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German Pages 496 Year 2015
Michael Busch, Jan Jeskow, Rüdiger Stutz (Hg.) Zwischen Prekarisierung und Protest
Michael Busch, Jan Jeskow, Rüdiger Stutz (Hg.)
Zwischen Prekarisierung und Protest Die Lebenslagen und Generationsbilder von Jugendlichen in Ost und West
Unterstützt durch den Sonderforschungsbereich 580 an den Universitäten Jena und Halle
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Vorwort Einleitung MICHAEL BUSCH/JAN JESKOW/RÜDIGER STUTZ
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Prekarität als gesamtgesellschaftliche Herausforderung Génération Précaire – ein europäisches Phänomen? KLAUS DÖRRE Génération Précaire – Ambivalenz und Reichweite einer neuen Selbstzuschreibung STEFFEN SCHMIDT
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Prekäre Lebenslagen von Jugendlichen in Ost und West Generation ohne Aufstieg: Griechenlands Jugend zwischen Prekarisierung, selektivem Wohlfahrtsstaat und familialem Wandel PARASKEVI GREKOPOULOU Ambivalente Generationsverhältnisse hinter der Génération Précaire. Am Beispiel eines deutsch-polnischen Vergleichs KATARZYNA KOPYCKA/REINHOLD SACKMANN Zwischen Annäherung und Spaltung – soziale Probleme ostdeutscher Jugendlicher im Ost-West-Vergleich WILFRIED SCHUBARTH/KARSTEN SPECK
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Erfahrungen ostdeutscher Jugendlicher auf dem Weg vom DDR- zum Bundesbürger. Ergebnisse aus 20 Jahren Sächsische Längsschnittstudie HENDRIK BERTH/PETER FÖRSTER/ELMAR BRÄHLER/ FRIEDRICH BALCK/YVE STÖBEL-RICHTER
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Unsicherheit und Benachteiligung – Lebensperspektiven junger Erwachsener in (Ost-)Deutschland KARL AUGUST CHASSÉ
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Kulturelle Erfahrungsräume und Generationenzuschreibungen Die Konstruktion der Generation PR(ekär/aktikum). Zur medialen Transformation essayistischer Generationenkonzepte und ihrer Rezeption im Horizont konjunktiver Erfahrungsräume BURKHARD SCHÄFFER
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Europäische Perspektiven Précarité und Prekarität: Zur Thematisierung der sozialen Frage des 21. Jahrhunderts im deutsch-französischen Vergleich FRANZ SCHULTHEIS/STEFAN HEROLD Generation P: Von Luft und Wissen leben? FRAUKE AUSTERMANN/BRANKO WOISCHWILL Generation Praktikum: Hochschulabsolventen in Deutschland und Italien zwischen Fremdzuschreibung und subjektiver Wahrnehmung TABEA SCHLIMBACH Die nachholende Generation? Anmerkungen zur Beschleunigung der Generationslagerung Jugendlicher im Neuen Westen Europas HERWIG REITER
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Deutsch-Deutsche Perspektiven Verfleißigung Ost? Ostdeutsche Arbeitnehmer als Avantgarde der totalverzweckten Gesellschaft PETER F. N. HÖRZ/MARCUS RICHTER
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Leben ohne „Lehrmeister“: Generationsbilder von ostdeutschen Jugendlichen der 1990er Jahre ANTJE KRÜGER/RÜDIGER STUTZ
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Schwieriges Erbe. Selbstdeutungen junger Ostdeutscher zwischen Familiensolidarität und Generationendifferenz UTA KARSTEIN
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Generation X, 89er oder Génération Précaire? – Überlegungen zu einer Generationenrhetorik zwischen historischer Zäsur und der Krise des Wohlfahrtsstaates MARTIN GLOGER
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Prekäre biographische Lagen und der Wir-Sinn einer neuen Jugendgeneration MICHAEL CORSTEN/HARTMUT ROSA
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Anhang
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Autorinnen und Autoren
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Vorw ort
Ohne Zweifel beschleunigt die gegenwärtige Wirtschafts- und Finanzkrise die Umstrukturierung der postfordistischen Arbeitsgesellschaft in den vergangenen Jahrzehnten. Mehr als wahrscheinlich ist, dass bestimmte Industriesegmente und ihre Zulieferbereiche von weiteren Betriebsschließungen und dramatisch sinkenden Beschäftigungszahlen bedroht sind. Dadurch werden sich auf absehbare Zeit auch die Erwerbsmöglichkeiten und Ausbildungschancen von Jugendlichen und jungen Erwachsenen tendenziell verschlechtern. Sie blicken in eine ungewisse Zukunft. Ob politische Reformkonzepte wie die Lissabon Strategie im Maßstab der Europäischen Union bzw. die Agenda 2010 in Deutschland die Neue soziale Frage in ihren Auswirkungen dämpfen oder eher verschärfen werden, muss hier offen bleiben. In Medien und wissenschaftlichen Diskursen ist jedoch schon heute eine zunehmende Reflexion über die Folgen spürbar, die sich aus dem Umbau des bestehenden Sozialsystems für Jugendliche und kommende Generationen ergeben. Öffentliche Jugendproteste flammten dagegen bislang nur vereinzelt in Europa auf. Angeregt durch die mediale Berichterstattung über die französischen Praktikanten- und Studierendenproteste veranstaltete das Teilprojekt A1 des Sonderforschungsbereichs 580 an den Universitäten Jena und Halle unter Leitung von Prof. em. Lutz Niethammer im Dezember 2007 einen Workshop. Im Mittelpunkt stand die Frage, ob die im Zuge dieser Protestaktionen aufgekommene Generationszuschreibung génération précaire auch auf Ostdeutschland und Osteuropa anwendbar ist, weil dort die Verunsicherung und Verstetigung prekärer Beschäftigungsverhältnisse und Lebenslagen noch stärker die gesamte Gesellschaft erfasst hat. Außerdem wurde auf dieser Tagung diskutiert, inwieweit dieses Generationsbild auch von ostdeutschen und osteuropäischen Jugend9
ZWISCHEN PREKARISIERUNG UND PROTEST
lichen selbst angenommen wird und wie sich die Prägungen des jeweiligen Erfahrungsraums in die Deutung der sozialen Umwelt einschreiben. Aufgrund der breiten Resonanz und der kontroversen Diskussionen entschlossen wir uns zu diesem Buchprojekt, das ganz bewusst einen interdisziplinären Ansatz verfolgt. Beiträgerinnen und Beiträger aus den Kultur-, Verhaltens- und Sozialwissenschaften geben aus unterschiedlichen Perspektiven einen ersten Forschungsüberblick über die Prekarisierungsprozesse unter Jugendlichen in Europa und verfolgen dabei die Leitfragen: Wie wirken sich die Umstrukturierungsprozesse von Wirtschaft und Wohlfahrtsstaat auf die Lebenslagen und Selbstbilder von Jugendlichen aus? Wie verarbeiten sie die zunehmende Verunsicherung in den westlichen Überflussgesellschaften bzw. in den Zusammenbruchsund Transformationsgesellschaften Osteuropas? Verbindet sie tatsächlich ein kollektives Wir-Gefühl? Die hier vorgelegten Ergebnisse können freilich nur der Ausgangspunkt für weitere systematische Untersuchungen in der sozial- und kulturwissenschaftlichen Jugendforschung sein. Bedanken möchten wir uns bei allen Autoren für die gute und engagierte Zusammenarbeit. Erst dadurch wurde die zügige Drucklegung möglich. Besonderer Dank gilt dem SFB 580 für die finanziellen Unterstützung und Herrn Burkhart vom transcript Verlag für die verständnisvolle Betreuung des Projekts. Bei der redaktionellen Bearbeitung haben wir uns der Vereinfachung halber dafür entschieden, nur männliche Sprachformen im Fließtext zu verwenden. Lediglich an den Textstellen, die explizit mit dem Geschlecht argumentieren, werden auch weibliche Sprachformen verwendet. Für eine vereinfachtere Darstellung wurde bei den zitierten Internetquellen auf die Angabe einer ausführlichen Internetadresse verzichtet. Alle Internetquellen konnten bis August 2009 durch die Angabe von Autor und Titel über das Suchportal Google ermittelt werden. In Kurztiteln und Transkriptionen verwendete Abkürzungen können im Anhang nachgeschlagen werden. Die Herausgeber, Jena im Oktober 2009
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Einleitung MICHAEL BUSCH/JAN JESKOW/RÜDIGER STUTZ Im Oktober 1990 protestierten mehrere hunderte Jugendliche, darunter viele maghrebinische Immigranten der zweiten Generation, drei Tage und Nächte auf den Straßen einer bis dahin weithin unbekannten Arbeitervorstadt von Lyon. Zuvor hatte ein Streifenwagen einen Motorradunfall verursacht, an dessen Folgen ein Jugendlicher aus diesen niedergehenden, tristen Vorortsiedlungen – den banlieues – verstorben war. Im Verlaufe der eskalierenden Straßenschlachten mit der Polizei und den Sondereinsatzkommandos des französischen Innenministeriums wurden mehrere Dutzend Menschen verletzt und 200 Autos in Brand gesetzt. Durch den Ort zog sich ein Streifen verwüsteter Gebäude und Geschäfte. Über Jahre sollten diese gewaltsamen Proteste die öffentlichen Auseinandersetzungen in Frankreich nachhaltig beeinflussen. Vergleichbare Unruhen flammten zu Beginn der 1990er Jahre in den sozialen Brennpunkten verschiedener britischer Großstädte und in den Ghettos und Barrios von Los Angeles auf. Auch hier waren in erster Linie Jugendliche aus den verarmten und häufig verwahrlosten vorstädtischen Quartieren an den Krawallen und regelrechten Straßenkämpfen beteiligt gewesen. Politik und Medien führten die Welle der Gewaltausbrüche auf die seit Längerem bestehenden ethnisch-„rassischen“ Konfliktherde in den großstädtischen Vorortsiedlungen zurück. Sie seien durch die Verbitterung und den Frust von ethnischen bzw. außereuropäischen Minderheiten entfacht worden. Diese Perspektive verstellte allerdings den Blick auf einen anderen, tiefer liegenden gesellschaftlichen Wandlungsprozess. Nach Auffassung von Loїc Wacquant würde sich nämlich bei einer genaueren Analyse dieser von subproletarischen Jugendlichen angeführten Unruhen eine von Land zu Land variierende Kombination zweier Logiken offenbaren: eine Logik des Protestes gegen ihre ethnisch11
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„rassische“ Diskriminierung und eine soziale Klassenlogik, nach der die verarmten, ja deklassierten Teile der einst so stolzen Arbeiterklasse gegen ihre hoffnungslose Lage auf dem Arbeitsmarkt und die extreme Verschlechterung ihrer Lebensbedingungen revoltierten (Wacquant 2009: 94). Denn unter den protestierenden und randalierenden Jugendlichen befanden sich auch Kinder aus alteingesessenen französischen und britischen Industriearbeiterfamilien, die ähnliche Grundforderungen stellten, wie ihre Altersgenossen mit Migrationshintergrund. Wie jene klagten sie anständige Jobs, sichere Schulen, bezahlbare Wohnungen und eine faire Behandlung durch Vertreter der staatlichen Behörden ein. Solche maßgeblich von Jugendlichen bzw. jungen Erwachsenen angeführte Krawalle erschüttern nun schon seit mehr als zwei Dekaden diverse Metropolen und große Städte Westeuropas und der USA. Sie wurzeln in vielfältigen, jeweils landesspezifischen Spannungsverhältnissen, die durch die tendenzielle Auflösung eines Grundkompromisses in diesen Gesellschaften verschärft wurden. Der Soziologe Robert Castel kennzeichnete ihn als „den sozialen Kompromiss des Industriekapitalismus“ seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs (Castel 2009a: 21). Die Schere sozialer Ungleichheit geht in den westlichen Gesellschaften also wieder auseinander. Und die demokratisch legitimierte Politik sieht sich vor immer größere Probleme gestellt, einer sozialräumlichen Konzentration des wirtschaftlichen Niedergangs und der Stigmatisierung heruntergekommener Quartiere des Sozialwohnungsbaus in der Öffentlichkeit entgegen zu wirken. Allerdings veränderte sich das Bild des jugendlichen Protests im Jahre 2006 auffallend, als Studierende und Jugendliche wochenlang friedlich durch die Straßen der französischen Hauptstadt zogen und ausgelassen den „ersten europäischen Praktikantenstreik“ proklamierten. Christoph Amend sprach in der ZEIT sogar von der Artikulation eines europaweiten Lebensgefühls der in den 1980er Jahren geborenen Jugendlichen und brachte es auf den Begriff der „gefühlten Verunsicherung“. Freilich vermochte er es wegen der „ewigen Besonnenheit“ dieser Jahrgangsgruppe nicht ganz ernst zu nehmen (Amend 2006). Die demonstrative Zurückhaltung des Protests der „Generation Praktikum“ gründe vielleicht in der Besorgnis, „aus einer heilen Welt“ herausfallen zu können. Eine dunkle Vorahnung, die diese Jugendlichen sogar mit ihren Eltern teilen würden. Gemeinsam ergreife sie nun die Angst der gesamten Mittelschicht vor dem Absturz in prekäre Beschäftigungsverhältnisse und Arbeitslosigkeit. Prekär werde die eigene Lebenssituation von den Eltern empfunden, weil sie den ererbten Wohlstand nicht mehr auf ihre Kinder übertragen könnten. Die jungen Demonstranten von Paris habe das in ihrer Befürchtung bestärkt, in der 12
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Konsum- und Karrieregesellschaft des Westens – als erste Jugendgeneration überhaupt – keine „Zukunft“ mehr zu finden. Osteuropäische bzw. ostdeutsche Jugendliche blieben in dieser Interpretation von Amend freilich außen vor, schließlich wuchsen sie in keiner Überflussgesellschaft auf. Ihre Verunsicherung müsste sich folglich aus anderen Quellen speisen. Die Publizistin und Wissenschaftlerin Ines Geipel verortete die Selbstorientierungen von ostdeutschen Jugendlichen denn auch zwischen „Trauma und Blockade“. Die „allgemeine Landflucht ostdeutscher Alphamädchen und die signifikant hohe Gewaltbereitschaft junger Männer“ bewertete sie kurzer Hand als Ausdruck einer „Faschisierung der Ost-Provinzen“ (Geipel 2005). Trotz solcher unterschiedlichen Erklärungsansätze stimmen die meisten sozialwissenschaftlichen Analysen heute darin überein, dass die Ursachen für die Wiederkehr von prekärer Beschäftigung, sozialer Unsicherheit und Armut in den reichen Ländern des Westens bzw. Mitteleuropas eng mit strukturellen Veränderungen in den Kern- und Randbereichen der postfordistischen Arbeitsgesellschaft zusammenhängen.
Prekäre Lebenslagen In Anlehnung an die Forschergruppe um den Jenaer Industrie- und Arbeitssoziologen Klaus Dörre verstehen wir im Folgenden Prekarität als „eine gesellschaftliche Tendenz zur Verallgemeinerung sozialer Unsicherheit, deren Ursprung vornehmlich im ökonomischen und Erwerbssystem der Gesellschaft zu verorten ist“ (Dörre in diesem Band). Mit der Erosion des Normalarbeitsverhältnisses und dem – in den westeuropäischen Staaten zunehmenden – Abbau wohlfahrtsstaatlicher Sicherungssysteme wird die bisher sicher geglaubte Normalität in Frage gestellt. Insofern ist Prekarität ein relationaler Begriff, der vom gegebenen jeweiligen Normalitätsmaßstab abhängig ist. Jugendliche und junge Erwachsene sind von diesen Entwicklungen besonders betroffen, handelt es sich doch bei diesem Lebensabschnitt um eine Statuspassage, die nach Bildungs- und Ausbildungsphasen in ein geregeltes Erwerbsverhältnis führen sollte. Prekarisierungsgefahr droht dabei an zwei zentralen Schwellen: beim Übergang von den allgemeinbildenden Schulen in Ausbildungsverhältnisse und an der Schwelle des Übergangs in den Arbeitsmarkt (Chassé in diesem Band). Die Bewältigung dieser Schwellen stellt Jugendliche in ganz Europa zunehmend vor erhebliche Probleme. So stieg die Jugenderwerbslosenquote in der EU-27 unter Einfluss der anhaltenden Wirtschafts- und Finanzkrise im ersten Quartal 2009 auf rund 5 Millionen, was gegenüber dem Vorjahr einem Anstieg um 3,7% auf insgesamt 18,3% aller Jugendlichen zwischen 15 und 24 Jahren ent13
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spricht. Die Jugenderwerbsquote stieg damit schneller als die Gesamterwerbslosenquote (Eurostat 2009a). Mehr als 40% der jugendlichen Arbeitnehmer in der EU-27 stehen in einem befristeten Arbeitsverhältnis. Neben den offensichtlich mit eingerechneten Ausbildungsverhältnissen gaben jedoch 37,1% an, keinen unbefristeten Arbeitsplatz gefunden zu haben (Statistisches Bundesamt 2009: 24f). Mehr denn je scheint also ein problemloser Eintritt in Ausbildungs- und Arbeitsverhältnisse in Frage gestellt: Befristete Arbeitsverträge, Teilzeitarbeit, staatlich gestützte Weiterqualifizierungen aber auch Phasen von Selbstständigkeit – mithin Erwerbs- und Lebensverhältnisse mit hoher Prekarisierungsgefahr – dehnen die Jugendphase bis weit ins Erwachsenenalter aus (Chassé in diesem Band). Hinzu kommen längere Ausbildungszeiten aufgrund erhöhter Anforderungen der neuen Wissens- und Informationsgesellschaft. So steigt die Zahl der Hochschulabsolventen innerhalb der EU-27 stetig an, auf zuletzt 30% aller 25-34jähren (Eurostat 2009b). Höhere Bildungsabschlüsse sind daher eine notwendige, aber keineswegs mehr hinreichende Voraussetzung für einen problemlosen Eintritt in den Arbeitsmarkt. Gerade in Zeiten wirtschaftlichen Abschwungs verringern zwar tertiäre Bildungsabschlüsse gegenüber niedrigeren Qualifikationen die Risiken von Erwerbslosigkeit (OECD 2009: 4). Dennoch gestaltet sich auch für Hochschulabsolventen – je nach Fachbereich – der Übergang in ein reguläres Beschäftigungsverhältnis immer problematischer (Briedis 2007: 177 ff.; Schlimbach in diesem Band). Infolge zunehmender Prekaritätsphasen gewinnen familiäre Netzwerke für Jugendliche an Bedeutung, da sie soziale, kulturelle, emotionale, aber auch verstärkt ökonomische Unterstützung gewähren (Biggart et.al. 2003). Bezüglich ihrer finanziellen Möglichkeiten ist jedoch eine deutliche Differenz innerhalb Europas festzustellen. So besteht ein Gefälle zwischen nord- und mitteleuropäischen Staaten einerseits sowie mediterranen und postsozialistischen Staaten andererseits. Trotz eines ökonomischen Aufholprozesses treten sowohl beim Bruttoinlandsprodukt pro Kopf als auch beim Primäreinkommen der Privathaushalte erhebliche Unterschiede zu Tage (Mau/Verwiebe 2009: 130ff; Krüger 2008). Durch die Mischformen der Wohlfahrtsstaatsmodelle unter Einbeziehung liberaler Elemente weisen die osteuropäischen Staaten einen stark flexibilisierten Arbeitsmarkt bei geringen sozialen Wohlfahrtsleistungen auf (Mau/Verwiebe 2009: 59; Lippl 2003: 78-83). Für Osteuropa zeichnet sich ein insider-outsider-Arbeitsmarkt ab, der für den Berufseinstieg Jugendlicher erhöhte Abstiegs- und Arbeitslosigkeitsrisiken nach sich zieht. In Griechenland bestehen für jugendliche Arbeitseinsteiger ähnliche Problemlagen (Saar/Unt/Kogan 2008: 49; Schäfer 2004: 6). Dabei können Jugendliche in den Ländern Süd- und Osteuropas tra14
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ditionell auf familiale und soziale Netzwerke zurückgreifen, die die geringen staatlichen Wohlfahrtsleistungen kompensieren (Mau/Verwiebe 2009: 59; Grekopoulou in diesem Band). Obwohl sich bisher in den nord- und westeuropäischen Wohlfahrtsstaaten solche familialen Unterstützungsleistungen nicht im selben Maße etablieren mussten, so deutet sich auch in diesen Ländern durch die Ausweitung prekärer Übergangsphasen von Jugendlichen und jungen Erwachsenen ein vermehrter Rückgriff auf die Ressourcen des Elternhauses an. Ähnliche Einkommens- und Vermögensunterschiede – wenngleich auf anderen Niveaus – sind auch für den innerdeutschen Vergleich festzustellen. Gegenüber der Bevölkerungsmehrheit in den westdeutschen Bundesländern werden ostdeutsche Jugendliche im Übergang zum Arbeitsmarkt mit einer Situation konfrontiert, in der erhöhte Arbeitslosigkeits- und Armutsrisiken mit geringerer finanzieller Ausstattung des Elternhauses einhergehen (Schubarth/Speck in diesem Band). Entsprechend dieser unterschiedlichen objektiven Lebenslagen haben sich in Ost- und Westeuropa verschiedene Normalitätsstandards ausgeprägt. Nach dem politischen Umbruch 1990 wurden gerade in Osteuropa die Arbeitsbeziehungen radikal umgestaltet. Weder Arbeitgeberverbände noch Gewerkschaften haben seither nennenswerten Einfluss auf Löhne und Arbeitsbedingungen. Vielmehr finden derartige Aushandlungsprozesse auf der Mikroebene der einzelnen Unternehmen statt (Schroeder 2004: 13 f.). Für osteuropäische Arbeitnehmer ergibt sich daraus eine Situation verschärfter Prekaritätserfahrungen (Kopycka/ Sackmann in diesem Band) und gegenüber westeuropäischen Arbeitern und Angestellten ein diesbezüglicher „Erfahrungsvorsprung“.
S u b j e k t i ve V e r a r b e i t u n g s f o r m e n Bei der individuellen Verarbeitung von Prekarisierungsprozessen werden unterschiedliche Erfahrungsdimensionen bedeutsam. Auf der ersten Ebene beeinflussen die jeweiligen historischkulturellen Erfahrungsräume mit ihren vermittelten, langfristig stabilen Deutungs- und Wahrnehmungsmustern die Beurteilung der eigenen sozialen Position. Den Gedanken von Peter Hörz und Marcus Richter aufgreifend, gerät in Abgrenzung zu den westlichen Staaten für Ostdeutschland – und, wie wir folgern möchten, auch für andere Staaten des postsozialistischen Europas – die besondere gesellschaftliche und biografische Bedeutung von Arbeit in den Jahren vor 1990 ins Blickfeld. Im „Laboratorium staatssozialistischer Politik“ (Schevardo 2005: 215) war eine Desintegration durch das Erwerbsverhältnis de facto nicht möglich. Der Betrieb war in das soziale und politische Leben einbezogen; nach 15
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Martin Kohli war er „vielleicht der wichtigste Vergesellschaftungskern“ (Kohli 1994: 39). Dabei konnte das Partizipationsversprechen des „sozialistische[n] Verhältnis[ses] zur Arbeit“ in der Praxis kaum eingelöst werden (Schramm 1992: 188 f.; Stollberg 1990). Trotz steigender Arbeitsunzufriedenheit blieb für den Einzelnen die Bedeutung von Arbeit zentral, zumal das eigene Erwerbsverhältnis mit der Integration in soziale Netzwerke verknüpft war, mit deren Hilfe Güterknappheiten durch informellen Handel kompensiert werden konnten. In der deutschen Wertewandelforschung wird für den unmittelbaren Zeitraum nach 1989 eine starke Arbeits- und Leistungsorientierung der ostdeutschen Bevölkerung als „gut gesichertes Ergebnis“ bestätigt (Gerlach 2003). Langfristig bildete sich aufgrund des besonderen Stellenwerts von Arbeit in Osteuropa ein Deutungsmuster heraus, das sich für heutige Jugendliche im Sinne einer „Verfleißigung“ auswirken kann. Dies betrifft in erster Linie Kinder derjenigen Familien, denen es gelang, sich in die veränderten gesellschaftlichen Strukturen ein- und den neuen Erfordernissen anzupassen. Ein Teil der osteuropäischen Jugendlichen greift heute dem entsprechend die gestiegenen Anforderungen des Arbeitsmarktes aktiv auf, ist zu hohen Zugeständnissen bereit und ordnet die privaten Bedürfnisse dem Erwerbsleben unter (Hörz/Richter in diesem Band). Diese Einstellung wird auch an der hohen Mobilitätsorientierung von Jugendlichen in den neuen Mitgliedsländern der EU-27 deutlich. Häufig ziehen diese einem Berufseinstieg oder einer Ausbildung im eigenen Land eine – auch längerfristige – geringer qualifizierte Tätigkeit im englischsprachigen Ausland vor, wenn diese eine möglichst schnelle, geregelte und finanziell attraktive Option bietet (Feldmann-Wojtachnja 2007). Auf der zweiten Ebene werden prekäre Phasen aus der Entwicklung der eigenen Erwerbsbiographie (Neigungswinkel: Aufstiegs- oder Abstiegsbewegung) gedeutet (Pelizzari 2009: 55 f.). Für Jugendliche ergibt sich eine diesbezügliche Sinngebung aus den Erfahrungen der Eltern und aus den eigenen Zugangschancen zum Arbeitsmarkt. Bestimmend für den osteuropäischen Kontext ist der Umbruch von 1990, der wie ein Prisma der erwerbsbiographischen Deutung wirkt. Trotz aller anfänglichen Euphorie, die sich auch in einer verstärkten Befürwortung des Leistungsprinzips äußerte (Lippl 2003: 227), stellten die strukturellen Umstellungen von Arbeitsmarkt und Sozialsystemen für die Mehrheit der erwerbstätigen Bevölkerung Osteuropas die zentrale Herausforderung dar: Der Beginn der Transformation – ob graduelle Strategie oder „Schocktherapie“ – war geprägt von einem fundamentalen Produktionsrückgang, steigender Arbeitslosigkeit und radikalen Kürzungen staatlicher Unter16
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stützungsleistungen (Hacker 2009). Charakteristisch für den osteuropäischen Arbeitsmarkt der 1990er Jahre wurden wechselnde und kurzfristige Beschäftigungsverhältnisse (Danne 1996: 264). Durch die Vereinigung der beiden deutschen Staaten bildete Ostdeutschland hierbei in mehrfacher Hinsicht eine Ausnahme: Gegenüber hohen Inflationsraten in den osteuropäischen Staaten stiegen Lohnniveau und Kaufkraft; zudem wurden umfangreiche Transferzahlungen von West- nach Ostdeutschland geleistet. Allerdings war auch die Bevölkerung der ehemaligen DDR frühzeitig von einer hohen Arbeitslosigkeit betroffen (Franz 1997: 3 ff.). Bedenkt man die zentrale Integrationsfunktion von Arbeit in den staatssozialistischen Gesellschaften, wurde die erfahrene Unsicherheit in den 1990er Jahren, die sich aus der Gefährdung und dem Verlust des Erwerbsverhältnisses ergab, von der Bevölkerungsmehrheit Osteuropas und Ostdeutschlands als ein Bruch in der Erwerbsbiographie wahrgenommen. Jugendliche und junge Erwachsene nahmen diese Übergangssituation im Familienleben sehr intensiv wahr (Zinnecker 1992: 32). Aus der Generationenforschung ist bekannt, dass in Abhängigkeit vom Alter der Jugendlichen diese Unsicherheitserfahrungen der ostdeutschen Eltern unterschiedlich verarbeitet wurden. Die um 1970 Geborenen versuchten, die neuen, vielfältigen Möglichkeiten nach dem politischen Umbruch für sich zu entdecken (Berth et al. in diesem Band); sie gingen dabei zu ihrem Elternhaus auf Abstand. Durch „tastende Erfahrungen“, einen Modus des Ausprobierens und Austestens, verlängerten sich ihre Ausbildungsphasen (Krüger/Stutz in diesem Band). Für die um 1980 Geborenen hingegen erhielt die Umbruchserfahrung ihrer Eltern eine besondere Bedeutung: 1989 noch im Grundschulalter, erlebten sie die Umbruchsjahre als Erschütterung einer gesicherten und intakten Kindheit. Eingedenk der Orientierungs- und Sinnkrise ihrer Eltern und dem Infragestellen der materiellen Grundlagen ihrer Herkunftsfamilien wurden sie doppelt verunsichert (Bürgel 2006: 171). Diese Erfahrungen der sogenannten ostdeutschen Mauerfallkinder prägen auch ihre Erwartungen an die Zukunft. Dadurch verfügen sie über ein Gespür für soziale Krisenerscheinungen. Auch die gegenwärtige Krise der Arbeitsgesellschaft wird als Einschnitt erlebt, für den bewährte Lösungsmuster nicht mehr gelten (ebd. 179). In anderen postsozialistischen Staaten wurde der Umbruch als tiefer greifende Zäsur erfahren und stellte weitaus höhere Herausforderungen an die individuelle Bewältigung (Reiter in diesem Band). Wie bei den älteren Kohorten bleibt auch für die ostdeutschen Jugendlichen die Familie ein integrativer Bestandteil der Lebenswelt. Bei Konflikten bietet sich „die ostdeutsche Erfahrung“ in der familieninter17
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nen Kommunikation als verbindendes Erzählmuster an. Die Gegensätze der verschiedenen Erfahrungsgemeinschaften von (Groß-)Eltern und Kindern – einerseits die staatssozialistische Gesellschaft und andererseits die heutigen Anforderungen der Arbeitswelt – können zugunsten einer Ost-West-Differenzierung überblendet werden (Karstein in diesem Band). Die um 1990 Geborenen verfügen über keine unvermittelte Umbruchserfahrung. Weder bedeutete die DDR für sie eine unbekümmerte Kindheit, noch verhieß der Westen unbegrenzte Möglichkeiten. In ihrer Kindheit nahmen sie die desillusionierten Anpassungsleistungen ihrer Eltern wahr. Deren Erfolg oder Misserfolg in der Arbeitswelt bestimmte maßgeblich sowohl ihr Norm- und Wertegefüge als auch ihre Startchancen im Bildungs- und Ausbildungssystem. Handlungsorientierende Bedeutung gewinnt für diese Jugendlichen daher die Frage, inwieweit innerhalb der eigenen Familie die Prekaritätsbewältigung gelang. Denkbar erscheint uns, dass eine ungebrochene und mithin erfolgreiche Arbeitsorientierung ihrer Eltern als ein Deutungsmuster pragmatischer Anpassung bei gleichzeitiger Leistungsorientierung an die heutigen Jugendlichen weitergegeben wird. Entgegen diesen Entwicklungen zeichnen sich die westeuropäischen Arbeitsgesellschaften durch längerfristige Wandlungsprozesse aus. Trotz steigender Arbeitslosenquoten ab Mitte der 1970er und Anfang der 1980er Jahre entsprachen die Erwerbsverhältnisse der Elterngenerationen weitgehend dem Normalarbeitsverhältnis. Infolge der Rezessionen stieg jedoch in allen westeuropäischen Staaten die Anzahl jugendlicher Arbeitsloser. Besonders betroffen waren die geburtenstarken Jahrgänge der um 1970 Geborenen. An beiden Schwellen des Übergangs führte dies zu Bewältigungsproblemen in bisher ungekannter Weise (Harten 1980: 382; exemplarisch west-ost-vergleichend Corsten/Rosa in diesem Band). Auch wenn die westdeutschen Jugendarbeitslosigkeitsquoten in den 1970er und 1980er Jahren – bezogen auf andere westeuropäischen Staaten – als vergleichsweise niedrig galten (Roberts : 57 ff.), verdoppelten sie sich innerhalb eines kurzen Zeitraumes. Als unmittelbare Reaktion initiierten alle westeuropäischen Wohlfahrtsstaaten Ausbildungsund Beschäftigungsprogramme (Richter/Sardei-Biermann 2000). Für westdeutsche Jugendliche dieser Zeit dominierten unterschiedliche Erfahrungsmuster: Einerseits partizipierten sie an der bestehenden Konsum- und Mediengesellschaft. Andererseits waren sie von dem einsetzenden postfordistischen Strukturwandel der Arbeitsgesellschaft betroffen (Müller-Lundt 1985: 251 ff., Gloger in diesem Band). Die Risiken des Ausbildungs- und Berufseinstiegs polarisierten sich zunehmend nach Qualifikationsniveaus (Chisholm 2000: 205). Neben Krieg und Umweltverschmutzung galt auch Arbeitslosigkeit als zukünftiges Pro18
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blem, was jugendliches Unbehagen auslöste (Jürgen 1985: 457 f.). Im Verlauf der 1980er Jahre wandelten sich die Problemwahrnehmungen. Westdeutsche Jugendliche formulierten wieder verstärkt zuversichtliche Zukunftsperspektiven (Zinnecker/Fischer 1992: 216). Die hohe Jugendarbeitslosigkeit schien durch die staatlichen Ausbildungs- und Beschäftigungsmaßnahmen, die Folgen der Bildungsexpansion und die allgemeine demographische Entwicklung überwunden. Nach den grundlegenden Umstrukturierungen in den 1990er Jahren stand das Thema Arbeitslosigkeit jedoch erneut auf der Agenda (Chisholm 2000: 198). In der Problemwahrnehmung der um 1980 Geborenen nahm Arbeitslosigkeit daher wieder einen hohen Stellenwert ein, wenngleich die Zukunftsangst von westdeutschen Jugendlichen nach dem Umbruch 1990 deutlich unter dem Niveau ihrer ostdeutschen Altersgenossen lag (Münchmeier 1997: 282). Hier scheinen die Versicherungen des bereits erarbeiteten Wohlstands der (Groß-)Elterngenerationen perspektivisch Wirkung entfaltet zu haben (Bürgel 2006: 177). Aussagen über die gegenwärtige Jugenderfahrung West lassen sich nur schwer treffen, da eine Ost-West-Differenzierung – durch die weitgehende Angleichung der Wahrnehmungsmuster – in der Forschung zunehmend an Bedeutung verliert (Schubarth/Speck 2006: 225 f.). Verallgemeinernd wurde jedoch festgestellt, dass seit Mitte der 1990er Jahre auch ein Wertewandel bei westdeutschen Jugendlichen nachweisbar ist. Gruppierten sich die Wertorientierungen in den 1970er und 1980er Jahren noch vermehrt um die Pole Selbstverwirklichung und Engagement, betonen Jugendliche heute eher leistungs- und anpassungsorientierte Werte (Hurrelmann et al. 2006: 39). Dabei vermerken auch westdeutsche Jugendliche das gestiegene Risiko beim Übergang in den Arbeitsmarkt. In West wie Ost lassen sich bei den Heranwachsenden mehrheitlich Wertorientierungen nachweisen, die persönliches Autonomiebestreben mit Leistung und Anpassung pragmatisch vereinbaren (Mienert 2008: 170 f.; Hurrelmann et. al. 2006: 35). Die individuellen Handlungsstrategien differenzieren sich allerdings nach Geschlecht, Bildungsniveau und Herkunftsmilieu aus. Anpassungsbereitschaft und Leistungsorientierung führen trotz unsicherer Perspektiven zu einer zunehmend optimistischeren Zukunftserwartung – zumindest für die eigene Erwerbsbiographie (Ferchhoff 2007:165). Dagegen offenbaren sich prekäre Erwerbsbiographien unter Jugendlichen und jungen Erwachsenen besonders deutlich in ostdeutschen Plattenbausiedlungen. Unter ihren jugendlichen Bewohnern begegnen uns zwei Sozialtypen, die in der Literatur als „Abwanderer“ und „Hängengebliebene“ charakterisiert werden. Erstere entwickeln den festen Willen zum Weggang als stringente Handlungsstrategie, äußern sich aber dennoch höchst ambivalent über die Orte ihrer Heimatregionen. Sie fühlen 19
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sich von ihnen angezogen und vom sozialen Umfeld der Großsiedlungen mit ihren Milieukonflikten und offen ausgelebter Ausländerfeindlichkeit zugleich abgestoßen. Im Zwiespalt zwischen Clique, Straße und Beruf entscheiden sie sich aber bewusst für eine Lehrausbildung oder einen Arbeitsplatz im Westen, um zukünftig über gesicherte Einkünfte verfügen zu können. Unter den arbeitslosen, prekär oder nur zeitweise beschäftigten jungen Erwachsenen grassiert hingegen ein perspektivloses Ohnmachtsgefühl. Sie blieben in der Clique und auf der Straße ihres Neubaugebietes „hängen“, verpassten den Absprung aus dem “Ghetto“ der Siedlung, weil sie ihre Schullaufbahn oder Lehre nicht abschließen konnten oder keine Beschäftigungsangebote erhielten. Beiden Sozialtypen gemein ist die hohe Wertschätzung für Familie und Beruf, trotz der sie über Jahre prägenden Cliquenerfahrungen (Keller 2005a: 173-183). Die lebensweltlichen Porträts von Carsten Keller verdeutlichen, dass die in den Großsiedlungen des Ostens verbleibenden Jugendlichen und jungen Erwachsenen immer stärker auf die sozialen Nahbeziehungen im Quartier und Hilfsangebote von Freunden oder Verwandten angewiesen sind (Keller 2005b: 170-176). In den westlichen Bundesländern geraten vor allem Migrantenjugendliche in den Strudel sozialer Exklusion. Denn ihre Chancen nach dem Schulabschluss einen Ausbildungsplatz zu finden, haben sich in den letzten Jahren nicht durchgreifend verbessert. Die Ausbildungsquoten von jungen Frauen mit ausländischem Pass verschlechterten sich sogar dramatisch. Jeder vierte ausländische Jugendliche verbleibt in der Warteschleife der beruflichen Grundbildungslehrgänge, 21% werden selbst davon ausgeschlossen und 37% von ihnen bleibt für immer ohne einen Berufsabschluss (Auernheimer 2009: 17).
Prekarisierung und Protest Für die Erklärung des Übergehens von sozialer Benachteiligung in öffentliche Formen des Aufbegehrens wird in der Protestforschung auf eine subjektiv wahrgenommene Diskrepanz zwischen einem Ist- und einem Soll-Zustand verwiesen (Schmitt 2007: 37f; Schmitt 2006: 18). Während die eigene Lebenslage den Ausgangspunkt, den Ist-Zustand bildet, wird der Soll-Zustand geprägt durch soziale und eigene Erwartungshaltungen wie auch durch die Suggestion von universellen Rechten und Lebenschancen (Schmitt 2007: 35). Der Einzelne empfindet seine Situation als ungerecht, wenn die eigene Erwartungsenttäuschung – und somit die subjektive Diskrepanz von Ist- und Soll-Zustand – größer ausfällt, als die von anderen (Hellmann 1997: 23).
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Aus unserer Sicht bietet dieses Problembewusstsein, das sich aus der individuellen Lebenslage relational zu gegenwärtigen Erwartungshaltungen und suggerierten Zusicherungen ableitet, eine dritte, situative Deutungsebene der tatsächlichen oder drohenden individuellen Prekarisierung. Die Reflexion über die eigene Lebenslage kann in aktives Handeln übergehen und zu offenem Protest führen, wenn noch weitere Faktoren hinzu kommen. Entscheidend für die Beurteilung der individuellen Situation werden der jeweilige gesellschaftliche Normalitätsstandard sowie die sozial vermittelten Wohlstandsversprechen. Innerhalb Europas bestehen in dieser Hinsicht ein Nord-Süd- sowie ein Ost-West-Gefälle. Für die westlich geprägten Staaten ist davon auszugehen, dass sich je nach wohlfahrtstaatlichem Modell (liberal, konservativ, sozialdemokratisch, mediterran) die Erwartungshaltungen gegenüber den staatlichen Institutionen und der Politik unterscheiden. In Osteuropa bestehen seit dem Umbruch 1990 wohlfahrtstaatliche Systeme, die jedoch – in Abhängigkeit von ihrer wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit – nur eine minimale Absicherung bieten können (Petrášová 2007; Baum-Ceisig et al. 2008: 418 f.). Die bisherigen Proteste im Zuge der Wirtschafts- und Finanzkrise (Litauen, Lettland und Bulgarien) legen den Schluss nahe, dass die Protestneigung in diesen Ländern wohl nur bei einer dramatischen Verschlechterung der objektiven Lebenslagen zunehmen könnte. Hingegen handelt es sich bei den protestierenden Jugendlichen in Frankreich und Griechenland um „blockierte“ Heranwachsende (Wacquant 2009: 102), für die der (noch) bestehende Wohlstand der Mehrheitsgesellschaft nicht oder nicht mehr zugänglich erscheint. Für die französischen Banlieusards ist die empfundene Diskrepanz zwischen Ist- und Sollzustand besonders groß. Zumeist mit der französischen Staatsbürgerschaft ausgestattet, besitzen sie im Prinzip alle politischen, aber auch soziale Rechte, wie den Anspruch auf Sozialversicherungsleistungen, soziale Grundrechte usw. Sie partizipieren am Schulsystem – wenngleich sie hier Selektionsprozessen ausgesetzt sind und die Institutionen häufig ohne Schulabschluss verlassen –, sprechen die französische Sprache und haben Zugang zur Landeskultur (Castel 2009b:33f; 44). Trotz dieser Teilhabe, einer „suggeriert[en] Zugehörigkeit“ (Schmitt 2006: 18), werden sie dennoch von staatlichen Institutionen, Bildungseinrichtungen und Arbeitgebern diskriminiert und im Ergebnis ausgegrenzt. In Referenz zu den Mitgliedern der Mehrheitsgesellschaft, autochtonen Franzosen mit anderem familiären Hintergrund, verbleiben sie in einer Stellung innerer Separation (Castel 2009b: 69). Auf andere Weise stellen sich die Diskrepanzen für die Jugendlichen in Griechenland dar: Selbst die verbreiteten hohen Bildungsabschlüsse, 21
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die für ältere Jahrgangsgruppen finanzielle Besserstellung und sozialen Aufstieg bedeuteten, führen in prekäre Beschäftigungslagen und Arbeitslosigkeit. So sind viele Jugendliche gezwungen, noch über das 30. Lebensjahr hinaus bei ihren Eltern zu wohnen. Der Staat, in der Vergangenheit als Arbeitgeber Garant der Beschäftigung, zieht sich gegenwärtig aus dieser Funktion zurück. Die Jugendlichen erfüllen somit die – bis dato gültigen – Anforderungen des Aufstiegsversprechens, doch bleibt ihnen dessen Einlösung verwehrt (Grekopoulou in diesem Band). Wenn auch in anderen nationalen Kontexten und mit individuell abgestufter Betroffenheit sind die wahrgenommenen Widersprüche der Praktikanten ähnlich gelagert: Auch hier erweist sich akademische Bildung als nicht mehr hinreichend, um nach dem Abschluss eine sowohl inhaltlich wie monetär adäquate Anstellung zu erreichen. Dabei verweist bereits ihre Selbstthematisierung als einer neuen „prekären Generation“ auf ältere Akademiker, denen der Übergang von der Hochschule in die Berufswelt ohne Warteschleifen und gering bezahlte Praxisphasen gelang (Austermann/Woischwill in diesem Band). Damit individuelles Unbehagen in kollektiven Protest umschlägt, bedarf es der Konstruktion solcher Gruppenzuschreibungen (Schmitt 2006: 19). Diese kann sich sowohl über Fremd- und Selbstzuschreibungen bilden als auch über die direkte Konfrontation mit den „Anderen“, von denen die Eigengruppe positiv abgehoben wird (Wagner/Stellmacher 2006: 23). Für die Jugendlichen der französischen Vorstadtquartiere sind vor allem Fremdzuschreibungen bedeutsam: Diskriminierung und Stigmatisierung sind für sie alltägliche Erfahrung. Zum einen finden in der politischen wie medialen Öffentlichkeit disqualifizierende Begriffe Verbreitung, wie „Strolche“ oder „Gesindel“, ein Ausdruck des damaligen Innenministers Nicolas Sarkozy (Castel 2009b: 65). Zum anderen sind die Stigmatisierungen auch geprägt durch ein wieder aufgenommenes rassistisches Paradigma (Wacquant 2009: 92). Dabei wird den Jugendlichen keine andere Möglichkeit gelassen, als die Stigmata aufzugreifen und – wie über das wiederentdeckte Kolonialisierungsthema – umzudeuten (Castel 2009: 69). Die Selbstzuschreibung der „Kolonisierten“ grenzt sie gegenüber den staatlichen „Unterdrückern“ als Eigengruppe ab und verleiht ihnen Legitimation (Schultheis/Herold in diesem Band). Grundlegend ist dabei eine schon länger bestehende Auseinandersetzung mit „dem Staat“ als Fremdgruppe, dessen Macht sich in seinen Ordnungskräften als manifestem Gegner repräsentiert (Wacquant 2009: 106). Objekte der Zerstörung waren demnach vornehmlich Polizeifahrzeuge, Schulen und Kindergärten als Symbole des Staates (Wagner/Stellmacher: 23). Innerhalb dieser Konfliktsituation erscheint der Tod zweier Jugendlicher als direkte Verletzung der Eigengruppe – fer22
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ner zugefügt auf dem „eigenen“ Territorium (Wacquant 2009: 107) – und kann sich auf die Konfliktaustragung Gewalt steigernd auswirken. Auch für die griechischen Auseinandersetzungen kommt dem Tod eines 15jährigen Jugendlichen zentrale Bedeutung zu, der durch den Schuss eines Polizisten ums Leben kam. Dieser Todesfall wurde zum Kristallisationspunkt stilisiert, an welchem sich kollektive Zuschreibungen festmachten. So formulierten Studierende, die in den nachfolgenden Unruhen die Athens University of Economics besetzten, in einem Aufruf: „Morgen geht die Sonne auf und nichts ist gewiss. Und was könnte befreiender sein als dies nach so vielen Jahren der Gewissheit? Eine Kugel vermochte es, die triste Einöde dieser identischen Tage zu unterbrechen. Die Ermordung des 15 Jahre alten Jungen war der Moment der Loslösung. […] Die Loslösung führte zum kollektiven Gedanken […].“ (ContraInfo 2008)
Der Staat und seine gegenwärtige Regierung fungierten als Kontrapart, über den sich die Eigengruppe der Aufständigen definierte. Diese Konstruktionsprozesse verfestigten sich im Zuge der folgenden gewaltsamen Auseinandersetzungen mit der Polizei. Sie konnten zudem an frühere Konflikte anknüpfen wie auch an ein längerfristiges, historisch verankertes Misstrauen gegenüber dem Staat und seinen Organen (Emmanouilidis/Schulz 2008). Die Zuschreibungen, die mit dem offen ausgetragenen Konflikt zwischen Jugendlichen und Ordnungskräften verbunden waren, beschränkten sich jedoch nicht allein auf die Gruppe der Protestierenden: Die Mehrzahl der Griechen stufte die Unruhen als „Volksaufstand“ ein (AFP/dpa/AP/cn 2008), was auf eine grundsätzliche Sympathie mit den Protestierenden verweist und jenen zusätzlich eine positive Deutung ihres Handelns ermöglichte. Für die Praktikanten stellte sich die Konfliktlage anders dar. Obwohl sich die ersten Proteste in Frankreich gegen die Verabschiedung eines Gesetzes wandten und somit auch gegen die staatlichen Institutionen, verorteten sie die Ursachen ihres Unbehagens doch in erster Linie bei den Unternehmen selbst. In der Folge wurden Politik und Institutionen auch nicht als Gegner, sondern als Akteure verstanden, bei denen man um Intervention nachsuchte. Ein kollektiver Bezug wurde demnach über Selbstzuschreibungen generiert. Unter Einbeziehung der Medien schufen sie ein Generationskonstrukt, was – in nationalen Abwandlungen – bereits in der begrifflichen Beigabe auf ihre Lebenslage verwies und somit Legitimität signalisierte. Der Generationsbezug scheint auf zwei Ebenen wirksam zu werden: Zum einen stellte die Eigenstilisierung als Großgruppe mediale Aufmerksamkeit her. Zum anderen verwies der Begriff auf eine Differenzerfahrung, die als eine jugendspezifische ver23
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mittelt wurde. Den Protestierenden sicherte dies – im Sinne einer Generationengerechtigkeit – die Unterstützung auch älterer Altersgruppen. Die Praktikanten wählten zudem andere Protestformen: Da sich ihre Anklage gegen Unternehmen wandte, bei denen sie zum Teil selbst angestellt waren und mithin in einem Abhängigkeitsverhältnis standen, protestierten sie gewaltlos und mit durchaus kreativen Mitteln. Sie trugen weiße Masken, um symbolisch auf die Gesichtslosigkeit von Praktikanten in Unternehmen aufmerksam zu machen. Zum anderen blieb die Aktion für sie eine Form des geschützten Protests, bei welchem die Einzelnen nicht identifizierbar waren. Wohl ging es auch ihnen um eine öffentliche Anklage ihrer Lage, und doch bestand im Vergleich zu den Ausschreitungen in den französischen Vorstädten und in Griechenland eine andere Ausgangssituation: Entgegen der Proteste in den banlieues und den griechischen Städten, deren Eskalation auch der empfundenen Wut und Verzweiflung Ausdruck verlieh, glaubten die Praktikanten eine Perspektive zu besitzen, die zu verlieren sie vermeiden wollten.
Generationsbilder und Generationenkonkurrenz Abbau des Wohlfahrtsstaats, prekäre Beschäftigungsverhältnisse, Finanzmarktkrise – auch mit Blick auf diese aktuellen Entwicklungen hat das Generationenparadigma Konjunktur. Nicht allein in der öffentlichen Diskussion und in der Publizistik, auch in der Wissenschaft generiert das Konzept beständig neue Generationsentwürfe. Seit Längerem ist daher von einer „Trivialisierung und Entleerung“ des Generationsbegriffs die Rede (Weisbrod 2005: 4), sogar von seinem „Ramschverkauf“ (Herzinger 2000: 144). Sozialwissenschaftler und Kulturhistoriker kritisieren den unbedarften Umgang mit diesem Begriff, der im Alltagsgebrauch und in der medialen Verwertung in der Regel eines theoretischen Bezugsrahmens entbehrt. So verständlich diese Einwände von einer Position aus sind, die nach interdisziplinär verbindlichen, theoretischen Grundlagen des Generationenkonzepts strebt – eine solche Begriffskritik darf nicht zur Folge haben, die in der Öffentlichkeit virulenten Generationsthematisierungen zu verwerfen und aus dem Blick zu verlieren. Vielmehr vermag die Berufung auf „Generation“ durchaus neue Fragestellungen zu eröffnen, die über den Begriff hinaus auf Deutungsmuster, Sinnstrukturen und die jeweiligen Kommunikationskonstellationen verweisen: Wer bezeichnet wen mit diesem Begriff? Welche Inhalte und Wahrnehmungen sind mit der Etikettierung verbunden? Und warum wird der Begriff für diesen Zusammenhang gewählt? Aus unserer Sicht scheint es erforderlich zu sein, analytisch zwischen wissenschaftlichtheoretischen Generationskonzepten und der Vielzahl medialer Zu24
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schreibungen zu unterscheiden, die wir mit dem Begriff der Generationsbilder zu fassen suchen (in Anlehnung an Liebau 1997: 24). Dabei handelt es sich selbstverständlich um eine idealtypische Unterscheidung. Finden doch öffentlich inszenierte Generationsbilder ebenso Eingang in die akademischen Forschungskontroversen, wie wissenschaftlich untermauerte Entwürfe von den Medien und der Öffentlichkeit aufgegriffen werden (Ferchhoff 2007: 113). Ein Rückgriff auf den Generationenbegriff verspricht dem Rezipienten einen wissenschaftlichen und damit seriös erscheinenden Zugang zum Themenfeld (Bartels 2002). „Generation“ dient hier in erster Linie als eine abgrenzende Metapher, um anhand einer konstruierten Scheidelinie zwischen „Jung“ und „Alt“ einen „Bruch von Kontinuitätserwartungen“ (Bude 2000: 137) zu markieren. Daher vermitteln solche Generationszuschreibungen eine bestimmte Wahrnehmung von soziokulturellen und ökonomischen Beschleunigungs- und Wandlungsprozessen (Hermann 1987: 364), die im aktuellen Bezug mit einer (Selbst-) Bestimmung „der Jugend“ in „ihrer“ Zeit verknüpft werden. Unter dieses Begriffsverständnis werden alle Jugendlichen einer bestimmten Alterskohorte subsummiert und deren vielgestaltige Erfahrungsräume auf die jeweilige Zuschreibung reduziert: „Generation“ pauschalisiert! Diese Suggestion eines von allen Angehörigen einer spezifischen Altersgruppe geteilten Problemhorizonts verleiht diesem konzeptionellen Zugriff einen prominenten Platz in der medialen „Ökonomie der Aufmerksamkeit“ (Franck 1998). Generationsbilder können fremdthematisiert sein, mit dem Blick des Beobachters auf „die Jugend“, oder selbstthematisierend, als Binnenperspektive einzelner, die für „ihre Generation“ das Wort ergreifen. In den Fremdzuschreibungen äußert sich ein waches Interesse der Öffentlichkeit an „der Jugend“, das auf der einen Seite die verbreitete Wahrnehmung von Jugendlichen und jungen Erwachsenen als „Motor des Wandels“ (Bartels 2000) protegiert: Mag es sich um die Aneignung technischer Innovationen handeln, um neuartige Kultur- und Lebensstile oder um die Konfrontation mit bzw. die Anpassungsleistungen an wahrgenommene soziale Wandlungsprozesse − Jugendliche gelten (noch immer) als Protagonisten des Neuen. Auf der anderen Seite reflektieren fremdthematisierte Generationsbilder auch stets kulturelle und soziale Veränderungen in der Gegenwartsgesellschaft. Die in solchen Generationsbildern eingeschriebenen Diagnosen lassen jedoch weniger auf reale Handlungsweisen „der Jugend“, als vielmehr auf Selbstdeutungen und Weltbilder von Jugendlichen schließen, wie auch auf eigene Jugenderinnerungen der Beobachter (Ferchhoff 2007: 112). Es überrascht daher nicht, dass es sich häufig um Stereotypisierungen spezifischer Jugend25
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kulturen oder -gruppen handelt, die dank ihrer Medienpräsenz ins öffentliche Bewusstsein gehoben, skandalisiert und als Ausdruck der „Jugend von heute“ präsentiert werden (Liebau 1997: 23). Derartige Generationsbilder können auch als Projektionsflächen dienen, auf denen sich die Hoffnungen der gewünschten Entwicklungsrichtungen der Gesellschaft widerspiegeln (Herzinger 2000: 153). Fremdzuschreibungen liefern daher häufig distanzierende Bilder von „der Jugend“ schlechthin, die in erster Linie als „Indikator für die Unsicherheiten und den Vergewisserungsprozeß ‚der‘ Erwachsenengesellschaft“ (Hafeneger 1995: 15) gelten können. Generationsbilder als Selbstzuschreibungen repräsentieren demgegenüber Deutungsmuster, die als Binnenbeschreibung einer bestimmten „Generation“ formuliert werden. Dabei können sie allein der persönlichen Sinnkonstruktion dienen, oftmals artikulieren sie jedoch Bedürfnisse und Forderungen gegenüber der Öffentlichkeit: Einzelne – zumeist medienaffine – Akteure stellen ihre Lebensbeschreibungen als exemplarische Veranschaulichung einer Erfahrung dar, die über die generationale Zuweisung als Kollektiverfahrung präsentiert wird. Diese Selbstbeschreibungen verfügen über eine ungleich höhere Authentizitätssuggestion als Fremdthematisierungen, da die präsentierten Informationen durch den biographischen Selbstbezug eine stärkere Plausibilität vermitteln. Es werden Emotionen wie Ängste, Hoffnungen, Geschichten vom Scheitern und Gewinnen – letztlich ein die Narration durchschimmerndes „Lebensgefühl“ – geschildert, Qualitätsmerkmale, die den psychosozialen Bedürfnissen jugendlicher Rezipienten entgegen kommen (Niesyto 1991: 73). Dies entspricht gleichsam den Zielen öffentlich gemachter Selbstthematisierungen mit Generationenbezug: Zum einen sollen die Narrative Aufmerksamkeit erzeugen. Denn die biographischen Selbstdarstellungen reagieren auf empfundene Verunsicherungen oder negative Zukunftserwartungen unter jungen Menschen, formulieren aber auch Forderungen an die Gesellschaft. Zum anderen fungiert das Postulat der Kollektivität gleichsam als Identifikationsangebot (Jureit 2006: 40 f.). Der jugendliche Rezipient vergleicht den eigenen, thematisch relevanten Erfahrungsraum mit den vermittelten Informationen und gewinnt dadurch einen „Spiegel- und Resonanzraum“ (Hafeneger 2005: 166), in dem sein eigenes Erfahrungswissen bearbeitbar wird (Bude 2000: 136). Über Medien und Publizistik generiert das Narrativ einen – vermittelten – intersubjektiven Bezug des Nutzers oder Lesers zum Autor, indem die in den medialen Informationen aufscheinenden Erfahrungen des Anderen einen Referenzrahmen für die eigenen Erfahrungen bilden (zu den Transformationsprozessen der Wissensvermittlung zwischen Autor, Medien und Rezipient: Schäffer in diesem Band). Führt der Aneignungs26
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prozess zu einer empfundenen Übereinstimmung mit den dargebotenen Informationen, so kann sich auf der subjektiven Wahrnehmungsebene das Versprechen des Generationsbegriffs erfüllen. Denn die generationale Zuschreibung definiert die vermittelte Erfahrung des Narrativs von vornherein als eine kollektive und entwickelt auf diese Weise ein beachtliches Integrationspotenzial für die angesprochenen Jugendlichen oder jungen Erwachsenen. Kritisch wurde eine solche Aneignungsweise als „tiefsitzende Sehnsucht nach Rückbindung […] an eine unhinterfragbare Gemeinschaft“ (Herzinger 2000: 154) und als ein „übertriebenes Wir“ (Bude 2000) interpretiert. Angesichts der seit den 1980er Jahren sich wandelnden Sozialisations- und Identifikationsmuster von Jugendlichen erscheint uns jedoch die Möglichkeit einer solchen kollektiven Identitätsstiftung immer unwahrscheinlicher zu werden. Infolge der beschleunigten Individualisierungs- und Pluralisierungsprozesse haben gesellschaftliche Großgruppen für die subjektive Identifikationsbildung unter Jugendlichen an Einfluss verloren (WohlrabSahr 1997: 27). Die individuelle Selbstverortung kann demnach nicht mehr aus den traditionsreichen Meta-Erzählungen schöpfen. Sie muss vielmehr individualisiert, in Bezug auf den eigenen Lebenslauf kreiert werden (Keupp 2005: 79). Für die Identitätsbildung von Jugendlichen hat dies entscheidende Folgen: Sie wird reflexiv, da sich der Zwang und der Spielraum für das Individuum vergrößert hat, diese Konstruktionsleistung selbst zu erbringen. Sie wird fragmentarisch, da die eigene Erzählung nicht mehr geschlossen konstruiert werden kann, sondern aus einer Vielzahl von Strängen gebildet wird und sie wird handlungsorientierend, indem sie Differenz stiftet (Hepp/Thomas/Winter 2003: 9ff). Als Identifikationsangebote fungieren „kulturell angelieferte“ Erzählmuster, die als medial vermittelte Ressourcen bereitgestellt werden und den Individuen zur Herstellung einer kohärenten biographischen Erzählung dienen (Keupp 2005: 79; Hepp/Thomas/Winter 2003: 17). Als ein solches Muster lassen sich auch selbstthematisierte Generationsbilder deuten. Über die vermittelte Erfahrung des Anderen bei gleichzeitigem Postulat des Kollektivs bildet das Narrativ einen Deutungsrahmen, der in einer bestimmten Situation zur Sinnkonstruktion und Selbstvergewisserung der eigenen Lebensgeschichte dienen kann. Aus unserer Sicht drückt sich in diesem freiwilligen, subjektiven Aneignungsprozess jedoch weniger eine „unhinterfragbare Gemeinschaft“ aus. Vielmehr erzeugen selbstthematisierte Generationsbilder in Anlehnung an den Soziologen Ronald Hitzler eine posttraditionale Zugehörigkeit (Hitzler 1998): Der Generationsbegriff stiftet auf der Ebene des Subjekts ein „Wir-Bewusstsein“ diffuser Kollektivität, die sich über interpretierte Erfahrungsausschnitte sowie über Distinktion gegenüber Älteren und denjenigen definiert, die 27
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diese Erfahrung nicht teilen. Das „Wir-Bewusstsein“ ist jedoch eine individuelle Fiktion, da unklar bleibt, inwieweit es tatsächlich bei anderen vorhanden ist und ob sich aus ihm eine gemeinsame Praxis ergibt (ebd.: 84). Zunächst sind individuelle Konstellationen entscheidend, ob das Deutungsangebot einer „Generation“ zur eigenen Sinnkonstruktion herangezogen wird. Im Falle der Aneignung muss sich aber aus dieser empfundenen Zugehörigkeit keine unmittelbare Partizipationsleistung ergeben. Zum einen können wiederum veränderte Lebenskonstellationen andere Erzählmuster relevanter erscheinen lassen. Zum anderen generiert die subjektive Zuweisung keine Sanktionierung, da die Zugehörigkeit sich „jenseits des ‚sozialen Zwangs und der sozialen Kontrolle des Mitmachens‘“ (Ferchhoff 2005:113) konstituiert. Sie kann also jederzeit wieder verworfen werden. Inwieweit eine solche subjektive Zuschreibung zur kohärenten Sinndeutung von Individuen beitragen kann, lässt sich an denjenigen selbstthematisierten Generationsbildern ablesen, die in Verbindung mit sozialen Abstiegs- oder Prekarisierungsängsten formuliert werden. Infolge von Pluralisierungs- und Entgrenzungsprozessen gewannen Deutungsmuster an Bedeutung, die auf Eigenverantwortung, Selbstkontrolle und Selbstorganisation abheben. Dem Individuum obliegen danach die Freiheit und der Zwang, für das Gelingen des eigenen Lebenslaufprojekts selbst Verantwortung zu übernehmen. Gerade Jugendliche sehen sich mit einer Situation konfrontiert, die Karrierebrüche und -abstürze nicht mehr aus Regeln und Strukturen herleiten kann, die Betrieb oder Arbeitsmarkt hervorbringen. Vielmehr werden das Scheitern oder das selbst auferlegte Eingeständnis mangelnder Flexibilität der eigenen Person zugewiesen (Böhnisch/Lenz/Schröer 2009: 71). In diesem Fall kann die subjektive Aneignung des Narrativs einer „prekären Generation“ eine entlastende oder kompensierende Wirkung entfalten (Schmidt in diesem Band): Die Zugehörigkeit zu einer diffusen Kollektivität dient dabei als Selbstvergewisserung und legitimiert die eigene Position gegenüber den Erwartungen an sich selbst, gleich ob den eigenen oder denen anderer. Denn in der Aneignungsleistung verbirgt sich gleichermaßen eine Verantwortungsreduktion, die die empfundene Unsicherheit nicht der eigenen Person aufbürden muss. Da die Vielen – wie die Generationsbilder konstatieren – ähnliche Erfahrungen von Ungewissheit und Scheitern teilen, müssen die Gründe der Unsicherheit nicht allein sich selbst zugerechnet werden. Die individuelle Aneignung von Generationsbildern kann also als ein „soziales Bewältigungsverhalten“ interpretiert werden, das die biographische Handlungsfähigkeit durch ein „stabiles Selbstkonzept“ sicherstellt (Böhnisch/Lenz/Schröer 2009: 72f; Schaffner 2007: 22). 28
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Freilich bleibt die Sinn bildende Prägekraft dieser individuellen Bewältigungsleistungen eher begrenzt. Sie vermögen unserer Auffassung nach keineswegs das verbindende „Wir-Gefühl“ einer neuen Protestgeneration hervorzubringen. Solche Identitätsbildungsprozesse vollziehen sich zwar vor dem Hintergrund prekärer Beschäftigungsverhältnisse und wachsender sozialer Ungleichheit in der Gesellschaft (Niesyto/ Holzwarth 2003: 330). Doch die Selbstthematisierung und Verinnerlichung von prekaritätsbezogenen Generationsbildern entsprechen den Verarbeitungsformen nur eines Teils der jugendlichen Altersgruppen, und zwar jenes, der (noch) auf höhere Lebensressourcen zurückgreifen kann. Obgleich diese Generationsbilder Verunsicherung und soziale Ängste zum Ausdruck bringen, verfügt ein Großteil dieser Jugendlichen fraglos über Fach-, Schlüssel- und auf Erfahrung gestützte Kompetenzen, die den heutigen Anforderungen gerecht werden können. Dies eröffnet ihnen weitaus bessere Lebens- und Zukunftsaussichten als jenen, deren Perspektiven aufgrund von strukturellen Armutsrisiken immer stärker begrenzt werden (Ferchhoff 2007:164f). Die die Generationsbilder modellierenden „Ansichten und Gestaltungsbedürfnisse“ (Niesyto 1991: 69) erscheinen demnach aus einer Lebenslage formuliert, die bislang eine feste Teilhabe an Karriere und Konsum verhieß und nunmehr als gefährdet wahrgenommen wird. Der rasante mediale Umschlag solcher Generationsbilder verführt zu einer Art Aufmerksamkeitsstrategie, deren „kritische Masse“ im Einfordern der von der Gesellschaft zugesicherten Wohlstandsversprechen besteht. Das Beharren auf die Aufrechterhaltung bislang gewährter sozialstaatlicher Standards kann allerdings auch als ein Reflex auf die sich verschärfende Generationenkonkurrenz interpretiert werden, die seit Beginn unseres Jahrhunderts in sozialpädagogischen Studien problematisiert wird (Böhnisch/Schröer 2001: 115). Sogar von einer „Rache der Gesellschaft an der Jugend“ ist in diesem Zusammenhang die Rede. Angesichts der beschleunigten Technologieentwicklung würden Unternehmen qualifizierte Arbeitsplätze sofort abrufen und immer weniger bereit sein, die langen Ausbildungszeiten von jüngeren Arbeitskräften zu tolerieren. Die green card für ausländische Informatiker sei ein Symbol für diesen Entwicklungstrend geworden, in dem sich die zunehmende Entkopplung von „Jugend“ und Industriegesellschaft in der Zweite Moderne manifestiere. Diese „neue Generationenkonkurrenz“ auf dem Arbeitsmarkt treibe die Jugendlichen zudem noch weiter in die Familien (zurück). Ein teilweise unerbittlicher Familienegoismus und Durchsetzungsanspruch beseele die Elterngeneration, wenn es um „ihre“ Kinder ginge, andere Jugendliche würden dagegen weit weniger interessieren. Lothar Böhnisch und Wolfgang Schröer schließen aus diesem Befund 29
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auf eine regelrechte „Entwertung der Jugend“. Diese werde heute im Gegensatz zu den 1920er und 1960er Jahren nicht mehr als ein „gesellschaftlich zu schützendes Entwicklungsmodell“ angesehen. Zu den genannten Zeitpunkten sei „die junge Generation als strategische Sozialgruppe einer entwicklungsbewussten, wachstumsorientierten Gesellschaft“ wahrgenommen worden. Dieses Grundverständnis habe im „Jugendmodell“ eines bildungsorientierten Übergangs ins Erwachsenenalter und des Experimentierens mit neuen Denk- und Lebensstilen seinen sozial- und kulturwissenschaftlichen Ausdruck gefunden. Die ehemals von der Gesellschaft „geschützte Lebensphase“ sei in den europäischen Ländern mit einer „sozialstaatlichen Moratoriumskonstruktion“ für die jugendlichen Altersgruppen aber inzwischen zu einem offenen und mit Risiken behafteten Bereich der Selbstbehauptung und „ökonomisierten Generationenkonkurrenz“ geworden (Böhnisch/Schröer 2001: 112 f.; 115 u. 118). Auch Karl Mannheims historisches Generationenkonzept interpretierte die Jugendphase als eine Art Bildungsmoratorium im Übergang zur Berufs- und Lebenswelt der Erwachsenen. Die Lebensverlaufspassage des Jugendalters galt als glücklich durchlaufen, wenn die jungen Erwachsenen nach dieser Ausbildungszeit bruchlos in die moderne Arbeitsgesellschaft integriert wurden und den Status der ökonomischen Selbstständigkeit von ihren Eltern erlangen konnten. Demgegenüber diffundiert die Arbeitsgesellschaft heute auf vielfältige Weise in die jugendlichen Lebenswelten. In der Jugendphase durchmischen sich Angebote und Aufgabenprofile aus den Bereichen Freizeit/Kultur, Bildung und Arbeit, so dass Sozialwissenschaftler von ihrer regelrechten „Entgrenzung“ sprechen (Böhnisch/Lenz/Schröer 2009: 193). Vor diesem Hintergrund verblasst auch die Erklärungskraft des Generationenmodells von Mannheim. An einem Grundgedanken seines klassischen Ansatzes bleibt aber festzuhalten: Im Interesse ihrer Erneuerungsfähigkeit muss jede Gesellschaft die Voraussetzungen für eine alles Überkommene in Frage stellende und innovative Kreativität frei setzende Jugendphase schaffen. Auf die gegenwärtige Situation bezogen machen Lothar Böhnisch, Wolfgang Schröer und Hans Thiersch indes ein „Freisetzungsparadoxon“ aus. Es resultiere vor allem aus der Ambivalenz und Doppelbödigkeit des globalisierten Neokapitalismus. Jungen Menschen werde zwar abverlangt, früh und fristgerecht ihre Ausbildungsphasen abzuschließen. Ob sie dadurch aber mittel- und langfristig biographisch abgesichert werden, bleibe im Ungewissen. Erworbene Berufsqualifikation und individuelle Lebensperspektiven könnten viele von ihnen daher erst lange nach dem Ende ihrer Jugendzeit miteinander in Einklang bringen (Böhnisch/Schröer/Thiersch 2005: 148). Dieser unübersehbare Entwick30
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lungstrend verursache beträchtliche „soziale Kosten“, die wiederum auf die Familien der Jugendlichen und jungen Erwachsenen abgewälzt würden. Die Verantwortung des Sozialstaats und der Öffentlichkeit für die Jugend werde mehr und mehr privatisiert (Böhnisch/Schröer 2001: 112).
Fazit Prekarität kann in der heutigen Gesellschaft jeden treffen. Jugendliche unterliegen jedoch besonders der Gefahr, dass der Übergang ins Berufsleben nicht bewältigt werden kann. Eine Studie des DGB bestätigte vor Kurzem erneut, dass selbst höhere Bildungsqualifikationen längst keine Garantie mehr für eine erfolgreiche Erwerbsbiographie bieten (AFP 2009). Soziale Netzwerke gewinnen in dieser Situation weiter an Bedeutung, was insbesondere die Familien immer enger zusammenrücken lässt. Konfliktsituationen werden zugunsten einer (oft auch erzwungenen) Solidarbeziehung vermieden. Allerdings unterscheiden sich sowohl die finanziellen Möglichkeiten der Familien in Ost und West als auch deren Erfahrungsräume beträchtlich voneinander. Während in Osteuropa einschließlich Ostdeutschlands der Systemumbruch zum zentralen – auch erwerbsbiographischen – Schlüsselerlebnis wurde, wird die Erfahrung in Westeuropa durch eine bislang unbekannte Infragestellung wohlfahrtsstaatlicher Sicherheit bestimmt. Jugendliche und junge Erwachsene prägt heute im Allgemeinen eine hohe Anpassungs- und Leistungsorientierung. Die historisch bedingte starke Arbeitsorientierung in den postsozialistischen Staaten und die Prekaritätserfahrungen der Umbruchsperiode verstärken diese Tendenz unter ostdeutschen und osteuropäischen Jugendlichen zu einer Art „verfleißigter“ Arbeitseinstellung. Für deren Ausbildungsgrad scheint ausschlaggebend zu sein, ob die Anpassungsstrategien der Eltern im Staatssozialismus von ihren Kindern als erfolgreich wahrgenommen werden. Westeuropäische Jugendliche erfahren hingegen, dass ihnen eine Teilhabe an dem in der Gesellschaft längst erreichten Wohlstandsniveau im zunehmenden Maße verwehrt bleibt. Der Widerspruch zwischen der eigenen prekären Lebenslage und ihren Zukunftserwartungen, die sich an den Normalitätsstandards ihrer sozialen Umwelt orientieren, führt die Jugendlichen im Westen zum Aufbegehren. Ihre Proteste gleichen dem situativen Einfordern eines Wohlstandsversprechens, das gegenüber ihren Eltern noch weitgehend eingelöst wurde. Im Osten sind derartige Proteste dagegen kaum zu beobachten. Hier wie dort verstehen sich die Jugendlichen als eher unpolitisch, treten jedenfalls nicht für neue Gesellschaftsentwürfe ein. Vielmehr sehen sie sich von den Problemen und Krisen der postfordistischen 31
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Arbeitsgesellschaft bedrängt, die das Moratorium der Jugendphase grundsätzlich in Frage stellen. Vermutlich wird die strukturbedingte Prekarität daher noch eine Vielzahl von Protestaktionen auslösen, die politischen Jugendgenerationen des 20. Jahrhunderts sind jedoch Geschichte.
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Génération Préc aire – ein europäisches Phänomen? KLAUS DÖRRE Brennende Autos in Vorstädten, Politiker, die menschliches „Ungeziefer“ mit der Hochdruckspritze aus dem Quartier säubern wollen und Jugendliche ohne Furcht vor der Staatsgewalt, weil ihnen mit der Perspektive auch die Angst vor dem Gefängnis abhandengekommen ist. Für einen Augenblick hatten die Revolten in den französischen Vorstädten das öffentliche Interesse auf einen Ausschnitt der sozialen Frage gelenkt, die am Beginn des 21. Jahrhunderts wieder ins Zentrum der Politik gerückt ist. Bei den Jugendlichen, die sich in eine scheinbar ziellose Militanz flüchteten, handelte es sich – vermeintlich – um die „Entbehrlichen“ der Arbeitsgesellschaft, um Gruppen ohne realistische Chance zur Integration in reguläre Erwerbsarbeit (kritisch: Wacquant 2009). Die begrenzte Abkoppelung von gesellschaftlichen Sicherungssystemen, wie sie in den abgehängten Quartieren stattfindet, ist jedoch nur der extremste Ausdruck einer Entwicklung, die der französische Sozialwissenschaftler Robert Castel (2005: 54 ff.) als „Rückkehr der Unsicherheit“ in die reichen Gesellschaften des Westens bezeichnet hat. Obwohl „diese Gesellschaften von Sicherungssystemen umgeben und durchzogen sind“, bleibt die Sorge um die Sicherheit in ihnen „allgegenwärtig“, sie „beschäftigt weite Teile der Bevölkerung“ (ebd.: 8). Begreift man sie als Chiffre für die Ausbreitung sozialer Unsicherheit, lassen sich französische Verhältnisse in vielen westlichen Gesellschaften beobachten. Und es sind längst nicht mehr allein die Ausgeschlossenen und Entbehrlichen, die gegen die Prekarisierung von Arbeits- und Lebensverhältnissen protestieren. In Griechenland waren es vorwiegend Jugendliche aus der Arbeiterschaft und den Mittelschichten, 39
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die als Angehörige der sogenannten 700-Euro-Generation zur Jahreswende 2008/2009 gegen Verhältnisse revoltierten, in denen selbst ein akademischer Abschluss häufig nur zum Aushilfsjob reicht (Kritidis 2008). Auch das ist ein Beispiel für nicht-normierte soziale Konflikte, in denen Teile der jungen Generation eine Hauptrolle spielen. Wer die soziologische Prekarisierungsdiskussion verfolgt hat, den werden solche Entwicklungen kaum überraschen. Bereits Ende der 1990er Jahre hatte der inzwischen verstorbene französische Soziologe Pierre Bourdieu unsichere Arbeits- und Lebensverhältnisse ins Zentrum einer Zeitdiagnose gerückt, an der sich sozialwissenschaftliche Kommentatoren bis heute abarbeiten. Prekarität, so Bourdieu, verändert nicht nur diejenigen, die sie erleiden; die „objektive Unsicherheit bewirkt eine allgemeine subjektive Unsicherheit, welche heutzutage mitten in einer hoch entwickelten Volkswirtschaft sämtliche Arbeitnehmer, einschließlich derjenigen unter ihnen in Mitleidenschaft zieht, die gar nicht oder noch nicht von ihr betroffen sind“ (Bourdieu 2004: 108). So gefasst, bezeichnet Prekarität eine gesellschaftliche Tendenz zur Verallgemeinerung sozialer Unsicherheit, deren Ursprung vornehmlich im ökonomischen und im Erwerbssystem der Gesellschaft zu verorten ist. In der Bourdieuschen Diktion wirkt Prekarität allerdings wie ein politischer Kampfbegriff. Die Kategorie steht im Zentrum einer Anklage, die sich gegen die Theodizee, das Glaubenssystem der neoklassischen Ökonomie, richtet. Um Begriffe wie Prekarität und Prekarisierung analytisch-wissenschaftlich verwenden zu können, müssen die damit bezeichneten Phänomene jedoch präziser bestimmt werden, als Bourdieu das in seiner politischen Publizistik geleistet hat. Die nachfolgenden Überlegungen gehen von der These aus, dass sich seit den 1970er Jahren auch in kontinentaleuropäischen Staaten eine historisch neue Form unsicherer Arbeits- und Lebensverhältnisse ausbreitet, die hier vorläufig als diskriminierende Prekarität bezeichnet wird. Ausmaße und Ausprägungen diskriminierender Prekarität variieren mit den Institutionensystemen nationaler Kapitalismen; die Transfermechanismen, die zur Ausbreitung dieses Phänomens beitragen, ähneln sich jedoch in unterschiedlichen Gesellschaften stark. Im europäischen Vergleich wirken die skandinavischen Gesellschaften besonders prekarisierungsresistent, während der Übergang zu diskriminierender Prekarität vor allem in rheinischkorporativen Wohlfahrtsstaaten eine gravierende Zäsur bedeutet. Nachfolgend sollen diese Thesen in mehreren Schritten erläutert werden. Zunächst geht es um zentrale Kategorien, um eine genauere Bestimmung von Prekarität und Prekarisierung. Anschließend werden Übergänge zu und die Ausbreitung von diskriminierender Prekarität in europäischen Gesellschaften analysiert. Zum Schluss folgt ein knappes 40
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Resümee, das versucht, jugend- und generationsspezifische Verarbeitungsformen von Prekarisierung einzubeziehen. In der Darstellung wird der – von der eigenen Forschergruppe ausgeleuchtete – deutsche Fall als Maßstab genutzt, um punktuell Brückenschläge zur differenzierten europäischen Realität zu versuchen.
Was ist Prekarität? Seiner etymologischen Bedeutung nach lässt sich prekär mit widerruflich, unsicher oder heikel übersetzen. Aktuell wird der Begriff genutzt, um die Ausbreitung unsicherer Beschäftigungs- und Lebensverhältnisse in den westlichen Gesellschaften zu thematisieren. Um die sozialen Wirkungen von Prekarisierungsprozessen angemessen erfassen zu können, soll hier eine Analyseperspektive gewählt werden, die die Transformation sozialstaatlich regulierter Lohnarbeitsgesellschaften gewissermaßen von unten, aus der Perspektive nicht nur der Armen und Arbeitslosen, sondern auch der wachsenden Gruppe unsicher Beschäftigter rekonstruiert. Eine solche Analyse bliebe jedoch unvollständig, wenn sie den Blick derjenigen aussparte, die sich – aufgrund ihrer sozialen Position – noch immer zu den Gesicherten zählen können (Paugam 2008: 25-69). Ein stark diskutiertes, auf einer historisch komparativen Soziologie beruhendes Analysekonzept, das beide Perspektiven zu integrieren sucht, hat der französische Sozialwissenschaftler Robert Castel (2000) vorgelegt. In Anlehnung an die Durkheimsche Denktradition betrachtet Castel sozialstaatlich regulierte Lohnarbeit in dauerhaften Beschäftigungsverhältnissen als ein zentrales gesellschaftliches Integrationsmedium. Dieses Integrationsmedium bildete sich in einem langwierigen historischen Prozess heraus, in dessen Verlauf Lohnarbeit ihren unsteten, unsicheren Status mehr und mehr einbüßte. Das Proletariat, wie es Marx vor Augen hatte, war auf strukturell unsichere Lohnarbeit angewiesen und befand sich daher in einem Zustand der weitgehenden Entkoppelung von gesellschaftlichen Sicherungssystemen. Die sozialpolitische Lösung dieses Problems, die sich nach 1945 in den westlichen Kapitalismen und – gleichsam als Zwillingsbruder einer organisierten Moderne (Wagner 1995) – in den staatsbürokratischen Sozialismen in voller Blüte durchsetzte, bestand in der Verknüpfung von Erwerbsarbeit mit starken Schutzmechanismen. Auf diese Weise wurde abhängige Erwerbsarbeit auch in den kapitalistischen Marktwirtschaften „zu einer Beschäftigung, versehen mit einem Status, der über den Markt hinaus Garantien bereithält, wie einen Mindestlohn [das gilt eher für Frankreich als für Deutschland], arbeitsrechtliche Be41
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stimmungen, Unfall-, Kranken- und Rentenversicherung und so fort“ (Castel 2005: 40 f.). Die große Mehrheit der Bevölkerung gelangte über die Konsolidierung des Erwerbsstatus zu einem „sozialen Bürgerschaftsstatus“, der sich über Ansprüche auf soziales Eigentum, einem „Eigentum zur Existenzsicherung“ konstituierte, das all jenen zur Verfügung steht, „die bisher nicht über Eigentum abgesichert waren“ (ebd.: 41). Die Verfügung über soziales Eigentum, wie z.B. der Rechtsanspruch auf eine Rente, wurde an die Erwerbsarbeit und im rheinisch-korporativen Wohlfahrtsmodell an die Institution der Vollzeitbeschäftigung in einem Normalarbeitsverhältnis angekoppelt. Auf diese Weise konnte sich eine Gesellschaft nicht der Gleichen, aber doch der Ähnlichen herausbilden. In ihr blieben soziale Disparitäten bestehen, dies aber auf der Grundlage eines hohen Absicherungsniveaus. Ungleichheiten wurden bis zu einem gewissen Grad toleriert, weil die harten Konflikte um Wachstumsgewinne im Rahmen eines geregelten Konfliktmanagements ausgetragen wurden und zudem auf jeder Stufe der sozialen Hierarchie der Eindruck bestand, dass genügend Mindestressourcen vorhanden seien, um die eigene Unabhängigkeit zu sichern. Armut und Prekarität waren keineswegs völlig verschwunden; vor allem in den südlichen Armutsregionen, unter Migranten, in den von Frauen dominierten Segmenten des Arbeitsmarktes und bei Outsidergruppen, die ihre Reproduktion nicht selbstständig sichern konnten, waren sie stets präsent. Dennoch gelang es in den prosperierenden kontinentaleuropäischen Gesellschaften, Prekarität zu marginalisieren. Unsichere Arbeits- und Lebensverhältnisse waren außerhalb der tariflich und gesetzlich geschützten Lohnarbeit angesiedelt. Marginale Armut und Prekarität eigneten sich daher hervorragend für individualisierende Problemdeutungen. Die „Schmuddelkinder“ (Degenhardt 2003) der Gesellschaft dienten als Projektionsfläche für negative Klassifikationen und Schuldzuschreibungen. Der Pauperismus schien für die Mehrheiten in den Lohnarbeitsgesellschaften erledigt und allenfalls als Problem von Fürsorge- und Wohlfahrtseinrichtungen relevant. Das hat sich während der zurückliegenden Dekaden grundlegend geändert. Dies zum einen, weil sich die immanenten Wachstumskräfte des „sozialen Kapitalismus“ (Sennett 2007: 27) erschöpft hatten, und zum anderen, weil mit dem staatsbürokratischen Sozialismus nunmehr ein externer Herausforderer fehlte, der vergleichsweise hohe Sozialkosten innerhalb der kapitalistischen Zentren legitimierte (Hobsbawm 1994: 705-711). Der sozialstaatlich eingehegte, organisierte Kapitalismus funktionierte auf der Grundlage von wirtschaftlicher Prosperität und einer Zugehörigkeit der Individuen zu kollektiven Vertretungsinstanzen. 42
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Im Zuge von wirtschaftlicher Internationalisierung und der Durchsetzung eines flexiblen, individualisierten Arbeitsmanagements haben sich die sozialen Voraussetzungen stabiler Beschäftigung jedoch mehr und mehr verflüchtigt. Für die Gegenwart ist kennzeichnend, dass die Flexibilisierung betrieblicher Arbeits- und Beschäftigungsverhältnisse immer weniger durch eine robuste sozialstaatliche Regulationsweise abgefedert wird. Stattdessen vollzieht sich der Verlust an Sicherheiten in Unternehmen und Gesellschaft zumindest in europäischen Staaten wie Deutschland und Frankreich zunehmend synchron; d.h. die ökonomischen und politischen Quellen der Unsicherheitsproduktion verstärken sich wechselseitig. Im Unterschied zur Situation des Proletariats im 19. Jahrhundert resultieren die zeitgenössischen Ausformungen von Prekarität jedoch aus Abweichungen vom Leitbild eines sozialstaatlich konstituierten Normalarbeitsverhältnisses, das für das Arbeitsbewusstsein der kontinentaleuropäischen Mehrheitsgesellschaften noch immer konstitutiv ist. Wie Integration durch Erwerbsarbeit und Teilhabe an sozialen Netzen und wohlfahrtsstaatlichen Institutionen zusammenhängen, ist derzeit eine offene Frage. Im Sinne einer Forschungsheuristik geht Robert Castel davon aus, dass sich die westlichen Gesellschaften in unterschiedliche Zonen sozialer Kohäsion aufspalten. Um diese Heuristik tatsächlich nutzen zu können, müssen allerdings einige Weiterungen vorgenommen werden. Die erste Modifikation ergibt sich aus einer impliziten Kritik Serge Paugams (2009: 175-196) am Castelschen Ansatz. Castel stellt auf der Achse der Integration durch Erwerbsarbeit primär auf die Stabilität des Beschäftigungsverhältnisses ab, dabei wird die qualitative Dimension, das Problem der inhaltlichen Zufriedenheit und Identifikation mit der Arbeitstätigkeit, jedoch vernachlässigt. Diese qualitative Dimension liefert zudem Kriterien für eine Differenzierung innerhalb der „Zone der Integration“. Das ist wichtig, weil die Zoneneinteilung nicht über Ungleichheit innerhalb der Zonen hinwegtäuschen darf (Kronauer 2002: 210). Es ist jedoch nicht allein die von Paugam angeführte Qualität der Arbeit, die für Differenzierung sorgt. Über die Beschäftigungsstabilität hinaus spielt auch die Lohnhöhe bei der Bemessung von Prekarisierungsrisiken eine wichtige Rolle. So ist es durchaus möglich, dass ein formal unbefristetes und tariflich geschütztes Beschäftigungsverhältnis mit einem Niedrig- oder Armutslohn entgolten wird, der unterhalb des in der Gesellschaft definierten kulturellen Minimums angesiedelt ist. Auch das muss bei einer Definition von prekärer Beschäftigung Berücksichtigung finden. Läuft das Lohnkriterium auf eine Erweiterung der reproduktiven Dimension von Erwerbsarbeit hinaus, muss die qualitative Di43
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mension von Erwerbsarbeit bei der Definition von prekärer Beschäftigung als eigenständige Quelle von (Des-)Integration systematisch abgebildet werden. Die zweite Weiterung hat Martin Kronauer (2006: 27-45) in seiner Auseinandersetzung mit dem Castelschen Zonenmodell vorgeschlagen. Kronauer argumentiert, dass Castel das Integrationspotential von (politischen) Bürgerrechten vernachlässigt. Tatsächlich besitzen Bürgerrechte und darauf gegründete politische Partizipation nicht nur einen eigenen historischen Ursprung; die Konflikte und Auseinandersetzungen, die zur Durchsetzung und Institutionalisierung solcher Rechte führen, sagen auch etwas über die Qualität von Integrationsprozessen aus. Soziale Integration muss nicht auf Zustimmung zu einem Status Quo beruhen. Auch demokratisch ausgetragene Konflikte können integrativ wirken. Unter Berücksichtigung der Partizipationsdimension können demnach eher affirmativ-zustimmende von eher kritisch-konfliktorischen Integrationsformen unterschieden werden. Auf die rechtlich-institutionelle Form der Partizipationsdimension bezogen, bedeutet prekäre Beschäftigung dann, dass eine Arbeitstätigkeit Beschäftigte vom vollen Genuss institutionell verankerter sozialer Rechte und Partizipationschancen ausschließt. Denn in der Tendenz gilt, dass tarifliche Rechte, Mitbestimmungsmöglichkeiten, Betriebsvereinbarungen sowie soziale Schutz- und Sicherungsrechte (z.B. Kündigungsschutz, Rentenversicherung) in vollem Umfang nur für unbefristete Vollzeitbeschäftigte gelten (MayerAhuja 2003: 14 u. 34 ff.; Brinkmann et al. 2006). Aus den bislang vorgestellten Bestimmungen geht hervor, dass Prekarität ein Begriff ist, dessen konkreter Inhalt sich mit der Entwicklung der Erwerbsarbeit verändern kann. In der Gegenwartsgesellschaft bezieht sich die Kategorie prekäre Beschäftigung zunächst auf jene Normen, die unter dem Begriff Normalarbeitsverhältnis zusammengefasst werden. Soll die Dynamik, mit der die Prekarisierung von Arbeitsverhältnissen in den entwickelten Kapitalismen voran schreitet, präzise analysiert werden, ist es allerdings sinnvoll, neben den strukturellen Kriterien auch die subjektiven Verarbeitungsformen unsicherer Beschäftigung in die Analyse einzubeziehen. Eine Erwerbstätigkeit, die nach ihren strukturellen Kriterien als prekär zu bezeichnen ist, muss von denen, die eine solche Tätigkeit ausüben, subjektiv keineswegs als heikel eingestuft werden. Umgekehrt gilt, dass ein Beschäftigungsverhältnis auch dann Prekarisierungsrisiken beinhalten kann, wenn es sich im Bewusstsein des oder der Beschäftigten um eine erwünschte Form der Erwerbstätigkeit handelt.
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Insofern bildet die Kategorie prekäre Beschäftigung eine besondere Beziehung von Erwerbstätigen zu ihrer Berufsbiographie ab. Ein nach strukturellen Merkmalen prekäres Beschäftigungsverhältnis konstituiert eine erwerbsbiographische Problemlage, die mehr oder minder aktiv bearbeitet und bewertet wird. Dabei beeinflussen der Neigungswinkel der Erwerbsbiographie, individuelle Qualifikationen und Kompetenzen, Konstruktionen von Geschlecht, Nationalität und Ethnie sowie das Lebensalter die Art der Auseinandersetzung mit und die Bewertung von prekären Arbeits- und Lebensverhältnissen. Gemeinsam mit den aus der Struktur des Beschäftigungsverhältnisses erschließbaren, ermöglichen die eher der subjektiven Verarbeitung zurechenbaren Kriterien eine vorläufige Definition von prekärer Beschäftigung: Als prekär kann ein Erwerbsverhältnis immer dann bezeichnet werden, wenn die Beschäftigten aufgrund ihrer Tätigkeit deutlich unter ein Einkommens-, Schutz- und soziales Integrationsniveau sinken, welches in der Gegenwartsgesellschaft als Standard definiert und mehrheitlich anerkannt wird. Und prekär ist Erwerbsarbeit auch, sofern sie subjektiv mit Sinnverlusten, Anerkennungsdefiziten und Planungsunsicherheit in einem Ausmaß verbunden ist, das gesellschaftliche Standards deutlich zuungunsten der Beschäftigten korrigiert. Nach dieser Definition ist Prekarität nicht identisch mit vollständiger Ausgrenzung aus dem Erwerbssystem, absoluter Armut, totaler sozialer Isolation und erzwungener politischer Apathie, wenngleich sie solche Phänomene einschließen kann. Vielmehr handelt es sich um eine relationale Kategorie, deren Aussagekraft wesentlich von der Definition gesellschaftlicher Normalitätsstandards abhängt. Wo unsichere Arbeit zum Dauerzustand wird und die Verrichtung solcher Tätigkeiten soziale Lagen für gesellschaftliche Gruppen konstituieren, kann im Anschluss an Robert Castel (2000: 15) von der Herausbildung einer „Zone der Verwundbarkeit“ gesprochen werden.1 Mit Prekarisierung soll indessen ein sozialer Prozess bezeichnet werden, der über die Erosion von Normalitätsstandards auch auf die Integrierten zurückwirkt. Gerade mit Blick auf Jugendliche und Heranwachsende ist diese Definition allerdings erweiterungsbedürftig. Die Jugendphase ist eine Statuspassage, die sich für große Gruppen gerade durch die Abwesenheit von Erfahrungen mit Erwerbsarbeit und betrieblichen Strukturen auszeichnet. Die erzwungene Verlängerung dieser Statuspassage, die wesentlich aus strukturellen und – problemverschärfend – zusätzlich auf subjektiven Zugangsbarrieren zu gesicherter Beschäftigung resultiert, 1
Die Wortschöpfung Prekariat, die inzwischen Eingang in den Duden gefunden hat, ist wissenschaftlich mit Vorsicht zu genießen. Sie kokettiert mit einer Analogie zur Marxschen Kategorie des Proletariats, die analytisch durchaus fragwürdig ist. 45
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konstituiert sozial differenzierte biographische Konstellationen, die besser mit der Kategorie des prekären Lebens als über prekäre Arbeit zu erfassen sind. Prekarität meint hier vor allem den Ausschluss von Bildungs- und Erwerbschancen sowie die mangelnde Integration in soziale Netze, die entsprechende Chancen eröffnen könnten.
Der Übergang zu diskriminierender Prekarität Halten wir fest: Zeitgenössische Ausprägungen von Prekarität und Prekarisierung müssen vor dem Hintergrund von Sicherheitsgarantien und Sicherheitskonstruktionen betrachtet werden, wie sie sich in prosperierenden Wohlfahrtsstaaten nach 1945 herausgebildet haben. Über Institutionensysteme, Interessenorientierungen und Habitualisierungen wirken diese Sicherheitskonstruktionen gewissermaßen über ihre Erzeugungsbedingungen hinaus. Was rechtfertigt es nun aber, vom Übergang zu einer historisch neuen Gestalt der Prekarisierung zu sprechen? Und welche sozioökonomischen und politischen Triebkräfte lassen sich identifizieren? Hauptursache des Übergangs von einer marginalen zu einer diskriminierenden Form der Prekarität ist eine finanzmarktgetriebene Landnahme (Dörre 2009 a, b), die in den 1970er Jahren einsetzte. Diese Landnahme zielt auf die Dynamisierung der Kapitalakkumulation mittels Schwächung marktbegrenzender Institutionen und Regulierungen. Finanzmarkt-Kapitalismus bezeichnet in diesem Kontext eine besondere kapitalistische Entwicklungsetappe. Sie verbindet einen Modus der Kapitalakkumulation2, der auf einer relativen Dominanz von finanziellem Anlagekapital beruht, mit flexibel-marktzentrierten Produktionsmodellen und Regulationsdispositiven (Verknüpfungen von öffentlichen Diskursen und institutionellen Praktiken), die Marktförmigkeit, Eigenverantwortung und Wettbewerbsfähigkeit gegenüber dem Solidarprinzip priorisieren (Dörre 2009b). So verstanden, handelt es sich beim Finanzmarkt-Kapitalismus keineswegs ausschließlich um eine besondere Wirtschaftsweise. Vielmehr wird die finanzkapitalistische Wettbewerbslogik über diverse Transfermechanismen auf mehr oder minder alle Sektoren
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Der Begriff des Akkumulationsregimes beinhaltet die Idee einer vorübergehenden Überwindung der Schranken des Kapitalismus durch institutionelle Konstrukte. Das fordistische Regime entstand aus politischen Verhältnissen, die dem Kapital aufgezwungen wurden, es hat allerdings auch von exogenen Faktoren (Rekonstruktionsperiode, Bipolarität des Weltsystems) profitiert (Chesnais 2004: 217).
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einer gemischten Wirtschaft übertragen und so in die Gesellschaft hinein verallgemeinert. Diverse Transferprozesse wurden über Jahrzehnte durch die Dominanzverhältnisse in den internationalen Beziehungen stimuliert. Das sogenannte Dollar-Wallstreet-Regime (Henwood 1994) samt einer Währungspolitik, mit der die USA versuchten, ihre Führungsrolle in der Weltwirtschaft zu behaupten, sorgten unter tätiger Mithilfe nationaler Regierungen dafür, dass konstitutive Elemente des Finanzkapitalismus in die kontinentaleuropäischen Ökonomien integriert wurden. Die Ausbreitung dieser Kapitalismusvariante hat mit dafür gesorgt, dass die Liquiditätsprinzipien globaler Finanzmärkte auf die Realwirtschaften übertragen wurden. Transfermechanismen auf der innerstaatlichen Ebene sind z.B. der Markt für Unternehmenskontrolle und die ShareholderValue-Steuerung von Unternehmen (Windolf 2005). Beide haben für eine tiefgreifende Restrukturierung des weltmarktorientierten privatwirtschaftlichen Sektors gesorgt. Unter ihrem Einfluss ist eine Planwirtschaft im Dienste von Maximalprofiten und Höchstrenditen entstanden, in der Gewinne nicht mehr als Resultat realer wirtschaftlicher Leistungen erscheinen. Vielmehr legen die Managementspitzen Renditeziele und Gewinnmargen als Kennziffern fest, an der sich Führungskräfte und Belegschaften der Unternehmen verbindlich zu orientieren haben. In der Folge verändern sich die Steuerungsformen und Kontrollmodi von Unternehmen ebenso wie die Managementstile und die Personaleinsatzkonzepte. Managemententscheidungen folgen zunehmend den Schwankungen von Aktienkursen, dem Diktat der Quartalsberichte und nicht zuletzt den Egoismen, die aus Aktienoptionen und Gewinnbeteiligungen für Spitzenmanager resultieren. Auf diese Weise ist ein Regime der kurzfristigen Zeit entstanden, das über einen abstrakten, marktzentrierten Kontrollmodus für eine Verstetigung der Konkurrenz in Betrieben und unter den Beschäftigten sorgt. Hier lässt sich eine wesentliche Ursache der neuen Prekarisierung verorten. Um sich auf volatile Märkte mit ihren raschen Schwankungen einzustellen und die geplanten Gewinnmargen längerfristig garantieren zu können, sind Löhne, Arbeitszeiten und Arbeitsbedingungen zu Restgrößen geworden, die es flexibel an die Auftragslage anzupassen gilt. Den Druck geplanter Gewinnmargen geben marktführende Unternehmen nicht nur an Führungskräfte und Belegschaften weiter, auch Zulieferunternehmen und mit ihnen abhängige Segmente kleinerer und mittlerer Betriebe werden erfasst. Um ein an den Konjunkturverlauf angepasstes „Atmen“ von Unternehmen zu ermöglichen, gewinnen flexible Beschäftigungsformen und vor allem externe Flexibilisierungsinstrumente wie Befristungen, Werkverträge und Leiharbeit in den Wertschöpfungssystemen an Bedeutung. Of47
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fenkundig macht das finanzkapitalistische Regime Methoden der Gewinnsteigerung wieder attraktiv, die auf der Verlängerung von Arbeitszeiten, auf Lohnkürzungen und der Verschlechterung von Arbeitsbedingungen beruhen. Um eine Art „garantiertes Mindestaktionärseinkommen“ zu ermöglichen, versuchen Unternehmen, Extraprofite aus der Flexibilisierung und Prekarisierung von Arbeit zu ziehen (Chesnais 2004: 235 f.). Da entsprechende Wettbewerbsvorteile leicht zu kopieren und daher nur flüchtig sind, muss der „Motor“ dieser Art von Landnahme beständig durch neue Unterbietungskonkurrenzen, Ausgründungen, Auslagerungen und Deregulierungen in Gang gehalten werden. Die als Plansoll vorausgesetzte Stabilität von Aktionärseinkommen und Gewinnen zieht so eine wachsende Unsicherheit von Arbeits- und Lebensverhältnissen nach sich. Finanzmarkt-Kapitalismus und Prekarisierung sind daher letztendlich zwei Seiten einer Medaille. Gegen diese Interpretation ließe sich einwenden, dass sie auf einer selektiven, weil allein auf den weltmarktorientierten Sektor ausgerichteten Betrachtung beruht. Doch die finanzkapitalistische Landnahme bleibt nicht auf diesen Wirtschaftsbereich beschränkt. Weil er Bestandsgarantien nur noch für Unternehmensteile gibt, die den Gewinnvorgaben entsprechen, forciert der Finanzmarkt-Kapitalismus den wirtschaftlichen Strukturwandel. Der klein- und mittelbetriebliche Sektor wird über Kreditinstitute und Bilanzierungsregeln mit der finanzkapitalistischen Wettbewerbslogik konfrontiert (Bluhm/Schmidt 2008; Becker/Bluhm/Martens 2008: 213 ff.). In der Konkurrenz um Unternehmensansiedlungen und staatliche Fördermittel treten Regionen als kollektive Unternehmer gegeneinander an (Dörre/Röttger 2006). Zugleich expandieren Sektoren und Bereiche mit vorwiegend reproduktiven Tätigkeiten, in denen institutionelle wie organisierte Arbeitermacht vergleichsweise schwach ausgeprägt sind. Die stärkere Abhängigkeit unmittelbar wertschöpfender Arbeiten von einem beständig zunehmenden Volumen an reproduktiven Tätigkeiten steht jedoch in einem spiegelverkehrten Verhältnis zur gesellschaftlichen Wertschätzung und sozialen Absicherung vieler Humandienstleistungen und Reproduktionsarbeiten. Zum Transfer der finanzkapitalistischen Logik gehören ferner die (Teil-) Privatisierungen und Börsengänge zuvor öffentlicher Unternehmen, die im Bereich von Bahn, Post und Telekommunikation tätig sind. Sie konkurrieren auf wichtigen Geschäftsfeldern mit privaten Anbietern, die den Wettbewerb häufig mit Lohndumping und prekären Arbeitsbedingungen ihrer Beschäftigten bestreiten. Auch der Staat selbst hat sich dieser Form der Landnahme angepasst (Crouch 2008: 101-132; Lessenich 2008). Öffentliche Verwaltungen privatisieren Leistungen und restrukturieren sich selbst nach Prinzipien des New Public Management. In der Folge werden, wie im deutschen 48
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Fall, Outsidergruppen wie Langzeitarbeitslose zu „Kunden“ der Verwaltungen, um unter dem Druck strenger Zumutbarkeitsregeln ein unternehmerisches Verhältnis zu ihrem Arbeitsvermögen zu entwickeln (Bescherer et al. 2008: 19). Ideologische Triebkraft dieser Landnahme ist ein „neuer Geist des Kapitalismus“, der Freiheit ausschließlich negativ, d.h. als Abwesenheit von Zwang definiert und die finanzkapitalistische Restrukturierung im Namen von Selbstbestimmung und Eigenverantwortlichkeit als Befreiungsprojekt zu legitimieren sucht (Boltanski/Chiapello 2003: 46). Sicher mündet die ideologische Offensive finanzkapitalistischer Wettbewerbslogik nicht in einen Vermarktlichungsautomatismus. Gerade in den kontinentaleuropäischen Staaten reiben sich Politiken, die auf eine Stärkung der Marktkoordination zielen, an sperrigen institutionellen Filtern ebenso wie an konkurrierenden Teilrationalitäten. Dennoch haben die ideologischen Transfers das gesellschaftliche Regulationsdispositiv umgeformt. Organisierte Arbeitsbeziehungen und Tarifsysteme liefern dafür das beste Beispiel. Der Abbau kollektiver Schutzrechte und Sicherungssysteme trifft besonders jene Bereiche, in denen die Organisationsmacht von Gewerkschaften traditionell schwach ausgeprägt ist. Das gilt für den Niedriglohn- und den Non-Profit-Sektor mit ihren überdurchschnittlichen Frauenanteilen, für die von kleineren und mittleren Betrieben geprägten Regionen und für die expandierenden Segmente mit „immaterieller“ Arbeit, in denen es häufig keine betriebliche Interessenvertretungen gibt. Vor allem in der Kulturwirtschaft, im Medienbereich und dem NonProfit-Sektor mit seinen Weiterbildungsträgern, Beschäftigungs- und Transfergesellschaften sind die Grenzen zwischen kreativer und prekärer Arbeit fließend geworden. Mit voller Wucht trifft die Prekarisierung einfache, niedrig entlohnte Tätigkeiten. Das sind häufig personenbezogene Dienstleistungen im Pflegebereich, der Gastronomie, im Hotelgewerbe oder auch arbeitsintensive Boten- und Helfertätigkeiten. Als Folge der finanzgetriebenen Landnahme ist das Regime der „rationalisierte[n] Zeit“ (Sennett 2007: 24) erodiert, an dem eine Majorität der Lohnabhängigen samt ihrer Familien über Jahrzehnte partizipieren konnte. Zerfall bedeutet freilich nicht abruptes Verschwinden. In Deutschland wie auch in anderen kontinentaleuropäischen Ländern befindet sich die Mehrzahl der Beschäftigten formal noch immer in geschützter Beschäftigung. Diese Mehrheit definiert die gesellschaftlichen Standards für Einkommen und Beschäftigungssicherheit. Das geschieht jedoch in einem radikal veränderten gesellschaftlichen Umfeld, in welchem sich, wie wir in Anlehnung an Serge Paugam (2008: 282) argumentieren können, der Übergang von „marginaler“ zu „disqualifizierender“ oder – für den deutschen Sprachgebrauch besser – diskriminieren49
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der Prekarität vollzieht. Prekarisierung ist nun weniger denn je ein exklusives Problem sozialer Randschichten. Vielmehr prägen sich zumindest im deutschen Fall drei Strukturformen von Prekarität aus, die sich, so paradox das klingen mag, über sämtliche Zonen sozialer Kohäsion (Castel 2000: 360 f.) erstrecken. Am unteren Ende der sozialen Hierarchie befinden sich jene Gruppen, die schon Marx (1972: 657 ff.) als „Überzählige“ der kapitalistischen Arbeitsgesellschaft bezeichnet hatte. Zu ihnen gehört in Deutschland die Mehrzahl der gut 2,2 Millionen Langzeitarbeitslosen (Juli 2009) samt ihrer Familien, sowie knapp 1,1 Millionen sogenannte Aufstocker, deren Einkommen nicht ausreicht, um ohne Arbeitslosengeld-II-Bezüge leben zu können (BA 2009). Insgesamt handelt es sich um weit mehr als 7 Millionen Menschen.3 Soweit arbeitsfähig, streben diese sozial und kulturell äußerst heterogenen Gruppen in ihrer großen Mehrheit nach Integration in reguläre Beschäftigung. Nur kleine Minderheiten von Jugendlichen und Erwachsenen ohne realistische Chance auf Integration in reguläre Erwerbsarbeit verwandeln den objektiven Mangel an Chancen in eine auch subjektiv gewollte Orientierung auf ein Leben jenseits von regulärer Arbeit. Zwar kann von einer Herausbildung ghettoartiger Subgesellschaften hierzulande noch keine Rede sein, es gibt aber durchaus Hinweise, die für eine soziale Vererbung von Armut und Arbeitslosigkeit in – nicht nur ostdeutschen – Problemregionen sprechen (Dörre et al. 2008: 98). Von den Überzähligen lassen sich die eigentlichen Prekarier abgrenzen. Gemeint sind expandierende Gruppen – darunter auch das Gros der, unter Berücksichtigung von Fluktuationen, zwischenzeitlich mehr als eine Million Leiharbeiter –, die über längere Zeiträume hinweg auf die Ausübung unsicherer, niedrig entlohnter und gesellschaftlich gering angesehener Arbeiten angewiesen sind. Die Zunahme atypischer Erwerbsverhältnisse von 17,5% (1997) auf 25,5% (2007) aller abhängig Beschäftigten, wie sie in Deutschland über einen Zeitraum von zehn Jahren zu verzeichnen ist, stellt nur einen äußerst unzuverlässigen Indikator für diesen Prekarisierungstrend dar, weil er weder prekäre Selbstständigkeit noch die rasche Ausdehnung niedrig entlohnter Vollzeitbeschäftigung erfasst. Inzwischen verdienen in Deutschland ca. 6,5 Mio. Menschen weniger als 2/3 des Medianlohns (Bosch/Kalina 2007: 26 f.). Im Jahr 2006 traf dies bereits auf jeden siebten Vollzeitbeschäftigten zu. Die höchsten Anteile weisen Frauen (30,5%) und gering Qualifizierte
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Bei diesen und den nachfolgenden Zahlenangaben ist zu beachten, dass es sich lediglich um Annäherungen an das quantitativ schwer messbare Prekaritätsproblem handelt, weil Doppelzählungen möglich sind.
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(45,6%) auf. Doch rund 3/4 aller Niedriglohnbeschäftigten verfügten über eine abgeschlossene Berufsausbildung oder gar einen akademischen Abschluss (Kalina/Vanselow/Weinkopf 2008: 20-24). Dass die Aufwärtsmobilität im deutschen Niedriglohnsektor trotz solcher Voraussetzungen rückläufig ist, weist auf eine Verstetigung prekärer Lagen hin (Bosch/Kalina 2007: 42 ff.). Eine eher versteckte Ausprägung von Prekarität existiert in Deutschland innerhalb formal noch immer sicherer Beschäftigung. Gemeint ist die Angst vor Statusverlust, die relevante Teile der Arbeiter und Angestellten umtreibt. Solche Ängste entsprechen nicht unbedingt objektiven Bedrohungen, sie sind aber auch nicht bloßes Indiz übersteigerter Sicherheitsbedürfnisse. Standortkonkurrenzen, Reallohnverlust und die schleichende Aushöhlung von Kollektivvereinbarungen nähren selbst im gewerkschaftlich organisierten Kern der Arbeitnehmer die Befürchtung, den Anschluss an die Mittelschichten zu verlieren. Diese Ängste erfassen offenbar zunehmend auch Mittelschichtenangehörige. Zwar gibt es noch immer Indizien, die für eine erhebliche Stabilität eines Teils der sozialen Mitte sprechen, Erosionsprozesse lassen sich jedoch kaum übersehen. Angesichts einer Zunahme prekärer Arbeitsverhältnisse „gerade am Rand der gesellschaftlichen Mitte“, sinkender Einkommensvorsprünge und wachsender Arbeitsmarktrisiken sind Existenzängste auch im abgegrenzten „Kern der gesellschaftlichen Mitte“ zu beobachten (Müller/Werding 2007: 157; Grabka/Frick 2008). Unter dem Druck von wirtschaftlicher Internationalisierung und deutscher Vereinigung hat sich der für den sozialen Kapitalismus prägende Zug zur Mitte in eine neue Polarisierung von Arm und Reich verkehrt, so dass selbst konservative Zeitdiagnostiker von einer „neuen Klassengesellschaft“ sprechen (Nolte 2006: 96). In diesem Kontext vollzieht sich der Übergang von marginaler zu diskriminierender Prekarität. Betroffen sind in größerem Ausmaß zuvor integrierte Bevölkerungsteile, die aus der „produktiven Sphäre“ hinausgeschleudert werden und „hinsichtlich ihrer Einkommens-, Wohnungs- und Gesundheitssituation wie auch ihrer Teilhabe am gesellschaftlichen Leben mit immer prekärer werdenden Situationen zu kämpfen“ haben (Paugam 2008: 280). Charakteristisch für diese neue Form der Prekarität ist, das sie nicht nur einzelne Gruppen in Mitleidenschaft zieht, „sondern die gesamte Gesellschaft, insofern die Unsicherheit kollektive Angstgefühle erzeugt“ (ebd.). Betroffen sind zunehmend aber auch Jugendliche und junge Erwachsene, die – teilweise trotz guter formaler Bildung – große Schwierigkeiten haben, um den Sprung in halbwegs sichere und einigermaßen gut bezahlte Erwerbsarbeit überhaupt zu schaffen.
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Prekarisierung in Europa – einige Trends Die skizzierten strukturellen Ausprägungen von Prekarität entsprechen auffällig genau der Castelschen Arbeitshypothese. Wenn hier von diskriminierender Prekarität gesprochen wird, so muss hinzugefügt werden, dass Prekarität immer und in allen gesellschaftlichen Kontexten diskriminiert. Mit Blick auf die Gegenwart soll der Terminus jedoch eine Entwicklung akzentuieren, von der, wie schon angesprochen, zunehmend auch soziale Gruppen betroffen sind, die zuvor zu den gesicherten gehörten. Der Übergang zu diskriminierender Prekarität bezeichnet in Deutschland auch eine „Generationslage“, die Biographien von Jugendlichen und jungen Erwachsenen synchronisiert, indem er sie auf einem historisch vorgefundenen Niveau materieller Lebensverhältnisse am gleichen „Abschnitt des kollektiven Geschehens“ teilhaben lässt und so kollektive Handlungs- und Erfahrungsräume begrenzt (Mannheim 1964: 526, 528). Doch inwiefern bezeichnet der Übergang zu einer historisch neuen Gestalt der Prekarisierung eine europäische Realität? Zunächst lässt sich festhalten, dass die Datenlage insgesamt völlig unbefriedigend ist. Zwar gibt es vergleichende Daten zu Armut, Ungleichheit, atypischer Beschäftigung wie auch zu diversen Prekarisierungsphänomenen (Gallie/Paugam 2002). Die Frage ist jedoch, was solche Daten isoliert aussagen.
Ausmaß prekärer Beschäftigung – einige Beispiele Wenngleich sich Prekarität nicht auf das Phänomen der Beschäftigungssicherheit reduzieren lässt, ist der Niedergang einer „Hegemonie des unbefristeten Vertrags“ (Castel 2000: 348 f.) doch ein wichtiger Indikator. Nehmen wir daher als Beispiel die Daten zu befristeter Beschäftigung. In der EU werden über 66% aller befristeten Arbeitsverträge im Dienstleistungssektor abgeschlossen, darunter vor allem Einzelhandel, Gastronomie, Verkehr, Finanzen, aber auch der öffentliche Sektor (Scheele 2002). EU-weit haben 12,8% aller abhängig Beschäftigten einen befristeten Arbeitsvertrag, Deutschland liegt mit 12,2% knapp unter dem Durchschnitt. Eine wesentliche Zunahme des Anteils befristet Beschäftigter lässt sich im Zeitraum von 1998-2003 laut EU-Statistik nicht nachweisen (Ausnahme Polen, wo der Anteil von 5,2% im Jahr 1998 auf 18,9% im Jahr 2003 gestiegen ist). Es fällt auf, dass befristete Arbeitsverträge vor allem unter jüngeren Beschäftigten verbreitet sind. So hatten im Frühjahr 2003 EU-weit 37% der 15- bis 24jährigen Beschäftigten einen befristeten Vertrag, während dies nur auf 10,5% der 25- bis
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49jährigen und auf 5,9% der 50- bis 64jährigen zutraf. In allen EULändern liegt der Anteil der weiblichen Befristeten zum Teil deutlich über dem der männlichen. Nicht so in Deutschland, wo sich der Anteil der weiblichen befristet Beschäftigten (13,1%) an der gesamten abhängigen Beschäftigung sehr nahe am Anteil der männlichen (12,5%) befristet Eingestellten bewegt (Statistisches Bundesamt 2004). Blickt man vergleichend auf die Daten innerhalb der EU (2003), so wird eine große Spannbreite zwischen verschiedenen Mitgliedsstaaten sichtbar. Portugal (20,6%), Polen (18,9%) aber auch Finnland (17,9%) und Schweden (15,8%) weisen den höchsten Anteil von Befristungen an allen abhängig Beschäftigen auf. Frankreich (12,7%) und Zypern (12,5%) liegen mit Deutschland kurz unter dem EU-Durchschnitt. Niedrigere Anteile verteilen sich sowohl auf ältere EU-Mitglieder wie Griechenland (11,1%), Österreich (6,6%) und das Vereinigte Königreich (5,8%) als auch auf neuere wie Lettland (9,5%), Litauen (8,0%) und die Slowakische Republik (5,0%). Die geringsten Anteile befristeter Beschäftigung finden sich in Malta (4,2%), Luxemburg (3,2%) und Estland (3,0%). (Eurostat, EU-Arbeitskräftebefragung 2003) Der internationale Vergleich verstellt allerdings bis zu einem gewissen Grad den Blick für die nationale Problematik. Einmal davon abgesehen, dass nicht jedes befristete Beschäftigungsverhältnis automatisch prekär ist und die Statistik verzerrt, wenn – wie im deutschen Fall – offenkundig Ausbildungsverträge eingerechnet werden, sagt eine solche Aufstellung wenig über die konkrete Arbeitsmarktfunktion befristeter Beschäftigung aus. Für Transformationsökonomien wie die ungarische (2003: 7,6% befristet Beschäftigte) dürfte die Aufstellung erheblich untertreiben, weil die niedrige Erwerbsquote und der außergewöhnlich hohe Anteil informeller Beschäftigung unberücksichtigt bleiben. Für den italienischen Fall (2003: 9,5%) gilt ähnliches, weil die hohe Selbstständigenquote ausgeblendet wird. Deutschland scheint sich auf den ersten Blick im EU-Durchschnitt zu bewegen. Doch eine statische Betrachtung ignoriert die Dynamik und die Altersspezifik solcher Beschäftigungsformen. So lag der Anteil von befristet Beschäftigten an der Gesamtheit der Erwerbstätigen 1995 in Westdeutschland bei ca. 5%. 2001 betrug er 9,6% aller abhängig Beschäftigten in ganz Deutschland. Die EUStatistik weist 2003 einen Anteil von 12,2% an allen Beschäftigten aus, weil sie die Ausbildungsverträge einbezieht. Zwischen 1997 und 2007 hat sich die Zahl der befristet Beschäftigten von durchschnittlich 1,82 Mio. auf 2,66 Mio. abhängig Beschäftigter erhöht (Statistisches Bundesamt 2008). Besonders bedeutsam ist die Alterskohorten-Spezifik. 2003 besaßen 35% aller abhängig Beschäftigten im Alter von unter 20 Jahren eine be53
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fristete Stelle, 1991 lag der Anteil der Befristeten in dieser Altersgruppe noch bei 21%. In den nachfolgenden Altersgruppen der 20- bis 24jährigen und der 25- bis 29jährigen lagen die Befristungsquoten 2003 bei 24% bzw. 15% (Statistisches Bundesamt 2004). Gerade in den jüngeren Altersgruppen nehmen befristete Beschäftigungsverhältnisse überdurchschnittlich zu. Diese Aussage gilt im Übrigen uneingeschränkt für alle sogenannten atypischen Beschäftigungsverhältnisse (Leiharbeit, Teilzeitarbeit, befristete und geringfügige Beschäftigung). Zwischen 1997 und 2007 ist der Anteil der atypisch Beschäftigten in der Altersgruppe der 15- bis 24jährigen in Deutschland von 19,5 auf 39,2% in den Kohorten der 25- bis 34jährigen von 16,7 auf 25,5% und damit jeweils überdurchschnittlich gestiegen (Statistisches Bundesamt 2008). Nun sagen auch diese Zahlen für sich genommen noch relativ wenig über Prekarität aus. Denn bei jüngeren Erwerbspersonen ist wahrscheinlich, dass sie früher oder später doch in ein dauerhaftes Beschäftigungsverhältnis einmünden. Wie in der internationalen Forschung bereits offenkundig, ist ein Befristungsstatus für die betroffenen Beschäftigten allerdings nicht unproblematisch, zumal grundsätzlich umstritten bleibt, inwieweit flexible Beschäftigungsverhältnisse die Vermittlungschancen der zeitweiligen Arbeitnehmer auf ein späteres unbefristetes Arbeitsverhältnis erhöhen oder nur zu erneuten Befristungen und Erwerbslosigkeitsphasen führen. Für die Beschäftigten selbst ergeben sich zum einen Einschnitte in gesetzliche oder tarifliche Leistungen und Rechte, da diese zuweilen an Mindestbeschäftigungsdauern gekoppelt sind. Zum anderen tragen kurzfristig beschäftigte Arbeitnehmer erhöhte Gesundheitsund Sicherheitsrisiken. So belegt eine niederländische Studie, dass dieser Status im Vergleich zu längerfristigen Arbeitsverhältnissen häufiger mit erhöhter Lärmbelastung und körperlich belastender Tätigkeit verbunden ist. Befristet Beschäftigte fallen in größerem Ausmaß krankheitsbedingt aus und beantragen überdurchschnittlich oft Erwerbsunfähigkeitsrenten (Brinkmann et. al 2006: 26). Doppelt so oft klagen sie hierbei über hohe psychische Belastungen. Wie spanische und deutsche Studien belegen, besteht ein Zusammenhang zwischen unbeständigen Beschäftigungsverhältnissen und Unfällen als Folge von Druck, Stress, mangelnder Erfahrung und unzureichender Ausbildung; befristet Beschäftigte tragen dadurch ein deutlich höheres Unfallrisiko als unbefristete Arbeitnehmer (Scheele 2002). Begründet wird dies mit der Art der Tätigkeiten, die Aushilfsarbeitnehmer auszuführen haben, sowie schlechteren Kenntnissen hinsichtlich der mit ihrer Arbeitstätigkeit ver-
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bundenen Risiken wie auch der nötigen Schutzmaßnahmen. Hauptgründe sind mangelnde Ausbildung und Erfahrung der Befristeten.4 Befristung ist indessen nur eine Form atypischer Beschäftigung. Während der zurückliegenden Jahre basierte Job-Wachstum in den EUStaaten in erheblichem Maße auf einem Zuwachs an atypischen Arbeitsverhältnissen (Kok 2004: 12). Angesichts anhaltender grundsätzlicher Arbeitsmarktprobleme und dem veränderten Fokus staatlicher Politik, der sich unter anderem in einer expliziten Förderung atypischer Beschäftigung äußert, ist davon auszugehen, dass die Atypisierung der Arbeitsmärkte ein dauerhaftes Phänomen darstellt. Die Verbreitung von Teilzeitbeschäftigung beispielsweise in den Niederlanden zeigt bei einer Frauenteilzeitquote von zuletzt über 67%, dass atypische Beschäftigung zum Teil schon heute die typische Beschäftigung ist. Wie am Beispiel der Befristung gezeigt, vollzieht sich der Bedeutungsgewinn atypischer Beschäftigung in den einzelnen europäischen Ländern keineswegs gleichförmig. Länderübergreifend gilt jedoch, dass es sich bei atypischer überwiegend um Frauenbeschäftigung handelt. Diese Feststellung gilt insbesondere für Teilzeit- und geringfügige Beschäftigung. Ähnlich differenziert zu bewerten sind Daten zur Entwicklung des Niedriglohnsektors. Schon zu Beginn des Jahrtausends zeichneten sich in den europäischen Staaten höchst unterschiedliche Entwicklungspfade ab. Wiederum bewegte sich Deutschland zunächst im Mittelfeld; inzwischen weist der Niedriglohnsektor in der Bundesrepublik mit über 22% aller Beschäftigungsverhältnisse jedoch die stärkste Wachstumsdynamik auf. Die spezifischen Risiken des Niedriglohnsektors sind seit langem bekannt: Instabile und nur kurz dauernde Beschäftigungsverhältnisse befördern nur selten eine längerfristige Integration in den ersten Arbeitsmarkt.
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Bis in die Gegenwart hinein wurden befristet Beschäftigte auch von Seiten vieler europäischer Gewerkschaftsbünde eher nachrangig behandelt. Diese Beschäftigten sind in der Regel deutlich schwächer organisiert, wobei unklar ist, ob dies eine Folge oder eine Voraussetzung gewerkschaftlicher Vernachlässigung darstellt. In einigen Ländern (wie Spanien) finden sich Schutzvorschriften in sektoralen Tarifabkommen, die beispielsweise die Dauer von befristeten Arbeitsverhältnissen regeln. In Deutschland regelt dies das Gesetz über Teilzeitarbeit und befristete Arbeitsverträge. Lediglich für befristete Arbeitsverträge „ohne sachlichen Grund“ gilt eine Höchstbefristungsdauer von zwei Jahren (bei maximal dreimaliger Verlängerungsmöglichkeit in diesem Zeitraum). 55
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Diagramm 1: Niedriglohnanteil (2/3 des nationalen Medianlohns) in EU-Ländern (in %), 1995 und 2000 (Beschäftigte mit mehr als 15 Stunden Wochenarbeitszeit). 15,1 15,6 15,7 14,3
EU-Gesamt Deutschland 8,6 9
Dänemark
16,6
Niederlande
13,3 12,2 13,4
Belgien
15,6 15,8
Frankreich
19,4
United Kingdom
20,9 18,7
Irland
21,8 9,7 10,4
Italien
16 16,1 15,6
Großbritannien Spanien
18,9 10,9
Portugal
14,4
Österreich
11,2
Finnland
10,8
Quelle: European Commission 2004, eigene Darstellung. Als eine Rechtfertigungsvariante für einen Niedriglohnbereich schwingt in den politischen Debatten in der Regel die Erwartung einer Ausweitung von Beschäftigungsverhältnissen und eine Aufstiegsmobilität für die dort Beschäftigten mit. Empirische Studien lassen hingegen befürchten, dass von einer deutlich zurückgehenden Aufstiegsmobilität auszugehen ist. So analysierte das IAB (Rhein/Gartner/Krug 2005) schon vor Jahren ein wachsendes Risiko der Niedriglohnarmut durch die Niedriglohnfalle, weil das Sprungbrett in bessere Verdienstpositionen nicht funktioniere. Die enge Wechselbeziehung von Niedriglohnbeschäftigung und Armutsproblematik ist schon lange bekannt.5 Der deutsche Niedriglohnsektor zeichnet sich im europäischen Vergleich durch eine enorme
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Bereits Ende der 1990er Jahre, wie Bäcker und Hanesch im Jahr 1998 nachwiesen, gehörten 8,5 Mio. Menschen in den alten Bundesländern Haushalten an, die von Einkommen unterhalb von 50% des durchschnittlichen Haushaltseinkommens leben mussten. Differenzierter bestätigte sich besonders das „weibliche Gesicht“ potentieller Armut. So muss gerade im Hinblick auf Frauen von „prekärem“ Wohlstand gesprochen werden, der an spezifische soziale Voraussetzungen (stabile Partnerschaften) gebunden bleibt (Brinkmann et al. 2006: 38).
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interne Spreizung und – soweit die insgesamt unbefriedigende Datenlage erkennen lässt – durch eine rückläufige Aufwärtsmobilität aus. (Bosch/ Kalina 2007: 27, 43-47). Diese deutsche Sonderentwicklung wird nach wie vor durch europäische Arbeitsgesellschaften wie den skandinavischen kontrastiert, in denen der Niedriglohnsektor quantitativ wie qualitativ von nachrangiger arbeitsmarktpolitischer Bedeutung ist.
Integration und Diskriminierung im europäischen Vergleich Was die ausgewählten Daten zu atypischer, befristeter und niedrig entlohnter Beschäftigung andeuten, findet Bestätigung, wenn die subjektiven Einschätzungen zu Problemen beruflicher Integration einbezogen werden. Hier lässt sich an Studien Serge Paugams und dessen Konzept einer doppelten Prekarität anknüpfen. Paugam (2009: 175-196) unterscheidet eine Prekarität der Arbeit6 und eine Prekarität der Beschäftigung7. Auf dieser Basis konstruiert er vier Typen beruflicher Integration: gesicherte Integration (Zufriedenheit in beiden Dimensionen); unsichere Integration (Zufriedenheit mit der Arbeit gepaart mit instabiler Beschäftigung; mühselige Integration (Unzufriedenheit mit der Arbeit gepaart mit stabilem Beschäftigungsverhältnis) sowie disqualifizierende oder – in Anlehnung an die Unterscheidung von Prekarisierungsformen – diskriminierende Integration (Unzufriedenheit mit der Arbeit gepaart mit instabilem Beschäftigungsverhältnis).
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Eine Arbeit ist prekär, weil sie „belanglos, schlecht bezahlt und innerhalb des Unternehmens wenig anerkannt erscheint“ ebd.: 176). Eine Beschäftigung ist prekär, wenn sie „unsicher“ ist und die „berufliche Zukunft“ für die Arbeitnehmer „unvorhersehbar wird“ (ebd.). 57
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Mediterranes Modell
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Mediterran*Prekarität -.28 ns
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-.09 ns
.29***
.29**
.05 ns
-.38*
Ref.
0.63*
Ref.
-.15 ns
-.31 ns
-.26 ns
.34 *
-.14 ns
.26**
Ref.
1.14*
Ref.
-.20 ns
-.31 ns
-.36***
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.17 ns
.50*
Ref.
.64*
Ref.
Aspekte der Unzufriedenheit mit der Arbeit 5 6 7 8 9
-.43***
-.73*
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1.44*
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10
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1.10*
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-.54**
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.39*
.21***
.50*
Ref.
1.79*
Ref.
12
Dänemark, Finnland, Schweden; Mediterran: Griechenland, Italien, Portugal, Spanien.
die Behauptung „Mein Arbeitsplatz ist sicher“. (2) Liberal: Großbritannien, Irland; Rheinisch: Belgien, Deutschland, Frankreich, Niederlande; Skandinavisch:
*: P < 0.001, **: P < 0.01, ***: P < 0.05, ns: nicht signifikant. (1) Indikator basierend auf den Antworten „Trifft überhaupt nicht zu“ und „Trifft etwas zu“ auf
Quelle: Eurobarometer 56.1, 2001.
-.29 ns
-.07 ns
-.27 ns
Kontinental*Prekarität
.49*
Skandinavisch*Prekarität
Interaktion
-.13 ns
-.32*
-.24**
.17***
Rheinisches Modell
Skandinavisches Modell
0.97*
1.08*
Ref.
Ref.
Ref.
2
Ref.
Liberales Modell
Ländergruppe (2)
Ja
Nein
Unsicherheit des Arbeitsplatzes (1)
1
Tabelle 1: Auswirkungen der Prekarität der Beschäftigung auf Aspekte der Unzufriedenheit mit der Arbeit in Europa.8
KLAUS DÖRRE
Logistische Regression mit Kontrolle nach Geschlecht, Alter, Einkommen und sozio-professioneller Kategorie.
GÉNÉRATION PRÉCAIRE
Anmerkung zur Lektüre (vgl. Tabelle 1, erste Spalte): Personen, die in einer prekären Beschäftigungssituation sind, haben mit höherer Wahrscheinlichkeit Schwierigkeiten, bei der Arbeit Eigeninitiative zeigen zu können, als Personen, die nicht in dieser Situation sind (Koeffizient 1.08, *, d.h. hohe Signifikanz). Im Vergleich zu den Ländern des liberalen Modells haben Beschäftigte in den Ländern des skandinavischen Modells weniger Schwierigkeiten, bei der Arbeit Eigeninitiative zu zeigen (Koeffizient -.32). Die Interaktion „Skandinavisch*Prekarität“ ergibt den Koeffizienten mit dem höchsten negativen Wert (-.86), was bedeutet, dass in den Ländern dieses Typus der Zusammenhang zwischen Prekarität der Beschäftigung und Schwierigkeiten, bei der Arbeit Eigeninitiative zeigen zu können, im europäischen Vergleich am wenigsten ausgeprägt ist.
•
•
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(1) Es zeigt sich, dass die Arbeitnehmer im skandinavischen Modell (Dänemark, Schweden und Finnland) im Allgemeinen ein deutlich besseres Verhältnis zur Arbeit haben als Beschäftigte in Ländern des liberalen Wohlfahrtsmodells (Großbritannien, Irland), des korporatistisch-rheinischen Modells (Frankreich, Deutschland, Belgien und die Niederlande) oder des mediterranen Modells (Italien, Spanien, Griechenland und Portugal). Die Korrelation zwischen der Unsicherheit des Arbeitsplatzes und der Unzufriedenheit mit der Arbeit ist in verschiedenen Dimensionen im skandinavischen Modell eindeutig geringer ausgeprägt als in den Ländern mit anderen sozialstaatlichen Systemen. Es lässt sich daher feststellen, dass, obgleich unsichere Beschäftigungsverhältnisse generell größere Risiken bergen, die skandinavischen Länder in einer eindeutig günstigeren Situation sind als andere europäische Staaten. (2) Zwischen den Ländergruppen existieren beträchtliche Unterschiede. Die Länder des skandinavischen Modells heben sich ganz eindeutig von denen der anderen Gruppen ab. Die gesicherte Integration erreicht dort den sehr hohen Wert von 52%, gegenüber 38% im liberalen, 36% im rheinischen und 29% im mediterranen Modell. Das andere Extrem, die diskriminierende Integration, stellt im nordeuropäischen Modell 13%, während sie in den anderen Modellen um die 27 und 28% oszilliert. Die Ergebnisse bestätigen somit, dass die Bedingungen beruflicher Integration sich in starkem Maße nach dem Typus des Sozialstaates unterscheiden. In den nordeuropäischen Ländern existiert für Arbeitnehmer eine sehr viel geringere Wahrscheinlichkeit der Diskriminierung in prekären Verhältnissen. (3) Auch innerhalb der einzelnen Ländergruppen gibt es Unterschiede. Das Land mit der höchsten Integrationsqualität, was die berufliche Integration der Arbeitnehmer anbelangt, ist Dänemark. Die ge59
KLAUS DÖRRE
sicherte Integration beträgt 68%, während die diskriminierende Integration kaum 5% übersteigt. Im Vergleich dazu zeigt die Verteilung z.B. für Frankreich eine weitaus beunruhigendere Situation. Hier zählen nur 29% der Beschäftigten zu den gesichert Integrierten, dagegen umfasst der Typus der diskriminierenden Integration beinahe 32% der repräsentativ Befragten. Des Weiteren ist der Fall der Niederlande hervorzuheben, wo die Verteilung näher an die in den skandinavischen Ländern beobachteten Tendenzen als an das kontinentaleuropäische rheinische Modell heranrückt: Nur 15% der Arbeitnehmer dort lassen sich dem Typus der diskriminierenden Integration zurechnen. Paugams Daten machen deutlich, dass trotz Globalisierung und Europäisierung innerhalb EU-Europas erhebliche Unterschiede bei der sozialen Absicherung von Beschäftigten existieren. Obwohl das Risiko prekärer Arbeits- und Lebensformen offenbar in ganz Europa wächst, bleibt den einzelnen Ländern ein gewisser Spielraum eigenständigen Handelns. Die Lage in den skandinavischen Ländern, insbesondere in Dänemark, beweist, dass offene Ökonomien sowohl mit sozialer Absicherung als auch mit ökonomischer Effizienz auf hohem Niveau verbunden sein können. Mit den nationalen Unterschieden variieren somit auch die Sozialisationsbedingungen für Jugendliche und Heranwachsende. Um ein genaues Bild zu erlangen, wären hier allerdings eine Fülle weiterer Daten zu berücksichtigen ((Jugend-)Arbeitslosigkeit, (Kinder-) Armut etc.).
Entkoppelung, Ausgrenzung und sozialer Raum Einen genaueren und exemplarischen Blick in die Zone der Entkoppelung erlaubt unsere Befragung von Leistungsbeziehern des Arbeitslosengeldes II aus den Jahren 2006/2007. Dabei zeigt sich, dass das Leitbild des unternehmerischen Arbeitslosen mit den Erwerbsorientierungen der meisten Leistungsbezieher kaum in Übereinstimmung zu bringen ist. In deutlichem Kontrast, ja häufig in krassem Widerspruch zur generalisierenden Passivitätsvermutung sind die von uns befragten Arbeitslosen und prekär Beschäftigten durchaus aktiv. In ihrer großen Mehrzahl streben sie unabhängig von strengen Zumutbarkeitsregeln nach einer regulären, Existenz sichernden und sozial anerkannten Erwerbsarbeit. Abhängig von den Chancen am Arbeitsmarkt und den jeweiligen biographischen Konstellationen lassen sich grob drei Kategorien von Leistungsbeziehern unterscheiden.
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GÉNÉRATION PRÉCAIRE
Die Um-jeden-Preis-Arbeiter setzen alles daran, Arbeitslosigkeit zu überwinden und nutzen nahezu jede sich bietende Chance, um in das Erwerbssystem hinein zu gelangen. Prototypisch sind mitunter geradezu arbeitsbesessene Aufstocker und Solo-Selbstständige, deren sämtliche Energien darauf gerichtet sind, den Status des Langzeitarbeitslosen zu überwinden oder zu vermeiden. In der Auseinandersetzung mit der Arbeitsverwaltung individuell durchaus sperrig, handelt es sich bei diesen Befragten im Grunde um ideale Kunden, die exakt dem Leitbild der Reformen zu entsprechen scheinen. Ist nichts anderes möglich, gehen sie auch einer selbstständigen Arbeit nach; sie verhalten sich tatsächlich wie Unternehmer ihrer eigenen Beschäftigungsfähigkeit. Es handelt sich jedoch um Unternehmer ohne jegliche Planungssicherheit, um prekäre Existenzen, die teilweise von ihrer Vergangenheit (Rücklagen, Vermögen) oder von Unterstützung aus den verbliebenen sozialen Netzwerken leben. Auch die Befragten der zweiten Kategorie, häufig über Arbeitsgelegenheiten aktivierte Arbeitslose, halten normativ an regulärer Erwerbsarbeit fest, akzeptieren jedoch aufgrund lang andauernder Erwerbslosigkeit und zahlreicher Frustrationen nach und nach Alternativen. Prägnant tritt dies bei Befragten hervor, die ihren Ein-Euro-Job so ausüben, als sei er eine reguläre, dauerhafte Beschäftigung. Eindrucksvoll repräsentiert werden diese Als-ob-Arbeitenden von einer Frau, die jeden Morgen zur gleichen Zeit ihr Haus verlässt und alles tut, um den Anschein zu erwecken, als ginge sie noch ihrer eigentlichen Berufstätigkeit nach. Der EinEuro-Job ist für sie eine willkommene Gelegenheit, die Normalitätsfassade aufrecht zu erhalten. Offenbar ahnt niemand in der unmittelbaren Nachbarschaft, dass die Betreffende seit langer Zeit ohne reguläre Erwerbsarbeit ist. Die Befragte sucht auf diese Weise den symbolischen Anschluss an die integrierten Gruppen, und wie zum Hohn wird dieser symbolische Anschluss von den Nachbarn mit vehement vorgetragenen Ressentiments gegen „faule Arbeitslose“ besiegelt. Für alle Befragten dieser Kategorie gilt, dass das Streben nach einer regulären Erwerbsarbeit in der normativen Dimension ungebrochen ist; im realen Leben lässt sich diese Orientierung jedoch immer weniger durchhalten. Eine wachsende Kluft zwischen normativen Orientierungen und Erwerbschancen prägt Verarbeitungsformen und Handlungsstrategien in diesen Feldern. Die Gruppen mehr oder minder bewusster Nicht-Arbeiter repräsentieren Orientierungen an einem Leben jenseits regulärer Erwerbstätigkeit. Dabei handelt es sich um heterogene, zum Teil temporäre Formen von (Selbst-)Ausschluss und Einkapselung. Die Befragten richten sich in einem reduzierten Leben ohne Hoffnung auf Integration in die offizielle 61
KLAUS DÖRRE
Arbeitsgesellschaft ein. An die Stelle der Erwerbsorientierung treten andere Normen und Tätigkeitsformen. Jugendliche, die in Antizipation realer oder vermeintlicher Chancenlosigkeit die Not der Erwerbslosigkeit subjektiv in eine Tugend verwandeln, machen subkulturelle Szenen zu ihrem eigentlichen Lebenszentrum (z.B. Punks, rechte Szene etc.). Zu den Gruppen bewusster Nicht-Arbeiter gehört die Sozialhilfeempfängerin, die sich, ohne Schulabschluss und Berufsausbildung, in die Alternativrolle der sorgenden Mutter flüchtet, um so eine Brücke zu gesellschaftlicher Normalität zu finden (Feld 1). Ebenso präsent ist der Langzeiterwerbslose mit Arbeitslosenidentität, der inzwischen Arbeitsangebote ablehnt, um auf Demonstrationen die Herrschenden für sein Schicksal verantwortlich zu machen (Verantwortungsdelegation). Wie die Beispiele belegen, sind selbst diese Befragten nicht einfach passiv. Das engagierte Ausüben einer anerkannten Alternativrolle, Pflege von Nachbarschaftskontakten oder Aktivitäten in Szenemilieus sind Formen eigensinniger Aktivitäten, auf die wir gerade auch in der Gruppe der Nicht-Arbeiter stoßen. Allerdings sind diese Eigenaktivitäten überaus fragil und nicht alle Befragten sind gleichermaßen engagiert. So umfasst die Gruppe eben auch jene bereits angesprochenen demoralisierten Sozialhilfebezieher, denen jegliche Zeitstruktur und mit ihr die Planungsfähigkeit für das eigene Leben abhandengekommen sind. Kinderreiche ALG-II-Empfänger mit einem Transfereinkommen, das das erwartbare Arbeitsentgelt überschreitet, sind bei den bewussten Nicht-Arbeitern ebenfalls präsent. Die Verstetigung dieser sowohl strukturellen wie subjektiven Entkoppelung von regulärer Erwerbsarbeit und sozialen Sicherungssystemen vollzieht sich auch in Deutschland zunehmend in einer sozialräumlichen Dimension. Ausgrenzung und Prekarität konzentrieren sich zunehmend in abgehängten Regionen und Stadtteilen. Von einem sozialen Bruch, ähnlich dem in Frankreich, kann indessen noch nicht gesprochen werden. Zutreffender ist, von einer Art Verinselung der Ausgegrenzten und Langzeitarbeitslosen auszugehen, die höchst unterschiedliche Gesichter annehmen kann. In großen Städten handelt es sich um Quartiere mit hoher Arbeitslosigkeit sowie überdurchschnittlichen Anteilen von Arbeitern und Migranten. Auf dem Land hingegen, findet Ausgrenzung eher versteckt und unter der Oberfläche statt. Nicht Migranten, sondern die Abwanderung junger Frauen bestimmt das Bild vor allem ostdeutscher Problemregionen.
62
GÉNÉRATION PRÉCAIRE
Gesellschaftliche und politische Wirkungen von Prekarität Ob sich ähnliche Verarbeitungsformen des Ausschlusses von Erwerbsarbeit in anderen europäischen Ländern finden, ist gegenwärtig eine offene Frage. Ähnliches gilt mit Blick auf die anderen Strukturformen von Prekarität. Aller institutionellen und nationalen Unterschiede zum Trotz weisen die Ausprägungen diskriminierender Prekarität dennoch eine Reihe von Gemeinsamkeiten auf. Das gilt nicht nur für die bereits geschilderten Transfermechanismen der finanzgetriebenen Landnahme, sondern auch für spezifische gesellschaftliche Wirkungen der neuen Prekarisierung. Disziplinierung: Anders als es bei Bourdieu und Castel anklingt, ist Prekarisierung nicht zwingend mit sozialem Zerfall und fortschreitender Desintegration identisch. Die Schwebelage, in der sich prekär Beschäftigte befinden oder die bloße Ahnung, in eine solche Lage geraten zu können, halten zu permanenter Selbstaktivierung an. Unter Bedingungen, die sie zu struktureller Benachteiligung verdammen, entwickeln Ausgegrenzte und prekär Beschäftigte aktiv Überlebensstrategien. Das gilt insbesondere für Jüngere. Sie neigen häufig zur Akzeptanz prekärer Beschäftigung, weil sie von der Hoffnung getrieben werden, den Sprung in gesicherte Verhältnisse doch noch zu schaffen. Das ist der Grund, weshalb es nicht zu sich beständig verstärkenden und letztlich die Systemreproduktion gefährdenden Desintegrationsprozessen kommt. Konstitutiv für ihre besondere Qualität ist indessen, dass diskriminierende Prekarität auf die Gesicherten und Festangestellten sowie deren Familien zurückwirkt. Wo immer sie mit flexibel beschäftigten und häufig hoch motivierten Arbeitskräften konfrontiert werden, die die gleiche Arbeit zu deutlich ungünstigeren Bedingungen verrichten, beginnen die Stammbeschäftigten, ihre Festanstellung als Privileg zu betrachten, das es mit Zähnen und Klauen zu verteidigen gilt. Die Sorge um die eigene Sicherheit und den individuellen sozialen Status, die durch Prekarisierungsprozesse immer wieder aufs Neue angefacht wird, fördert, ganz wie es Boltanski und Chiapello (2003:262, 320) prognostiziert haben, die Produktion gefügiger Arbeitskräfte. Generationswandel: Diese Art der Disziplinierung besitzt offenkundig eine generationenspezifische Dimension. Beaud und Pialoux (2004) haben dies in einer Längsschnittstudie eindrucksvoll am Beispiel eines französischen Automobilwerks gezeigt. Junge Beschäftigte, die zumeist als Leiharbeiter ins Werk kommen, sehen in den älteren Gewerkschaftsrepräsentanten Leute, „die immer dieselbe Platte auflegen“ (ebd.: 276). Dabei macht sich auch der unterschiedliche Beschäftigungsstatus be63
KLAUS DÖRRE
merkbar. Jungen Leiharbeitern erscheint die Fabrik in Sochaux als sicherer Hafen. Der Zeitvertrag gilt anfangs als einmalige Chance; dementsprechend sind sie mit Eifer bei der Arbeit. Für diese Jungen sind nicht die Chefs das Problem, sondern die älteren Arbeiter. In den Gruppen der Zeitarbeiter greifen die Politisierungsstrategien der Aktivisten nicht. Die Interessen der Festangestellten vor Augen, wollen die Aktivisten den erreichten Status verteidigen. Für die Zeitarbeiter sind die daraus resultierenden Streitereien in der Fabrik hingegen nicht von Interesse. Die jungen Prekarier treffen auf eine demoralisierte Generation von Bandarbeitern, auf eine blutleere Oppositionskultur ohne Anziehungskraft. In Gestalt der jungen Leiharbeiter erfolgt der „Angriff“ auf die alte politische Organisationskultur gewissermaßen aus dem Inneren der Klasse; es sind die Kinder der etablierten Arbeiter, die mit ihrem durchaus problematischen Bild vom vermeintlich sorgenfreien Alltag der Eltern die alten Werte in Frage stellen. In der jungen Arbeitergeneration ist der Gedanke an kollektiven Aufstieg ebenso wie die politische Hoffnung auf radikale Veränderung der Verhältnisse verloren gegangen. Allen Gruppen fehlen inzwischen die politischen Kategorien, mit deren Hilfe sie ihre Lage in Worte fassen könnten. Noch immer gibt es einen Kampf um Würde und Anerkennung, doch verteidigt jeder diese Würde auf seine Art. Der Kampf wird nicht weniger heftig geführt, aber man findet sich damit ab, dass die eigene Würde nicht unbedingt mit der des anderen in Einklang stehen muss: „Diese Situation macht die Leute oft hilflos, weil sie den Nerv trifft und am Ich nagt: am Respekt, den sie vor sich selbst haben, an der Vorstellung, die sie sich von ihrem Wert in der Welt machen, am Bewusstsein ihrer Identität, die von der gewerkschaftlichen Arbeiterschaft lange Zeit gewährleistet wurde“ (ebd.: 285). Neue Konfliktlinien: Die Disziplinierungsfunktion prekärer Verhältnisse beschränkt sich jedoch nicht auf die Fabrik oder das Büro. Sie stimuliert eine neuartige Konfliktdynamik, die sich im Grunde am Besitz von knappem Sozialeigentum entzündet. Hatte Habermas (1987: 276 f., 293) seine Zeitdiagnose einer „Kolonialisierung der Lebenswelten“ an die wohlfahrtsstaatliche Pazifizierung des Klassenkonflikts gebunden, so zehrt die finanzkapitalistische Landnahme an dieser Regulierungskapazität. Das Resultat ist freilich keine Wiederkehr des industriellen Klassenkonflikts in seiner bekannten historischen Gestalt. Zwar spricht einiges dafür, dass die finanzkapitalistische Landnahme auch „als ein Projekt angelegt war, das die alte Klassenmacht“ herrschender Gruppen „wiederherstellen sollte“ (Harvey 2007: 26). Doch trotz des unbestreitbaren politischen Erfolgs dieses Projekts – die Zunahmen vertikaler sozialer Ungleichheiten zwischen Klassen und Schichten in den meisten OECD-Staaten lässt sich kaum übersehen – wirkt die soziale Macht der 64
GÉNÉRATION PRÉCAIRE
„Finanzaristokratie“ (Marx 1972: 454), der „aktiven Rentiers“9 (Chesnais 2004: 224), auf Seiten der Beherrschten keineswegs als Katalysator heterodoxer Klassenmacht. Im Gegenteil, für „Menschen, die nicht der zunehmend selbstbewussteren Klasse der shareholder oder Spitzenmanager angehören“, ist es während der zurückliegenden Dekaden schwieriger geworden, „sich selbst als klar definierte soziale Gruppe wahrzunehmen – oder als solche wahrgenommen zu werden“ (Crouch 2008: 71). Die diskriminierende Form der Prekarisierung trägt erheblich zu dieser von Crouch als „postdemokratisch“ qualifizierten Tendenz bei. Denn sie forciert Auseinandersetzungen um Statuserhalt und relative Deprivilegierung, die Festangestellte, Prekarisierte und Ausgegrenzte unter- und gegeneinander ausfechten. Prekäre Arbeits- und Lebensverhältnisse entziehen denjenigen, die beständig von der Sorge um die Bewältigung des nächsten Tages angetrieben werden, allmählich die Energie, die notwendig wäre, um sich zivilgesellschaftlich, politisch oder gewerkschaftlich zu engagieren. Oder sie provoziert – wie in den französischen Vorstädten oder jüngst bei griechischen Jugendlichen – ein bargaining by riots mit ausgesprochen ambivalenten Folgen für die demokratische Verfasstheit westlicher Gesellschaften. Individueller Verschleiß in prekären Lebenssituationen und Zerfall in Konkurrenzgruppen sorgen für eine Ermattung zivilgesellschaftlicher Akteure, die zu jener eigentümlichen Stabilisierung des Instabilen beiträgt, die die zeitgenössischen Kapitalismen auszeichnet. Kulturelle Fragmentierung: Der Wandel von Normalitätsmaßstäben, auf die sich diskriminierende Prekarität bezieht, fördert diese Tendenz zusätzlich. Arbeitsweltliche Integration wird in den nachfordistischen Arbeitsgesellschaften zunehmend über flexible Beschäftigungsformen ermöglicht. Konventionelle Einbindung mittels halbwegs gut entlohnter, unbefristeter Vollzeitbeschäftigung und darauf gegründeter Arbeitsansprüche ist die eine Variante der Einbindung; unkonventionelle Integration in flexible Beschäftigung bei hoher Identifikation mit den Inhalten der Tätigkeit und starker Integration in soziale Netze am Arbeitsplatz stellt eine andere Form arbeitsweltlicher Integration dar. Das Nebeneinander von gesicherter und unkonventioneller Integration signalisiert das Ende einer unumstrittenen Hegemonie geschützter Lohnarbeit in den finanzkapitalistisch restrukturierten Arbeitsgesellschaften. Maßstäbe für gelungene Integration werden zwar noch immer vorzugsweise, aber eben nicht mehr ausschließlich über die Institution der Vollzeitbeschäf9
„Der Manager eines Pensionsfonds oder einer Investmentgesellschaft, der eine neue corporate governance durchsetzt, gehört zu einer neuen ökonomischen Kategorie: die Kategorie des Finanzkapitalisten oder des ‚aktiven‘ Rentiers“ (ebd.). 65
KLAUS DÖRRE
tigung in einem herkömmlichen Lohnarbeitsverhältnis gesetzt. Vor allem in den Bereichen mit qualifizierter, kreativer Arbeitstätigkeit, die sich an das Ideal selbstständiger Arbeit annähern, hat sozialstaatlich geschützte Lohnarbeit ihren Status als verbindliches Leitbild arbeitsweltlicher Einbindung verloren. In den Medien, den Creative Industries, aber auch bei lohnabhängigen Angestelltengruppen, für die Projektarbeit und internes Unternehmertum zur beständigen Herausforderung geworden sind, verblasst die Attraktivität standardisierter Beschäftigungsverhältnisse auch subjektiv. Da die Definitionsmacht über Flexibilisierungsprozesse in hohem Maße bei Berufsgruppen (Journalisten, Medienschaffende, Wissenschaftler) liegt, für die nicht-standardisierte Beschäftigung längst zum Alltag gehört, wird diese Entwicklung in den gesellschaftlichen Diskursen noch verstärkt. Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen: Naheliegend ist, dass sich viele prekär beschäftigte Kreativarbeiter im Leitbild unkonventioneller Integration weitaus eher wieder finden als im Ideal konventioneller Lohnarbeit. Die Botschaft einer befreienden Wirkung flexibler Beschäftigungsverhältnisse kann so weit über die Minderheiten gesicherter „Selbstmanager“ hinaus Beachtung finden. Wer als Selbstständiger im Weiterbildungssektor, als Freiberufler in den Medien oder als Wissenschaftler mit ungewisser Karriereentwicklung nur vage Aussichten auf eine Festanstellung hat, wird alles daran setzen, seinem strukturell prekären Status positive Seiten abzugewinnen und Lebensformen zu entwickeln, die etwaige Nachteile kompensieren. Verständnis für Interessenpolitiken, die ausschließlich auf den Schutz konventioneller Vollzeitbeschäftigung zielen, ist in diesen Gruppen kaum zu erwarten. Wo ein offener Blick für die „befreienden“ Potentiale unsicherer Beschäftigung eingeklagt wird, die es – mit spezifischen Kompetenzen für Kontingenzbewältigung ausgestattet – zu erschließen gelte (z.B. Völcker 2009; Manske 2007), wird der Grenzfall kreativ Arbeitender in prekärer Beschäftigung thematisiert. Problematisch wird eine solche Sicht indessen, sofern sie sich als exklusive Perspektive versteht. Simple dichotomische Konstruktionen (Normalarbeitsverhältnis = männlich, weiß; prekäre Beschäftigung = weiblich, farbig) können dann bewirken, dass konventionelle Sicherheitsbedürfnisse von Beschäftigten zumindest unterschwellig als atavistische Relikte aus den „goldenen Jahren“ des sozialen, fordistischen Kapitalismus klassifiziert werden. Selbst wenn es so wäre, dass der Traum des – sagen wir männlichen und weißen – Leiharbeiters, Stammbeschäftigter zu werden, allein auf einer Habitualisierung fordistischer Sicherheitskonzepte gründete, wäre es doch überaus problematisch, die Legitimität dieser Vorstellung bestreiten zu wollen. Genau dies geschieht jedoch, wenn traditionelle Schutzbedürfnisse einem vermeint66
GÉNÉRATION PRÉCAIRE
lich modernen Konzept der Kontingenzbewältigung gegenüber gestellt werden. Die diskursive Konstruktion eines in der Vergangenheit befangenen Leiharbeiters ähnelt dann der Situation jener prä-kapitalistischen Subproletarier (Bourdieu 2000:97), die man am Modernitätsideal einer Produktionsweise misst, innerhalb derer sie sich aufgrund fehlender Chancen und Ressourcen gar nicht rational zu betätigen vermögen. Aktivierung: Aus den genannten Gründen fördert diskriminierende Prekarität offenkundig eine eigentümliche Stabilisierung des Instabilen. Integration über materielle Teilhabe, gesellschaftliche Anerkennung und politische Partizipation werden sukzessive durch die Disziplin des Marktes und die Ausübung von staatlichem Zwang ersetzt. Staatliche Interventionen wie die aktivierende Arbeitsmarktpolitik mit ihren Instrumenten des Förderns und Forderns, ausgestattet mit der Sanktionsmacht strenger Zumutbarkeitsregeln, verstärken den disziplinierenden Druck der Prekarisierung vor allem bei den noch Beschäftigten zusätzlich. (Re-) Kommodifizierende Arbeitsmarktreformen disziplinieren und mobilisieren für eine flexible Produktionsweise, die in ihren aktuellen Ausprägungen auf gespaltenen Arbeitsmärkten und zunehmender sozialer Ungleichheit basiert. Allerdings, das belegen unsere empirischen Forschungen eindringlich, funktioniert die marktzentrierte Kontrolle von Beschäftigten und Arbeitslosen keineswegs perfekt. Leitbilder wie das des „unternehmerischen Selbst“ (Bröckling 2007) reiben sich immer wieder an eigensinnigen Praktiken tätiger Individuen und sozialer Gruppen. Auch der subjektbezogenen inneren Landnahme sind offenkundig Grenzen gesetzt.
Eine Génération Précaire? Fassen wir zusammen: Auf einem völlig anderen Entwicklungsniveau zeichnet sich in zahlreichen europäischen Arbeitsgesellschaften eine Problematik ab, wie sie Pierre Bourdieu in mancherlei Hinsicht ähnlich in der algerischen Übergangsgesellschaft vor Augen hatte. Wie die kabylischen Subproletarier beklagen die zeitgenössischen Prekarier mehr oder minder alle, dass sie im Vergleich zu den gesichert Beschäftigten über weitaus geringere Möglichkeiten verfügen, eine längerfristige Lebensplanung zu entwickeln. Unter wohlfahrtsstaatlichen Bedingungen blockiert befristete, niedrig entlohnte Beschäftigung „die Ausarbeitung eines rationalen Lebensplans“ (Bourdieu 2000: 109) allerdings nicht vollständig. Bei einem Großteil der Prekarier findet sich noch immer das Bemühen, der eigenen Lebensplanung Kohärenz zu verleihen. Teilzeitarbeitern mit unbefristeten Arbeitsverträgen gelingt das noch einigermaßen, sofern die Partnerschaften stabil sind. Im Falle von Leiharbeitern 67
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und befristet Beschäftigten sind die Bemühungen um einen kohärenten Lebensplan spürbar, aber weitaus weniger erfolgreich. Es ist nicht allein die Unsicherheit als solche, sondern auch der soziale Abstand zur angestrebten Normalität, der eine Mischung aus Verunsicherung, Scham, Wut und Resignation erzeugt. Welche Auswirkungen haben diese Tendenzen nun für Jugendliche und junge Erwachsene? Sie werden in einer besonders sensiblen Phase ihrer individuellen Entwicklung mit den neuen Spaltungen der sich wandelnden Arbeitsgesellschaften konfrontiert; Jugend und Postadoleszenz werden gewissermaßen zu einer prekären Statuspassage. Für Teile der Jugendlichen gehört Unsicherheit bereits zur Alltagserfahrung. Doch Prekarisierungsrisiken betreffen inzwischen auch arrivierte Gruppen. Die Herkunft aus den noch halbwegs sozial gesicherten Mittelschichten oder ein akademischer Bildungstitel bieten keine hinreichende Abschirmung mehr vor prekärer Beschäftigung, Qualifizierungsschleifen oder den Formen des Ausschlusses von Erwerbsarbeit. Dennoch vollzieht sich im Übergang zum Erwachsenenalter eine soziale Polarisierung und Fragmentierung, deren Chancen zur Überwindung prekärer Verhältnisse zumindest in Deutschland stark von Bildungsniveau und sozialer Herkunft determiniert sind. Beim akademischen Nachwuchs sind die Chancen zu beruflicher Integration nach wie vor überdurchschnittlich groß. Dementsprechend halten die Absolventen an qualitativen Arbeits- und Lebensansprüchen (Möglichkeiten zur Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung) fest. Bei einem Großteil der nicht nur von gesicherter Beschäftigung, sondern auch von höherwertiger Bildung ausgeschlossenen Heranwachsenden dürfte sich das anders verhalten. Die Fragmentierung verläuft demnach nicht allein sozial, sondern auch kulturell. Denn neben der noch immer bevorzugten, konventionellen Integration bieten die qualitativen Ansprüche jungen Akademikern eher die Möglichkeit, sich in flexible Beschäftigungsformen einzufinden, mit deren Inhalten sie sich identifizieren und bei denen sie über Netzwerke am Arbeitsplatz integriert sind. Verstärkt durch gesellschaftliche Diskurse kann dies bis hin zu Umdeutungsprozessen führen, an deren Ende die unkonventionelle, flexible und oftmals prekäre Beschäftigung als eigenes, gelebtes Ideal steht. Ob man indessen von einer europäischen Génération Précaire sprechen kann, ist zumindest fraglich. Zu unterschiedlich sind die Rahmenbedingungen in den einzelnen europäischen Ländern und zu divergent die Verarbeitungsformen innerhalb der jeweiligen Kohorten, als dass von einem kohärenten Generationszusammenhang gesprochen werden könnte. Generationszusammenhänge entstehen nach Mannheim aus der 68
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tätigen Auseinandersetzung nachwachsender Jahrgangskohorten mit von älteren Generationen geschaffenen und hinterlassenen Verhältnissen. Innerhalb eines Generationszusammenhangs können sich mehrere „polar sich bekämpfende Generationseinheiten bilden“; Generationseinheiten entstehen „gerade dadurch, dass sie aufeinander, wenn auch kämpfend, abgestimmt sind“ (Mannheim 1964: 547). In den fragmentierten Gegenwartsgesellschaften ist indessen eher unwahrscheinlich, dass sich derartige Generationen stiftende Konfliktlinien überhaupt herausbilden. Sicher scheint nur, dass die Prekarisierung der Arbeits- und Lebensverhältnisse keine Episode bleiben wird. Als Folge der globalen Finanzkrise tragen prekär Beschäftigte das höchste Beschäftigungsrisiko. Das bekommen die Leiharbeiter in den Betrieben und Jugendliche, die keine Anstellung finden, als erste zu spüren. Allerdings werden sich mittelfristig auch systemische Dysfunktionalitäten der Prekarisierung bemerkbar machen. Von der abnehmenden Loyalität der Stammbeschäftigten zeugen bereits jetzt Qualitätsmängel und aufwendige elektronische Überwachungsmaßnahmen. Demographischer Wandel und Fachkräftemangel, wie er in Deutschland trotz millionenfacher Arbeitslosigkeit auf Teilarbeitsmärkten akut ist, setzen Prekarisierungsstrategien zusätzlich Grenzen. Auch die Entdeckung der Prekarier für gewerkschaftliche Interessenpolitik, sichtbar in Mindestlohn- und Leiharbeitskampagnen, dürfte allmählich Wirkung erzielen. Insofern könnten sich mittelfristig neue Spielräume für alternative Handlungsstrategien eröffnen. Ob und wie sie genutzt werden, lässt sich gegenwärtig kaum prognostizieren. Immerhin, so lässt sich festhalten, hat der öffentliche Prekarisierungsdiskurs in vielen europäischen Ländern bereits Wirkung erzielt. In der Auseinandersetzung mit einem Flexicurity-Konzept, das die Prioritäten einseitig bei einer forcierten Deregulierung der Arbeitsmärkte setzt, hat er in Gewerkschaften, politischen Parteien und zivilgesellschaftlichen Initiativen zu einer Veränderung von Argumentationsstrategien, Forderungen und politischen Praktiken beigetragen. Wie immer man die These einer neuen Prekarisierung im Einzelnen bewerten mag – die Zeiten, da man flexible Beschäftigung ausschließlich als Brücke zur Integration in den ersten Arbeitsmarkt diskutieren konnte, sind in den meisten EU-Mitgliedsstaaten und auch in Deutschland vorbei. Damit ist das Phänomen aber noch nicht verschwunden. Die Prekarisierungsforschung zielt gewissermaßen auf das Zentrum der sozialen Frage, wie sie sich am Beginn des 21. Jahrhunderts in den kapitalistischen Zentren darstellt. Erst wenn ihr Gegenstand verschwunden ist oder sich zur Unkenntlichkeit verformt hat, verliert sie ihre Relevanz.
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Génération Préc aire – Ambi va le nz und Re ic hw eite e ine r ne ue n Selbs tz usc hreibung STEFFEN SCHMIDT Der folgende Text thematisiert anhand des relativ jungen Phänomens der Génération Précaire exemplarisch einige der mit neueren Prekarisierungstendenzen verbundenen individuellen und gesamtgesellschaftlichen Herausforderungen. Es geht mithin nicht um einen dezidierten Beitrag zur Generationenforschung, vielmehr um eine Analyse der Ursachen und Begleitumstände der Entstehung der neuen kollektiven Zuschreibung und Wortverbindung. Die übergreifende Problematik der Prekarität kann dabei nur gestreift werden.
Zur Entstehung des Wortfelds Génération Précaire Warum heißt es neuerdings Génération Précaire? Handelt es sich hierbei überhaupt um eine Generation? Oder nicht doch eher um den Zusammenschluss einiger Aktivisten und sonst vielmehr „nur“ um ein neues griffiges Etikett? Zweifellos gibt es inzwischen geradezu eine Inflation neu erfundener „Generationen“ (Bartels 2001), so dass nunmehr der Gebrauch des Terminus Generation seinerseits beinahe selbst prekär erscheint, nämlich sowohl unsicher und heikel als in bestimmter Hinsicht auch widerruflich.1 Z.B. ist bislang durchaus nicht klar, ob es die 89erGeneration wirklich gibt, diese sich vielleicht auch erst in Zukunft ausbilden wird oder ob es sich hierbei lediglich um eine Erfindung durch 1
Seiner etymologischen Bedeutung nach lässt sich das vom lateinischen precarius abgeleitete prekär mit misslich, unsicher, schwierig, heikel oder auch vorübergehend übersetzen. 75
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Wissenschaftler bzw. einfach nur ein weiteres Label handelt.2 Jedenfalls fallen, wie Tanja Bürgel unlängst geschildert hat, Selbst- und Fremdzuschreibung deutlich auseinander, die so Bezeichneten verstehen sich gar nicht zwingend als Generation (Bürgel 2007).3 In einer Preisfrage der Stiftung für die Rechte zukünftiger Generationen (SRzG) aus dem Jahre 2007 wurde denn auch entwaffnend offen formuliert, dass es sich bei der Bezeichnung Generation P (also der Generation Praktikum bzw. der Generation Prekariat4) tatsächlich um ein Etikett handle, nämlich ein „Generationenetikett“, das den Nerv getroffen habe.5 Außerdem wird flugs und ohne weitere Umstände noch gefolgert, dass dies „ein Indiz dafür [sei], dass sich eine Generation heute in erster Linie nicht mehr als politische und kulturelle Generation offenbart, sondern als ökonomische“ (SRzG 2007). Diese Diagnose scheint mir etwas voreilig, wenngleich man wohl auch nicht mehr unkritisch der klassischen Definition von Dilthey folgen sollte, wonach die Generation einen „Kreis von Individuen“ bildet, „welche durch Abhängigkeit von denselben großen Tatsachen und Veränderungen, wie sie im Zeitalter der Empfänglichkeit auftraten, trotz der Verschiedenheit hinzutretender anderer Faktoren zu einem homogenen Ganzen verbunden sind“ (Dilthey 1974: 37). Diese Homogenität und Ganzheitlichkeit wird heute nur schwer zu finden sein6, und das Zeitalter der Empfänglichkeit lässt sich vielleicht auch nicht auf nur eine Lebensphase einschränken.
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Vgl. hierzu Gloger 2007, der die soziologische Generationenforschung (mit Norbert Elias) als „Mythenjagd“ bezeichnet. Hier stellt sich dann auch ein erkenntnistheoretisches Problem, nämlich als gegeben vorauszusetzen, was es erst zu untersuchen gilt, mit dem möglichen Effekt, „daß der Generationenforscher den Gegenstand selbst herstellt, den er untersuchen will“ (Jureit/Wildt 2005a: 18 f.). Auf der Homepage www.generation-praktikum.de wird die direkte Verbindung zur und Vernetzung mit der Bewegung Génération précaire gezogen. Vgl. auch die Zusammenschau bei Kanwischer 2006: „Generation Praktikum/Génération précaire: zwei Länder, zwei Begriffe, ein Thema“. „[D]ie Generationenforschung steht seit den neunziger Jahren vor der Herausforderung, dass ihr Begriff mittlerweile so beliebt ist, das er zur Leerformel zu verkommen droht. In den Massenmedien verkauft sich das Generationenetikett auch ohne Qualitätsstandards schlicht hervorragend“ (Jureit 2006: 18 f.). Man denke an die Diskussionen darüber, wer genau zu den Prekariern bzw. Prekarisierten zu zählen ist, ob etwa nur prekär Beschäftigte (z.B. Leiharbeiter, Aushilfsjobber oder von einem Auftraggeber abhängige IchAGs) oder auch die Arbeitslosen bzw. ausschließlich die ALG II-Empfänger und wie diese selbst wiederum von den Exkludierten und Abgehängten abzugrenzen sind – alle jedoch sind sie Betroffene einer verschärften Unsicherheit in der Arbeitswelt. Vgl. den Vorschlag einer Bin-
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Obwohl dem Generationenbegriff jüngst der Status eines wissenschaftlichen Grundbegriffs (Jureit/Wildt 2005b) zugesprochen und er bereits lange zuvor etwa von Karl Mannheim (1928) fruchtbar gemacht wurde, haftet ihm doch weiterhin etwas Unspezifisches und kategorial Schwammiges an (Lepsius 2005, Landweer 1996).7 Im folgenden Aufsatz konzentriere ich mich weniger auf den Begriff der Generation, sondern zunächst auf das Attribut, das ihm neuerdings voran- bzw. nachgestellt wird, ehe ich in einem weiteren Schritt vorschlage, inwiefern der Ausdruck Génération Précaire mit einem Generationenbegriff zumindest nicht inkompatibel ist. Warum also prekär? Was führte zu dieser neuen Zuschreibung? Wodurch ist die neue Situation gekennzeichnet, die nach diesem Wort verlangte oder zumindest seine Verwendung provozierte? Möchte man sich über die historische Genese des Wortfelds Prekarität, Prekarisierung und insbesondere prekäre Beschäftigung sowie über deren Vorläufer in den (überwiegend französischsprachigen) Sozialwissenschaften informieren, findet man inzwischen diverse Fachbeiträge (u.a. Castel 2000; Paugam 2000; Brinkmann et al. 2006; Castel/Dörre 2009). Dass es sich bei der Bezeichnung Génération Précaire jedoch nicht um einen erst aus sorgfältigen theoretischen Überlegungen entsprungenen Begriff handelt, verrät bereits der laxe Umgang, den die Protagonisten der Bewegung Génération Précaire selbst mit ihm pflegen: Auf ihrer Homepage findet sich ein vager Hinweis auf Bourdieu, allerdings ohne eine genaue Quelle zu benennen. Man könnte dies wohlwollend so interpretieren, dass man Bourdieu in Frankreich derart gut kennt, dass nähere Details schlicht überflüssig sind. Tatsächlich hat Bourdieu den Ausdruck der précarité mehrfach gebraucht8, besonders auffallend – vermutlich ist dies auch die Quelle für die nachfolgende Wortverbindung der politischen Aktivisten – in einem Vortrag im Dezember 1997 in Grenoble, der schon im Titel unmissverständlich klarmacht: „Prekarität ist überall!“.9 Der Vortragstext wurde später in „Contre-feux“ (Gegenfeuer) abgedruckt, in der
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nendifferenzierung der Kategorie der Prekarier in Jobnomaden, Arbeitsmarktdrifter und Pfadfinder von Vogel 2009. Nach Bohnenkamp (2007) löst der Generationenbegriff selbst zahlreiche Missverständnisse aus; man möge ihn weniger als einen Antwortbegriff, sondern eher als einen Fragebegriff verwenden. Zur Problematik des Generationenbegriffs in der Soziologie vgl. Corsten 2001a. Das Thema Prekarität wird inhaltlich bereits in Bourdieus früheren Studien „Die zwei Gesichter der Arbeit“ sowie in „Das Elend der Welt“ vorbereitet. Die Veranstaltung selbst trug den Titel „Rencontres européennes contre la précarité“. 77
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deutschen Übersetzung kam noch der Untertitel dazu: „Wortmeldungen im Dienste des Widerstands gegen die neoliberale Invasion“ (Bourdieu 2004). Eine eminent politische Stellungnahme also, die für Interessierte leicht zugänglich war, zumal Bourdieu zu jener Zeit eine extrem populäre und einflussreiche Figur der Linken, nicht nur in Frankreich, war. Und eben dieser Ausdruck précarité ist in Frankreich auch weithin bekannt und wird gegenwärtig geradezu intuitiv verstanden. Prekarität verfestigt sich mehr und mehr zu einer Lebenslage, die nicht allein durch materiellen Mangel, Unsicherheit, ungünstige Arbeitsbedingungen und Anerkennungsdefizite gekennzeichnet ist, sondern sich insbesondere durch schwindende Möglichkeiten zu einer längerfristigen Lebensplanung auszeichnet (Dörre 2006). Leidenschaftlich beklagt Bourdieu die tiefgreifenden Auswirkungen der Prekarität bei denjenigen, die sie direkt erleiden und illustriert sie am Extremfall der Arbeitslosen: „die Destrukturierung des unter anderem seiner zeitlichen Strukturen beraubten Daseins und der daraus resultierende Verfall jeglichen Verhältnisses zur Welt, zu Raum und Zeit.“ Ob wirklich „jegliches Verhältnis zur Welt“ verloren geht oder gehen kann, ist m.E. noch eine offene Frage, wohl aber treffen Bourdieus Worte eine Tendenz: Indem die Zukunft im Ungewissen verbleibt (und – wie ich ergänzen würde – der eigene Einfluss auf ihre Gestaltung als immer geringer oder unerheblich erscheint und somit ein gefühlter Autonomieverlust eintritt), wird dem von Prekarität Betroffenen „jede rationale Vorwegnahme der Zukunft und vor allen Dingen jenes Mindestmaß an Hoffnung und Glauben an die Zukunft“ verwehrt (Bourdieu 2004: 97). Die Folgen dieser Zukunftsblockade sind gravierend. Nicht nur kommt der Hoffnung zu allen Zeiten eine wichtige Funktion für die Ausgestaltung und Führung des Lebens zu, sondern ihre Blockade und die partielle Verunmöglichung freier Selbstentwürfe erzeugt in modernen Zeiten unter anderem aufgrund des gesteigerten Anspruchsniveaus sowie der besonderen Wertschätzung der Autonomie ein noch verstärkteres Leiden bei denjenigen, denen ihre Ausübung fast unmöglich wird.10 Während der Ausdruck précarité wenigstens in Frankreich sehr verbreitet, geradezu populär und allgegenwärtig ist, gilt dies offenbar nicht
10 Wie zentral Hoffnung für den Menschen ist, haben Philosophen, am eindrücklichsten vielleicht Ernst Bloch (1985), dargestellt. Auch im Alltagsverständnis wird (ebenso wie in Ratgebern oder Managementseminaren) die besondere Funktion des „positiven Denkens“ (bzw. von Optimismus) und dessen Einfluss auf das Gelingen eines bestimmten Unternehmens bzw. generellen Erfolg betont. 78
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in gleichem Maße für den Ausdruck Génération Précaire selbst.11 Die neue Wortverbindung stammt meines Wissens nicht von Bourdieu12 und sie passt m.E. auch nicht gut zu seiner verallgemeinernden Aussage, „daß Prekarität heutzutage allgegenwärtig“ (Bourdieu 2004: 96) sei und erhebliche Folgen auch für jene habe, die nur dem Anschein nach von ihr verschont blieben.13 Die prekäre Situation ist demnach gerade nicht so zu verstehen, dass sie nur eine spezifische einzelne Generation (wie immer sie sich auch zusammensetzen mag) betrifft, vielmehr strahlen die Auswirkungen der mit Prekarität bezeichneten Lage auf nahezu alle Schichten und Altersklassen aus. Oder in den Worten Bourdieus: „Die objektive Unsicherheit bewirkt eine allgemeine subjektive Unsicherheit, welche heutzutage mitten in einer hochentwickelten Volkswirtschaft sämtliche Arbeitnehmer, einschließlich derjenigen unter ihnen in Mitleidenschaft zieht, die gar nicht oder noch nicht direkt von ihr betroffen sind“ (Bourdieu 2004: 97). Sofern man dies berücksichtigend dennoch am Generationenbegriff festhalten möchte, wäre dieser also eigentlich gar nicht auf eine bestimmte Altersgruppe zu beschränken, sondern man hätte ihn eher in einer seiner immer noch gebräuchlichen umgangssprachlichen Bedeutungen aufzufassen, nämlich als Generation aller jetzt lebenden Menschen, im Sinne einer Gruppe, die das gleiche Schicksal teilt. Dann freilich verliert der Begriff sofort an Schärfe, denn es sind ja gerade nicht alle heute Lebenden in einer prekären Lage: Es gibt neben den Betroffenen oder Opfern ebenso Profiteure der neuen Situation. Zudem befinden sich mehr als die Hälfte der Beschäftigten in noch weitgehend abgesicherten Verhältnissen. Sie arbeiten und leben, ohne dass sie zu den Gewinnern oder Nutznießern gehören. Dennoch wächst die Wahrscheinlichkeit und damit auch die Angst, dass wenn schon nicht man selbst, so doch ein Freund oder vielleicht die Kinder davon getroffen werden könnten. So sehr mithin große Teile der gegenwärtig Lebenden von Prekarität direkt oder indirekt auch betroffen sein mögen, so ist mit Génération Précaire doch ganz offensichtlich etwas anderes gemeint. Hierbei handelt es sich zunächst um den Ausdruck des Protests eben nur einer bestimmten Gruppe von heute Lebenden, nämlich der Praktikanten, und zwar gegen die entwürdigenden Arbeitsbedingungen und ihre systema11 So jedenfalls das Ergebnis von Nachfragen bei französischen Kollegen und Freunden, und unlängst bestätigte dies auch Alfred Grosser, Publizist und intimer Kenner Frankreichs, in einem Gespräch im Rahmen seines Aufenthalts an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. 12 Anders, jedoch ohne einen Beleg zu nennen, sieht dies Kanwischer 2006. 13 Die Prekarität lasse sich nicht vergessen: „[S]ie ist zu jedem Punkt in allen Köpfen präsent“ (Bourdieu 2004: 97). 79
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tische Benachteiligung (Austermann 2007). Die Betroffenen empfinden ihre Situation nicht ausschließlich als schicksalhaft oder zufällig, viele bekräftigen ihren Anspruch auf adäquate gesellschaftliche Teilhabe mit Protest und der Erwartung, dass durch das aktive Eintreten gegen Ungleichbehandlung, gegen Ungerechtigkeit, für Chancengleichheit sehr wohl Veränderungen möglich sind, dass es also so wie heute nicht sein müsste. Diese Auffassung und Beurteilung der Situation durch die Jugendlichen wird vielfach geteilt, weshalb die ursprünglich genuine Praktikantenbewegung zahlreiche Sympathie und Unterstützung auch von anderen Bevölkerungsschichten erfuhr und erfährt. Fast wichtiger als die durchaus folgenreichen öffentlichen Aktionen in Paris 2006 ist m.E. jedoch der damit verbundene Effekt, dass sich jene Protestgruppe von Praktikanten und weiterer Jugendlicher dabei selbst zu einer Génération Précaire bestimmte. Denn dies war eine öffentliche Formulierung ihrer Erfahrung, die zugleich als Abgrenzung verstanden werden sollte, und geradezu eine Initialzündung zur Ausbildung eines eigenständigen gemeinsamen Selbstverständnisses dieser jungen Menschen: Die Wortschöpfer der Génération Précaire „teilten der Welt mit, dass sie sich als die erste Generation empfinden, deren Leben sich nicht mehr in den Mustern ‚normaler‘ Erwerbs- und Familienbiographien ihrer Vorfahren stattfinden wird. Damit signalisieren sie einen Bruch, der die eigenen Erfahrungen und Erwartungen als Generation von denen der Eltern und Lehrer trennt“ (Bürgel 2007: 6). Die trotz brillanter Ausbildung und Abschlüsse oftmals weiterhin bestehende Angewiesenheit auf die Unterstützung durch die Eltern erzeugt dabei zudem noch spezifische Minderwertigkeitskomplexe und stellt eine extreme psychische Belastung und Verunsicherung dar: „Obwohl sie regulär arbeiten, flexibel und mobil bleiben, niedrigste bis gar keine Löhne erhalten und sogar die Arbeit einer festen Vollzeitkraft übernehmen, bleibt die erhoffte oder versprochene Übernahme in den Betrieb aus“ (Kanwischer 2006). Es handelt sich hierbei nicht oder nur nebensächlich um eine sogenannte NeidDebatte, sondern um die Artikulation einer grundlegenden Erfahrung, nämlich dass die alten Lebensmuster mehr und mehr unerreichbar sind, und damit eben auch viele Ratschläge der Vorgänger für die heutige Welt schlicht wenig taugen, sich quasi überlebt haben. Dass es sich angesichts der „Gegenwartsschrumpfung“, wie Hermann Lübbe (1998) es einmal formulierte (also der permanenten Verkürzung des Zeitraums, in dem erworbenes Wissen gültig, relevant und anwendbar bleibt), scheinbar bzw. tatsächlich kaum noch lohnt, sich lange bei den Lebensmustern der Vorgänger aufzuhalten. Hartmut Rosa (2005) hat eindrucksvoll geschildert, welche vielfältigen, omnipräsenten Phänomene, darunter auch zahlreiche Friktionen, mit der sozialen Beschleunigung verbunden sind. 80
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Gesamtgesellschaftliche Herausforderungen Was an der konkreten Selbstzuschreibung jener skizzierten Generation jedoch auffällt und sie von vielen vorherigen Generationen zu unterscheiden scheint, ist, dass ihr im Grunde gar nicht widersprochen wird, dass es vielmehr einen ziemlich weitreichenden intergenerationellen Konsens gibt: Eltern und Lehrer etwa schlossen sich an, nachdem die Jugendlichen ihre Erfahrung und ihre Wut publik gemacht hatten.14 An dem französischen Fall zeigt sich vielleicht besonders deutlich, dass es zunächst erst eben dieser vorgenommenen Selbstbestimmung bedurfte, damit das eigentlich viel allgemeinere, weil alle betreffende Thema der „akuten, existenziellen Verunsicherungen und Bedrohungen“ (Bürgel 2007: 6) dann auch in die öffentliche Wahrnehmung gelangen konnte. Hier, wie überhaupt bei der generellen Diskussion um Prekarität, stellt sich jedoch die Frage, ob diese proklamierte neue Unsicherheit und Unkalkulierbarkeit, die von den heute Lebenden zumindest in den reichen westeuropäischen Gesellschaften nach langen Zeiträumen des stabilen Wachstums und hoher Sicherheitsstandards tatsächlich oft erstmals erlebt wird, auch historisch wirklich so neu ist. Vor allem Robert Castel, der entscheidend Anteil an der Popularisierung des Begriffs Prekarität hatte und auf den sich die Bewegung Génération Précaire ebenso bezieht, hat diesen Sachverhalt des Neuen an der Situation in seinem anregenden und instruktiven Buch über Die Metamorphosen der sozialen Frage suggeriert. Aber was daran ist wirklich neu? Prekarität als historisches Phänomen? Wohl kaum. Neu ist wohl eher, dass eine gebannt und überwunden geglaubte Stufe gesellschaftlicher Entwicklung plötzlich wiederkehrt. Und neu ist vermutlich auch, dass diese Unsicherheit nicht nur bestimmte Teile der Gesellschaft, also nur die sozial Schwachen, betrifft, sondern in der Mittelschicht angekommen ist und als eine Tendenz zur Verallgemeinerung sozialer Unsicherheit verstanden wird.15 Castel selbst betont jedoch weitere Neuheiten.16 Er spricht von den nunmehr
14 „Eine solche Strategie, die die Positionen und Forderungen der Jungen nicht mehr in Kämpfen gegen die Alten, sondern über eine Verständigung zwischen den Generationen durchzusetzen sucht, ist nicht neu“ (Bürgel 2007: 6), die überwiegend jungen Globalisierungsgegner im Umkreis von Attac agierten vorher bereits ähnlich. 15 Sowohl bei Bourdieu als auch bei Castel erscheint Prekarität als Chiffre der Zersplitterung und Fragmentierung der sozialen Mitte oder auch als „Kultur des Zufalls“ (Vogel 2009: 200). Siehe auch Lessenich 2008 zur Abstiegsangst der verschwindenden Mitte. 16 Castel analysiert „neue Formen“ von Unsicherheit und Prekarität. Neu seien sie schon deshalb, weil sie auf eine Phase erworbener bzw. durchge81
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„Überzähligen“ – vermeidet mit Absicht den gängigeren Begriff der Ausgeschlossenen –, die heute nämlich „vielmehr links liegengelassen“, „nicht einmal ausgebeutet“, „schlichtweg unnütz“ seien (Castel 2000: 19). Castel behauptet explizit, dass sich dieser neue Status der Überzähligen „wirklich vollkommen von dem“ unterscheide, den früher selbst die am stärksten Benachteiligten (etwa die ausgebeuteten Handlanger) eingenommen hätten (ebd.).17 Damit verbunden ist seine Annahme, dass jene früher am stärksten benachteiligte Bevölkerungsgruppe doch immer noch „unentbehrlich“ und damit letztlich auch noch „in die Gesamtheit gesellschaftlicher Austauschbeziehungen eingebunden“ (ebd.) geblieben wäre. Beide Aussagen sind m.E. zu bezweifeln, mindestens zu relativieren.18 Schon früher konnte man (ohne eigenes Verschulden) aus dem wirtschaftlichen Austauschprozess herausfallen, und andererseits kommt den Prekarisierten auch heute noch eine gesellschaftliche Rolle zu, werden einige von ihnen auch weiterhin ausgebeutet. Zur Relativierung der historischen Neuheit: Unsicherheiten gab es zu fast allen Zeiten. Sie mögen im Verlaufe der Geschichte besser gehandhabt werden (insbesondere natürliche Bedrohungszustände), gänzlich verschwinden können sie nie, hingegen kommen immer wieder neue hinzu. Entscheidend ist, ob es gelingt, unvermeidbare Unwägbarkeiten in Risiken mit kalkulierbaren Schadensfolgen zu verwandeln und dadurch tendenziell unaufhebbare Entscheidungsunsicherheiten dennoch produktiv beherrschbar zu machen. Prekarisierten fehlt diese Möglichkeit jedoch oft. Hegel hatte bereits am Anfang des 19. Jahrhunderts auf das konkrete Phänomen des Überflüssigwerdens, auf das große und schwer zu lösende Problem hingewiesen, dass Menschen oder Unternehmen eben nicht allein durch äußere Ereignisse wie etwa Missernten oder Naturkatastrophen ruiniert werden könnten, sondern ebenso durch menschengemachte Katastrophen, dass sie beispielsweise durch ungezügelte Bewegungen am Markt auf einen Schlag überflüssig werden könnten. Man mag den unintendiersetzter Sicherheit folgten und damit nunmehr in einer veränderten gesellschaftlichen Umgebung auftreten (Castell 2009: 27). 17 Andererseits beschreibt Castel – seine eigene These der Neuheit damit deutlich einschränkend – das Gefühl der Wiederkehr „eine[r] gebannt geglaubten Realität“, der „erneute[n] Existenz“ von „in der Welt Nutzlosen“ (ebd.); siehe außerdem Castel 2009: 27, wo „neue Formen“ von Unsicherheit und Prekarität analysiert werden. Neu seien sie insofern, weil sie auf eine Phase erworbener bzw. durchgesetzter Sicherheit folgten und damit nunmehr in einer veränderten gesellschaftlichen Umgebung auftreten. 18 Ob Prekarität neu ist oder aber wiederkehrt oder vielleicht nie verschwunden war, soll hier nicht zum eigenen Gegenstand der Untersuchung werden. 82
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ten Nebeneffekt einer Zwangsbefreiung aus entwürdigenden Arbeitsbedingungen durchaus begrüßen, doch ist dabei nicht zu verleugnen oder zu übersehen, dass hierbei ein noch viel existenzielleres Risiko auftritt, nämlich die blanke Armut, dazu das Gefühl des völligen Ausgeliefertseins an unbeherrschbare Mächte, der Verlust aller gewohnten und lebenswichtigen (auch habituellen) Sicherheiten: „Es werden also eine Menge zu den ganz abstumpfenden, ungesunden und unsicheren und die Geschicklichkeit beschränkenden Fabrik-, Manufakturarbeiten, Bergwerken usf., verdammt, und Zweige der Industrie, die eine große Klasse Menschen erhielten, versiegen auf einmal wegen der Mode oder des Wohlfeilwerdens durch Erfindungen in andern Ländern usf., und diese ganze Menge ist der Armut, die sich nicht helfen kann, preisgegeben“ (Hegel 1974: 251).19
An einer weiteren Stelle heißt es: „[D]er Zusammenhang der einzelnen Art von Arbeit mit der ganzen unendlichen Masse der Bedürfnisse [wird] ganz unübersehbar, und eine blinde Abhängigkeit, so daß eine entfernte Operation oft die Arbeit einer ganzen Klasse von Menschen, die ihre Bedürfnisse damit befriedigte, plötzlich hemmt, überflüssig und unbrauchbar macht“ (1974: 334).
Vor etwa 200 Jahren schlug sich Hegel daher bereits mit der Frage herum, wie die „Möglichkeit der Erhaltung der Existenz“ (1974: 251) gesichert werden könne.20 Und dabei ging es nicht so sehr um die Zuteilung von Almosen, das war allenfalls der letzte Ausweg, sondern vor19 Hegel betont die Unbeherrschbarkeit der Situation für den Einzelnen, die Möglichkeit der Erhaltung seiner Existenz sei „der völligen Verwicklung des Zufalls des Ganzen unterworfen“ (1974: 251). Er verweist auch auf Grenzen der individuellen Bewältigung der Situation: „[I]n einem gewissen Alter ist der Mensch gar nicht mehr fähig, ein anderes Gewerbe zu ergreifen, selbst die Hoffnung die Vorstellung es werde besser werden, günstigere Umstände werden eintreten, hält ihn beim Alten fest. So gehen hunderte, tausende bei dem Durchgang zugrunde“ (Hegel/Griesheim 1974: 624 f.); leidenschaftlich beklagt Hegel die Bequemlichkeit der Regierung, sich zu wenig zu kümmern: Auch die Pest würde irgendwann wieder aufhören, aber bis dahin seien Hunderttausende gestorben. 20 „[W]as ein Mensch notwendig braucht“, hängt Hegel zufolge von verschiedenen Faktoren ab. Nicht nur das zum physischen Überleben Notwendige ist gemeint, auch soziale Faktoren spielen mit: „[W]as im Durchschnitt in einem Volke für die Existenz für notwendig erachtet wird,“ muss daher in die Bestimmung des Existenzminimums einfließen (1974: 91). Vgl. auch später in der Rechtsphilosophie: „[D]ies Minimum ist jedoch bei den verschiedenen Völkern sehr verschieden“ (1970: 389). 83
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dringlich darum, wie die Betroffenen aus dieser Ohnmacht befreit und ihnen selbst die „Ehre“ verschafft werden könne, dass sie (wieder) von ihrer Arbeit leben können.21 Zu den Aufgaben der Regierung, wie Hegel sie konzipierte, gehörte es daher, hierfür behutsam, d.h. ohne zu starkes Eingreifen in den Markt, die Bedingungen zu schaffen und nur im Bedarfsfalle direkt zu helfen. „[D]as Eingreifen muß so unscheinbar als möglich sein [… und man soll] nichts retten wollen, was nicht zu retten ist, sondern die leidenden Klassen anders beschäftigen“, im äußersten Falle werden „Armentaxen und Anstalten“ erforderlich (Hegel 1974: 252).22 Hegel sah deutlich, dass diese Problemlagen das Resultat einer sich dramatisch verändernden modernen Gesellschaft waren: „Die wichtige Frage, wie der Armut abzuhelfen sei, ist eine vorzüglich die modernen Gesellschaften bewegende und quälende“ (1970: 390). Schon zu Hegels Zeiten aber ging es jedoch nicht allein um die Vermeidung des Verhungerns oder bitterster Armut, sondern primär um den Ort der Betroffenen in der Gesellschaft sowie um die Folgeerscheinungen des Ausgeschlossenseins und verweigerter Anerkennung. Zu solchen möglichen Folgen gehört z.B. die Entstehung des Pöbels. Dabei sieht Hegel sehr klar: „Die Armut an sich macht keinen zum Pöbel“, doch führt die Verstetigung einer Lebenslage in Armut und ohne Arbeit fast zwangsläufig zur „innere[n] Empörung gegen die Reichen, gegen die Gesellschaft, die Regierung usw.“ (1970: 389).23 Hegel spricht das Grundproblem aus und benennt offen das Unrecht: „Somit entsteht im Pöbel das Böse, daß er die Ehre nicht hat, seine Subsistenz durch seine Arbeit zu finden, und doch seine Subsistenz zu finden als sein Recht anspricht. Gegen die Natur kann kein Mensch ein Recht behaupten, aber im Zustande der Gesellschaft gewinnt der Mangel sogleich die Form eines Unrechts, was dieser oder jener Klasse angetan wird“ (1970: 390).
Gerade weil Hegel die strukturellen Probleme und die gravierenden Folgen verweigerter Anerkennung für Individuen und Gesellschaft untersucht, sind die alten Texte erstaunlich aktuell.24 Denn es geht nicht allein 21 Es geht um die „Ehre, durch eigene Tätigkeit und Arbeit zu bestehen“ (Hegel 1970: 389). 22 Hegel verwendet an dieser Stelle ausdrücklich den Ausdruck „Generation“ und verweist auf die „Aufopferung dieser Generation und Vermehrung der Armut“ (1974: 252). 23 „Diese Ungleichheit des Reichtums und der Armut, diese Not und Notwendigkeit wird die höchste Zerrissenheit des Willens, innere Empörung und Haß“ (Hegel 1974: 252). 24 Entsprechend knüpft z.B. Axel Honneth (1992, 2001) systematisch an Hegel an, insbesondere an den Anerkennungsbegriff. Robert B. Pippin (2005: 190) 84
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um materielle Armut. Die heute in prekärer Lage Befindlichen sind durchaus nicht zwangsläufig arm, wie umgekehrt nicht alle in Armut lebenden Menschen ihre Lage als prekär empfinden. Wohl aber geht es in allen Fällen um Lebenschancen, die Gestaltbarkeit, damit auch Planbarkeit des eigenen Lebens, um die Teilhabe an der Gesellschaft, ihrer Kultur, dem kommunalen Leben. Noch ein anderer Hinweis soll die von Castel behauptete historische Neuheit des Phänomens der Prekarier als „Überzähliger“ relativieren. Ist es denn tatsächlich so, dass die heute am meisten benachteiligte Bevölkerungsgruppe bzw. die heutigen Prekarier komplett „entbehrlich“ und nicht mehr „in die Gesamtheit gesellschaftlicher Austauschbeziehungen eingebunden“ sind (Castel 2000: 19)?25 Das scheint so nicht ganz zu stimmen. Nicht nur wird ihre Lage und Not von vielen Unternehmen ausgenutzt, um sie (bzw. diejenigen, die hin und wieder überhaupt eine bezahlte Beschäftigung erhalten) weit unter einem angemessenen Lohn arbeiten zu lassen. Ganz offensichtlich haben sie zudem eine recht bedeutende Funktion auch als Drohpotenzial. Auf sie wird nämlich von Arbeitgebern ganz offen und wie selbstverständlich verwiesen, wenn es um Preisunterbietung geht oder z.B. den Abbau bzw. Entzug von sonstigen Leistungen (ausgehandelte Vergünstigungen, Gestaltungsspielräume, Mitbestimmung). Viel zu oft heißt es etwa: Da draußen warten andere Leute auf Deinen Job, sie machen ihn sogar für weniger Geld und stellen keine kritischen Fragen.26 Hier wird ganz offensichtlich mit der Abstiegsangst der Beschäftigten sowie ihrer Furcht vor drohenden Zumutungen durch Arbeitslosigkeit (bzw. gar ALG II-Abhängigkeit) kalkuliert. Sobald aber die Existenz erst einmal unsicher geworden ist, dominiert bei den (Noch)Beschäftigten „die Sorge um den Erhalt ihres Arbeitsplatzes, so widerwärtig er auch sein mag“ (Bourdieu 2000: 72), ist zugleich ein Trend des Erzeugens gefügiger Arbeitskräfte feststellbar sieht in Hegel den wichtigsten Teilnehmer am Diskurs der Moderne. Terry Pinkard (1994) interpretiert die „Phänomenologie des Geistes“ als Herausarbeitung der „sociality of reason“. 25 Eine eindeutige Aussage ist schon deshalb schwierig, weil Uneinigkeit darüber herrscht, wer genau die Prekarier bzw. die Prekarisierten sind. Bislang gibt es keine einheitliche Sprachregelung, nach der etwa „nur“ die Überzähligen (also nicht mehr beschäftigbare Menschen, auf die scheinbar auch niemand mehr angewiesen ist) die Gruppe der Prekarier bilden. Castel selbst meint mit den „Überzähligen“ die Nichtbeschäftigbaren. 26 Natürlich gibt es hier Grenzen: Für bestimmte Bereiche benötigt man die gänzliche Loyalität der Mitarbeiter sowie kontinuierliche Beschäftigungsverhältnisse, droht ihnen also nicht mit dem Hinweis auf die Prekarier. Ebenso gibt es immer wieder Fachkräftemangel, wo also durch das bloße Vorhandensein von Prekariern ebenfalls kein Druck aufgebaut werden kann. 85
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(Boltanski/Chiapello 2003: 263). Dieser indirekte und höchst wirksame disziplinierende Einfluss des bloßen Vorhandenseins alternativer Arbeitskräfte lässt sich nicht nur im Niedriglohnsektor nachweisen, er ist ebenso im akademischen Betrieb anzutreffen, wo mittlerweile gleichfalls prekäre Beschäftigungsverhältnisse vorhanden sind und das erwähnte Drohpotenzial inzwischen recht häufig erpresserisch in Anschlag gebracht wird.27 In Westeuropa wenigstens muss heute niemand mehr verhungern, elementare Lebensrisiken sind abgesichert, und das ist bei aller nötigen und berechtigten Kritik an der gegenwärtigen Realität ein gewaltiger Fortschritt und bleibt auch dann festzustellen, wenn dieses Sicherheitsnetz so wie in jüngster Vergangenheit wieder größere Löcher bekommt oder manchmal sogar reißt.28 Trotzdem bleibt zu fragen, ob selbst eine geglückte (und verbürgte) materielle Absicherung gegen jene Risiken gepaart mit freiheitlichen Grundrechten bereits zur Führung und adäquaten Erfüllung eines freien menschlichen Lebens ausreicht. Das mag im Einzelfall möglich sein, doch ist deutlich feststellbar, dass sozial Benachteiligte und insbesondere Prekarisierte häufig die Kraft zu einem freien selbstbestimmten Leben verlieren; in Deutschland konzentriert man sich zu einseitig auf die materiellen Transfers, achtet im internationalen Vergleich insgesamt zu wenig auf die ebenso unverzichtbare systematische Förderung von Teilhabe an Bildung, Arbeit und Aufstiegschancen. Stellt man auch verschiedene konkurrierende Auffassungen von Freiheit gegeneinander, immer wird man sagen müssen, dass es zur praktizierten Ausübung politischer Freiheit stets noch wesentlich mehr bedarf als der (hoch zu schätzenden) Gesetze, die sie verbürgen. Denn Freiheit und aktive gesellschaftliche Teilhabe lassen sich nicht verordnen; es bedarf aktiver Bürger und eines entsprechenden geistigen Klimas, damit Freiheit ergriffen und politisch gelebt wird. Darum ist es ein gesellschaftliches Problem, wenn ganze Bevölkerungsgruppen ins Abseits geraten oder sich von der Politik nicht mehr adäquat vertreten fühlen, wenn sie sich gar von den gesellschaftlichen Institutionen entfrem-
27 Leider kein Einzelfall: „Was? Du willst statt der halben endlich eine ganze Stelle oder nur noch die wirklich bezahlte Zeit arbeiten? Sieh mal nach draußen, es geht vielen wesentlich schlechter als Dir – die warten alle auf ihre Chance.“ 28 Es ist gerade die Bedrohung eines Abbaus der mittlerweile nahezu selbstverständlich gewordenen Absicherung, die so stark empfunden wird. Vielleicht stärkt diese neue und unerwartet zu machende Erfahrung nunmehr das Bewusstsein für die Wichtigkeit derartiger Errungenschaften und erhöht die Bereitschaft, sich für diese weiterhin auch unter vielleicht schwierigeren Bedingungen politisch einzusetzen. 86
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den.29 Natürlich brechen Gesellschaften nicht so einfach auseinander, aber das soziale Band wird mürbe, wenn für die sozial Benachteiligten kein echtes Identifikationsangebot in der Gesellschaft mehr zu finden ist, wenn sie ungewollt zu Leistungsempfängern degradiert werden und als solche angesprochen werden.30 Und für die Demokratie bleibt es nicht ohne Folgen, wenn (z.B. aufgrund fehlender Ressourcen) die Ausübung der demokratischen Rechte und Pflichten faktisch unterbleibt. Wer misst außerdem das Leiden, das mit systematisch generierter Hoffnungslosigkeit und dem zumeist unverschuldeten Verlust autonomer Zukunftsplanung verbunden ist, und welche Folgen hat das langfristig? Was geschieht, wenn die Jugend systematisch benachteiligt und ausgegrenzt wird, wenn die Lasten und Risiken nicht nur ungleich verteilt sind, sondern vor allem deutlich zuungunsten der Nachkommenden, denen dabei noch zunehmend die Mittel abhandenkommen, diese zu schultern?31 Wie auch immer man solcherart Spannungen bewertet, wie immer sie ausgetragen, ausgehalten oder mitunter gelöst werden mögen, sie stellen eine erhebliche Herausforderung dar und können den gesellschaftlichen Zusammenhalt gefährden.32 Sie müssen nicht gleich in gewaltbehaftete Kämpfe zwischen den Generationen33 münden, können aber durchaus eskalieren (man denke an die Ausschreitungen in Frankreich und Griechenland); bereits im Normalfall führen solche ungelösten, verstetigten Spannungen zu Konflikten, die niemandem gleichgültig bleiben sollten. Denn es steht einiges auf dem Spiel, sowohl auf gesamtgesellschaftli29 Nach Castel stellt sich die soziale Frage zwar explizit an den Rändern des gesellschaftlichen Lebens, wobei letztlich jedoch die gesamte Gesellschaft infrage gestellt wird: „Es tritt hier ein Bumerang-Effekt zutage, über den die Probleme, die von den an den Umrandungen einer gesellschaftlichen Formation scheiternden Bevölkerungsgruppen aufgeworfen werden, in deren Zentrum zurückkehren“ (2000: 20). 30 Der übergroße Teil der Arbeitslosen (auch der Langzeitarbeitslosen) sowie der prekär Beschäftigten wünscht sich eine „normale“ volle Erwerbsarbeit, bleibt also auch unter schwierigen Lebensbedingungen weiterhin am Ideal jener Gesellschaft orientiert, die sich primär als Arbeitsgesellschaft versteht und feiert. Sofern sich dieses Ideal nicht erfüllen lässt, leiden sie doppelt (unter ihren eigenen und den gesellschaftlichen Erwartungen). Besonders erniedrigend ist die Situation für jene, die trotz Vollzeitbeschäftigung auf Unterstützungsleistungen angewiesen sind. 31 Zum Thema der Generationengerechtigkeit siehe u.a. Birnbacher 2003, Nullmeier 2004, Tremmel 2005 sowie die Zeitschrift „Generationen Gerechtigkeit!“. 32 „[J]ede Gesellschaft gerät in Schwierigkeiten, wenn ihre Jugend mehrheitlich Trübsinn bläst.“ (Papcke 2007: 15). 33 „[I]n der antagonistischen Gesellschaft ist auch das Generationenverhältnis eines von Konkurrenz, hinter der die nackte Gewalt steht“ (Adorno 1980: 22). 87
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cher als auch auf persönlich-individueller Seite. Wenn massenhaft Menschen in einer Situation leben, in der sie aus eigenem Tun heraus kaum noch ihr Leben verbessern können, sie auf dem Arbeitsmarkt quasi chancenlos sind, sie dazu in der öffentlichen Meinung gelegentlich auch noch als Sozialschmarotzer diffamiert werden, so hat das nicht nur negative Auswirkungen auf ihre gesamte, je individuelle Selbstwirksamkeitserwartung und ihr emotionales Leben, es drohen hinzu auch physische Erkrankungen, Depressionen, Psychopathologien.34 Wenigstens ein Teil dieser Leiden wäre zu verhindern. Es ist durchaus nicht so, dass die Ereignisse uns schlicht überrollen und wir unbeteiligt und tatenlos zusehen müssen. Mag der Handlungsspielraum angesichts globaler Märkte und nicht kontrollierbarer Finanzströme auch eingeschränkt sein, so ist er doch immerhin vorhanden.35 Niemand sollte Sachzwänge schönreden, niemand sollte aber auch umgekehrt den politischen Willen und die mit ihm verbundenen Möglichkeiten kleinreden. Genau das wird jedoch viel zu oft getan. Es bleibt aber nicht folgenlos, wenn permanent suggeriert wird‚ die Politik sei schlicht gezwungen, auf diese oder jene (meist ökonomische) Entwicklungen lediglich zu reagieren.36 Selbstverständlich muss sie das auch, aber sie reagiert eben nicht nur, sondern agiert dabei auch, und sie setzt damit Rahmenbedingungen. Natürlich vertritt sie dabei Interessen, und zwar mit gravierenden Folgen. Blickt man auf die Prekarisierung, so bleibt zweifellos festzustellen: Es waren eben nicht einfach nur ökonomische Entwicklungen, die unvermittelt zu jener verschärften und beklagten Lage geführt haben. Die vorhandenen Tendenzen aus dem Wirtschaftsleben wurden zusätzlich durch politische und rechtliche Entscheidungen verschärft, es wurden ausdrücklich und wil-
34 Hierfür gibt es eine Fülle empirischer Belege. Die Leiden verstärken sich, wenn die Betroffenen weder ihre eigenen Ansprüche noch die gesellschaftlichen Anforderungen erfüllen können (z.B. Grümer/Pinquart 2008). 35 Vor schnellen, scheinbar fertigen Antworten auf die Prekarisierungstendenzen sei gewarnt. „Manches, was eine Politik der Entprekarisierung in Deutschland fordert […], ist in Frankreich bereits Realität. Das mit durchaus ambivalenten Folgen. In einem ausgehöhlten Tarifsystem wird der Mindestlohn zur eigentlichen Verhandlungsnorm, und Flexibilitätsprämien für Leiharbeiter erhöhen den Anreiz, solche Tätigkeiten anzunehmen. Regulationen, die zur Entschärfung von Prekarität führen sollen, können so zu deren Verstetigung beitragen“ (Castel/Dörre 2009a: 384 f.). 36 Man kann Menschen auch entmutigen oder desinteressiert machen, indem man permanent wiederholt, angesichts der Gegebenheiten gebe es keinerlei alternative Optionen zum Handeln. Die sogenannte Politikverdrossenheit resultiert wenigstens zum Teil daher, dass der mögliche politische Entscheidungsspielraum unterschätzt wird. Dies lässt noch schneller das Gefühl entstehen, es sei sowieso egal, wer „da oben“ sitzt, da jeder ohnehin nur noch passiv reagieren und hinterherhinken könne. 88
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lentlich neue Gesetze beschlossen. Sowohl die deutschen sogenannten Hartz IV-Gesetze als auch die französischen Gesetze zur Verlängerung der Probezeit (und damit verbunden die faktische Schlechterstellung von Berufseinsteigern) waren politische und gesetzgeberische Akte. Selbstverständlich sind sie in einem spezifischen Kontext und unter schwierigen, kaum beherrschbaren, vielfach nicht gewählten ökonomischen Verhältnissen entstanden. Aber es waren klarerweise politische Entscheidungen, und sie waren gewiss nicht alternativlos.37 Hier zeigt sich dann genauer, wessen Interessen in welcher Weise und mit welchem Ergebnis vertreten werden. Und es zeigt sich hieran ebenso klar, dass die Prekarisierten gerade nicht gänzlich außerhalb der Gesellschaft stehen, mithin nicht völlig exkludiert sind, sondern dass sie Teil von dieser Gesellschaft bleiben, damit auch regiert und ihren Gesetzen unterworfen werden.38 Wenn Gesetze und öffentliche Meinung so beschaffen sind, dass sie die ohnehin Benachteiligten noch zusätzlich stigmatisieren oder drangsalieren39, kann es auf lange Sicht zu gefährlichen Verwerfungen kommen. Denn dann fühlen und finden sich die Prekarisierten nicht nur nicht anerkannt und aufgehoben in der eigenen Gesellschaft samt den ihr zugehörigen Institutionen, sondern ihnen schlagen zusätzlich noch Ressentiments entgegen. Empörung und Radikalismen auf verschiedenen Seiten können resultieren, ebenso Resignation, Null-Bockstimmung oder Teilnahmslosigkeit; nur beim kleineren Teil werden „Selbstheilungskräfte“ und Aktivität erstarken, um sich doch noch selbst irgendwie und um jeden Preis aus der unerträglich gewordenen Situation zu befreien.40 Der größere Teil wird wohl Opfer bleiben und dies umso mehr, 37 „Man wird den Verdacht nicht los, daß Prekarität gar nicht das Produkt einer mit der ebenfalls vielzitierten ‚Globalisierung‘ gleichgesetzten ökonomischen Fatalität ist, sondern vielmehr das Produkt eines politischen Willens“ (Bourdieu 2004: 99). 38 Castel warnt davor, für Überzählige, Prekarier bzw. Prekarisierte den Begriff der sozial „Exkludierten“ zu verwenden und bevorzugt den Begriff der „Entkoppelung“ (désafiliation) (Castel 2000: 14). Der Begriff der Exklusion sei statisch und von geringer analytischer Reichweite, er begnüge „sich damit, negativ und unterschiedslos den Mangel zu konstatieren, ohne eine Untersuchung der Merkmale der jeweiligen Situation in ihrer Besonderheit zu erlauben“ (Castell 2009: 29). „Entkoppelung“ verweist auf das sukzessive Abhängen der Betroffenen. 39 Z.B. die in Deutschland geführte Debatte um eine neue „Unterschicht“ bzw. die vielfach als verletzend und übertrieben empfundenen Kontrollen von ALG II-Empfängern bei gleichzeitig ausbleibender Arbeitsvermittlung. 40 Selbstverständlich bewältigen Individuen solche Herausforderungen unterschiedlich, abhängig u.a. von ihren geistigen, materiellen und sozialen Ressourcen, geprägt ebenso von ihren Herkunftsmilieus, Abstiegserwartungen und Ausgrenzungserfahrungen (Silbereisen/Pinquart 2008). 89
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als es sich um generelle Strukturprobleme handelt, nicht oder nur sehr selten um schuldhaftes individuelles Versagen. Umso empörender ist es, dass den Betroffenen häufig auch noch eine individuelle Schuld zugesprochen (bzw. deren Autosuggestion nicht widersprochen) wird, man also auch noch moralisiert, wo schlicht von außen zu helfen wäre, weil sich die Leute selbst kaum noch helfen können bzw. im individuellen Erfolgsfall allenfalls eine Substitution durch andere eintreten, sich nicht jedoch das eigentliche Problem (etwa das der Arbeitslosigkeit) verflüchtigen würde.41 Natürlich stellt eine Herausforderung nicht nur eine Bedrohung oder Gefahr dar, sondern sie kann auch als Chance begriffen werden. Es soll daher nicht verschwiegen werden, dass einige Menschen die Flexibilisierung ihres Arbeitslebens durchaus als Freiheitsgewinn verstehen, erleben und die damit verbundenen neuen Möglichkeiten überaus aktiv nutzen, insbesondere in hoch qualifizierten und kreativen Berufen.42 Für die Masse der Betroffenen gilt dies freilich nicht: Der Großteil der Prekarisierten orientiert sich bekanntermaßen weiterhin am Ideal des Normalarbeitsverhältnisses (also unbefristet und mit fester Wochenstundenzahl), ist aber nur noch selten in der Lage, dieses zu erreichen. Man kann den politischen und medialen Zusammenschluss zur Génération Précaire insgesamt als eine Form der aktiven Bewältigung der neuen veränderten Lage verstehen oder, vorsichtiger, als einen kollektiven Versuch, der auf die ungewohnten neuen Herausforderungen reagiert.43 Als solcher ist 41 Insofern sind viele der an die Prekarisierten gerichteten aktivierenden Appelle wirkungslos und überflüssig, zum Teil verantwortungslos. Es reicht als proklamierte Problemlösung schlichtweg nicht aus, deren kulturelle Kompetenzen erhöhen oder gar korrigieren zu wollen. Vielfach sind diese bereits hervorragend ausgebildet und kompetent (besonders deutlich ist dies bei der Génération Précaire der Fall). Ihnen die Verantwortung für ihre Lebenslage als individuelles Versagen anzulasten, ist unredlich (Bescherer 2009). 42 Eine reine Defizitlogik wäre also verfehlt, neben Hoffnungslosigkeit und Lethargie resultiert auch vielfach der Wille sich durchzuschlagen, wobei geschickt Überlebenstechnologien entwickelt, dabei dann auch Kompetenzen erworben werden, die produktive Folgen haben können. Als eine Nebenfolge zeigt sich z.B. die Möglichkeit des Ausbrechens aus alten normativen Erwartungen und Vorbildern; das Ideal des einen erwerbstätigen Familienernährers ist dann etwa kaum noch haltbar, neue Rollen und Biographien werden möglich (Behr 2009). 43 Damit einher geht zugleich eine gewisse Entlastung: Die kollektive und öffentliche Formulierung der individuell erfahrenen Schicksale entlastet teils von dem Gefühl, selbst schuld zu sein. Solidarisierung und öffentlicher Protest helfen, sich aktiv zu wehren statt sich dem Selbstmitleid hinzugeben (vgl. Beispiele bei Kanwischer 2006). 90
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der Protest ausdrücklich zu begrüßen, selbst wenn er nicht schon mit Bewältigung gleichzusetzen ist. Und so sehr der politische Protest nahezu einheitlich begrüßt und von einer breiten Zustimmung getragen, auch die Selbstbeschreibung der Jugendlichen als zutreffend akzeptiert wird, so finden sich doch auch nachdenkliche bis skeptische Stimmen, die vor einer (drohenden resultierenden) Partikularisierung der Interessenslagen sowie einer Entsolidarisierung unter den Benachteiligten warnen.44 Dazu scheint es partiell schon gekommen zu sein, wie man aus Kommentaren ersehen kann, die das Problem der Generation P leicht verächtlich auf ein Elitenproblem reduzieren: Es handle sich allein um Schwierigkeiten hervorragend ausgebildeter Jugendlicher, die es sich wegen ihrer Besserstellung aber immerhin leisten könnten, unbezahlte Praktika zu absolvieren, und die schließlich dann doch noch gute Jobs finden würden. Die Praxis des Praktikums wie auch die öffentliche Diskussion über das gewiss bemitleidenswerte zwischenzeitliche Schicksal des akademischen Proletariats hätten jedoch nunmehr ein viel gravierenderes Problem erzeugt, nämlich dass das Praktikum als solches in der öffentlichen Meinung ruiniert sei. Dies wiederum habe zur Folge, „dass die tatsächlich Benachteiligten auf dem Arbeitsmarkt heute wieder schwerer in Arbeit kommen als zuvor. Das aber hat das Instrument des Praktikums nicht verdient. Denn Praktika sind der beste Weg für diejenigen, die sonst keine Chance bekommen“ (Weidenfeld 2008).45 Daraus wird unvermittelt geschlossen, es sei allerhöchste Zeit „für eine neue Generation Praktikum.“ Wie auch immer man diesen Vorschlag beurteilt, er zeugt von der Ambivalenz und Reichweite der Bezeichnung Generation P, und er führt uns erneut zurück zum Generationenbegriff.
Generationszuschreibung als ö f f e n t l i c h e E r f a h r u n g s ve r a r b e i t u n g ? Blicken wir nochmals auf den Ort der Betroffenen in der Gesellschaft und auf das Selbstverständnis ihrer Situation. Vielleicht eröffnet das einen Zugang, der die Prekarisierung nun doch noch, und zwar in ande44 Neben den politisch-strategischen Bedenken für eine bessere, erfolgreichere Bündelung des Widerstandspotenzials gibt es auch theoretische Bedenken, z.B. dass „Generation“ heute zunehmend als „Selbststilisierung einer sozialen Gruppe“, als „Selbstthematisierungskategorie“ auftrete und damit die „Gefahr der Selbstreferentialität“ verbunden sei (Jureit/Wildt 2005a: 17 f.). 45 Die Autorin argumentiert, dass Jugendliche ohne Schulabschluss „als Praktikanten schneller eine Lehrstelle [finden], als wenn sie noch ein Schuljahr dranhängen oder in eine außerbetriebliche Berufsvorbereitungszeit gehen.“ 91
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rer Weise, näher an den Generationenbegriff heranrückt. Wenn man davon ausgeht, dass Unsicherheits- oder auch Überflüssigkeitserfahrungen historisch kein gänzlich neues Phänomen sind, dann fragt sich, weshalb solche Erfahrungen plötzlich in einer neuen Weise thematisiert und zur Bezeichnung eines Lebensgefühls, nämlich dem der Génération Précaire, herangezogen werden. Mit dieser Selbstzuschreibung wird „das dominierende Lebensgefühl einer (zumeist mittelständischen) französischen Jugend zum Ausdruck [gebracht], die sich gezwungen sieht, von einer Welt des stetig wachsenden Wohlstands und sozialstaatlich gewährleisteter Sicherheiten Abschied zu nehmen und sich auf ein Leben unter schwer kalkulierbaren Bedingungen einzurichten“ (Bürgel 2007: 6).46 Dass es sich hierbei um ein Gefühl, also eine ‚irgendwie‘ emotionale Angelegenheit handelt, eröffnet einen weiteren Zugang zum Begriff der Generation. Denn bei der Zuschreibung einer solchen geht es gar nicht so sehr, wenigstens nicht primär, um die beobachterunabhängige objektive Wirklichkeit sozialer Tatsachen, sondern um gemeinsame Erfahrungen oder Erlebnisse zu einer bestimmten historischen Zeit und zwar zumeist von Menschen in einem nahen Lebensalter (oder in einem ähnlichen Abschnitt ihrer Biographie).47 Gefühle gehören zur Welt. Und auch „Meinungen über die wirkliche Welt, mögen sie stimmen oder nicht, prägen diese mit“ (Papcke 2007: 15).48 Dass es sich um an historischen Ereignissen gewonnene Erfahrungen handelt, schränkt die Willkür oder Beliebigkeit solcher Erfahrungen erheblich ein, sie sind gewissermaßen doch verortbar.49 Dennoch bleibt es problematisch, von objek46 Vgl. Kanwischer 2006: „Es ist das Gefühl, keinen Platz in der Arbeitswelt dieser Gesellschaft zu finden, das Gefühl, trotz doppelter Diplome und brillanter Abschlüsse praktisch nichts wert zu sein, weil uns einfach kein Arbeitgeber mehr fest anstellen will [....] Daraus folgen Planungsunsicherheit für die Zukunft, die Zerstörung sozialer Netze sowie weniger Familiengründungen.“ 47 Vgl. schon Marc Bloch (1974), wonach die Gemeinsamkeit der Prägung, welche aus der Gemeinsamkeit des Alters herrühre, eine Generation entstehen lasse. Siehe auch Corsten 2001b, der Generationenzusammenhänge der Bundesrepublik nach verschiedenen Jahrgängen auflistet. 48 Vgl. Kanwischer 2006: „Ob das prekäre Gefühl nun der Realität entspricht oder die Übertreibung eines Phänomens ist; fest steht, es betrifft viele junge Leute unserer Generation und dadurch wird es real.“ 49 Natürlich gibt es dennoch objektive Ereignisse und messbare Kriterien, die individuell als Schicksal erfahren und prägend werden können z.B.: „Der männliche Jahrgang von 1924 hatte durch den Krieg im Unterschied zum Jahrgang 1928 eine außerordentliche Mortalitätserwartung. Das hat nichts mit dem Individuum und seiner Wahrnehmung oder Entscheidungsfindung zu tun, sondern es handelt sich um kollektiv definierte Lebenschancen, in die das Individuum kraft ‚Generationslagerung‘, um mit Karl 92
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tiven Erfahrungen zu sprechen, selbst wenn man weiß, dass alle relevanten Individuen (etwa diejenigen, die sich einer Generation zugehörig fühlen) vergleichbare Erfahrungen gemacht haben und von den gleichen historischen Ereignissen und deren Auswirkungen betroffen waren, weil man ihnen z.B. gar nicht ausweichen konnte, wie etwa einem Krieg.50 Kaum jemand hat derartige Schwierigkeiten sowie die prinzipielle Historizität von Erfahrungen, aber auch ihre partielle Wiederholbarkeit, so klar reflektiert wie Hegel, der seiner in Jena geschriebenen „Phänomenologie des Geistes“ den bezeichnenden, weil viele Vorurteile gegen den deutschen Idealismus unmittelbar diskreditierenden, Untertitel gab: „Wissenschaft von der Erfahrung des Bewußtseins“. Wir wissen aus diesem Werk auch, dass es geradezu zwangsläufig und zu allen Zeiten zu Revisionen des (individuellen sowohl als kollektiven) Bewusstseins kommt, quasi jede neue Generation gezwungen ist, ihre Erfahrungen zu machen und sich auf ihre Weise das kulturelle Erbe anzueignen. Sobald es sich um Erfahrungen handelt, ist man gewissermaßen existenziell unvertretbar. Niemand anders kann für mich diese Erfahrung machen, auch wenn ich natürlich von den Erfahrungen und Leistungen Vorangegangener oder auch Gleichaltriger profitieren kann bzw. z.B. in künstlerischen Werken gewissermaßen fremde Erfahrungen sehr gut nachempfinden und damit auch irgendwie mitvollziehen kann – doch sind und werden das eben nicht meine Erfahrungen, sie behalten einen anderen Status. Und dieser Sachverhalt führt uns erneut zurück zum Generationenbegriff. Wenn dem nämlich so ist, ist es gar nicht mehr so verwunderlich, weshalb eine bestimmte Gruppe von Menschen (zumal eines ähnlichen Alters) plötzlich den gleichen historischen Sachverhalt anders wahrnimmt als zuvor oder als andere Mitglieder der gleichen Gesellschaft zur gleichen Zeit. Denn sie machen eben eine für sie neue Erfahrung. Wenn diese in einen bestimmten Lebensabschnitt fällt (etwa den der Adoleszenz) und/oder entsprechend stark ist, kann dies zu einem generationsprägenden Ereignis werden, zu einer entsprechenden öffentlichen Artikulation führen, können die Erfahrungen also, wie es Koselleck (2000: 35) einmal nannte, eine „gemeinsame Signatur“ gewinnen. Mannheim zu sprechen, als Schicksal eingefügt ist.“ (Lepsius 2005: 48). Eine Generation kann aber auch recht viele Jahrgänge umfassen, bei Schelskys „skeptischer Generation“ etwa die Jahrgänge von 1920 bis 1930 (Jureit/Wildt 2005a: 17). 50 Trotz gleicher erlebter Ereignisse fühlen sich ja nicht alle Angehörigen eines Jahrgangs der Generation auch zugehörig. Hier kommt es also wesentlich darauf an, wie Ereignisse oder gar historische Zäsuren verarbeitet werden, entscheidend sind also kulturelle Differenzierungen (Lepsius 2005). Die unterschiedliche Verarbeitung der Ereignisse führt zu differierenden Erfahrungen und politischen Folgerungen (Jureit/Wildt 2005a: 21). 93
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Damit verbunden ist, dass die betreffenden Menschen auch einen Teil des öffentlichen Raums gleichsam besetzen, jedenfalls tragen sie ihre Erfahrung in die Öffentlichkeit und verständigen sich darüber sowohl untereinander wie sie umgekehrt eben hierüber zugleich von den anderen als eine Einheit (mitunter eben als Generation) begriffen werden. Niemand ist für sich allein eine Generation, ohne Öffentlichkeit gibt es keine Generation, jedenfalls nicht in dem hier gemeinten Sinne einer kollektiven Selbstthematisierung.51 Es handelt sich dabei immer um kulturelle Selbstverständigungsprozesse, Selbstzuschreibungen, Selbstdeutungen, in jedem Falle um Vermittlungsleistungen zwischen Individuum, Gruppe, größeren Kollektiven. Und solche Selbstdeutungen finden natürlich in einem bestimmten kulturellen Raum statt, an dessen Gestaltung die Individuen und Kollektive zugleich auch mitwirken. Die gemeinschaftliche Konstitution zur Génération Précaire schafft mithin nicht nur eine öffentliche Wahrnehmbarkeit der für sie spezifischen Lage und Interessen, sondern sie bietet den Jugendlichen zugleich ein Angebot für ihre Identitätsfindung, einen Vergleichshorizont, an dem sie ihr eigenes Selbstverständnis „hinterfragen, bestätigen und auch erproben“ können (Jureit 2006: 11). Die für sie prinzipiell gleiche Ausgangslage, d.h. weitgehend ähnliche Sozialisierungs- und Prägungszusammenhänge, und das geteilte Erlebnis ihrer unsicheren Situation lassen bei den Jugendlichen ein Gefühl der Verbundenheit entstehen. Damit ist durchaus ein Wir-Gefühl, mithin eine gewisse Kollektivität gegeben. Indem die Jugendlichen ihre Erfahrungen artikulieren, thematisieren und abgleichen, findet zudem eine Art Verarbeitung der für sie einschneidenden Erlebnisse statt. Nicht zuletzt hat die kollektive Selbstbeschreibung der Génération Précaire auch eine gewisse Handlungsrelevanz.52 Und zwar nicht nur in dem Sinne, dass generationelle Selbstbeschreibungen auch eine Tendenz haben, zu gemeinsamen Handlungen aufzu51 Das kann inzwischen so weit führen, dass in den Medien oder auch durch Sozialforscher Generationen erfunden und dem Orientierungsbedürfnis bzw. Bedürfnis nach einer Kollektividentität angeboten werden, denen nachträglich bei entsprechender Plausibilität auch zugestimmt wird. „Ein expandierender publizistischer Markt, angetrieben von der Dynamik ständiger Differenzierung und verkürzter Produktionszyklen, bietet an, aus der Ursuppe biographischer Erfahrungen griffige Generationsgestalten zu erschaffen“ (Maase 2005: 240). Davon sind nunmehr Journalisten selbst genervt: „Muss es denn immer gleich eine ‚Generation‘ sein? Kaum haben Journalisten mal eine Tendenz unter Jugendlichen ausgemacht, schon müssen sie ihr flottes Urteil über die gesamte Generation stülpen“ (Wahl 2009: 42). 52 Damit sind alle von Jureit (2006: 10-15) genannten „übergeordneten Konstruktionsprinzipien“, die das Bedeutungsfeld von Generation abstecken, erfüllt: Identität, Kollektivität, Handlung, Erfahrung, Verarbeitung. 94
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fordern bzw. ein Verhalten auf die gemeinsame Generationszugehörigkeit zurückzuführen, sondern in diesem Falle mit überaus sichtbaren, konkreten Resultaten: Im Frühjahr 2006 gelang es den französischen, überwiegend studierenden Jugendlichen, riesige Menschenmengen für ihr Anliegen zu mobilisieren und auf die Straßen zu holen, die mit ihnen gemeinsam gegen das neue Gesetz bezüglich der Probezeit protestierten und seine Abschaffung verlangten. Diese enorme gesellschaftliche Anteilnahme und Aufmerksamkeit trug sicher dazu bei, die kollektive Selbstbestimmung zur Génération Précaire für eine breite Öffentlichkeit sichtbar zu machen. Die in diesem Falle erfolgte Solidarisierung gibt darüber hinaus Anlass zur Hoffnung. Obwohl es hier um das Eintreten für die Interessen speziell Jugendlicher ging, erfolgte dies nicht im Stile oder mit dem Gestus des Verteilungskampfes, nicht als Durchsetzung eines Sonderwillens im Sinne einer Umverteilung zu Lasten anderer. Hier ging es gerade nicht um ein Gegeneinander der Generationen. Es ging vor allem darum, Gleichberechtigung (statt gesetzlich verordneter Benachteiligung einer bestimmten Altersgruppe) einzufordern, mithin die dem demokratischen Grundverständnis der Gleichbehandlung als widersprechend empfundenen neuen Gesetze nicht zu akzeptieren. Wenn es stimmt, dass der Generationenbegriff auch dazu dient, „historischen Wandel in einer lebensgeschichtlich überschaubaren Zeitspanne kollektiv wahrzunehmen und ihn mit der generativen Erneuerung von Gesellschaften in Zusammenhang zu bringen“ (Jureit 2006: 8), dann könnte der neue Generationenbegriff und das Vorhandensein der Génération Précaire für eine zur Hoffnung berechtigende Entwicklung stehen: Die von neuen Generationen ausgehenden Anstöße und Impulse, auch die Forderungen der nachwachsenden Jugend erfolgen nicht notwendig zu Lasten vorangegangener Generationen. Die neue Generation tritt vielmehr als Anwalt und Verteidiger der Ansprüche aller Gesellschaftsmitglieder auf. Auf derart ausgelöste Metamorphosen dürfte man sich freuen.
Literatur Adorno, Theodor W. (1980): Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Austermann, Frauke (2007): „Von Prekarität, weißen Masken und Toilettenreinigern. Die französische Praktikantenbewegung Génération Précaire“. In: Generationen Gerechtigkeit!, H. 23, S. 21-25.
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Generation ohne Aufstieg: Griechenlands J uge nd zw ische n Prek aris ierung, selektivem Wohlfahrtsstaat und familialem Wandel PARASKEVI GREKOPOULOU Jugendproteste sind in dieser Dekade zum Ausdruck sozialen Konfliktpotenzials geworden. Die Aufstände in den Banlieues mehrerer französischer Städte und die massiven Jugendproteste in Griechenland sind die markantesten Beispiele dieser neuen Realität. Doch während sich die Protestierenden in Frankreich aus jungen Einwanderern der Vororte rekrutierten, entstammen die Jugendlichen in Griechenland der Mitte der Gesellschaft. Symbolträchtig trugen sie ihre Proteste im Zentrum der Stadt aus. Von Athen sprangen die Auseinandersetzungen auf andere Städte über und riefen zudem Solidaritätswellen unter den Jugendlichen in mehreren Städten Europas hervor, u.a. Berlin und Hamburg. Anlass des massiven Aufbegehrens griechischer Jugendlicher im Dezember 2008 war der Tod eines 15jährigen Schülers, der durch den Schuss eines Polizisten ums Leben kam. Obwohl Jugendproteste in Griechenland keine Seltenheit sind, besitzt dieser wegen seiner Ausdauer, seiner Reichweite und Austragungsformen sowie seiner breiten nationalen und internationalen Resonanz einen besonderen Charakter. Die Reaktionen in der griechischen Öffentlichkeit waren bis auf wenige Ausnahmen verständnisvoll. Dass Teile der jugendlichen Demonstranten auch zur Gewalt griffen, minderte in der öffentlichen Wahrnehmung und Darstellung nichts an der Berechtigung der Proteste an sich. Der Tod des Schülers wurde auch nicht als Einzelfall interpretiert, sondern als Ergebnis eines systematischen Handelns der Polizeikräfte. Eltern und Lehrer sowie der Großteil der griechischen Presse sahen den Protest in sozialen Missständen begründet. Sehr schnell wurde klar, dass das aktuelle Ent101
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setzen über den Tod des Schülers in der Artikulation einer sozialen Wut überging, die subtil schon länger vorhanden war. Der Unterton im Großteil der Medien wies den protestierenden Jugendlichen eine Stellvertreterfunktion zu: Es sei die Jugend, die die Apathie der gesamten Gesellschaft überwinde und anstelle der gelähmten oder angepassten Erwachsenen die umfassende Krise des Systems anprangere. Denn die Jugendlichen seien mit der Ausweglosigkeit des ökonomischen und sozialen Status Quo am härtesten konfrontiert. Doch was war das Spezifische an den Protesten in Griechenland? Betrachtet man die Lage von Jugendlichen in den südeuropäischen Ländern und in Frankreich, ist es unumstritten, dass Prekarisierungsprozesse keine griechische Besonderheit sind. Die griechischen Auseinandersetzungen wiesen jedoch nochmals auf die generelle Situation europäischer Jugendlicher hin, was internationale Solidaritätsbekundungen aber auch der Wandel konkreten Regierungshandelns deutlich machten: So nahm die Regierung Sarkozy kurz nach den Protesten in Griechenland das schon ausgearbeitete Gesetz zur Bildungsreform zurück (das Gesetz Darkos, welches u.a. mehrere tausend Arbeitsplätze im Bildungssektor einsparen sollte), um ähnlichen Protesten zuvorzukommen. Das Besondere an den griechischen Ereignissen war das Infragestellen der Fähigkeit des Staates, die Probleme der Jugendlichen zu lösen. Dieser massive Vertrauensverlust, genährt durch die permanente umfassende (soziale und politische) Krise des Systems, gab den Protesten ihren brisanten und medienträchtigen Charakter. In dieser unmissverständlichen Delegitimierung des Staates und in der Absprache der staatlichen Kompetenz spiegelten sich enttäuschte Erwartungen der jungen Bürger wider. Welche Entwicklungen haben dazu geführt, dass die Mehrheit der Jugendlichen, die Ordnung ihrer Gesellschaft so massiv und grundlegend in Frage stellt? Wie konnte aus dem tödlichen Vorfall ein derart gewaltiger Massenprotest mit einer gemeinsamen Sprache entstehen? Sind Prekarisierungsprozesse im Gange, die die jungen Heranwachsenden besonders treffen und so eine kollektive Protestform ermöglichten? Was bringt die Kinder der griechischen Mittelschichten zu einem Protestverhalten, dass sich (zumindest auf den ersten Blick) nicht allzu sehr von den Krawallen der Migrantenjugendlichen in den französischen Banlieues unterscheidet?
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Das Konzept der Prekarisierung und s e i n e An w e n d u n g a u f d i e J u g e n d g e n e r a t i o n in Griechenland Die Begriffe Prekariat und Prekarisierung sind aus der Forschung über jugendliche Lebenslagen nicht mehr wegzudenken – zu hoch ist mittlerweile die Anzahl junger Menschen, die aufgrund ihrer fehlenden, flexiblen oder atypischen Beziehungen zum Erwerbsbereich in unsicheren Verhältnissen leben. Prekarisierungsprozesse sind mit Entwicklungen des Arbeitsmarktes verbunden. Es ist primär die zunehmende Arbeitslosigkeit, die unsichere, fragile Lebenslagen generiert. Prekarität entsteht auch aus der Verbreitung nicht standardisierter, flexibler Arbeitsformen. Im Verhältnis zu standardisierten Erwerbsformen sind sie durch geringe arbeits- und sozialrechtliche Absicherung, niedrige Entlohnung sowie mangelnde Stabilität und Verbindlichkeit gekennzeichnet. Diese in erster Linie arbeitsmarktbedingten Prekarisierungsprozesse können durch sozialstaatliche Maßnahmen und familiale Rahmenbedingungen gemildert oder verschärft werden. Wie hier gezeigt wird, spielt die Interaktion dieser beiden Bereiche für Prekarisierungsprozesse von griechischen Jugendlichen eine besondere Rolle. Als Prekarisierung wird in diesem Aufsatz ein Prozess bezeichnet, der gewohnte (etablierte) Sicherheiten in Frage stellt. Die Wahrnehmung einer Verschlechterung des gefährdeten aber erwarteten sozialen Aufstiegs ist konstitutiv für den (aktuellen) Gebrauch des Begriffs. Denn unsichere, materiell deprivierte Lebenslagen zeichnen auch andere Gruppen wie z.B. Angehörige der Migrantenpopulationen seit jeher aus. Doch findet der Prekarisierungsbegriff in der soziologischen Literatur erst intensive Anwendung, seitdem der relativ lineare soziale Aufstieg der einheimischen Gruppen aus der Mitte der Gesellschaft gefährdet ist (Gallie/Paugam 2002; Bourdieu 1998; Dörre 2008). Es sind die Versperrung dieses Aufstiegs für große Teile der griechischen Mittel- und unteren Schichten und die aktuellen Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt (Zunahme flexibler, atypischer Erwerbsformen), die Prekarisierungserfahrungen und -ängste verursachen. Für die Jugendlichen Griechenlands sind drei Gruppen mit prekären Lebenslagen zu identifizieren:
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Die Jugendlichen mit niedrigem Bildungsniveau, die arbeitslos oder gar nicht ökonomisch aktiv sind. Obwohl die jüngsten Alterskohorten (15-19 und 20-24 Jahre) europaweit zahlenmäßig abnehmen, ge103
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hört mehr als 1/3 der 15- bis 24jährigen zu der sogenannten NEETsGruppe (Not in Education, Employment or Training). Das niedrige Bildungsniveau ist in Europa die erste Ursache für die ökonomische Inaktivität im jungen Alter: 65% der Jugendlichen im Alter von 1524 Jahren mit einem niedrigen oder gar keinen Schulabschluss sind weder in Ausbildung noch in Arbeit (Commission of the European Communities 2009: 28 f.). Auch in Griechenland nimmt die Zahl dieser Altersgruppe beträchtlich ab. Der Anteil der jungen Leute jedoch, die in Griechenland aufgrund ihres niedrigen Bildungsniveaus ökonomisch inaktiv sind, ist sehr gering (für das 4. Quartal 2008 1,7% bei den 15- bis 19jährigen und 6,1% bei den 20- bis 24jährigen) (ESYE 2009a: Tabelle 2A; ESYE 2009b: Tabelle 1; Eigene Berechnungen). Aus diesem Grund wird diese Gruppe mit prekären Lebenslagen hier nicht berücksichtigt, im Gegensatz zu den beiden folgenden, die die überwiegende Mehrheit der jungen Menschen in Griechenland darstellen. Die Jugendlichen mit sekundären und insbesondere mit tertiären Bildungsabschlüssen: Aufgrund des erschwerten Zugangs zum Arbeitsmarkt und der Zunahme prekärer Arbeitsverhältnisse wurden die Wege des sozialen Aufstiegs für sie stark eingeschränkt. Nicht nur bei Jugendlichen aus den aufstrebenden unteren sozialen Schichten droht die „Nabelschnur“ zu den Mittelschichten zu reißen; auch die junge Altersgruppe der Mittelschichten selbst ist von diesen Entwicklungen betroffen. Damit ist in Griechenland die Umkehr eines aufwärtsweisenden Mobilitätstrends eingeleitet, der zuvor jahrzehntelang die sozialstrukturellen Entwicklungen dominierte. Die Fülle der staatlich durchgeführten aktivierenden Maßnahmen, die aktuell diesen gut qualifizierten jungen Gruppen zuteil werden, ist ein Ausdruck der Bemühungen, deren sozialen Abstieg aufzuhalten. Die Erfahrung, nicht mehr vor beruflicher Degradierung und sozialem Abstieg geschützt zu sein, wird von einem großen Teil der gut ausgebildeten jungen Menschen geteilt. Der Großteil dieser Jugendlichen und jungen Erwachsenen ist in Griechenland am intensivsten von Prekarisierungsprozessen betroffen. Ihre schlechten Berufs- und Lebensperspektiven beherrschen den öffentlichen Diskurs und gelten als Leitfaden für die Erklärung der Jugendproteste. Die (noch) nicht Betroffenen: Bourdieu sieht die Bedeutung der Prekarität in ihrer Allgegenwärtigkeit: Sie ist „überall“. Sie lässt sich „niemals vergessen; sie ist zu jedem Zeitpunkt in allen Köpfen präsent“. Die Permanenz der Arbeitslosen verunsichert auch diejenigen, die objektiv noch eine stabile Beschäftigung haben. Sie sehen ihren Arbeitsplatz als ein „zerbrechliches und bedrohtes Privileg“, das sie
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jederzeit verlieren können (Bourdieu 1998: 96 ff.). Die Verunsicherung trifft auch auf Schüler und Studenten der griechischen Mittelschichten und der bildungswilligen Gruppen innerhalb der unteren Schichten zu, die objektiv noch nicht betroffen sind. Innerhalb dieser Schichten investieren die Eltern traditionell beträchtlich in die Bildung ihrer Kinder. Doch haben auch sie wegen der stärkeren Konkurrenz um Bildungstitel und Arbeitsplätze schlechtere Startchancen, was ihre Zukunftsperspektiven im Vergleich zur Elterngeneration erheblich verschlechtert. Größtenteils wurden die Proteste in Griechenland von dieser jugendlichen Gruppe ausgetragen.
Prekarisierung der jungen Generation und E n t w i c k l u n g d e s Ar b e i t s m a r k t e s Jugendarbeitslosigkeit ist in Griechenland chronisch hoch. Dazu kommen traditionelle prekäre Beschäftigungsformen, die mit spezifischen Strukturmerkmalen der griechischen Ökonomie zusammenhängen, wie das ungemeldete Arbeiten im ausgedehnten informellen Sektor (der sogenannten Schattenwirtschaft) und die flexible, unsichere Beschäftigung im ebenfalls umfangreichen Selbstständigenbereich. Zu diesen bekannten Phänomenen addieren sich seit Mitte/Ende der 1990er Jahre neue Formen flexibler und prekärer Beschäftigung, deren Erweiterung europaweit mehr oder weniger parallel geschieht. Besonders sind hierbei Jugendliche und junge Erwachsene betroffen, da sie ohne Berufserfahrung für die Erstanwendung neuer Beschäftigungsformen herangezogen werden. Oft ist es der Staat selbst, der mit seinen aktivierenden Maßnahmen und Programmen, solche atypischen Arbeitsplätze fördert oder erst schafft, mit dem Ziel, den Jugendlichen damit die erste Berufspraxis zu ermöglichen.
Das Prekarisierungsprofil: Jung, weiblich und im Besitz tertiärer Bildungsabschlüsse In den letzten zehn Jahren sind sowohl die allgemeine Arbeitslosenquote als auch die der jugendlichen Kohorten zurückgegangen (vgl. Tabelle 1). Jedoch zählte im Jahr 2008 nahezu unverändert etwa die Hälfte aller Arbeitslosen zur Gruppe der Langzeitarbeitslosen. Nach wie vor sind Frauen bei den einzelnen Arbeitslosenkategorien überrepräsentiert. Von den Altersgruppen sind vor allem die 15- bis 29jährigen von Arbeitslosigkeit betroffen: Obwohl diese nur einen Anteil von 20,2% an der ökonomisch aktiven Bevölkerung haben, beträgt ihr Anteil an allen Arbeitslosen 40,8%. 105
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Tabelle 1: Arbeitslosigkeit in Griechenland bei bestimmten Bevölkerungsgruppen 1998 und 2008 (in %). Arbeitslosigkeit 1998* 2008** ø Gesamt 11,8 7,9 Frauen 17,7 11,7 Altersgruppe 15-29 24,1 16,4 Altersgruppe 15-29 (Frauen) 32,9 21,4 Anteil der Langzeitarbeitslosen 53,7 47,0 52,6 40,8 Anteil der Langzeitarbeitslosen (Altersgruppe 15-29) Anteil der Altersgruppe 15-29 27,4 20,2 an der ökonomisch aktiven Bevölkerung Quelle: ESYE 2009a: Tabelle 2A und 6; ESYE 2009b: Tabelle 21; Eigene Berechnungen. * 1. Quartal, ** 4. Quartal. Je jünger die Altersgruppe ist, desto höher ist die Arbeitslosigkeit (vgl. Tabelle 2). Nach Geschlecht differenziert zeigt sich, dass die Arbeitslosigkeit der jungen Frauen teilweise doppelt so hoch ist wie die der jungen Männer. Insbesondere gilt das für die jungen Frauen zwischen 15-19 und 20-24 Jahren. Tabelle 2: Jungendarbeitslosigkeit nach Altersgruppen und Geschlecht 1998 und 2008 (in %). Jahr 1998*
Alter in Jahren Männer Frauen 15-19 28,1 54,4 20-24 21,6 39,5 25-29 12,3 22,7 ø Gesamt 8,1 17,7 2008** 15-19 20,5 40,9 20-24 18,2 27,0 25-29 9,9 17,0 ø Gesamt 5,3 11,7 Quelle: ESYE 2009a: Tabelle 2; Eigene Berechnungen. * 1. Quartal, ** 4. Quartal.
Gesamt 39,9 29,6 16,6 11,8 29,3 22,0 13,0 7,9
Arbeitslosigkeit ist in Griechenland primär ein Problem der gut ausgebildeten jungen Menschen: Von den insgesamt 406.500 Arbeitslosen (1. Quartal 2008) waren 70,2% wenigstens im Besitz eines Abiturs. 33,5% aller Arbeitslosen waren sogar im Besitz eines tertiären Bildungs106
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abschlusses. Die Kategorie der Hochschulabsolventen differenziert sich nach den Absolventen der Universitäten und den Absolventen von sogenannten Höheren Schulen, vergleichbar den deutschen Fachhochschulen. Im Vergleich zu der allgemeinen Arbeitslosenquote von 8,3%, lag diejenige der Universitätsabsolventen bei 5,4%, die der Abiturienten bei 9,1% und die der Absolventen der Höheren Schulen bei 10,5% (ESYE 2009a: Tabelle 2D und 3; Eigene Berechnungen). Das ganze Ausmaß der Arbeitslosigkeit von jungen Höherqualifizierten wird jedoch erst ersichtlich, wenn man die einzelnen Altersgruppen betrachtet: Tabelle 3: Arbeitslose Jugendliche nach Altersgruppen und Bildungsabschluss 2008*. Altersgruppe Anzahl Abschluss Abschluss Arbeitslose Abitur (in %) Tertiär (in %) 15-19 14.200 62,7 20-24 66.600 84,2 35,1 25-29 94.000 86,1 53,3 Quelle: ESYE 2009a: Tabelle 23; Eigene Berechnungen. * 1. Quartal 2008. Europäische Vergleiche der Problemgruppen des Arbeitsmarktes verweisen seit den 1990er Jahren darauf, dass in Griechenland als einzigem Land in Europa die Arbeitslosigkeit der Besserqualifizierten höher ausfällt als die der Geringqualifizierten (Lesch 2000: 6; Commission of the European Communities 2009: 30). Das Problem der Arbeitslosigkeit betrifft insbesondere diejenigen jungen Höherqualifizierten, die neu in den Arbeitsmarkt eintreten: Bei den 15- bis 24jährigen neuen Arbeitslosen haben 85,0% von ihnen wenigstens ein Abitur. In der Altersgruppe 20-24 Jahre besitzen 40,0% wenigstens einen tertiären Bildungsabschluss, bei den neuen Arbeitslosen im Alter von 25-29 Jahren liegt der Anteil sogar bei 68,0%. Das Problem des Ersteintritts in den Arbeitsmarkt betrifft mit 66,2% besonders die jungen höher qualifizierten Frauen. Dass gute Bildungsabschlüsse jedoch beide Geschlechter nur unzureichend vor Arbeitslosigkeit schützen, zeigt sich darin, dass innerhalb der jeweiligen Geschlechterkategorie die Anteile derjenigen mit höheren Abschlüssen relativ gleich sind. So besaßen 81,1% der weiblichen und 87,6% der männlichen neuen
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Arbeitslosen im vierten Quartal 2008 wenigstens ein Abitur (ESYE 2009b: Tabelle 26; Eigene Berechnungen). Diese Daten zeigen eindeutig, dass anders als in den meisten europäischen Ländern, nicht die Geringqualifizierten die primäre Problemgruppe des griechischen Arbeitsmarktes bilden. Vielmehr trifft es die höher qualifizierten Jugendlichen und jungen Erwachsenen, die beträchtlich eingeschränkte Chancen erhalten, Berufsaktivitäten zu entwickeln. Diese Befunde verweisen auf die strukturellen Schwächen der griechischen Ökonomie, d.h. auf vorhandene Produktionskapazitäten und die Enge des griechischen Arbeitsmarktes.
Prekarisierung und flexible Beschäftigungsformen Zu der arbeitsmarktbedingten Prekarisierung für die jüngeren Alterskohorten gehört neben dem langen Warten auf den Eintritt ins Erwerbsleben auch die Verbreitung flexibler, atypischer Beschäftigungsformen, die mit aktuellen Formen der Deregulierung des griechischen Arbeitsmarktes zusammenhängen. In Griechenland gibt es traditionell Beschäftigungsformen, die nicht den Standards eines Normalarbeitsverhältnisses entsprechen und mit den spezifischen Strukturmerkmalen von Wirtschaft und Gesellschaft zusammenhängen. Hervorzuheben sind Tätigkeiten in der Landwirtschaft und im Selbstständigenbereich, die oft flexibel und instabil sind sowie Arbeitstätigkeiten im informellen Sektor. Die Existenz eines breiten informellen Sektors, der ein strukturelles Merkmal der Ökonomien südeuropäischer Länder darstellt, flexibilisiert erheblich die griechische Beschäftigungslandschaft. Im Gegensatz zu der gesetzlich geregelten Flexibilität der nord- und westeuropäischen Länder handelt es sich um informelle Flexibilitätsformen. Die ungemeldete Arbeit trifft alle europäischen Länder, jedoch unterschiedlich stark. Die genauen Dimensionen sind statistisch schwer ermittelbar. In der EU27 wird sie auf 7-19% des Umfangs der gemeldeten Beschäftigung geschätzt. In Griechenland wird von 25% des Umfangs der gesamten Beschäftigung ausgegangen. Große Anteile an ungemeldeter Arbeit verzeichnen Bausektor und Einzelhandel, Hotelgewerbe und Gastronomie sowie Landwirtschaft und Reinigungsdienste (Triantafyllou 2008: 12 f.). Der griechische Arbeitsmarkt hat den höchsten Grad „illegaler“ Flexibilität in der EU-15. Der Anteil der unversicherten Beschäftigten an allen Beschäftigten des Landes wird auf 20-22% geschätzt (Kouzis 2008: 12). Einen anderen strukturellen Rahmen für flexible Arbeitsformen bieten die sogenannten grauen Beschäftigungszonen zwischen Lohnabhängigkeit und Selbstständigkeit. Insbesondere die in Griechenland stark 108
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verbreitete Beschäftigungsform des Werkvertrags bzw. der sogenannten unabhängigen Dienstleistungen birgt die Gefahr latenter Lohnabhängigkeit und Prekarisierung. Diese Beschäftigungsform führt zu einem künstlichen Bild über den quantitativen Umfang der Selbstständigen in Griechenland, deren Anteil an allen Beschäftigten nach offiziellen Statistiken mit 21% ohnehin der höchste in der EU ist (Triantafyllou 2008: 12). Jedoch nehmen in den letzten zehn Jahren auch neue atypische und flexible Beschäftigungsformen zu und ersetzen oder ergänzen die bisherigen. Regelmäßig drängt die EU-Kommission darauf, dass die griechischen Regierungen den Arbeitsmarkt flexibilisieren. Es ist anzunehmen, dass die neuen Beschäftigungsformen in Zukunft auf dem griechischen Arbeitsmarkt wie auch in anderen Ländern Europas expandieren. Als neue nicht standardisierte Beschäftigungsformen, die in den formellen Arbeitsmarkt eingebettet und in einem Lohnarbeitsverhältnis integriert sind, gelten Teilzeitarbeit, befristete Arbeitsplätze, geringfügige Beschäftigung und Leiharbeit. Eine große Rolle spielt in Griechenland zudem die Beschäftigung in niedrig bezahlten Tätigkeiten sowie die Mehrbeschäftigung. Teilzeitarbeit: Teilzeit ist generell in Griechenland eine eher wenig verbreitete Beschäftigungsform – sogar unter Frauen. Auch diachronisch ist in ihrer Entwicklung keine eindeutige Zunahme erkennbar: Im Jahr 2008 betrug der Anteil von Teilzeitbeschäftigten an allen Beschäftigten 5,8% und damit blieb er geringer als im Jahr 1998 (ESYE 2009a: Tabelle 7.8). Auch bei den Frauen war dieser Anteil mit 10,16% (ESYE 2009b: Tabelle 19) relativ niedrig, obwohl auch in Griechenland Teilzeit vorrangig Frauensache ist: 68,26% aller Teilzeitbeschäftigten sind Frauen. Trotzdem ist Teilzeitarbeit bei den griechischen Frauen und Müttern, weder üblich noch gewollt: Nur 13,9% arbeiteten wegen Betreuungsleistungen an Familienangehörigen in Teilzeit. 41% der weiblichen Teilzeitbeschäftigten konnten dagegen keine Vollzeitstelle finden (ESYE 2009b: Tabelle 19). Obwohl seit Anfang der 1990er Jahre ein arbeitsgesetzlicher Rahmen für die Teilzeitbeschäftigung existiert, wird sie weder von Beschäftigten noch von Arbeitgebern angestrebt. Jedoch zeigt erst die detaillierte Analyse der Alterskohorten, dass auch in diesem, noch kleinen Segment des prekären Arbeitsmarktes junge und gut ausgebildete Beschäftigte, insbesondere junge Frauen, überdurchschnittlich vertreten sind. Anfang 2008 arbeiteten 70.200 Beschäftigte zwischen 15 und 29 Jahren in Teilzeit, das sind 8,4% aller jungen Beschäftigten dieser Altersgruppe. Ihr Anteil an den Teilzeitbeschäftigten betrug 26,9%. Damit gehörte mehr als jeder vierte Teilzeitbeschäf109
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tigte zu den jüngeren Alterskohorten, obwohl nicht einmal jeder fünfte Beschäftigte in Griechenland dieser Altersgruppe angehört (ESYE 2009a: Tabelle 2A). Sechs von zehn jungen Teilzeitbeschäftigten sind Frauen. Insgesamt arbeiten 12,8% aller jungen beschäftigten Frauen in Teilzeit (ESYE 2009b: Tabelle 19). In Teilzeit arbeiten vor allem höher qualifizierte Beschäftigte: 29,4% aller Teilzeitbeschäftigten haben einen tertiären Bildungsabschluss und 59,0% haben im 4. Quartal 2008 ein Abitur (ESYE 2009b: Tabelle 20). Die Flexibilisierung durch Teilzeit wird vorrangig vom privaten Sektor getragen: 85% aller im Jahr 2008 auf Teilzeit eingestellten Beschäftigten sind hier angestellt (Kritikidis 2009: 12). Es zeichnet sich in den letzten Jahren ein Trend zur Zunahme der Teilzeitarbeit ab: 1/5 der Arbeitsplätze, die zwischen 2004 und 2008 entstanden, ist auf die Zunahme der Arbeitsplätze mit Teilzeit zurückzuführen (Kritikidis 2009: 11). Besonders sticht dabei die absolute und anteilsmäßige Zunahme der Teilzeitbeschäftigten nach der Finanzkrise heraus: Im ersten Quartal 2009 erhöhte sich die Zahl der Teilzeitbeschäftigten auf 275.700 und deren Anteil auf 6,1% (ESYE 2009a: Tabelle 7). Teilzeitarbeit ist in Griechenland eine Prekarisierungsgefahr, da sie niedrigere Entlohnung, weniger soziale Rechte und Arbeitnehmerrechte, Unsicherheit über die berufliche Entwicklung und Zukunftsplanung sowie einen geringeren Zugang zu beruflichen Weiterbildungsprogrammen bedeutet. Bezeichnend für diese Gefahr ist das Gesetz 3352/07, mit dem die Ungleichbehandlung der atypisch Beschäftigten institutionalisiert wurde. Folglich wird die Höhe des Arbeitslosengeldes nach der jeweiligen Form des Beschäftigungsverhältnisses bemessen. Die Teilzeitbeschäftigten bekommen danach pauschal 183 Euro Arbeitslosengeld monatlich (Triantafylloy 2008: 16). Ihre niedrige Entlohnung – zwei von drei Teilzeitbeschäftigten verfügen über einen Netto-Monatslohn von unter 500 Euro (INE-GSEE 2007: 6 f.) – birgt ein hohes Armutsrisiko. Ihre Armutsquote beträgt 26% (2007), d.h. sie ist etwa doppelt so hoch wie bei dem Durchschnitt der Beschäftigten (Kritikidis 2008a 15). Befristete Beschäftigung: Gegenüber Teilzeit- aber auch Leiharbeitsverhältnissen, die in Griechenland nur wenig ausgeprägt sind, findet die befristete Beschäftigung weite Verbreitung. Die 342.485 zeitlich befristet Beschäftigten bildeten im Jahr 2008 einen Anteil von 11,5% aller lohnabhängig Beschäftigten. Auch hier ist die junge Altersgruppe der 15- bis 29jährigen überdurchschnittlich betroffen: Mit 129.438 (2007) Beschäftigten stellten sie 40% aller befristet Beschäftigten. Innerhalb dieser Altersgruppe waren 110
GENERATION OHNE AUFSTIEG
19% aller Beschäftigungsverhältnisse befristet (ESYE 2009a: Tabelle 5, 2A und 3A). Bei den jungen Männern betrug der Anteil der befristet Beschäftigten 17,8% und bei den jungen Frauen 21,8%. Damit bestehen geschlechtsspezifische Unterschiede in viel geringerem Umfang als bei Teilzeitarbeit und Arbeitslosigkeit. Anhand der Neueinstellungen zeigt sich besonders seit dem Jahr 2006 ein Trend zur Zunahme: Von den 140.000 Arbeitsplätzen, die zwischen 2006 und 2008 geschaffen wurden, waren 1/5 befristet. Bei den 147.770 Lohnabhängigen, die im Jahr 2008 neu in den Arbeitsmarkt eintraten, hatten 47% einen befristeten Arbeitsvertrag. 60% dieser befristet Eingestellten kamen aus der Gruppe der Arbeitslosen. Von denjenigen Lohnabhängigen, die im vorangehenden Jahr keine Arbeit suchten, d.h. ökonomisch nicht aktiv waren, bekam die Hälfte befristete Verträge. Diese Zahlen verdeutlichen die Schwierigkeiten, die Arbeitslose haben, Fuß auf dem Arbeitsmarkt zu fassen. Die Hürden sind für die 15- bis 29jährigen ähnlich hoch: Bei ihrem Neueintritt in den Arbeitsmarkt im Jahr 2008 wurden vier von zehn Lohnabhängigen befristet eingestellt (Kritikidis 2008b: 20). Eine wichtige Rolle bei der Ausdehnung der befristeten Beschäftigungsverhältnisse übernimmt der Staat: 28% aller befristet Beschäftigten sind im öffentlichen Sektor angestellt. Für die Zunahme der lohnabhängigen Beschäftigung im breiten öffentlichen Sektor im Jahr 2008 ist einzig die Kategorie der befristeten Beschäftigungsverhältnisse ausschlaggebend. So wurden 2/3 aller Neueinstellungen mit befristetem Vertrag ausgestaltet; im privaten Sektor betrug der entsprechende Anteil lediglich 40% (Kritikidis 2009: 12 ff.). Dies zeigt, wie massiv der Staat die neuen Beschäftigungsverhältnisse prägt und die Deregulierung des Arbeitsmarktes in seiner Rolle als Arbeitgeber vorantreibt. Diese Einstellungspraxis, die sogenannte Symvasis orismenou chronou (Kontrakt auf bestimmte Zeit), bildet in Griechenland die häufigste Flexibilisierungspraxis. Von diesen Kontrakten machen auch Unternehmen Gebrauch, weil nach dem Ablauf des Beschäftigungsverhältnisses keine Abfindung fällig wird. Wie die Beschäftigung im flexibilisierten Bereich der griechischen Ökonomie die Prekarisierung begünstigt, zeigt sich deutlich in der Entlohnung der befristet Beschäftigten: 61,8% hatten im zweiten Quartal 2006 einen monatlichen Nettolohn unter 750 Euro und 89% unter 1000 Euro; 25% sogar unter 500 Euro. Ihre Armutsquote betrug im Jahr 2007 24%. (Triantafylloy 2008: 14) Das Segment der Niedriglöhne: Die Löhne in Griechenland gehören zu den niedrigsten in Europa. Im Jahr 2006 betrug der durchschnittliche Bruttomonatslohn 1501 Euro gegenüber 2391 Euro in der EU-15, er ent111
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sprach damit 72% des EU-15-Durchschnitts (INE-GSEE 2007: 6 f.). Historisch wurde ein Entwicklungsmodell etabliert, das auf niedrige Arbeitskosten setzte: niedrige Entlohnung, illegale und legale Arbeitsflexibilität. Aktuell wird diese Tendenz durch weitere Deregulierungsmaßnahmen verstärkt. Gegen Lohnerhöhungen wird oft argumentiert, dass die hohen Löhne und die geringe Produktivität die Ursache für die teuren und gering wettbewerbsfähigen griechischen Exportprodukte sind. Dies führe zu einem der größten strukturellen Probleme Griechenlands, dem permanenten Handelsdefizit. Von den chronisch niedrigen Löhnen, die eine solche Argumentation nach sich zieht, sind vor allem junge Beschäftigte betroffen. In Griechenland sind diese in den niedrigen (lohnabhängigen) Einkommensgruppen bis 750 Euro mit 40% vertreten, in Lohngruppen von 750 bis 1000 Euro mit 25%, von 1000 bis zu 1250 Euro mit 10% und von 1250 bis zu 1500 Euro noch lediglich mit 4,3% (Kritikidis 2008b: 21). Abbildung 1 zeigt detailliert die Einkommen der jungen Beschäftigten, auch nach Geschlecht differenziert: Abbildung 1: Monatliches Nettoeinkommen der 15- bis 29jährigen im Jahr 2007* (in %). 2
1251-1500 €
3 2 8
1001-1250 €
15 12 31
751-1000 €
39 35 44
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36 40 13
251-500 €
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