten, die sich als „Herceg-Bosna“ am 3. Juli 1992 von Bosnien getrennt hatten und von der kroatischen Regierung Franjo Tuđmans unterstützt wurden; sowie 1
Paul, Gerhard: Bilder des Krieges – Krieg der Bilder. Die Visualisierung des modernen Krieges. Paderborn 2004, 365-405. 2 Virilio, Paul: Information und Apokalypse. Die Strategie der Täuschung. Aus dem Französischen von Bernd Wilczek (= Edition Akzente, Hrsg. Michel Krüger). München/Wien [1998-99] 2000, 139-180; Paul 2004, 407-431. 3 Zum Verlauf der jugoslawischen Zerfallskriege: Calic, Marie-Janine: Krieg und Frieden in Bosnien-Hercegovina. Frankfurt a.M. 1995, 13-42; Melčić, Dunja (Hrsg.): Der Jugoslawien-Krieg. Wiesbaden 2007, 2. aktualisierte und erweiterte Auflage; Ramet 2011, 487-630; Sundhaussen 2012, 205-308.
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die sich langsam formierende Armee der Republik Bosnien und Herzegowina, welche die bosnischen Muslime vertrat.4 Angesichts des Zusammenbruchs der Sowjetunion wandte sich die öffentliche Aufmerksamkeit vom ehemaligen blockfreien Staat Jugoslawien ab, der nach dem Tod Titos 1980 seine frühere geopolitische Rolle einbüßte. Die jugoslawischen Kriege wurden lange als regional begrenzte Streitigkeiten behandelt, bei denen es sich um „Stammeskonflikte“ oder um „Religionskriege“ handele. Auch die europäischen Staaten waren sich nicht nur über das militärische Vorgehen und über humanitäre Hilfeleistungen uneinig, sondern auch über die völkerrechtliche Interpretation der Kriege. Die Frage der Anerkennung der ehemaligen jugoslawischen Teilrepubliken spaltete die politische Landschaft Europas in zwei Lager: Das gerade wiedervereinigte Deutschland, dessen Außenminister Hans-Dietrich Genscher Slowenien und Kroatien am 12. Dezember 1991 anerkannte, geriet in Europa wegen des Alleinganges stark in die Kritik.5 Frankreich und Großbritannien versuchten Deutschlands Einfluss einzudämmen und unterstützen folgerichtig eher die serbische Position sowie den Erhalt des jugoslawischen Bundesstaates.6 Als die europäischen Institutionen ihrer Aufgabe nicht gewachsen waren und die Verantwortung an die UNO weitergaben, stellte sich diese als beinahe ebenso handlungsunfähig heraus. Während die UNO Anfang Mai 1993 Truppen nach Bosnien entsandte, waren diese weder befugt noch in der Lage, die „Sicherheitszonen“ zu schützen. Den UNPROFOR-Truppen wurde nämlich nur ein Friedensmandat erteilt, so dass sie nicht aktiv in das Kriegsgeschehen eingreifen durften. Im Juli 1995 massakrierten serbische Soldaten in der Sicherheitszone Srebrenica 8.000 muslimische Männer, die von den französischen und niederländischen UNPROFOR-Truppen nicht verteidigt wurden.7 Das Versagen der europäischen Institutionen und des UNPROFOR löste eine heftige, lange andauernde Diskussion über das Selbstverständnis und die politische Rolle der EU aus. In der Schrift Gesetzeskraft. Der „mystische Grund der Autorität“ (1990) unterstreicht Jacques Derrida, dass Kriege nicht infolge eines Rechtsbruchs, 4
Calic 1995. Anonym, Kein Alleingang bei der Anerkennung Sloweniens und Kroatiens. In: FAZ, 22.12.2011, http://www.faz.net/aktuell/politik/genscher-in-der-f-a-z-kein-alleingang-beider-anerkennung-sloweniens-und-kroatiens-11577124.html (Zugriff: 27.12.2012). 6 Eyal, Jonathan: Europe and Yugoslavia. Lessons from a Failure. London 1993, 33. 7 Zum Genozid in Serbrenica vgl.: Rohde, David: Die letzten Tage von Srebrenica. Was geschah und wie es möglich wurde. Reinbek bei Hamburg 1997; Heinrich-Böll-Stiftung (Hrsg.): Srebrenica. Erinnerung für die Zukunft. Berlin 2005; Simon, Annette: UNSchutzzonen. ein Schutzinstrument für verfolgte Personen? Eine Analyse anhand der internationalen Schutzzonen im Irak, in Ruanda und Bosnien-Herzegowina mit besonderem Blick auf die schweren Menschenrechtsverletzungen in der “safe area” Srebrenica. Berlin 2005; Wieser, Angela: Die Genozidale Absicht im Bosnienkrieg von 1992-1995. Frankfurt a.M. 2006; Dorin, Alexander: Srebrenica. Die Geschichte eines salonfähigen Rassismus. Berlin 2010. 5
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sondern als Anomalie im Inneren der Sphäre des Rechts selbst entstehen.8 Die militärische Gewalt im Dienste eines Staates erfolgt laut Derrida stets gesetzmäßig und erhält dadurch das Recht. Vielmehr markiert der Krieg die Schwelle zweier Rechtssysteme – des vorgängigen im Vergehen und des neuen im Entstehen, des Rechts der Erhaltung und des der (Be)gründung. Die Suspension des Gesetzes ereignet sich im Augenblick, als das alte Gesetz im Begriff ist, von einem neuen ersetzt zu werden, das durch die Ausübung von Gewalt begründet werde. Dieser Augenblick der Suspension, des Schwebens oder In-der-Schwebe-Haltens, diese Epoché, dieses rechts(be)gründende oder das Recht umstürzende, revolutionäre Moment sind im Recht eine Instanz des Nicht-Rechts (des Unrechts). […] Dieser Augenblick ereignet sich stets und ereignet sich nie in einer Gegenwart. Es ist der Augenblick, da die Begründung des Rechts im Leeren oder über dem Abgrund schwebt, an einem reinen performativen Akt hängend.9
In Derridas dekonstruktivistischer Lektüre ist jedes Gesetz unzertrennlich mit der autoritären Gewaltausübung verbunden, die am Anfang einer jeden Staatsgründung steht und ex post legitimiert wird.10 Um die Bedingungen des Gesetzes zu verstehen, muss man sich nach Derrida zumindest die minimale Kenntnis jener Sprache aneignen, in der das Gesetz verfasst wurde, denn die Durchsetzung des Gesetzes sei mit der Auferlegung einer Sprache bzw. deren Lesbarkeit verbunden.11 Man hat das Recht, die legitimierende Macht oder Autorität und all ihre Lesevorschriften zu suspendieren, man kann dies im Zuge des treuesten, wirksamsten, treffendsten Lesens tun, eines Lesens, das natürlich zum Unlesbaren in Bezug tritt, zuweilen – aber nicht immer, um eine andere Leseordnung zu (be)gründen, einen anderen Staat.12
Anders als dem Gesetz, das sich der Sprache bemächtigt, schreibt Derrida der performativen Kraft des Gesetzes, seiner Ausübung, einen „mystischen“ Charakter zu, der aus dem Bereich der Sprache heraustritt. So wie der Mystiker auf die apophatische Sphäre jenseits der Sprache als reine Evidenz hinweist, so tritt auch die Tat, die dem Gesetz folgt, aus dem Bereich der Sprache heraus. Gerade die Bindung des Gesetzes an den reinen performativen Akt, seine Begründung durch Gewaltanwendung, verortet laut Derrida das Gesetz im Transzendentalen. Seine Transparenz erhält es nie in der Gegenwart, sondern erst in der Zukunft, wenn es verständlich und interpretierbar wird. 8
Derrida, Jacques: Gesetzeskraft. Der „mystische Grund der Autorität“. Aus dem Französischen von Alexander García Düttmann. Frankfurt a.M. 1991, 84-87. 9 Ebd., 78. 10 Ebd., 77. „Die Staatsgründung markiert das Aufkommen eines neuen Rechts, sie tut es immer unter Anwendung von Gewalt. Immer: selbst dann, wenn sich nicht jene spektakuläre Völkermorde, Ausstöße, Ausweisungen, Deportationen ereignen, die häufig die Gründung von Staaten begleiten: von kleinen oder großen, alten oder modernen Staaten, von Staaten, die in unserer Nähe oder in großer Entfernung gegründet werden.“ 11 Ebd., 11, 43. 12 Ebd., 81.
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Die Lesbarkeit wird also ebenso wenig neutral wie gewaltfrei sein. Eine „gelungene“ Revolution, eine „gelungene“ Staatsgründung (in dem Sinne etwa, in dem man von einem „felicitous performative speech act“ redet) wird im nachhinein hervorbringen, was hervorzubringen sie im vorhinein bestimmt war: Interpretationsmodelle, die sich zu einer rückwirkenden Lektüre eignen, die geeignet sind, der Gewalt, die unter anderem das fragliche Interpretationsmodell (das heißt den Diskurs der Rechtfertigung) hervorgebracht hat, Sinn zu verleihen – die geeignet sind, die Notwendigkeit und besonders die Legitimität dieser Gewalt hervorzuheben.13
Derrida spricht in seiner Schrift zwar niemals über den Ausnahmezustand. Dennoch korreliert sein Begriff der „Unlesbarkeit“ mit Giorgio Agambens linguistischer Umschreibung des Ausnahmezustandes als langue, die er Ferdinand de Saussures Cours de linguistique générale (1916) entliehen hat.14 Die langue, die Sprache als grammatikalisches System, bezeichnet laut Saussure die (virtuelle) Potentialität eines Kollektivs – das Reservoir aller bestehenden Regeln.15 Erst durch die parole (die Rede bzw. den Diskurs), den aktuellen, akzidentiellen und individuellen Sprachgebrauch, wird die Sprache im Vollzug einer konkreten Realisierung, der Auswahl und der Kombination aus dem Repertoire der langue, aus ihrer Potentialität in die Aktualität überführt. Erst durch ihre Aktualisierung im Fluss der Rede kann die Sprache Referenz erreichen und performative Kraft entfalten. Mit der Potentialität der Sprache vergleicht Agamben in Homo sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben (1995) das Recht im Ausnahmezustand, in dem das Gesetz zwar existiert, seine aktuelle Anwendung jedoch suspendiert ist. Hier zeigt die Sphäre des Rechts ihre Wesensnähe zu jener der Sprache. So wie ein Wort im tatsächlichen Vollzug der Rede die Macht, einen Ausschnitt der Wirklichkeit zu bezeichnen, nur insofern erlangt, als es auch, wenn es selbst nicht bezeichnet, Bedeutung hat (das heißt langue im Unterschied zu parole, als Wort in seinem schieren lexikalischen Bestand, unabhängig von seinem konkreten Einsatz in der Rede), so kann auch eine Norm sich nur deshalb auf einen Einzelfall beziehen, weil sie in der souveränen Ausnahme als reine Potenz gilt, in der Aufhebung jeglichen aktuellen Bezugs. Und so wie die Sprache das Nichtsprachliche als dasjenige voraussetzt, mit dem sie in virtueller Beziehung bleiben muss (in Form einer langue, oder genauer eines grammatikalischen Spiels, einer Rede, deren aktuelle Beziehung unbestimmt in der Schwebe gehalten wird), um es dann im Vollzug der Rede bezeichnen zu können, so setzt das Gesetz das Nichtrechtliche (zum Beispiel die schiere Gewalt als Naturzustand) als das voraus, womit es im Ausnahmezustand potentiell verbunden bleibt. Die souveräne Ausnahme (als Zone der Ununterscheidbarkeit zwischen Natur und Recht) ist die Voraussetzung der juridischen Referenz in der Form ihrer Aufhebung.16
13
Ebd., 79f. Agamben, Giorgio: Homo sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben. Frankfurt a.M. 2002 (it. Homo sacer. Il potere sovrano e la nuda vita. Torino 1995), 83, 84, 95. 15 Saussure, Ferdinand de: Cours de linguistique générale. Publié par Charles Bally et Albert Schehaye. Avec la collaboration d’Albert Reidlinger. Paris 1967, 30f. 16 Agamben [1995] 2002, 30f. 14
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In seinem späteren Buch Ausnahmezustand (2003) definiert Agamben diesen paradoxen Rechtszustand des Unrechts als den „Stillstand der gesamten Rechtsordnung“ – in einer Situation, in der das bestehende Recht nicht angewandt und dadurch außer Kraft gesetzt wird.17 So wie die Elemente der langue zwar eine potentielle Bedeutung haben, die erst durch die aktuelle Realisierung in der parole ihre Wirksamkeit entfalten, so wird auch das bestehende Recht erst durch die aktuelle Interpretation wirksam. Wie die linguistischen Elemente in der langue nebeneinander bestehen ohne jede reale Denotation, wie sie im Diskurs aktualisiert wird, so gilt im Ausnahmezustand die Norm ohne jeden Bezug zur Wirklichkeit. […] Wie zwischen Sprache und Welt, so gibt es auch zwischen Norm und Anwendung keinen inneren Zusammenhang, der es erlaubte, das eine aus dem anderen unmittelbar abzuleiten.18
Dem Ausnahmezustand – „einer Zone, in der die Anwendung des Rechts suspendiert wird“ – entspricht laut Agamben der Zustand des Menschen als homo sacer – des gebannten und verlassenen Menschen, des Vogelfreien jenseits des Rechts, dem gegenüber ein jeder als Souverän handeln kann.19 So manifestiert sich für Agamben im Bosnienkrieg, in dem ethnische Säuberungen durchgeführt wurden, keine Rückkehr in den ursprünglichen Naturzustand, sondern eine Vermischung des Rechts mit dem Unrecht, die ein Symptom für das Vordringen des Ausnahmezustandes in die politische Normalität ist. Während im Ausnahmezustand in früheren Zeiten, etwa in Lageroder Ghetto-Situationen, die Grenzlinie zwischen den vom Recht ausgeschlossenen Minderheiten und den Majoritäten als eine zwischen Ausnahme und Normalität deutlich gezogen war, sei im Jugoslawienkrieg die Grenze zwischen den Zonen verwischt, der rechtsfreie Raum auf die gesamte Bevölkerung ausgedehnt worden.20 Als Beispiel dieser Entgrenzung führt er die neue Form des Krieges um das „nackte Leben“ in Bosnien an – die ethnisch 17
Agamben, Giorgio: Ausnahmezustand (Homo sacer II.1). Aus dem Italienischen von Ulrich Müller-Schöll. Frankfurt a.M. 2004 (it. Stato di eccezione. Torino 2003), 41ff. Zu Agambens Konzept des Ausnahmezustands: Menke, Bettine: Die Zonen der Ausnahme. Giorgio Agambens Umschrift ‚Politischer Theologie‘. In: Brokoff, Jürgen/ Fohrmann, Jürgen (Hrsg.): Politische Theologie. Formen und Funktionen im 20. Jahrhundert. Paderborn u.a. 2003, 131-152. 18 Agamben [2003] 2004, 47, 51. 19 Agamben [1995] 2002, 83, 84, 95. 20 Ebd., 48f. „In dieser Perspektive muss das, was sich in Ex-Jugoslawien abspielt, und ganz allgemein die Auflösung der traditionellen staatlichen Organismen in Osteuropa nicht als eine Wiederkehr des Kampfes aller gegen alle im Naturzustand betrachtet werden, der das Vorspiel zu neuen sozialen Verträgen und neuen nationalstaatlichen Ortungen wäre; vielmehr ist es das Zutagetreten des Ausnahmezustandes als permanente Struktur der juridisch-politischen Ent-Ortung und Verschiebung. Es handelt sich also nicht um einen Rückfall der politischen Organisation in überwundene Formen, sondern um vorwarnende Ereignisse, die wie blutige Boten den neuen nómos der Erde ankündigen, der (wenn das Prinzip, auf dem er gründet, nicht erneut in Frage gestellt wird) dazu tendiert, sich über den ganzen Planeten auszubreiten.“
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motivierten Vergewaltigungen, in denen politische zu biologischen Gewaltakten geworden seien.21 Das Phänomen der „Entsemantisierung“ und der „Suspendierung der konkreten Praxis“ im Ausnahmezustand, in dem die Gesetze ihre performative Kraft nicht mehr entfalten können, beschränkt sich laut Agamben nicht nur auf die Justiz, sondern erfasst alle sozialen Institutionen.22 Im Folgenden sollen die Phänomene der Suspension, die den Ausnahmezustand kennzeichnen, auf das Funktionieren der Medien übertragen werden.23 Denn von einer ähnlichen Aufhebung von Denotation und Aktualisierung wurde auch die Kriegsberichterstattung aus Bosnien erfasst. In den Memoiren der Journalisten, in medienwissenschaftlichen Studien und politischen Auswertungen liest man über mannigfaltige Arten der „Entsemantisierung“ der Information und der „Suspendierung“ ihrer Aktualität auf unterschiedlichen Ebenen – von der ersten Aufzeichnung bis zu ihrer Verwendung durch politische Institutionen. Photos wurden von ihrer aktuellen Referenz abgekoppelt und verwiesen in einem Spiel der Ähnlichkeit auf andere, frühere historische oder gar fiktionale Bilder. So wurden in den Darstellungen der bosnischen Opfer bekannte photographische und filmische Darstellungen der Shoah aus dem Zweiten Weltkrieg aufgerufen,24 die Täter, die serbischen Soldaten und Paramilizen, wurden den Nazis angeglichen.25 Photographen griffen in ihren Kompositionen das traditionelle ikonographische Repertoire der religiösen Malerei auf, wie das des Gekreuzigten oder das der trauernden Muttergottes.26 Kriegsreportage und Werbung wurden vermischt, wie auf dem Plakat der „United Colors of Benetton“ von 1993, für das der italienische Star-Photograph Oliviero Toscani das blutige T-Shirt eines gefallenen kroatischen Soldaten ab-
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Agamben [1995] 2002, 196. Agamben [2003] 2004, 47. „Im Allgemeinen kann man sagen, dass nicht nur Sprache und Recht, sondern alle sozialen Institutionen sich durch einen Prozess der Entsemantisierung und der Suspendierung der konkreten Praxis im unmittelbaren Bezug zur Realität herausgebildet haben.“ 23 Zimmermann, Tanja: Medien im Ausnahmezustand. Performanz und Simulakrum im Bild des Jugoslawienkrieges. In: Ruf, Oliver (Hrsg.): Ästhetik der Ausschließung. Ausnahmezustände in Geschichte, Theorie und literarischer Fiktion (= Film – Medium – Diskurs, Hrsg. Jahraus, Oliver/ Neuhaus, Stefan). Würzburg 2009, 137-158. 24 Horn, Christiane: Bilder erzählen ihre eigene Geschichte. Eine Reportage mit Folgen. In: Novo 34 (Mai/Juni 1998), 30-33 (http://www.novo-magazin.de/itn-vs-lm/novo342.htm, Zugriff: 29.10.2007). 25 Hume, Mick: Nazifying the Serbs, from Bosnia to Kosovo. In: Hammond, Philip/Herman, Edward S. (Hrsg.): Degraded Capability. The Media and the Kosovo Crisis. Foreword by Harold Pinter. London 2000, 70-78; Hammond, Philip: Media, War and Postmodernity. London/New York 2007, 52. 26 Werkmeister, Karl Otto: Der Medusa Effekt. Politische Bildstrategien seit dem 11. September. Berlin 2005, 43f. 22
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lichtete.27 Fernsehreportagen, wie Bernard-Henri Lévys Bosna! (1994) und Michael Winterbottoms Welcome to Sarajevo (1997), wurden ohne Kenntnisse der politischen Hintergründe gedreht.28 Die Quellen der Kriegsbilder wurden verschwiegen, durch falsche Unterschriften oder Bildmanipulationen verfälscht.29 In der Kriegspropaganda kollabierte die Referentialität des Dokumentarischen. Der gute Ruf der Kriegsphotographen, wie ihn sich Robert Capa im Spanischen Bürgerkrieg oder Horst Faas im Vietnam-Krieg erworben hatten, ging in den Jugoslawien-Nachfolgekriegen verloren. Durch die Veröffentlichung von privaten Aufnahmen im Internet wurde die Grenze zwischen Öffentlichem und Privatem verwischt. Die PR-Agenturen wählten Informationen einseitig aus oder stellten sie gar her.30 Die politischen Entscheidungsinstanzen, die sich auf ‚zuverlässige‘ Quellen beriefen, trugen damit selbst zur Irreführung bei.31 Selbst die Kriegsberichterstattung verfing sich im autoreflexiven Text und scheiterte an der Aktualisierung ihres eigenen Diskurses. Die öffentliche Debatte verlagerte sich vom Krieg auf die Kriegsbilder, vom Ereignis auf seine mediale Aufzeichnung. Sie rückte Metatexte und Metabilder über die Berichterstattung statt über den Krieg – die metasprachlichen Kommunikationsbedingungen und den Kode (um mit Roman Jakobson zu sprechen)32 – in den Vordergrund. Die mediale Kriegsführung, die second front,33 wurde in Jugoslawien zur first front. Der Umgang mit der medialen Kriegsberichterstattung hat das reale Kriegsgeschehen nachhaltig geprägt. 27
Becker, Jörg/Beham, Mira: Operation Balkan. Werbung für Krieg und Tod. BadenBaden 2006, 53-57. 28 Schäuble, Michaela: Spurensicherungen. (Auto-)biographische Erzählformen in Dokumentarfilmen über den Krieg im ehemaligen Jugoslawien. In: Beganović, Davor/Braun, Peter (Hrsg.): Krieg sichten. Zur medialen Darstellung der Kriege in Jugoslawien. München 2007, 171-202. 29 Paul 2004, 407-431; Rumiz, Paolo: Masken für ein Massaker. Der manipulierte Krieg. Spurensuche auf dem Balkan. München 2000; Wiedemann, Nicole: Die Rückkehr der Kriegsphotographie. In: Beganović/Braun (Hrsg.) 2007, 35-63. 30 Becker/Beham 2006, 40-46, 53-57. 31 Schneider, Wolfgang (Hrsg.): Bei Andruck Mord. Die deutsche Propaganda und der Balkankrieg. Hamburg 1997; Bittermann, Klaus (Hrsg.): Meine Regierung. Vom Elend der Politik und der Politik des Elends. Rot-Grün zwischen Mittelmaß und Wahn. Berlin 2000; Zu Informationsmanipulationen im späteren Kosovokrieg im Jahre 1999: Hammond/Herman 2000; Locquai, Heinz: Der Kosovo-Konflikt. Wege in einen vermeidbaren Krieg. Die Zeit von Ende November 1997 bis März 1999 (= DSF 129, Hrsg. Dieter S. Lutz). Baden-Baden 2000; Richter, Wolfgang/Schmähling, Elmar/Spoo, Eckart: Die Wahrheit über den NATO-Krieg gegen Jugoslawien. Schriften des Internationalen Vorbereitungskomitees für ein Europäisches Tribunal über den NATO-Krieg gegen Jugoslawien. Schkeuditz 2000; Elsässer, Jürgen: Kriegslügen. Vom Kosovokonflikt zum Milosevic-Prozess. Berlin 2004. 32 Jakobson, Roman: Linguistik und Poetik (1960). In: Ihwe, Jens (Hrsg.): Literaturwissenschaft und Linguistik. Ergebnisse und Perspektiven. Frankfurt a.M. 1971, 142-178. 33 Zum Begriff der second front: MacArthur 2004.
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1.1. Der Streit zwischen Susan Sonntag und Jean Baudrillard: Performanz versus Simulakrum Der Streit zwischen Susan Sontag und Jean Baudrillard über die performative Macht bzw. Ohnmacht der Medien, der angesichts der dauernden Präsenz des Krieges in „Echtzeit“ in den Medien entbrannte, illustriert den Zustand der gescheiterten Denotation. Sontag, die im April 1993 zum zweiten Mal ins belagerte Sarajevo reiste, um dort Samuel Becketts Theaterstück Warten auf Godot zu inszenieren, beobachtete mehrere Phänomene, die von der Krise der Kriegsberichterstattung zeugten.34 Als Beispiel führt sie die Reportage des berühmten BBC-Journalisten Alan Little über ein schwer verletztes, verwaistes bosnisches Mädchen an, dem nur noch die Behandlung in einem ausländischen Krankenhaus das Leben retten konnte. Bald hatten viele andere Journalisten dieselbe Story aufgegriffen. Unter dem Druck der Presse wurde das Mädchen durch die Intervention von John Major ins Ausland gebracht. Sontag beklagt, dass die Story weder eine Mediendebatte über den schlechten Zustand des Krankenhauses von Sarajevo noch über das Ausbleiben der von der Bevölkerung ersehnten humanitären Intervention eingeleitet habe. Vielmehr hätten die Reporter der konkurrierenden Zeitungen und Sender den „Medienzirkus“ angegriffen, „der das Leiden eines Kindes ausbeutet“.35 Während einer zweiten Phase der Berichterstattung konzentrierten sich diejenigen Medien, die erst verspätet auf die Story reagierten, nun statt auf die ursprüngliche Berichterstattung über das Mädchen auf eine sekundäre Story – die vermeintliche „moralische Obszönität“ der Kollegen als Metatext. Sontags Beispiel deckt die Zirkularität eines Kriegsdiskurses auf, der mit der Aufdeckung der Story hinter der Story das Ereignis von seiner Referenz abkoppelt und in einen Text, ein Bild oder eine Performance transformiert, welche an Stelle des Ereignisses sozusagen sentimentalisch kommentiert werden.36 Bei der Inszenierung von Becketts Warten auf Godot beobachtet Sontag ferner, dass sie selbst zur „Nebenattraktion“ für Korrespondenten und Journalisten geworden sei, „die gekommen sind, um über einen Krieg zu berichten“.37 Manche hätten ihr Engagement als „Eigenreklame“ aufgefasst, als Marketingstrategie, um Preis und Auflage ihrer Bücher in die Höhe zu treiben. Durchweg hätten sie dabei diejenigen, um die es ging oder hätte gehen sollen – die Einwohner von Sarajevo – aus dem Auge verloren. 34
Sontag, Susan: Godot in Sarajevo. Eine Theaterinszenierung unter dem Belagerungszustand. In: Lettre international 23 (1993), 4-9. Zweite deutsche Übersetzung: Dies.: Warten auf Godot in Sarajewo [1993]. In: Dies.: Worauf es ankommt. Essays. Aus dem Amerikanischen von Jörg Trobitius. Frankfurt a. M. 2007, 386-416. 35 Sontag [1993] 2007, 414. 36 Zum Begriff des „sentimentalischen“ Bildes vgl.: Busch, Werner: Das sentimentalische Bild. Die Krise der Kunst im 18. Jahrhundert und die Geburt der Moderne. München 1993. 37 Sontag 1993, 4; Sontag 2007, 412.
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Wenn man die Aufrichtigkeit seiner Intentionen beteuert, verstärkt das den Verdacht, wenn es denn einen Verdacht gibt. […] Allein schon über das zu sprechen, was man tut, erscheint als – oder wird vielleicht, unabhängig von den Absichten – eine Form von Eigenreklame. Doch das entspricht ja nur den Erwartungen der zeitgenössischen Medienkultur. […] Du willst, dass von ihnen die Rede ist, und es zeigt sich, dass – im Medienland – von dir die Rede ist. […] Es zeigt sich darin etwas von der Art und Weise, in der solche Dauerbrenner wie die Bosnien-Story übermittelt werden und Reaktionen hervorrufen.38
Sie bedauert, dass „der Ansturm der Interviews in den ersten zwei Wochen bedeutete, dass die meisten Storys fertig waren, noch ehe die Schauspieler ihren Text gelernt hatten und ihre Konzeption des Stückes sich zu bewähren begann“.39 In diesem Fall fabrizierte die Kriegsberichterstattung die zweite Story, die Inszenierung von Warten auf Godot, nicht im Nachhinein, sondern sie ging dem Ereignis sogar voraus. Die Schuld an der ermüdenden und unwirksamen Kriegsberichterstattung schiebt Sontag letztlich nicht den Reportern und den Medien zu, sondern der ausbleibenden politischen Aktion. Anders als Derrida, der aufgrund der Iterierbarkeit der Sprache die Wiedergabe des singulären Ereignisses für eine paradoxe unmögliche Möglichkeit hält, also entweder für eine konstative Mitteilung im Nachhinein oder eine performative Mitteilung als ein zweites Ereignis40 – beklagt Sontag nicht die Wiederholung der Bilder in den Medien. Vielmehr schiebt sie die Schuld der sich wiederholenden Geschichte – dem Ausbleiben des Ereignisses, der Friedensverhandlungen und der Intervention – zu.41 Zwar hat der Krieg seine Natur nicht völlig verändert und er ist nicht bloß oder in erster Linie Medienereignis, aber die Berichterstattung der Medien ist ein wichtiger Gegenstand der allgemeinen Aufmerksamkeit, und manchmal wird allein die Tatsache dieser Berichterstattung zur Story an sich. […] Ich glaube das Standardargument von Kritikern des Fernsehens nicht, dass das Betrachten schrecklicher Ereignisse auf einem kleinen Bildschirm diese Ereignisse ebenso sehr in die Ferne rückt wie sie sie real macht. Es ist die fortgesetzte Berichterstattung über den Krieg bei gleichzeitig fehlenden Aktionen, ihn zu beenden, die uns zu bloßen Beobachtern macht. Nicht das Fernsehen, sondern unsere Politiker haben Geschichte zu etwas gemacht, das man immer schon gesehen zu haben meint. Es ermüdet uns, stets dasselbe Programm an38
Sontag [1993] 2007, 412. Ebd., 412. 40 Derrida, Jacques: Eine gewisse unmögliche Möglichkeit, vom Ereignis zu sprechen. Aus dem Französischen von Susanne Lüdemann. Berlin 2003 (fr. Une certaine possibilité impossible de dire l’événement. In: Nouss, Alexis (Hrsg.): Dire événement, est-ce possible? Séminare autor de J. Derrida. Paris 2001, 79-112), 18-22. 41 Für Derrida (2003, 50) ist das Ereignis eine Singularität und daher eine Ausnahme: „Ein Ereignis ist immer außerordentlich, das ist eine mögliche Definition des Ereignisses. Ein Ereignis muss außerordentlich sein, eine Ausnahme von der Regel. Sobald es Regeln oder Normen und infolgedessen Kriterien gibt, um dies oder jenes, was geschieht oder nicht geschieht, zu bewerten, gibt es kein Ereignis mehr. Das Ereignis muss außerordentlich sein, und diese Singularität der ungeregelten Ausnahme kann nur Symptomen stattgeben.“ 39
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zuschauen. Wenn es unwirklich scheint, dann deshalb, weil es so entsetzlich und zugleich offenbar so unabänderlich ist.42
Der Stillstand der Geschichte, in dem sich die Einwohner von Sarajevo schon mehr als zwei Jahre befänden, lasse ihnen die Realität als irreal erscheinen. In diesem Stillstand drifte die Zeit für die Menschen in Sarajevo auseinander, entweder in die mittelalterliche Vergangenheit oder in eine Zukunft nach Science-Fiction-Manier. Selbst die Menschen in Sarajevo sagen manchmal, dass es ihnen unwirklich vorkommt. Sie befinden sich in einem Zustand des Schocks, der sich nicht abschwächt, der die Form einer rhetorischen Ungläubigkeit annimmt. (‚Wie konnte das passieren? Ich kann immer noch nicht glauben, dass es passiert.‘) Sie sind ernsthaft erstaunt über die serbischen Gräueltaten und über das öde und ungewohnte Leben, das sie jetzt zu führen gezwungen sind. ‚Wir leben im Mittelalter’, sagte jemand zu mir. ‚Das Ganze ist Science Fiction’, meinte ein anderer Freund.43
Für Sontag, die nach Bosnien und die Herzegowina kam, um dort tätig zu werden, ist Sarajevo dagegen „der realste Ort auf der Welt“.44 Denn „diesmal wollte sie nicht nur Zeuge sein, das heißt, auf Besuch kommen, vor Angst zittern, sich tapfer fühlen, herzzerreißende Gespräche führen, immer entrüsteter werden, abnehmen“. Sie kehrte zurück, „um sich einzumischen und etwas zu tun“.45 Sontags Auffassung von Performanz46 umfasst nicht nur die Inszenierung des Theaterstücks auf der Welt-Bühne und die Beeinflussung der Öffentlichkeit, sondern durch ihre zweieinhalbjährige Präsenz vor Ort auch einen körperlichen Nachvollzug ihres politisch-humanitären Programms. Indem sie Beckett inszeniert und politisch aktualisiert, scheint sie zwar zu akzeptieren, dass die Welt eine Bühne ist, jedoch nicht im Sinne der medialen Verdoppelung im „Spiegel“ oder im „Spiel“, wie in Guy Debords „Gesellschaft des Spektakels“ oder in Baudrillards „simulakraler Hyperrealität“, sondern aus der Perspektive des Mit-Erlebens und Zusammen-Seins. Jean Baudrillard, der am 19. Dezember 1993 eine simultane Programmübertragung aus Straßburg und Sarajevo, Le Couloir pour la parole (Ein Korridor für das Wort), auf dem Kanal Arte verfolgte,47 hat hernach nicht 42
Sontag [1993] 2007, 412, 413, 415. Sontag [1993] 2007, 415. 44 Ebd., 415, 416. 45 Ebd., 386. 46 Zum Begriff der Performanz: Wirth, Uwe (Hrsg.): Performanz. Zwischen Sprachphilosophie und Kulturwissenschaften. Frankfurt a.M. 2002; Butler, Judith: Hass spricht. Zur Politik des Performativen. Frankfurt a.M. 2006. 47 Baudrillard, Jean: Kein Mitleid mit Sarajevo. In: Lettre international 31 (1995), 91f.; Ders.: No pity for Sarajevo. In: Ders.: Screened out. Translated by Chris Turner. New York 2000, 45-50; Ders.: No reprieve for Sarajevo (Liberation, 8. Januar 1994), veröffentlicht am 28.9.1994, In: http://www.egs.edu./faculty/baudrillard/baudrillard-noreprieve-for-sarajevo.html. Übers. von Patrice Riemens. Hrsg. Kroker, Arthur und Marilouise (Zugriff: 27.06.2007). 43
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nur die Sendung in „Echtzeit“ als Symbol der europäischen Teilnahme angegriffen, sondern auch Susan Sontag als Repräsentantin des mediatisierten Westens, dem es an einem tieferen Realitätssinn mangele.48 Doch Susan Sontag, aus New York angereist, muss wohl besser als jene wissen, was Realität ist, da sie sie ja dazu bestimmt hat, deren leibhaftige Verkörperung zu sein. Oder vielleicht einfach deswegen, weil es eben die Realität ist, was ihr selbst und dem Westen insgesamt am meisten fehlt. Man muss sich aufmachen und sich dort wieder eine Realität besorgen, wo Blut fließt. […] – gerade diese Menschen [in Sarajevo] möchte Susan Sontag von der „Realität“ des Leidens überzeugen, wobei sie natürlich jene Realität stark macht, sie theatralisiert und inszeniert, damit sie im Theater des westlichen Werte, zu denen auch die Solidarität gehört, als Referenz dienen könne.49
Wie die Sendung auf Arte, so versuche auch Sontag, die Einwohner von Sarajevo von einer Realität zu überzeugen, obwohl sie mit ihnen zusammen in einer mediatisierten, gespenstischen Hyperrealität lebe. Und deshalb sind sie [die Einwohner von Sarajevo] es, die leben, und wir sind diejenigen, die tot sind. Deswegen kommt es zuallererst darauf an, mit unseren und für unsere eigenen Augen die Realität des Krieges zu retten, und gewissermaßen diese (anteilnehmende) Realität denen aufzudrängen, die unter ihr leiden, inmitten von Krieg und Elend jedoch nicht wirklich an sie glauben.50
Erst die mediale Hyperrealität, die das Leben in Sarajevo zu einer ‚DokuShow‘ transformiert, ermöglicht es ihnen laut Baudrillard, die unmöglichen Zustände in Sarajevo als ‚Helden‘ auszuhalten und zu überleben. In ihren Kommentaren gab Susan Sontag zu, dass die Bosnier selbst nicht wirklich an das Elend glaubten, das sie umgibt. Letztendlich hielten sie diese ganze Situation für irreal, sinnlos und undurchschaubar. Es ist die Hölle, aber eine gewisse hyperreale Hölle, die durch die ermüdenden medialen und humanitären Aktivitäten noch hyperrealer geworden ist, da diese die Haltung der ganzen Welt ihnen gegenüber noch unverständlicher macht. Auf diese Weise leben sie mit dem Krieg wie mit einer Art Gespenst – glücklicherweise übrigens, denn sonst könnten sie das Ganze niemals ertragen. Und dieser Gedanke stammt nicht von mir, sondern sie selbst sagen das.51
Im Jahre 1995 vergleicht Baudrillard in einem Interview mit Caroline Bayard und Graham Knight Sontags Engagement für Bosnien mit einem heroischen Akt.52 Wie die literarischen Heroen Opfer der Auswirkung ihrer eigenen Handlungen seien, so habe auch Sontag die Folgen ihrer Tat nicht vorausge-
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Zur Resonanz, auf die das Thema Bosnien bei den amerikanischen und westeuropäischen Intellektuellen stieß und das für sie zu einer narzisstischen Selbstbeschäftigung auf der Suche nach dem Sinn wurde: Hammond 2007, 49-53. 49 Baudrillard 1995, 91. 50 Ebd., 91. 51 Ebd., 91. 52 Bayard, Caroline/Knight, Graham: Vivisecting the 90s. An Interview with Jean Baudrillard. In: www.ctheory.net/articles.aspx?id=66, 3.8.1995, Hrsg. Kroker, Arthur and Marilouise (Zugriff: Juni 2007).
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sehen. Ihre Aktion vergleicht Baudrillard schließlich sogar mit einer Art Selbstmord.53 And it is a heroic act, in the sense that heroism has always been without illusions. Real heroes are always in that sense tragic. They do not exactly foresee the result of their actions. […] To me, an act does not have meaning by itself, except in an absurd context. Maybe suicide does, maybe in fact what we are looking at here is a form of suicide.54
Baudrillard scheint Sontag zur Heldin eines ausweglosen Trauerspiels zu machen, in dem der Selbstmord die einzige Handlung ist, die sich in der Welt der Simulation den Wiederholungen entzieht. Folgt man Baudrillard, so vollzieht sich ihre Performanz letztlich ausschließlich an ihrem eigenen Körper, ohne eine Chance, in der Öffentlichkeit etwas zu bewirken. Wie die Berichterstattung über das verletzte bosnische Mädchen der ErstStory dem Ereignis eine Zweit-Story – die Meta-Story über die Bedingungen der Kommunikation – ‚aufgepfropft‘ hat, so macht sich auch Baudrillard Sontags bekannten Essay über ihren Aufenthalt in Sarajevo in ‚parasitärer‘ Weise zunutze.55 Er deutet Sontags performativen Akt als ein persönliches Doku-Drama in der unmittelbaren (immediaten) und zugleich vermittelten (mediatisierten) „Echtzeit“. Wie in der Kriegsberichterstattung das Ereignis durch den Verweis auf seine mediale Gemachtheit seine Materialität und seine korporeale Präsenz einbüßt, so reduziert auch Baudrillard Sontags performativen Akt zu einer leeren, wenn auch theatralischen Geste. Das über mehr als zwei Jahrzehnte hinweg entwickelte Modell des Simulakrums56 – der Absorption der Realität und der Performanz durch die Mediatisierung, der beide schließlich stets vergeblich nacheilen – verschmilzt Baudrillard in dieser Spätphase seiner Theoriebildung mit Paul Virilios „Dromologie“ des „rasenden Stillstandes“ und der „Echtzeit“.57 Now we are, as Paul Virilio has put it, living in real time, and real time means fatality. Actions have no antecedent, even when they refer to other revolutionary periods, they do not have any finality, even in a long term context, as no one knows where this is coming from and it all happens within real time. And such a real time manages to set it all up in a state of total ephemerality. Susan Sontag’s act is limited. It cannot 53
Ebd. Ebd. 55 Zum Begriff des Parasitären bei Austin und Derrida: Wirth, Uwe: Original und Kopie im Spannungsfeld von Iteration und Aufpfropfung. In: Fehrmann, Gisela/Linz, Erika/Schumacher, Eckhard/Weingart, Brigitte (Hrsg.), Originalkopie. Praktiken des Sekundären. Köln 2004, 18-33. 56 Zur Entwicklung von Baudrillards Theorie der Simulakren: Butler, Rex: Jean Baudrillard. The Defence of the Real. London/New Delhi 1999. 57 Virilio, Paul: Politik und Geschwindigkeit. Ein Essay zur Dromologie. Berlin 1980; Ders.: Revolutionen der Geschwindigkeit. Berlin 1993; Ders.: Rasender Stillstand. Frankfurt a.M. 1997; Ders.: Fluchtgeschwindigkeit, Frankfurt a.M. 1999; Ders.: Information und Apokalypse. Die Strategie der Täuschung. München 2000; Ders.: Desert Screen. War at The Speed of Light. Translated by Michael Degener, London/New York [1991] 2002. 54
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operate incognito, it is automatically mediatised, that is for sure. […] Information is not what it used to be a long time ago. In the past, something would take place, then one would know it had taken place, then others would hear about it. Now, one knows everything before it has even taken place, and incidentally, it does not even have the time to take place. Mediatisation is a precession; you could call it the precession of simulacra within time.58
Nach dieser Logik kreist Susan Sontags Aktion wie die nicht mehr nachrichtlichen Nachrichten überaktiv in einem circulus vitiosus des Wiederholungszwangs, ohne dass das Ereignis eintreffen könnte. Nur durch die Herbeiführung eines Risses im raum-zeitlichen Informationskontinuum, die jedoch Sontag nicht gelungen sei, könne, so Baudrillard, die Aktion wieder in die Geschichte eindringen.59 Subjects such as Susan Sontag cannot intervene anymore, even symbolically. […] If one cannot create repercussions, reverberations for such an act to bring it back within history, so that it „were an event”, then there is no point in doing it. I would invoke and suggest that if one does this, chooses to do this, it has to be an event. Not that it should be important, but it should create a rupture within the information continuum.60
Ein solcher Riss wäre – entsprechend Baudrillards Theorie der Simulakren – theoretisch nur dann möglich, wenn ein Ereignis seiner medialen Aufzeichnung zeitlich tatsächlich vorangehen würde, wenn es also seine Originalität gegenüber seiner Reproduzierbarkeit verteidigen könnte: “one would need to precede the precession itself, to anticipate those simulacra, otherwise the clockwork, the system will be present before we are there. The simulacra will be ahead of us everywhere”.61 Doch mit Virilio argumentiert, kann ein Ereignis seine Gegenwart nicht mehr „hier und jetzt“ einholen, weil es bereits in einem „kommutativen Anderswo“ stattgefunden hat.62 Für Baudrillard ist Sontags Aktion von Anfang an nachträglich und in der Metalepse gefangen – wie der Held in Paul Wegeners Doppelgänger-Film Der Student von Prag (1913, 1926). This was the situation of the Prague student and his double. His double was always there before him. Whenever he would go and meet someone for a duel for instance, the other had come before him, his adversary had been killed. So there was no reason for him to exist. We now live in such a system.63
Die Konsequenz von Baudrillards Denken – die metaleptische Austauschbarkeit der Ereignisse mit ihren Simulakren – führt letztlich so weit, dass er in der gespenstischen „Echtzeit“ auch den Unterschied zwischen Opfer und Täter in eine gemeinsame Komplizenschaft auflöst. 58
Bayard/Knight 1995. Ebd. 60 Ebd. 61 Ebd. 62 Virilio 1999, 21. 63 Bayard/Knight 1995. 59
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Within such events, victims and executioners become in some way complicitous. It is monstrous, but real. Between the hostage and hostage-takers a form of complicity establishes itself.64
Susan Sontag reagierte auf Baudrillards Worte erst im Jahre 2001 in einem Interview mit Evans Chan, in dem sie ihn zu den „schamlosen Zynikern“ in eine Reihe mit Ilya Ehrenburg, Romain Rolland und Peter Handke einordnete. Baudrillard is a political idiot. Maybe a moral idiot, too. If I ever had any thought about functioning in a typical way as a public intellectual, my experiences in Sarajevo would have cured me forever. Look, I did not go to Sarajevo in order to stage Waiting for Godot. I would have had to have been insane to do such a thing. I went to Sarajevo because my son, a journalist who had begun covering the war [David Rieff], suggested that I make such a trip. While there for the first time in April 1993, I told people I would like to come back and work in the besieged city. When asked what I could do, I said: I can type, I can do elementary hospital tasks, I can teach English, I know how to make films and direct plays. “Oh,” they said, “do a play. There are so many actors here with nothing to do.” And the choice of doing Godot was made in consultation with the theatre community in Sarajevo. The point is that doing a play in Sarajevo was something I did at the invitation of some people in Sarajevo, while I was already in Sarajevo, and trying to learn from Sarajevans how I might be, in some small way, useful. […] My visit wasn’t intended to be a political intervention. If anything my impulse was moral, rather than political. I’d have been happy simply to help some patients get into a wheelchair. I made a commitment at the risk of my life, under a situation of extreme discomfort and mortal danger. Bombs went off, bullets flew past my head… There was no food, no electricity, no running water, no mail, no telephone day after day, week after week, month after month. This is not “symbolic”. This is real. And people think I dropped in for a while to do a play. Look, I went to Sarajevo for the first time in April 1993 and I was mostly in Sarajevo till the end of 1995. That is two and a half years. The play took two months. I doubt if Baudrillard knows how long I was in Sarajevo. I’m not a Bernard-Henri Levy making his documentary Bosna. In France they call him BHL; in Sarajevo they called him DHS – deux heures a Sarajevo – two hours in Sarajevo. He came in the morning on a French military plane, left his film crew, and was out of there in the afternoon. They brought the footage back to Paris, he added an interview with Mitterrand, put on the voiceover, and edited the film there. When Joan Baez came for twenty-four hours, her feet never hit the sidewalk. She was going around in a French tank and surrounded by soldiers the entire time. That’s what some people did in Sarajevo.65
Sontag verwirft Baudrillards Event-Etikettierung mit der persönlichen Motivation ihrer Reise und der Dauer ihrer Präsenz vor Ort. Mit ihrem Dasein und ihrer Tätigkeit in Sarajevo verteidigt sie den performativen Charakter ihres Handelns, das Baudrillard zu einer ‚Performance’ verkürzen wollte. Gerry Coulter sieht im Streit der beiden die Opposition von Moderne und Postmo-
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Ebd. Chan, Evans: Against Postmodernism, et cetera-A Conversation with Susan Sontag (2001). In: http://www3.iath.virginia.edu/pmc/text-only/issue.901/12.1chan.txt (Zugriff: 11.06.2007).
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derne am Werk.66 Sontag sei, als Repräsentantin der Moderne und der amerikanischen „optimistischen“ intellektualistischen Tradition von Frederick Douglas und Noam Chomsky, nicht bereit, sich auf eine öffentliche Debatte mit dem französischen Vertreter der Postmoderne einzulassen: „To accept that the world has taken a Baudrillardian turn into the violence of the virtual, the digital, and integrated reality of the hyperreal, was more than she could allow – even while she lived it with the media in Sarajevo.“67 Obwohl sie die Medien am eigenen Körper erlebte, hätte sie die Realität der Simulakren nicht zugelassen.
1.2. Der Paragone zweier Theorien der Photographie: Trompe l’oeil-Effekte versus Spektren des Realen Ein weiteres Feld der Auseinandersetzung zwischen Baudrillards Simulakrum und Sontags Performanz wurde in den 1990er Jahren die Theorie der Photographie. Für Baudrillard ist die Photographie – eine immaterielle LichtSchrift – kein Medium der Objektivität, sondern eines der Transposition der Realität in einen trompe l’œil-Effekt68 mittels des photographischen Objektivs (objectif).69 Die Stille und die angehaltene Bewegung im Photo macht laut Baudrillard aus der Realität ein Bild par excellence. Das Photo erfasse nicht die Welt, sondern sei Resistenz gegen sie – die Resistenz gegen den Lärm, die Bewegung und die moralischen Imperative. Gerade deswegen ist das Photo für Baudrillard ein „Drama” – im theatralischen Sinne ein „dramatic move to action (passage à l’acte), which is a way of seizing the world by ‘acting it out’”.70 Indem die Welt theatralisch ins Photo eintrete, werde sie aus ihrer Realität exorziert und ordne sich so den Signifikationsprozessen unter. Aus diesem Grund würden die Photographen und Photojournalisten, die versuchen, Realität und Objektivität in ihren Photos einzufangen, als bevorzugtes Motiv „Opfer“ und „Tote als solche“ wählen. Doch indem sie das tun, so Baudrillard, zeigten sie nicht das, was es gibt, sondern gerade das, was es nicht geben sollte – die Realität des Leidens als hyperreal. 66
Coulter, Gerry: Passings. Cool Memories of Susan Sontag. An American Intellectual. In: International Journal of Baudrillard Studies 2/2 (2005). http://www.ubishops.ca/baudrillardstudies/vol2_2/coulter.htm (Zugriff: 12.06.2007). 67 Ebd. 68 Zum trompe l’oeil-Effekt: Baudrillard, Jean: The Trompe l’œil. In: Bryson, Norman (Hrsg.): Calligram. Essays on New Art History from France (= Cambridge New Art History and Cristicism). Cambridge 1988, 53-62. 69 Baudrillard, Jean: Photography, or the writing of light. Übers. von Francois Debrix. In: www.ctheory.net/articles.aspx?id=126, 4.12.2000. Hrsg. Kroker, Arthur und Marilouise (fr. La photographie ou l’écriture de la lumière: Littéralité de l’image. In: Ders., L’Echange impossible. Paris 1999, 175-184). 70 Ebd.
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So-called “realist” photography does not capture the “what is”. Instead, it is preoccupied with what should not be, like the reality of suffering for example. It prefers to take pictures not of what is but of what should not be from a moral or humanitarian perspective. Meanwhile, it still makes good aesthetic, commercial and clearly immoral use of everyday misery. These photos are not the witness of reality. They are the witness of the total denial of the image from now on designed to represent what refuses to be seen. The image is turned into the accomplice of those who choose to rape the real (viol du réel). The desperate search for the image often gives rise to an unfortunate result. Instead of freeing the real from its reality principle, it locks up the real inside this principle. What we are left with is a constant infusion of “realist” images to which only “retro-images” respond.71
Laut Baudrillard, für den alle Photos Täuschungen sind, weigern sich photographische Dokumentaristen, die Bildhaftigkeit des Photos anzuerkennen. Obwohl sie behaupteten, in ihren „realistischen“ Photos Repräsentationen der Welt zu zeigen, berauben sie in Wirklichkeit die Welt ihrer Realität und verwandeln sie in verspätete „Retro-Bilder“. Die seit der Entstehung der Photographie immer wieder ausgedrückte Überzeugung, dass das Photographieren einen räuberischen Gestus beinhalte, wird verkehrt: Für Baudrillard greift der Photograph nicht in die Realität, um ihr etwas wegzunehmen und für sich zu behalten, sondern um sie zu verhüllen und auszuschalten. Er ist wie der Maler Parrhasios, der mit seinem gemalten Vorhang – einem trompe l’œil – eine noch effektivere optische Täuschung erzeugte, als sein Konkurrent, der Maler Zeuxis, der mit den naturnah gemalten Trauben nur Vögel, nicht aber den Betrachter täuschen konnte. Auch Susan Sontag äußert sich in ihrem frühen Buch Über Photographie (1977) gegen die Gewaltphotos, denen sie einen obszönen, nahezu pornographischen Wert zuschreibt.72 Ihr wiederholtes Anschauen würde allmählich die fragile ethische Aussage angreifen und Tabus brechen. Allein der Text, die Bildunterschrift oder der Kommentar, der das Bild konkretisiert, präzisiert und spezifiziert – also zum singulären Ereignis macht – könne dem wiederholenden Erscheinen eines Photos abhelfen und es aus seiner Allgemeinheit in eine bestimmte historische Situation überführen.73 In ihrem späteren Buch über die Kriegsphotographie Das Leiden anderer betrachten (2003) verteidigt Sontag das Betrachten der Gewaltphotos, solange diese ihre performative Kraft – die Verfolgung einer nicht verjährten Kriminaltat als visuelle Zeugenaussage – noch nicht verloren hätten.74 71
Ebd. Sontag [1977] 2004, 26. 73 Ebd., 22f. „Die Bilder, die das moralische Gewissen mobilisieren, beziehen sich immer auf eine bestimmte historische Situation. Je allgemeiner ihre Aussage ist, desto geringer die Wahrscheinlichkeit, dass sie etwas bewirken.“ 74 Sontag [2003] 2005, 104. 72
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Insofern konnte man sich verpflichtet fühlen, diese Bilder zu betrachten, so grausig sie waren. Denn gegen das, was sie zeigten, ließ sich in diesem Augenblick etwas tun. Andere Fragen kommen ins Spiel, wenn uns bislang unbekannte Photos mit Schrecken aus einer weit zurückliegenden Vergangenheit konfrontieren.75
Liegen die Taten weit zurück – wie auf den Photos der schwarzen Lynchopfer – macht einen das Betrachten solcher Photos laut Sontag zu bloßen Zuschauern. Die Taten sind in diesem Fall bereits musealisiert worden und besitzen ausschließlich einen Ausstellungswert. Indirekt antwortet sie in ihrem Buch auch Baudrillard, indem sie in der Kriegsphotographie „ein Mittel [sieht], etwas ‚real‘ (oder ‚realer‘) zu machen, das die Privilegierten und diejenigen, die einfach nur in Sicherheit leben, vielleicht lieber übersehen würden.“76 Vor allem sollten „moderne Weltbürger, Adepten der risikofreien Nähe, die Gewalt aus dem eigenen Fernsehsessel, fernab der Gefahr als Spektakel konsumieren“, heimgesucht und herausgefordert werden.77 Denn diese „geübten Zyniker“ versuchen, so Sontag, „innere Bewegung um jeden Preis zu vermeiden“ und zweifelten die Aufrichtigkeit der Photos an. Kosmopolitische Diskussionen über Gräuelbilder legten den Schluss nahe, dass solche Bilder wenig bewirkten und ihrer Verbreitung etwas Zynisches anhafte. Solche Diskussionen würden dazu führen, dass „die Bemühungen derer, die in Kriegsgebieten Augenzeugen sein wollen, inzwischen so häufig als ‚Kriegstourismus‘ verspottet werden, dass davon auch die Diskussionen über die Kriegsphotographie als Beruf nicht unberührt geblieben sind“.78 Dieses Misstrauen beobachtet Sontag „an den beiden Endpunkten des Spektrums: bei den Zynikern, die nie auch nur in die Nähe eines Krieges geraten sind, und bei den Kriegsmüden, die das Elend, das photographiert wird, selbst erdulden“.79 Für die radikalere – die zynische – Variante dieser Kritik gibt es an dieser Stelle nichts zu verteidigen: der riesige Magen der Moderne hat die Realität verdaut und alles in Gestalt einer Masse von Bildern wieder ausgespuckt. Einer sehr einflussreichen Zeitdiagnose zufolge leben wir in einer ‚Gesellschaft des Spektakels‘. Jede Situation muss in ein Spektakel verwandelt werden, damit sie für uns wirklich – das heißt, interessant – wird. Die Menschen selbst sind bestrebt, Bilder aus sich zu machen – Prominente mit einem ‚Image‘ zu werden. Die Wirklichkeit hat abgedankt. Es gibt nur noch Repräsentationen: die Medien. Das alles ist phantasievolle Rhetorik. Die allerdings auf viele sehr überzeugend wirkt, denn auch dies gehört zu den Merkmalen der Moderne, dass den Menschen die Vorstellung gefällt, sie könnten ihr eigenes zukünftiges Erleben vorwegnehmen. (Diese Ansichten finden sich in den Schriften von Guy Debord, der glaubte, er habe es mit einer Illusion, einem Schwindel zu tun, und in denen von Jean Baudrillard, der 75
Ebd., 106. Ebd., 14. 77 Ebd., 104, 129. 78 Ebd., 129. 79 Ebd., 129. 76
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behauptet, davon überzeugt zu sein, dass heute nur mehr Bilder, simulierte Realitäten existieren; es scheint sich hier um eine französische Spezialität zu handeln.) Oft heißt es, der Krieg, wie alles andere, was real zu sein scheint, sei médatique. So lautet auch die Diagnose einiger bekannter Franzosen, die während der Belagerung von Sarajevo zu einer Stippvisite in die Stadt gekommen waren – unter ihnen André Glucksmann: gewonnen oder verloren werde dieser Krieg nicht durch etwas, das sich in Sarajevo oder in Bosnien ereigne, sondern durch das, was in den Medien vor sich gehe. Oft wird behauptet, die ‚westliche Welt‘ neige mehr und mehr dazu, den Krieg selbst als Schauspiel zu betrachten. Meldungen über den Tod der Vernunft, den Tod des Intellektuellen, den Tod der Literatur – anscheinend ohne viel Nachdenken von vielen für bare Münze genommen, die herauszufinden versuchen, was in Politik und Kultur heute so falsch, so leer, so balsamiert anmutet. Dabei ist die These von der Wirklichkeit, die zum Spektakel geworden sei, auf atemberaubende Weise provinziell. Sie universalisiert die Sehgewohnheiten einer kleinen, gebildeten Gruppe von Menschen, die im reichen Teil der Welt leben, wo man die Nachrichten in Unterhaltung verwandelt hat – jenen ausgereiften Sehstil, der eine der großen Errungenschaften des ‚modernen‘ Menschen und eine Voraussetzung für die Demontage traditioneller Formen von Parteipolitik ist, in der es noch wirkliche Meinungsunterschiede und wirkliche Debatten gibt. Sie nimmt an, dass jeder Mensch Zuschauer ist, uns suggeriert – absurderweise und völlig unseriös, dass es wirkliches Leiden auf der Welt gar nicht gibt.80
Sontag leitet die Krise der Referenz als „französische Spezialität“ von Guy Debords Die Gesellschaft des Spektakels (La société du spectacle, 1967) her, der bereits mit Blick auf die 20er Jahre des 19. Jahrhunderts das Schwinden der Realität hinter einer theatralisierten Scheinwelt der Gesellschaft diagnostizierte, in der alle Handlungen zu tautologischen Rollenspielen würden. Wie sich die Realität für Debord in Surrogaten und für Baudrillard in hyperrealen Simulakren auflöst, so betrachtet Sontag auch deren „phantasievolle Rhetorik“ und die „Sehgewohnheiten“ als reine, von der Realität entbundene Wahrnehmungsprojektionen. Der Realitätseffekt, den Sontag fordert, zielt nicht auf eine Reproduktion der Realität, sondern auf deren Performanz – die Wirksamkeit der Photos in der Gesellschaft und bei den Entscheidungsträgern. Photos sollen den Betrachter „heimsuchen“, ihm als living deads oder revenants die vergangene oder abwesende Präsenz immer wieder vergegenwärtigen – ihn zur Trauerarbeit und zum daraus resultierenden Handeln herausfordern. Durch die anhaltenden Ansprüche der Photographie wird die Grenze zwischen Leben und Tod, zwischen Präsenz und Absenz, durchlässig. Obwohl geisterhaft, sind Photos für Sontag keine Simulakren im Sinne Baudrillards, sondern trotz allen Unterschieden eher mit Derridas „Gespenstern“ vergleichbar, weder lebendig noch tot – das Gedächtnis einer Politik „out of joint“.81 80 81
Sontag [2003] 2005, 126-128. Derrida, Jacques: Marx’ Gespenster. Der Staat der Schuld, die Trauerarbeit und die neue Internationale. Frankfurt a.M. 2004 (fr. Spectres de Marx. Paris 1993); Zu Derridas „Hantologie“: Žižek, Slavoj (Hrsg.): Mapping Ideology. London/New York 1994;
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Doch sowohl die Notwendigkeit der Bildunterschrift als auch die unmittelbare performative Kraft, die Sontag von den Kriegsphotos verlangt, stellt Judith Butler in ihrer Schrift Raster des Krieges. Warum wir nicht jedes Leid beklagen? (2009) in Frage.82 Laut Butler ist jedes Photo einer „selektiven Rahmung“ (framing) unterworfen, die sich nach dem jeweiligen politischen Bewusstsein richtet und dessen Interpretation notwendigerweise von „Dramaturgie“ und „Schauplatz“ des Photographen abhängt. Die sozialen und politischen Normen der Macht, die unsichtbar die Rahmung lenken, entscheiden darüber, welche Menschengruppen als „gefährdetes“ und „lebenswertes Leben“ qualifiziert werden. Das Muster der Macht schreibt sich somit als Spur bei der Entstehung der Photos in sie hinein und lenkt die Wahrnehmung des Leidens und Sterbens beim Rezipienten. Damit wird, so Butler, die Bildunterschrift nicht mehr benötigt und auch die Performanz der Photos ist nichts anderes als ein medial vermitteltes politisches Bewusstsein, mit dem man für bestimmte politische Lösungen wirbt. Wie gerade die Performanz der Bilder zu einer Falle werden kann, demonstriert ein Video und mehrere Photos der bis auf die Rippen abgemagerten bosnischen Flüchtlinge hinter dem Stacheldraht im Sammellager Trnopolje (Abb. 99). Sie wurden vom Kameramann Jeremy Irvin, dem Begleiter der Independent Television News-Reporterin Penny Marshall, sowie von den Photoreportern Ian Williams (Chanel 4) und Ed Vulliamy (Guardian) aufgenommen.83 Abb. 99: Bosnische Flüchtlinge hinter dem Stacheldraht im Sammellager Trnopolje, 1992.
Sprinker, Michael (Hrsg.): Ghostly Demarcations. A Symposium on Jacques Derrida’s Specters of Marx. London/New York 1999. 82 Butler, Judith: Raster des Krieges. Warum wir nicht jedes Leid beklagen. Aus dem Englischen von Reiner Ansén. Frankfurt a.M./New York 2010 (engl. Frames of War. When Is Life Grievable?. London/New York 2009, 65-97. 83 Das Video kann auf YouTube abgerufen werden: http://www.youtube.com/watch?v=p5V4VLBBSrA (Zugriff: 30.12.2012).
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Die Photographie erschien am 5. August 1992 auf der Umschlagseite der britischen Tageszeitung The Guardian, am 7. August unter dem Titel „Belsen 92. The Picture that shamed the world“ in Daily Mirror. Zugleich wurde das Video von den Independent Television News (ITN) ausgestrahlt. Die Photos und das Video, die durch den Stacheldraht und die Schlagzeile die Erinnerungen an die von den Nazis betrieben Konzentrationslagern wachriefen, diente im Herbst 1996 als Beweis für die Existenz der von Serben betriebenen Lagern im Kriegsverbrecherprozess in Den Haag.84 Die Recherchen des deutschen Journalisten Thomas Deichmann, der als Experte des Kriegsgerichts hinzugezogen wurde, haben ergeben, dass die Bilder manipuliert worden waren. Seine Nachforschungen des unbearbeiteten Bildmaterials und am Tatort in Bosnien haben gezeigt, dass sich nicht die Bosnier, sondern die Photoreporter hinter dem Stacheldraht befunden hatten.85 Mit dem Stacheldraht schützte man Nahrungsmittel, die kontrolliert an Flüchtlinge verteilt werden sollten, die in einer langen Schlange vor dem Eingang warteten. Erst als sie befragt wurden, habe sich die Wartenden entlang des Stacheldrahtes verteilt. In dieser Aufstellung wurden sie von dem Kameramann und den Photographen aufgenommen, um die Wirksamkeit der Bilder zu verstärken. Deichmann wiederum wollte mit seinen Enthüllungen nicht die Existenz der Konzentrationslager negieren, sondern lediglich auf die semantischen Verschiebungen hinweisen, die ein Bild zum „Schlüsselbild“86 innerhalb eines Krieges machen. Yet an important element of that ‘key image’ had been produced by camera angles and editing. The other pictures, which were not broadcast, show clearly that the large area on which the refugees were standing was not fenced-in with barbed wire. You can see that the people are free to move on the road and on the open area, and have already erected a few protective tents. Within the compound next door that is surrounded with barbed wire, you can see about 15 people, including women and children, sitting under the shade of a tree. Penny Marshall’s team was able to walk in and out of this compound to get their film, and the refugees could do the same as they searched for some shelter from the August sun.87 84
http://www.icj-cij.org/docket/files/91/13685.pdf (Zugriff: 30.12.2012). Zu den Hintergründen des Photos, der Recherche Thomas Deichmanns und des Prozesses: Horn, Christiane: Bilder erzählen ihre eigene Geschichte. Eine Reportage mit Folgen. In: Novo 34 (Mai/Juni, 1998), 30-33. http://www.novo-magazin.de/itn-vs-lm/novo34-2.htm (Zugriff: 29.10.2007); Redaktion, Gericht verurteilt Zeitschrift wegen Entlarvung des Bosnienkrieges, 30. März 2000, World Socialist Web Site, Hrsg. Internationales Komitee der Vierten Internationale, http://www.wsws.org/de/articles/2000/mar2000/lm-m30.shtml (Zugriff: 28.12.2012). 86 Peter Ludes (Multimedia und Multi-Moderne: Schlüsselbilder. Fernsehnachrichten und World Wide Web – Medienzivilisierung in der Europäischen Währungsunion, Wiesbaden 2001) zählt zu „Schlüsselbildern“ diejenigen Bilder, deren Muster wie Schlüsselwörter innerhalb von wenigen Sekunden in verschiedenen Kulturen eindeutig verstanden werden. 87 Der Artikel des Journalisten Deichamann kann heute nur noch auf einer serbischen Internetseite im Original abgerufen werden; In: http://www.srpska-mreza.com/guest/LM/lm-f97/LM97_Bosnia.html (Zugriff: 30.12.2012). 85
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Als er Ergebnisse im Artikel „The Picture that Fooled the World“ in der britischen Zeitschrift Living Marxism/LM Magazine veröffentlichte, wurden der Journalist sowie die Herausgeber, Michael Hume und Helene Guldberg, von dem Medienkonzern ITN verklagt und vom British High Court of Justice am 12. März 2000 wegen Verleumdung zum höchsten Schadensersatz (£600.000) verurteilt.88 Nach diesem Urteil war die Zeitschrift finanziell ruiniert und hörte auf, zu erscheinen. Die Verurteilung löste viele pro- und contra-Reaktionen aus,89 wobei sich einige renommierte Journalisten schließlich auf die Seite des Medienkonzerns schlugen. So entschuldigte sich der BBC-Journalist John Simpson, der während des Prozesses für die angeklagten Kollegen ausgesagt hatte, am 22. April 2012 öffentlich für die Unterstützung, insbesondere für die Unterstellung, Deichmann habe die Existenz serbischer Lager in Bosnien geleugnet.90 Der Reporter Ed Vulliamy äußert sich im „Prolog“ seiner Memoiren The War is Dead – Long live the War: Bosnia: The Reckoning von 2012 nicht zu den Photos aus Trnopolje, sondern vielmehr zu den Umständen in den Gefangenenlagern 1992 in Bosnien.91 In den Kapiteln „Testimony“, „Echos of the Reich: Auschwitz-Birkenau“ und „The Lie“ geht er noch einmal auf die Umstände bei der Entstehung des berüchtigten Photos – das im Buch jedoch nicht abgebildet wird – und auf den Streit mit dem deutschen Journalisten Deichmann ein.92 Diesem wirft er für seine Aufdeckung der Bildfälschung, die durch eine manipulierte Rahmung bei der Aufnahme geschah, Revisionismus und Parteilichkeit für die Serben vor. Deichmann’s contention was that the prisoners just arrived from Keraterm were outside an enclosure – free to come and go – and filmed from within it. They were not prisoners, he claimed, but refugees. The actual argument was calculatedly myopic, but that is how the canon of revisionism operates, methodologically.93
Das Argument verschiebt sich – wie bereits Susan Sontag beobachtete – vom Ereignis auf die sekundäre Geschichte über die fehlende Moral des deutschen Journalisten. Für Ed Vuillamy zählt das Photo nicht als singuläres Ereignis, sondern vielmehr – ähnlich wie ein Kompositporträt – als Summe von ver88
http://en.wikipedia.org/wiki/Living_Marxism (Zugriff: 28.1.2012). Peterson, David: The Picture That Continues to Fool the Worlds. In: ZNet. A community of people committed to social change, 27.06.2011, http://www.zcommunications.org/the-picture-that-continues-to-fool-the-world-bydavid-peterson (Zugriff: 18.12.2012) 90 Simpson, John: I was wrong side in Bosnia death camps libel trial. In: The Guardian/The Observer, 22. April 2012, http://www.guardian.co.uk/world/2012/apr/22/johnsimpson-wrong-side-bosnia-libel-trial (Zugriff: 30.12.2012) 91 Vuilliamy, Ed: The War is Dead, long Live the war: Bosnia: The Reckoning. London 2012, xxi-xxiv. 92 Ebd., 54-86. 93 Ebd., 81. 89
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schieden Erlebnissen, vor allem der Besichtigung eines weiteren Flüchtlingslagers in Omarska, in dem sich die abgemagerten Flüchtlinge oder besser Häftlinge – nicht getraut hätten, irgendeine Aussage zu machen. Im Buch sind weniger bekannte Photos aus diesem Lager veröffentlicht. In Trnopolje, wo die Flüchtlinge schon befreit gewesen seien, habe ihnen der große abgemagerte Mann am Stacheldraht, Fikret Alić, erzählt, dass es noch ein weiteres Lager, Keraterm, gebe, in dem er zusammen mit anderen Gefangenen 130 massakrierte Häftlinge habe begraben müssen. Die Tatsache, dass die Flüchtlinge in Trnopolje zu dem Zeitpunkt bereits befreit waren und nie hinter diesem Stacheldraht standen, betrachtet er – wie der Richter – nicht als Fälschung des Bildmaterials, sondern vielmehr als eine Bildmetapher dafür, was dort tatsächlich vor sich ging. Trotzdem entschied sich der Journalist, im „Epilog: Fikret Alić Revisited“ den Gefangenen, nun verheirateten Mann und Vater von zwei Kindern, noch einmal Stellung zum Lager und zum Photo zu nehmen.94 Fikret calls the famous image of himself “the picture of me as a fat man”. And now, after two decades, I ask him which was more traumatic – Keraterm or Trnopolje, or being in a picture that half the world has seen, was the subject of a smear campaign and is still published over and over again 20 years later? “The camps took me near to death”, replies Fikret, “because they starved me and beat me for two months”. His solemn expression breaks into that broad, sassy smile, part swagger, part mischief. “But the picture never let me go”, and he breaks into laughter.95
Wie Sontags living deads und revenants kehrt Fikret Alić immer wieder zurück, weil ihn das Photo nicht mehr gehen lässt. Doch sein Realitätseffekt und seine Performanz erweisen sich als ein derart wirksames Simulakrum, das hinter ihm das reale, singuläre Ereignis vollkommen in den Machtstrukturen verschwindet.
1.3. Die Krise des Dokumentarischen: James Nachtweys Inferno (1999) Die medientheoretische Auseinandersetzung zwischen Performanz und Simulakren hinterließ ihre Spuren nicht nur in der Kriegsberichterstattung und in der Theorie der Photographie, sondern auch in den Kommentaren der Photojournalisten zu ihren eigenen Photos und der Photographie als solcher. Dem Begleittext James Nachtweys zu seinem Photographieband Inferno (1999) kommt hier ein exemplarischer Wert zu.96 Der Photograph beschwört darin seine Rolle als Zeuge und die Rolle seiner Photos als Zeugenaussage: “I have been a witness,
94
Ebd., 314-326. Ebd., 326. 96 Nachtwey, James: Inferno. New York 1999. 95
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and these pictures are my testimony”.97 Ihren performativen Charakter unterstreicht er durch die Überzeugung, dass ihre Veröffentlichung in den Massenmedien die Aufmerksamkeit bzw. das Bewusstsein („awareness“) der Rezipienten wecken und ihnen helfen soll, sich Meinungen zu bilden. Photos sollen an dem fortlaufenden Dialog zwischen Information und Reaktion teilnehmen, denn sie seien weniger von Worten abhängig und näher an der rauen, unmittelbaren Erfahrung („a photograph can enter the mind and reach the heart with the power of immediacy“).98 Der Betrachter soll seine Emotionen in Sätzen artikulieren und diese an politische und humanitäre Institutionen weiterleiten. Die Photos sollen als visuelles Archiv zur Bildung des kollektiven Gedächtnisses und der kollektiven Verantwortung beitragen: “I want my work to become a part of visual history, to enter our colletive memory and our collective conscience.”99 Damit seine Photographien eine maximale performative Kraft entfalten können, will Nachtwey seinen photographischen Stil an die Aufnahmen in „Echtzeit“ („flow of events“, „increments of time preceding and following the decisive moment“) und an filmische Montageeffekte („various moments and perspectives“) anpassen.100 With Inferno I am seeking a deeper and broader treatment of events – something with narrative, cinematic quality; something that possesses a structure integral to the single image but also a connection between images. It is an attempt to go beyond a collection of so-called ‘best pictures’ and to replace it with a sense of the flow of events: ongoing, real, existing beyond the presence of the photographer. I have tried to apprehend the increments of time preceding and following the decisive moment and to take into account the repetitions and accumulations of details that inform reality. It is an attempt to create a path that viewers can negotiate in order to come to a personal understanding of events by piecing them together from various moments and perspectives.101
Der Forderung nach filmischen Effekten folgend, werden Photos zu Serien verknüpft und oft wie im Leporello über zwei Buchseiten reproduziert. Dadurch wird auch die Notwendigkeit einer Wahl zwischen dem dramatischen Augenblick („highest drama“) und dem Erfassen des Wesens der Geschichte („essence of a story“) umgangen.102 Die verstärkte Wirksamkeit geht mit der Simulation der „Echtzeit“ einher, die dem Betrachter ermöglichen soll, sich eine eigene Story vorzustellen („a personal understanding of events“). Dabei oszillieren die Photos zwischen Performanz und Simulakrum, zwischen der ‚Erst-Story‘ des Reporters und der imaginierten‚ ‚Zweit-Story‘ des Betrachters. Der Widerspruch von Performanz und Simulakrum schreibt sich in den Kommentar der Kriegsphotographien ein. 97
Ebd., 469. Ebd., 469. 99 Ebd., 469. 100 Ebd., 469. 101 Ebd., 469. 102 Ebd., 469. 98
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Auch in der Bildproduktion rekurriert der Photoreporter trotz seiner Beschwörung, Zeuge der Geschichte zu sein, zugleich auf fiktive Bilder der „Hölle“, wie Dantes Inferno, dessen Zitat aus dem dritten Gesang Nachtweys Photobuch in roter Tinte als Motto vorangestellt ist. Through me is the way to the sorrowful city. Through me is the way to join the lost people. (Inscription at the entrance to Hell) There sights, lamentations and loud wailings Resounded through the starless air; So that from the beginning it made me weep. Dante Alighieri, The Divine Comedy: Inferno103
Nachtweys Photographien aus den Kriegen in Bosnien- und im Kosovo bilden zusammen mit anderen Photographien des Schreckens aus Rumänien, Indien, Sudan, Ruanda, Zaire, Tschetschenien und Somalia neun Abschnitte, deren Struktur die neun Höllenkreise von Dantes Inferno evoziert. Auch das doppelseitige Titelbild, das den Eintritt ins Krankenhaus von Grosny während der russischen Bombardierung im Jahre 1995 zeigt, scheint das dokumentarische Photo vor Ort mit Dantes literarischer Vorlage zu überblenden (Abb. 100).
Abb. 100: James Nachtwey, Eingang ins Krankenhaus in Grosny während der russischen Bombardierung, 1995. 103
Ebd., s.p.
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In der nebligen Nacht steht vor der Mauer eine dunkle Gestalt mit dem Rücken zum Betrachter, ihr Schatten fällt auf die Wand. Das Photo ist in die enigmatische Beleuchtung eines explodierenden Sprengkörpers getaucht, die nicht nur die Person mit einem mehrfach sich vergrößernden Schatten umgibt, sondern auch den Schatten der Äste eines Baumes auf die Mauer wirft. Die Konsistenz der Objekte wird unsicher, da es unentscheidbar ist, ob die Gestalt vor einer Mauer steht oder ob die Mauer eigentlich der Eingang in eine opake Region der Umrisse und Schatten ist. Solche Effekte konnten nur durch lange Nachbearbeitung der Photographien (Ausschnitt, Beleuchtung) im Photostudio erreicht werden, die Christian Frei in seinem oscarnominierten Dokumentarfilm James Nachtwey. War Photographer (2002) festgehalten hat.104 Aus dem Zeugen im juristischen Sinne – dem Augenzeugen vor Ort – wird Nachtwey zum Zeugen im biblischen Sinne – zum Aufschreiber und Nacherzähler. Die gespaltene double-bind-Position des performativen ‚acting‘ einerseits und des simulakralen Verhüllens des Ereignisses andererseits drückt Nachtwey in zwei Photos aus, die als metapoetischer Kommentar zur Photographie der 1990er Jahren gelesen werden können. Das eine Photo mit einem hinter den Leisten eines Rollladens versteckten Scharfschützen hat der Photograph selbst aus dem Blickwinkel eines Scharfschützen im Verborgenen aufgenommen (Abb. 101).
Abb. 101: James Nachtwey, Kroatischer Milizionär schießt aus dem Schlafzimmer auf die muslimischen Nachbarn in Mostar, 1993-94. 104
Frei, Christian: James Nachtwey. War Photographer. DVD 2002.
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Die räumliche Distanz zum Schießenden, der dem Photographen keine Aufmerksamkeit schenkt, und sein schattenhaftes Spiegelbild in einer Türscheibe verstärken die Präsenz eines versteckten Betrachters. Das Spiegelbild wird zur Metapher und Metonymie eines zweiten Fensters mit einem zweiten schießenden Mann. Die performative Kraft der Kameraaufnahme wird durch die traditionelle Analogie zwischen dem Schießen einer Waffe und dem Schießen eines Photos ausgedrückt. Das berühmte Motto Robert Capas – „If your pictures aren’t good enough, you’re not close enough“ – wurde hier pervertiert.105 Während dieses Photo den Akt des Photographierens aktualisiert und mit dem Schießen der Waffe synchronisiert, geht das andere Photo mit den Frauen im Lager unter der transparenten Plastikplane in umgekehrter Richtung vor (Abb. 102). Hinter diesem modernen Schleier, der als Supplement der entzogenen Wahrnehmung106 fungiert, verbirgt sich das Imaginäre. Das Photo mit den Frauen in bunter Bekleidung, die in ihren verschwommenen Silhouetten erstarrt erscheinen, lässt offen, ob der Betrachter entweder Frauen auf der Flucht oder ein klischeehaftes Bild des Orients sieht. Nachtwey rekurriert mit seinem Photo auf das traditionelle Bildmotiv der verschleierten muslimischen Frauen im Harem, die er zur Metapher des Simulakralen macht. Wird das Photo mit dem verdoppelten Scharfschützen zum Metabild der photographischen Performanz, so werden die zum Gemälde erstarrten Frauen unter der Plastikplane zum Metabild des Simulakrums. Der Aktualisierung der Kriegsphotos läuft ein reziproker Prozess der De-Aktualisierung entgegen, in dem die gesteigerte Performanz mit dem Simulakralen zusammenfällt. 105
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Noch einen Schritt weiter ging der französische Photoreporter Luc Delahay, der 1992 in Sarajevo erschütternde Aufnahmen einer von Granatsplittern verletzten jungen Frau mit ihrem Hündchen machte und für sein Photo den World Press Photo Award in der Kategorie „Spot News Stories“ gewann. Wie die Produktionsbedingungen dieses Photos waren, erfährt man im dreißigminütigen Dokumentarfilm Slike sa ugla (Images From the Corner, 2003) der bosnischen Regisseurin Jasmila Žbanić, die der Entstehung des Photos des französischen Photographen auf den Grund ging. Die zwanzigjährige Biljana Verhovac, die vor ihrem Wohnhaus in Sarajevo lebensgefährlich verwundet wurde, hatte dabei nicht nur ihren Arm, sondern auch ihren Vater verloren. Während sie blutend um Hilfe bat, verschoss der Photograph – statt ihr zu helfen – ganze drei Filmrollen. Als ihn die Verletzte später zur Rede stellte, antwortete er ihr: „I was only doing my job“. Auf der Homepage des World Press Photo Award konnte man jahrelang den zynisch-buchstäblichen Kommentar: “A young woman and her dog, both hit by mortar fire, wait for help in a pool of blood” lesen. (http://www.archive.worldpressphoto.org/search/layout/result/indeling/detailwpp/form/w pp/start/2/q/ishoofdafbeelding/true/trefwoord/year/1992/trefwoord/nationality/France?id =wpp%3Acol1%3Adat7915 (Zugriff: 13.11.2009). Als Žbanićs Dokumentarfilm bekannt wurde, verschwand das Photo aus der Internetseite des World Press Photo Award. Zu den verschiedenen Funktionen des Schleiers als Supplement: Wolf, Gerhard: Schleier und Spiegel. Traditionen des Christusbildes und die Bildkonzepte der Renaissance. München 2002; Enders, Johannes/Wittmann, Barbara/Wolf, Gerhard (Hrsg.): Ikonologie des Zwischenraums. Der Schleier als Medium und Metapher. München 2005.
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Abb. 102: James Nachtwey, Kosovo-Flüchtlinge unter Plastikplanen, 1999.
2. Das Problem des photographischen Zeugnisses und der Augenzeugenschaft. Ron Havivs Photographien aus Bijeljina (1992) 2.1. Vom „Standbild“ zum „Non-Stop-Bild“ in the loop Im April 1992 nahm der 27-jährige New Yorker Photoreporter Ron Haviv in der Stadt Bijeljina im Nordosten Bosniens mehrere Photos auf, die die Gräueltaten einer serbischen paramilitärischen Einheit an bosnischen Zivilisten zeigen. Sie sind rund um die Welt in der Presse erschienen (u.a. Time, Paris Match, Stern) und sind heute im Historischen Museum in Sarajevo als Teil einer Dauerausstellung zu sehen.107 Die Photographien, im Geheimen erstellt, fixieren den Augenblick vor bzw. nach der Tat. Die Folterung und die Erschießung selbst konnte der Photograph nicht unbemerkt photographieren, ohne sich selbst in Lebensgefahr zu bringen. Vor allem eines dieser Photos hat – als Quintessenz der sogenannten „ethnischen Säuberungen“ – große Aufmerksamkeit auf sich gezogen (Abb. 103).108 107
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Lipton, Josua: Ron Haviv: Shooting war. In: Columbia Journalism Review, Jul./Aug. 2002, http://findarticles.com/p/articles/mi_qa3613/is_200207/ai_n9112974/pg_1?tag=artBody; col1; Zugriff: 20.07.2008). Abb.: http://photoarts.com/haviv/bosnia/dying.html;
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Abb. 103: Ron Haviv, Serbische Paramilitionäre beim Aufspüren und Töten moslemischer Zivilisten in Bijeljina (Bosnien), 1992.
Das Photo hat unterschiedliche mediale Diskurse über den Krieg im ehemaligen Jugoslawien gebündelt: Jean-Luc Godards Kurzfilm Je vous salue, Sarajevo (1993), Havivs Monographie Blood And Honey. A Balkan War Journal (2000), Sontags spätes Buch über die Kriegsphotographie Regarding the Pain of Others (2003) und Slavenka Drakulićs kroatische Ausgabe ihres Tribunal-Buches Keiner war dabei. Kriegsverbrechen auf dem Balkan vor Gericht (2004)109 nehmen alle ein und dasselbe Photo zum Ausgangspunkt. In das photographierte Ereignis schreibt sich ein pessimistischer Metatext über die Medien in der Zeit des Krieges ein, der zur Folie verschiedener Narrative wird.110 Über die Hintergründe der Entstehung der Photographie erfährt man aus Havivs Monographie Blood and Honey. A Balkan War Journal aus dem Jahre 2000, die eine Ausstellung seiner Photos in der New Yorker Saba Gal-
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http://photos1.blogger.com/blogger/293/1963/1600/Serbian-Soldiers-in-Bosnia.jpg (Zugriff: 20.07.2008). Drakulić, Slavenka: Oni ne bi ni mrava zgazili. Ratni zločinci na sudu u Hagu. Zagreb 2005. Vgl. auch: Zimmermann, Tanja: Ein Kriegsphoto aus Bosnien. Beglaubigungen und Verweigerungen durch Ron Haviv, Susan Sontag und Jean-Luc Godard. In: Borissova, Natalia/Frank, Susanne /Kraft, Andreas (Hrsg.), Kriegsnarrative des 20. und 21. Jahrhunderts. Zwischen Apokalypse und Alltag. Bielefeld 2009, 237-261.
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lery begleitet hat. Wie seine Kollegen Gilles Peress111 und James Nachtwey112 hat auch Haviv seine Kriegsphotographien acht Jahre nach ihrer Entstehung, losgelöst von der Funktion der Kriegsberichterstattung, als Kunstphotographien erneut veröffentlicht. Dem illustrierten Buch ist als Motto eine quasi-etymologische Erklärung des Toponyms Balkan vorangestellt, wobei dieses willkürlich in zwei kontrastreiche türkische Morpheme – „bal“ (Honig) und „kan“ (Blut) – zerlegt wird. Denselben Titel griff drei Jahre später auch der Kurator Harald Szemann in der Ausstellung der Kunst aus dem Balkanraum in der Sammlung Essl in Wien im Jahre 2003: Blut & Honig. Zukunft ist am Balkan auf.113 Im Zentrum des Buches stehen die Photoserie aus Bijeljina und dabei vor allem das oben abgebildete Photo. Doch entgegen der Erwartung des Lesers, vom Photoreporter selbst die Umstände über die Entstehung der Photos zu erfahren, werden mehrere Essays vorangestellt: der erste von Chuck Sudetic, Korrespondent der New York Times, der zweite von David Rieff, Journalist und Sohn Susan Sontags, der dritte vom Arzt und Politiker Bernard Kouchner. Erst am Ende meldet sich Haviv selbst zu Wort, dann allerdings ex post, und zwar indem er acht Jahre später retrospektiv über die Schwierigkeiten des objektiven Journalismus im Krieg spricht. Am Ende des Buches folgen „Notes“ mit den Lemmata einiger Ortsund Eigennamen. Überraschend begegnet man an dieser Stelle nicht einer unpersönlichen, sachlichen Sprache nach dem Vorbild von Lexikonartikeln, sondern der persönlichen Stimme des Photographen. Unter dem Lemma „Arkan“ über Željko Ražnatović – Arkan114 erfährt man, unter welchen Bedingungen die Photoserie aus Bjeljina entstanden ist. Das Zurücktreten der subjektiven Erzählinstanz des Photographen bzw. sein verstecktes Auftreten im Paratext dient nicht nur der wissenschaftlichen Objektivierung des Be111
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Peress, Gilles: Farewell to Bosnia. Zürich 1994; Ders.: A Village Destroyed. May 14, 1999. War Crimes in Kosovo. Berkeley/L.A./London 1999. Nachtwey 1999. Blut & Honig. Zukunft ist am Balkan. 16.05.-28.09.2003 Sammlung Essl. Wien 2004 (Ausstellungskatalog), 16. Szemann argumentierte seine Wahl damit, dass der Titel vor allem in Österreich mit Blick auf das Attentat auf Franz Ferdinand und den Wiener Aktionismus attraktiv sei. Zudem evoziere er die Pole von Zorn und Zärtlichkeit, Katastrophe und Idylle, von zutiefst Menschlichem und Universalem. Szemann stellt keine Verbindung zwischen Havivs Buch und der Ausstellung her. Den Namen hätte Melantie Pandilovski, Mitglied des BAN (Balkan Art Network), vorgeschlagen. Dieser bewog den Kurator dazu, das Projekt in Angriff zu nehmen. Željko Ražnatović-Arkan war Anführer der serbischen paramilitärischen Gruppe „Tiger“ und Mediengestalt in Serbien. Seine Berühmtheit stieg an, als er 1995 die Turbo-Folk-Sängerin Svetlana Veličković – Ceca heiratete. Im Jahre 2000 wurde er im Hotel Interkontinental in Belgrad erschossen. Zu Ražnatović-Arkan: Iordanova, Dina: Cinema of Flames. Balkan Film, Culture and the Media. London 2001, 175-196 (Kap. 9: Villains and Victims); Stewart, Christopher: Hunting the tiger. The fast life and violent death of the Balkans’ most dangerous man. New York 2008.
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zeugten, sondern drückt auch das Unbehagen des Photographen an der Entstehung des eigenen Photos aus. Der erste Erzähler, Chuck Sudetic, selbst Autor des Buches Blood and Vengeance. One Family’s Story of The War in Bosnia (New York 1998), erzählt in der dritten Person aus der Perspektive eines zweiten Zeugen von der Entstehung der besagten Photographie. An die Stelle der erlebenden Stimme des Photoreporters, der zur stummen intradiegetischen Figur wird, tritt Sudetic als ‚zweiter Berichterstatter‘, der nicht den Photographen, sondern dessen Photographien zu Akteuren macht. Diese werden mit aktiven Verben der Tätigkeit zu handelnden Figuren: Sie sprechen für sich selbst (speak for themselves), fangen die Ungerechtigkeit ein (capture the injustice), erwecken Gefühle (evoke emotions) und rufen quälende Erinnerungen hervor (recall haunting memories).115 Im gleichen Zuge wie die Photos belebt werden, werden ihre Objekte, die photographierten Opfer, zu Bildern ‚eingefroren‘, die die Bilder anderer Opfer evozieren – Photographien von Auschwitz, Goyas Desastres de la Guerra und Orwells Roman 1984.116 Dem Medium wird eine aktive, seinen Objekten eine passive Rolle zugeteilt. Erst wenn der besondere Wert dieser Photographien jenseits ihrer journalistischen und künstlerischen Qualitäten – ihr kriminalistischer Wert als Beweismaterial zur Identifizierung von Opfern und Tätern – hervorgehoben wird, übernimmt der bisher unsichtbare Photograph die Rolle der aktiven Photographien. Auch jetzt begrenzt sich seine Handlung lediglich auf das ‚Einfrieren‘ der Bilder. In einer Erzählpassage, in der Erschießungen im slawonischen Vukovar beschrieben werden, denen der Photograph zwar beiwohnte, die er aber nicht photographieren konnte, wird durch die wiederholte Beschreibung äquivalenter Ereignisse das Versäumnis auf der Erzählebene ekphrastisch kompensiert und die Photoserie aus Bijeljina vorweggenommen. Pale and shell-shocked, the civilians emerged into the sunlight. Haviv and Morris saw one woman step away from a group of survivors. She whispered a few words into the ear of one soldier. In an instant, the soldier shouted: ‘No pictures. No pictures.’ He pointed his automatic at the photographers; then he pulled aside one of the men in the group of survivors and shot him dead. Haviv had witnessed an execution. His camera hung from his neck, inert. An hour later, another soldier spotted a man in civilian clothes stepping from a doorway. A soldier shouted, ‘No pictures. No pictures.’ Haviv again lowered his camera. His finger slid away from the shutter button. A gun fired. The men fell dead.117 115
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Sudetic, Chuck: The Crime And the Witness. In: Haviv, Ron: Blood And Honey. A Balkan War Journal. Essays by Chuck Sudetic and David Rieff. Afterword by Bernard Kouchner. New York 2000, 11-23, hier 16. Zum Verhältnis von Bild und Opfer: Böhme, Hartmut: Der Wettstreit der Medien im Andenken der Toten. In: Belting, Hans/Kamper, Dietmar (Hrsg.): Der zweite Blick. Bildgeschichte und Bildreflexion. München 2000, 23-42; Nancy, Jean-Luc: Am Grund der Bilder. Zürich-Berlin [2003] 2006 (fr. Au fond des images. Paris 2003), 12. Sudetic 2000, 17.
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Hier werden keine Photos geschossen. Anstelle der photographischen Schnappschüsse fallen Schüsse aus dem Gewehr. Noch bevor das photographische Bild hätte entstehen können, wird es gelöscht. Das Löschen des Bildes bedeutet, das Geschehen ungeschehen zu machen. Baudrillards These, dass die Simulakren der Realität vorangehen und sie ersetzen,118 realisieren die Täter wortwörtlich. Dabei gehen nicht, wie von Baudrillard behauptet, Opfer und Täter, sondern der Photoreporter unfreiwillig mit den Tätern eine Komplizenschaft ein. Durch das fast identische Ablaufmuster, in dem der Erschießung das Bilderverbot vorangeht, gewinnen die singulären Ereignisse eine serielle Struktur. Soldiers began to yell, “No pictures. No pictures.” In an instant, one of them shot the fleeing man in the back. Again Haviv witnessed an execution and had been told not to photograph it. Again, he had not lifted his camera.119
Der Serie von Erschießungen entspricht der photographische Erzählmodus der wiederholten Aufnahmen, die zur erzählten Photoserie verbunden werden. Endlich gelingt es dem Photographen, das Wiederholungsmuster zu durchbrechen. Versteckt hinter einem Lastwagen, kann er das oben gezeigte Photo aufnehmen. Doch auch diesmal kann er nicht die Erschießung selbst, die durch einen vorbeifahrenden Lastwagen verstellt wird, sondern nur den Augenblick kurz danach einfangen. He raised his camera and snapped as one of the militiamen held a cigarette in one hand and kicked the head of the woman bleeding on the ground. The militiamen then ran along the street, and Haviv went with them.120
Er will eigentlich nur die Opfer photographieren, doch im Moment der Aufnahme treten die Täter, die Milizionäre, in das Bildfeld der Kamera. Das Photo ‚danach‘ wird auf diese Art in ein Aktionsphoto, aus einem Zeugnis in den Akt der Zeugenschaft transformiert. Wie Haviv in den „Notes“ berichtet, ist die Photoserie nur dadurch erhalten geblieben, dass er den Film rechzeitig vor Arkan versteckt hat, der dem Photographen zwar das voyeuristische Zuschauen erlaubte, ihm jedoch seine berufliche Zeugenschaft verweigerte.121 Wie die Täter nach der Logik der Baudrillardschen „hyperrealen Realität“ durch das Bilderverbot das Ereignis ungeschehen machten, so spricht auch deren Anführer, Arkan, nicht über die Opfer, sondern über die Photos: Er verlangt nach der Filmrolle, um die besten Photos auszusuchen. Haviv, der sich auf das Metagespräch einlässt, argumentiert mit den besseren Entwicklungsstudios im Ausland. 118 119 120 121
Bayard/Knight 1995. Sudetic 2000, 18. Ebd., 18. Ebd., 29.
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I walked over to my car to hide my film but before I could rewind the last roll, Arkan arrived. He demanded that I give him the film. When I protested, he smiled and said that he would process the film and give me back what he liked. I tried to convince him that the photo labs in Belgrade weren’t very good and that I would show him all of my film, but he didn’t fall for it. I emptied my cameras and gave him the film hoping he wouldn’t ask if there was any more. He didn’t.122
Der Kriegsdiskurs verschiebt sich in den Diskurs über die Distribution von Photos, vom Ort des Ereignisses zum Ort der Herstellung von photographischen Abzügen und deren Auswahl. Indem die Toten zu Photoabzügen werden, wird sowohl der Akt des Mordens als auch der der Zeugenschaft mit der Herstellung von Bildern verschränkt. Die Differenz zwischen der Zeit des Krieges und der Herstellung der Bilder wird aufgehoben. Der Photograph wird bereits am Ort des Ereignisses vom Zeugen in den Konsumenten seiner eigenen Produkte verwandelt. Jacques Derrida fordert im Vorwort zu Marx’ Gespenster (1993), dass man „niemals von der Ermordung eines Menschen wie von einer Figur sprechen sollte, noch nicht einmal wie von einer exemplarischern Figur in einer Logik des Emblems, einer Rhetorik der Fahne oder des Martyriums“, denn „das Leben eines Menschen, so einzig wie sein Tod, wird immer mehr als ein Paradigma sein und immer etwas anderes als ein Symbol.“123 Das Leben wie der Tod eines Menschen sind für Derrida so singulär wie ein Eigenname. Im Bosnienkrieg wurden Tote nicht nur zu einem Exemplum verallgemeinert und zum Emblem stilisiert, sondern sie wurden zu beliebig reproduzier- und kommentierbaren, körperlosen Abzügen reduziert. Susan Sontag hebt in Über Photographie (1977) hervor, dass Photos mnemotechnisch einprägsamer sind als bewegliche Bilder.124 In ihrem zweiten Buch über die Kriegsphotographie, Das Leiden anderer betrachten (2003), nennt sie das Photo im Vergleich zum Film „Standbild“ und vergleicht dessen ‚Eingefrorenheit’ mit einem Zitat, einer Maxime bzw. einem Sprichwort.125 So wie diese festen, unveränderlichen Formulierungen trotz des wiederholten Herbeirufens ihre performative ‚Ereignishaftigkeit’ behalten,126 so würden auch Photos den Betrachter heimsuchen und ihn herausfordern: „Erzählungen können uns etwas verständlich machen. Photos tun etwas 122 123 124
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Ebd., 188. Derrida 2004, 7. Sontag, Susan: Über Photographie. Aus dem Amerikanischen von Mark W. Rien und Gertrud Baruch. Frankfurt a.M. 2004 (amer. On Photography, New York 1977), 23. Sontag, Susan: Das Leiden anderer betrachten. Aus dem Englischen von Reinhard Kaiser, Frankfurt a.M. 2005 (am. Regarding the pain of others, New York 2003), 29. Zum Zitat und Zitieren: Menke, Bettine: Zitat, Zitierbarkeit, Zitierfähigkeit. In: Patenburg, Volker/Plath, Nils (Hrsg.): Anführen – Vorführen – Aufführen. Texte zum Zitieren. Bielefeld 2002, 272-280.
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anderes: sie suchen uns heim und lassen uns nicht mehr los.“127 Anders als Narrative, die erklären, sind Photos für Sontag Spektren, die das Vergangene oder Abwesende durch ihr Erscheinen vergegenwärtigen. Stumm wie sie sind, bedürfen sie eines Kommentars oder einer Bildlegende, welche sie erklären – aber auch verfälschen können.128 Die photographisch vermittelte Erkenntnis der Welt ist dadurch begrenzt, dass sie, obzwar sie das Gewissen anzustacheln vermag, letztlich doch nie ethische oder politische Erkenntnis sein kann. […] Gerade in der Stummheit dessen, was auf Photographien hypothetisch verstehbar ist, liegt deren Reiz und Herausforderung.129
Als Beispiel eines nicht zufriedenstellenden Narrativs wählt sie den Kommentar des Auslandskorrespondenten der New York Times, John Kifner, zu Havivs Photographie aus Bijeljina aus, der mit einem deiktischen Gestus auf die Evidenz des Photos zurückverweist. Das Bild ist vollkommen nüchtern, eines der eindringlichsten aus den Balkankriegen: ein Angehöriger der serbischen Miliz versetzt einer sterbenden muslimischen Frau im Vorübergehen einen Tritt gegen den Kopf. Das sagt einem alles, was man wissen muss.130
Sontag widerspricht diesem tautologischen Kommentar, der am 24. Januar 2001 anlässlich der oben angesprochenen Ausstellung in der Saba Gallery in der New York Times unter dem Titel A Pictorial Guide to Hell erschien: „Selbstverständlich sagt uns dies nicht alles, was wir wissen müssen.“131 In ihrer Ekphrasis reagiert sie nicht nur auf die kommentarlose Rückkoppelung an das stumme Photo, sondern auch auf die Belebung des Bildes, die das „Standbild“ in ein bewegtes „Nonstop-Bild“ on the loop transformiert: Von hinten sehen wir einen uniformierten serbischen Milizionär, eine jugendliche Gestalt, die Sonnenbrille ins Haar hochgeschoben, eine Zigarette zwischen dem zweiten und dritten Finger der erhobenen linken Hand, ein Gewehr in der Rechten, der mit dem rechten Fuß ausholt, um eine Frau zu treten, die mit dem Gesicht nach unten zwischen zwei anderen Leibern auf dem Gehweg liegt. Das Photo sagt uns nicht, dass sie eine Muslimin ist, obwohl sie kaum etwas anderes sein kann, denn warum sollten sie und die beiden anderen sonst dort unter den Blicken einiger serbischer Soldaten wie tot (warum ‚sterbend‘) auf der Straße liegen? Eigentlich sagt uns dieses Photo sehr wenig – allenfalls dies: dass der Krieg die Hölle ist und dass mit Gewehren bewaffnete, schlanke junge Männer imstande sind, dickliche ältere Frauen, die, hilflos oder schon getötet, auf der Straße liegen, gegen den Kopf zu treten.132 127 128 129 130
131 132
Sontag [2003] 2005, 104. Sontag [2003] 2005, 17. Sontag [1977] 2004, 29. Sontag [2003] 2005, 104; Sontag 2003, 90: „The image is stark, one of the most enduring of the Balkan wars: a Serb militiaman casually kicking a dying Muslim woman in the head. It tells you everything you need to know.“ Ebd. Sontag [2003] 2005, 105; Sontag 2003, 90.
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Die Beschreibung des Korrespondenten verleiht dem mortifizierenden Medium der Photographie eine fremde Geste der Wiederbelebung: Durch die Ersetzung des Adjektivs „tot“ (dead) mit dem Partizip I „sterbend“ (dying), wird die bereits Tote durch den dramatischen Modus der Beschreibung wiederbelebt, ja sie ersteht jenseits ihres biologischen Zyklus auf, doch nur, um einige Sekunden später erneut zu sterben. Das belebte Bild bringt keine Erlösung, keine renaissance, sondern eine re-venance. Es verlängert die Qual des Opfers zu einem zweiten Sterben – diesmal ausgelöst durch den Stoß des bestiefelten Fußes. Der Tritt des Paramilizionärs hat den Kommentator dazu verführt, den streifenden, flüchtigen photographischen Blick (glance, coup d’œil) mit Zeit zu füllen und ihn zu einem starren, anhaltend voyeuristischen Hinschauen auf das Sterben zu verlängern (gaze, regard).133 Das Bild danach wird in ein filmisches Aktionsbild auf dem Höhepunkt des Dramas transformiert. Das singuläre Ereignis wird nicht nur durch die Re-Produktion vervielfältigt, sondern auch re-animiert. Das alte Thema des paragone – des Wettstreites der Künste in ihrer Fähigkeit, die Realität zu übertreffen, hier von Photo und Ekphrasis – wiederholt sich unter den neuen medialen Bedingungen der ‚Echtzeit‘ und der Simulakren. Wie der homo sacer als „lebender Toter“ bzw. „toter Lebender“ durch einen vollkommenen Ausschluss und eine vollständige Vereinnahmung in einem Oxymoron von Leben und Tod gefangen ist,134 werden auch die Opfer auf Havivs Photo zu homines sacri des Mediums.
2.2. Zwischen Beglaubigung und Verweigerung eines Ereignisses In ihrem frühen Buch Über Photographie (1977) charakterisiert Sontag das Photographieren als einen paradoxen Akt der Beglaubigung und Verweigerung einer Erfahrung, weil die Betätigung der Kamera im Laufe eines Ereignisses eine Alternative zur erforderlichen Handlung bietet. Der Photograph verwandelt das Ereignis nicht nur in ein Abbild, in ein Souvenir wie die Postkarte, auch „das Hantieren mit der Kamera ist beruhigend und mildert das Gefühl der Desorientierung […] So wird die Erfahrung in eine feste Form gebracht: stehen bleiben, knipsen, weitergehen.“135 Das Photographieren, wie es Sontag in den 1970er Jahren beschreibt, ist eine Ersatzhandlung mit selbsttherapeutischer Wirkung. Es ermöglicht nicht nur die Bewegung des Körpers, sondern auch den Ablauf des Ereignisses zu steuern – es durch 133
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135
Zur Unterscheidung von gaze und glance: Bryson, Norman: Das Sehen und die Malerei. Die Logik des Blicks (= Bild und Text, Hrsg. Boehm, Gottfried/Stierle, Karlheinz). Aus dem Englischen von Heinz Jatho. München 2001 (engl. Vision and Painting. The Logic of the Gaze, London 1983), 117-162. Agamben, Giorgio: Homo sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben. Frankfurt a.M. 2002 (it. Homo sacer. Il potere sovrano e la nuda vita, Torino 1995). Sontag [1977] 2004, 14f.
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die Einrahmung zu isolieren, aus dem Zeitfluss herauszureißen und in einer Folge von festgehaltenen Augenblicken neu zu strukturieren. Das willkürlich verlaufende Ereignis, zerlegt in ein Ablaufmuster, wird durch die Steuerung bewältigt – ähnlich wie bei Freud der Wiederholungszwang sowohl das Trauma als auch dessen Selbsttherapie enthält. So wie Freuds Enkelkind die zeitweilige Trennung von den Eltern im Spiel mit Hilfe des symbolischen Gegenstandes, der Spule als Zeichen-Objekt, bewältigt, die begleitet von den Ausrufen „fort“ und „da“ weggeworfen und wieder an einem Faden herbeigezogen wird, so kann auch der Photograph durch den Ausschnitt und den Zoom die Nähe und die Ferne des Ereignisses steuern. Eine Photographie ist für Sontag daher „nicht nur das Ergebnis der Begegnung zwischen einem Ereignis und einem Photographen. Eine Aufnahme zu machen, ist selbst schon Ereignis, und zwar eines, das immer mehr gebieterische Rechte verleiht: sich einzumischen in das, was geschieht, es zu usurpieren oder aber zu ignorieren. Unsere Einstellung zur jeweiligen Situation wird jetzt durch die Einmischung der Kamera artikuliert.“136 Das Photographieren macht aus dem Ereignis ein anderes, in dem sich der Photoapparat als ein Drittes, eine Art Prothese, zwischen das Ereignis und den Photographen schiebt. Obwohl das Photographieren für Sontag ein Akt der NichtEinmischung ist, ist er zugleich auch „mehr als nur passives Beobachten“, er ist „eine Form der Zustimmung, des manchmal schweigenden, häufig aber deutlich geäußerten Einverständnisses damit, dass alles, was gerade geschieht, weiter geschehen soll“.137 Dennoch gehört das Photographieren für Sontag zu den Handlungen, „die, anders als der Geschlechtsakt, aus der Entfernung und auch mit einer gewissen inneren Distanz ausgeübt werden können.“138 Die Handlungsalternative, die Sontag dem Photographen zuerst noch gewährt, wird an dieser Stelle wieder zurückgenommen. Seine zwischen Handeln und Nicht-Handeln gespaltene Rolle betrifft ausschließlich den physischen Teil des Handlungsaktes, die Aktion, nicht jedoch die innere Teilnahme. Das Photographieren selbst wird zum paradoxen Akt, in dem das stumme Photo die Einstellung des Photographen zum Ereignis artikuliert. Auch Sudetic stellt Haviv als eine ambivalente Gestalt dar, welche die Grenze seines Berufes als Journalist und als Künstler überschritten habe. Der Photograph stehe auf einer Schwelle, jenseits derer er nur noch die Wahl habe, entweder brutal behandelt oder selbst brutal zu werden. It is equally important to understand that it required something beyond the hunger for a good photograph to stand in the middle of the street and point a camera at a gunman thrusting his boot into an old woman’s head. It demanded more than artistic vision to stand a few feet away from a pleading Muslim and snap a picture as his captors were about to drag him off and kill him. Making and publishing these photo136 137 138
Ebd., 17. Ebd., 17f. Ebd., 19.
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graphs required courage of a higher sort. The brutal power of these images is derived from the fact that the photographer dared to risk being brutalized himself.139
Die ambivalente Formulierung „being brutalized“ schwebt zwischen einer passiven und einer aktiven Teilnahme am Gewaltakt. Ähnlich wie Sontag, die den Photographen in ihrem frühen Werk moralisch belastet und dann wieder entschuldigt, stellt Sudetic dem photographischen Kriegsberichterstatter am Ende der Erschießungspassage das berühmte Motto Robert Capas zur Seite: Zum Beruf des Photoreporters gehöre es, so nah am Ereignis zu sein wie möglich. Die Frage der Alternativhandlung schließt eine andere Art Handlung als die photographische vollkommen aus. Beide Diskurse über die Photographie, der konkrete von Sudetic und der theoretische von Sontag, exponieren die Schwellenposition des Photographen zwischen dem Ereignis und seiner Bildwerdung. Nähe bei gleichzeitiger Distanz, Handlung bei gleichzeitiger Passivität und die moralische Bedrohung bei physischer Unversehrtheit machen aus einem Kriegsphotographen einen problematischen Zeugen. Dem Problem der Zeugenschaft widmet sich Agamben im dritten Teil seiner Homo sacerTrilogie Was von Auschwitz bleibt, in der er ausgehend von der lateinischen Etymologie zwischen dem Zeugen als testis (dem Dritten in einem Prozess zwischen zwei Parteien) und dem Zeugen als superstes (dem Mit-Erlebenden und Überlebenden) unterscheidet.140 In der Funktion als superstes werden laut Agamben nicht nur ethische und juristische Kategorien auf problematische Weise miteinander vermischt. Auch auf der Ebene der Versprachlichung kommt es zur Verschränkung zweier Erzählinstanzen: Als Bevollmächtigter leiht der Zeuge den nicht mehr Lebenden seine Stimme. Seine Rede, die zugleich das Ich und die stummen Toten einschließt, ist den paradoxen Prozessen der Subjektivierung und Entsubjektivierung ausgesetzt.141 Anders als im Archiv, wo nach Agamben das Subjekt als bloße Funktion und leere Position anonymisiert und außer Kraft gesetzt wird, ist in der Zeugenschaft der leere Platz des Subjekts entscheidend:142 Der Zeuge agiert als eine Art „Shifter“ (Jakobson) bzw. „Indikator der Äußerung“ (Benveniste), der zwischen langue und parole, zwischen virtueller Potentialität und aktueller Realisation vermittelt.143 139 140 141 142
143
Sudetic 2000, 17. Zur doppelten Auffassung des Zeugen: Agamben [1998] 2003, 14f. Agamben [1998] 2003, 101ff. Agamben [1998] 2003, 126; Zum Verhältnis von Sprache und Tod: Agamben, Giorgio: Language and Death. The Place of Negativity (= Theory and history of literature 78). Translated by Karen E. Pinkus with Michael Hardt. Minneapolis-Oxford 1991 (it. Il linguaggio e la morte. Un seminario sul luogo della negatività. Turin 1982). Agamben [1982] 1991, 24, 25; Slavoj Žižek (Die politische Suspension des Ethischen. Aus dem Englischen von Jens Hagestedt, Frankfurt a.M. 2005, 51ff.), der bei seiner Lektüre Agambens den Muselmann als Epiphanie des Realen auffasst, als monströses
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Diese doppelte Auffassung der Zeugenschaft manifestiert sich, übertragen auf den Photoreporter, in der Bestimmung der Funktion von Photographien. Ist ein Photograph der Zeuge im Sinne von testis, haben seine Aufnahmen den Status von Beweisstücken, die als reine Evidenzen und Denotate stumm für sich selbst „sprechen“ – mit dem deiktischen Gestus des Zeigens. Sie verleihen sowohl den Opfern als auch den Tätern ein Gesicht. Selbst bedroht, kann der Kriegsphotograph sich auch als superstes auffassen, als Überlebender, der das Ereignis anstelle der Nicht-Überlebenden bezeugen kann. In diesem Fall verleihen seine Photos den Opfern „Stimme“, „machen Aussagen“, „erzählen Geschichten“ und überschreiten damit die Grenze von der Denotation zur Konnotation. Das Paradoxon des subjektivierenden und entsubjektivierenden, des menschlichen und des entmenschlichten, verdinglichten Sprechens kann der Photograph gerade mit Hilfe der Kamera ausdrücken, die er als eine belebt-unbelebte Instanz zwischen sich und die Opfer schiebt. Doch wenn es dem Photographen nicht gelingt, die Photos zu schießen, wird seine Rolle als Zeuge in beiden Auffassungen problematisch. Da er weder stumme Beweisstücke liefert noch die Stimme der Verstorbenen artikuliert, wird er als Flaneur oder gar Voyeur aufgefasst. Wie irritierend die Verwechslung des Zeugen mit dem Voyeur für den Photographen ist, zeigt Havivs Beschreibung des Ereignisses in den „Notes“, außerhalb des Erzählrahmens. The shooting muffled the sound of my camera and I snapped a few photographs of the executions. I was terrified that the Tigers had seen me sneak the pictures, but they hadn’t. I walked back toward another group of the soldiers by the mosque who had captured a teenage boy. The kid struggled and broke free and tried to escape but came up against a wall. The Tigers shot him in the back. As they got orders to move on, I walked into the middle of the street as several soldiers came around a corner, raised my camera to take a few pictures of the civilians the Tigers had executed. I could do nothing to stop the killings, but I could at least document them. As I pressed my finger down to take the shot, a soldier walked into the frame and kicked the bodies. I fired a few more frames and when the soldiers turned toward me, I forced a smile and said, ‘Let’s go.’ They laughed and moved on. I’ll never understand why.144
Da die Paramilizionäre nicht bemerkt hatten, dass sie photographiert worden waren, hielten sie Haviv für einen Voyeur. Das Lachen, das Haviv nicht verstehen möchte, ist das Lachen dem Komplizen gegenüber, der zustimmt. Seine Anwesenheit vor Ort war nur durch die Sondererlaubnis des Anführers Arkan möglich, den Haviv zuvor in Belgrad kennengelernt hatte und der sich, mit seiner Truppe posierend, von ihm photographieren lassen hatte.145
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Ding außerhalb des Imaginären und des Symbolischen, bezweifelt die Authentizität der Zeugenaussage unter extremen (bzw. unmöglichen) Umständen. Haviv 2000, 188f. Nach der Veröffentlichung der Photos aus Bijeljina drohte Arkan dem Photoreporter mit dem Tod. Noch im Jahre 2002 wurde eine Ausstellung von Havivs Photos in
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Während der erste Essay von Sudetic inhaltlich vor allem dem Verhältnis von Ereignis und Photo gewidmet ist, behandelt der zweite „That these photographs exist“ von David Rieff die Beziehung von Photo und Narrativ. Rieff, der sich 1993 wie Susan Sontag monatelang im belagerten Sarajevo aufhielt und das Buch Slaughterhouse. Bosnia And The Failure of The West (NY 1995) verfasste,146 sieht in Haviv zwar einen Zeugen und Chronisten, doch scheint auch ihm der Kriegsphotograph durch seinen Beruf sowohl physisch als auch moralisch gefährdet: „It is a dangerous enterprise, morally almost as much as physically.“147 Er erkennt zwar Havivs Fähigkeit an, den dramatischen Höhepunkt erfassen zu können, hebt jedoch die Bedeutung des Augenblicks danach hervor, der bei den Opfern verweilt: „He is a superb action photographer, but what he is drawn to, above all else, are the victims of conflicts – civilians, prisoners, those grieving for lost loved ones.“148 Mit der Verschiebung vom dramatisch belebten Höhepunkt zum statischen Moment danach erfolgt auch die Verschiebung der Teilnahme des Photographen von den Tätern wieder zurück zu den Opfern. Indem Rieff den Photos jegliche Sentimentalität und jeglichen Ästhetizismus abspricht, macht er sie zu Beweisstücken von Kriminaltaten. Als Dokument ist das Photo für Rieff vor allem das stumme Medium des Gedächtnisses, das jedoch keine Fähigkeit besitzt, eine Aussage zu machen: „We may understand through narrative, but we remember through photographs.“149 Dennoch gebe es einige Photos, die die Fähigkeit besitzen, ein Ereignis wie ein Gleichnis oder ein Resümee auf den Punkt zu bringen. Haviv’s most famous photograph, and justifiably so, is almost certainly the picture he took in the eastern Bosnian town Bijeljina in 1992 of a Serb paramilitary kicking a Bosnian prisoner. For almost every correspondent who covered the Bosnian war his image sums up what took place there. There, before you, is the face of ethnic cleansing. The photograph is almost a parable for what took place in Bosnia, which was not war in any traditional sense, but slaughter; not the clash of armies, but the destruction by soldiers of civilians.150
Rieff verzichtet zwar auf das ekphrastische Narrativ, literarisiert aber dennoch das Photo. Das Photo selbst, die Monstration der ethnischen Säuberung im einmaligen, konkreten Ereignis, wird zum Schlagwort bzw. zum Exemplum. Das Ereignis wird aus seiner indexikalischen Singularität in die ikonische Typizität überführt, aus dem Photo in ein ‚Bild‘ des Schreckens verwandelt.
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Kragujevac wegen der Drohungen der serbischen Nationalisten nicht eröffnet, zwei weitere in Užice und Čačak mussten vorzeitig geschlossen werden, (http://www.bscdc.org/aug2902serbia.html, Zugriff: 13.11.2009). Rieff, David: Schlachthaus. Bosnien und das Versagen des Westens. München 1995. Rieff, David: That these photographs exist. In: Haviv 2000, 21-23, hier 21. Ebd., 22. Ebd., 21. Ebd., 22.
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Der dritte Erzähler, der ehemalige französische Außenminister Bernard Kouchner, Mitbegründer der Organisation „Ärzte ohne Grenzen“, damals Minister für Gesundheit und humanitäre Angelegenheiten in Frankreich sowie Administrator der Vereinten Nationen im Kosovo und zudem Autor des Buches Les guerriers de la paix. Du Kosovo à l’Irak (Paris 2004), repräsentiert in seinem Essay „Memories of the future“ Europas politische Einstellung zum Balkan. Der Photograph ist für ihn ein Rapsode des Balkan-Dramas, der die unerträglichen Bilder evoziert: „The talent of this raconteur of the Balkan drama is not the problem. But the reality he reveals, intensifying through these pages, seems almost unbearable to the viewer.“151 Seine Photos führen das vor Augen, was jeder bereits vom Balkan weiß – nämlich, dass „this word remains as the synonym of a fatal chain, a nationalist complexity of irreversible proportions leading to disaster.“152 Kouchner nimmt die Photos nicht in ihrer dokumentarischen Einmaligkeit wahr, sondern als Materialisierung eines mentalen Balkan-Bildes, in dem sich das kulturelle Klischee verfestigt hat. Der fünfte Kommentator, der Photograph selbst, hebt ex post in Ten years later vor allem die doppelte Erzählposition des Photographen hervor, der jede Story zweimal – aus der Perspektive der Täter und der Opfer – erzählt: „I photographed both sides, hoping to show the world what was happening. I tried to see the difference between the two sides, hoping to show the world what was happening. I tried to see the difference between the two sides, but in the end, I realised they were both the same: people who had been manipulated for power and greed.“153 Das Erzählen ein und derselben Story aus zwei Blickwinkeln hatte dazu geführt, dass der Photograph sogar mit einem Spion verwechselt wurde. Seine Schwellenposition drückt sich im Janus-Gesicht einer prinzipiell möglichen doppelten Spionage aus. At first, all factions in the war saw journalists as fair and impartial tellers of their story. But as the war continued, the various factions began to realise that their story would not be the only one told. They became hostile towards the press. We became targets and the war became more dangerous. In the first six months, more than thirty journalists were killed. More often than not my day would include at least one arrest from one side determined to have its story told. Once it went further. In 1994, Serbian forces accused me of being a spy. They interrogated and beat me for several days before releasing me.154
Sämtliche Kommentare zum Photo aus Bijeljina bewegen sich vom Konkreten und Singulären zum Allgemeinen, Wiederholbaren oder Iterativen: Sie verweisen auf andere Bilder, wiederholen die Ekphrasis, werden zum photographischen Metatext, zum Exemplum oder zum kulturellen Klischee. Sie sind Symptome einer Krise des Dokumentarischen, in der man es nicht ver151 152 153 154
Kouchner, Bernard: Memories of the future. In: Haviv 2000, 179-180, hier 179. Ebd., 180. Haviv, Ron: Ten years later. In: Haviv 2000, 182-184, hier 183. Ebd., 183.
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mag, über ein singuläres Ereignis als ein einmaliges Ereignis zu berichten – weder im Sinne eines nachträglichen Konstativs noch im Sinne eines Performativs als einem zweiten Ereignis, wie Derrida die „unmögliche Möglichkeit“, über ein Ereignis zu sprechen, umschreibt.155 Havivs Photos wurden auch vor dem Den Haager Gerichtshof benutzt und zwar in der öffentlichen Sitzung vom 2. März 2006 im Palast des Friedens – „in the case concerning Application of the Convention on the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide“ in Bosnien. Die Photos waren dort bereits eingebettet in ein Zweitmedium, den BBCDokumentarfilm The Death of Yugoslavia (1995). Der Kommentar wechselt darin von der persönlichen in die unpersönliche Passivform, in der das Verhältnis zwischen Arkan und Haviv nicht präzisiert wird. One photo-journalist, Ron Haviv, was given permission to follow Arkan’s activities in the takeovers. He was present with Arkan and his men in Bijeljina, and I would like to show three of the horrifying events he captured on film. These images, Madam President, Members of the Court were shown to the world on the highly respected and infamous BBC documentary, “The Death of Yugoslavia”.156
Am 17. März 2006 wurde in einer weiteren öffentlichen Sitzung, die sich auf den Antrag zur Anwendung der Völkermordkonvention auf die Prävention und Bestrafung des Genozids in Bosnien bezog, ein Photo Havivs als Diapositiv gezeigt, auf dem einige der ‚Tiger‘ identifiziert werden konnten, wie etwa Milorad Ulemek-Luković („Legija“), der sich 2004 den serbischen Behörden stellte und 2007 wegen des Attentats auf den serbischen Präsidenten Zoran Đinđić verurteilt wurde. Attacks on cultural and religious landmarks in Bosnia-Herzegovina intensified in April 1992, as paramilitaries from Serbia and JNA troops crossed the Drina and took control of towns and villages in eastern Bosnia. Among examples are attacks such as the sacking of a mosque in Bijeljina, in eastern Bosnia, by a group of Arkan’s paramilitaries, who are seen in this photo posing with a trophy inside the mosque in early April 1992.157
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Derrida 2003, 18-22. ICTY, The Hague, Year 2006, Public sitting held on Friday 17 March 2006, at 10 a.m., at the Peace Palace, president Higgins presiding, in the case concerning the Application of the Convention on the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide (Bosnia and Herzegovina v. Serbia and Montenegro), Verbatim record, 14, (http://www.icj-cij.org/docket/files/91/10495.pdf#view=FitH&pagemode=none& search=%22ron%20haviv%22; Zugriff: 13.11.2009). ICTY, The Hague, Year 2006, Public sitting held on Thursday 2 March 2006, at 10 a.m., at the Peace Palace, president Higgins presiding, in the case concerning the Application of the Convention on the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide (Bosnia and Herzegovina v. Serbia and Montenegro), Verbatim record, 20. (http://www.icj-cij.org/docket/files/91/10628.pdf#view=FitH&pagemode=none& search=%22ron%20haviv%22; Zugriff: 13.11.2009).
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In den Prozessakten, die im Internet zugänglich sind, gibt es keine Angaben darüber, ob die Photos Havivs zur Verfolgung der einzelnen Straftaten, zur Verhaftung und Verurteilung von einzelnen gut sichtbaren und identifizierbaren Tätern geführt hat. Sie wurden vielmehr als Exemplum präsentiert – verallgemeinert und zum Emblem des Genozids typisiert. Man mag dies juristisch beurteilen wie man will – schließlich sind die Photos für sich genommen keine Beweisstücke, wohl aber zusammen mit Havivs Aussage. Medientheoretisch lässt sich jedoch feststellen, dass auf diese Art auch vor dem Gerichtshof das Ereignis aus seiner indexikalischen Singularität in die ikonische Typizität überführt wird. Erst zehn Jahre nachdem Haviv dieses Gräuel festgehalten hatte, traten die Photos wie Untote wieder in Erscheinung: die „Banalität des Bösen“ in ihrer Neuedition, Bijeljina 1992. Im Jahre 2012 wurde bekannt, dass ein als „Max“ bekannter DJ in Belgrad, Srđan Golubović, verhaftet worden sei.158 „Max“ ist jener Paramilizionär, der auf dem Photo im tänzelnden Schritt die auf dem Boden liegende Tifa Šabanović mit dem Stiefel an den Kopf tritt. Am 2. April 2013 berichtete die New York Times in ihrer Online-Global Edition, dass Havivs Photos nun auch im Prozess gegen Radovan Karadžić als Beweismaterial eingesetzt werden.159 Wie der Journalist James Estrin berichtet, äußere der Photograph sein Bedauern, dass seine Photos so lange nicht zur Verhaftung geführt hatten. Überhaupt war er schockiert, dass seine Arbeit schon Anfang der 1990er Jahre so wenig bewirkt hatten. “The photographs really didn’t have any of the effect that I had hoped they would,” said Mr. Haviv, who was put on a death list by Arkan. “I was hoping to prevent the war. And of course, there was no reaction. The war started, 100,000 to 200,000 people were killed on all sides and several million more became refugees – which led to the war in Kosovo.”160
Der Journalist berichtet auch, dass Haviv nicht bereit war, als Augenzeuge auszusagen – möglicherweise, wie man versteht, aus Angst, selbst ins Visier von Arkans Hintermännern zu geraten. There is a certain satisfaction for Mr. Haviv. He allowed the International Criminal Tribunal to use any of his published photos as evidence and offered to verify that the captions were truthful and accurate. But, expecting to be asked to testify in the Arkan trial before his assassination, Mr. Haviv decided that he shouldn’t. He had no doubt that he had witnessed genocide, and he wanted to see justice served. But he didn’t think it was his place to testify. 158
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Boris Dežulović, U ritmu cokule: Skrivena kamera u Bijeljini 1992. In: Elektronske novine, http://www.e-novine.com/stav/71290-Skrivena-kamera-Bijeljini-1992.html, 13.09.2012 (Zugriff: 01.05.2013). James Estrin, Photography in the Docket, as Evidence, New York Times. Global Edition. In: http://lens.blogs.nytimes.com/2013/04/02/photography-in-the-docketas-evidence/?ref=global-home (Zugriff: 02.04.2013). Ebd.
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“It was my job as a journalist and a photographer to document what I saw,” Mr. Haviv, 47, said. “I had those photographs published and the world saw what I had done. The work was enough to show the world what this ethnic cleansing actually looked like.“161
Die journalistische Berichterstattung lässt offen, wie man im Karadžić-Prozess dazu kam, Havivs Photos heranzuziehen. Unklar bleibt auch, wie es zur Verhaftung von „Max“ und zu dessen Identifikation aufgrund des Photos kam. Das Photo, das Ron Haviv in Bijeljina aufgenommen hat, wählte die kroatische Schriftstellerin Slavenka Drakulić für die Umschlagseite ihres 2003 auf Kroatisch erschienenen Buches mit dem Titel Sie könnten keiner Fliege etwas zuleide tun. Kriegsverbrecher vor Gericht in Den Haag (Oni ne bi ni mrava zgazili. Ratni zločinci na sudu u Hagu).162 Darin beschreibt die Autorin die Anhörung einiger Prozesse gegen die Kriegsverbrecher aus allen drei beteiligten jugoslawischen Nationen vor dem Den Haager Gerichtshof. Das Photo auf der Umschlagseite steht stellvertretend für ein anderes Verbrechen in Bijeljina, das den Titel des Buches auf eine Person fokussiert: „Er könnte keiner Fliege etwas zuleide tun“. Darin berichtet Drakulić über den Prozess gegen einen bosnischen Serben, Goran Jelisić aus Bijeljina (geb. 1968), der eigenhändig mehr als hundert Gefangene, meist Muslime, absichtlich und systematisch getötet hatte. Goran Jelisić sieht vertrauenserweckend aus. Neben diesem Dreißigjährigen mit dem klaren, ruhigen Gesicht, den lebhaften Augen und dem breiten, ermutigenden Lächeln würden Sie sich in einem Nachtzug sicher fühlen. Ein Mensch mit so einem Gesicht hilft älteren Frauen über die Straße, macht in der Straßenbahn seinen Platz für einen Behinderten frei oder lässt Sie in einer Kassenschlange vorgehen. Ein Mensch mit so einem Gesicht würde eine auf der Straße gefundene Geldbörse ihrem Besitzer zurückgeben. Jelisić sieht aus wie ein guter Nachbar, ein idealer Schwiegersohn. Als Handelsreisender würde er mit diesem unschuldigen Gesicht viel Erfolg haben. Aber Jelisić ist nicht unschuldig.163
Gerade die Unlesbarkeit eines sogar mit positiven Klischees durchsetzten Porträts ist der Ort, an dem sich das Entsetzen einnistet. Die physiognomischen Lehren, mit denen man vom späten 18. bis ins 20. Jahrhundert kriminelle Neigungen und Charaktere dem Gesicht ablesen zu können glaubte (Bertillon, Lombroso), führen die Schriftstellerin nicht zum Geheimnis des Verbrechens. Der vertrauenswürdig aussehende Angeklagte ist, physiognomisch gesehen, gerade das Gegenteil eines Verbrechers. Auch der Versuch, eine belastende familiäre Psychogenese zu enthüllen, scheitert vollkommen. 161 162
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Ebd. Drakulić, Slavenka: Keiner war dabei. Kriegsverbrechen auf dem Balkan vor Gericht. Wien 2004 (engl. They would never hurt a fly. War criminals on trial in The Hague, 2003; kroat. Oni ne bi ni mrava zgazili. Ratni zločinci na sudu u Hagu. Split 2003, Zagreb 2005). Drakulić 2004, 64.
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Nichts an dem Kriegsverbrecher verrät, warum er mit Vergnügen gemordet hatte. Als letzter Anhaltspunkt, um ein pathologisches Mörderprofil zu konstruieren, dient der Schriftstellerin das Angeln, das der Angeklagte als Hobby betrieb. Der imaginierte Akt des Tötens von Fischen steht stellvertretend für den Akt des Mordens. Aber das [das Angeln] ist kein so unschuldiger Sport, wie es scheinen mag. Wie alle Angler muss Jelisić die Augenblicke geliebt haben, wenn er spürte, dass etwas angebissen hatte. Der Fisch erschien hilflos zappelnd über dem Wasser. Ich kann mir vorstellen, wie er den Fisch vom Haken nahm, ins Gras warf und zusah, wie er sich quälte. Aber vielleicht war es gar nicht so. Es gibt verschiedene Methoden, einen Fisch zu töten. Ist er groß, schieben ihm die Angler gewöhnlich den Daumen ins Maul und brechen ihm das Rückgrat. Oder sie werfen ihn in einen Eimer mit Wasser und zögern so das Ende hinaus. Vielleicht hatte Goran soviel Erbarmen.164 […] Hätte jemand bezeugt, dass Jelisić sich freute, wenn die Fische sich quälten, wäre das ein Anzeichen für seinen schlechten Charakter gewesen, lange bevor er anfing, Gefangene in der Polizeistation und im Lager Luka zu schlagen und umzubringen. Aber seine Anglerfreunde sagten nichts dergleichen. Tatsächlich gibt es in seinem Leben und Verhalten vor dem Krieg nichts Pathologisches. Im Gegenteil, das Bild, das die Zeugen der Verteidigung zeichnen, ist so anders, dass man sich fragt, ob sie dieselbe Person beschreiben.165
Wie das abgewandte Gesicht des Paramilizionärs auf Havivs Photo unsichtbar bleibt, so gibt es auch keine sichtbaren Indizien auf Jelisićs ‚offenem‘ Gesicht, die als Anzeichen des Verbrechens lesbar wären. Das Verbrechen erfolgte in einem ungreifbaren und unbegreiflichen Leerraum. Das intermediale Verhältnis von Havivs Photo und Drakulićs Text exponiert diesen Leerraum zweifach. Das Photo dient Drakulić nicht als Zeugnis einer weiteren kriminellen Tat in Bijeljina, die sich dem Gericht entzogen hätte, denn sie erwähnt ein derartiges Vergehen mit keinem Wort. Dazu dienen andere Photos, die Jelisić bei der Erschießung von Gefangenen zeigen. Sie werden nicht gezeigt, sondern beschrieben, wobei sich Drakulić bei ihrer Ekphrasis eines weltbekannten Photos bedient, das aus einem Film von einer Erschießung in Vietnam herausgeschnitten und isoliert wurde.166 In seiner paradoxen Struktur des Zeigens und Verbergens dient Havivs Photo Drakulić zur Visualisierung der unsichtbaren, verborgenen Beweggründe des Verbrechens. Das ist jedoch nicht die einzige Funktion, die das Bild in der Erzählung erfüllt. Eine weitere ergibt sich aus 164 165 166
Ebd., 69. Ebd., 72. Ebd., 73f. „Ich habe zwei Photos vor mir, die in der ganzen Welt veröffentlicht wurden. Sie zeigen einen Uniformierten, der einen Gefangenen tötet. Sie erinnern an ein brutales Bild aus dem Vietnamkrieg, wo der Polizeichef in Saigon einen Vietcong aus kurzer Distanz in den Kopf schoss. Nur dass das aktuelle Photo etwa dreißig Jahre später, am 7. Mai 1992 in Bosnien aufgenommen wurde. Der Exekutor, in Polizeiuniform, steht mit dem Rücken zum Betrachter. Seine Pistole zielt auf den Kopf des Gefangenen einen Meter vor ihm. Der Gefangene hält den Kopf gesenkt, darauf gefasst, jeden Moment die Kugel zu bekommen. Das zweite Photo zeigt den Gefangenen nach einem Genickschuss. Vor dem Tribunal gestand Jelisić, ihn erschossen zu haben.“
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Drakulićs Vorstellung von der performativen Macht der Bilder – der erzählten, der photographierten und der gefilmten. Bereits in ihrer Jugend habe man, statt Kenntnisse der jugoslawischen Geschichte zu vermitteln, nur emotional wirkende Bilder evoziert – erzählte Gräuelbilder über die Tschetniks, in den Partisanenfilmen verfilmte Gräuelbilder über die Nazis, dokumentarische Gräuelbilder aus dem Konzentrationslager Jasenovac in Kroatien: „Wir wuchsen auf mit solchen Bildern in Literatur, Familiengeschichten, Fernsehen und Filmen. […] Meine Generation wuchs ohne Geschichtskenntnisse auf – die Geschichte, die man uns beibrachte, war Lug und Trug.“167 Als „Null-Punkt der Geschichte“ bezeichnet die Autorin die Umbrüche jeweils nach dem Zweiten Weltkrieg, dann nach dem Fall des Kommunismus und zuletzt nach dem Ende des Krieges in Kroatien. Jede dieser Schwellensituationen war mit der Löschung alter Bilder und der Produktion neuer verbunden, die jeweils eine neue Geschichte konstruierten. Erst jetzt begreife ich, wie leicht es ist, mangels Tatsachen einen Krieg zu beginnen. Ein Krieg kommt nicht von nirgendwo, er wird vorbereitet. Es ist leicht, die Bilder zu missbrauchen wie jene, an die ich mich erinnere, unser emotionales Gedächtnis zu missbrauchen und darauf Hass zu errichten. Denn jeder hat eine Kollektion solcher Erinnerungen, und es ist gefährlich, wenn sie die einzigen sind. Die politischen Führer haben sich dieser Bilder bemächtigt, sie mit populärer Mythologie vermischt und die Gefühle aufgestört. Es ist schwer, sich gegen Propaganda zu wehren, wenn es keine gemeinsame Geschichte mehr gibt, an die jeder glauben kann.168
Im Rahmen von Drakulićs Bildkritik ist Havivs Photo nicht nur eine Metapher des unbegreiflichen Verbrechens, sondern darüber hinaus eine Metapher der Geschichte, die ihr wahres Gesicht verbirgt und die, anstatt aufgedeckt zu werden, vielmehr in emotionalisierten Medienbildern blind weiterwirkt. Die Betrachter sind diesen Bildern ausgeliefert, statt in ihnen etwas zu erkennen. Auch der österreichische Schriftsteller Norbert Gstrein bezieht sich in seinem preisgekrönten, aber zugleich auch äußerst umstrittenen Buch Das Handwerk des Tötens (2003) auf Havivs Photo aus Bijeljina. Der Roman überschreitet ständig die Grenze zwischen dem Fiktiven und Faktischen und vermischt biographische Fragmente des im Kosovo ermordeten österreichischen Journalisten und Stern-Reporters Gabriel Grüner mit der fiktionalen Geschichte des Reporters Christian Allmayer. Der Handlungsort ist zwar nicht der Den Haager Gerichtshof, dafür macht aber der Roman selbst dem Journalisten einen Prozess. Am Ende werden die kriminellen Spuren des Reporters aufgedeckt – eine belastende Tonbandaufnahme, aus der hervorgeht, dass der Reporter selbst auf Aufforderung eines Milizionärs einen Gefangenen erschossen hat. So wie der Autor die biographischen Daten des realen Journalisten mit den fiktiven vermischt, so bleibt er auch in seiner ekphrastischen Beschreibung des Photos nicht an der Grenze des Faktischen 167 168
Ebd., 12f. Ebd., 13.
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stehen, sondern er fügt zusätzliche Details hinzu oder entfernt sie. Dem Paramilizionär setzt er eine Schirmmütze auf den Kopf, um damit die ins Haar geschobene Sonnenbrille zu entfernen. Es zeigte einen breitbeinig dastehenden Mann vor einer mit Granatspuren übersäten Hauswand, der nachlässig ein Gewehr unter die Achsel klemmte. Das Perfide daran war, dass man sein Gesicht nicht sah, den Ausdruck gerade noch zu ahnen vermochte, weil es sich hinter dem aufsteigenden Rauch einer Zigarette verbarg. Seine Körperhaltung war entspannt, der Kopf mit der aufgerollten Schirmmütze leicht zur Seite geneigt, dass man gar nicht anders konnte, als sich den Blick dazu spöttisch vorzustellen. Außer seiner Halbfingerhandschuhe trug er keines von den Accessoires, die dieser Krieg bei Seinesgleichen fast obligatorisch gemacht hatte, weder Turnschuhe noch einen Trainingsanzug oder gar die ins Haar geschobene Sonnenbrille oder sonst etwas Extravagantes, im Gegenteil, er wirkte mit der unförmigen Lederjacke und den ausgebeulten Hosen, die in seinen Stiefeln steckten, eher wie eine Erinnerung daran, dass das Handwerk des Tötens ein Jahrtausende altes Geschäft war.169
Doch gerade durch die Vermeidung stechender Details wird Havivs Photo noch lebendiger. Die Sprache hinterlässt auf dem ekphrastisch produzierten Bild die Spur eines zweiten. Darüber hinaus bezieht sich Gstrein auf ein weiteres Photo Havivs, das dieser vom Kriegsverbrecher Željko Ražnatović-Arkan (im Buch als kroatischer Kriegsverbrecher Slavko maskiert) und seinen „Tigern“ noch einige Wochen vor dem Einsatz in Bijeljina aufnahm (Abb. 104). Abb. 104: Ron Haviv, Željko Ražnatović-Arkan mit seinen „Tigern“, 1991.
Offensichtlich hatte er seinen Spaß mit uns, aber mir war nicht nach Lachen, und als er dann auch noch ein Photo von sich und seinem damaligen Trupp präsentierte und zuerst so tat, als wäre es ein bloßer Faschingsscherz, wie sie dastanden, um einen Panzer gruppiert, dessen Rohr aus dem Bild herauszuragen schien, direkt auf den Betrachter zu, blieb mir die Luft weg vor seiner Unverschämtheit.
169
Gstrein 2005, 69f.
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Darauf war er, im Vordergrund, mit einer Baskenmütze der einzige Unmaskierte, seinen Blick sichtlich stolz geradeaus gerichtet, ohne dieses Flattern, das ich gerade noch wahrgenommen hatte, während die Uniformierten hinter ihm alle Strümpfe über ihre Gesichter gezogen hatten […]170
Auch in diesem Fall wird ein Detail ausgelassen – ein kleiner aus dem Zoo entführter Tiger, den Arkan als Maskottchen im ausgestreckten Arm vorzeigt. Arkan hat ein Gesicht, weil er dem Morden eines gibt, schon bevor es stattfindet – ein Gesicht, hinter dem sich die namenlosen Mittäter verstecken können. In vielen Sprachen bedeutet unverschämt gesichtslos, auf Kroatisch „bezobrazan“, auf Englisch „barefaced“, auf Italienisch „sfacciato“. Das ist die paradoxe Persona des Mörders, wie Gstrein sie konstruiert. Entsprechend ist auch Arkans Gesicht nicht mehr physiognomisch lesbar. Die Differenz von Text und Photo dient auch hier paradoxerweise eher der Verstärkung der Ähnlichkeit. Beide zusammen gelangen zu oszillierender, wandelnder Präsenz. Gstrein zwingt den Leser, das Photo noch einmal aufzusuchen, um den Betrachtungsakt zu überprüfen. Er stellt die Kompetenz der Betrachter in Frage, die in der Flut der Bilder nicht mehr vermögen, sich an die Details zu erinnern. Dabei folgt er einer Strategie, die sich schon in Lessings Laokoon-Schrift findet: Verbergen ist sprechender als Zeigen; die Geschichte fügt sich so in der Phantasie des Betrachters umso effizienter zusammen. Doch auch er verortet das Entsetzen gerade in der Eigenschaftslosigkeit des lässig rauchenden Kämpfers, der eben nicht die auftrumpfenden Insignien der „sportlich“ mordenden Freizeitmilizionäre zur Schau trägt, sondern die Ungeschichtlichkeit des „ewigen“ Soldaten. Also auch in literarischen Werken, die um Verbrechen und Strafe kreisen, wird die Vorstellung attackiert, in den Kriegsphotos könne man irgendeiner Wirklichkeit begegnen. Bei Drakulić wie bei Gstrein geht es daher um eine radikale Bildkritik – die Zerstörung der Interpretierbarkeit des Bildes, ja um Gesichtslosigkeit und Maskerade. Die Geschichte, so wirksam in Bildern, wird zu einer Ruine, die der Leser durchquert, statt in den „dialektischen Bildern“ Walter Benjamins zu Kristallisationspunkten zu gelangen.171 Während Drakulić die Arbeit der Geschichte jenseits der Bilder verortet, sind für Gstrein die Bilder so mächtig, dass sie ihre eigene Geschichte schreiben, in der das Fiktive und das Faktische nicht mehr unterscheidbar sind. 170 171
Ebd., 309f. Zu Benjamins Auffassung des „dialektischen Bildes“: Benjamin, Walter: Thesen über den Begriff der Geschichte“ (1939) In: Ders.: Gesammelte Schriften, Bd. I, Hrsg. Tiedemann, Rolf/Schweppenhäuser, Hermann. Frankfurt a.M. 1974, 691-704; Ders.: Paris, die Hauptstadt des 19. Jahrhunderts (1935). In: Ders., Gesammelte Schriften. Bd. V. Hrsg. Tiedemann, Rolf/Schweppenhäuser, Hermann. Frankfurt a.M. 1982, 45-59; Hillach, Ansgar: Dialektisches Bild. In: Opitz, Michael/Wizisla, Erdmunt (Hrsg.): Benjamins Begriffe. Bd. 1. Frankfurt a.M. 2000, 186-229; Agamben, Giorgio: Nymphae. Berlin 2005 (fr. Paris 2004), 23-28; Agamben, Giorgio: Kindheit und Geschichte. Zerstörung der Erfahrung und Ursprung der Geschichte. Frankfurt a.M. 2004 (it. Infanzia e storia. Distruzione dell’esperienza e origine della storia. Torino 1978), Kap. Der Prinz und der Frosch. Das Problem der Methode bei Adorno und Benjamin, 153-174.
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3. Der Exzess der Bilder 3.1. Die Zeugenschaft als Kunstwerdung. Jean-Luc Godards Je vous salue, Sarajevo (1993) Noch bevor Haviv und Sontag das Photo aus Bijeljina kommentierten, hatte Jean-Luc Godard in seinem kurzen Video Je vous salue, Sarajevo (02:14 Min) aus dem Jahre 1993 das Photo aufgegriffen. Godard, der erst 1996 als Gast der Vortrags- und Lesungsreihe Rencontres du livre Sarajevo besuchte, setzte sich in drei seiner späten, multimedialen Filme mit dem Bosnien-Krieg auseinander.172 Alle drei spielen in ihren Titeln auf Musik an – For Ever Mozart. On ne badine pas avec l’amour à Sarajevo (1996),173 Éloge de l’amour (2001) und Notre musique (2004).174 In all diesen Filmen, insbesondere im letzteren, löst sich der Unterschied zwischen fiktionalen und dokumentarischen Bildern auf, und zwar indem sich einzelne Ausschnitte aus Spiel- und Dokumentarfilmen über den Krieg zu einer ununterscheidbaren Bilderreihe verknüpfen. Durch die Montage von Bildsequenzen, deren Brüche nicht kaschiert, sondern als schwarze Zwischenbilder exponiert werden, wird der Ort des optischen, akustischen und narrativen Schnittes als Zwischenraum manifest.175 Mit Schuss und Gegenschuss von Fiktivem und Dokumentarischem – worüber Godard in Notre musique einen metapoetischen Vortrag in Sarajevo hält, begleitet von einer simultanen Übersetzung ins Bosnische – macht er Bosnien nicht nur zur Metapher des Krieges, sondern auch zum Kollisionsort von fiktiven und faktischen Bildern.176 172
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Zu Godards späterer Filmtheorie: Roloff, Volker/Winter, Scarlett (Hrsg.): Godard intermedial (= Siegener Forschungen zur romanistischen Literatur- und Medienwissenschaft 3). Tübingen 1997; Kolokitha, Trias-Afroditi: Im Rahmen. Zwischenräume, Übergänge und die Kinematographie Jean-Luc Godards. Bielefeld 2005; Scemama, Céline: ‘Histoire(s) du cinéma’ de Jean-Luc Godard. La force faible d’un art. Paris 2006; Hardouin, Frédéric: La cinématographe selon Godard. Introduction aux ‘Histoire(s) du cinéma’ ou réflexion sur le temps des arts. Paris 2007; Pourvali, Bamchade: Godard neuf zéro. Les filmes des années 90 de Jean-Luc Godard. Paris 2006. Lommel, Michael/Winter, Scarlet: Passagen der Intermedialität in Godards For ever Mozart. In: Roloff/Winter (Hrsg.) 1997, 200-215. Zu Notre musique: Thiele, Ansgar: Schuss und Gegenschuss ist Krieg – Teil II: JeanLuc Godards Notre musique (2006). In: http://www.metaphorik.de/11/thiele.htm (Zugriff: 30.11.2007). Zur Vermischung der faktischen und fiktiven Bilder: Fahlenbrach, Kathrin: Die zwei Seiten des Blicks. Zur Gleichzeitigkeit von Fiktionalität und Dokumentarizität in den Filmen von Jean-Luc Godard. In: Roloff/Winter (Hrsg.) 1997, 172-184; Kolokitha 2005, 127-130; Didi-Huberman, Georges: Bilder trotz allem (= Bild und Text). Hrsg. Boehm, Gottfried/Brandstetter, Gabriele/Stierle, Karlheinz). Aus dem Französischen von Peter Geimer. München 2007 (fr. Images malgré tout, Paris 2003). Thiele 2006.
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Godards Montage von fiktiven und nicht-fiktiven Bildern verteidigt Georges Didi-Huberman in Bilder trotz allem (2003) nicht vor dem Hintergrund der modernen Kriege, sondern vor dem Hintergrund der französisch-jüdischen Debatte um die Darstellbarkeit der Shoah.177 Dem photographischen Bild des Holocausts würde man Totalität und Wahrheit abverlangen. Doch könnten die wenigen Bildzeugnisse angesichts ihres fragmentarischen Charakters und ihrer Lückenhaftigkeit diesem Anspruch niemals gerecht werden. Dem Photo unterstelle man daher nicht nur die Verschleierung der Realität, sondern auch die Vernichtung des Gedächtnisses. Im gleichen Zuge werde der Betrachter eines perversen Voyeurismus oder gar Fetischismus beschuldigt. DidiHuberman begründet seine Argumentation für das photographische Bild der Shoa mit dem Erkenntniswert des Photos, der vor allem durch die dialektische Kraft der Montage erzeugt werde, die eine erweiterte und komplexere Perspektive eröffne, welche Totalität in Vielfältigkeit transformiere.178 Der Repräsentant eines solchen „barocken“ Umganges mit Bildern ist für DidiHuberman Jean-Luc Godard mit seiner „zentrifugalen“ Form der Montage in Histoire(s) du cinéma (1988-98), die „alles mit allem“ montiere und fiktive und faktische Bilder miteinander kollidieren lasse.179 Der „visuellen Überschreitung“ von Godards Montage nähert sich Didi-Huberman durch eine Archäologie der Lesbarkeit von einzelnen Bildsequenzen, in der sich die montierten Bildfolgen zu einer gemeinsamen Geschichte des Kriegs- und Kinobildes zusammenfügen.180 Obwohl Didi-Huberman vom „Exzess“ der Bilder spricht, zieht er überraschenderweise keinen Vergleich zwischen Godard und Georges Batailles Die Geschichte des Auges (1928). In beiden Fällen kann man ein Wandern, beziehungsweise Kreisen des Objekts durch seine Metaphern und Metonymien feststellen, die Roland Barthes in seinem frühen Essay „La métaphore de l’œil“ (1963) beschreibt.181 Wie bei Bataille das Auge metonymisch zu anderen Objekten (Ei, Hoden) und Substanzen (Milch, Eiweiß, Sperma, Tränen, Urin) wird, so kreist auch der Krieg bei Godard aleatorisch, ohne jegliche Hierarchie von einem zum nächsten Bild, vom Bild zum Text oder zur Musik. Ähnlich verfährt Godard auch mit Havivs Photo, das er in einzelne, immer größer werdende Bildausschnitte zerlegt, die wie in einer Diaprojektion als unbewegliche ‚Standbilder‘ aufeinander folgen. Die Bildsegmente werden sowohl von einem Text begleitet, den Godard vorliest, als auch von einem sakralen Musikstück des estnischen Komponisten Arvo Pärt. Die Gesetzmäßigkeiten des filmischen und des photographischen Genres wer177 178 179 180 181
Didi-Huberman [2003] 2007. Ebd., 174. Ebd., 180ff. Ebd., 208. Barthes, Roland: La métaphore de l’œil (1963). In: Critique 195-196. Hommage à Georges Bataille. Paris 1991, 70-77.
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den suspendiert. Isolierte Ausschnitte, die keinen Überblick gewähren, vermitteln dem Betrachter eher Schnitte im Zeit-Raum als deren Aufnahme. Robert Capas Maxime – „If your pictures aren’t good enough, you’re not close enough“ – wird dadurch widersprochen. Der Augenblick der photographischen Fixierung wird für einige Sekunden angehalten und ausgedehnt, ohne dass das Photo in einzelne Sequenzen wie in einer Photoserie zerlegt oder in ein filmisches Bewegungsbild transformiert würde. Vielmehr werden einzelne Ausschnitte wie in einem Puzzle nacheinander zusammengefügt. Die Spannung eines Aktionsbildes wird durch den beunruhigenden Mangel an Über- und Voraussicht des Geschehens ersetzt. Das studium des Photos als verschlüsselter Menge ‚sprechender‘ Botschaften und Repräsentationen wird in ein Nacheinander von stechenden puncta, in ‚stumme‘, unmittelbare sinnliche Präsenzen ohne Botschaft, zerlegt.182 Erst am Schluss zeigt sich das ganze Photo in seiner monströsen Epiphanie, bevor es wieder in die Dunkelheit verschwindet. Die Simultaneität des Bildes wird zwar ins Narrativ-Sukzessive überführt, doch verläuft das Bildnarrativ nicht linear wie ein Ereignis, sondern folgt eher der Logik eines Andachtsbildes.183 So wie die arma Christi, sowohl die Wunden als auch die Werkzeuge bzw. die Waffen Christi bezeichnen, so führen auch die Photoausschnitte den Betrachter über einzelne Stationen des ‚Kreuzwegs‘, die nicht in einem zeitlich-kausalen, sondern in einem kontemplativen Stufenweg erfolgen.184 Dem Betrachter wird die Augenzeugenschaft verweigert, dafür aber eine körperlich einfühlende abverlangt. Der von Godard vorgelesene Text ‚reimt‘ sich mit einzelnen Bildausschnitten und tritt mit ihnen in ein paradigmatisches Verhältnis. Auf eine Art, sehen Sie, ist die Angst trotz allem die Tochter Gottes, freigekauft in der Nacht des Karfreitags. Sie ist nicht schön anzuschauen, nein, mal verspottet, mal verflucht, gemieden von allen. Und trotz alldem, irren Sie sich nicht. Sie steht am Kopf des Bettes bei jedem Todeskampf, sie tritt für den Menschen ein. Denn es gibt die Regel, und es gibt die Ausnahme. Es gibt die Kultur, die die Regel ist, und es gibt die Ausnahme, die die Kunst ist. Alles spricht die Regel aus, Zigarette, Computer, TShirt, Fernsehen, Tourismus, Krieg. Niemand spricht die Ausnahme aus, so etwas 182
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Zu Roland Barthes’ Unterscheidung von studium und punctum: Barthes 1985, 33-37; Rancière, Jacques: Politik der Bilder. Aus dem Franz. von Maria Muhle. Berlin 2005 (fr. Le destine des images, Paris 2003), 17f., 23, 41. Zum Andachtsbild: Hausherr, Reiner: Über die Christus-Johannes-Gruppen. Zum Problem ‚Andachtsbilder‘ und deutsche Mystik. In: Beiträge zur Kunst des Mittelalters. Festschrift für Hans Wentzel zum 60. Geburtstag. Berlin 1975. 79-103; Lentes, Thomas: Der mediale Status des Bildes. Bildlichkeit bei Heinrich Seuse – statt einer Einleitung. In: Ästhetik des Unsichtbaren. Bildtheorie und Bildgebrauch in der Vormoderne, Hrsg. Ganz, David/Lentes,Thomas. Unter redaktioneller Mitarbeit von Georg Henkel. Berlin 2004, 13-73. Zu den arma Christi siehe: Suckale, Robert: Arma Christi. Überlegungen zur Zeichenhaftigkeit mittelalterlicher Andachtsbilder. In: Städel-Jahrbuch N.F. 6, 1977, 177-208.
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sagt man nicht, das schreibt man: Flaubert, Dostojewski, so etwas komponiert man: Gershwin, Mozart, so etwas malt man: Cézanne, Vermeer, so etwas nimmt man auf: Antonioni, Vigo. Oder so etwas lebt man, und dann ist es die Lebenskunst: Srebrenica, Mostar, Sarajevo. Es gehört daher zur Regel Europas und der Kultur, den Tod der Lebenskunst zu organisieren, die noch blüht. Wenn man das Buch schließen muss, wird dies geschehen, ohne dass irgendetwas bedauert wird. Ich habe so viele Menschen so schlecht leben gesehen, und so viele Menschen so gut sterben.185
Der Titel des Videos stellt einen intertextuellen Bezug zum früheren Film Godards, Je vous salue, Marie (1984) her – betitelt nach dem Verkündigungsgruß des Erzengels Gabriel an Maria –, indem er das sakrale Thema des Lebens der Heiligen Familie in den französischen Alltag verpflanzt. Auch das Photo von Bijeljina, transformiert zum Video, wird auf der Ebene des Textes, der Bilderfolge und vor allem durch die begleitende Kirchenmusik Pärts sakralisiert. Die Stimme Godards aus dem Off ertönt, als wäre er ein Gesandter des Himmels, ein Engel der Geschichte, der über die Angst im Todeskampf wacht. Doch das gesprochene Wort annulliert sich selbst, indem es sagt, dass die Ausnahme nicht gesagt, sondern nur geschrieben, komponiert, gemalt, im Bild festgehalten oder gelebt werden kann. Die Stimme kann die Ausnahme nicht sagen: In ihrem Bann kann sie nicht mehr sprechen, außerhalb ihres Bannes verfehlt sie die unmittelbare Präsenz. Godard versucht nicht, die Stimme der Toten im Ausnahmezustand wiederzugeben, sondern er leiht seine Stimme einer transzendenten Instanz, die ebenso über Vermittler und Mediatoren spricht. Dennoch bringt die Sakralisierung des Photos keine Erlösung, sondern vergrößert eher den Riss zwischen Heilung und Verdammnis, Erhabenheit und Fluch. Der Rhythmus der Sprache korrespondiert mit dem der Ausschnitte, die aus dem Photo isoliert werden, wobei die Kultur und die Regel mit den Tätern, die Kunst und die Ausnahme mit den Opfern auf dem Photo in Verbindung gesetzt werden. Die Kultur als kodiertes Regelsystem spricht durch ihre Waren: Zigarette, Krieg, Touris-
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Godard, Jean-Luc/Miéville, Anne-Marie: De l’origine du XXIe siècle. The old place. Liberté et patrie. Je vous salue, Sarajevo. Regensburg 2006, 89. «En un sens, voyezvous, la peur est tout de même la fille de Dieu, rachetée la nuit du vendredi saint. Elle n’est pas belle à voir, non, tantôt raillée, tantôt maudite, renoncée par tous. Et cependant, ne vous y trompez pas. Elle est au chevet de chaque agonie, elle intercède pour l’homme. Car il y a la règle, et il y a l’exception. Il y a la culture qui est de la règle, il y a l’exception qui est de l’art. Tous disent la règle, cigarette, ordinateur, tee-shirt, télévision, tourisme, guerre. Personne ne dit l’exception, cela ne se dit pas, cela s’écrit: Flaubert, Dostoϊevski, cela se compose: Gershwin, Mozart, cela se peint: Cézanne, Vermeer, cela s’enregistre: Antonioni, Vigo. Ou cela se vit, et c’est alors l’art de vivre: Srebrenica, Mostar, Sarajevo. Il sera donc de la règle de l’Europe de la Culture d’organiser la mort de l’art de vivre qui fleurit encore. Quand il faudra fermer le livre, ce sera sens regretter rien. J’ai vu tant de gens si mal vivre, e tant de gens mourir si bien.»
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mus, T-Shirt, Fernsehen, Computer – zu dem entsprechenden Satzteil sehen wir die Hand des Paramilizionärs mit der Zigarette (Abb. 105). Schon Godard macht diese Gestalt zum Kriegstouristen, wie später Haviv in seiner Monographie, in der er verrät, dass einer der Paramilizionäre Englisch mit australischem Akzent sprach. Die Kunst als Ausnahme manifestiert sich in den literarischen Werken Flauberts und Dostojevskijs, in der Musik Gershwins und Mozarts, in den Gemälden Cézannes und Vermeers, in den Filmen Michelangelo Antonionis und Jean Vigos wie auch in der Lebenskunst der Menschen von Srebrenica, Mostar und Sarajevo. Das Video fokussiert bei diesem bekenntnishaften Kanon auf die am Boden liegenden Toten (Abb. 106).
Abb. 105: Jean-Luc Godard, Je vous salue, Sarajevo, Videoausschnitt, 1993.
Abb. 106: Jean-Luc Godard, Je vous salue, Sarajevo, Videoausschnitt, 1993.
Es sind nicht die Paramilizionäre Arkans oder das Milošević-System, die hier die bosnischen Zivilisten töten. Folgt man Godards ‚Reim‘ aus Text und Bild, tötet hier Europa im Namen der Regel die Ausnahme, d.h. die Kunst und zugleich die Lebenskunst, wie sie in Srebrenica, Mostar und Sarajevo überlebt hat. Dazu sehen wir den Ausschnitt des Photos mit den Händen der beiden Paramilizionäre am Abzug ihrer Gewehre. Godard hat die Städtenamen noch vor dem Massaker in Srebrenica 1995 aufgeschrieben. In seinem autoreflexiven filmischen Selbstporträt JLG/JLG (1994) wird gezeigt, wie beim Komponieren seines Textes zum Video Je vous salue, Sarajevo Godard am Schreibtisch sitzt und die Zeilen ständig verbessert. Zwischendurch werden zwei Filmaufnahmen vom Genfer See einmontiert – eine, auf der die Wellen laut gegen das Ufer anrollen und eine zweite mit dem gefrorenen See – wie auch zwei leere Seiten aus Godards Tagebuch mit dem Titel „Donner à vivre“ und „Ventôse“, dem Monat mit dem meisten Wind (Monat des republikanischen Kalenders, eingeführt 1793). Auch hier ist im Hintergrund die Musik Pärts zu hören. Beim Verfassen der letzten Zeilen nimmt Godard Aragons Gedichtsammlung Le Crève-cœur (1941) in die Hand und liest aus ihr zwei Zeilen, mit denen auch sein Text im Video endet: „Quand il faudra fermer le livre, ce sera sans regretter rien. J’ai vu tant de gens
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si mal vivre, et tant de gens mourir si bien“.186 Diese Strophe hat er jedoch nicht Le Crève-cœur, sondern dem Gedicht „Bien sûr que ce n’est pas un monde“ aus der späteren Gedichtsammlung Le Nouveau Crève-cœur aus dem Jahre 1948 entnommen, die Aragon der Résistance und der Erinnerung an den Holocaust widmete.187 Aragon beschreibt in seinem Essay „La rime en 1940“, wie in der Zeit des Krieges neue Reime entstehen, in denen sich alle Wörter reimen können. Ähnlich bündeln auch Godards ‚Reime‘ von Bild, Text und Musik unterschiedliche Wörter und Bilder miteinander. In diesem ‚Reim‘ wird der Ausnahmezustand zur Metapher der Kunst, der Normalzustand zu deren Tod, zur regelhaften Kultur. Die Lebenskunst ist ein Leben im Namen des Todes. So wie Aragon seinen Essay mit dem Satz beginnt, dass die Poesie für diejenigen, die keine Poeten sind, ein Skandal sei, und dass zudem die Künstler die wahren Zeugen ihrer Zeit seien, so macht auch Godard die Kunst zum Zeugen des Krieges in Bosnien. Der radikal subjektivistische Tonfall Godards, dessen Stimme auch Je vous salue, Sarajevo prägt, ist ohne den Blick auf JGL/JGL nicht zu verstehen. In einer Marcel Proust nicht unähnlichen Perspektive des sich selbst analysierenden Ichs188 spiegelt sich das eine Ereignis im anderen, das eine Bild im andern, im Text oder in der Musik. Im Anschluss an die Passage über die Redaktionsarbeit am Video über Sarajevo reflektiert Godard in seinem filmischen Selbstporträt über das Bild. Er glaubt nicht an die Bildschöpfung, sondern an die Annäherung von zwei weit auseinander liegenden, dafür aber genau aufeinander abgestimmten Wirklichkeiten im Bild, die Assoziationen auslösen. Diese fast surrealistische Definition des Bildes erklärt der rauchende Godard in der dunklen Kammer seiner Wohnung vor dem Fernsehschirm anhand der Wörter „Kristall“ und „Rauch“, die „Kristallnacht“ und „Rauchschwaden“ ergeben. So wie die beiden Wörter ein Drittes ergeben, so springt auch das Bild der Stereophonie – zwei von Godard in umgekehrter Richtung übereinander gezeichnete Dreiecke – in die Geschichte über, wo sie zum jüdischen sechszackigen Stern werden. Wörter und Bilder bewegen sich bei Godard zwischen Kunst und Geschichte, zwischen dem Fiktionalen und dem Faktischen, hin und her. In seinem Interview mit Michael Witt, betitelt „I, A Man of The Image”, zitiert Godard den spanischen Schriftsteller Juan Goytisolo, den Autor des Manuskript[s] von Sarajevo (Cahier de Sarajevo, Strasbourg 1993),189 der ebenso wie Sontag die Belagerung Sarajevos miterlebt hat: „Just as our age 186
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Bamchade Pourvali (Godard neuf zéro. Les filmes des années 90 de Jean-Luc Godard, Paris 2006, 61f.) behauptet, dass das Zitat aus Aragons Essay La rime en 1940 in Le Crève-cœur stammt. Aragon, Louis: La Crève-cœur. La Nouveau Crève-cœur. Paris 1989, 155. Deleuze, Gilles: Proust et les signes. Paris 1964. In Godards Film Notre musique liest Goytisolo inmitten der Brandruine der berühmten Bibliothek von Sarajevo aus seinem Cahier de Sarajevo (Strasbourg 1993) vor, aus dem er, so wie Sontag, dem passiven Europa die Schuld für die Ereignisse zuschreibt. Zu Goytisolos Engagement für Bosnien: Kunz, Marco: „Nur die Fiktion konnte mich heilen“. Juan Goytisolo in Sarajevo. In: Beganović/Braun (Hrsg.) 2007, 65-83.
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has endless destructive force, so it now needs a revolution of a comparable creative force to reinforce memory, clarify dreams and give substance to images.“190 Nach derselben Logik, wie er die Kunst und den Ausnahmezustand miteinander ‚reimt‘, verlangt Godard – Goytisolo zitierend – nach einer Revolutionierung des Bildes, die dem Bosnienkrieg die Kraft des Erinnerns, sowie Klarheit und Substanz verleihen würde. Das Bild selbst wird zur Manifestation des Ausnahmezustandes – wie bei Jean-Luc Nancys Am Grund des Bildes (2003).191 In der Kollision der Bilder, der Texte und der Musik, die Assoziationen auslösen, sieht Godard ein Mittel, sich gegen die Regel der medialen Vermitteltheiten zu wehren, doch zugleich macht er den Ausnahmezustand zur Quelle einer neuen Kunst. Allein die Kunst ist in der Lage, den Krieg zu erfassen – weil sie selbst Ausnahme gegen jede Regel ist. Obwohl Godard die Kunst in den Dienst der Aktion gegen den Krieg stellen möchte, wird vielmehr der Krieg zum Kronzeugen der Kunst. Damit schließt er sich paradoxerweise der langen Reihe derer an, die den Krieg als „Jungbrunnen“ und „Quelle der Erneuerung“ gepriesen haben. Indem Godard die Kunst mit dem ‚nackten Leben‘ reimt, entfernt auch er sich – wie die Massenmedien – von den Ereignissen in Bosnien und macht sie zum metapoetischen Kunstdiskurs. In seiner Schrift „Der Paradoxist“ (1876), einem Dialog zwischen einem Kriegsenthusiasten und einem Pazifisten während des Russisch-Türkischen Krieges um den slawischen Balkan, lässt Dostoevskij den Befürworter des Krieges die diesem geschuldete Erneuerung und Erfrischung der Wissenschaften und Künste sowie die Stärkung der Gedanken als auch einen neuen Antrieb zuschreiben.192 Roger Caillois stellt in Der Mensch und das Heilige (1950) dar, wie der Krieg nicht als zufälliges Ereignis, sondern als Triebkraft des Universums zur Quelle der Zivilisation erklärt wird.193 Als kosmisches Ereignis, das sich der menschlichen Kontrolle entzieht, wird er bei Caillois zur Norm des Universums, die religiöse Wertigkeit gewinnt. Ebenso wird der Ausnahmezu190 191
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Witt, Michael: The Godard Interview. I, A Man of The Image. In: http://www.bfi.org.uk/sightandsound/feature/313/ (Zugriff: 16.12.07). Zimmermann, Michael: Das Bild als Ausnahmezustand. Nancy und Agamben. In: Bredekamp, Horst/Werner, Gabriele (Hrsg.): Bildwelten des Wissens. Kunsthistorisches Jahrbuch für Bildkritik, Bd. 2, 1: Bildtechniken des Ausnahmezustandes. Berlin 2004, 9-18. Dostojewski, Fedor: Tagebuch eines Schriftstellers. Notierte Gedanken. Aus dem Russischen von E.K. Rahsin. Mit einem Nachwort von Aleksandar Flaker. MünchenZürich 2004, 192f. Caillois, Roger: Der Mensch und das Heilige. Durch drei Anhänge über den Sexus, das Spiel und den Krieg in ihren Beziehungen zum Heiligen erweiterte Ausgabe. Aus dem Französischen von Brigitte Weidmann. Mit einem Nachwort von Peter Geble. München-Wien 1988 (fr. L’homme et le sacré, Paris 1950), 227. „Im Krieg wird alles neu geschaffen, was im Frieden durch Erschaffung und Abnutzung zugrunde ging. Kriege sind deshalb notwendig, um die Gesellschaft zu erneuern und vor dem Tod zu erretten. Sie schützen die Gesellschaft vor den Auswirkungen, die der Ablauf der Zeit hat. Man schreibt diesen Blutbädern die Kraft eines Jungbrunnens zu.“
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stand in Bosnien durch seine Medialisierung in der europäischen Kultur von der Ausnahme zur Regel. So stellt auch der Sponsor und Herausgeber des Ausstellungskatalogs Blut & Honig, Karlheinz Essl, fest, dass „die Kunst an Intensität, Kraft, gar Brutalität gewinnt, je mehr man sich der von den kriegerischen Auseinandersetzungen besonders stark betroffenen Region nähert“.194 Im Gegensatz zum Holocaust-Topos ist der Bosnienkrieg – obwohl immer wieder mit dem Holocaust verglichen – nicht mehr der Ort, an dem ein Riss zwischen Stummheit und Beredsamkeit, zwischen Undarstellbarkeit und Darstellbarkeit aufklafft. In Text- und Bildnarrativen, im wiederholten, nachträglichen und unerträglichen Nacherzählen, im Wieder-Zeigen werden die primären Kriegsereignisse bis hin zur ethnischen Säuberung in verschiedenen medialen Erzählmodi reproduziert und, abgekoppelt vom Ereignis, als ‚Text’ oder ‚Bild‘ rezipiert. Die Medien und Künste im Ausnahmezustand sind nicht in der Lage, über die Ausnahme als solche zu berichten. Nur der österreichische, proserbische orientierte Schriftsteller Peter Handke, der die westeuropäische Kriegsberichterstattung scharf kritisierte,195 knüpft bei der Beschreibung von Srebrenica auf den Topos des Bildverlusts und des Unlesbarkeit einerseits an die Undarstellbarkeit und Unsagbarkeit des Holocausts, andererseits an das islamische Bilderverbot an.196 Im Sommerlichen Nachtrag zu einer winterlichen Reise (1998) vergleicht er Srebrenica, ein „S.“, mit einer Arabeske, in der sich sowohl das Bild als auch die Schrift verliere. Und nun ein Problem des Weitererzählens, der Bilderbeschreibung, des Schilderns, der Bilderfolge: als werde an Orten wie S. nacherlebbar so etwas wie das islamische oder überhaupt orientalische Verbot der Bilder, oder zumindest ein von gewissen Erscheinungen ausgehender Bilder-Verweis, ein Abweisen, jedenfalls der großen, der ausgemalten, der zu Ende geschilderten, der monumentalen und panoramischen Bilder, ein Abweisen, das dafür aber Raum gäbe oder ließe für noch und noch Miniaturen, als Bilder kaum mehr zu entziffernden, auch kaum mehr etwas bedeutenden – ein solches Kleinstbild zusätzlich verknüpft mit dem andern zu einer bloßen, bloßen?, im ganzen vielleicht doch das eine und das andere besagenden „Arabeske“. Ja, Arabeske.197
Mit dem Übergang in die Arabeske in S. wird der Raum aperspektivisch sowie zeitlich als auch räumlich annulliert. So wie die Muster der auseinanderschweifenden arabesken Linien optisch kaum zu verfolgen sind, so lösen sich in Srebrenica Kontinuität und Dauer auf. Es ist nichts zu tun. S. ist keine Siedlung, und schon gar keine Neusiedlung, sondern eine Aussiedlung, in jeder Hinsicht. Sogar zum Einebnen fehlt jeder Anstoß. Und nicht bloß keine Zukunft zeigt sich, sondern auch nicht einmal der leiseste Anhauch gleich welcher Gegenwart. Das Größte und das Schönste, was Eltern ihren Kindern 194 195 196 197
Essl (Hrsg.) 2003, 7. Handke, Peter: Eine winterliche Reise zu den Flüssen Donau, Save, Morawa und Drina oder Gerechtigkeit für Serbien. Frankfurt a.M. 1996, 13, 30. Zum islamischen Bilderverbot: Naef, Silvia: Bilder und Bilderverbot im Islam. München 2007. Handke, Peter: Sommerlicher Nachtrag zu einer winterlichen Reise. Frankfurt a.M. 1998, 223f.
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wohl geben können, die beste „Erziehung“: Kontinuität, Dauer – die gab es da nicht mehr […] Was ein Freund einmal, auf die Nachricht von seiner Todeskrankheit, ausgerufen oder eher hervorgestoßen hatte, das galt in S. über einen einzelnen hinaus für das ganze sogenannte Kollektiv: „Keine Perspektive mehr. Ich habe keine Perspektive mehr!“ 198
Nicht nur die Geschichte, sondern sogar auch jegliche menschliche Existenz an diesem Ort wird annulliert. Die Subjektwerdung kann sich ausschließlich im Negationsdiskurs begründen. Und wir hörten ihn reden und sagen, zu uns und über uns hinaus, die Arme erhoben: „Ich bin kein Serbe mehr, ich bin nichts mehr, möchte kein Serbe sein, möchte überhaupt nichts mehr sein. Kein Apfel wird mehr reif werden in diesem Tal. Kein Tau wird mehr fallen auf Srebrenica. Kein Ball mehr wird hier in ein Tor treffen. Ich bin kein Serbe mehr, ich weiß nicht, wer ich bin, und ihr sollt mich nicht anschauen. Hört mir nicht zu, haut ab, geht woandershin, fragt jemand andern. Die Welt hat uns vergessen. Die Welt soll uns vergessen. Es ist zu Ende, fürs ganze Leben. Ich bin kein Serbe mehr.199
Auch Handkes sowieso schon elliptischer sowie verschachtelter Erzählstil kommt von der Erzähl-Geraden ab und kehrt an den Anfang zurück – um zu befragen („bloßen, bloßen?“) und zu beantworten („Arabeske. Ja, Arabeske.“). Handke und seine abgetrennte schreibende Hand („Hand (Hand?)“) bewegen sich also im Zick-Zack – fast so wie die sich wiederholende Geschichte auf dem Balkan: „Bewegte man sich an der Hand (Hand?) des Geschichts-Studiums zuletzt doch nicht bloß im Kreis, oder eher im Zickzack, und statt mit seiner Hilfe weiterzusehen, in einem Labyrinth, einem fast lichtlosen?“200 Das Erzählen von Srebrenica ‚springt‘ deshalb vom Ende wieder an den Anfang: Es gelangt im intertextuellen Fortschreiben auf den Pfad eines früheren bosnischen Textes – die Pfade (Staze) von Ivo Andrić. Anfangen wie? Zum Beispiel so: „Am Beginn aller Stege und Wege, am Ursprung des Bildes, das ich mir davon mache, stehen unauslöschlich eingeprägt die Pfade, wo ich frei die ersten Schritte tat. Das war Višegrad, und die Wege waren hart, ungleichmäßig, wie ausgenagt…“201
Handkes Bild- und Wortlosigkeit widersetzt sich nicht nur der Beschreibung des Massakers an den muslimischen Bosniern, sondern auch der Bilderflut in den Medien, in denen schon alle Bilder – „kadrierte, trefflich ausgeleuchtete, farbraffinierte Glanz-Photos der westeuropäischen Photographen im Stile Goyas, des Pulitzer- oder ‚Bilder-ohne-Grenzen‘-Preises“202 – gezeigt wurden. Denn das schwindende Gedächtnis, das Schwinden von Ort und Zeit, das Handke in Srebrenica festhalten möchte, „hat weder Bilder noch Worte“.203 198 199 200 201 202 203
Ebd. 236f. Ebd., 234. Ebd., 242. Ebd., 242. Ebd., 236. Ebd., 235.
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3.2. Fakten als Fiktionen. Der Bosnienkrieg im Comicstrip und auf der Postkarte Bereits gegen Ende des Bosnienkriegs blühte im Westen ein neues Genre des Comics auf, in dem für die Gestaltung der Zeichnungen reale Kriegsphotos als Vorlage dienten.204 Der belgische Comiczeichner Hermann Huppen benutzt in seinem Comicroman Sarajevo-Tango (Dupuis 1995) das Photo des New Yorker Photoreporters Ron Haviv aus dem Jahre 1991, das die Gräueltaten einer serbischen paramilitärischen Einheit – Arkans „Tiger“ – an bosnischen Zivilisten zeigt (Abb. 103). Die fast wörtliche Umsetzung des Bildes aus dem einen ins andere Medium hat dennoch einige semantischen Verschiebungen zur Folge, die dem Genre des Comics entsprechen (Abb. 107). 205
Abb. 107: Hermann [Huppen], „Et d’autres encore…, Sarajevo-Tango, 1995. 204
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Comics über den Bosnienkrieg: Hermann, Sarajevo-Tango. Dupuis 1995; Lavrič, Tomaž: Fables de Bosnie. Glénat 1999; Sacco, Joe: Safe area Gorazde. The War in Eastern Bosnia 1992-1995. Fantagraphics 2000; Ders.: The fixer. A story from Sarajevo. Fantagraphics 2003; Andersson, Max/Sjunesson, Lars: Bosnian Flat Dog. Paris 2004. Zu den Gesetzmäßigkeiten des Comics: Pandel, Hans-Jürgen: Comicliteratur und Geschichte. Gezeichnete Narrativität, gedeutete Geschichten und die Ästhetik des Geschichtsbewusstseins. In: Geschichte lernen 37, Velber 1994, 18.
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Die Häuser in der Umgebung, die auf dem Photo nicht in den Ausschnitt aufgenommen wurden, sind vollkommen zerstört oder brennen in hellen Flammen und mit dunklem Rauch gerade nieder. Die Zahl der Opfer auf dem Boden hat sich vergrößert. Die Wände sind mit hellroten Blutflecken verschmiert, der Boden mit großen Blutlachen bedeckt, die auf dem Photo kaum sichtbar sind. Die Paramilizionäre sehen noch kräftiger aus als auf dem Photo. Die Distanz zwischen ihnen hat sich vergrößert, so dass der Eindruck entsteht, sie beherrschen das ganze Territorium. Während diese Veränderungen als Folge des Medienwechsels vom dokumentarischen Photo in den fiktionalen Comic nachvollziehbar ist, ist die blonde Haarfarbe des Paramilizionärs mit der Sonnenbrille und der Zigarette in der Hand eher die Folge einer Anspielung auf die Nazi-Bösewichte. Die Zeichnung ist nicht unmittelbar mit dem Sujet verbunden. Sie bietet vielmehr den ‚epischen Hintergrund‘ zur Lage in Bosnien, vor dessen Folie sich die Geschichte über die Rettung eines kleinen Mädchens, die vom Ex-Ehemann der Mutter aus der Schweiz entführt und ins belagerte Sarajevo verschleppt wurde, entfaltet. Der Comic zitiert nicht nur die realen Photos, sondern greift auch bekannte Filmbilder des zweiten Weltkriegs auf, wie z.B. das kleine Mädchen im roten Jäckchen aus Steven Spielbergs ansonsten schwarz-weißen Film Schindlers Liste (1994), dessen signalartiges Aufleuchten es als individuelles Opfer in der Massenvernichtung der Juden hervorhebt.206 Im Comicroman Fax from Sarajevo. A Story of Survival (1996) des amerikanischen Comiczeichners polnisch-jüdischer Herkunft, Joe Kubert,207 werden der bosnische Comiczeichner Ervin Rustemagić und seine Familie zu den Helden, deren Lebensgeschichte – die Flucht aus dem belagerten Sarajevo nach Slowenien – in Bildern erzählt wird. Obwohl Comicstrips ein realitätsfernes Genre sind, das für gewöhnliche Allmachtsphantasien freien Raum lässt, nahmen sie dennoch seit ihrer Entstehung stets am historischen Geschehen teil. In Nordamerika wurden sie seit den 1930er Jahren, vor allem 206
207
Zur narrativen Funktion des Mädchens im roten Mantel in Spielbergs Schindlers Liste: Noack, Johannes-Michael: „Schindlers Liste“ – Authentizität und Fiktion in Spielbergs Film. Eine Analyse. Leipzig 1998, 56. Joe Kubert (geb. 1926) hat sich seit den 1950er Jahren mit Comichelden wie dem prähistorischen Jäger „Tor“, dem Seefahrer „Son of Sindbad“ und dem Krieger „Viking Prince“ einen Namen gemacht. An berühmten Science-Fiction-Comics wie Hawkman, Enemy Ace und The Flesh, an zahlreichen Kriegscomics (Tales of the Green Beret, Sergeant Rock, Frontline Combat) wie auch an didaktischen Comics für die US-Army (Our Army at war, Our Fighting forces, G.I. Combat, All American Men of War) hat er mitgearbeitet. 1976 gründete er in Dover in New Jersey seine eigene Zeichenschule – die Joe Kubert School of Cartoon and Graphic Art. Hompage von Joe Kubert: http://www.kubertsworld.com/kubertschool/KubertSchool.htm (28.12.2007); Zu Kubert: Stive Stiles, The Genesis of Joe Kubert - Part 1, Part 2: http://www.stevestiles.com/kubert1.htm; http://www.stevestiles.com/kuber2.htm (Zugriff: 08.04.2009).
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in Kriegszeiten, zu Propagandazwecken eingesetzt. Ihre Funktion war es, dem Feind eine stereotype visuelle Gestalt zu verleihen, die Kampfmoral in den eigenen Reihen zu stärken und die des Gegners zu demoralisieren. Vor allem Superhelden stellten ihre übermenschlichen Kräfte in den Dienst der amerikanischen Ideologie, Ordnung und Moral: Der Superman hat als eine feste Serienfigur eine lange Entwicklung durch die Stadien der amerikanischen Geschichte durchgemacht, die die politische Umorientierung Amerikas vom Spanienkrieg über den Zweiten Weltkrieg und den Vietnamkrieg bis zum 11. September 2001 widerspiegelt.208 Diese wird in rasch verlaufenden Panels mit scharfen Schnitten und schlagfertigen Sprechblasen erzählt, mit grellen Farben und starken Affekten ausgestattet und in Stereotypen des Guten sowie des Bösen vermittelt. Kubert verwandelt in seinem Comic den Familienvater Ervin Rustemagić, seinen Freund und Verleger in Sarajevo, zum Superhelden. Die Erzählung befasst sich mit den zahlreichen Versuchen der vierköpfigen bosnischen Familie, aus dem belagerten Sarajevo zu entkommen, und ihrem Kampf ums Überleben. Als Vorlage benutzte der Autor die unterschriebenen und manchmal sogar handschriftlich verfassten Faxe Rustemagićs, dem sie als einziges Kommunikationsmittel mit der Welt außerhalb des belagerten Sarajevos dienten. Sie wurden wörtlich in den Comictext aufgenommen oder sogar in ihrer Originalform reproduziert. Having been a witness by fax to this incredible story, I felt compelled to record it in the best way I knew how. Despite the fact that „cartooning“ and „comic books“ have long been considered a child’s medium here in the United States, I chose this means by which to communicate this story. It was a commitment I made to myself, while Ervin and his family were still trapped in the hell of Sarajevo. It was a promise to myself, that once they were out and safe, this is what I would do. This story is true. The characters are real. I have taken certain liberties in creating dialogue, dramatizations, and variations of time sequences, in order to enhance (and in some cases, to curtail) the „storytelling“ aspects of this book. However, in its essentials, the story adheres to fact. Some of the names are fictional, most are factual. If you feel, after reading, that this story is a stretch of imagination, too much to be believed, I can fully understand the reaction. In reading and rereading Ervin’s faxes (hundreds of them), I felt the same way. Nevertheless, this story is true.209
Als zweite faktische Quelle für seine Comicbilder dienten Kubert die Photos des jungen Schriftstellers Karim Zaimović, der im August 1995 von einer Granate getötet wurde. Während der am Leben gebliebene und schließlich aus der Stadt entkommene Rustemagić im Comic zum Superhelden avanciert, wird dem verstorbenen Zaimović das Comicbuch gewidmet („This 208
209
Palandt, Ralf: Gezeichnete Bilder vom Krieg. Konstruierte Wirklichkeit in USamerikanischen Superhelden-Comics. In: Kneiper, Thomas/Müller, Marion G. (Hrsg.): War Visions. Bildkommunikation und Krieg. Köln 2005, 256-275. Kubert, Joe: Fax from Sarajevo. A Story of Survival. s.l. 1996, 183.
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book is dedicated to a man I never met“).210 Sein photographisches Porträt wird am Anfang reproduziert (Abb. 108). Abb. 108: Das Photo des Schriftstellers Karim Zaimović, Joe Kubert, Fax from Sarajevo. A Story of Survival, 1996.
The last photo in one of the four packets is of a young man, obviously unaware that his picture was being taken. He has a partially chewed sandwich in his mouth and is looking to a side, toward us, as if we had just walked in on his quick meal unexpectedly. Under his right elbow is a picture portrait of Jim Carey in his role of the Riddler, mouth wide open in a crazy grin, hair bright orange-red, eyes discreetly covered by a green mask.
Das Photo selbst wird in den Kontext des Comics gestellt. Die Zeitung, die neben dem Teller auf dem Tisch liegt, ist auf der Seite aufgeschlagen, die das Photo des elastischen, gummiartigen Gesichts Jim Carreys in der Rolle des bösen Riddlers, einer Comicfigur aus dem Film Batman forever (1995) zeigt. Sein breit geöffneter Mund korrespondiert mit dem des zubeißenden Zaimović, so als hätte der Photographierte auf die Reproduktion in der Zeitung reagiert. Unter dem Photo befand sich die Notiz Rustemagićs, in der Kubert den Unbekannten als einen „big comics-strip fan“ vorstellt. Die Photographien, die Zaimović vor seinem Tod 1995 in Sarajevo von zerstörten Gebäuden, Straßen und von Menschen aufnahm (Abb. 109, Abb. 110), sollten dem Comiczeichner helfen, „to gain better credibility“. Sie sind als Beweismaterial dafür, dass es um eine „true story“ geht, im Anhang des Buches reproduziert. 210
Ebd., s.p.
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Abb. 109, 110: Szenen aus Sarajevo, Joe Kubert, Fax from Sarajevo. A Story of Survival, 1996.
Ihre Umsetzung in die Sprache des Comics versetzt sie in Aktion und unterlegt sie mit einer Geräuschkulisse (Abb. 111, Abb. 112).
Abb. 111, 112: Joe Kubert, Szenen aus Sarajevo, Fax from Sarajevo. A Story of Survival, 1996.
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In einigen Fällen werden die Photos, deren Affektgeladenheit dem Comicgenre entspricht, buchstäblich in die Zeichnung übersetzt, so wie z.B. das Bild des schlafenden Sohnes mit einem Hündchen (Abb. 113, Abb. 114). Abb. 113: Der schlafende Sohn Rustemagićs, Photo.
Abb. 114: Joe Kubert, Der schlafende Sohn Rustemagićs, Fax from Sarajevo. A Story of Survival, 1996.
Der alte Topos über die Unmöglichkeit, das Erlebte in Worte zu fassen – “How can I put into words what is going on all around us? No one could imagine it… Unless they were here.” – (Abb. 115),211 bietet dem Zeichner die Gelegenheit, in den grellen Farben des Comicstrips das Unaussprechbare zu zeigen. Joe Kubert stellt sich als Mediator in den Dienst, die dokumentarischen Medien des Faxes und der Photographie in das dramatisierende Unterhaltungsmedium des Comics umzusetzen. 211
Ebd., 36.
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Abb. 115: How can I put into words, Joe Kubert, Fax from Sarajevo. A Story of Survival, 1996.
Die wichtige Rolle des Comics im Rahmen der Kriegsführung drückt der Autor durch eine medienreflexive Szene aus, in der Ervin Rustemagić die Comics als Schutzschild für seinen Körper benutzt (Abb. 116, Abb. 117). Diese buchstäblich umgesetzte Metapher des Textes bzw. des Bildes als Waffe weist auf die Bedeutung des Comics in der Kriegspropaganda hin.
Abb. 116: “Don’t laugh. That’s additional armor”, Joe Kubert, Fax from Sarajevo. A Story of Survival, 1996.
Abb. 117: “The comic books are not for reading”, Joe Kubert, Fax from Sarajevo. A Story of Survival, 1996.
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Auf die Vermischung des Fiktiven und Faktischen in Sarajevo, wo das Unvorstellbare ein Teil der Realität wurde, hat bereits Susan Sontag in ihrem Essay von 1993 hingewiesen, in dem sie die Situation mit einem ScienceFicion-Szenario vergleicht. Auch Kubert greift diese Metapher auf (Abb. 118), wenn er Rustemagić, der als Superheld unter dem Beschuss von Scharfschützen die Straße entlang fährt, folgenden Satz aussprechen lässt: „Mad Max has become a reality. […] I have become a comic-book character! Maybe… I am a Superman? If so… I don’t need any protection. My God… I am going crazy.“212
Abb. 118: “Mad max has become a reality”, Joe Kubert, Fax from Sarajevo. A Story of Survival, 1996.
Mad Max ist nicht mehr Teil einer apokalyptischen Zukunftsvision, sondern befindet sich im Hier und Jetzt in Sarajevo in der Person von Rustemagić. Gerade die schlechthin fiktiven Genres des Comicstrip und des 212
Ebd., 86.
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Science-Fiction-Films über endzeitliche Visionen, rücken unter den Bedingungen des Kriegs näher an die Realität heran. Das belagerte Sarajevo wird so zum Ort, an dem das Fiktive zur Realität erklärt wird. Seine Feinde sind nicht nur das serbische Militär, sondern auch die in Sarajevo stationierten internationalen Hilfsorganisationen, die die Ausreise verhindern. Nach übermenschlichen Anstrengungen gelingt es Rustemagić und seiner Familie schließlich, im Stil der Superhelden aus dem belagerten Sarajevo zu entkommen. Die Selbstbefreiung des Helden aus eigenen Kräften überführt die deprimierende, statisch erleidende Weltsicht des absurden Theaters in die aktive Allmachtsphantasie des Comics. Für Fax from Sarajevo erhielt Kubert 1997 den Harvey- sowie den Eisner-Preis für das beste graphische Album. Auch in seinem späteren Comicroman Yossel. April 19, 1943 (2003) über den Juden Yossel im Warschauer Ghetto mischt er Realität und Fiktion, indem die Figur Yossels einige autobiographische Züge annimmt. Durch die Faxe aus Sarajevo war das neue Genre eines Comicstrips, der Fakten und Dokumente in die fiktive Sprache übersetzt, entstanden. Es fand Nachahmer: Sid Jacobson, der Texter, und Ernie Colón, der Zeichner, gingen in ihrem Comic The 9/11 Report – die Comic-Adaption (2007) auf dieselbe Art wie Kubert mit den Dokumenten des Abschlussberichtes um, welche die Untersuchungskommission des Vorfalls zusammengestellt hatte.213 Enki Bilal, der 1951 in Belgrad geborene und seit 1961 in Paris lebende Comiczeichner, Illustrator als auch Regisseur jugoslawischer Herkunft214 widmete eine phantastische Monster-Comicstrip-Trilogie (Tétralogie du Monstre) drei Helden: Nike Hatzfield, Leyla Mirkovic und Amir Fazlagic, die alle drei 1993 als Waisen im belagerten Sarajevo zur Welt gekommen sind (Abb. 119).215 Im ersten Band, Der Schlaf des Monsters (Le Sommeil du Monstre, 1998), kämpfen die drei im Jahre 2027 gegen eine Terrororganisation sowie ihre Klone als auch gegen Fliegen, die das Wissen und die Kultur auslöschen möchten, um einen zivilisatorischen Neuanfang der Menschheit vom Nullpunkt aus zu forcieren. Nike Hatzfield, der mit einem ungewöhnlichen Gedächtnis ausgestattet ist, kann sich an die ersten Tage nach seiner Geburt im Sarajevoer Krankenhaus Koševo erinnern.
213
214 215
Jacobson, Sid/Colón, Ernie: The 9/11 Report – die Comic-Adaption. Nettetal-Kaldenkirchen 2006. Zu Enki Bilal: http://bilal.enki.free.fr/ (Zugriff: 02.11.2009). Bünte, Christopher: Anspruchsvoller Brocken. In: Wortgestöber.de. Magazin für Netz, Kultur und Medien (http://www.wortgestoeber.de/wg-besprochen/000893.php, Zugriff: 02.11.2009).
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Abb. 119: Enki Bilal, Monstre, 2007, Umschlagseite.
Die visuellen Reize der Gegenwart rufen die Erinnerungen sowohl an die schrecklichen Erlebnisse in der umzingelten Stadt als auch an zwei andere Neugeborene hervor. Der in New York lebende Nike begibt sich auf die Suche nach der Astronautin Leyla Mirkovic, die sich auf einem Raumfahrtstützpunkt in einer Wüste aufhält, und nach dem Sicherheitsagenten Amir Fazlagic und seiner Freundin Sascha Krylova in Moskau. Alle sollen in Sarajevo zusammenkommen, dem Geburtsort, der sie auf mysteriöse Weise aneinander bindet. Die düsteren, grau-braun-grünen Grundfarben des Comics sind von zahlreichen (manchmal auch unmotivierten) Malen – blutigen roten Tropfen, Flecken und Strahlen übersät. Im zweiten Band und im dritten Doppelband, 32 décembre (2003) und Rendez-vous à Paris/Quatre? (200607), entfernt sich der Autor noch weiter vom Krieg in Sarajevo, der in der Welt der Zukunft eine kosmische Dimension angenommen hat.
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Ein ähnlicher Trend vom Faktischen zum Fiktionalen lässt sich auch im Medium der Postkarte verfolgen. Die Postkarte war im Ersten Weltkrieg zu einem wichtigen Kommunikationsmittel avanciert, das nicht nur Botschaften von der Front in die Heimat übermittelte, sondern auch propagandistischen Zwecken sowie der Stärkung der allgemeinen Kampfmoral und der Beruhigung der Daheimgebliebenen diente.216 Die privaten Textinhalte wurden von der militärischen Zensur streng geprüft, damit keine Geheimnisse verraten wurden oder Kriegsmüdigkeit verbreitende Gräuelberichte in die Heimat gelangten.217 Die Postkarten stellten meist posierende Soldaten, das Soldatenleben im Kriegsalltag, sentimentale Motive der Trennung von der Liebsten oder harmlose Soldatenscherze dar. Vor allem die photographische Feldpostkarte ermöglichte es, sowohl den Daheimgebliebenen Reiseerlebnisse aus fremden Ländern zu vermitteln als auch den heimgekehrten Soldaten später zugleich die Erinnerungen an sie zu bewahren sowie ihre Präsenz vor Ort zu bezeugen. Die Funktion der Postkarte übernahmen seit den 1990er Jahren das Internet und das Handy und lösten sie in ihrer alten Funktion endgültig ab. Dennoch brach das Geschäft mit der Postkarte nicht ab, nur ihr Aussehen und ihre Funktion änderte sich. Im Jahr 2000 wurde an die in Bosnien stationierten deutschen Bundeswehrsoldaten die Postkarte Bosnia Now verkauft, die nicht unmittelbare Eindrücke und Ansichten aus Bosnien zeigte, sondern vielmehr Francis Ford Coppolas Vietnam-Film Apocalypse Now (1979) zitierte (Abb. 120). Auf der Vorderseite ist eine exotische Landschaft mit Sonnenuntergang dargestellt, über der Militärhubschrauber fliegen. Das Bild zitiert eine bekannte Szene aus Coppolas Film, in der sich das Licht des Sonnenunterganges und das Feuer der Napalmbomben miteinander vermischen. Die Landschaftskulisse mit Palmen wird auf der Postkarte jedoch durch mitteleuropäische Fichten überblendet. Auch in der typographischen Gestaltung des Titels hat man die gestalterischen Mittel von Coppolas Film sowie des Filmplakats aufgegriffen. Im Vordergrund steht jedoch nicht mehr in erster Linie der Vergleich zwischen dem Vietnam- und dem Bosnienkrieg, sondern vielmehr der Verweis auf Analogien zwischen Coppolas Film und der medialen Kriegsführung, der second front in Bosnien, die zur first front wurde. Auf der Rückseite der Postkarte steht unten in der Mitte die Inschrift: „Be aware of Imitations“. Das apokalyptische Bild enthüllt weniger die bosnische Kriegsapokalypse als vielmehr die mediale Seite des Bosnienkrieges, die sich durch das Zitieren der Kriegsstereotypen vom Faktischen entfernt hatte. Dieser Gedanke wird auf der Postkarte pointiert – sie wird zum verkleinerten Filmplakat für ein Film-Remake. 216
217
Zur Postkarte von der Front zur Zeit des Ersten Weltkrieges: Brocks, Christiane: Die bunte Welt des Krieges. Bildpostkarten aus dem Ersten Weltkrieg 1914-1918 (= Frieden und Krieg. Beiträge zur Historischen Friedensforschung 10). Essen 2008. Ebd., 29.
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Abb. 120: Postkarte Bosnia Now, 2000.
Die NATO wird als Filmproduktionsgesellschaft, ihre Mitgliedstaaten als Schauspieler genannt: NATO presents: BOSNIA NOW Starring in alphabetic order: Albania, Austria, Australia, Belgium, Bulgaria, Canada, Czech Republik[sic!], Denmark, Egypt, Estonia, Finland, France, Germany, Great Britain, Greece, Hungary, Iceland, Ireland, Italy, Latvia, Lithuania, Luxembourg, Malaysia, Morocco, Netherlands, New Zealand, Norway, Poland, Portugal, Romania, Russia, Slovenia, South Africa, Slovakia, Spain, Sweden, Turkey, Ukraine, USA Edited by North Atlantic Treaty Organisation
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Jacques Derrida hat in Die Postkarte (1980) darauf hingewiesen, dass ihre Nachricht das Ziel immer verspätet erreicht.218 So ist auch Bosnia Now erst im Jahre 2000 in den Handel gekommen, als der Krieg vorbei war und die Debatte über die mediale Kriegsführung in der Öffentlichkeit geführt wurde. Erst jetzt durfte auch der deutsche Soldat den Daheimgebliebenen das allgemein bekannte ‚Geheimnis‘ verraten, an was für einem Kriegsszenario er teilgenommen hatte. Damit hat die Postkarte jegliche politische Sprengkraft eingebüßt und sich der Zensur entzogen. Mit zynischem Stolz beschränkt sie sich auf eine weitere (und besonders geschmacklose) mediale Verdoppelung des Krieges in einer langen Reihe der Verdoppelungen.
3.3. Der Fall Gabriel Grüner. Recycling des Faktischen in Norbert Gstreins Handwerk des Tötens (2003) Während die berichterstattenden Medien und Genres – vom Pressebericht zur Photoreportage, vom Dokumentarfilm zur Fernsehreportage – über den Bosnienkrieg sich dem Fiktionalen annäherten, integrierten die fiktionalen Medien wie Romane und Comicstrips Elemente des Dokumentarischen. Eine heftige Diskussion über die Überschreitung der Grenze in beide Richtungen löste in der Presse Norbert Gstreins Handwerk des Tötens. Roman (2003) aus. Im Mittelpunkt der Sujetkonstruktion stehen biographische Fragmente aus dem Leben des im Kosovo ermordeten österreichischen Journalisten und Stern-Reporters Gabriel Grüner. Als hätte der Autor vorausgesehen, welche Irritation er bei den Angehörigen und welche Debatte er in der Literaturkritik auslösen sollte, gab er seinem Werk den Untertitel „Roman“. Bereits in der Widmung „Zur Erinnerung an Gabriel Grüner (1963-1999), über dessen Leben und Tod ich zu wenig weiß, als dass ich davon erzählen könnte“, betritt Gstrein einen zwischen literarischer Fiktion und biographischer Rekonstruktion oszillierenden Weg. Da für ihn die Wahrheit des Biographischen hinter den privaten und medialen Berichten nicht erschließbar war, konnte er, wie er später unterstreicht, nur dieses Verfahren wählen. Einerseits wird der Name, das Geburts- und das Todesjahr des Journalisten genannt, andererseits beteuert der Autor, dass er vom Verstorbenen zu wenig weiß, als dass er seine Lebensgeschichte erzählen könnte. Der Held des Romans ist tatsächlich nicht der fiktive österreichische Journalist Christian Allmayer, der übrigens ebenso wie Grüner aus Tirol stammt, in Innsbruck studiert hat, in Hamburg seinen Hauptwohnsitz hatte, über Jugoslawien-Kriege berichtet und im Kosovo zusammen mit seinem Photoreporter und Dolmetscher von einem He218
Derrida, Jacques: Die Postkarte von Sokrates bis an Freud und jenseits. 2 Bde. Berlin 1982 (fr. La Carte Postale de Socrate à Freud au-delà, Paris 1980).
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ckenschützen erschossen wird. Im Mittelpunkt stehen vielmehr ein Bekannter, Paul, dessen Versuch, nach dem Tod Allmayers dessen Biographie zu schreiben, scheitert, sowie weitere Freunde, Angehörige und Bekannte des Verstorbenen – einschließlich des anonymen, triumphierenden Ich-Erzählers. Diesem gelingt es nicht nur, am Ende den Roman zu schreiben, den der Leser soeben gelesen hat – eine Proustsche Konstruktion. Es gelingt ihm darüber hinaus, die kroatische Freundin Pauls, die zur Allegorie eines postnationalen Kroatien wird, zu erobern. Trotz der Ausflüchte des Autors entdeckten Angehörige, Bekannte und Kollegen Grüners in der Figur Allmayers eine Menge von Details aus dem Leben des Verstorbenen sowie Anspielungen auf dessen Arbeits- und Lebensumfeld. Manch einer erkannte sich selbst in den satirischen Beschreibungen wieder.219 Grüners Freundin, die Schriftstellerin Sabine Gruber, und die letzte Lebensgefährtin, Beatrix Gerstberger, die zum Zeitpunkt seiner Ermordung im sechsten Monat schwanger war, protestierten gegen Gstreins Umgang mit Grüners und ihrer eigenen Geschichte. Die erste erkannte sich in der Figur der Journalistin Lilly, die zweite in der seiner Witwe wieder. Literaturkritiker, denen die Biographie Grüners bekannt sein musste, wie Iris Radisch220 und Barbara Supp, warfen dem Autor nicht nur die indiskrete Vermischung von privaten biographischen Daten mit fiktiven Elementen, sondern auch – wie Peter Braun beobachtet – die schriftstellerischen Mängel des Romans vor.221 Gegen eine derartige „ästhetische Verkleidung der Kritik“ nimmt Braun Gstrein zwar in Schutz, was jedoch die Vermischung von Biographischem und Fiktivem betrifft, so wirft er dem Schriftsteller einen naiven Umgang mit dem Leser vor, von dem er entgegen der Sachlage fordere, alles Geschriebene als Erfindung zu betrachten. Er vergleicht Gstrein und seine ebenso mit dem Faktographischen arbeitenden Schriftstellerkollegen Uwe Johnson, W.G. Sebald und Marcel Bayer mit den „Trümmerfrauen“, die mit einer fast archäologischen Genauigkeit die Reste freilegen und sie von allen Seiten betrachten. „Am Wiederaufbau beteiligen sie sich nicht“, konstatiert Peter Braun. Waltraud „Wara“ Wende erkennt im prekären Verhältnis der außerliterarischen Realität einerseits und der freien literarischen Imagination anderer219
220 221
Gabriel Grüner wurde am 13. Juni 1999, ca. 40 km von Priština entfernt, in der Nähe des Dorfes Dulje aus dem Hinterhalt erschossen, ebenso wie sein Photograph Völker Krämer und sein albanischer Dolmetscher aus Mazedonien, Senol Alit. http://www.zeit.de/2004/01/L-Gstrein?page=1 (Zugriff: 19.01.2009). Eine Zusammenfassung der Rezensionen ist auf der Internetseite: http://www.perlentaucher.de/buch/14702.html (Zugriff: 19.01.2009) zu finden. Zum Umgang der Kritik mit Gstreins Roman und zur Reaktion der Lebensgefährtin: Braun, Peter: Im Trümmerfeld des Faktischen. Norbert Gstreins Meditationen über die Darstellbarkeit des Krieges. In: Beganović/Braun (Hrsg.) 2007, 247-279.
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seits „ein schwieriges und riskantes – ja vermintes – Gelände“.222 Sie stellt Gstreins Roman in die Tradition von Frank Wedekinds Oaha – Die Satire der Satire (1908), Klaus Manns Mephisto (1968), Marin Walsers Tod eines Kritikers (2002) und Michael Kumpfmüllers Durst (2003) und wirft den Kritikern vor, sie hätten „die mediale Differenz zwischen einem journalistisch-publizistischen Tatsachenbericht und einem literarisch-ästhetischen Werk übersehen“: „Romanschriftsteller dürfen außerliterarisches Material phantasievoll, selektiv und durchaus auch subjektiv arrangieren, ohne sich dabei an einer wie auch immer geratenen außerliterarischen ‚Wahrheit‘ oder ‚Moralität‘ orientieren zu müssen.“223 Sie bewundert die virtuosen Stilmittel des „hybrid konstruierten, kunstvoll verschachtelten, distanzierten, reflektierten und kopflastigen Romans über die Begleitumstände des – nie zu Ende gebrachten – Romanprojekts seines Bekannten Paul“,224 das Vexierspiel zwischen erzählter und nicht erzählter Geschichte aus zweiter oder gar dritter Hand und die Thematisierung des Buches im Buche. Den Roman deutet sie vor allem als eine Analyse der Unzuverlässigkeit der Kriegsberichterstattung, in der sich Kriegsreporter als unreliable narrators erweisen können: „Der Krieg und das Kriegsleben Allmayers, Töten und Tod – Inbegriff aller Grenzerfahrungen – sind post festum nicht authentisch zu fixieren, und sie können schon gar nicht in präzise Satzgefüge mit konstruierten Spannungsbögen transformiert werden.“225 Sie konstatiert, dass „im Fokus des Ich-Erzählers folgerichtig nicht der im Kosovo ermordete Kriegsberichterstatter“ steht, sondern vielmehr die Frage, wie man über den Krieg „schreiben oder nicht schreiben kann“ und „inwieweit und unter welchen Bedingungen eine mediale Annäherung an das ‚Handwerk des Tötens‘ gelingen kann“.226 222
223 224 225 226
Wende, Waltraud „Wara“: Als erstes stirbt immer die Wahrheit. Fakten und Fiktionen im intermedialen Diskurs. Norbert Gstreins Roman Das Handwerk des Tötens. In: Koch, Lars/Vogel, Marianne (Hrsg.), Imaginäre Welten im Widerstreit. Krieg und Geschichte in der deutschen Literatur seit 1900. Würzburg 2007, 169-183. Ebd., 172. Ebd., 172. Ebd., 176. Ebd., 177. Nicht ein wie auch immer geartetes ‚authentisches‘ Schreiben über die ‚Wahrheiten‘ des Krieges ist intendiert, sondern es geht um einen Beitrag zur Mediendebatte; im Zentrum stehen „Medienkritik“, „Erkenntnis und Darstellungszweifel“. Durch die im Roman inszenierte Beobachtung dritter Ordnung (das Beobachten des Beobachtens des Beobachtens), durch die Konstruktionen, Verfremdungen und reflektierten Distanznahmen, durch die Komplexität der virtuos verschachtelten und gebrochenen Perspektiven und das Einander-Durchdringens von realen und fiktiven Räumen wird vordergründiges Vertrauen auf nicht hinterfragte Eindeutigkeiten als bloße Illusion enthüllt, wird das gutgläubige Hinnehmen von sogenannten Fakten als leichtgläubiges Wirklichkeitsvertrauen demaskiert, rückt Nicht-Wissen an die Stelle von dokumentarischen Gesten. Ebd., 178f.
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Daher, so Wende, „leistet der Roman einen gelungenen Beitrag zur MedienDiskussion um die Darstellbarkeit von Krieg, Töten und Tod“ und macht dem Leser klar, dass „Mediennutzer lediglich Zaungäste des Unvorstellbaren“ seien, die immer nur über das Wissen ‚aus zweiter Hand‘ verfügen.227 Aber ist diese Unterscheidung wirklich so einfach? Warum zeigten sich gerade Angehörige und Bekannte der Schriftstellerin irritiert, die selbst fiktionale Texte schreiben? Gstrein kannte Gabriel Grüner, seinen Landsmann aus Tirol, nur flüchtig. Dennoch verfügte er – auch aus der Presse – über einige genaue biographische Daten, mit denen er den fiktiven Journalisten Christian Allmayer ausstattet. Die Biographie jedoch ergänzt er in entscheidenden Punkten mit fiktiven Elementen. Gerade dieser Aufbau auf Trümmern des Faktischen verursacht das Problem der Zuordnung bzw. der Grenzziehung zwischen dem Faktischen und dem Fiktionalen. Ein Beispiel von vielen möglichen: Nur eine kleine Veränderung erfährt die Sterbeszene Allmayers, in der die reale niederländische Krankenschwester, die Grüner pflegte, durch eine belgische ersetzt wird. Im Roman lässt der Autor sie gestehen, dass ihre Aussage, Allmayer habe vor dem Tod über seine Frau gesprochen, eine an die Presse gerichtete Sentimentalität gewesen sei. Das eigentliche Skandalon jedoch war ein zentraler Ausgriff über die Biographie Grüners hinaus – Gstrein erfindet ein Geheimnis Allmayers, das im Nachhinein als dessen innere Antriebsfeder für sein weiteres Erleben bis hin zum Tod gelesen werden muss. Ein erst spät aufgefundenes Tonband aus dem Nachlass Allmayers klärt die Zuhörer über die Begebenheiten im Lager einer paramilitärischen kroatischen Einheit während eines Interviews mit dem Kriegsverbrecher Slavko (der nach dem Vorbild des realen Arkan konstruiert wurde) auf. Allmayer hat sich nach dem Zeugnis des Tonbands von Slavko dazu bringen lassen, einen soeben gefangenen jungen Serben zu erschießen. Es bleibt unklar, ob der Mord nur unter Zwang geschah, oder ob neben der Angst Allmayers um das eigene Leben sein Wunsch, selbst die Erfahrung des Tötens zu machen, im Vordergrund stand.228 In dieser symbolischen Szene lässt Gstrein – wie Jean Baudrillard in seiner Theorie der Simulakren – nicht nur die 227
228
Ebd., 180f. „Die Toten in einem Roman sind – auch wenn die Leserschaft die unterschiedlichsten Bezüge auf die ‚wirkliche‘ Welt außerhalb des literarischen Imaginationsentwurfs herstellen kann – immer nur erfunden, die Toten in einem journalistischen Tatsachenbericht sind – wie klischeehaft und rührselig der Artikel auch immer organisiert sein mag – ‚wirklich‘ tot. Und Schriftsteller dürfen sich – dem Fiktionalitätsprogramm entsprechend – den literarischen Möglichkeitsraum ohne Rücksichten auf intersubjektive Tatsachenfundierung frei erfinden, Journalisten aber sollten genau dies nicht, sie sollten – der Tatsachenwirklichkeit verpflichtet – zumindest im Idealfall weder bewusst etwas dazu erfinden noch bewusst etwas verschweigen.“ Auch im Film Before the rain (maked. Pred doždot, 1994) des makedonischen Regisseurs Milčo Mančevski wird im dritten Teil des Films, betitelt als „Pictures“, ein Gefangener in Bosnien nur deshalb getötet, damit der Photoreporter neues und überzeugendes photographisches Material bekommen kann. Vgl. dazu: Iordanova 2007, 77-84.
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Grenze zwischen dem Faktischen und dem Fiktionalen, sondern auch die zwischen dem Berichterstatter und dem Täter fallen. Für die Angehörigen Grüners freilich wird in der Figur Allmayers das Andenken an den realen Journalisten beschmutzt. Die Umkodierung des Serben Arkan zum Kroaten Slavko konnte man demgegenüber als scheinbar ‚legitime’ Verteilung der Kriegsschuld auf alle beteiligten Nationen übersehen. Auch Spuren anderer realer Personen, wie die Peter Handkes, Susan Sontags und Juli Zehs, finden sich im Roman. Auch sie werden der satirischen Umarbeitung, dieses Mal im Stil eines Comicstrips, unterworfen. Doch auch von der spöttischen Charakterisierung dieser Vorgängerfiguren entlastet sich der Autor, indem er sie Paul, dem verhinderten Schriftsteller und Schreiber von Reiseberichten, in den Mund legt. Von Pauls Einschätzungen erfahren wir wiederum teilweise nur in indirekter Rede durch den anonymen IchErzähler, der wiederum über den gescheiterten Paul schreibt. Susan Sontag mutiert zu „der aufgetakelten New Yorker Zicke, die als Weltberühmtheit nach Sarajevo gekommen war und vor laufenden Kameras ein Durchschussloch in ihrem knöchellangen Pelzmantel vorgeführt hatte, als wäre es eine Trophäe“.229 Ein Auszug aus Juli Zehs Reisebericht Die Stille ist ein Geräusch (2000) wird in einem Absatz satirisch verarbeitet: Er [Paul] zerlegte ihre Reiseberichte, kaum dass sie erschienen waren, bis ins Detail, ließ nichts davon gelten, belustigte sich darüber, dass jeder Splitterstaat seinen Wirrkopf als Fürsprecher hatte und endete immer mit der Irrfahrt eines deutschen Girlies, das er die letzte Kraft-durch-Freude-Touristin nannte, einer höheren Tochter aus Berlin, die im Rahmen eines Praktikums für eine Fernsehanstalt blind durch die ehemaligen Kampfgebiete gezogen war und sich darüber in einem kopf- und besinnungslosen Hauptsatzstakkato verbreitete, eine verrannte Romantikerin, die es für das größte Abenteuer hielt, wenn sie unter freiem Himmel auf die Strasse pinkelte und mit ihrem Hund in jede Minenabsperrung absichtlich hineintappte, um dann aller Welt per SMS direkt vor Ort des Geschehens mitteilen zu können, in welcher Gefahr sie sich befand.230
Peter Handkes Domizil auf der Insel Krk wird zwar auf Brač verlegt und er selbst als ein tyrannischer Ehemann beschrieben, der die Politik bis in die Ehe hineinträgt. Doch seine überstürzten politischen Handlungen, allgemein bekannt aus der Presse, machen die Figur erkennbar. Er [Peter] saß neben mir auf einer Bank auf dem Oberdeck und sagte von ihm, dass er für seinen demonstrativen Besuch in Pale und die unhaltbaren Positionen in seinen Artikeln zum Krieg bekannt gewesen war, ideologische Verranntheiten, die ihn nach dem Fall von Vukovar die Angreifer verteidigen lassen hatten, um nur ein Beispiel zu erwähnen, seine Verblendung, dass sich alles genauso wiederholen müsste wie vor fünfzig Jahren, weil er dann mit seinen ewigen Warnungen davor recht gehabt hätte.231
229 230 231
Gstrein 2003, 76. Gstrein 2005, 235f. Ebd., 289f.
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In seiner Nachschrift Wem gehört eine Geschichte? Fakten, Fiktionen und ein Beweismittel gegen alle Wahrscheinlichkeit des wirklichen Lebens (2004) wehrt sich Gstrein gegen die „Entschlüsselungsversuche“ und kündigt eine „Offenlegung“ an, wie es in seinem Roman um das Verhältnis zwischen Fakten und Fiktionen bestellt sei.232 Er habe niemandem seine Geschichte geklaut, sondern durch sein Schreibverfahren, das die Konstruiertheit aller Realität betone, eine neue Art von Realität konstruiert.233 Sooft ich auch wiederholte, dass ich nur die grundsätzliche Skepsis zum Ausdruck brachte, die mein Schreiben vorantreibt und gleichzeitig behindert, sooft ich mich zu der Aussage verstieg, dass dahinter in kürzester Form meine Poetik stecke, und mich auf das biblische Gebot berief, sich kein Bild zu machen, oder gar den Satz von Uwe Johnson zitierte, „Wo die Realität nun ungenau bekannt ist, würde ich nicht versuchen, sie bekannter darzustellen“, es half nichts.234
Der Roman sei von einem unerträglichen Photo des Ermordeten in der Presse angeregt worden, das die Ermittlungen über die Hintergründe des Mordes illustrierte. Die Pressephotos als Spuren der Realität dienten Gstrein für die Entfaltung seiner Geschichte, in der der Exzess der visuellen Bilder durch den Exzess der beschreibenden Bilder bekämpft wird – in einem nie zu Ende geführten Wettstreit, ja Kampf zwischen Bild und Text. Es war jedoch das Bild darüber [über der Schlagzeile „Der feige Mord“], das zuerst meine Aufmerksamkeit auf sich zog, ein Toter am Straßenrand, in blauem Hemd und heller Hose, sein Gesicht nicht erkennbar, halb dem Betrachter zugekehrt, in einer Blutlache, die man bei der schlechten Druckqualität und der zu großen Auflösung erst auf den zweiten Blick ausmachen konnte. Ich dachte sofort, das darf nicht sein, eine derartige Abbildung, auf der er schutzlos dalag, wie er tatsächlich dagelegen war, denn auch wenn er in Wirklichkeit nach Stunden von einem Spähtrupp der Bundeswehr geborgen wurde, auf dem Photo blieb er, millionenfach vervielfältigt, für immer so liegen. Es stellte die Leiche des Photographen zu Schau, „von einem Kopfschuss tödlich getroffen“, wie es darunter hieß, und diese Aufnahme sollte knapp zwei Jahre später auch das Hamburger Magazin abbilden, für das die beiden gearbeitet hatten. Mochte es im ersten Schock noch Skrupel gegeben haben, solches Material zu verwenden, waren die nun verschwundenen, die Konturen des Körpers darauf auch viel schärfer, die Augenpartie dafür unkenntlich gemacht, und es zeigte einen größeren Ausschnitt, auf dem ein davonfahrender Panzer samt seinen Kettenspuren zu sehen war, ein Metallteil, das eine Radkappe sein konnte, sowie zwei andere, vielleicht Patronenhülsen, und im Hintergrund ein Stück einer Grasböschung, ein paar Sträucher und einen wolkenlosen Himmel.“235
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Gstrein, Norbert: Wem gehört eine Geschichte? Fakten, Fiktionen und ein Beweismittel gegen alle Wahrscheinlichkeit des wirklichen Lebens. Frankfurt a. M. 2004, 9. Ebd., 10. Ebd., 11. Ebd., 13f.
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Ein weiteres Photo, das Grüner im Sterben zeigt, benutzt Gstrein für die Konstruktion der Sterbeszene im Roman, welche die Empörung der Lebensgefährtin ausgelöst hat.236 Er liegt auf einer Bahre, noch am Leben, und eine Ärztin und ihre Helfer von Médecins sans Frontières, die zufällig am Ort vorbeigekommen waren, versorgen ihn. Der Blick richtet sich unweigerlich zuerst auf sein Gesicht, irrt gleich danach aber schon über das blutverschmierte Hemd und den notdürftig angelegten Verband um seinen Bauch und bleibt schließlich an seiner rechten Hand hängen, die auf dem aufgestützten Arm hochgesteckt ist, die Finger gekrümmt wie die eines Kindes, Daumen und Zeigefinger an den Kuppen zusammen, als müsste er eine schwierige Aufgabe bewältigen, die Feinarbeit verlangte, oder gar seine Rettung selbst dirigieren. „He did the business well“, heißt es desillusioniert und im Bewusstsein der unauflösbaren Paradoxie, die das in der Situation ausdrückte […]237
Wie sich die Photoreporter die Geschichte Grüners, ihres Kollegen zu Eigen machten, so ist auch für Gstrein jedes Schreiben „immer eine Okkupation“, in der sich seine Romanfigur Allmayer des realen Reporters Grüner bemächtigt.238 Wie in der Kriegsführung Opfer nicht geschont werden, kann auch Gstrein „nicht sagen, wo bei all dem Gabriel Grüner bleibt, was auf ihn zutrifft und was nicht“.239 Durch seinen Roman wiederhole der Leser dieselbe Erfahrung der Nähe und des verbotenen Blicks, wie er sie als Zuschauer vor dem laufenden Fernsehgerät erlebe – allerdings bewusst. Die Konstruktion seiner „dreidimensionalen Personen“ vergleicht Gstrein mit Danilo Kiš’ Anatomiestunde, die dieser nach der Veröffentlichung der Geschichten in Ein Grabmal für Boris Davidovič (1976) verfasste, welche ebenso einen Skandal ausgelöst hatten.240 Es ist der Blick, der dem des Zuschauers vor dem Fernsehen entspricht, äußerste Nähe bei gleichzeitiger Distanz, der vielleicht verbotene Blick, der mich wie alle anderen automatisch involviert hat. Deshalb ist es zuallererst meine Geschichte, wenn ich eine Geschichte der jugoslawischen Kriege schreibe, wie die Medien sie vermitteln, und damit mein Unbehagen kundtue, den Wunsch, aus der aufgezwungenen Nähe aufzubrechen, die bei diesen Ereignissen etwas Unanständiges hat, und zu einem an236
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Ebd., 64f. „Es ist mir Pietätslosigkeit vorgeworfen worden in der Beschreibung der letzten Stunden von Allmayer, weil ich die belgische Krankenschwester, die bei ihm war, erzählen lasse, sie habe nur für die Zeitungen und weil alle danach lechzten, gesagt, ‚der Arme habe in einem fort nach seiner Frau gefragt und nicht aufgehört, davon zu reden, wie sehr er sie liebe‘, in Wirklichkeit aber einzig und allein wissen wollte, ob er sterben müsse. Ich verstehe den Wunsch nach Trost, aber mir war daran gelegen, seine Verlassenheit zu zeigen, so weit weg von zu Hause am Straßenrand liegend zu verbluten, so dass sie in die Situation auch nichts anderes erwidern kann als ‚Du stirbst nicht, glaub mir, du stirbst nicht‘, obwohl sie es natürlich besser weiß.“ Ebd., 14f. Ebd., 31. Ebd., 23. Ebd., 84-86.
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deren Umgang mit den Bildern zu gelangen, am Ende auch zu einer anderen Art Nähe, die aber nur durch fortwährende Distanzierung erreicht werden kann.241
In seinem Roman, so Gstrein, habe er nicht nur exemplarisch die Erfahrung des Krieges gezeigt, sondern auch mit Seh- und Wahrnehmungsgewohnheiten gebrochen, sodass sein Werk beinahe „seine Gattungsbezeichnung wie ein Warenschild tragen müsste, also Achtung Roman“.242 So wie sein Roman die Bezeichnung „Roman“ trägt, so wurde um das Buch Wem gehört eine Geschichte? ein Band mit der Inschrift „Based on true story“ geklebt. Seine Verteidigungsschrift endet schließlich auf dem Balkan: Der Balkan ist letztlich Schuld daran, dass die wahre Geschichte zur bloßen Story wird. In der Antwort auf die Kritiker erzählt er, wie er mit seiner kroatischen Begleiterin im Palace Hotel in Zagreb von einem Hotelportier mit dem Namen I. Radiš empfangen worden sei. Dessen Namensschild lässt der Autor als Beweisstück in seiner Verteidigungsschrift reproduzieren. Der Name habe beim Autor die Erinnerung an die Kritikerin Iris Radisch ausgelöst, in deren kroatischer Abstammung er nun den wahren Grund für ihre Unzufriedenheit mit seinem Buch sieht. Unverblümt schiebt er seiner Kritikerin nationalen Chauvinismus unter. Einen weiteren Sprung von der Realität in die Fiktion erlebt der Autor in der Nähe von Užice in Serbien, wo Männer in Hemden mit der Aufschrift Tiger und mit Tschetnik-Kappen, wie Arkans Paramilizionäre, an der Bar sitzen. Es war nicht das erste Mal auf meinen Reisen durch Kroatien und Bosnien und jetzt auch durch Serbien, dass ich mich gegen den Eindruck wehren musste, aus der Wirklichkeit direkt in eine Fiktion geraten zu sein, in der sich im schlimmsten Fall der Schrecken nicht mehr von der Folklore des Schreckens unterscheiden ließ.243
Den Ort im Kosovo, an dem Gabriel Grüner erschossen worden ist, habe Gstrein nie aufgesucht. Wie der Ich-Erzähler im Roman, so möchte er die Distanz bewahren, um nicht wie der Möchtegern-Schriftsteller Paul Realität mit Fiktion zu vermischen und schließlich Selbstmord zu begehen. Es sei für ihn ein Tabu gewesen, dorthin zu fahren, „geradeso, als bestimmte die eingehalten Entfernung die Distanz meines Schreibens zu seinem Leben“.244 Gstreins Roman ist daher nicht nur als ein Beitrag zur Mediendiskussion, sondern zugleich als ihr Symptom zu lesen.
241 242 243 244
Ebd., 35f. Ebd., 65. Ebd., 100. Ebd., 103.
VIII. Zusammenfassung In der Monographie werden Prozesse der Integration und Desintegration, der Inklusion und Exklusion nicht nur auf dem Balkan, sondern auch im breiteren europäischen Diskurs von 1830 bis heute analysiert. Die Untersuchung ist nicht nur auf Westeuropa beschränkt (wie in der bisherigen Forschung die Arbeiten von Maria Todorova bis zu Slavoj Žižek), sondern schließt auch Russland und andere osteuropäische Länder ein. Unterschiedliche negative kulturelle Zuschreibungen aus Ost und West fanden im Laufe des 19. Jahrhunderts in der Sammelbezeichnung „Balkan“ zu einer Einheit. Die zerstrittenen, korrupten und bankrotten Kleinstaaten, in Reiseberichten in ihrer Gesamtheit oft als „Pulverfass“ bezeichnet, wurden wegen ihres „dissoziativen Weges“ zum Nationalstaat als ein Derivat des europäischen, „assoziativen“ nation building angesehen. Der Balkan, dessen dissoziativer Charakter sich auch in der oft vorkommenden pluralischen Form des Namens spiegelt (fr. les Balkans, engl. the Balkans, russ. Balkany), avancierte zum Ort, an dem sich verschiedene Begriffe des Sekundären – des Kopierten, des Abgeleiteten, des Retardierten, des Nachträglichen, des Supplementären und des Simulakralen – in ihren diskursiven und nichtdiskursiven Repräsentationen manifestierten. Als Sackgasse, die von den Hauptwegen der Geschichte wegführt, war der Balkan Ab-Weg und Un-Zeit zugleich. Die Diskursivierung des Balkans setzte mit dem Niedergang der philhellenischen Begeisterung für Griechenland ein. Jakob Phillipp Fallmerayer, Mitglied der bayerischen Akademie der Wissenschaften, aber auch Poeten wie der Russe Puškin und der Pole Michaił Czajkowski drückten nach der Befreiung Griechenlands 1829 ihre Enttäuschung über die Entwicklung auf dem Balkan aus. Die heutigen Bewohner von Hellas seien nicht die Erben der hellenischen Helden, sondern unorganisierte Kämpfer oder gar hinterhältige Räuber, nicht in der Lage, den neu entstandenen Nationalstaat zu führen. In Reiseberichten und Abenteuerromanen sowie in namhaften literarischen Werken russischer ‚Klassiker‘ wie Lermontov, Turgenev und Tolstoj traten orientalistische Vorurteile an die Stelle antiker Ideale. Mit dem Machtverlust des Osmanischen Reiches in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gingen imperialistische Ansprüche Russlands und Österreich-Ungarns einher. Legitimiert wurden diese in antagonistischen Diskursen von Pangermanisten und Panslawisten. Unter unterschiedlichen Vorzeichen nahm der Balkan darin eine prominente Rolle ein. Die Balkan-Stereotype – von Fatalismus und Primitivität bis zu Hinterhältigkeit und Blutrünstigkeit – verlieren zu Beginn des 20. Jahrhunderts ihre feste Form und werden entgrenzt. Der Balkan wird zum Ort imaginärer, erotischer Reisen, zu einem Labyrinth entfesselter Phantasmen. Bislang war nicht bekannt, dass der Balkan als Phantasma sich Ende des 19. Jahrhunderts
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schon dem Beginn der Psychoanalyse eingeschrieben hat. Freud reiste 1897 nach Bosnien, wo er eine für die Entdeckung des Todestriebes folgenreiche Erfahrung machte. Nach der Übernahme des Protektorats über Bosnien 1878 hatten sich in österreich-ungarischen Reiseberichten Ärzteanekdoten über bosnische Patienten gehäuft. Sie waren ein wichtiger Hintergrund für seine Reiseerfahrungen, die in erste selbstanalytische Schriften Eingang fanden. Der Balkan etablierte sich in Freuds Imagination als Region jenseits des Lustprinzips, wo sich krankhafte Erotik mit thanatologischen Phantasmen verband. Der Impuls ging aber nicht nur von den Reiseberichten zu den Ärzten, sondern auch in umgekehrter Richtung. Reisende auf den Balkan beschrieben ihre Route als labyrinthische, erotische Exkursionen oder gar als Ansteckung mit psychischen Krankheiten, von denen sie sich erst befreien konnten, nachdem der letzte Schleier des Landes gelüftet worden war. Sogar in Photographien aus den Kriegen um den Zerfall Jugoslawiens in den 1990er Jahren, in denen sich Faktisches mit Fiktionalem mischte, wird das Echo der alten Balkanphantasmen vernehmbar. Das entfesselte Bild des Balkans hatte begonnen, seine eigenen Realitäten zu schaffen. Als Baudrillard sich während der jugoslawischen Zerfallskriege in den 1990er Jahren mit der Kriegsberichterstattung auf dem Balkan auseinandersetzte, fand er dort, wie er meinte, den empirischen Beweis für seine zuvor entwickelte Theorie der simulakralen Hyperrealität. Die lange Untätigkeit des Westens während der Belagerung von Sarajevo führte er darauf zurück, dass der Vernichtungskrieg gegen die Bosnier nur ein längst bestehendes BalkanPhantasma bestätigte. Insofern konnte sich in der Realität nichts mehr ereignen, was im medialen Simulakrum nicht längst schon stattgefunden hatte. Der Westen diskutierte nur noch über die Bilder, die früher Bekanntes immer neu zu animieren schienen, nicht über die in ihnen dargestellte Wirklichkeit. Daher bargen die medialen Repräsentationen für Baudrillard zunächst auch keine Handlungsimpulse mehr. Im Simulakrum schien das Phantasma nicht nur wirksamer, sondern wirklicher geworden zu sein als die Realität. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde das Negative und Sekundäre aus der Sicht von Ost und West zu einem affirmativen, multikulturellen Modell umkodiert. Im Blick nach innen und nach außen wurden dabei unterschiedliche Projektionen und Imaginationen politisch aktiviert. Der zersplitterte Balkan, Ort der Dissoziation, wurde zur summa partiorum der jugoslawischen Republiken sowie der autonomen Provinzen aufaddiert. Die nunmehr postulierte „Brüderlichkeit und Einheit“, Erbe des gemeinsamen Partisanenkampfes gegen die Nazibarbarei, überschrieb die Blutrünstigkeit ethnisch-religiös motivierter Bürgerkriege. Die nach innen ideologisch herbeigeschriebene Harmonie fand in der Selbstdarstellung nach außen ihre Entsprechungen. Die Position des unentschlossenen, konturlosen Dazwischen wurde durch mehrere Strategien ins Positive gewendet. Auf den Bruch mit Stalin 1948 reagierte die kommunistische Führung durch die Erfindung eines „dritten Weges“; auf die Konfrontation zwischen NATO und Warschauer Pakt antwortete sie 1956
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durch die Gründung der Bewegung der Blockfreien, die auf einer Konferenz in Belgrad 1961 den Namen „dritte Welt“ erhielt. Die Position des Dritten besetzte das ideologisch befriedete Jugoslawien jedoch nicht nur nach Außen, mit Blick auf die kulturpolitischen Prägungen in Ost und West, sondern es spiegelte diese nach innen zurück und fand „Drittheit“ nunmehr auch in der eigenen Vergangenheit. Die jugoslawischen Ideologen sahen in der häretischen Sekte der Bogomilen einen dritten Weg antizipiert. Diese waren religiöse Dualisten des Hochmittelalters, die sich nicht nur von der West- und Ostkirche abgegrenzt, sondern durch die Konvertierung zum Islam Mitte des 15. Jahrhunderts auch das multikulturelle Bosnien vorweggenommen hatten. Die Konstruktion eines Bogomilentums, welches die jugoslawische Identität vorwegnimmt, war nur durch die Beschwörung einer doppelten Negation möglich: Dem Weder-Noch gegenüber dem westlichen und dem östlichen Christentum entsprach das zweifache Nein auf der politischen Ebene, mit dem man sich vom kommunistischen Osten ebenso wie vom kapitalistischen Westen abgrenzte. Vorbild für den „dritten Weg“ war daher eine politische Form der negativen Theologie, die in das eigene Mittelalter zurückgespiegelt wurde. Jugoslawische Kulturpolitiker wie der kroatische Schriftsteller Miroslav Krleža oder der serbische Autor und Kurator Oto Bihalji-Merin instrumentalisierten die doppelte Negation als Argumentation für den autonomen Weg zwischen dem Warschauer Pakt und der NATO. Auf einer Aufsehen erregenden Ausstellung der mittelalterlichen Kunst Jugoslawiens im Palais de Chaillot in Paris im Jahre 1950 wurden die bogomilischen Grabstelen und die mazedonischen Fresken als künstlerische Antizipationen eines „dritten Weges“ gedeutet. In den Texten im Katalog und in der Presse avancierte die doppelte Negation zur Schlüsselstrategie für die politische Theologie der Tito-Ära. Als politische Identität zwischen Ost und West konzipiert, erweiterte man den „dritten Weg“ nun zum Modell kultureller Autonomie. Nach dem Vorbild der häretischen Denkmodelle wurden die negativen Zuschreibungen auf den Kopf gestellt: Der alte hegemoniale Transfer, der von Europa in Richtung Balkan verlief, wurde mithilfe des Begriffs der Antizipation ins Gegenteil gewandt. Jugoslawien wurde zur terra vergine, aus der Gegensätzliches hervorgegangen war, die aber nach wie vor in der Lage war, die Gegensätze miteinander zu versöhnen. Rückständigkeit wurde durch die vermeintlich archaisch-ursprüngliche jugoslawische Kultur ersetzt, die sich den kulturellen Einflüssen aus Ost und West schon immer hatte entziehen können. Im Namen des neo-primitivistischen Kulturkonzepts förderte man die sogenannte naive Kunst von Autodidakten, die als unverfälschter Ausdruck des sozialistischen Volkes interpretiert wurde. Die vermeintliche „Brüderlichkeit und Einheit“ des gemeinsamen Partisanenkampfes sollte die nationalen und religiösen Konflikte überdecken. Aus räuberischem Hajdukentum wurde die Vorwegnahme des heldenhaften Partisanenkampfs, Zei-
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chen der Bereitschaft, sich selbstlos für die Schwachen aufzuopfern. Ethnische Differenzen verschwanden hinter dem Folklorismus, den Tänzen und Trachten des Norden und des Südens. All dies zielte darauf ab, die unterschiedlichen Ethnien Jugoslawiens, die ja keineswegs durchweg durch den Partisanenkampf geeint worden waren, in einen vermeintlich vornationalen Zustand der ‚Stammesbrüderschaft‘ zurückzuversetzen. Der angestrebte postnationale Zustand des sich selbst verwaltenden Kollektivs wurde zur historischen Identität Jugoslawiens verallgemeinert. Die Brüder-Idylle sah man entsprechend auch in der Gegenwart am Werk. Die kapitalistischen Elemente im jugoslawischen Sozialismus wurden wiederum als Erfolge der befreiten, sich selbst verwaltenden Arbeiterschaft verbucht, die ihre Früchte bereits hic et nunc genießen könne – und nicht erst in der imaginären Zukunft einer klassenlosen Gesellschaft, auf die man in der Sowjetunion oder andernorts im Ostblock zu warten hätte. Dem Westen zeigte das Land das Doppelgesicht eines humanen Sozialismus und eines verführerischen Konsumparadieses, dem Osten präsentierte es sich als kommunistisches Paradebeispiel, das einfacher und dadurch schneller hatte erreicht werden können als bei den Erben asiatischer Despotien. Tito, ihren prometheischen Gründungshelden, überlebte die verordnete Idylle nur um wenige Jahre. Mit den jugoslawischen Zerfallskriegen brachen die alte Balkandiskurse wieder in Südosteuropa ein. In wenigen Konfrontationen nach dem Ende des Kalten Kriegs war die mythische Vergangenheit so präsent wie auf dem Balkan. Hinter moderner, nationalistischer Propaganda und hinter neuen Formen des medial angeheizten Rassismus sah man die balkanische Vormoderne am Werk. Dies gilt für die Täter wie für ihre Opfer, für die verfeindeten Kriegsparteien wie für die internationalen Interventionstruppen. Kriegshetzer kehrten zu ‚Urszenen‘ der nationalen Geschichte zurück, um sich auf Sendungen gegen die balkanisch Anderen berufen zu können. Beobachter im westlichen wie im östlichen Ausland deuteten die Jugoslawien-Zerfallskriege dagegen stereotyp als fatale, ‚atavistische‘ Rückkehr zum uralten Bruderzwist. Die verschiedensten Aktivierungen von Balkan-Stereotypen und -Phantasmen kamen zeitgenössischen politischen Interessen entgegen – vom Machterhalt bis zu nationalen Aspirationen. Obwohl immer wieder der Bruch mit Tito-Jugoslawien hervorgehoben wird, offenbarte die postjugoslawische nationalistische Propaganda auch Kontinuitäten mit der Tito-Ära. Der jugoslawische Archaismus und Folklorismus, mit denen man in der Tito-Zeit im Ausland zu touristischen Zwecken warb, wurden nun von einigen der Nachfolgestaaten Jugoslawiens für die jeweiligen nationalen Zwecke umfunktioniert. Sie fanden ihre Fortsetzung in der nationalistischen Turbo-Folk-Musik und in der Verehrung nationaler Heiligtümer. Die serbische Heldenepik, die den mittelalterlichen Kampf gegen Türken und Islam besang, wurde in der Tito-Zeit durch Partisanenlie-
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der ersetzt, die den Kampf gegen den Faschismus lobpriesen. In der postkommunistischen Ära wurden die Partisanenhymnen wieder zu vermeintlich archaischen, antimuslimischen Gesängen. Auch die „Brüderlichkeit und Einheit“ konnte erstaunlich leicht in ihr Gegenteil umgedichtet werden – an die Stelle der Stammesvereinigung trat die Fehde. Unter einer einmal multiethnischen, einmal nationalen Hörerschaft stiften die gleichen Lieder mythische Einheit und die Abgrenzung nach außen. Das jugoslawische Kulturmodell wurde vom transnationalen zum nationalen, oft zum nationalistischen umfunktioniert. Diejenigen Mythen, die früher zur Stiftung der jugoslawischen Einheit eingesetzt worden waren – wie der Mythos der Schlacht auf dem Amselfeld – wurden in der postjugoslawischen Zeit in den Mythos der Desintegration umgedeutet. Während des Ersten Weltkriegs sah man in der KosovoSchlacht von 1389 den gemeinsamen Kampf aller Südslawen (einschließlich der Bosnier) und der nichtslawischen Albaner gegen das Joch der Achsenmächte als Wiederholung der Kosovo-Schlacht von 1389. In den späten 1980er und in den 1990er Jahren wurden die Bosnier und die Albaner dann der feindlichen Seite zugeordnet. Die nationalistische Umdeutung der Mythen erfolgte nach inzwischen erprobtem Schema als Austausch von Gegensatzpaaren. Manche Formationen postkommunistischer Kultur auf dem Gebiet des ehemaligen Jugoslawiens erscheinen weniger als Bruch mit dem transnationalen jugoslawischen Erbe als vielmehr dessen nationale, ja nationalistische Fortsetzung. Das jugoslawische Beispiel zeigt, dass nicht nur Syntheseleistungen, sondern auch doppelte Exklusionen zu integrativen Prozessen führen können. Gerade die Umkodierung negativer Balkan-Diskurse in Ost- und Westeuropa verhalfen Jugoslawien zu einem positiven Image bei den blockfreien Staaten in Afrika und Asien. Mit der Entschärfung des Ost-West-Konflikts sind nicht nur die Rolle Jugoslawiens und der Blockfreien Vergangenheit geworden, sondern auch ihre ideologische Identitätsgrundlage. Für die permanente, bis heute andauernde Krise auf dem Balkan ist die Erkenntnis wichtig, dass sich die Integrationsprozesse immer wieder auf anti-europäische Affekte gestützt haben. Diese Vergangenheit wirkt noch während der Annäherung an Europa nach. In den südosteuropäischen Ländern entfaltet sich bis heute ein paradoxer Doppeldiskurs, in dem einerseits das eigene „Balkanische“ exorziert wird, sich jedoch gerade als Verdrängtes in anti-europäischen Parolen und Ausnahmeregelungen noch bemerkbar macht. Diese widersprüchlichen Identitätsmodelle erschließen sich erst mit Blick auf die Tradition des Balkandiskurses im Westen wie auch im Osten dem Verständnis.
IX. Abbildungen Abb. 1: Antike Ruinen in Bulgarien. In: Viktor Tepljakov, Briefe aus Bulgarien. Geschrieben in der Zeit des Feldzugs im Jahre 1829/Pis’ma iz Bolgarii. Pisani vo vremja kampanii 1829 goda. Moskva 1833, s.p. Abb. 2: Die Donau-Armee. Nachhut der türkischen Armee, nach Skizzen unserer Korrespondenten, Zeichnung Fritz van Haanen, Holzstich J. Baranovskij, Illustrirovannaja chronika vojny 2, Nr. 61, 1878, 88. In: Martina Baleva, Das Imperium schlägt zurück. Bilderschlachten und Bilderfronten im Russisch-osmanischen Krieg 1877-1878. In: Martina Baleva/Ingeborg Reichle/Oliver Lerone-Schultz (Hrsg.), Image Match. Visueller Transfer, ‚Imagescapes‘ und Intervisualität in globalen Bildkulturen, München 2012, 87-108 2012, 94. Abb. 3: Luca Signoreli, Selbstporträt mit Fra Angelico, Dom in Orvieto, Kapelle San Brizio, 1499-1502. In: Girolamo Mancini, Vita di Luca Signorelli, Fierenze 1903, 11. Abb. 4: Luca Signorelli, Selbstporträt, Detail. In: Robert Vischer, Luca Signorelli und die italienische Renaissance. Eine kunsthistorische Monographie, Leipzig 1879, s.p. Abb. 5: Luca Signorelli, Das Jüngste Gericht. Die Verdammten, Detail, Dom in Orvieto, Kapelle San Brizio, 1499-1502. In: Web Gallery of Art, created by Emil Kren and Daniel Marx, http://www.wga.hu/frames-e.html?/html/s/signorel/index.html, http://www.wga.hu/support/viewer/z.html (Zugriff: 17.02.2007). Abb. 6: Luca Signorelli, Das Jüngste Gericht. Die Verdammten, Detail, Dom in Orvieto, Kapelle San Brizio, 1499-1502. In: Web Gallery of Art, created by Emil Kren and Daniel Marx, http://www.wga.hu/frames-e.html?/html/s/signorel/index.html, http://www.wga.hu/support/viewer/z.html (Zugriff: 17.02.2007). Abb. 7: Diagramm des Verdrängungsprozesses. In: Sigmund Freud, Zum psychischen Mechanismus der Vergesslichkeit. In: Monatsschrift für Psychiatrie und Neurologie IV/3, 1898, 440. Abb. 8: Anonym, Photographie einer Spinnerin. In: Gino Bertolini, Muselman und Slaven. Dalmatien – Istrien – Kroatien – Bosnien und Herzegowina. Zweite Ausgabe. Autorisierte Übersetzung aus dem Italienischen von M.[artha] Rumbauer, Leipzig 1911, 47. Abb. 9: Herzegowinische moslemische Frau in Strassentoilette. In: Anton Hangi, Die Moslims in Bosnien-Hercegovina. Ihre Lebensweise, Sitten und Gebräuche. Autorisierte Übersetzung von Hermann Tausk, Sarajevo 1907, 217. Abb. 10: Irwin, Porträt von Slavoj Žižek anlässlich des 100. Geburtstags von Lacan, Photo: Michael Schuster, 2001. In: Arns, Inke (2002): Laibach, Irwin, Gledališče sestr Scipion Nasice, Kozmokinetično gledališče Rdeči pilot, Kozmokinetično kabinet Noordung, Novi kolektivizem, Neue Slowenische Kunst NSK. Eine Analyse ihrer künstlerischen Strategien im Kontext der 1980er Jahre in Jugoslawien, Regensburg, 32.
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Abb. 11: Freuds Wiener Behandlungszimmer, 1938. In: Claudia Benthien/Hartmut Böhme/Inge Stephan (Hrsg.), Freud und die Antike, Göttingen 2011, 141, Abb. 4. Abb. 12: Tanja Ostojić, Untiteled/The EU-Slip, Photo: David Rych, 2004. http://www.kultur.at/howl/tanja/ (Zugriff: 17.02.2007). Abb. 13: Tanja Ostojić, The EU-slip als Plakat auf Wiener Straßen. http://www.kultur.at/howl/tanja/ot/index.htm (Zugriff: 17.02.2007). Abb. 14: „Die Donauländer und der Balkan“. In: Republika, 23.12.1947, Titelseite. Abb. 15: Karge Berglandschaft in Jugoslawien. In: Abram Room, In den Bergen Jugoslawiens (V gorach Jugoslavii), 1946. Abb. 16: Orientalischer Innenraum in Mostar. In: Abram Room, In den Bergen Jugoslawiens (V gorach Jugoslavii), 1946. Abb. 17: Italienische Faschisten ergeben sich ohne Kampf, Abram Room, In den Bergen Jugoslawiens, 1946. Abb. 18: Der Anführer des Aufstandes Slavko Babić im Schafspelz. In: Abram Room, In den Bergen Jugoslawiens (V gorach Jugoslavii), 1946. Abb. 19: Der Anführer des Aufstandes Slavko Babić mit der Axt in der Hand. In: Abram Room, In den Bergen Jugoslawiens (V gorach Jugoslavii), 1946. Abb. 20: Slavko Babić entscheidet sich für die Partisanen-Familie. In: Abram Room, Film In den Bergen Jugoslawiens (V gorach Jugoslavii), 1946. Abb. 21: Der Tod Slavko Babićs. In: Abram Room, Film In den Bergen Jugoslawiens (V gorach Jugoslavii), 1946. Abb. 22: Russische Kanonen, Abram Room, In den Bergen Jugoslawiens, 1946. Abb. 23: Russische Panzer, Abram Room, In den Bergen Jugoslawiens, 1946. Abb. 24: Partisan schwingt die jugoslawische Fahne vor dem Reiterdenkmal des Königs Miloš Obrenović, Abram Room, In den Bergen Jugoslawiens, 1946. Abb. 25: Tito salutiert mit den Sowjets vor der sowjetischen und jugoslawischen Fahne, Abram Room, In den Bergen Jugoslawiens, 1946. Abb. 26: Antun Augustinčić, Das Denkmal für die Rote Armee, Batina Skela an der Donau. In: Republika. Mjesečnik za književnost, umjetnost i javna pitanja IV/3, 1948, 212. Abb. 27: Vera Muchina, Arbeiter und Kolchosbäuerin, 1937. In: Wera Muchina. Einleitung von D. E. Arkin, Dresden 1958, 26. Abb. 28: Slavko Pengov, Wandmalerei in der Regierungsvilla in Bled, Ausschnitt, 1947. http://www.vila-bled.de/events/geschaftstreffen (Zugriff: 05.01.2011). Abb. 29: Zdenko Kalin/Karel Putrih, Arbeit und Jugend, Villa Rožnik in Ljubljana, 1949. In: Jugoslawien. Illustrierte Zeitschrift. Herbst 1950, Hrsg. Oto Bihalji-Merin, 2. Abb. 30: P. Vasil’ev, V. I. Lenin und I. V. Stalin, Pravda Nr. 126, 5. März 1948, Titelseite. Abb. 31: Ėl Lisickij, Schlag die Weißen mit dem roten Keil/Bej belych krasnym klinom, 1919-20. In: Sophie Lissitzky-Küppers (Hrsg.), El Lissitzky. Maler, Architekt, Typograph, Fotograf. Erinnerungen, Briefe, Schriften, Dresden 1967, Abb. 40. Abb. 32: Anonym, Tito contra Stalin. Streit der Diktatoren in ihrem Briefwechsel, Hamburg 1949 (Europäische Verlagsanstalt), Titelseite.
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Abb. 33: Hristifor Nastasić, Der Bohrturm in Gojlo, Kroatien. In: Jugoslawien. Illustrierte Zeitschrift. Herbst 1950, Hrsg. Oto Bihalji-Merin, Beograd 1950, 7. Abb. 34: Slavko Smolej, Die Montage der Cowper-Apparate in Sisak, Kroatien, Jugoslavija. Illustrierte Zeitschrif. Herbst 1950, Hrsg. Oto Bihalji-Merin, Beograd 1950, Herbst 1950, 5. Abb. 35: Anonym, Arbeiter. In: Živorad Stojković, Jugoslawien in Form und Gestaltung, Beograd 1960, 101, 102. Abb. 36: Krsto Hegedušić, Die Schlacht bei Stubice, 1948. In: Fritroy Maclean, Fritzroy, Tito. A Pictorial Biography, London 1980, 20, 21. Abb. 37: Tito in seinem Arbeitszimmer mit Hegedušićs Gemälde im Hintergrund. In: Fritzroy Maclean, Tito. A Pictorial Biography, London 1980, 111. Abb. 38: Der Eingang ins Palais de Chaillot in Paris mit dem Plakat zur Ausstellung L’art médiéval yugoslave, 1950. In: Jugoslawien. Illustrierte Zeitschrift. Im Herbst 1950, Hrsg. Oto Bihalji-Merin, Beograd 1950, 52. Abb. 39: Portal des Meisters Radovan, im Hintergrund der Saal mit Bruchstücken von Originalfresken. In: Jugoslavija. Illustrierte Zeitschrift. Herbst 1950, Hrsg. Oto Bihalji-Merin, Beograd, 53. Abb. 40: Der große Grabsäulen-Sall. In: Jugoslavija. Illustrierte Zeitschrift. Herbst 1950, Hrsg. Oto Bihalji-Merin, Beograd 1950, 61. Abb. 41: Bogomilischer Sarkophag in Radmilje. In: L’art médiéval Yugoslav. Moulages et copies exécutés par des artistes Yougoslaves et Français, exhibition catalogue, Paris [Les presses artistiques] 1950, pl. 7. Abb. 42: Partisanen, versteckt hinter den Bogomilenstelen. In: Veljko Bulajić, Die Schlacht an der Neretva (Bitka na Neretvi), 1969. Abb. 43: Partisanin im Schutz der Bogomilenstelen. In: Veljko Bulajić, Die Schlacht an der Neretva (Bitka na Neretvi), 1969. Abb. 44: Josef Leo Seifert, Die Rolle der Slawen in der Geschichte Europas. In: Abendland, Slawentum und Ostkirche. Drei Beiträge zur Unionsfrage (= Vorträge und Abhandlungen der Österreichischen Leo-Gesellschaft 33, 34), Wien 1926, 22. Abb. 45: Vojislav Stanić, Ochsen, Öl, 1956. In: Jugoslavija. Illustrierte Zeitschrift. Zeitgenösische jugoslawische Malerei, Beograd 1957, 4. Abb. 46: Petar Smajić, Bauer (1956). In: Oto Bihalji Merin (Hrsg.), Die Kunst der naiven in Jugoslavien, Beograd 1959, 121. Abb. 47: Mijo Smok, Kopf eines Mannes mit Schnurrbart, 1956. In: Oto Bihalji Merin (Hrsg.), Die Kunst der Naiven in Jugoslavien, Beograd 1959, 134. Abb. 48: Ivan Generalić, Kastanien werden geröstet, 1950. In: Oto Bihalji Merin (Hrsg.), Die Kunst der Naiven in Jugoslavien, Beograd 1959, 7. Abb. 49: Mara Puškarić-Petras, Schwimmer an der Petrička, 1977. In: Naivni 87. Galerija grada Zagreba, Zagreb 1987, 43. Abb. 50: Dragan Gaži, Hochzeitsfest, 1956. In: Oto Bihalji Merin (Hrsg.), Die Kunst der naiven in Jugoslavien, Beograd 1959, 67. Abb. 51: Bogdan Bogdanović, Partisanendenkmal in Knjaževac in Serbien, 1969-71. In: Architekturzentrum Wien (Hrsg.), Bogdan Bogdanović. Memoria und Utopie in Tito-Jugoslawien, Klagenfurt 2009, 91.
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Abb. 52: M. Grčević, Die Überreste der Kuppel des Vestibuls, Diokletian-Palast in Split. In: Jugoslawien. Illustrierte Zeitschrift. Herbst 1950, Hrsg. Oto Bihalji-Merin, Beograd 1950, 110. Abb. 53: S. Smolej, Wassertunnel bei Moste. In: Yugoslavia. Illustrated Magazine, Winter 1950, Hrsg. Oto Bihalji-Merin, Beograd 1950, 50. Abb. 54: Julija Gril-Dabac, Dudelsackpfeifer von der Insel Rab, Jugoslavija. Illustrierte Zeitschrift. Sommer 1951, Hrsg. Oto Bihalji-Merin, Beograd 1951, 6. Abb. 55: Tošo Dabac, Montenegrienerin aus Cetinje. In: Jugoslawien. Illustrierte Zeitschrift 6, 1952, 9. Abb. 56: M. Pfajfer, Neue Elektromaste. In: Yugoslavia. Illustrated Magazine. Winter 1950, Hrsg. Oto Bihalji-Merin, Beograd 1950, 56. Abb. 57: M. Pavić, Ohrider Fischer besichtigen ihre Netze. In: Jugoslavija. Illustrierte Zeitschrift, Beograd 1952, 40. Abb. 58: P. Karamatijević, „Kampf um das Mädchen“. Schwertertanz aus der Rugova Schlucht, Kosovo. In: Jugoslavija. Illustrierte Zeitschrift 6, Hrsg. Oto Bihalji-Merin, Beograd 1952, 17. Abb. 59: N. Štiler, Unter der Kuppel des Diokletian-Mausoleums und Zdenko Kalins und Karel Putrihs Relief Arbeit und Jugend. In: Jugoslawien. Illustrierte Zeitschrift. Herbst 1950, Hrsg. Oto Bihalji-Merin, Beograd 1950, 112, 113. Abb. 60: Žuko Džumhur, Illustrationen zu Branko Čopićs „Häretische Geschichte“. In: Književne novine. Organ Saveza književnika Jugoslavije 3/34, 22.08.1950, 2, 3. Abb. 61: Žuko Džumhur, Illustrationen zu Branko Čopićs „Häretische Geschichte“. In: Književne novine. Organ Saveza književnika Jugoslavije 3/34, 22.08.1950, 2, 3. Abb. 62: Žuko Džumhur, Illustrationen zu Branko Čopićs, „Häretische Geschichte“. In: Književne novine. Organ Saveza književnika Jugoslavije 3/34, 22.08.1950, 2, 3. Abb. 63: Vladimir Ilič tritt aus Milenas Schrank. In: Dušan Makavejev, WR – Mysterien des Organismus (WR-Misterije organizma), 1971. Abb. 64: Vladimir Ilič tritt aus Milenas Schrank. In: Dušan Makavejev, WR – Mysterien des Organismus (WR-Misterije organizma), 1971. Abb. 65: Tošo Dabac, Städtisches Strandbad in Dubrovnik. In: Jugoslavija. Illustrierte Zeitschrift 12, Hrsg. Oto Bihalji-Merin, Beograd 1956, 51. Abb. 66: M. Grčević, Strand bei Makarska. In: Yugoslavia. Illustrated Magazine. Winter 1950, Hrsg. Oto Bihalji-Merin, Beograd 1950, 82. Abb. 67: Tošo Dabac, Die Stadtmauern in Dubrovnik. In: Jugoslawien. Illustrierte Zeitschrift 12: Reisen, Hrsg. Oto Bihalji-Merin, Beograd 1956, 50. Abb. 68: M. Grčević, Stadtpark in Dubrovnik. In: Jugoslawien. Illustrierte Zeitschrift 12, Hrsg. Oto Bihalji-Merin, Beograd 1956, 49. Abb. 69: M. Djordjević, Auf dem Gipfel des Kablar in Serbien. In: Jugoslawien. Illustrierte Zeitschrift 12: Reisen, Hrsg. Oto Bihalji-Merin, Beograd 1956, 102. Abb. 70: Tošo Dabac, Mit dem Segelboot auf offenem Meer. In: Jugoslawien. Illustrierte Zeitschrift 12: Reisen, Hrsg. Oto Bihalji-Merin, Beograd 1956, 37. Abb. 71: Tito auf der Fahrt durch Titograd, frühe 1960er Jahre, http://www.titoville.com/images/tito-v-titogradu.jpg, (Zugriff: 21.12.2009).
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Abb. 72: Peter Žibert, Tito mit Jovanka, frühe 1960er Jahre http://www.titoville.com/images/Josip%20Broz%20Tito%20and%20Jovanka %20Broz%20on%20Train_jpg.jpg, (Zugriff: 21.12.2009). Abb. 73: Tošo Dabac, Mazedonisches Motiv. In: Živorad Stojković, Jugoslawien in Form und Gestaltung, Beograd 1960, 37. Abb. 74: Djordje Popović, Die Bucht von Kotor in Montenegro. In: Jugoslawien in Form und Gestaltung, Hrsg. Živorad Stojković, Beograd 1960, 120. Abb. 75: Tošo Dabac, Erdpyramiden bei Foča. In: Živorad Stojković, Jugoslawien in Form und Gestaltung, Beograd 1960, 72. Abb. 76: Timothy O’Sullivan, Canyon de Chelle in Arizona, 1870er Jahre. In: Framing the West. The Survey Photographies of Thimothy H. O’Sullivan, Ed. Toby Jurovics et al., New Haven-London 2010, 89. Abb. 77: Pierre Brice und Gojko Mitić in der Karl-May-Verfilmung Unter Geiern, 1964. In: Frank-Burkhard Habel, Gojko Mitic, Mustangs, Marterpfähle. Die DEFA-Indinaerfilme. Das große Buch für Fans, Berlin 1997, 7. Abb. 78: Albin Rogelj, „Nas i gusala 200 miliona“. In: Nedeljne informativne novine, 23.10. 1988, 21. Abb. 79: Guslespiel. In: Nedeljne informativne novine, 30.07.1989, 21. Abb. 80: Ivan Meštrović, Selbstporträt. In: Exhibition of the Works of Ivan Meštrović, London 1915, s.p. Abb. 81: Ivan Meštrović, Miloš Obilić. In: Branimir Vizner-Livadić, Izložba Meštrović-Rački, Zagreb 1910, s.p. Abb. 82: Ivan Meštrović, Der Königssohn Marko. In: Oto Bihalji-Merin, Yugoslav Sculpture in the twentieth century, Beograd 1955, 44. Abb. 83: Ivan Meštrović, Verletzter serbischer Kriger mit dem Kosovo-Mädchen. In: Branimir Vizner-Livadić, Izložba Meštrović-Rački, Zagreb 1910, s.p. Abb. 84: Ivan Meštrović, Serbischer Krieger im Kampf. In: Exhibition of the Works of Ivan Meštrović, London 1915, s.p. Abb. 85: Ivan Meštrović, Witwe mit dem Säugling. In: Branimir Vizner-Livadić, Izložba Meštrović-Rački, Zagreb 1910, s.p. Abb. 86: Ivan Meštrović, Entwurf des Kosovo-Tempels. In: Kosta Strajnić, Ivan Meštrović, Beograd 1919, Abb. 35. Abb. 87: Ivan Meštrović, Modell des Kosovo-Tempels. Eingang. In: Kosta Strajnić, Ivan Meštrović, Beograd 1919, Abb. 36-39. Abb. 88: Ivan Meštrović, Modell des Kosovo-Tempels. Seitenansicht. In: Kosta Strajnić, Ivan Meštrović, Beograd 1919, Abb. 36-39. Abb. 89: Ivan Meštrović, Sphinx und Karyatiden. In: Branimir Vizner-Livadić (Hrsg.), Izložba Meštrović-Rački, Zagreb 1910, s.p. Abb. 90: Hl. Krieger, Politika intervju. Boj na Kosovu, 28. Juli 1988, Titelblatt. Abb. 91: Hl. Krieger, Nordchor Dreifaltigkeits-Kirche in Resava/Manasija, 1407-18. In: S. Radojčić, Srpska umetnost u srednjem veku, Beograd u.a. 1982, 149, Abb. 78. Abb. 92: Werbung für die südserbischen Rotweinsorten „Zar Lazar“, „Zarin Milica“, Politika intervju. Boj na Kosovu, 28. Juli 1988, s.p. Abb. 93: Janko Vujinović, Kosovo je grdno sudilište, Beograd 1989, 208-209. Abb. 94: Fürst Lazar bei der Kommunion. In: Zdravko Šotra, Kampf im Kosovo (Boj na Kosovu), Belgrad 1989.
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Abb. 95: Der Maler Makarij und der blinde Mönch Teofan. In: Zdravko Šotra, Kampf im Kosovo (Boj na Kosovu), Belgrad 1989. Abb. 96: Trauende Frau auf dem serbischen Golgatha. In: Orthodoxie oder Tod. Das serbische Golgatha (Pravoslavie ili smert’. Serbskaja Golgofa), Hrsg. A. Rjumin u.a., St. Petersburg, 1999, Titelseite. Abb. 97: Marina Abramović, Balkan Barock, Biennale in Venedig, 1997. http://images.artnet.com/WebServices/picture.aspx?date=20080402&catalo g=133405&gallery=110895&lot=00685&filetype=2; (Zugriff: 05.01.2010). Abb. 98: Marina Abramović, Balkan Erotic Epic, Video, 2005. In: Adelina von Fürstenberg (Hrsg.), Balkan Epic, New York-London 2006, s.p. Abb. 99: Bosnische Flüchtlinge hinter dem Stacheldraht im Sammellager Trnopolje, 1992. In: http://static.guim.co.uk/sys-images/Guardian/Pix/pictures/2008/ 07/26/Trnopolje10b.jpg; (Zugriff: 05.01.2013). Abb. 100: James Nachtwey, Eingang ins Krankenhaus in Grosny während der russischen Bombardierung, 1995. In: James Nachwey, Inferno, New York 1999, Titelbild. Abb. 101: James Nachtwey, Kroatischer Milizionär schießt aus dem Schlafzimmer auf die muslimischen Nachbarn in Mostar, 1993-94. In: James Nachtwey, Inferno, New York 1999, Abb. 198. Abb. 102: James Nachtwey, Kosovo-Flüchtlinge unter der Plastikplanen, 1999. In: James Nachwey, Inferno, New York 1999, Abb. 434. Abb. 103: Ron Haviv, Serbische Paramilitionäre beim Aufspüren und Töten moslemischer Zivilisten in Bijeljina (Bosnien), 1992. In: Jean-Luc Godard, Je vous salue, Sarajevo, Photo im Video, 1993. Abb. 104: Ron Haviv, Željko Ražnatović-Arkan mit seinen „Tigern“, 1991. http://www.artnet.de/artwork/424177753/726107/serbian-tiger-leader.html: (Zugriff: 12.12.2009). Abb. 105: Jean-Luc Godard, Je vous salue, Sarajevo, Video, 1993. Abb. 106: Jean-Luc Godard, Je vous salue, Sarajevo, Video, 1993. Abb. 107: Hermann [Huppen], Et d’autres encore…, Sarajevo-Tango, Dupuis 1995, 6. Abb. 108: Das Photo des Schriftstellers Karim Zaimović. In: Joe Kubert, Fax from Sarajevo. A Story of Survival, s.l. 1996, s.p. Abb. 109: Szene aus Sarajevo, Photo. In: Joe Kubert, Fax from Sarajevo. A Story of Survival, s.l. 1996, 193. Abb. 110: Szene aus Sarajevo, Photo. In: Joe Kubert, Fax from Sarajevo. A Story of Survival, s.l. 1996, 194. Abb. 111: Joe Kubert, Szene aus Sarajevo, Fax from Sarajevo. A Story of Survival, s.l. 1996, 35. Abb. 112: Joe Kubert, Szene aus Sarajevo, Fax from Sarajevo. A Story of Survival, s.l. 1996, 67. Abb. 113: Der schlafende Sohn Rustemagićs, Photo. In: Joe Kubert, Fax from Sarajevo. A Story of Survival, s.l. 1996, 198. Abb. 114: Joe Kubert, Der schlafende Sohn Rustemagićs. In: Joe Kubert, Fax from Sarajevo. A Story of Survival, s.l. 1996, 121. Abb. 115: Joe Kubert, How can I put into words, Fax from Sarajevo. A Story of Survival, s.l. 1996, 36.
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Abb. 116: Joe Kubert, Don’t laugh. That’s additional armor, Fax from Sarajevo. A Story of Survival, s.l. 1996, 80. Abb. 117: Joe Kubert, The comic books are not for reading, Fax from Sarajevo. A Story of Survival, s.l. 1996, 174. Abb. 118: Joe Kubert, Mad max has become a reality, Fax from Sarajevo. A Story of Survival, s.l. 1996, 86. Abb. 119: Enki Bilal, Monstre l’integrale. Le sommeil du monster. 32. décembre. Rendez-vous à Paris / Quatre?, Casterman, 2007, Umschlagseite. Abb. 120: Postkarte Bosnia Now, Photo Edition © Peucel FLS, Original Design by Field Logistics Support, 2000.
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BD. 1 | NATASCHA DRUBEK-MEYER, JURIJ MURAŠOV (HG.) DAS ZEIT-BILD IM OSTEURO PÄISCHEN FILM NACH 1945 2010. VI, 247 S. MIT 35 S/W-ABB. GB. ISBN 978-3-412-16606-9
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BD. 4 | NATASCHA DRUBEK RUSSISCHES LICHT VON DER IKONE ZUM FRÜHEN SOWJETISCHEN KINO 2012. 526 S. MIT 153 S/W- UND 22 FARB. ABB. GB. | ISBN 978-3-412-20456-3
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