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German Pages 270 Year 2014
Thomas M. Bohn, Victor Shadurski (Hg.) Ein weißer Fleck in Europa ...
Histoire | Band 29
Thomas M. Bohn, Victor Shadurski (Hg.)
unter Mitarbeit von Albert Weber
Ein weißer Fleck in Europa ... Die Imagination der Belarus als Kontaktzone zwischen Ost und West
Gedruckt mit Unterstützung der Gerda-Henkel-Stiftung
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2011 transcript Verlag, Bielefeld
Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Vorrevolutionäre Gehöfte und die in den 1930er Jahren erbaute Akademie für Körperkultur am Jakub Kolas-Platz der Hauptstadt Minsk im Jahre 1952. Quelle: Belorusskij gosudarstvennyj archiv kinofotofonodokumentov [Belarussisches Staatsarchiv für Dokumente aus den Bereichen Film, Fotografie und Hörfunk], Dzerzinsk, Nr. 0-118044. Lektorat & Satz: Albert Weber Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-1897-6 ^
Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]
Inhalt
Lukaschenka oder Lukaschenko? Eine Auseinandersetzung mit dem Phänomen Belarus Thomas M. Bohn | 9 Wo bitte geht’s nach Belarus? Meine Reisen in die unbekannte Mitte Europas Ingo Petz | 13 Weißrussisch: Eine Verkehrssprache oder eine Sprache von Verkehrsschildern? Natallia Savitskaya | 27 Quo vadis, Weißrussisch? Entwicklungslinien einer (Standard-)Sprache Susanne Golz | 39 Zur weißrussisch-russischen Zweisprachigkeit in Weißrussland – nicht zuletzt aus Sicht der Weißrussen Gerd Hentschel, Bernhard Kittel | 49 Traditionen in der Geschichte. Überlegungen zu einer Belarus-Historiographie Siarhei Khodzin | 69 Rekonstruktionen der belarussischen Geschichte. Zur Überwindung von Stereotypen Victor Shadurski | 77 Trans- und multikulturelle Entwicklungspfade am Rande Ostmitteleuropas. Belarus und die Ukraine vor dem Anbruch der Moderne Christophe v. Werdt | 89 Von der urbanen zur nationalen Identität. Die belarussische Variante Zachar Šybeka | 99 Zwischen Moskau und Warschau. Identitäten des weißrussischen Adels in der Frühen Neuzeit Henadz’ Sahanovič | 107
Von den Ostgebieten der Adelsrepublik zu den Westgouvernements des Zarenreichs: Die Integration Weißrusslands in das Russische Imperium nach den Teilungen Polens Jörg Ganzenmüller | 117 „Eine Mischung von Menschen und Sprachen wie beim Turmbau zu Babel.“ Die russländische Vielvölkerstadt Polozk im Kaleidoskop von Augenzeugenberichten Stefan Rohdewald | 127 Eine verspätete Nation? Anfänge weißrussischer Identitätsfindung im ausgehenden Zarenreich Rudolf A. Mark | 139 Das Vorurteil der „jüdischen Sowjetmacht“. Antisemitismus und Antibolschewismus in der Zwischenkriegszeit Alexander Friedman | 151 Konkurrenz der Erinnerungen: Partisanenwiderstand und Holocaust in der belarussischen Gedenkkultur Ekaterina Keding | 159 Die Sowjetisierung der ehemaligen polnischen Ostgebiete nach dem Zweiten Weltkrieg aus der Sicht des „kleinen Mannes“ Iryna S. Kashtalian | 173 Blat – „Vitamin B“ im sozialistischen Weißrussland? Gesellschaftskritik in der Satirezeitschrift Woschyk Elizaveta Slepovitch | 183 Von der Begegnung Davids mit dem sowjetischen Goliath. Kommunismus und Volksfrömmigkeit in Belarus Rayk Einax | 193 Vom Tauwetter zur Perestroika. Die Sechziger-Jahre-Generation in der weißrussischen Kultur Dzmitry Kryvashei | 203 Anthropologischer Schock? Reaktionen in der BSSR auf die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl Aliaksandr Dalhouski | 211
Tschernobyl als politisches und gesellschaftliches Problem in der Republik Belarus Andrei Stepanov | 217 Der neue Staat in alten Kleidern. Symbolische Narrative der Republik Belarus Elena Temper | 223 Die eigentliche Minderheit? Die staatliche Inszenierung weißrussischer Ethnizität in der Republik Belarus Felix Ackermann | 233 Ostereier und junge Katzen. Einblick in das Staat-Kirche-Verhältnis in der Republik Belarus Martin Schön | 241 Baba Warja. Oder: Belarus von Angesicht zu Angesicht Thomas M. Bohn | 253 Autorinnen und Autoren | 261
Lukaschenka oder Lukaschenko? Eine Auseinandersetzung mit dem Phänomen Belarus T HOMAS M. B OHN
SPRACHE UNSRES VOLKES, DU WIRST EWIG LEBEN IN MILLIONEN STIMMEN DEINEN RUF ERHEBEN. AUS DER KALTEN, BLINDEN ASCHE DER GESCHICHTE STEIGEN SCHON DER ZUKUNFT LEUCHTENDE GESICHTE: DA DAS STOLZE BELORUSSLAND, DAS BEFREITE, SCHREIBT INS BUCH DER VÖLKER SEINE EIGNE SEITE, SCHREIBT MIT SEINER SCHWIELENHAND, DER UNGELENKEN, UND IN SEINER SPRACHE WORTE ZUM GEDENKEN.
JANKA KUPALA (1910)1 „Europa und der Umgang mit Weißrussland – eine Geschichte der Ratlosigkeit“ überschrieb die Frankfurter Allgemeine Zeitung am 18. Januar 2011 einen Artikel von Klaus-Dieter Frankenberger: „Die Unterdrückung der Opposition in Weißrussland und die fortschreitende Stalinisierung, was die Herrschaftsmethoden anbelangt, erinnern die Europäer daran, dass ‚ihr‘ politisches Geschäft und ‚ihre‘ historische Aufgabe noch immer unvollendet sind: nämlich ein Europa zu schaffen, das vereint, frei und im Frieden mit sich selbst ist.“2 Bereits in einer sieben Jahre zuvor erschienenen Reportage
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Auszug aus: Kupala, Janka: Muttersprache. Nachgedichtet von Kito Lorene, in: Norbert Randow (Hg.), Störche über den Sümpfen. Belorussische Erzähler. Berlin: Volk und Welt 1971, S. 5-6. Frankenberger, Klaus-Dieter: „Nichts hat funktioniert. Europa und der Umgang mit Weißrussland – eine Geschichte der Ratlosigkeit“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 18.1.2011, S. 8.
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hat Wolfgang Büscher die 1991 gegründete Republik Belarus als das „komplizierteste Land der Welt“ bezeichnet.3 Während Büscher bei seiner Erkundung zu Fuß auf ein Museum der Sowjetunion traf, in dem der Mythos des Zweiten Weltkrieges und das Flair des Ostens noch fortlebten, musste sich Frankenberger in seinem Bericht damit auseinandersetzen, dass die „letzte Diktatur Europas“ durch die Scheinwahlen vom 19. Dezember 2010 politisch wieder einmal nachhaltig in die Isolierung geraten war. Historisch gesehen zeichnete sich „die Belarus“ (Belarus’ als ursprüngliche Bezeichnung für das Land und seine Bewohner), verstanden als eine Welt der orthodoxen Bauern und der jüdischen Händler sowie als eine Übergangsregion zwischen Mittel- und Osteuropa aus. Sie erhielt ihre kulturellen Prägungen im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit durch das Großfürstentum Litauen und die polnische Adelsrepublik und seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts vom zarischen und sowjetischen Imperium. Das 20. Jahrhundert stellt mit den beiden Weltkriegen, der Zwangskollektivierung der Landwirtschaft, dem stalinistischen Terror, dem Holocaust und dem Reaktorunfall von Tschernobyl ein Zeitalter der demographischen Katastrophen dar. Darüber hinaus erfolgte im Zuge eines rasanten Urbanisierungsprozesses in der Nachkriegszeit binnen zweier Jahrzehnte die Umwandlung vom Agrarland in ein Industrieland. Aus der sozialistischen Modernisierung und der kulturellen Sowjetisierung resultierten eine Russifizierung der Landessprache und eine Preisgabe der weißrussischen Identität. Auf Traditionen eigener Staatlichkeit kann die Republik Belarus, abgesehen von einem Intermezzo im Bürgerkriegsjahr 1918, ohnehin nur bedingt zurückblicken. Vor diesem Hintergrund ist die weißrussische Geschichtswissenschaft in die Rolle einer Legitimationswissenschaft geraten. Nach dem Zerfall der Sowjetunion stellte sich den Historikerinnen und Historikern in der Republik Belarus nicht nur die Aufgabe, den Historischen Materialismus zu überwinden, sondern auch eine Nationalgeschichte zu kreieren. Sie standen dabei vor dem Dilemma, dass ihr Land im Laufe seiner Entwicklung immer Bestandteil von übergeordneten Herrschaftsverbänden gewesen ist, die Weißrussen im Sinne des Historismus also zu den „unhistorischen Völkern“ gehörten. Während die Nationalhistoriker eine kulturelle Verortung im Westen anstrebten und den Mythos eines „Goldenen Mittelalters“ pflegten, betrieben die Hofhistoriker eine russophile Geschichtsdeutung, die im Mythos der „Partisanenrepublik“ gipfelt.4 Allzu häufig wird dabei die Tatsache unterschlagen, dass Weißrussland durch seine Lage im Zentrum des Ansied-
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Büscher, Wolfgang: Berlin – Moskau. Eine Reise zu Fuß, Reinbek: Rowohlt Verlag 2003, S. 83-90. Vgl. Lindner, Rainer: Historiker und Herrschaft. Nationsbildung und Geschichtspolitik in Weißrußland im 19. und 20. Jahrhundert, München: Oldenbourg Verlag 1999.
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lungsrayons für die Juden des Zarenreichs auch einen zentralen Schauplatz der jüdischen Geschichte insgesamt darstellt. Sinnvoll erscheint es, Ansätze der Imperiumsforschung und der Regionalgeschichte miteinander zu verbinden und die Geschichte Weißrusslands transnational zu deuten. Es geht dabei zum einen darum, die Wechselwirkungen zwischen Zentrum und Peripherie kenntlich zu machen, und zum anderen darum, sich mit lokalen Initiativen und Interessengruppen auseinanderzusetzen. Unter dieser Prämisse geraten nicht Staat und Nation, sondern die Bevölkerung und das Territorium in den Mittelpunkt der Betrachtung. Damit eröffnet sich eine neue Perspektive auf die Geschichte der Belarus, die von der Konstituierung der Adelsrepublik in Polen-Litauen und dem Beginn des weißrussischen Bibeldrucks im ersten Viertel des 16. Jahrhunderts bis zur Zwangskollektivierung der Landwirtschaft und dem Holocaust in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts reicht. Es handelte sich um eine Kontaktzone, in der weißrussische Bauern, jüdische Händler, polnische Gutsbesitzer und russische Staatsbeamte interagierten. Diesbezüglich bedeutete der Zweite Weltkrieg eine radikale Zäsur. 1945 stellte die mit den ehemaligen polnischen Ostgebieten vereinigte Belorussische Sozialistische Sowjetrepublik (BSSR) ein Entwicklungsland und die Hauptstadt Minsk eine Tabula rasa dar. Der in der Nachkriegszeit vollzogene demographische und sozioökonomische Wandel verlieh Weißrussland ein gänzlich neues Gesicht. Um das Rätsel des „kompliziertesten Landes der Welt“ zu lösen und den „weißen Fleck in Europa“ mit Farbe zu füllen, trafen sich am 13./14. März 2009 mit freundlicher Unterstützung der Gerda Henkel Stiftung Wissenschaftler und Publizisten aus der Republik Belarus und aus dem deutschsprachigen Raum in der Internationalen Bildungs- und Begegnungsstätte „Johannes Rau“ in Minsk. Das Ziel bestand zum einen darin, dem Beispiel Artur Klinaus folgend über den historischen Ort der Republik Belarus und die kulturelle Identität ihrer Bewohner nachzudenken5, und zum anderen darin, die zivilgesellschaftlichen Potentiale der weißrussischen Öffentlichkeit zu erfassen. Der nunmehr vorliegende Tagungsband, der sich dem Vorbild der „Sarmatischen Landschaften“ von Martin Pollack entsprechend in Essayform an ein breites Publikum wendet6, versteht sich zugleich als Auftakt für ein wissenschaftliches Netzwerk Belarus, das von der Justus-LiebigUniversität Gießen aus geknüpft werden soll. Am Anfang der Auseinandersetzung mit dem Phänomen Belarus stehen Irritationen in Bezug auf Begriffe und Bezeichnungen. Hinzuweisen ist auf
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Vgl. Klinaŭ, Artur: Minsk. Sonnenstadt der Träume, Frankfurt a. M.: Suhrkamp Verlag 2006. Vgl. Pollack, Martin (Hg.): Sarmatische Landschaften. Nachrichten aus Litauen, Belarus, der Ukraine, Polen und Deutschland, Frankfurt a. M.: Fischer Verlag 2005.
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die Implikationen, die die lateinische Schreibweise von Personennamen mit sich bringt, die auf das kyrillische Alphabet zurückzuführen sind oder unterschiedlichen Nationalsprachen entstammen. Wie heißt eigentlich der Präsident der Republik Belarus? Nennt er sich oder nennen wir ihn – russisch – Alexander Lukaschenko oder – weißrussisch – Aljaksandr Lukaschenka? In diesem Sammelband wurde für die Wiedergabe der Namen von weißrussischen Beiträgerinnen und Beiträgern dem jeweiligen Wunsch entsprechend teils die russische Variante, teils die weißrussische Variante gewählt und dabei entweder auf die wissenschaftliche Transliteration oder auf die in den Reisepässen verwendete Umschrift zurückgegriffen. In den nachfolgenden Texten wird bei Orts- und Personennamen der besseren Lesbarkeit halber konsequent die Schreibweise des Dudens gebraucht. In Bezug auf die nationalsprachliche Variante des jeweiligen Orts- oder Personennamens blieb die Zuordnung den Autorinnen und Autoren überlassen. Bei den Ortsnamen wurden bei der ersten Nennung lediglich sprachliche Alternativen in Klammern hinzugefügt. Wesentlich komplizierter erscheint die Bezeichnung von Land und Leuten im „kompliziertesten Land der Welt“. Bis auf den dem nationalsozialistischen Jargon entstammenden Begriff „Weißruthenien“ (abgeleitet von Ruthenia, dem lateinischen Namen für Rus, für das Land und die Bevölkerung des Kiewer Reiches) und der in der DDR geprägten Bezeichnung „Belorußland“ lag dies im Ermessen der Autorinnen und Autoren. Generell finden sowohl „Belarus und die Belarussen“ als auch „Weißrussland und die Weißrussen“ Verwendung. Um sowohl der Ethnogenese als auch der Einheit der Geschichtsregion von Belarus und Ukraine in der Frühen Neuzeit gerecht zu werden, bieten sich für ältere Epochen auch die Bezeichnungen „Belarusen“ und „Ruthenien“ an. Von der national orientierten „Belarussischen Volksrepublik“ des Jahres 1918 wird die russifizierte „Belorussische Sozialistische Sowjetrepublik (BSSR)“ unterschieden. Einen Spezialfall bildet die Verwendung des Begriffs „die Belarus“ (Belarusʼ) für die Benennung von Gebiet und Bevölkerung als Ableitung von dem femininen Wort Rus. Damit ist im übertragenen Sinne die vom Staat „Republik Belarus“ unabhängige Sphäre der Gesellschaft gemeint, deren Spielräume es auszuloten gilt.
L ITERATUR Beyrau, Dietrich/Lindner, Rainer (Hg.): Handbuch der Geschichte Weißrußlands, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2001. Holtbrügge, Dirk: Weißrussland. Land zwischen Polen und Rußland, München: C.H. Beck Verlag 2002. Konturen und Kontraste. Belarus sucht sein Gesicht. Themenheft der Zeitschrift: Osteuropa 54 (2004) H. 2.
Wo bitte geht’s nach Belarus? Meine Reisen in die unbekannte Mitte Europas I NGO P ETZ
AN DEN KALTEN WELLEN DER DÜNA WAR ICH BYZANTINER UND HIESS JURI, DOCH IN KRAKAU, WOHIN ES MICH NACH EUROPÄISCHEM WISSEN GEZOGEN HATTE, HIESS ICH LATEINISCH FRANZYSCHAK. IN WAHRHEIT ABER WAR ICH WEDER JURI NOCH FRANZYSCHAK, SONDERN ICH WAR DER FREIE, UNABHÄNGIGE GEIST, DEN IHR SUCHT, EIN ALLGEMEIN MENSCHLICHER GEIST, NUR IN WEISSRUTHENISCHER HAUT. MACHT EUCH NACH IHM AUF DIE SUCHE!
FRANZISCHAK SKARYNA (1486-1541)
Wer zum ersten Mal nach Belarus reist, hat kaum eine Vorstellung davon, in was für eine fantastische Welt er sich begibt. Im Sommer 1995 reiste auch ich zum ersten Mal nach Belarus. Ich studierte damals Osteuropäische Geschichte und Slawistik und wollte die russische Sprache dort lernen, wo sie gesprochen wurde. Von dem osteuropäischen Land zwischen Warschau und Moskau wusste ich nicht viel. Eigentlich nur dies: die Republik Belarus war ein sehr junger Staat, der wie viele ehemalige Sowjetrepubliken 1991 zu seiner Unabhängigkeit gelangt war. Ich wusste nichts von der wunderbaren Wald-, Weiden-, und Seen-Landschaft dieses in Europa zentral gelegenen Landes, nichts von seiner bewegten, aufwühlenden Geschichte und bunten Kulturlandschaft. Nichts davon, dass Belarus die Heimat berühmter Persönlichkeiten wie beispielsweise Ryszard Kapuściński, Marc Chagall, Adam Mickiewicz, Igor Strawinsky, Fjodor Dostojewski war – oder ihrer Vorfahren. Der erste israelische Präsident Chaim Weizman und auch der aktuelle Präsident Israels, Schimon Peres, wurden auf belarussischem Territorium geboren.
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Ich konnte mir dieses Land beim besten Willen nicht vorstellen. Mit Belarus assoziierte ich so gut wie nichts. Lediglich eine krude Mischung aus SowjetKitsch und -Gigantomanie, verrosteten Fabriken, schlechter Luft, Armeen von grauen Plattenbauten und vielen Kugelstoßerinnen. Ehrlich gesagt eine recht dünne Ausbeute für ein Land, das geografisch gesehen eine sehr zentrale Lage in Europa einnimmt und mit fast zehn Millionen Einwohnern kein kleines Land ist. Eine Ausbeute, die nicht nur zeigt, dass Belarus ein sehr junger Staat ist, sondern auch beweist, wie sehr wir in unserem Wissen über Länder von nationalen Geschichtsschreibungen und nationalem Denken geprägt sind. Belarus ist immer noch auf der Suche nach einer „eigenen“ Identität, einer „eigenen“ Geschichtsschreibung. Ohne die hat es ein Land, das mit sich hadert, schwer, von anderen Nationalstaaten als einer der ihren wahrgenommen zu werden. Das alte törichte Urteil von Karl Marx und Friedrich Engels, welche die Belarussen zu den „geschichtslosen Völkern“ zählten, würden wohl auch heute noch viele unterschreiben. Nach Italien, in die USA oder nach Frankreich reist man, weil man es will, weil man es sich wünscht, weil man sich vorstellen kann, wohin man reist. Weil man das Kolosseum, New York oder den Eiffelturm sehen will. Weil man die freiheitsliebenden Amerikaner und die leichtlebigen Franzosen kennen lernen will. Menschen brauchen Stereotype, Zeichen und Assoziationen, um sich in der Welt orientieren zu können. Wie will man aber auf Belarus kommen, wenn es keine Zeichen oder Schilder gibt, die einem den Weg dorthin weisen? Wie will man aber direkt nach Belarus gelangen, wenn auch die Vielzahl der Bezeichnungen des Landes, die es beispielsweise im Deutschen oder Englischen mit Weißrussland, Weißruthenien, Belorussland, Belarus oder Whiterussia gibt, nur das Vage, Ungenaue, Ungefähre, das dieses Land für den Außenstehenden beschreibt, nur noch mehr betonen? Nach Belarus kann einen deshalb wohl nur der Zufall oder das Schicksal bringen. Heute allerdings weiß man um die Existenz von Belarus. Ironischerweise dank des autokratischen Präsidenten Alexander Lukaschenko, der Belarus seit 1994 mit harter Hand regiert und seine Heimat als „die letzte Diktatur Europas“ oder „Schandfleck Europas“ in der Welt bekannt gemacht hat. Bezeichnungen, die einem aber nicht gerade Lust machen, nach Belarus zu reisen. Auch mich führte der Zufall nach Belarus. Ein sehr mächtiger Zufall. Denn Belarus hat mich nie wieder losgelassen. Seit über 15 Jahren reise ich nun dorthin und ich werde nicht müde, mich für das unscheinbare Land am Rande Europas zu interessieren. Ich hatte mal die feste Überzeugung, dass man sich nicht in Länder verlieben kann. Zu abstrakt schien mir diese Vorstellung. Aber in Belarus, so kann ich heute sagen, habe ich mich verliebt. Nicht sofort, sondern sukzessive. Heute werde ich von einer großen Vorfreude gepackt, wenn ich dorthin reise. Ich spüre Begeisterung in mir aufsteigen, wenn ich wieder einmal den hypnotisierenden Minsker Himmel sehe, der wie ein Meer über der Stadt schwebt. Natürlich ist dies auch eine Hassliebe, wenn ich sehe, wie unbedarft und ignorant das Land sich seiner
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letzten Kulturdenkmäler beraubt, sich so wenig um seine Kultur und Sprache sorgt und kümmert und die eigene Identität mit Füßen tritt. Wahrscheinlich muss man ein wenig masochistisch veranlagt sein, um sich mit Ländern, die das Schicksal wie eine Waschtrommel durchgerüttelt hat, zu beschäftigen. Dies ist ein Versuch zu ergründen, wie es zu dieser seltsamen Liebe gekommen ist.
1. ANNÄHERUNG Wer nach Belarus reist, braucht Neugier, Abenteuergeist, einen langen Atem, Geduld und ein gutes Auge für den Unterschied und das Detail. Nur Weniges in Belarus ist offensichtlich. Belarus offenbart sich dem Reisenden nur sehr langsam. Das Land war in seiner über 1.000-jährigen Geschichte immer wieder Schauplatz von Krieg, Zerstörung, Vertreibung, Deportation, Terror und Genozid. Jede Form des Leids, das die europäische Geschichte kennt, hat seine traurige Spur in Belarus hinterlassen. Belarus, so kann man sagen, ist ein Dinosaurier-Abdruck europäischer Leidensgeschichte. Aber wer weiß das schon? Allein dem Zweiten Weltkrieg, zu dessen Ende Belarus regelrecht ausgelöscht war, ist jeder vierte Belarusse zum Opfer gefallen. Dörfer und Städte wurden vernichtet, die Juden, oft mehr als die Hälfte der Stadtbevölkerung, ermordet. Nachdem Stalin die Intelligenzija in den dreißiger Jahren hingerichtet hatte, wurde der Rest der Elite im Krieg umgebracht. Belarus war seiner Geschichte beraubt – und seiner Zukunft. Deswegen gibt es heute nur wenige Zeugen und Denkmäler, die einem etwas von der älteren Kultur und Geschichte des Landes erzählen könnten und an denen sich die Identität wie eine Klette empor ranken kann. Belarus kam vor seiner Unabhängigkeit im Jahr 1991 nie in den Genuss einer Eigenstaatlichkeit – bis auf eine kurze Episode im Jahr 1918. Es wurde fast immer von anderen beherrscht – und damit auch seine Geschichtsschreibung und Mythenbildung. Der ohnehin schwach ausgebildete, nur auf einer dünnen Schicht von Intelligenzlern und Enthusiasten begrenzte belarussische Nationalismus musste in der Hochzeit der Nationen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts vor allem mit Polen und Russland konkurrieren und zog, wie der Politologe Waler Bulhakau gezeigt hat, aus verschiedenen Gründen den Kürzeren. Belarus hat in seiner Geschichte sehr häufig Pech gehabt. Auch deswegen hat der belarussische Künstler Artur Klinau sein Land des Öfteren „ein Land der Verlierer“ genannt. „Wer interessiert sich schon für Verlierer“, sagt Klinau. „Verlieren ist einfach nicht sexy.“ Im heutigen Belarus ist deshalb vor allem das Erbe der letzten Beherrscher offensichtlich – das russisch-sowjetische. Jeder, der dorthin fährt, nimmt Belarus vor allem als „sozialistisches Freilichtmuseum“ und „irgendwie russisch geartetes Land“ wahr, dessen Bewohner nicht so recht zu wissen scheinen, wer sie sind. Beim Abriss des „Eisernen Vorhanges“, so scheint es, ist die bela-
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russische Insel vergessen worden. Lukaschenko hat diesen Eindruck mit seiner Isolationspolitik und seinem Neo-Sowjetismus nur noch verstärkt. Infolgedessen schreibt der deutsche Journalist Wolfgang Büscher in seinem Buch „Berlin-Moskau: Eine Reise zu Fuß“, „Weißrussland“ sei „das komplizierteste Land der Welt“. Vielleicht stimmt das ja. Obwohl Komplexität doch immer nur eine Frage der Perspektive ist. Ein wenig ärgerlich ist dieser Satz trotzdem. Ärgerlich, weil man Belarus sehr häufig mit negativen Assoziationen versieht: Sowjetunion, Tschernobyl, Diktatur. In Belarus scheint eine Katastrophe die nächste zu jagen. Viele halten Belarus für politisch krank, anachronistisch, öde, ja sogar finster. Und wer will schon ein Land kennenlernen, das in unserer Wahrnehmung vor allem kompliziert und katastrophal ist? Sicher, Belarus ist nicht einfach. Wenn man sich Belarus als einen Menschen mit Eigenschaften vorstellen würde, wäre Belarus ein junger Zauderer, phlegmatisch, unentschlossen, unsicher, wenig selbstbewusst. Ein Land, wenn man so will, in der Dauerpubertät, auf der Suche nach einer „eigenen“ Geschichte, einer „eigenen“ Identität zwischen einem russisch-sowjetischen und einem ostmitteleuropäischen Erbe, zwischen West- und Osteuropa. Ein Land in einem schwer definierbaren Übergangsprozess, das schlecht versteht, was es ist, wo es herkommt und nicht wirklich weiß, wohin es will. „Belarus braucht einen Psychiater“, hat eine gute Freundin in Minsk einmal zu mir gesagt. „Es ist nicht so, dass wir nicht wissen, wer wir sind. Es ist vielmehr so, dass wir nicht akzeptieren, wer wir sind.“ Vielleicht ist es mit Ländern wie mit Menschen. Man umgibt sich lieber mit denen, die sich ihrer sicher sind, die ihren Platz gefunden haben, die wissen, wer sie sind und was sie wollen. Die Zweifler sind nicht gern gesehen, weil sie ihr Gegenüber selber zum Zweifeln zwingen und zum Sich-in-Frage-Stellen provozieren. Mit den Zweiflern fühlt man sich eher unwohl. So ist es mit Belarus. Je häufiger man nach Belarus reist, desto mehr bemerkt man, wie sehr Belarus an einem selbst nagt – mit seinem schwer definierbaren Zustand. Es kratzt auch an der eigenen Identität. Belarus wirft viele Fragen auf, ohne einfache Antworten geben zu können. Wobei es selbstredend auf solch komplexe Gebilde wie Länder und Staaten nie einfache Antworten geben kann. Aber der Mensch sehnt sich nach einer Scheinwelt aus einfachen Antworten, die ihn krisensicher durch das Leben führen. Und Belarus ist eines der Länder, die sich einer Scheinwelt und Stereotypisierung am heftigsten verweigern.
2. E INDRÜCKE Ein Bekannter, der mir vor dem Studium der Slawistik und Osteuropäischen Geschichte das kyrillische Alphabet beigebracht hatte, spielte mein Schicksal. Er hatte meine erste Reise nach Belarus organisiert. Weil er als Dolmetscher über Kontakte zum Minsker Kinderkrankenhaus verfügte, wo ich ein Praktikum machen wollte, um mein Russisch zu verbessern. So kam es, dass
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ich 1995 erstmals nach Belarus reiste. Es war ein heißer Sommer. Ich fuhr mit dem Bus, um die lange Strecke von Köln nach Minsk besser als das erleben zu können, als was ich mir diese Fahrt vorstellte: als eine Reise in eine andere Welt. Bereits im Bus lernte ich von den jungen Belarussen die ersten russischen Schimpfwörter. Wir tranken Bier und lachten zusammen auf den damals noch sehr holprigen belarussischen Straßen. Ich weiß noch, mit was für einer fiebrigen Aufregung und Erwartung ich meinem ersten exsowjetischen Land begegnete. Ich wusste nicht viel über die ersten stürmischen Jahre der national-demokratischen Öffnung und der wirtschaftlichen Krise, die Belarus zwischen 1991 und 1994 erlebt hatte. Aber ich kann mich noch gut an das Gewusel auf den Minsker Straßen erinnern. Es gab unzählige Kioske, die als kleinste ökonomische Einheiten eines sich entwickelnden freien Marktes die Straßen der Hauptstadt besetzt hatten und mit ihren bunten Produkten einen frischen, grellen Kontrast zu den grau-braunen BetonLandschaften der Minsker Schlafstädte darstellten. Minsk schien mir eine vitale Stadt zu sein. Der Sommer brachte die Hauptstadt und seine Parks und Grünanlagen zum Strahlen. Die Sonne tauchte die gelben Stalin-Bauten in ein mediterranes Orange. Wer schon einmal im Winter in der belarussischen Hauptstadt war, kennt den überwältigenden Unterschied, den das winterliche im Vergleich zum sommerlichen Minsk vermittelt. Sicher ist Minsk nicht Paris oder St. Petersburg. Dennoch hat die fast 1.000 Jahre alte Stadt ihre untrüglichen Reize, die bis dato wohl am besten in Artur Klinaus Buch „Sonnenstadt der Träume“ beschrieben worden sind. Sehr schnell traf ich auf sehr herzliche Menschen, die schon auf mich gewartet zu haben schienen. Denn so empfingen sie mich. Mit offenen Armen, gedeckten Tischen und vollen Gläsern. Wer nach Belarus reist, wird willkommen geheißen. Die Belarussen freuen sich über Reisende und Gäste. Man kommt sich immer vor wie der erste Reisende, der sich in die „unbekannte Mitte Europas“ gewagt hat. Und wenn man das Land und seine Menschen verlässt, lässt es einen nicht mehr los. Wahrscheinlich damit man nicht vergisst, wie einsam und unerkannt die Belarussen am Rande Europas leben. Bei einem Besuch in Brest habe ich einmal einen Priester einer dortigen Unierten Kirche kennengelernt. Der gebürtige Russe, der aber schon seit über zwanzig Jahren in Belarus lebte, sagte mir: „Die Belarussen sind wirklich ein sehr einsames Volk. Weißt du warum? Niemand lacht über sie. Es gibt keine Witze, die ihre Nachbarn über sie erzählen. Nur Belarussen können über Belarussen lachen. Es ist, als würden sie nicht existieren.“ Meine neuen Bekannten waren zumeist Studenten, die sich wie ich für Rockmusik interessierten. Wir tranken zusammen, fuhren aufs Land, durchstreiften gemeinsam die Wiesen, Wälder und Felder, genossen unsere Jugend an den Ufern des Naratsch-Sees (russ. Narotsch). An einem abgelegenen Fluss, zu der wir in einem alten, voll bepackten Lada ruckelten, erlebte ich meine erste belarussische Entenjagd. Auf dem Rücksitz zwischen Gewehren und Verpflegung eingequetscht und glückselig berauscht, starrte ich auf die immer gerade Straße, während der russische Barde Wladimir Wys-
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sozki aus den Lautsprechern krächzte. So fuhren wir dem belarussischen Horizont entgegen, schweigend, melancholisch verharrend in der Gegenwärtigkeit der belarussischen Landschaft, die unsere Fahrt wie ein Seidentuch umwehte. So habe ich einen meiner schönsten Sommer erlebt. Deswegen ist Belarus in meiner Erinnerung vor allem ein sommerliches Land, das nach frisch gemähtem Heu, Birken, Apfelbäumen und Schaschlik duftet. Meine neuen Freunde waren offen, interessiert und hatten einen erschlagenden Humor. Und das, obwohl sich das belarussische Leben in jener Zeit von der einen auf die andere Sekunde verändern konnte. Weil die Belarussen auch in ihrer bewegten Geschichte derart häufig zum Spielball des Schicksals geworden waren, schienen sie mir auch demütiger und vor allem gelassener gegenüber dem Leben zu sein. Mir gefielen die schrägen, vom Leben gezeichneten Biografien der Menschen, die mir interessanter erschienen als unsere geradlinigen, wohlstandsverwöhnten Lebenswege im Westen. Niemand sah in mir den reichen Westler oder Touristen. Wir zogen durch die nächtlichen Straßen von Minsk, in denen es damals noch sehr wenige Cafés und Kneipen gab, saßen in Parks, unterhielten uns so, wie wir es am besten konnten, ich in gebrochenem Russisch, Wadim, Sascha und Saweli in gebrochenem Deutsch beziehungsweise Englisch. Nicht irgendein Wissen, nicht irgendwelche Assoziationen, sondern meine Freunde und Bekannten bildeten in jener Zeit mein Belarus. Es gefiel mir, mehrmals im Jahr meinen erstaunten Eltern und deutschen Freunden verkünden zu können, dass ich mich wieder einmal nach Belarus aufmachen würde. In ein Land, das üblicherweise keine Bilder, keine Wörter in den Köpfen hervorrief. Ein Niemandsland, das in gewisser Weise „mein Land“ war, weil ich es entdecken konnte und von meinen Reisen in Deutschland berichten konnte, ohne dass alle mit den Köpfen nickten, um zu bedeuten, dass sie das alles schon gesehen und gehört hätten. Manchmal kam ich mir vor wie ein James Cook, wenn auch ein sehr kleiner, der bei der Suche nach Neuland auf Belarus gestoßen war. Neuland, das ich nun beschreiben konnte – als einer der ersten Menschen. Wer nach Belarus reist, hat keine Vorbilder. Er findet keine ausgetretenen Wege vor, sondern betritt neue Wege. Belarus war exotisch. Und in gewisser Weise war es sogar exotischer als Vietnam. Nicht etwa, weil die belarussische Kultur derart fremd war, sondern weil es in Europa lag, einen großen Katzensprung, rund 900 Kilometer von Berlin entfernt – ein gänzlich unbekanntes, ja unsichtbares Land.
3. V ERORTUNG Mein historisches Interesse für Osteuropa war früh geweckt worden. Eben weil man als junger Westdeutscher wenig wusste über die Länder jenseits des „Eisernen Vorhanges“, der Europa seit dem Zweiten Weltkrieg teilte. In der Schule hatte man vor allem von Peter dem Großen, von der Russischen
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Revolution, von Lenin und Stalin gehört. Mein Vater hatte mein Interesse an der Geschichte immer gefördert, zwar nicht durch intellektuelle Belehrungen, aber durch seine Liebe zu Burgen, Schlössern und Schauplätzen der beiden Weltkriege. Ich weiß noch, wie ich mich in den achtziger Jahren häufig gefragt habe, was sich hinter dem riesigen geheimnisvollen altrosafarbenem Fleck, der die Sowjetunion auf der Landkarte der Tagesschau darstellte, verbarg. Meine Tante war Mitte der Achtziger in der Sowjetunion gewesen und hatte dort auf ihrer Reise „armen Kindern“, wie sie erzählte, Kugelschreiber geschenkt und den einen oder anderen Wodka getrunken. Viel mehr wusste ich nicht über die ehemaligen Länder der Sowjetunion. Belarus nahm auch ich wie viele Westeuropäer, lediglich als ein postsowjetisches Land und russisches Anhängsel wahr. Die gewaltigen neoklassizistischen Gebäude entlang des Franzyschak Skaryna-Prospektes in Minsk, die ich während meiner ersten Reisen sah, die endlosen Trabantenstädte, die wilden Kolchosen, die vielen Denkmäler, die dem Zweiten Weltkrieg gewidmet waren, die alte Puschkin rezitierende Wächterin in dem Studentenwohnheim, das ich während meines Aufenthaltes in Minsk bewohnte, schienen mich in meinem törichten Wissen zu bestärken. Wie selbstverständlich fragte ich mich nicht, welche Geschichte Belarus vor der Zeit der Sowjetunion gehabt haben könnte. Belarus, so schien es mir, war zusammen mit der Sowjetunion vom Himmel gefallen. Wie viele Reisende, die zum ersten Mal nach Belarus kommen, habe ich so zunächst das offensichtliche sowjetische bzw. das russischsprachige Belarus wahrgenommen. Meine Freunde sprachen Russisch, hörten russische Musik, kauften auf Russisch ein, erzählten sich russische Witze. Die Menschen auf den Straßen sprachen Russisch, Lukaschenko sprach Russisch – wenn auch ein schlechtes. Ich hatte zwar davon gehört, dass es eine belarussische Sprache gab. Aber die schien mir vor allem ein Fall für Sprachwissenschaftler, Straßenschilder und alte Frauen zu sein. Dass jemand Belarussisch sprechen sollte, kam mir aus einem unerfindlichen Grund absurd vor. Seltsamerweise bin ich damals auch nie wirklich auf die Idee gekommen, meine Freunde zu fragen, ob sie denn auch Belarussisch sprachen. So selbstverständlich war es für mich, dass Belarus als vermeintliches „Brudervolk der Russen“ doch eigentlich immer ein Teil Russlands bzw. der Sowjetunion gewesen sein musste. Wie mir später erst aufging, hatte die sowjetische Ideologie nicht nur die eigenen Menschen entscheidend beeinflusst, sondern auch mich, einen jungen Westdeutschen, der fernab der Sowjetunion und ihres unmittelbaren Einflussbereiches in der Nähe der holländischen Grenze bei Aachen aufgewachsen war. Auch das transatlantische Bündnis, die kulturelle West-Orientierung der Bundesrepublik, die Propaganda des Kalten Krieges und jahrhundertealte Ressentiments haben dazu beigetragen, dass man all die „Übergangslandschaften“ Ost- und Mitteleuropas vergaß – die quirligen, geheimnisvollen multikulturellen und -konfessionellen Welten, wie sie beispielsweise die Schriftsteller Joseph Roth oder Bruno Schulz in ihren Romanen beschrieben haben
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und wie sie in den vergangenen Jahren von Schriftstellern wie Andrzej Stasiuk oder Juri Andruchowytsch wiederentdeckt werden. Welten, die in Litauen, Polen und der Ukraine aufgegangen sind. Auch Belarus ist Teil dieser vergessenen und ignorierten europäischen Welt, eines kulturellen Schmelztiegels, der von Belarussen, Russen, Polen, Litauern, Ukrainern, Juden und Tataren belebt wurde. Bei der Gründung der Belorussischen Sozialistischen Sowjetrepublik (BSSR) im Jahr 1919 wurde dieser Multiethnizität noch Rechnung getragen. Denn als Staatssprachen wurden Polnisch, Belarussisch, Jiddisch und Russisch festgelegt. Vielleicht wäre es heute deshalb klüger, die Geschichte von Belarus nicht als eine Nationalgeschichte sondern als die Geschichte eines europäischen Kulturraumes zu schreiben. Damit würde man auch dem Umstand genügen, dass die heutigen Grenzen des belarussischen Staates nur sehr vage Erkenntnis darüber liefern, in welchem Raum sich „belarussische“ Geschichte zugetragen hat. Eine Mischung aus Ignoranz, Arroganz, Gleichgültigkeit, Angst und Misstrauen prägen bis heute die Haltung westeuropäischer Länder gegenüber Mittel- und Osteuropa. Wie hatte Konrad Adenauer gesagt? „Hinter der Elbe beginnt die asiatische Steppe.“ Der renommierte Historiker HansUlrich Wehler hat um die Jahrtausendwende mehrmals erklärt, dass „Weißrussland, die Ukraine, und Russland nie zu Europa gehört“ hätten. Ich habe mich häufig gefragt, warum deutsche Intellektuelle und Betroffenheitsverwalter, die sich gern und häufig zu Menschenrechtsverletzungen und Demokratiedefiziten in China oder Russland äußern, sich nie über das Lukaschenko-Regime echauffierten. Zumindest ist mir kein Ausruf der Empörung von Günter Grass und Co. in Erinnerung geblieben. Gelegenheiten dies zu tun, hat es während der Herrschaft Lukaschenkos ausreichend gegeben. Und immerhin, so will man meinen, liegt Belarus ja in Europa und nicht hinter dem Mond. Wahrscheinlich ist es aber so, dass gerade für die Generation der älteren Westeuropäer die Sowjetunion und ihr einstiger Raum als diffuse politisch-kulturelle Einheit immer noch besteht. So erinnere ich mich an einen Artikel des Dramatikers Rolf Hochhuth in der Frankfurter Rundschau, in dem er den Ukrainern vorhielt, dass sie doch immer schon Russen gewesen seien. Und wie peinlich war es mir, als meine belarussischen Freunde deutschen Journalisten immer wieder erklären mussten, warum sie nicht Russisch, sondern ihre eigene Sprache sprechen wollten. Nicht selten wurde ihnen dann ein radikaler Nationalismus unterstellt. Wie absurd! Man legt offensichtlich nur widerwillig die russozentrische Brille ab, mit der wir jahrzehntelang auf Mittel- und Osteuropa geschaut haben. Man gewöhnt sich nur langsam an die neue Landkarte mit all ihren neuen Staaten und Kulturen und ihrem schweren historisch-politischen Erbe.
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4. E NTDECKUNG VON BELARUSSISCHER K ULTUR UND G ESCHICHTE Nach meinem ersten Besuch reiste ich jedes Jahr nach Belarus, häufig sogar zweimal jährlich. Belarus wurde zu meinem Hobby, dann zu meiner Leidenschaft. Im Sommer 1997 sollte sich mein Bild von Belarus schließlich grundlegend verändern. Mein Freund Wadim hatte mich eines Morgens auf den Besuch seines Schwagers vorbereitet. „Der wird dich gleich abholen. Er will dir was zeigen. Schau selbst, was er für einer ist.“ Wadims Worte klangen geheimnisvoll und mysteriös. Ein paar Stunden später stand ein kleiner Mann mit lustigen Augen und einer markanten Nase vor der Tür. Er sagte: „Hallo. Ich bin Igor und ich mache dich nun mit einem anderen Belarus bekannt.“ Igor war vielleicht 40 Jahre alt, er hatte als Ingenieur in der UhrenFabrik von Minsk gearbeitet und hatte, wie so viele nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, sein eigenes Geschäft gegründet. „Import-Export“ wie er sagte. Er wurde mein Lehrer für belarussische Geschichte und Kultur, er öffnete mir die Augen für den „Archipel Belarus“ der dem Philosophen Waljanzin Akudowitsch zufolge in dem russischsprachigen Meer von Belarus existierte. Mit Igors klapprigem Lada-Kombi fuhren wir in die Randbezirke von Minsk, in das Wäldchen Kurapaty (russ. Kuropaty). Dort hatte ein Team von Archäologen unter Leitung des späteren national-konservativen Politikers Sjanon Pasnjak im Jahr 1988 Massengräber untersucht. Bis zu 100.000 Belarussen waren dort zwischen den hohen Kiefern in den Jahren 1937 bis 1941 vom sowjetischen NKWD erschossen worden – vor allem Mitglieder der Intelligenzija, die Generation der Belarussen, die bis Ende der zwanziger Jahre, bevor Stalin der nationalen Kulturpolitik ein Ende machte, enthusiastisch für ihre Kultur eingetreten war. Pasnjaks Entdeckung löste eine Welle der Wut und Empörung in Belarus aus, hatten die sowjetischen Machthaber doch stets erklärt, dass in den Gräbern Opfer der Nazi-Okkupation lagen. Für so manchen Belarussen war jene furchtbare Entdeckung ein Erweckungserlebnis. „Für mich war die Entdeckung der Gräber ein Schock“, sagte Igor. „Nicht weil ich glaubte, dass die Sowjetunion ein tolles Land war. Den Glauben hatte ich eigentlich nie. Aber ich hatte plötzlich ein Gefühl der Verpflichtung, mich für mein Land und meine wahre Geschichte interessieren zu müssen. Damit so etwas nicht wieder geschieht. In der Sowjetunion haben wir ja nichts über uns gelernt. Da hieß es nur, dass wir sozialistische Menschen seien und Russisch sprechen sollten.“ Der Ausflug zu diesem grausigen Ort und Igors enthusiastisches Erzählen hatten an meinem Interesse und meiner Neugier gerüttelt – für ein Land, das nur wenig über sich selbst zu wissen schien. Fortan verbrachte ich viel Zeit mit Igor und seiner Familie, in der vor allem Belarussisch gesprochen wurde. Mit Igor reiste ich durch Belarus, und ich weiß noch, welch große Augen ich machte, als ich das Renaissance-
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Schloss von Mir oder den barocken Palast der Radziwiłłs in Njaswisch (russ. Neswisch) erblickte. Ich erfuhr, dass viele belarussische Städte in der Vergangenheit zu einem großen Teil jüdisch geprägt waren, dass selbst Minsk das Magdeburger Stadtrecht besessen hatte. Dass Franzyschak Skaryna, ein weitgereister Intellektueller und Gelehrter im Zeitalter der Renaissance, der erste Buchdrucker der Slawen gewesen war. Ich lernte, dass es tatsächlich einen Unterschied machte, ob man sich mit den Augen eines Russisch- oder Belarussischsprachigen in Minsk oder eben Mensk bewegte – weil man tatsächlich zwei verschiedene Städte erleben konnte. Einen Umstand, den der Musiker Ljawon Wolski für seine Band „N.R.M.“ in dem Lied „Mensk-Minsk“ beschrieben hat. Igor und ich fuhren nach Nawahrudak (russ. Nowogrudok), einer Kleinstadt, die im 13. Jahrhundert die Hauptstadt des Großfürstentums Litauen gewesen war. Ich erfuhr, dass dies die Heimat des Dichters Adam Mickiewicz war, der in Polen als Nationaldichter verehrt wird, der aber auch von Litauern und Belarussen als einer der ihren beansprucht wird. Mickiewicz stammte aus der belarussischen Szlachta, dem Landadel der Rzeczpospolita, der polnischen Adelsrepublik, zu der viele der heutigen belarussischen Gebiete gehörten. Als Vertreter seines Standes sprach und schrieb er selbstverständlich Polnisch, konnte mit aller Wahrscheinlichkeit aber auch Belarussisch. Ganz einfach, weil dies die Sprache der Landbevölkerung war, deren Zugehörige sich zu aller Verwirrung nicht „Belarussen“ nannten, sondern Litwiny oder „Litauer“. Mickiewiczʼ Epos „Pan Tadeusz“ eröffnet mit den Zeilen „Litauen, mein Vaterland“. War Mickiewicz aber nun Pole, Litauer oder Belarusse? Wahrscheinlich war er von allem etwas. Allerdings hat Mickiewicz wohl kaum in unseren klar abgesteckten nationalen Kategorien gedacht. Er war, wie zu seiner Zeit üblich, mehrsprachig. Die Sprache war zu jener Zeit nicht Ausdruck eines national umrissenen Kulturraumes. Sie war eher Ausdruck von sozialen und konfessionellen Identitäten, die man nach Anlässen entsprechend wechseln konnte. Zudem meinte Mickiewicz mit seinem „Litauen“ nicht den Staat Litauen, den wir heute kennen. Als „Litauen“ oder Litwa bezeichnete der Dichter im engeren Sinn seine Heimat und im weiteren Sinn jenen westlichen Teil des „Großfürstentums Litauen“, das seit 1386 in einer Union mit dem Königreich Polen sukzessive aufgegangen und das im 18. Jahrhundert an das russische Zarenreich gefallen war. „Litauen“ blieb Mickiewicz‘ Sehnsucht, ein Traum. Mit Hilfe seiner Sprache, dem Polnischen, versuchte Mickiewicz diesen wirklich werden zu lassen. So ebnete er den Weg zum polnischen Nationalismus. Als mir Igor all diese komplexen Zusammenhänge zu erläutern versuchte, rauchte mir der Kopf. Aber diese Überlagerung von Identitäten und Kulturen wurmt und quält mich bis heute. Unsere national gezimmerten Schubladen-Gehirne scheinen für solche Phänomene nicht geschaffen zu sein. Eine Lösung für die vertrackten Grundlagen der belarussischen Identität zu finden, kam mir lange Zeit vor wie die Suche nach einer geheimen Weltformel.
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All dies waren für mich echte Entdeckungen. Offensichtlich hatte Belarus eine Geschichte, die von der Gegenwärtigkeit des Russischen und Sowjetischen verdeckt wurde. Eine Geschichte, die mir nahe war und die Teil der europäischen Identität war. Eine Geschichte, die vom Lukaschenko-Regime verachtet und bekämpft wurde. Ich begann fieberhaft Informationen über diese verschüttete Geschichte zu sammeln. Das war gar nicht leicht, weil es nicht viele Informationen gab und man die Buchhandlungen und Orte in Minsk kennen musste, wo man die Bücher kaufen konnte, die nicht nur die „sowjetische“ Interpretation der belarussischen Geschichte zum Thema hatten. Bei jeder neuen Entdeckung hatte ich aber das erhebende Gefühl, mein Belarus-Puzzle ein Stück weit vervollständigen zu können. Nicht nur mein Belarus-Puzzle, sondern auch ein europäisches Puzzle. Denn Belarus war nicht nur durch das Leid, das die europäische Geschichte über den belarussischen Kulturraum gebracht hatte, mit Europa verbunden, sondern auch durch alte Handelswege, durch Ideen oder persönliche und verwandtschaftliche Beziehungen. Ich staunte beispielsweise sehr, als mir der belarussische Rockstar Ljawon Wolski erklärte, dass er deutsche Wurzeln habe. Seine Familie sei vor 300 Jahren in das Baltikum ausgewandert und von dort nach Petersburg und schließlich nach Minsk weitergezogen. Wolskis Großvater hatte noch Friedrich mit Vatersnamen geheißen. Diese Verbindungen waren dem alten Europa, das der Zweite Weltkrieg mit seinen verheerenden Folgen vernichtet hatte, geläufig. Mir waren sie es nicht mehr. Deswegen war ich ob solcher Entdeckungen so verwundert. 1998 traf ich schließlich Sjarhei Sacharau, einen Studenten, der Konzerte für belarussischsprachige Bands und Musiker organisierte. Ich wusste damals noch nicht, dass es in Belarus eine subkulturelle Szene gab. Eben weil ich noch niemanden getroffen hatte, der mir davon hätte berichten können. Sjarhei war so jemand, ein quirliger Schlacks mit vielen Ideen. Er nahm mich mit in die Kleinstadt Maladsetschna (russ. Molodetschno), unweit von Minsk. An diesem Tag sah ich mein erstes Rockkonzert in Belarus – mit Bands, die auf Belarussisch sangen. Rund 2.000 Jugendliche tanzten, jubelten, sangen, bis die örtliche Miliz den Stecker zog und das Konzert für beendet erklärte. Soweit ich mich erinnern kann, weil der Sänger von der Band Bes Bileta „Fuck Lukaschenko“ in die Menge gerufen hatte. Wital Supranowitsch, der Mitstreiter von Sjarhei, war darauf verhaftet worden. Genau wie eine Reihe anderer Jugendlicher, die die Polizisten teilweise an den Haaren aus der Masse schleiften. Sjarhei, seine Freunde und ich marschierten daraufhin zur Miliz-Station, um zu erfahren, was mit den Verhafteten passieren würde. Allerdings erfuhren wir nur von einem dicklichen, offensichtlich angetrunkenen Polizei-Chef, dass „alle wegen Satanismus“ verhaftet worden seien. Von dem Mut und der Bestimmtheit, mit der Sjarhei sein Recht bei der Miliz einforderte, war ich überwältigt. Mir dagegen, der mit solch extremen Situationen noch nie konfrontiert worden war, schlug das Herz vor Aufregung. Auch hatte mich die Energie, die Bands wie die Punk-Grunge-Formation N.R.M. auf der Bühne entfacht hatten, begeistert.
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In Belarus, stellte ich fest, war Rockmusik nicht nur Ausdruck einer kommerziellen Pose wie im Westen, sondern eine Haltung. Weil Belarus ein autokratisch regiertes Land war, hatten Bands wie Ulis, Krama oder Neuro Dsjubel etwas, für das sie sich einsetzen, für das sie kämpfen konnten: für ihre vom Lukaschenko-Staat de facto unterdrückte belarussische Sprache, für die Freiheit auf ein selbstbestimmtes Leben, für freie Meinungsäußerung oder für das Recht auf Widerstand. Wahrscheinlich war es letzten Endes die eigentlich schlichte Einsicht darüber, dass die Freiheiten, die wir im Westen genossen, nicht selbstverständlich waren, die mich dazu trieb, mich noch intensiver mit Belarus und mit den Menschen zu beschäftigen, die ihre belarussische Heimat verändern wollten. Ich entdeckte, dass es neben der tumben Staatskultur, die das Russische und Sowjetische als eine leere Hülle für einen autoritären Staat favorisierte, eine sehr lebendige Parallelwelt gab. Eine zweite Welt, die zwar zahlenmäßig kleiner sein mochte als die Welt der Russischsprachigen, die aber vor Vitalität, Kraft, Energie und Überlebenswille strotzte. Als Journalist hatte ich mein Thema gefunden.
5. Z USAMMENFASSUNG Aus meiner über zehnjährigen Arbeit als Journalist weiß ich, dass es immer noch schwierig ist, ein belarussisches Thema an die Medien zu verkaufen, vor allem, wenn es nicht den gängigen Klischees entspricht. Aber es ist nicht mehr so schwierig wie es einmal war. Es gibt mittlerweile im deutschsprachigen Raum eine nicht zu unterschätzende Zahl an BelarusInteressierten und Osteuropa-Enthusiasten. Über 600 deutsche NGOs haben Belarus zum Thema ihrer Arbeit gemacht. Sie alle fordern eine qualitativhochwertige Berichterstattung und Informationen über Belarus. Gleichzeitig sorgen sie dafür, dass Belarus im Sturm der großen Schlagzeilen und Politik nicht vergessen wird. Es gibt mittlerweile einschlägige geschichts- und politikwissenschaftliche Aufsätze und Bücher über Belarus. Es gibt gute Artikel und Berichte, zumindest in den Qualitätsmedien. Auch das war vor fünfzehn Jahren noch anders. Damals musste man gute deutschsprachige Informationen über Belarus noch wie Nadeln im Heuhaufen suchen. Die einzige deutschsprachige Monografie über Belarus war zu jener Zeit „Weißruthenien – Volk und Land“ von Eugen Freiherr von Engelhardt – aus dem Jahr 1943. Belarus ist ein europäischer Kulturschatz, der lohnt, dass man ihn birgt. Das Land hat einen der reichsten Märchen- und Legendenschätze unter den slawischen Völkern – und eine starke poetische Tradition, deren vielleicht sprachmächtigster Vertreter, Ryhor Baradulin, noch lebt. Es gibt eine spannende Literatur, die mit ihren Klassikern Jakub Kolas, Janka Kupala, Maxim Harezki, Uladsimir Karatkewitsch oder Wassil Bykau ihren Platz in der europäischen Literatur verdient. Das Belarussische, mit seinen starken Einflüssen aus dem Polnischen, Ukrainischen, Russischen und Jiddischen, ist
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ein klarer Spiegel der historisch-kulturellen Entwicklung des Landes. Eine Sprache, die vor allem in den vergangenen Jahren wieder zu neuer Lebenskraft gelangt ist. Und dann diese herrliche Landschaft! Die ist sicher nicht so spektakulär wie die eines Grand Canyon in den USA oder der Fjordlands in Neuseeland. Dafür ist sie aber von einer Sanftheit und Harmonie geprägt, die einen wundern lässt, warum gerade diese Landschaft zum Schauplatz von so viel Leid und Tragik wurde. Belarus besitzt hunderte Seen, die aus dem Weltall wie uralte Augen in die Gegenwart starren, hier liegt das Palessie (russ. Polesje), die größte Moor- und Sumpflandschaft Europas, die auch die „Meere Herodots“ genannt wird und deren torfiger Duft einen bis in die Träume verfolgt. Und nirgends hängt der Himmel so hypnotisierend hoch wie hier, am Rande Europas. Wer die Faszination, die von Belarus ausgeht, verstehen will, muss nur nach Pinsk fahren, diese alte Stadt im Südwesten von Belarus. Eine freie Stadt, die immer in Blickweite Polens und der Ukraine lag, die in ihrer Geschichte häufig ihre Herren wechselte und in der wohl nicht zufällig der große polnische Reporter Ryszard Kapuściński geboren wurde, ein Mann, der in seinem Leben einen scharfen Blick und eine klare Sprache für das Andere, für das Unterschied machende Detail entwickelt hat. Eben weil er aus einer vielschichtigen Grenzregion stammte. Man sollte Wizebsk (russ. Witebsk) besuchen, wo Ende des 19. Jahrhunderts Marc Chagall als Moischa Sacharawitsch Schahalau geboren wurde. Eigentlich erinnert in der ostbelarussischen Stadt nichts mehr an die Zeit, als Wizebsk ein bedeutendes Handels- und Kunstzentrum war. Aber man kann dort das Geburtshaus Chagalls besuchen, ein altes Holzhaus am Rande der Stadt, in dem es leider keine einzige Originalarbeit Chagalls gibt und in dem selbst die Erinnerung an Chagall seltsam fremd und weit entfernt erscheint. So als gehöre sie nicht zu diesem Ort. Nirgendwo sonst bekommt man eine solche Ahnung davon, dass Belarus einerseits zum kulturellen Europa gehört, andererseits aber so weit von Europa entfernt ist. An Orten wie diesem scheint es, dass Belarus vor allem sich selbst sehr fremd ist. Es sind solche widersprüchlichen Orte, die den Belarus-Reisenden immer wieder anziehen, die neue Welten und neue Vorstellungen öffnen. Sie öffnen die Augen, nicht nur für das Leid, das die europäische Geschichte hervorgebracht hat, sondern auch für die nationalen Verwerfungen, die Brüche, die Narben, die Widersprüche, die kulturelle Vielschichtigkeit, das Neben- und Übereinander von Identitäten und Konfessionen, die Mehrsprachigkeit, die noch immer in den alten und neuen Grenz-Gebieten Europas besteht. „Der Reichtum Europas“, hat der Historiker Karl Schlögel geschrieben, „bemisst sich nach seinen Übergangslandschaften“. Belarus stellt die richtigen Fragen an die europäische Identität. Es kann erklären, was es bedeutet, Europäer zu sein. Deswegen bin ich fest davon überzeugt, dass mich Belarus zum Schriftsteller und letzten Endes auch zum Europäer gemacht hat.
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L ITERATUR Büscher, Wolfgang: Berlin-Moskau. Eine Reise zu Fuß, Reinbek: Rowohlt Verlag 2003. Klinaŭ, Artur: Minsk – Sonnenstadt der Träume, Frankfurt a. M.: Suhrkamp Verlag 2006. Knubben, Tobias (Hg.): Belarus – unbekannte Mitte Europas. Ein Handbuch über Belarus zu Geschichte, Wirtschaft, Gesellschaft mit Reiseteil, Minsk: Fibre Verlag 2004. Randow, Norbert (Hg.): Störche über den Sümpfen. Belorussische Erzähler, Berlin: Volk und Welt Verlag 1971. — Die junge Eiche. Klassische belorussische Erzählungen, Leipzig: Reclam Verlag 1987. Roberts, Nigel: Belarus, Bucks: The Bradt Travel Guide 2008. Scheer, Evelyn: Weißrussland entdecken, Berlin: Trescher Verlag 2004. Wollenweber, Britta/Franke, Peter: Belarus – im Zentrum Europas, Berlin: Wostok Verlag 2002.
Weißrussisch: Eine Verkehrssprache oder eine Sprache von Verkehrsschildern? N ATALLIA S AVITSKAYA
„SO VERLASST DOCH UNSERE WEISSRUSSISCHE SPRACHE NICHT, UM NICHT ZU STERBEN!“ FRANZISCHAK BAHUSCHEWITSCH (1840-1900) Die Worte des weißrussischen Dichters, des Klassikers der weißrussischen Literatur Franzischak Bahuschewitsch sind mit goldenen Buchstaben in das moderne Gebäude der Nationalbibliothek der Republik Belarus in Minsk (wr. Mensk) eingraviert. Die naheliegende Annahme, die Sorge um die Sprache der Nation sei hierzulande großgeschrieben, schwindet jedoch zunehmend mit jedem Schritt durch den Tempel des Wissens: Überall wird man nur auf Russisch angesprochen! In der Garderobe, am Informationsstand, in den Lesesälen, in der Cafeteria … Und nur die Mitarbeiterin der Abteilung für weißrussische Literatur spricht Weißrussisch und lächelt etwas verlegen dabei, weil sie jetzt berufsbedingt diese Sprache verwenden muss … Wie in einem Wassertropfen spiegelt sich hier die Sprachsituation in ganz Weißrussland wieder: Die Präsentation vieler Lebensbereiche nach außen (Straßenschilder, Namen von Geschäften und Institutionen etc.) ist meistens auf Weißrussisch gehalten, gesprochen wird die Sprache aber nur von sehr wenigen. Das Weißrussische stellt ein Paradoxon dar, indem es gleichzeitig eine Titular- und eine Minderheitensprache ist.
1. D IE S PRACHE Die weißrussische Sprache gehört neben dem Russischen und dem Ukrainischen zu den ostslawischen Sprachen. Sie hat sich seit dem 14. Jahrhundert auf der schriftlichen Basis der kirchenslawischen bzw. der altrussischen (allgemeinostslawischen) Sprache unter dem Einfluss von mündlichen alt-
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russischen Dialekten der ostslawischen Stämme der Radzimitschen, Dryhawitschen und Kriwitschen entwickelt. Vom Russischen unterscheiden die Sprache unter anderem viele phonetische (lautliche) Merkmale. Dazu gehören beispielsweise die Weichheitsassimilation von Konsonanten, z.B. s’neg (sneg; „der Schnee“), das Fehlen einer stark ausgeprägten Reduktion von unbetonten Vokalen oder die Phänomene Akanje (keine Differenzierung zwischen den Vokalen o und a in unbetonten Silben) und Jakanje (Übergang von Vokalen e und o nach weichen Konsonanten in der ersten Silbe vor Betonung in ein ’a) etc. Die phonetischen Besonderheiten des Weißrussischen verleihen der Sprache eine besondere Melodie, Vollklang und Weichheit, was vor allem einem Nicht-Muttersprachler sofort auffällt. Im Wortschatz der weißrussischen Sprache sind mehr als in allen anderen slawischen Sprachen archaische altslawische Wörter erhalten geblieben, z.B. wotschy (vočy; „Augen“) oder wedaz’ (vedac’; „wissen“). Der polnische Nationaldichter Adam Mickiewicz sagte über die weißrussische Sprache, sie sei „die reichste und die reinste Sprache, die eine lange Geschichte hat und wunderbar ausgearbeitet ist“. Es handele sich um „die harmonischste und von allen slawischen Sprachen am wenigsten modifizierte“.1 Diese Worte gelten dem Weißrussischen des 17. Jahrhunderts. Seit jener Zeit hat die Sprache große Veränderungen erlitten, die nur zu einem geringen Teil durch einen natürlichen Sprachwandel und vielmehr durch politische und sprachpolitische Entscheidungen motiviert waren. Man spricht von einer starken Russifizierung der weißrussischen Sprache, insbesondere auf den Ebenen der Struktur und des Wortschatzes. Dennoch wird sie auch heute subjektiv als weich und melodisch wahrgenommen. In den vielzähligen Internet-Diskussionen über die Sprache wird das Weißrussische sehr oft mit positiv wertenden Attributen wie schön („wenn man es mit Russisch nicht vermischt“), süß, angenehm, beruhigend, melodisch, wohlklingend, rein, humorvoll, ungewöhnlich etc. verbunden. Das Weißrussische habe die archaische Schönheit des Altkirchenslawischen bewahrt, das Sprechen in dieser Sprache sei ein Vergnügen und verleihe einem das Image eines zivilisierten Menschen.2 Ich erinnere mich an die Worte einer Frau, die ich und meine Eltern einmal auf einem Waldweg in der Nähe von Witebsk (wr. Wizebsk) getroffen und mit dem Auto mitgenommen haben. Sie erzählte, wie entspannend es für sie war, für eine Weile weg von der Stadt zu bleiben, nicht zuletzt, weil sie hier, auf dem Land, mit den Menschen Weißrussisch sprechen konnte, denn das Russische hielt sie für eine grobe Sprache. Als Begründung stellte sie dann dem „harten und abrupten“ russischen luk („Zwiebel“) das „weiche und singbare“ weißrussische zybulja (cybulja) ge-
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Lojka, A. A./Ragojša, V. P.: „Adam Mickevič“, in: Dies. (Hg.), Belaruskaja litaratura XIX stahoddzja. Hrėstamatyja, Minsk: Vyšėjšaja škola 1988, S. 32 (Übersetzung des angeführten Zitats aus dem Weißrussischen: NS). Siehe http://www.lovehate.ru/Belorussian-language vom 1.8.2010.
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genüber. Heute, vor dem Hintergrund eines Sprachstudiums und eines gewissen Abstandes von den beiden Sprachen, kann ich die Frau sehr gut verstehen, aber damals kam mir, einem Stadtkind, genau diese von ihr angepriesene Weichheit des Weißrussischen etwas „uncool“, dörflich vor, und die Wörter selbst rochen für mich nach Zwiebel und Ofenrauch. Neben der Ästhetik des lautlichen Aufbaus zeichnet sich das Weißrussische durch eine besondere Bedeutungsprägnanz der Wörter und Ausdrücke aus, die zuweilen mit phonosemantischen Phänomenen einhergeht. Die Phonosemantik ist eine junge Teildisziplin der Sprachwissenschaft, die den Zusammenhang zwischen dem Lautbild von Wörtern und deren lexikalischer Bedeutung untersucht. So können beispielsweise die Wörter nehljamjaschy, njasgrabny (nehljamjažy, njazgrabny; „tollpatschig“) kaum mit etwas Leichtem und Graziösem assoziiert werden, und für einen Sprecher einer anderen slawischen Sprache ist die Bedeutung dieser Wörter allein anhand ihres Klanges relativ leicht erschließbar. Betrachtet man aus der Perspektive der Phonosemantik und der Bedeutungskapazität den in Weißrussland allgemein bekannten Ausdruck ahul’naja mljawasz’ i abyjakawasz’ da schyzzja (ahul’naja mljavasc’ i abyjakavasc’ da žyccja; „allgemeine Müdigkeit und Gleichgültigkeit dem Leben gegenüber“), so muss man zugeben, dass die Substantive mljawasz’ und abyjakawasz’ mehr als nur vorübergehende Symptome wie „Müdigkeit“ und „Gleichgültigkeit“ bezeichnen. Es handelt sich um eine Übermittlung der ganzen Lebensempfindung, -wahrnehmung und -einstellung mit der Implikation einer eigenen Vergangenheit und Zukunft, unterlegt mit einer Dosis Fatalismus, teilweise sogar Optimismus und Selbstironie, was gerade durch die lautliche Gestaltung der Wörter zum Ausdruck kommt. Ins Russische oder gar in eine andere Sprache ist die Wendung nicht ohne Bedeutungseinbuße übertragbar. Das Weißrussische, eine reine, weiche, melodische und ausdrucksstarke Sprache der litauischen Großfürsten, die Staatssprache der Republik Belarus, wird im eigenen Lande fast nicht gesprochen. Zwar bekennen sich über 80 Prozent der Einwohner des Landes zum Weißrussischen als zu ihrer Muttersprache, aber in der Alltagskommunikation wird sie von weniger als fünf Prozent benutzt. Daher ist auch die Beherrschung der Sprache überwiegend passiv: Man versteht alles, was z.B. in den Medien gesagt wird, für eine aktive Verwendung des Weißrussischen fehlt aber meistens einfach die Sprachkompetenz. Während meines Russistik- und Germanistikstudiums an einer weißrussischen Universität habe ich in einem Seminar zur weißrussischen Literatur eine Frage der Dozentin unwillkürlich auf Deutsch beantwortet. Ich nehme an, das Gehirn war einfach auf die Produktion einer fremdsprachlichen Äußerung eingestellt – und Deutsch war besser abrufbar. Weißrussisch halte ich persönlich neben dem Russischen für meine Muttersprache. Ich habe es außerhalb des Unterrichtes nie gesprochen …
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2. AUSWIRKUNGEN
GESCHICHTLICHER
W ENDUNGEN
In der Linguistik ist sehr oft von einer fast ausschließlich symbolischen Funktion der weißrussischen Sprache die Rede. Die Weißrussen selbst werden häufig als Nation ohne Sprache bezeichnet. Es ist bemerkenswert, dass, während die restriktive russifizierende Sprachpolitik nach dem Zerfall der UdSSR in allen postsowjetischen Ländern eine entgegengesetzte Entwicklungstendenz – die Rückkehr zur eigenen Nationalsprache – hervorgerufen hat, die Republik Belarus bei der Politik der weiteren Russifizierung der Sprache und der Durchsetzung des Russischen in allen Lebenssphären geblieben ist. Als Resultat sind heute in Weißrussland eine zunehmende Verbreitung des Russischen und eine systematische Verdrängung des Weißrussischen zu beobachten. Ursächlich für diese Sprachensituation sind sowohl subjektive Faktoren wie Sprachpolitik und individuelle Sprachkompetenz als auch objektive wie Sprachprestige und Konkurrenzfähigkeit der Sprachen. Die Gründe für die entstandene Asymmetrie zwischen den beiden Sprachen liegen in der wechselhaften Geschichte des Landes, die meistens keine begünstigenden Auswirkungen auf das Weißrussische mit sich brachte. Als eine eigenständige ostslawische Sprache fungierte das Altweißrussische seit dem Ende des 15. bis zum Anfang des 17. Jahrhunderts als Kanzleisprache im Großfürstentum Litauen. Die Sprache hatte einen sehr hohen sozialen Status und war ein Hauptmittel der überdialektalen schriftlichen Kommunikation in dem multinationalen Staat, als Sprache des Gesetzes und des Gerichtswesens. Im konfessionellen Bereich wurde sie zum Verfassen homiletischer Literatur in Form von belehrenden Bibelauslegungen und Beschreibungen von Heiligenleben verwendet. Einzelne Episoden aus den auf Weißrussisch verfassten Chroniken werden in der heutigen Forschung als eigenständige literarische Werke bewertet. Die Gründung des polnischlitauischen Unionsstaates (Rzeczpospolita) im Jahre 1569 hatte zur Folge, dass der weißrussische Adel und nach ihm alle anderen „privilegierten“ Bevölkerungsschichten immer mehr unter den Einfluss der polnischen Kultur und der polnischen Sprache gerieten. Dies führte zum unvermeidlichen Sinken des sozialen Status und des Ansehens der weißrussischen Sprache, die bereits zu Beginn des 18. Jahrhunderts nur von der Dorf- und den unteren Schichten der Stadtbevölkerung zur mündlichen Alltagskommunikation verwendet wurde. Die schriftsprachliche Tradition brach ab. Infolge der Teilungen Polens am Ende des 18. Jahrhunderts gehörte Belarus zum Russischen Imperium. Und einen offiziellen Status auf dem weißrussischen Territorium erlangte folglich das Russische. Das Weißrussische wurde weiterhin nur von der ländlichen Bevölkerung gepflegt, was zu ihrer Einstufung als einer „einfachen“, „bäurischen“ und für die kulturelle Entwicklung eines Angehörigen des polnischen Adels (Szlachta) nicht geeigneten Sprache führte. Die weißrussischen Bauern wurden als Menschen zweiter Klasse betrachtet. Dabei haben gerade diese Menschen die besten Exemplare des
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weißrussischen Kulturerbes aufbewahrt, die von Wissenschaftlern im 19. und 20. Jahrhundert gesammelt und dokumentiert wurden. Die nationale Wiedergeburtsbewegung am Ende des 19. Jahrhunderts zeichnete sich durch das Erscheinen vieler literarischer Werke in weißrussischer Sprache und durch die Bemühungen von Schriftstellern und Publizisten um Neuerschaffung einer Schriftsprache aus. Wie von der weißrussischen Sprachwissenschaftlerin Nina B. Metschkowskaja betont wurde, war das nicht mehr die altweißrussische Hochsprache des 17. Jahrhunderts, sondern eine verschriftlichte Form der ländlichen Dialekte, bewusst nach einer Volkssprache stilisiert, was sie zu einem Gegensatz der adeligintellektuellen Tradition des Russischen und Polnischen machen sollte.3 Der Anfang des 20. Jahrhunderts erwies sich für die Entwicklung der weißrussischen Sprache als sehr glücklich. Es wurde möglich, weißrussische Bücher und Periodika herauszugeben. In den zwanziger Jahren wurde von der sowjetischen Regierung die „Einwurzelungspolitik“ durchgeführt, die die Aufwertung der Nationen und die Nationsbildung zum Ziel hatte. Das Weißrussische wurde zur Staatssprache und sollte in allen Lebensbereichen – offiziellen und privaten – durchgesetzt werden. Es wurden weißrussische Schulen geöffnet, Lehrbücher und literarische Werke auf Weißrussisch geschrieben. Im Bereich der Sprachpflege versuchte man Polonismen und Russismen durch weißrussische Äquivalente zu ersetzen. Laut Metschkowskaja waren die Weißrussifizierungspläne zu dieser Zeit ziemlich realistisch, denn für den größten Teil der Bevölkerung der überwiegend agrarwirtschaftlichen Belorussischen Sozialistischen Sowjetrepublik (BSSR) war Weißrussisch die Muttersprache. Im Zuge des Kampfes der sowjetischen Regierung gegen Separatismus und national-demokratische Konterrevolution wurde die Weißrussifizierung Anfang der dreißiger Jahre grob unterbunden und die wichtigsten Akteure Repressionen unterworfen. Die von Stalin initiierte Russifizierungspolitik in den Nationalrepubliken wurde in den fünfziger Jahren von seinem Nachfolger Chruschtschow verstärkt fortgesetzt: In der BSSR wurden weißrussische Schulen geschlossen, alle Hochschulen auf Russisch umgestellt, die weißrussische Sprache verspottet und ausgelacht. Auch der eigentliche Träger der Sprache – das Bauerntum – begann sich in der sowjetischen Zeit langsam aufzulösen: Infolge sehr intensiver Urbanisierungsprozesse in der BSSR wurde es zu einer halbstädtischen Zwischenschicht, die ihrerseits eine russisch-weißrussische „Mischsprache“ (trasjanka) entwickelte. Somit rückte das eigentlich „weißrussische Wort“ weiter in die Vergangenheit. Die DeWeißrussifizierung von Sprache und Gesellschaft in Weißrussland hielt bis zum Ende der achtziger Jahre an. Zwar war das Weißrussische nicht komplett aus allen Lebensbereichen verschwunden, aber es war für seine Spre-
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Mečkovskaja, Nina: Belorusskij jazyk: Sociolingvističeskie očerki, München: Sagner Verlag 2003, S. 25-26.
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cher sehr wenig präsent. Die Sprache existierte „am Rande“, als Symbol oder als eine Erinnerung an etwas, was man eigentlich bereits vergessen hatte. Diese unaufdringliche Existenz der weißrussischen Sprache hat niemanden gestört, nicht mal die russischsprachigen Einwohner des Landes. Denn man konnte der Sprache bei Wunsch jederzeit „entkommen“. In den Schulen beispielsweise bestand die Möglichkeit, sich vom Weißrussischunterricht zu „befreien“. Als Grundlage für eine Befreiung konnte vieles gelten: die nicht-weißrussische Herkunft eines Elternteils oder ein schlechter Gesundheitszustand; so war beispielsweise eine Bescheinigung über Kurzsichtigkeit ausreichend. Man hatte dann Erbarmen und das Kind wurde nicht mehr mit dem Weißrussischen „belästigt“. Man konnte eine Befreiung auch ohne „schwerwiegende“ Gründe beantragen. Solche Anträge wurden in der Regel bewilligt. Die „Befreiten“ galten unter den Mitschülern als privilegiert und wurden sogar richtig beneidet, weil sie nicht zum Unterricht mussten. Und das obwohl die Anderen nicht viel Mehraufwand aufzubringen hatten: Es gab ja nur vier Stunden Weißrussischunterricht pro Woche, zwei Stunden Sprachunterricht und zwei Stunden zur weißrussischen Literatur. Der Schulunterricht generell wurde auf Russisch abgehalten. Die Sprache im Fernsehen (in allen vier Kanälen) war auch überwiegend Russisch. Es gab selbstverständlich auch einen nationalen Sender, der als weißrussisch galt, weil er den Namen BT (Belorusskoe Televidenie) trug und Zwischenmoderation und Nachrichten auf Weißrussisch liefen. Die Filme und Sendungen selbst waren jedoch auf Russisch. In der Mittagszeit gab es immer lange Sendepausen. Es entstand also der Eindruck, man habe nicht viel verloren, wenn man den Kanal nicht einschaltete. Dennoch hatte man als Kind immer genau auf die Uhr geschaut, um das Kinderabendprogramm Kalychanka („Wiegenlied“) nicht zu verpassen. Zwar waren die im Programm obligatorischen Zeichentrickfilme meistens irgendwie langweiliger als bei den russischen Sendern, aber das weißrussische Schlaflied im Anschluss daran war etwas ganz Besonderes: Eine Freundin von mir, längst in Deutschland wohnhaft, singt es jeden Abend ihrer kleinen Tochter vor. Die Situation im Rundfunk war ähnlich. Ein Standardradiogerät hatte in der Regel nur einen Kanal „zur Auswahl“, der logischerweise hauptsächlich auf Russisch sendete. Am Abend gab es jedoch immer ein paar Stunden für weißrussischsprachige Programme, die vornehmlich Kultursendungen mit Heimatthematik präsentierten und weißrussische Lieder spielten. Aktuelle politische und soziale Themen wurden hier nicht behandelt, aber das Zuhören war angenehm und gemütlich: Die Lieder waren schön, die Sprache der Moderatoren weich und beruhigend. Von weißrussischen Printmedien kann ich mich nur an die lokale Zeitung Wizebski rabotschy (Vicebski rabočy/„Wizebsker Arbeiter“) erinnern. Es war eine der vier oder fünf in unserer Familie abonnierten Zeitungen, die sonst alle in russischer Sprache veröffentlicht wurden. Interessant war die Zeitung nicht, aber man hatte sie im Haus, weil das Abonnieren bestimmter Titel zum Teil eine Pflicht und
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zum Teil eine feste Gewohnheit war. Und es gab dort das Fernsehprogramm – also wurde eine schlechte Papier- und Druckqualität in Kauf genommen. Das waren im Großen und Ganzen die wichtigsten Schnittstellen, bei denen man mit der weißrussischen Sprache in Kontakt kam. Die Bedingungen für die Entwicklung und Bewahrung einer aktiven muttersprachlichen Kompetenz waren also nicht sehr günstig. Die jahrzehntelange Russifizierung hatte zur Folge, dass die weißrussische Sprache ihre Funktion als Kommunikationsmittel fast vollständig verloren hat. Nicht zuletzt aus diesem Grund waren die Bemühungen um eine erneute Weißrussifizierung am Anfang der neunziger Jahre nicht erfolgreich. Nach dem Zerfall der Sowjetunion und der Unabhängigkeitserklärung der Republiken wurde nämlich der Status der weißrussischen Nationalsprache zu einem wichtigen Thema in der Öffentlichkeit. Weißrussisch wurde 1990 zur einzigen Staatssprache erklärt und in vielen Schulen zur Unterrichtssprache gemacht. Der gesamte sprachliche Bereich im Verwaltungsapparat und das Bildungswesen sollten auf Weißrussisch umgestellt werden. Der unerwartete Übergang zu einer anderen Sprache wurde von vielen als unnatürliches Eindringen in das eigene Sprachleben empfunden, denn man musste sich auf einmal mit der Sprache auseinandersetzen, die keiner zuvor ernst genommen hatte. Dazu war man nicht bereit und so stimmte man in einem Referendum im Jahre 1995 zu 88,3 Prozent für die „Gleichbehandlung der weißrussischen und russischen Sprachen“. Die prorussische Regierung hat es als eine Abstimmung für das Russische als zweite Staatssprache interpretiert. Als Ergebnis herrscht heute in Weißrussland offiziell die Zweisprachigkeit vor. Für das Weißrussische bedeutet dies erneut eine Niederlage, denn eine objektive Dominanz des Russischen in allen Lebensbereichen ist unumstritten. Außerdem kommt noch erschwerend hinzu, dass die aktuelle Staatspolitik und die damit verbundene Sprachpolitik in der Republik Belarus es darauf absehen, die weißrussische Sprache immer weiter aus dem gesellschaftlichen Gebrauch zu verdrängen und sie als Verkörperung einer oppositionellen staatsfeindlichen Haltung zu markieren.
3. M ODERNES W EISSRUSSISCH
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Die offizielle Zweisprachigkeit sieht eine parallele Verwendung beider Sprachen in allen gesellschaftlichen Bereichen vor. Diese Parallelität ist heute in Weißrussland zwar gegeben, jedoch zeichnet sie sich durch eine starke Asymmetrie zugunsten des Russischen aus. Eine breite öffentliche Präsenz des Weißrussischen lässt sich indes nicht abstreiten. Die in diesem Zusammenhang oft erwähnten Straßenschilder sind beispielsweise fast ausschließlich auf Weißrussisch verfasst genauso wie die meisten Beschriftungen von staatlichen Institutionen und Geschäften, Waren- und Preisschildern. Bemerkenswert im Sinne der parallelen Sprachverwendung ist jedoch,
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dass es sich hier um vorgeschriebene beziehungsweise vorgedruckte Elemente handelt. Würde man etwa zusätzliche Informationen auf einem Warenschild notieren wollen, so wird dies sofort zu einem schriftlichen Muster der weißrussisch-russischen Zweisprachigkeit. Keine seltene Erscheinung ist es auch, wenn z.B. gleich unter dem weißrussischen Namen eines Ladens seine Öffnungszeiten auf Russisch bekannt gegeben werden. Die parallele Existenz geht manchmal so weit, dass ein Zeitungstitel auf Weißrussisch und der Untertitel auf Russisch geschrieben werden. Dass in den weißrussischsprachigen Druckmedien Artikel in zwei unterschiedlichen Sprachen nebeneinander stehen, ist fast zu einer Regel geworden und fällt niemandem auf. Es kommt auch oft vor, dass in solchen Zeitungen nur der Zeitungstitel und eventuell die Titel von Kolumnen auf Weißrussisch sind. Die Wahl der Sprache einzelner Artikel liegt bei den Journalisten selbst und ist manchmal willkürlich, doch lassen sich einige Tendenzen der Sprachpräferenz ermitteln. Die überregionalen Medien verwenden Russisch häufiger als die gebiets- oder regionalbezogenen. Beiträge mit einer regional-kulturellen Thematik werden häufiger auf Weißrussisch verfasst, Themen wie Politik, Technik und Wirtschaft dagegen auf Russisch behandelt. Anzumerken ist, dass Bereiche wie Werbung und private Anzeigen, bei denen man auf eine Reaktion des Lesers angewiesen ist, sich ausschließlich des Russischen bedienen. Akustisch macht sich das Weißrussische im Fernsehen, Radio und durch Ansagen in den öffentlichen Verkehrsmitteln präsent. In den Ansagen werden übrigens nicht nur wie üblich Haltestellen bekannt gegeben, sondern auch kleine „Predigten“ gehalten: Man solle nicht vergessen die Fahrt zu bezahlen, auf die eigenen Sachen aufzupassen, älteren Menschen, Kindern und schwangeren Frauen Sitzplätze freizumachen und generell zu Mitmenschen höflich zu sein. Im Bereich des Fernsehens hat sich im Vergleich zu den achtziger Jahren nicht viel verändert, außer dass es nun statt einem zwei weißrussische Kanäle gibt. Interessant ist die Sprachverwendung im Radio. Ihre Monologe führen die Moderatoren der weißrussischen Sender in einem ziemlich guten Weißrussisch. Dialoge mit Gästen oder Zuhörern gestalten sich jedoch spontan nach dem Schema Weißrussisch (Moderator) – Russisch (Gast) oder gleich Russisch-Russisch. Die Sprache der Lieder ist seit einigen Jahren ein brennendes Diskussionsthema in Weißrussland. Die Musik ist einer der dankbarsten Kontexte, in denen die Popularität einer Sprache gesteigert werden kann. Einige Musikgruppen, die sich kritisch artikulieren und vom Staat in den Untergrund gedrängt werden, favorisieren daher in ihren Text das Weißrussische. Die Radiosender in Weißrussland wurden im Januar 2005 zur Ausstrahlung von mindestens 75 Prozent weißrussischer Musik während der ganzen Sendezeit gesetzlich verpflichtet (seit September 2008 – nur während der Primetime: 7-10 Uhr, 12-15 Uhr und 19-22 Uhr). Diese Regelung gibt vor, die besten Absichten im Sinne der Förderung der weißrussischen Sprache zu verfolgen, zumal es bereits ähnliche Gesetze in Frankreich und Polen gibt. Der geforderte Prozentsatz ist jedoch eindeutig
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zu hoch angesetzt, da das weißrussischsprachige Repertoire an moderner Musik noch relativ begrenzt und überschaubar ist. Ihren mangelnden Willen, weißrussische Musik zu produzieren, begründen viele Künstler damit, dass die weißrussische Sprache nicht das richtige Format besitze, um bei einem breiten Publikum anzukommen. Darüber hinaus mache man sich angreifbar, denn beim Verfassen der Liedtexte und Singen auf Weißrussisch werden den Künstlern und Musikern Hintergedanken unterstellt, z.B. der Wunsch aufzufallen, Skandalisierungsabsicht oder gar Ausdruck einer oppositionellen Haltung, weil das Weißrussische von einigen Musikgruppen, die sich kritisch artikulieren und vom Staat in den Untergrund gedrängt werden, in ihren Texten favorisiert wird. Ungeachtet all dessen werde, wie bereits der russische Schriftsteller Michail E. Saltykow-Schtschedrin feststellte, die Dummheit der Gesetze durch die Nachlässigkeit ihrer Ausführung kompensiert. So werden in die Radioprogramme hauptsächlich Titel ausländischer Autoren und Sänger aufgenommen, die irgendwann einmal Bezug zu Weißrussland hatten. Die Musikqualität als Auswahlkriterium wird also an den Rand gestellt. Die dem Gesetz folgenden Bemühungen der Radiosender um eine maximale Präsenz der weißrussischen Musik führen dazu, dass häufig weniger anspruchsvolle Titel aufgelegt und mehrmals wiederholt werden, was nicht gerade der Popularitätssteigerung des Weißrussischen dient, sondern eher zu seiner weiteren Diskreditierung beiträgt. Eine beständige Domäne der weißrussischen Sprache ist schon immer das Theater gewesen: Alle Aufführungen des nationalen Theaters laufen in der Nationalsprache. Die Loyalität der Regierung gegenüber dem Weißrussischen könnte in diesem Fall durch die Politikferne, eine im Vergleich zum Fernsehen und Radio relativ geringe Wirkungsbreite und gleichzeitig einem großen repräsentativen Gewicht dieses kulturellen Bereiches begründet sein, so dass am Beispiel des Theaters die Sorge um die Nationalsprache gut zur Schau gestellt werden kann. Die weißrussische Sprache ist also durchaus hörbar und sichtbar. Sie ist aber nicht lebendig, nicht spontan, nicht „dialogisch“. Bereits der erste Blick in die Sprachverteilung in Weißrussland lässt die Annahme zu, dass das Weißrussische eine eher „monologische“, nominative (Benennungs-, Beschriftungs-)Funktion besitzt. Sobald es um Übermittlung kommunikativ bedeutender Inhalte geht, wird zum Russischen gewechselt. Diese „dialogische Unfähigkeit“ des Weißrussischen resultiert aus der jahrzehntelangen Verdrängung der Sprache aus der Alltagskommunikation durch das prestigehafte Russisch. In der Familie, unter Freunden und Kollegen, in öffentlichen Einrichtungen wird entweder Russisch oder die Trasjanka gesprochen. Bei der älteren Generation kommt das Weißrussische unter anderem bei einem emotionellen Sprachgebrauch durchaus vor. Das spricht über eine noch relativ gute Abrufbarkeit der Sprache aus dem passiven sprachlichen Bestand. Bei den jüngeren Menschen ist die aktive Sprachbeherrschung bereits weniger gut vorhanden. Die Ignorierung der weißrussischen Sprache seitens der Sprechergemeinschaft ist aber in Weißrussland nicht nur eine Frage der sprachlichen
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Kompetenz, sondern auch des Prestiges, des sozialen Wohlbefindens und der Pragmatik. Das Sprechen auf Russisch wird subjektiv mit der Kultiviertheit und Bildung des Sprechers assoziiert und als neutral wahrgenommen. Diese Sprache dient dem Ausdruck kommunikativer Absichten und erfüllt somit die wichtigste Funktion einer Sprache. Die Verwendung des Weißrussischen in der normalen Alltagssituation ist dagegen markiert, sie wird von den meisten als unnatürlich empfunden und bringt einen metasprachlichen oder ironischen Kontext mit sich. Wenn die sprachbezogene Frage „Warum sprichst du kein Weißrussisch?“ auf Weißrussisch noch als durchaus annehmbar aufgenommen wird, so würde man auf die „normale“ auf Weißrussisch gestellte Frage wie: „Was machst du heute Abend?“ anstatt einer Antwort eher ein verwundertes „Warum fragst du jetzt auf Weißrussisch?“ bekommen. Der kommunikative Akt im eigentlichen Sinne wäre hier nicht zustande gekommen, da das ursprüngliche Kommunikationsziel nicht erreicht wurde. Der sporadische Gebrauch des Weißrussischen ist also für den Verlauf der zwischenmenschlichen Kommunikation nicht förderlich. Der konsequente Gebrauch des Weißrussischen kann wiederum zur Brandmarkung des Sprechers als einer schrägen, komischen, auffallen wollenden Person führen, was hierzulande als ziemlich „uncool“ gilt. Nicht jeder kann den Mut aufbringen, sich in einem solch meist noch ironischen Kontext in den Vordergrund zu stellen. Außerdem können dem Sprecher sehr schnell oppositionelle Absichten unterstellt werden.
4. O BJEKTIVE F AKTOREN
DER
„S PRACHLOSIGKEIT “
Für die benachteiligte Position des Weißrussischen sind nicht nur ungünstige geschichtliche Wechselwirkungen und die russifizierende Sprachpolitik, sondern auch einige objektive Faktoren verantwortlich. Eine wichtige Rolle im Schicksal der weißrussischen Sprache hat das Gesetz der sprachlichen Konkurrenz gespielt, das objektiv im Rahmen einer Zweisprachigkeit gilt. Die Konkurrenzfähigkeit der Sprache hängt nicht zuletzt von ihren inneren Möglichkeiten ab. So ist die literarische Tradition der „neuen“ weißrussischen Sprache der russischen Literatur zugegebenermaßen unterlegen. Dies liegt an einer sehr gut entwickelten stilistischen Differenziertheit des Russischen. Das Weißrussische, welches lange Zeit nur für die ländliche Alltagskommunikation verwendet wurde, weist dagegen bedeutend weniger stilistische Möglichkeiten auf. In diesem Kontext ist auch die lautliche, strukturelle und lexikalische Ähnlichkeit der beiden Sprachen für die Etablierung des Weißrussischen als Standardsprache nicht vorteilhaft, weil das Fehlen einer sprachlichen Barriere einen sehr leichten Übergang zum Russischen möglich macht. Die Tatsache, dass das Weißrussische heute zu einer bedrohten Sprache zählt, wird nicht zuletzt mit einem schwach ausgeprägten Nationalbewusstsein der Weißrussen in Verbindung gebracht, die ihrerseits den ethnischen
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Unterschieden eigentlich keine große Bedeutung geben und sich selbst einfach als „Hiesige“ (tytėjšyja) wahrnehmen. Als Einwohner eines Transitlandes mit ständigen politischen und strukturellen Grenzverschiebungen haben die Weißrussen eine gewisse Assimilationsbereitschaft und Sprachentoleranz entwickelt, indem es für sie keine großen Probleme bereitete, sich die Umgebungssprachen anzueignen, was ihnen größere soziale Mobilität ermöglicht hatte. Vor dem Hintergrund des Gesagten wäre es jedoch falsch, nicht zu erwähnen, dass es doch einige Bevölkerungsgruppen gibt, die die weißrussische Sprache aktiv beherrschen und in der täglichen Kommunikation verwenden. Neben den in diesem Zusammenhang traditionell genannten Dozenten der Institute für Weißrussistik sind es mittlerweile auch junge Leute, Studenten und Hochschulabsolventen, die „auf einmal“ anfangen, weißrussisch zu sprechen. Sie vertreten die Ansicht, das Weißrussische habe einen elitären Charakter, das Sprechen auf Weißrussisch sei „cool“ und „elegant“, weil man dadurch implizit zum Ausdruck bringt, dass man die eigene Geschichte kennt und sich ihrer Problematik bewusst ist. Es ist zwar unklar, ob diese Tendenz lange anhalten wird, zumal diese Gruppen relativ klein sind und der Idealismus in der Regel dem Pragmatismus unterlegen ist. Ein kleiner Grund zum Optimismus ist sie aber auf jeden Fall.
5. Z USAMMENFASSUNG Zur heutigen dramatischen Lage der weißrussischen Sprache hat das Zusammenspiel einer ganzen Reihe objektiver und subjektiver Faktoren beigetragen. Als Resultat stellt die Sprache heute mehr ein Symbol als ein Kommunikationsmittel dar. Dementsprechend ist auch die Funktion der Sprache eher repräsentativ als kommunikativ. Die staatliche Sprachpolitik trägt auch nicht gerade dazu bei, dass die Nationalsprache in der aktiven Verwendung der Bevölkerung eine Wiederbelebung und Entfaltung findet. Jedoch kann eine Sprache nur dann langfristig am Leben erhalten und weiterentwickelt werden, wenn sie polyvalent ist, also in allen Sphären des gesellschaftlichen Lebens verwendet wird, vor allem im Bereich der alltäglichen Kommunikation. Wie man gesehen hat, ist dies bei der weißrussischen Sprache nicht der Fall. Fragt man einen Weißrussen, warum er seine Muttersprache nicht spricht, ist mit der mittlerweile berechtigten Gegenfrage „Wozu?“ zu rechnen. Und hier kommt mir leider keine bessere Antwort in den Sinn, als die Worte von Franzischak Bahusewitsch: „Um nicht zu sterben!“ Für manche kann dieses Argument erschöpfend sein, für andere jedoch nicht …
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L ITERATUR Basova, Anna: Deutsch-Weißrussischer Sprachführer. Band 1: Grammatik. Gesprächsbuch. Band 2: Wörterbücher, Jena: Institut für Slawistik 2003. Heyl, Sonja: Lehrbuch der weißrussischen Sprache, Berlin: Buske Verlag 2007. Hurtig, Claudia/Ramza, Taccjana: Belarussische Grammatik in Tabellen und Übungen, München: Sagner Verlag 2003. Kur’janka, Mikalaj (Hg.): Njamecka-belaruski sloŭnik: bol'š za 50000 slovaŭ. Deutsch-belarussisches Wörterbuch: über 50000 Wörter, Minsk: Kolas 2006 Kur’janka, Mikalaj/Barščėŭski, Ljavon/Weiler, Thomas (Hg.): Belaruskanjamecki sloŭnik. Belarussisch-deutsches Wörterbuch. Bolʼš za 70 tysjač sloŭ i vyrazaŭ. Über 70000 Stichwörter und Wendungen, Minsk: Kolas 2010. Scharlaj, Marina: Das Weißrussische zwischen Sprachkontakt und Sprachverdrängung, München: Sagner Verlag 2008.
Quo vadis, Weißrussisch? Entwicklungslinien einer (Standard-)Sprache S USANNE G OLZ
Für Muttersprachler des Deutschen oder anderer „großer“ Sprachen ist die Entwicklung des Weißrussischen, einer „kleinen“, bis heute nicht voll etablierten Standard- und Staatssprache in Europa, ein nicht einfach zu überschauendes (Spannungs-)Feld. Oft wird gefragt: Ist das Weißrussische überhaupt eine eigene Sprache, ist es nicht ein Dialekt des Russischen? Dies legt schon die Bezeichnung nahe, als ob es russische Dialekte in verschiedenen Farbtönen gäbe – weiß, grün, blau. Nein, dem ist nicht so. Weißrussisch ist neben Russisch die Staatssprache der Republik Belarus und somit per definitionem (und nichts anderes trennt Dialekte von Sprachen) eine eigenständige Sprache. Erst seit 1918 existiert tatsächlich eine Republik mit diesem Namensbestandteil, und diese umfasste zu verschiedenen Zeiten unterschiedliche Territorien und Staatsgebilde. Wie in ganz Osteuropa entfaltete das Herdersche Konzept, in dem Sprache gleich Nation gesetzt wird, im 19. Jahrhundert auch in der hier betrachteten Region große Wirkungsmacht. Die Entwicklung der weißrussischen Standardsprache muss daher im Kontext der weißrussischen Nationalentwicklung gesehen werden, für die wiederum die Bemühungen um eine Sprache, die Abgrenzung schaffte, von großer Bedeutung war.1
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Bei der Sprachbezeichung wird der besseren Verständlichkeit halber der Begriff „weißrussisch“ verwendet, weil sich andere Varianten wie „belarusisch“ oder „weißrusisch“, die korrekt und konsequent wären, sich bisher nicht etablieren konnten.
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1. S PRACHE UND N ATIONSBILDUNG IN W EISSRUSSLAND Für das Konzept einer weißrussischen nationalen Identität war die Sprache immer zentral. Als ein wesentlicher Faktor der Identitätsstiftung wurde und wird sie meist zur Abgrenzung von etwas „Anderem“ benutzt und dementsprechend ausgebaut. Auf Konferenzen ist immer wieder von weißrussischen Teilnehmern zu Beginn ihrer Statements zu hören, dass sie sich bemühen werden, russisch zu sprechen, sich für Fehler vorab entschuldigen und dann aber ohne offensichtliche Probleme einen Vortrag auf Russisch halten. Dies ist weniger Koketterie als ein Aspekt der symbolischen Funktion von Sprache. Es ist gerade Angehörigen der nationalbewussten Intelligenzija ein großes Anliegen, Weißrussisch als eine polyvalente, das heißt in allen Kommunikationssphären von Alltagsunterhaltung bis zu wissenschaftlichen Texten verwendete, Sprache zu gebrauchen. Diese oft auch politisierte Verwendung der weißrussischen Sprache hat ihre Wurzeln in der weißrussischen Sprachgeschichte. Belarus wurde und wird immer wieder als Region mit Mangelgeschichte, als Negativbeispiel der Transformation in Osteuropa, als Land und historischer Raum mit Defiziten, Lücken, verspäteten und nicht abgeschlossenen Prozessen dargestellt. Diese Ansichten sagen mehr über den Standpunkt der Betrachter aus als über die Situation, die sie beschreiben. Ebenso deutlich wird, dass Kategorien nur wenig hilfreich sind, wenn diesbezügliche Orientierungen zur Beschreibung von Fehlstellen führen. Für die Sprachgeschichte des Weißrussischen kommt erschwerend hinzu, dass viele – auch und gerade linguistische Arbeiten – nicht frei von nationalistischen ReKonstruktionen im Sinne einer „Invention of Tradition“ (Eric Hobsbawn, Terence Renger) sind. Folgender Abriss der weißrussischen Sprachentwicklung mit Schwerpunkt auf den Standardisierungsprozessen soll helfen, in diesem weit verzweigten Feld einen gewissen Überblick zu bewahren. Dabei sollen die Entwicklungen seit Ende des 19. Jahrhunderts bis heute im Zentrum der Darstellung stehen und die vorangegangenen Phasen nur kurz skizziert werden. Zur besseren Illustrierung der komplexen sprachlichen Situation im historischen Gebiet Belarus samt Ostmitteleuropas soll folgende Anekdote dienen. Ein britischer Beobachter berichtete im Mai 1918 an das Foreign Office: Wenn man einen gewöhnlichen Bauern in der Ukraine nach seiner Nationalität frage, würde er antworten: „Griechisch-Orthodox“; dringe man in ihn, ob er denn ein Großrusse, Pole oder Ukrainer sei, würde er wahrscheinlich erwidern, er sei „ein Bauer“; gebe man sich damit immer noch nicht zufrieden und erkundige sich nach seiner Sprache, so würde er erklären, dass er rede, wie man hier im Ort eben spreche; und wollte man schließlich von ihm wissen, zu welchem Staat er gehören möchte, welche Regierung er sich wünsche, so würde man vermutlich erfahren, dass alle Regie-
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rungen eine „Plage“ seien und man das „christliche Volk der Bauern“ am besten sich selbst überlassen sollte.2 Ganz ähnliches wird von Bauern, die einen weißrussischen Dialekt sprachen, noch Ende der zwanziger Jahre berichtet: Als statistische Erhebungsbeamte von ihnen wissen wollten, was sie seien, antworteten sie zu Zehntausenden: „Hiesige“ (tutėjšija). Vom Mittelalter bis ins 17. Jahrhundert hinein war Weißrussisch oder besser Ruthenisch ein Kommunikationsmittel der Eliten und Kanzleisprache des Großfürstentums Litauen. Die Bezeichnungen dieser Kanzleisprache variieren, sie wird auch als Altweißrussisch, Altkirchenslawisch ostslawischer Redaktion oder prosta mova (einfache Sprache) bezeichnet. Im Laufe der Unionen des Großfürstentums Litauen mit dem Königreich Polen verlor sie an Bedeutung und die schriftsprachliche Tradition brach nach dem Verbot als Kanzleisprache 1696 praktisch ab. Mit der zunehmenden Polonisierung der bildungstragenden Schichten blieb das Weißrussische nur in der mündlichen Kommunikation erhalten. Im 19. Jahrhundert galt es lediglich als Bauernsprache. Höhere Bildung war nur auf polnisch oder russisch (oder in anderen Sprachen und Ländern) zu erwerben. Für die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts kann man sich die sprachliche Situation etwa folgendermaßen vorstellen: Die Bauern zwischen Smolensk und Grodno (wruss. Hrodna) sprachen Weißrussisch, die Händler Jiddisch, die Bürger in den Städten Polnisch, die Obrigkeit Polnisch oder Russisch. Zu beachten ist dabei, dass wir uns im Dialektkontinuum der Slavia bewegen, dessen Übergänge fließend sind. Je nach Region war die Sprache der Bauern auch Litauisch, Ukrainisch, Tatarisch oder das Russisch der Altgläubigen. Diese Vielfalt in Sprache und Kultur war bis zum Zweiten Weltkrieg prägend für das Europa östlich der Weichsel. Das „nationale Erwachen“ setzte bei den Weißrussen erst um 1890 ein. Im Vordergrund dieser Bewegung standen sprachlich-kulturelle Forderungen der Bildungselite. Der nationale Diskurs beschränkte sich auf die weißrussische Intelligenzija, weshalb man auch von Gelehrtennationalismus spricht. Der Kodifizierung der Sprache kam in diesem Zusammenhang eine wichtige Rolle bei der Konstruktion der „imagined community“ zu. Eine neue Schriftsprache zu schaffen wurde zu einer ideologischen Mission und führte dazu, dass die Sprache neben ihrer kommunikativen Funktion zum Symbol für nationale Identität und kulturelle Unabhängigkeit wurde. Dies geschah aber vergleichsweise spät, was auch ein Grund für die heutige Mischsituation ist.
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Altrichter, Helmut: Russland 1917: Ein Land auf der Suche nach sich selbst, Paderborn: Schöningh Verlag 1997, S. 479.
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2. D AS W EISSRUSSISCHE AUF DEM W EG ZUR S TANDARDSPRACHE Standardsprachen sind sprachpolitisch geschaffene Gebilde. Meist konzentrieren sich die Definitionen auf das Schöpferkriterium, das heißt auf Institutionen und Materialien, die eine Sprache standardisieren. Dies manifestiert sich in erster Linie in der Erstellung von Grammatiken, Wörterbüchern, Lexika, Schul- und Lehrbüchern, die den Gebrauch der Standardsprache definieren und vermitteln. Neben dieser Schöpferinstanz, die die Sprache setzt und bekräftigt, muss die Sprache von der Gemeinschaft, für die sie gedacht ist, auch verwendet werden, um nur zwei minimale Bedingungen für Standardsprachlichkeit zu nennen. Nach einer Pause von 150 Jahren seit Abbruch einer weißrussischen Schrifttradition wurde das Weißrussische im 19. Jahrhundert wieder in der Literatur verwendet. Im romantischen Geiste sammelten Studenten und junge Schriftsteller der Wilnaer Universität seit Mitte des 19. Jahrhunderts Gedichte, Lieder und Märchen und brachten sie zu Papier und in Druck. Druckerzeugnisse erschienen damals sowohl in Latinica oder Lazinka (lacinka) als auch Kyrillica. Die Alphabete enthalten dieselben Buchstaben, jedoch (ähnlich dem Serbischen und Kroatischen) einmal auf Basis des lateinischen und einmal des kyrillischen Alphabets. Die Korrelation mit der katholischen und orthodoxen Religion ist nicht eindeutig, wenngleich bis heute die Latinica-Variante des Weißrussischen eher der katholischen oder stärker an Polen orientierten Bevölkerung zugeordnet wird. In der Vergangenheit mag es auch schlicht technische Gründe für die Verwendung des einen oder anderen Alphabets gegeben haben. Nach dem polnischen Aufstand 1863/64 verstärkte sich der Russifizierungsdruck wieder. Schon seit 1859 durften weißrussische Texte in „polnischer Schrift“ oder „lateinischer Schrift“ nicht mehr gedruckt werden. Nach der russischen Revolution von 1905 durfte die weißrussische Sprache in kyrillischem Alphabet wieder im Druck verwendet werden. Den Schulen blieb die Sprache aber nach wie vor versperrt. Erst 1916 wurde Weißrussisch von den deutschen Besatzern mit klarer politischer Zielsetzung als Schulsprache an den Grundschulen eingeführt. Das erste weißrussische Gymnasium wurde 1921 gegründet, seit dem gleichen Jahr existiert eine weißrussische Hochschule. Die Vermittlung der weißrussischen Standardsprache in der Schule als überdachendes Idiom der weißrussischen Dialekte markiert den Beginn der Deskription, Präskription und Elaboration der Standardsprache. 1916 schrieb Anton Luzkewitsch die erste Grammatik, die aber nicht im Druck erschien. Gleichzeitig formierte sich endgültig eine politische und kulturelle Elite, die später sowohl in der Belorussischen Sozialistischen Sowjetrepublik (BSSR) als auch in den 1920 Polen zugeschlagenen Gebieten (seit 1922 auch das Wilnaer Gebiet) für die Etablierung der weißrussischen Schriftsprache als Idiom der öffentlichen Kommunikation eintrat. 1918 erschien
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die Grammatik des Sprachwissenschaftlers Branislau Taraschkewitsch, zuerst in Lazinka, kurz darauf in Kyrillica. Sie basiert auf den Dialekten um Wilna (lit. Vilnius). Taraschkewiza war die Bezeichnung für die von Taraschkewitsch festgelegte Orthographie, sie wurde aber im Laufe der Zeit ein Begriff für alle Normierungen dieser Zeit. In der BSSR begann 1924 die Politik der „Einwurzelung“ (korenizacija) oder „Weißrussifizierung“ (belarusizacyja). Weißrussisch sollte als primäres Kommunikationsmittel durchgesetzt werden. Die Minderheitensprachen (die ja manchmal auch die Sprache der Mehrheit waren, wie in den jüdisch dominierten Kleinstädten) erhielten umfassenden Schutz. Auf Beschluss der Ersten Orthographischen Konferenz in Minsk wurden ab 1926 terminologische Wörterbücher erarbeitet. Jedoch erfolgte schon drei Jahre später ein Umschwung in der Sprachpolitik. Diese Tendenz zur Russifizierung schlug sich auch in der Status- und Korpusplanung nieder. 1933 wurde die „Rechtschreibung des Volkskommissariats“ – Narkomauka (abgeleitete Abkürzung von Narodnyj Kamissariat – Volkskommissariat und mova – Sprache) als neue Kodifizierung eingeführt. Sie basierte in der Lexik auf den Dialekten um Minsk, unter anderem wurde die Palatalisierungsassimilation der Konsonanten nicht mehr gekennzeichnet, Internationalismen wurden nach sowjetischem Vorbild geschrieben. Mit gewissen Korrekturen aus dem Jahre 1957 ist diese Rechtschreibung auch heute gültig. Im Zweiten Weltkrieg wurde die „klassische“ Taraschkewiza unter der deutschen Besatzungsmacht in Zeitungen und Schulen verwendet. Dadurch war sie nach dem Kriege völlig diskreditiert und bis heute ist dies ein starkes Gegenargument gegen die Wiedereinführung der Taraschkewiza. Nach 1944 wurde in den ehemals polnischen Gebieten der BSSR das Russische offen bevorzugt. Einen gewissen Aufschwung nahm das Weißrussische in den fünfziger Jahren als 1957 einige Vorschriften der Narkomauka beseitigt wurden. Der Genitiv von komunizm und socializm lautete wieder auf –u und nicht nach russischem Muster auf –a, saveckij wurde wieder den Regeln entsprechend mit Akanje (orthographische Umsetzung des reduzierten o-Lautes durch a) geschrieben. Durch die starke Industrialisierung und Urbanisierung nach dem Krieg existierte Ende der siebziger Jahre Weißrussisch faktisch nicht mehr als Schulsprache in den Städten. Der weißrussische Sprachwissenschaftler Arnold Michnewitsch stellte 1982 fest, dass Weißrussisch nur noch in drei Funktionsbereichen gleichberechtigt neben dem Russischen Verwendung findet: in der Alltagskonversation, bei Reden anlässlich von Beerdigungen und von Festessen.3 Ende der achtziger Jahre wurde in verschiedenen Zeit-
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Bieder, Hermann: „Die erste und zweite Wiedergeburt der weißrussischen Sprache und Kultur. Weißrussisch, Russisch und Polnisch in Weißrußland unter dem Aspekt der Sprachpolitik und Sprachsoziologie“, in: Ursula Bieber, Alois Wold-
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schriften immer mehr Kritik an der Russifizierung laut. Im Zuge der Perestroika formierte sich Widerstand. 1989 gründete sich die Belarussische Nationale Front (BNF) und auch die Franzysk-Skaryna-Sprachgesellschaft. 1992 tagte eine Konferenz zu Problemen der weißrussischen Rechtschreibung, deren Vorschläge aber nicht umgesetzt wurden. Am 26. Januar 1990 trat das Gesetz über die Sprachen in der BSSR in Kraft, in dem als Staatssprache Weißrussisch festgelegt wurde. Damit begann die sogenannte „Zweite Weißrussifizierung“. Das Weißrussische nahm dadurch einen Aufschwung, aber die zu kurzen Fristen und die bürokratische Umsetzung bei der Umstellung riefen bei den Einwohnern Widerwillen hervor. Dieser äußerte sich in der Abstimmung über die Einführung des Russischen als zweite Staatssprache 1995. Es kam zur Zurückdrängung des Weißrussischen aus vielen Bereichen und dem Abbruch einer Sprachpolitik, deren Ziel der Ausbau des Weißrussischen zu einer polyfunktionalen Standardsprache war.
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HEUTIGEN SPRACHLICHEN
S ITUATION
Die heutige sprachliche Situation erscheint zunächst paradox: bei der Volkszählung 1999 gaben von den 10 Millionen Einwohnern 85 Prozent an, dass Weißrussisch ihre Muttersprache sei, jedoch nur 41 Prozent von ihnen verwenden sie, wobei ein starkes Stadt-Land-Gefälle zu verzeichnen ist. Von den städtischen Bewohnern sprechen 19,8 Prozent zu Hause Weißrussisch, auf dem Lande sind es 74,7 Prozent.4 Insgesamt nennen etwa 62 Prozent Russisch ihre Heimsprache, wobei unklar ist, nach welchen Kriterien diese Selbstzuordnung stattfindet. An dieser Stelle wird deutlich, dass das Konzept „Muttersprache“ gleich dem der „Nation“ nicht natürlich und selbstverständlich ist, sondern fließend und kontextabhängig. Bilinguismus ist in der Republik Belarus nicht schichtenspezifisch oder regional, sondern eine gesamtnationale Erscheinung. Dennoch muss konstatiert werden, dass Russisch bis heute nicht nur Staatssprache, sondern auch Karrieresprache ist. Neben vielen außersprachlichen Faktoren gibt es auch einen ausschlaggebenden rein sprachlichen Grund dafür, dass sich das Weißrussische nicht als polyvalente Sprache durchsetzen konnte: Weißrussisch ist in Bezug auf das Russische oder Polnische keine intuitiv erfassbare Abstandsprache, die
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an (Hg.), Georg Mayer zum 60. Geburtstag, München: Sagner Verlag 1991, S. 405-451, hier S. 415 Daten nach Mečkovskaja, Nina B.: „Jazyk v roli ideologii: nacional’nosimvoličeskie funkcii jazyka v belorusskoj jazykovoj situacii“, in: Karl Gutschmidt (Hg.), Möglichkeiten und Grenzen der Standardisierung slavischer Schriftsprachen in der Gegenwart, Dresden: Thelem Verlag 2002, S. 123-141, hier S. 125.
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sich durch einen relativ großen, in Lexik, Phonetik und Syntax bestehenden „Abstand“ von diesen unterscheidet. Weder für Weißrussen noch für Polen, Russen oder Ukrainer ist der Abstand zwischen ihren Sprachen und dem Weißrussischen in der Umgangssprache auf Alltagsniveau stark kommunikationshemmend. Aus pragmatischen Gründen fällt die Wahl somit oft auf die Sprache des sozialen Aufstiegs, das Russische.
4. D IE
SYMBOLISCHE F UNKTION UNTERSCHIEDLICHER G RAPHIEN
Am Beispiel der beiden Kodifizierungen des weißrussischen Standards – Taraschkewiza und Narkomauka – lässt sich die semiotische Funktion unterschiedlicher Graphien und Sprachnormen erkennen. Ein Phänomen, das aktuell nicht nur in der Republik Belarus, sondern in starker Ausprägung auch in den Abgrenzungsbemühungen zwischen kroatischen und serbischen „Sprachpflegern“ zu finden ist. In Deutschland mag an das Beispiel einiger konservativ orientierter Zeitungen erinnert sein, die nach der Rechtschreibreform von 1996 die alte Orthographie weitgehend beibehielten. Die Symbolkraft von Graphien wird im deutschen Sprachraum durch die Fraktur belegt, die – obwohl von den Nationalsozialisten 1941 verboten – heute gerade für rechtskonservative bis rechtsradikale Gesinnung steht. Die Taraschkewiza wurde durch ihre Abschaffung 1933 und nicht zuletzt durch die Hinrichtung ihres Begründers 1938 zum Symbol für ein freies Weißrussland mit eigener Sprache und Nation. Von der Emigration wurde diese Sprachnorm fortwährend verwendet. Im heutigen Gebrauch ist die Taraschkewiza markiert, die Verwendung der Narkomauka dagegen neutral. Sprachkultivierung, insbesondere mit puristischen Zügen im Hinblick auf die russischen Bestandteile der Standardsprache, war potentiell immer politischen Verdächtigungen ausgesetzt, die insbesondere in den dreißiger Jahren für die Sprachpfleger tragische Folgen hatten. Noch zu Beginn der siebziger Jahre führten Versuche, die Eigenständigkeit des Weißrussischen gegenüber dem Russischen stärker zu profilieren, z. B. durch Vermeidung der buchsprachlichen, nach russischem Muster gebildeten Partizipien, zu „administrativen Konsequenzen“ – mit anderen Worten wurde „politische Korrektheit“ nicht nur verbal eingefordert. Aus diesen Gründen steht die Taraschkewiza heute nicht nur für die Überwindung der Russifizierung, sondern der gesamten sowjetischen Vergangenheit. Gleichzeitig wird mit der „Wiedergeburt des Weißrussischen“ staatliche Souveränität, Demokratie, Marktwirtschaft und Orientierung nach Westen assoziiert. Anfang der neunziger Jahre gab es einen Konflikt zwischen den Reformern (Anhänger der Taraschkewiza) und den Traditionalisten (Anhänger der Narkomauka). Diese nicht ganz logisch erscheinende Zuordnung von Tradition und Reform erklärt sich aus der komplizierten Vorgeschichte die-
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ser Sprachnormen und dem damaligen Status quo. Anzumerken bleibt, dass sich die beiden Varianten der weißrussischen Standardsprache in relativ gering distanzierten Merkmalen unterscheiden. Der Abstand wird vor allem durch Bedeutungszuweisung konstruiert, es handelt sich also um die semiotische Aufladung sprachlicher (Minimal-)Zeichen. So unterscheidet sich die Taraschkewiza von der Narkomauka unter anderem durch die häufigere Verwendung von Weichheitszeichen (das Graphem Ь) zur Kennzeichnung der Palatalisierung von Konsonanten. Diese Unterschiede sind nicht bedeutungskonstituierend oder gar kommunikationshemmend. Da sich die Taraschkewiza bis heute auf keine Lexika stützen kann, finden wir individuelle Normen bzw. Schreibweisen. Erst 2005 erschien eine Orthographie einer Autorengruppe, die jedoch keine normierende sprachpolitische Wirkung hat.5 Neueren Beobachtungen zufolge hat die Frage nach dem „richtigen“ Standard des Weißrussischen in den letzten Jahren an Brisanz verloren. Selbst die traditionsreiche Zeitung Nascha Niwa (Naša niva/„Unsere Flur“) – gerne als Flaggschiff der Wiedergeburtsbewegung gesehen, die immer in Taraschkewiza erschien, und die nach ihrer Neugründung 1991 auch Doppelausgaben in Latiniza herausgab, hat mittlerweile einen orthographisch gemischten Internetauftritt. Dies führt zu der Überlegung, dass sich das Hauptaugenmerk der oppositionellen Elite, die seit der Perestroika immer einen großen Teil ihrer Energie in die Sprachpflege und Thematisierung der sprachlichen Wiedergeburt legte, etwas verlagert hat. Den Slogan „Wenn das Weißrussische stirbt, stirbt das Volk“, wie er Anfang der neunziger Jahre noch zu hören war, findet man nicht mehr. Der Kampf für Demokratie und Menschenrechte, der bisher leider nicht von nachhaltigem Erfolg gekrönt war, hat möglicherweise zur Zurückstellung der einst zentralen Bemühungen um sprachliche Veränderung und zu einem eher pragmatischen Sprachgebrauch geführt. In der Praxis macht die Existenz von zwei schriftlichen Varietäten einer ohnehin an den Rand des Kommunikationsraums verdrängten Sprache diese eher unattraktiv für potentielle Sprachbenutzer. Die Herausbildung der weißrussischen Standardsprache begann erst zu einem Zeitpunkt, als die Eliten bereits über eine hoch entwickelte Standardsprache verfügten, nämlich das Russische, zum Teil auch das Polnische, die beide nahe Verwandte des Weißrussischen sind.
5. Z USAMMENFASSUNG Hat das Weißrussische (noch) eine Chance sich als eine polyvalente Sprache zu etablieren? Die Diskussionen in der Linguistik und in sprachpolitischen
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Belaruski klasyčny pravapis. Zbor pravilaŭ. Sučasnaja narmalizacyja. Siehe http//www.pravapis.org/pravapis2005.asp vom 15.5.2009.
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Debatten drehten sich bisher vor allem darum, ob nun das Russische das Weißrussische völlig verdrängen würde, oder ob durch gezielte Sprachpolitik das Weißrussische zu einer dominanten Sprache in der Republik Belarus ausgebaut werden könnte. Doch da sprachliche Zeichen mit keiner Schutzfolie umkleidet sind, die sie gegeneinander abschirmen und vor Vermischung bewahren würde, ja die Einheitlichkeit einer Sprache innerhalb einer Sprachgemeinschaft ohnehin eine Fiktion ist, bietet sich noch eine weitere Perspektive. Es ist denkbar, dass sich in der gegenwärtigen Mischsituation eine neue „Sprache“ entwickeln wird oder zumindest eine neue Sprachsituation, deren Differenzlinien nicht mehr zwischen Russisch und Weißrussisch, Taraschkewiza und Narkomauka gezogen werden.
L ITERATUR Bieder, Hermann: „Die weißrussische Standardsprache am Ende des 20. Jahrhunderts“, in: Lew N. Zybatow (Hg.), Sprachwandel in der Slavia. Die slavischen Sprachen an der Schwelle zum 21. Jahrhundert. Ein internationales Handbuch, Frankfurt a. M.: Peter Lang Verlag 2002, S. 652-664. McMillin, Arnold B.: Die Literatur der Weißrussen: A history of Byelorussian literature from its origins to the present day, Gießen: Schmitz Verlag 1977. Stang, Christian: Die westrussische Kanzleisprache des Großfürstentums Litauen, Oslo: Dybwad 1935. Wexler, Paul: A Historical Phonology of the Belorussian Language, Heidelberg: Winter Verlag 1977. Wexler, Paul: „Belorussification, Russification and Polonization. Trends in the Belorussian Language 1890-1982“, in: Isabelle T. Kreindler (Hg.), Sociolinguistic Perspectives on Soviet National Languages. Their Past, Present and Future, Berlin, New York: Mouton de Gruyter 1985, S. 3756.
Zur weißrussisch-russischen Zweisprachigkeit in Weißrussland – nicht zuletzt aus Sicht der Weißrussen G ERD H ENTSCHEL, B ERNHARD K ITTEL
Während man im Westen Europas und überhaupt in nicht-slawischen Teilen Europas und der Welt nicht viel über Weißrussland weiß (abgesehen von der breiten internationalen Bekanntheit seines gegenwärtigen Präsidenten), ist es zumindest unter den in slawischsprachigen Staaten und Kulturen einigermaßen orientierten Zeitgenossen ein Allgemeinplatz, dass das Land, das sich heute Republik Belarus nennt, zweisprachig ist: weißrussisch und russisch. Natürlich trifft man dort noch auf eine ganze Reihe anderer Sprachen, und zwar von Minderheiten, wie z.B. auf das Polnische, das Ukrainische, das Litauische, um nur die wichtigsten zu nennen. Auf diese kann hier nicht eingegangen werden. Es geht uns nur um das Weißrussische und das Russische, die bald nach dem Amtsantritt des Präsidenten Aljaksandr Lukaschenka (wieder) beide den Status einer Staatssprache erhielten, während direkt nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion für ein halbes Jahrzehnt nur Weißrussisch Staatssprache war. Insbesondere geht es uns um diese beiden Sprachen bei dem Teil der Bevölkerung, der sich in den regelmäßig durchgeführten Volkszählungen als Weißrussen bezeichnet. Dieses taten 1999 gut 80 Prozent der zehn Millionen Staatsbürger. Wenn man im Westen eine slawische Sprache kennt und spricht, so ist das meist Russisch. Und zumindest diese russischsprachigen Menschen sind mit der Zweisprachigkeit Weißrusslands schon dann konfrontiert, wenn sie in diesen Tagen ein Flugzeug der weißrussischen Luftfahrtgesellschaft Belavia besteigen. Auf einem Flug von Warschau nach Minsk werden heutzutage die üblichen Sicherheitshinweise (wenn auch offenbar vom Band) auf Weißrussisch gegeben sowie auf Polnisch und Englisch, nicht aber auf Russisch. Ebenso natürlich wendet sich irgendwann während des Fluges auch der Pilot oder Kopilot an seine Passagiere, dann aber auf Russisch. Der des Russischen mächtige Westbürger ist dann wieder im Bilde, während
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ihm die weißrussischen Sicherheitshinweise nicht unbedingt spanisch vorkommen, aber selbst dann einigermaßen schwer zu verstehen sind, wenn ihm das, was in diesen obligatorischen Hinweisen ja auf jedem Flug in welcher Sprache auch immer mitgeteilt wird, bestens bekannt ist. Man versteht eine „etwas fremde“ Sprache bekanntlich besser, wenn man weiß, was in ihr gerade gesagt wird. Hat unser imaginärer fliegender Westbürger dann nicht nur Russischkenntnisse, sondern auch solche des Polnischen, so ist es mit der Verständlichkeit der weißrussischen Sicherheitshinweise wesentlich besser. Aber auch nur mit Polnischkenntnissen versteht man das ein oder andere aus diesen Hinweisen, was für die russische Ansprache der Piloten nicht oder nur in einem wesentlich geringeren Ausmaß gilt. Ängste, sich in Belarus ohne Weißrussischkenntnisse nicht zurechtfinden zu können, kommen aber weder im Flugzeug auf (die Stewardessen der Belavia bedienen sich des Russischen sowie bei Bedarf gängiger Fremdsprachen, aber nicht des Weißrussischen), noch nach der Ankunft in Minsk. Das Russische ist allgegenwärtig. Daran ändern auch gewisse Störmomente nichts, wie z.B. eine sogenannte Einwanderungskarte oder eine Zollerklärung, die während des Fluges oder vor den Grenzkontrollen schon mal in weißrussischer Sprache ausgehändigt werden können, oder – schon in der Hauptstadt Minsk – wenn so manche Aufschrift auf Häusern wie Tafeln von Behörden, Reklametafeln oder auch die Ansagen der U-Bahnstationen und einige andere Ansagen in den Zügen auf Weißrussisch sind. Verwirrender kann die sprachliche Erfahrung für einen des Russischen (recht gut) mächtigen Westbürger werden, wenn er in Minsk in ganz bestimmten Situationen des Alltagslebens mit der „Normalpopulation“ in Kontakt kommt, wie beispielsweise mit Verkäuferinnen in Lebensmittelgeschäften, die immer noch in großer Zahl auf engen Verkaufsflächen agieren und ausgiebig miteinander parlieren, oder Wächtern von Parkplätzen. Das, was man von ihnen zu hören bekommen kann, ist irgendwie russisch, irgendwie aber auch nicht. Man könnte versucht sein, gerade diese „Rede“ als zur weißrussischen „Sprache“ gehörend anzusehen, als Weißrussisch eben. Gerade derartige Situationen scheinen auch viele Russen beziehungsweise Russischsprachige von außerhalb Weißrusslands nach sporadischen sprachlichen Erfahrungen vor Ort davon zu überzeugen, dass sie Weißrussisch fließend verstehen. Salopp ausgedrückt, zeichnet sich die Rede in diesen Situationen dadurch aus, dass besonders die Wortwahl weniger vom Russischen abweicht als z.B. bei den Sicherheitshinweisen im Flugzeug und den Durchsagen in der U-Bahn, dass aber die Aussprache weit von dem entfernt ist, was man als russischen Standard gelernt hat, und dass auch so manche grammatische Endung, so manches Präfix sowie auch viele grammatische Wörter wie Pronomen oder Präpositionen ebenfalls nicht die sind, die man aus dem Russischen kennt. Das Phänomen, dem man begegnet, ist eine in Weißrussland äußerst verbreitete Form der „gemischten Rede“, deren Bestandteile, also „lexikalische“ und „grammatische“ Wörter, Affixe und Endungen, Konstruktionsmuster, Laute u.ä. aus zwei „Sprachen“ kommen: aus
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dem Weißrussischen und aus dem Russischen. Dabei vollzieht sich das Wechselspiel zwischen sprachlich Weißrussischem und Russischem in engsten strukturellen Einheiten, innerhalb einzelner Sätze, Teilen von Sätzen, mitunter innerhalb einzelner Wortformen. Ab den achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts hat sich für diese Form der gemischten Rede in Weißrussland die Bezeichnung trasjanka durchgesetzt. Dieser Name ist ursprünglich eine Bezeichnung für eine Mischung aus Heu und Stroh. Ersteres ist bekanntlich ein gutes Futtermittel für Rindvieh, letzteres in Reinform gar keines, die Mischung aus beidem eben schlechtes, da gestrecktes Viehfutter. Trasjanka als Bezeichnung für die gemischte Rede lässt also eine sehr negative Konnotation anklingen. Abgesehen vom metaphorischen Konzept einer ‚schlechten Mischung‘ korreliert diese Bezeichnung auch mit dem „Geruch“ des Bauern, den es in die Stadt getrieben hat, wobei der Bauer nicht mit einem heute im westlichen Europa etablierten mittelständischen Agrarunternehmer assoziiert wird, sondern mit dem ungebildeten Kleinbauern einer vor- oder frühindustriellen Zeit, der auf dem Gebiet des russischen Zarenreichs erst im 19. Jahrhundert die Leibeigenschaft abschütteln konnte, um bald darauf zum Landarbeiter in der sowjetischen Kollektivwirtschaft zu mutieren. Dazu scheint zu passen, dass diese Form der Rede in anderen, kleinen Städten des Landes noch wesentlich verbreiteter ist als in der Hauptstadt. Wenn wir uns im Folgenden mit der Frage nach der weißrussischrussischen Zweisprachigkeit befassen, so wird es nicht nur um Russisch und Weißrussisch gehen, sondern gerade auch um die gemischte Rede. Es geht um das Verhältnis der drei „Varietäten“ zueinander. Überspitzt könnte man die Frage formulieren: Sind die Weißrussen in Belarus vielleicht sogar dreisprachig?
1. E TWAS S PRACHWISSENSCHAFT AM WEISSRUSSISCHEN B EISPIEL : Ü BER M ISCHSPRACHEN “, ÜBER „S PRACHE “ VS . „D IALEKT “ UND ÜBER DIE ABGRENZBARKEIT VON S PRACHEN Sprachen (und Dialekte) ändern sich im Laufe der Zeit. Änderungen in einem Sprachsystem können endogen oder exogen sein. Letzteres liegt dann vor, wenn die Änderungen der einen natürlichen Sprache durch Einfluss einer anderen, insbesondere durch Übernahme von Elementen oder Regeln (oder besser: Regelmäßigkeiten) einer anderen bedingt sind. Mitunter ist die Unterscheidung aber durchaus schwierig, besonders bei eng verwandten Sprachen. Ein besonderer Fall liegt dann vor, wenn aus dem Kontakt zwischen zwei Sprachen eine gemischte Rede und durch Tradierung beziehungsweise Konventionalisierung derselben ein gemischtes System, eine
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neue Mischsprache entsteht. Und eben darum könnte es in Weißrussland gehen. Die Sprachwissenschaft der letzten ca. einhundert Jahre hat durchaus widersprüchliche Aussagen zum Konzept „Mischsprache“ hervorgebracht: Der große polnische, lange im russischen Zarenreich tätige Sprachwissenschaftler Jan Baudouin de Courtenay hat vor ca. 110 Jahren im Sinne des „Ockhamschen Rasiermessers“ gemeint, das Konzept einer Mischsprache sei überflüssig, denn alle Sprachen seien in dem Sinne gemischt, dass sie Entlehnungen aus anderen Sprachen zeigen, insbesondere lexikalische.1 Einer der führenden deutschen Slawisten der Mitte des 20. Jahrhunderts dagegen, Reinhard Olesch, stellte für das sogenannte Wasserpolnische fest, also für den nicht nur im Wortbestand, sondern auch im Bereich z.B. syntaktischer Konstruktionen stark vom Deutschen beeinflussten polnischoberschlesischen Dialekt, er sei keine polnisch-deutsche Mischsprache, sondern eine Varietät des Polnischen, da die Flexionsmorphologie, die „Wortbeugung“ klar slawisch-polnisch sei (wenn auch dialektal).2 Im Unterschied zu Baudouin de Courtenay lässt sich Olesch also nicht von der simplen Tatsache leiten, dass wohl alle Sprachen irgendetwas aus mindestens einer anderen Sprache übernommen haben, sondern meint, dass bestimmte Qualitäten gegeben sein müssen, um eine Mischsprache anzunehmen. Er verneint das für das Wasserpolnische: Aus seiner Sicht sticht das Faktum, dass die Flexionsmorphologie (Deklination und Konjugation) nicht-deutsch ist, das andere Faktum aus, dass vor allem der Wortbestand stark vom Deutschen geprägt ist. Prinzipiell teilt die moderne Sprachkontaktforschung Oleschs Ansicht, nur – wenn man so will – mit umgekehrten Vorzeichen. In einem Band aus den ersten Jahren dieses Jahrtausends mit dem Titel „The Mixed Language Debate“ wird festgestellt, eine typische Mischsprache zeige einen „grammar-lexicon-split“, einen Schnitt zwischen Grammatik und Wortschatz.3 Dies basiert auf der Beobachtung von Sprachen, die in großem Umfang Züge zweier (im Vergleich zu den erstgenannten älterer) anderer Sprachen zeigen. In ersteren sind die Ingredienzen aus den (jeweils zwei) letzteren weitgehend komplementär verteilt: aus der einen älteren Sprache stammt die Grammatik, aus der anderen die Lexik, der Wortbestand. Dabei werden Grammatik und Lexik nicht strikt dichotomisch aufgefasst, wie es das Wortpaar suggeriert, sondern skalar: So sind z.B. Kasusendungen von Substantiven in diesem Sinne extrem grammatisch, Substantive selbst extrem lexikalisch, und grammatische Wörter wie beispielsweise Pronomen inter-
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Vgl. Baudouin de Courtenay, Jan: „O smešannom charaktere vsech jazykov“, in: Žurnal Ministerstva Narodnogo Prosveščenija (1901), S. 12-24. Vgl. Olesch, Reinhold: „Zur schlesischen Sprachlandschaft. Ihr alter slavischer Anteil“, in: Zeitschrift für Ostforschung 27 (1978), S. 32-45. Vgl. Matras, Yaron/Bakker, Peter (Hg.): The Mixed Language Debate. Theoretical and Empirical Advances, Berlin, New York: Mouton de Gruyter 2003.
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mediär. Auf einer derartigen Skala liegt der Schnitt dann irgendwo im intermediären Bereich – mit Unterschieden in den einzelnen Mischsprachen – wobei intermediäre Typen von Elementen (wie Pronomen) auch gemischter Herkunft sein können. Diese Ansicht ist dem empirischen Befund geschuldet, dass eben bisher keine gemischte Sprache erkannt werden konnte, die in all ihren Subsystemen einen mehr oder weniger gleichen Anteil der beiden ursprünglichen Kontaktsprachen, der Ausgangssprachen zeigt. Für das oben angesprochene Wasserpolnische würde sich daraus ergeben, dass es gegen Olesch sehr wohl ein Kandidat für eine Mischsprache wäre, denn der Schnitt zwischen Grammatik und Wortschatz wird in den Feststellungen von Olesch geradezu herausgehoben. Allerdings resultieren die im Band „The Mixed Language Debate“ diskutierten Mischsprachen aus Kontakten zwischen Sprachen, die strukturell und genetisch sehr stark unterschieden sind, noch stärker als Polnisch und Deutsch im Falle des Wasserpolnischen, während Weißrussisch und Russisch sich strukturell sehr ähnlich und genetisch sehr eng verwandt sind. Wie sich die Dinge in der gemischten Rede in Weißrussland verhalten, ist zurzeit weitestgehend unerforscht. Der zweite Aspekt, der zur linguistischen Propädeutik hier angesprochen werden muss, ist derjenige der Möglichkeit beziehungsweise der Schwierigkeit der Abgrenzung von Sprachen, d.h. der Differenzierung von mehreren Sprachen. Die stereotype Ansicht von linguistischen Laien ist die, dass man erstens dann von einer Sprache A und einer anderen Sprache B ausgehen muss, wenn A und B wechselseitig nicht verständlich sind. Das entspricht der vorwissenschaftlichen Intuition, dass der, den ich nicht verstehe, eine andere Sprache spricht, und nicht eine andere Variante meiner eigenen Sprache, selbst wenn manche Dinge (besonders Wörter) ähnlich sind. Zweitens wird stereotyp angenommen, dass Dialekte einer Sprache so ähnlich sind, dass sie gegenseitig verständlich sind. Konträre Erfahrungen zum letzten Stereotyp sind nicht erst in unseren mobilen Zeiten leicht zu machen, wobei – wie man weiß – konträre Erfahrungen nicht unbedingt das Stereotyp ändern. Dialekte oder (wie man zu sagen pflegt, wenn man areal noch kleinteiligere Varietäten betrachtet) Mundarten bilden jedoch Kontinua, in denen zwar gilt, dass zumindest benachbarte Mundarten gegenseitig verständlich sind. Geographisch weiter von einander distante Mundarten in einem solchen Kontinuum müssen es aber nicht sein. Wie steht es aber mit dem vermeintlichen Unverständlichkeitskriterium zwischen anerkannten Sprachen? In modernen Gesellschaften europäischer Prägung haben sich über den Mundart- oder Dialektkontinua Schrift-, Hochoder Standardsprachen als „Dach“ etabliert, wobei die Metapher des Dachs sowohl den areal weiteren und meist institutionell sanktionierten Geltungsbereich als auch die höhere soziale Positionierung im Vergleich zu den überdachten Varietäten anklingen lässt. Die Areale, die diese Dachsprachen (oft Staatssprachen) beanspruchen, teilen Dialektkontinua, bemessen nach sprachstrukturellen Kriterien, mitunter willkürlich auf. Das betrifft z.B. Französisch und Italienisch, die als Standardsprachen natürlich leicht abzu-
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grenzen sind und wechselseitig unverständlich sind, was aber nicht für die Dialekte in ihrem Grenzraum gilt. Das gilt aber z.B. auch für Tschechisch und Slowakisch, für die wir bis heute keine wechselseitige Unverständlichkeit feststellen können. Ähnlich wie bei den letztgenannten beiden westslawischen Sprachen ist der Fall bei den drei „kanonischen“ ostslawischen Sprachen Ukrainisch, Weißrussisch und Russisch. Nur am Rande: Die gegenseitige Verständlichkeit der drei Sprachen wird häufig überschätzt. Sie ist zweifellos asymmetrisch. Russisch ist aus sozialen Gründen für Weißrussen und Ukrainer gut verständlich. Umgekehrtes gilt nicht. Denn Russen müssen oder mussten kein Weißrussisch oder Ukrainisch lernen, um zu überleben. Andererseits können sich Russen sicher ähnlich in die beiden anderen, ja eng verwandten ostslawischen Sprachen einhören wie ein Sprecher des Hochdeutschen ins „Schwizerdütsch“, besonders in dessen städtische Ausprägungen, oder ins Niederdeutsche. Wie dem auch sei, aus einer wie auch immer ausgeprägten gegenseitigen Verständlichkeit ist jedenfalls nicht zu folgern, dass die weißrussische Standardsprache (wie schwach sie auch in der weißrussischen Bevölkerung verankert sein mag) oder die ukrainische als Dialekt des Russischen anzusehen seien, oder umgekehrt das Russische als Dialekt des Weißrussischen oder Ukrainischen. Letzteres versucht bekanntlich niemand, im Gegensatz zu Erstgenanntem. Die Gründe dafür sind historisch-politisch. Sprachlich-strukturell wie auch theoretisch ist beziehungsweise wäre beides unsinnig: Natürlich könnte man alle drei Sprachen theoretisch als Varianten einer abstrakten Sprache ansehen, was aber gleichbedeutend mit der Feststellung wäre, dass alle drei ein Mundartkontinuum überdachen, aus dem sie selbst hervorgegangen sind, natürlich mit der historischen Besonderheit, dass das Russische, aufgrund der sehr langen politischen und sozialen Dominanz des Petersburg-moskowitischen Staates im gesamten Areal der drei entsprechenden Staaten eine Art sprachliches „Hyperdach“ darstellte. Diese abstrakte Sprache wäre dann aber nur in dem Sinne lernbar, dass mindestens eine ihrer drei Varianten erworben würde. Eine Annahme, dass Weißrussisch, Ukrainisch und Russisch Varianten nur einer abstrakten Sprache seien, kann also getrost dem Rasiermesser Ockhams überlassen werden.
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SPRACHLICHEN S ITUATION IN W EISSRUSSLAND NACH DEM E NDE DES Z WEITEN W ELTKRIEGS
Abgesehen von den zwanziger Jahren war die Sprachenpolitik der Sowjetunion bis in die Mitte der achtziger Jahre alles andere als förderlich für das Weißrussische und für seine Etablierung in Schul- und Hochschulwesen, Medien und Ämtern, woran auch bessere Phasen in Tauwetterperioden nichts änderten. Der Zugang zu einer ganz normalen sowjetischen Privatkarriere (außer vielleicht in der Landwirtschaft auf unterster Ebene) und erst
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recht zu einer „unionsweiten“ Karriere war in der Belorussischen Sozialistischen Sowjetrepublik (BSSR) wie mehr oder weniger in allen Republiken der Sowjetunion ohne Russischkenntnisse nicht denkbar. Weißrussisch wurde weitgehend verzichtbar, besonders in den Städten, Russisch war nicht nur institutionell forciert, sondern es war auch attraktiv. In der zweiten Hälfte der achtziger Jahre, zu Zeiten von Perestroika und Glasnost, regte sich in nationalen weißrussischen Kreisen Unmut gerade auch über die sprachliche Situation. Nach dem Ende der Sowjetunion gab sich die selbstständige Republik Belarus ein Staatswappen, das sich mit dem schwertschwingenden Reiter sowohl an das mittelalterliche Großfürstentum Litauen als auch an das Wappen des modernen, postsowjetischen Litauen anlehnte. Die Farben der weißrussischen Staatsflagge waren dieselben wie die der polnischen (wenn auch in anderer Anordnung). Und auch die Erklärung des Weißrussischen zur alleinigen Staatssprache hatte eine symbolischprogrammatische Dimension: „Wenn das Weißrussische stirbt, so stirbt auch das Volk.“ Und daran, dass das Weißrussische bedroht ist, hatte und hat in Weißrussland niemand einen Zweifel. Allerdings hatte man ganz offensichtlich die Rechnung ohne den Wirt oder die Wirte gemacht. Unter dem seit 1994 regierenden Präsidenten Lukaschenka wurden nicht nur Staatswappen und Flagge wieder in Anlehnung an sowjetische Muster umgeformt, sondern auch Russisch umgehend wieder als zweite Staatssprache etabliert. Letzteres wurde sicher auch von großen Teilen der Bevölkerung begrüßt, hätte doch eine abrupte Hinwendung zum Weißrussischen in allen Bereichen des Lebens das Dasein mit seinen postsowjetischen Unwägbarkeiten noch unsicherer, noch härter gemacht. Die gegebene formale Gleichheit vor dem Gesetz wird jedoch durch die sowjetisch-gewachsene faktische Asymmetrie konterkariert und angesichts einer fehlenden konkreten, aktiven administrativ-politischen Unterstützung des Weißrussischen die Sprachsituation der späten BSSR in der heutigen Republik Belarus fortgeschrieben und sogar verstärkt. Faktisch wird die sprachliche Situation in einem Land stets stark von sozialen Prozessen und Veränderungen geprägt: Die Zerstörungen, die Weißrussland im Zweiten Weltkrieg erlitten hatte, waren immens. Insbesondere gilt das für die Städte. Und so nimmt es nicht wunder, dass im Jahre 1950 knapp 80 Prozent der damals 7,7 Millionen Einwohner auf dem Land lebten. Ganz anders sah die Mitte der neunziger Jahre aus: Von inzwischen 10,3 Millionen Einwohnern lebten nunmehr knapp 70 Prozent in den Städten. Was war passiert und was bedeutete das für die sprachliche Situation? Die BSSR erfuhr in den sechziger und siebziger Jahren eine enorme Industrialisierung und in deren Folge eine Urbanisierung, was sich in zwei Migrationsbewegungen mit entscheidender Bedeutung für die konkrete sprachliche Situation niederschlug: Zum einen war dies eine massive innerweißrussische Land-Stadt-Migration, zum anderen eine beträchtliche Immigration von Russen oder anderen russischsprachigen Sowjetbürgern, insbesondere eben in die Städte.
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In diesem Kontext beachtenswert ist dann noch ein Befund weißrussischer Dialektologen, nämlich dass in weißrussischen Dörfern noch heute sehr verbreitet Dialekt gesprochen wird. Da Dialektologen die Neigung haben, sich ihre Materialien bei den ältesten Informanten einzuholen, die man in den jeweiligen Dörfern nur auffinden kann, ist diese Feststellung für die heutige Zeit vielleicht mit Vorsicht zu genießen. Es waren aber gerade die Kinder der heute ältesten Landgeneration, jüngere Leute der Kriegs- oder Nachkriegsgenerationen, die es in den sechziger und siebziger Jahren in die Städte gezogen hat. Für diese Land-Stadt-Migranten ist also sehr wohl davon auszugehen, dass die Varietät ihrer sprachlichen Erstsozialisation das Weißrussische in der Form einer seiner lokalen Mundarten gewesen ist. Kenntnisse des Weißrussischen als Standardsprache hatten diese Menschen hauptsächlich aus dem schulischen Unterricht, genauso wie Kenntnisse des Russischen, obwohl letzteres im Osten des Landes, der bereits vor dem Zweiten Weltkrieg zur Sowjetunion gehört hatte, eben dadurch sicher insgesamt weit besser etabliert war als im Westen, der zwischen den Weltkriegen zu Polen gehört hatte. Passive Kenntnisse des Russischen, die durch die strukturelle Nähe der beiden Sprachen ohnehin leicht zu erwerben sind, brachten die Land-Stadt-Migranten also mit. Eine aktive Hinwendung zum Russischen wurde ihnen jedoch erst in den massiv wachsenden Städten abverlangt, d.h. beispielsweise in den Betrieben, in den Berufsschulen und in den Ämtern, wo es sehr häufig Russen beziehungsweise andere russischsprachige Sowjetbürger waren, die leitende Positionen übernahmen. Selbst die bescheidenste Karriere in den Städten war ohne eine Hinwendung zum aktiven Gebrauch des Russischen nicht möglich. In den Städten Weißrusslands lag somit eine sprachliche Kontaktsituation vor, die vor allem vom Weißrussischen in der Gestalt seiner Mundarten und dem Russischen in der Gestalt seiner Standardsprache geprägt wurde. Die weißrussische Standardsprache spielte sicher ebenso wie lokale oder andere Subvarietäten des Russischen eine eher sekundäre Rolle. Die Konstellation war sozial – wie schon mehrfach angedeutet – asymmetrisch, mit dem Russischen als dominanter Varietät, die ohnehin schon von den allermeisten der weißrussischen Land-Stadt-Migranten, welche in der Regel die große Mehrheit der städtischen Bevölkerung stellte, gut verstanden wurde, die es aber auch in einem gewissen Grade aktiv zu erwerben galt, um erstens selbst mühelos verstanden zu werden und zweitens, und ebenso wichtig, um nicht als Vertreter einer sozial zurückgebliebenen Bauernschicht abgestempelt zu werden. (Man muss dabei im Auge haben, dass die Diskrepanz zwischen städtischem Leben und ländlichem Leben in allen Aspekten auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion noch heute wesentlich größer ist, als es im westlichen Zentraleuropa der Fall ist.) Die weißrussischen Neu-Städter versuchten, so gut sie in der Lage waren, Russisch zu sprechen. Da Weißrussisch (unabhängig davon, ob Mundart oder Hochsprache) und Russisch sich besonders in abstrakten Struktur- und Konstruktionsmustern (man denke an Satz-, Wort- und Wortformenbildung) hochgradig ähnlich sind, konn-
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te eine befriedigende Annäherung bereits darin bestehen, dass dort, wo weißrussische und russische Wörter sich mehr oder weniger deutlich voneinander unterscheiden, eben die russischen bevorzugt verwendet wurden. Sie passten genauso gut in die besagten Muster wie die weißrussischen. Vor dem Hintergrund, dass Wörter und Wortformen sich in den slawischen Sprachen wie in sehr vielen Sprachen in kleinere Teile, die Sprachwissenschaftler Morpheme nennen, zerlegen lassen (eben in Wort- und Wortformenbildung), ging und geht es dabei also vornehmlich um lexikalische Wurzelmorpheme, aber eben verschiedentlich auch um Wortbildungs- und grammatische Formbildungsmorpheme (Endungen). Aussprachegewohnheiten lassen sich dagegen viel weniger leicht ablegen. (Selbst die Franzosen, Engländer, Russen, Polen etc., die ansonsten sehr gut z.B. deutsch sprechen, erkennt man in der Regel an ihrer Aussprache des Deutschen.) Das alles resultiert darin, dass die produzierten Äußerungen (Sätze) und auch die Wortformen in ihnen in aller Regel „Russisches“ und „Weißrussisches“ (nicht nur in der Lautung) enthalten. In der Sprachwissenschaft nennt man ein solches Mischen von zwei Sprachen in der Rede, noch weiter differenziert nach der Art des Mischens, Kodewechsel oder Kodemischung. Ein solches Mischen kann spontan passieren, kann aber auch mit der Zeit zumindest partiell einer Konventionalisierung unterliegen. Ein wesentlicher Faktor für Letzteres ist im weißrussischen Fall in Folgendem zu sehen: Die weißrussischen Land-Stadt-Migranten, wie gesagt meist Vertreter der jüngeren Generation, gründeten bald ihre Familien. Wie in solchen Situationen allgemein üblich, spricht man mit den Kindern nach Möglichkeit die Sprache oder die Varietät einer Sprache, die ihnen sozialen Erfolg und beste berufliche Chancen verspricht. Und dies war eben Russisch. Das heißt aber, dass diese Kinder in den Familien faktisch mit gemischter weißrussischrussischer Rede aufwuchsen. Wenn das Mischen zweier sprachlicher Kodes spontan (d.h. wenn auch vielfach nicht völlig chaotisch, so doch mit einem geringen Grad an Vorhersagbarkeit des Auftretens von Elementen oder Konstruktionen des einen oder anderen Kodes) abläuft, so sind es die Kinder, die im Verlauf des natürlichen Spracherwerbs (natürlich völlig unbewusst) versuchen, einen höheren Grad an Regelmäßigkeit zu entwickeln. Das, was ihren Eltern zumindest zu einem bestimmten Grad als weißrussische oder russische Äquivalente, wenn man so will als Übersetzungsäquivalente aus zwei Sprachen erkennbar war, erleben sie ja als interne Synonymie gewaltigen Ausmaßes in der „Sprache“, genauer der „Rede“ ihrer Eltern. Und Synonymie tendiert in natürlichen Sprachen dazu, klein gehalten zu werden. Ursprüngliche Äquivalente des Ausdrucks tendieren entweder dazu, in ihrem rein begrifflichen Gehalt (Denotation) oder im assoziativ-allusiven Bereich (Konnotation) differenziert zu werden, oder, radikaler, dazu, dass eines von zweien verloren geht, aufgegeben wird. Die Weitergabe der gemischten Rede an die Kinder bildet die Voraussetzung dafür, dass eine Konventionalisierung erfolgt, dass sich teils weißrussische Elemente und Konstruktionen, teils russische etablieren, in einer neuen, regelhaften Art
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und Weise verteilt werden. Wenn sich nur die russischen durchsetzen würden, was bis heute klarerweise nicht der Fall ist, käme das einem schleichenden Sprachwechsel gleich, d.h. der totalen Aufgabe des Weißrussischen. Dieses Szenario, wie es sich in ähnlicher Form in Norddeutschland vom Niederdeutschen (als Mundarten) zum Hochdeutschen (als Standardsprache) fast vollständig vollzogen hat, ist in der Zukunft für das Weißrussische aber nicht ausgeschlossen, insbesondere wenn sich abgesehen von den Problemen für die Standardsprache der allgemeine Trend zum Schwund der Mundarten ausweitet, der in vielen Ländern Europas zu beobachten ist. Aber im Gegensatz zum Niederdeutschen (des 20. Jahrhunderts) hat das Weißrussische noch heute eine Repräsentation als Standardsprache, so schwach auch immer sie sein mag. Sie wird in Schulen gelernt, ohne in der Regel allgemeine Unterrichtssprache zu sein, es gibt weißrussischsprachige Radiosender, wenn auch wenige, ebenso Druckmedien (Literatur und Presse), wenn auch mit relativ geringer Titel- und Stückzahl (Auflage). In starker Vereinfachung kann eine prototypische Konstellation der aktiven Sprachkompetenzen in den Familien der Land-Stadt-Migranten wie folgt angenommen werden: Die erste Generation (die Migranten selbst) beherrscht fließend eine weißrussische Mundart und die gemischte Rede, Trasjanka. Die zweite Generation (heute partiell schon um die 30 Jahre alt) beherrscht fließend die gemischte Rede und Standardrussisch. Ihre Konfrontation mit dem Russischen in Medien, Vorschulen, Schulen und Hochschulen war weit intensiver und extensiver als das bei ihren Eltern der Fall war. Beide Generationen können ihre gemischte Rede mal weißrussischer, mal russischer gestalten. Die ältere Generation erhöht den russischen Anteil in Gesprächen außerhalb von Familie, Freundes- und Kollegenkreis (bei nichtakademischem Berufsfeld), die jüngere den weißrussischen in Gesprächen mit den Großeltern, die weiterhin auf dem Land wohnen. Über die dritte Generation ist noch nichts bekannt, und Sprachwechsel vollziehen sich in der Regel über drei Generationen. Das, was in Weißrussland nach dem Zweiten Weltkrieg passiert ist, muss in mehrerlei Hinsicht als normal in Fällen des intensiven und dauerhaften Kontakts besonders zwischen nah verwandten Sprachen (und Dialekten) angesehen werden. In vielen europäischen Regionen, die in Industrialisierungsszenarien eine massive Urbanisierung erfahren haben, sind ähnliche Entwicklungen neuer „Stadtdialekte“ zu beobachten, mit Ausgleichstendenzen zwischen ruralen Mundarten, die Migranten mitbrachten, und mehr oder weniger starker Einflussnahme der überdachenden Standardsprache. Man denke darüber hinaus an den oberschlesischen Raum, wo die beherrschende Dachsprache über den polnisch-schlesischen Mundarten das strukturell recht distante Deutsch war. Wenn die Distanz geringer ist als zwischen dem Deutschen und dem Polnischen, passiert das, was im großen Umfang in weißrussischen Städten passiert ist, auch in anderen Kontexten, selbst in der schriftlichen Kommunikation: Kommen beispielsweise in den Chroniken der mittelalterlichen
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Rus eher weltliche oder profane Themen zur Sprache, so wird eine Mischung des sonst üblichen Kirchenslawischen mit autochthoner Sprache aus (im heutigen geographischen Sinne) russischen, weißrussischen oder ukrainischen Arealen erkennbar. Wenn Iwan IV., allgemein der Schreckliche genannt, an polnische Würdenträger schreibt, so zeigt er eine Sprache beziehungsweise Rede, die Kirchenslawisch, Russisch und Polnisch mischt, obwohl er Kirchenslawisch in Reinform beherrscht und z.B. in Schreiben an kirchliche Würdenträger verwendet. Und letztlich ist auch die Sprache der ersten „weißrussischen“ Bibelübersetzung eine Art Gemisch aus Altweißrussisch (auch Altruthenisch genannt) und Kirchenslawisch. Und natürlich hat es profane Formen der gemischten weißrussisch-russischen Rede schon vor dem Ende des Zweiten Weltkrieges gegeben, natürlich schwerpunktmäßig im sowjetischen Teil Weißrusslands. Die Nachkriegsvariante der gemischten Rede ist jedoch durch völlig veränderte soziale Umstände und durch ihren mit der starken Urbanisierung einhergehenden Massencharakter insgesamt auch ein qualitatives Novum.
3. D IE B INNENSICHT
DER
B ETROFFENEN
Wie sehen und erleben nun die Weißrussen selbst ihre Sprachenlandschaft? Zum Teil geben uns schon die Ergebnisse der bereits angesprochenen Volkszählungen erste, aus deutscher Sicht durchaus erstaunliche Einsichten. Diejenige von 1999 bezeugt beispielsweise, dass von den acht Millionen Bürgern, die sich als Weißrussen einstufen, ca. 85 Prozent das Weißrussische als ihre Muttersprache nennen, ca. 15 Prozent dagegen das Russische. (Die anderen zwei Millionen weißrussischen Staatsbürger nennen überwiegend das Russische ihre Muttersprache.) Nach der täglich verwendeten Sprache befragt, geben die „weißrussischen“ Weißrussen eine ganz andere Auskunft: Hier geben nur gut 40 Prozent das Weißrussische an und knapp 60 Prozent das Russische. Auf dem Hintergrund der obigen Ausführungen ergibt sich jedoch eine Reihe von Fragen. Die erste ist, was das für ein Weißrussisch und was das für ein Russisch ist, das man als täglich verwendete Sprache nennt. Außerhalb jeden Zweifels steht, dass es nicht die weißrussische Standardsprache ist (nicht einmal in einer alltagssprachlichen Variante, wie man z. B. Standarddeutsch zumindest in Norddeutschland in Familie und engerem Freundes- oder Kollegenkreis verwendet). Selbst die entschiedensten Befürworter des Weißrussischen sehen das so und beklagen es. Zu einem großen Teil wird es hier um die weißrussischen Mundarten der Landbevölkerung gehen. Wird dagegen Russisch genannt, so kann es natürlich nicht um Landmundarten gehen. In der Tat kann man davon ausgehen, dass eine siebenstellige Zahl von Weißrussen ein Russisch spricht, das sich vielfach vom Russisch eines Moskauers oder Petersburgers nur so unterscheidet, wie das Hochdeutsch eines Wieners von dem eines Berliners, d.h.
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hauptsächlich durch einige lautliche Spezifika und gelegentliche Regionalismen im Wortschatz. Das Hauptproblem in der Aussagekraft der beiden Fragen in der Volksbefragung besteht jedoch darin, dass diejenigen, die im Alltag die gemischte Sprache sprechen (insbesondere wenn sie sich dessen auch bewusst sind), diese willkürlich als Weißrussisch oder Russisch qualifizieren müssen. Natürlich ist es nicht völlig unproblematisch, die gemischte Rede in einer Befragung neben zwei anerkannte Sprachen zu stellen. Zumindest ist es aber dann möglich, wenn bei den Betroffenen ein Bewusstsein von der Andersartigkeit der dritten Größe gegeben ist. Und das scheint der Fall zu sein, wie gleich gezeigt werden soll. Die folgenden Beobachtungen beziehen sich auf sieben weißrussische Städte: sechs kleinere, aus jeder einschlägigen Dialektregion des Landes (Akzjabrski, Chozimsk, Rahatschou, Slonim, Smarhon, Scharkouschtschyna) und die Hauptstadt Minsk, die sich im breiten Spektrum des Lebens wohl ebenso deutlich von anderen, kleineren weißrussischen Städten unterscheidet, wie letztere vom Land. Die Population dieser Stichprobe spiegelt zunächst ein schon angesprochenes allgemeines Verhältnis wider: 1.230 von 1.400 Respondenten (pro Stadt 200 nach dem Zufallsprinzip bestimmte Personen) erklären sich als Weißrussen, also ca. 87 Prozent. Diese wurden von uns zunächst auch nach der Muttersprache befragt, jedoch mit dem Unterschied zur erwähnten Volkszählung, dass wir neben den anerkannten Sprachen auch die weißrussisch-russische gemischte Sprache als mögliche Antwort boten. Die Auswertung ergibt entsprechend ein deutlich anderes Bild als in der Volkszählung: nur 49 (statt 85) Prozent nannten Weißrussisch ihre Muttersprache, 30 (statt 15) das Russische und 38 Prozent die gemischte Sprache, nach der in der Volkszählung nicht gefragt wurde. Diese Prozentwerte addieren sich auf über 100 Prozent, was daran liegt, dass in unserer Befragung – wiederum im Gegensatz zur Volksbefragung – mehrere Antworten möglich waren. Etwa 15 Prozent der Respondenten nannten mehr als eine Sprache, von diesen wiederum fast drei Viertel die Kombination Weißrussisch und Russisch. Konzentrieren wir uns auf die ca. 1.050 Respondenten, die nur eine Sprache nennen (wie es die Volkszählung prinzipiell verlangt), so ergibt sich, dass jeweils ca. 40 Prozent der Befragten Weißrussisch oder die gemischte Sprache nennen (also in etwa so viele, wie die Volkszählung für Weißrussisch allein ermittelt) und 20 Prozent das Russische (also in etwa so viele wie in der Volkszählung). Dies legt zunächst einmal die Annahme nahe, dass sich der hohe Prozentsatz der Nennung des Weißrussischen als Muttersprache in der Volkszählung eben daraus ergibt, dass es keine Möglichkeit gibt, die gemischte Sprache zu vermerken. Ebenso wurde nach der täglich, üblicherweise und überwiegend verwendeten Sprache gefragt. Für diese Frage nach der Alltagssprache war eine fünfstufige Beurteilungsmöglichkeit vorgegeben: (A) Korrektes Weißrussisch, (B) Weißrussisch mit einigen russischen Wörtern, (C) korrektes Russisch, (D) Russisch mit einigen weißrussischen Wörtern, (E) gemischte Sprache mit umfangreicher Mischung aus Weißrussisch und Russisch. Der
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Einfachheit halber können die Klassen (A) und (B) als Weißrussisch sowie (C) und (D) als Russisch zusammengefasst werden, um Entlehnungen beziehungsweise Rückgriffe auf die jeweils andere Sprache im kleineren Umfang nicht überscharf als Mischung zu interpretieren. Es ergibt sich folgendes Bild: Weißrussisch (A/B) geben nur 4 Prozent der Befragten an (in der Volkszählung 40), Russisch (C/D) dagegen 55 Prozent (im Vergleich zu 60) und schließlich die gemischte Sprache 41 Prozent. Wiederum ist der Wert des Russischen recht ähnlich dem aus der Volkszählung von 1999 und wiederum entspricht die Summe unserer Werte für Weißrussisch und gemischte Sprache annähernd dem der Volkszählung für Weißrussisch. D.h. die Höhe der Werte für Weißrussisch in der Volkszählung wird nicht nur bei der Frage nach der Muttersprache, sondern auch bei derjenigen nach der Alltagssprache von der „gemischten Sprache“ gestützt. Die Hypothese, dass Weißrussen die gemischte Sprache in der Volkszählung prinzipiell eher dem Weißrussischen zuschlagen, stützt folgende Beobachtung aus unserer Erhebung: Auf die Frage, als was denn die gemischte Sprache zu bewerten sei, als Variante des Weißrussischen, als „eigene Sprache“ oder als Variante des Russischen, sind es jeweils knapp 40 Prozent, welche eine der ersten beiden Optionen wählen, und nur 20 Prozent, die sie als Russisch ansehen. Das viel stärkere Votum der Weißrussen für Weißrussisch als Muttersprache denn für Weißrussisch als Alltagssprache, das die Volkszählung erkennen lässt, bestätigt sich also in unseren Analysen, wenn auch mit anderen relativen Häufigkeiten: Die übliche Deutung für dieses Verhalten ist, dass das Weißrussische für Weißrussen einen hohen symbolischen Wert hat, aber einen geringen praktischen. Der symbolische Wert des Weißrussischen auch in der heutigen Republik Belarus ist unbestreitbar, aber ist es der einzige Grund? Wenn ältere Sprecher des Niederdeutschen feststellen (oder in vergangenen Zeiten feststellten), ihre Muttersprache sei eigentlich Platt(deutsch), aber nun spreche man eben Hochdeutsch, so verwenden sie den Terminus „Muttersprache“ eher nicht symbolisch zum Ausdruck einer spezifischen Identität, sondern eher wörtlich, als von der Mutter (und wohl auch dem Vater und der direkten Umgebung) erlernt, als Sprache (Varietät) der ersten Sozialisierung, wie der Linguist sagen würde. In unserer Sondierung wurde daher die Frage nach der Sprache gestellt, in der die Respondenten angefangen haben zu sprechen, nach der Erstsprache, und natürlich wieder neben Weißrussisch und Russisch auch die gemischte Sprache als mögliche Antwort angeboten, wieder mit der Möglichkeit der mehrfachen Nennung (hier nur selten genutzt). Es ergibt sich folgende Verteilung: 14 Prozent Weißrussisch, 48 Prozent gemischte Sprache und 39 Prozent Russisch. Im Großen und Ganzen ähnelt dieses Bild eher den Ergebnissen auf die Frage nach der Alltagssprache (wr. 5, gem. 41, russ. 55 Prozent) als denjenigen auf die Frage nach der Muttersprache (wr. 40, gem. 40, russ. 20 Prozent). Es gibt zwar eine Verschiebung zwischen Erstsprache und aktueller Alltagssprache, diese fällt jedoch durchgehend eher leicht aus: Das Weißrussische verliert ca. 10 Prozentpunkte, aber auch
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die gemischte Sprache (als stärkste Erstsprache) ca. 8, das Russische gewinnt ca. 16. Das Weißrussische war nach Einschätzung der Respondenten also auch schon am Anfang ihres Lebens nur schlecht repräsentiert. Die relativ häufige Nennung des Weißrussischen als Muttersprache scheint dementsprechend in der Tat in der symbolischen Äußerung einer weißrussischen Identität zu liegen, viel weniger darin, dass man sich eines Sprachwechsels von einer Erstsprache zu einer anderen Alltagssprache bewusst ist. Die hier angestellten Beobachtungen zur sprachlichen Situation in der Republik Belarus auf Basis der Eigenbeurteilung der Weißrussen stellen den Durchschnitt der befragten Gesamtheit dar, müssten aber natürlich differenziert nach verschiedenen, im weiteren Sinne sozialen Parametern betrachtet werden, wie da etwa wären: Alter, Bildung, Erhebungsort. Ohne tief in Details gehen zu können, beginnen wir mit Letzterem, den sieben Orten der Erhebung: Hier sticht Minsk als Haupt- und Großstadt deutlich dadurch hervor, dass Russisch mit einem Wert von 56 Prozent die am häufigsten genannte Muttersprache ist, während dies bei den anderen sechs Städten zwischen 18 und 36 Prozent variiert. Weißrussisch erreicht ein Minimum von 38 Prozent und ein Maximum von 65 Prozent und ist bei fünf Städten die am häufigsten genannte Muttersprache (in den anderen beiden die zweithäufigste). Nur einmal ist die gemischte Sprache die am häufigsten genannte Muttersprache. Minimale Werte als Muttersprache erreicht die gemischte Sprache, wo entweder das Russische überdeutlich dominiert (Minsk) oder das Weißrussische. Ersteres korreliert mit der stereotyp vertretenen Ansicht der weitgehenden sprachlichen Russifizierung der Hauptstadt. Letzteres ist zwar im südwestlichsten Erhebungsort der Fall, der Polen am nächsten ist. Es ergeben sich insgesamt jedoch keine Hinweise, dass die drei Orte im jeweils westlichen Teil der drei Dialektgebiete, die alle vor dem Zweiten Weltkrieg auf polnischem Staatsterritorium lagen, generell höhere Werte für Weißrussisch als Muttersprache hätten, als die drei Orte (Minsk hier ausgenommen) in den östlichen Teilen, in denen schon vor dem Krieg das Russische dominierte. Hinsichtlich der Alltagssprache ist das Bild für das Weißrussische viel homogener: Die Werte variieren von minimal 1 Prozent (Minsk) bis maximal 10 Prozent, sind also überall sehr niedrig und erreichen nur einen kleinen Bruchteil der Werte, die für das Russische und die gemischte Sprache festzustellen sind. Die Werte für das Russische als Alltagssprache liegen zwischen 31 Prozent und 83 Prozent (Minsk), für die gemischte Sprache zwischen 16 Prozent (Minsk) und 65 Prozent. Es ist also offenkundig, dass aus der Sicht der Weißrussen in den Städten entweder Russisch oder die gemischte Sprache die Alltagssprache der Individuen darstellen. Was die Erstsprache in den einzelnen Städten betrifft, so sind unsere Daten sehr heterogen. Bemerkenswert ist jedoch, dass die höchsten Werte für die gemischte Sprache (zwischen 56 und 83 Prozent) in den drei kleinsten Städten mit Einwohnerzahlen unter 10.000 erreicht werden, in der Millionenstadt Minsk, wie zu erwarten, die geringsten (15 Prozent) und in den drei anderen Städten mit Einwohnerzahlen bei ca. 40.000 bis 50.000 mittlere
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(zwischen 20 und 45 Prozent). Darüber hinaus ist bezeichnend, dass als Erstsprache Weißrussisch maximal einen Wert von 32 Prozent erreicht. Allgemein kann somit verwiesen werden auf die extrem niedrigen Werte für Weißrussisch als Alltagssprache sowie auf die eher niedrigen Werte für Weißrussisch als Erstsprache und auf die relative Ausgewogenheit zwischen Russisch und gemischter Sprache als verbreitete Alltagssprachen. Die Ausnahme ist hier Minsk, wo Russisch nicht nur als Alltags-, sondern auch als Erstsprache deutlich dominiert, nur als Muttersprache nicht. Als solche erreicht das Weißrussische fast durchgehend die höchsten Werte, manchmal übertroffen von der gemischten Sprache. Teilweise ist die Variation zwischen den Städten sicher durch unterschiedliche Bildungsangebote und somit Bildung zu erklären. Zu Letzterem erlauben unsere Daten einige allgemeine Beobachtungen hinsichtlich des weißrussischen Durchschnitts (ohne Differenzierung der Städte): Die Informanten wurden je nach Schul- und Hochschulkarriere in fünf Klassen eingeteilt, von einem acht- bis neunjährigen Schulbesuch ohne Abschluss bis zum abgeschlossenen Universitätsstudium. Für die Frage, welches die Muttersprache sei, erweist sich diese Unterscheidung als weitgehend unerheblich. Das einzige auffallende Moment ist, dass Respondenten mit Universitätsabschluss etwas weniger häufig (um ca. 10 Prozentpunkte) die gemischte Sprache als Muttersprache nennen. Ganz ähnlich ist die Lage bei der Frage nach der Erstsprache. Durchaus deutlich ist ein Phänomen bei der Frage nach der Alltagssprache. Hier heben sich die Informanten mit abgeschlossenem Hochschulstudium (ein knappes Viertel der Respondenten) deutlich dadurch ab, dass sie mit 73 Prozent klar häufiger das Russische und mit 23 Prozent klar seltener die gemischte Sprache nennen, als die vier anderen Gruppen. Diese lassen jedoch untereinander keine weiteren Unterschiede erkennen und zeigen sowohl für das Russische als auch für die gemischte Sprache einen Wert von etwas unter 50 Prozent. In allen fünf Gruppen ist das Weißrussische als Alltagssprache eine Randerscheinung mit Werten zwischen 2 und 9 Prozent. Das von vielen normativ orientierten und vom sprachpuristischen Denken geprägten weißrussischen Sprachwissenschaftlern wiederholte Stereotyp, die gemischte Rede sei nur bei unteren Bildungsschichten ausgeprägt und daher ein Indikator des Kulturverfalls (mitunter begleitet mit Hinweisen auf negative Einflüsse auf das Denkvermögen), wird durch diese Daten in Frage gestellt. Ein letztes einschlägiges Kriterium, das hier angesprochen werden kann, ist das Alter der Informanten. Hier wurden die Befragten in etwa vier gleich große Gruppen aufgeteilt: (a) bis 24 Jahre, (b) zwischen 25 und 36, (c) zwischen 37 und 48 sowie (d) 49 und älter. Eher schwach wirkt sich der Unterschied auf die Nennung des Weißrussischen als Muttersprache aus: Dennoch liegt die älteste Gruppe mit 58 Prozent um gut 10 Prozentpunkte über den Werten der anderen Gruppen, und die jüngste Gruppe, die weitgehend in der selbstständigen Republik Belarus groß geworden ist, zeigt gegenüber der zweitjüngsten einen „Anstieg“ von immerhin 6 Prozentpunkten (47 vs.
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41). Die beiden jüngsten Gruppen zeigen mit 36 Prozent deutlich mehr Nennungen der Muttersprache Russisch als die beiden älteren Gruppen (ca. 22 Prozent). Und die höchste Quote der gemischten Sprache als Muttersprache zeigen einheitlich die beiden mittleren Generationen mit ca. 42 Prozent gegenüber der jüngsten und der ältesten Gruppe (beide 33 Prozent). Wesentlich größere Diskrepanzen zwischen den Alterskohorten zeigen die Fragen nach der Alltags- und der Erstsprache. Was die erstgenannte betrifft, so zeigt das Weißrussische wieder konstant niedrige Werte zwischen 3 und 6 Prozent in allen vier Gruppen, und dies, obwohl noch 30 Prozent der ältesten Kohorte und immerhin noch ca. 11 Prozent der jüngsten das Weißrussische als Erstsprache nennen. Die Frage nach der Erstsprache zeigt die deutlichste Abstufung in den Alterskohorten, und zwar beim Russischen: Der Wert steigt von der ältesten bis zur jüngsten Gruppe kontinuierlich: von 23 über 33 und 49 auf 62 Prozent. Dies ist ein vehementer Hinweis auf einen sich vollziehenden Sprachwechsel. Die gemischte Sprache als Erstsprache ist dagegen nur in der jüngsten Gruppe mit 32 Prozent deutlich weniger vertreten als in den drei älteren mit Werten von jeweils über 50 Prozent. Etwas gemäßigter fallen die Unterschiede bei der Frage nach der Alltagssprache aus: Völlig kongruent sind die beiden jüngsten Gruppen, wenn sie zu je 64 Prozent das Russische und je 34 Prozent die gemischte Sprache nennen. (Das Weißrussische zeigt bei ihnen und den beiden älteren Gruppen dieselben niedrigen Werte wie bei der Frage nach der Erstsprache.) Bei der ältesten Gruppe dominiert als Alltagssprache die gemischte Sprache mit 53 Prozent über das Russische mit 41 Prozent, die zweitälteste Gruppe zeigt jeweils Werte zwischen den jüngeren beiden und der ältesten.
4. Z USAMMENFASSUNG Die Lage für das Weißrussische scheint also noch viel bedrohlicher zu sein, als es die Daten der Volkszählungen ohnehin schon erkennen lassen. Die Nicht-Berücksichtigung der gemischten Rede in den Volkszählungen verschleiert und beschönigt das Bild. Die Weißrussen selbst sind sich der Existenz der gemischten Rede überaus bewusst und sehen sie – wie dargelegt – stark mehrheitlich entweder als etwas Drittes im Vergleich zu Weißrussisch und Russisch an oder als Variante des Weißrussischen, also im Sinne eines stark russifizierten Weißrussisch. In einem gewissen Sinne muss Weißrussland somit als dreisprachig angesehen werden, denn die Einschätzung der Sprecher selbst ist ein sozialpsychologisches Faktum. Natürlich müssen weitere Untersuchungen die Korrelation der Selbsteinschätzung der Sprecher mit den beobachtbaren strukturellen Fakten in ihrer Rede, in ihrem Sprachverhalten prüfen. Diese Aufgabe ist mit quantitativen und qualitativen Hürden verbunden. Erstere bestehen im Aufbau eines repräsentativen Korpus der gemischten Rede, was Jahre in Anspruch nimmt. Entscheidender sind die qualitativen Probleme, theoretische wie empirische.
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In der Mischung zweier eng verwandter Sprachen ist vielfach nicht oder zumindest nicht ohne einen theoretisch fundierten und gewichteten Kriterienkatalog zu entscheiden, was man der einen oder der anderen Sprache zuordnen muss und was man als gemeinsam vernachlässigen kann. Der weißrussische Sprachwissenschaftler Adam Suprun meinte einmal, dass die Wörter des Weißrussischen sich nur in 10 bis 20 Prozent „völlig“ von denen des Russischen unterscheiden.4 Die Frage ist: Was heißt „völlig“, und was heißt „nicht-völlig, aber dennoch“? Sehr vieles haben die beiden Sprachen gemeinsam. Einige einfache Beispiele: Völlig unterschieden sind Weißrussisch und Russisch im strengen Sinne nur dort, wo sie jeweils unterschiedliche Entlehnungen (aus nicht-slawischen Sprachen) zeigen: z.B. wr. papera und russ. bumaga ‚Papier‘, einmal abgesehen vom auslautenden -a, das eine beiden Sprachen gemeinsame Endung darstellt. Umgekehrt kann man als völlig gleich die Futurformen der ersten Person Singular des Verbs ‚sein‘ ansehen: budu. Wie steht es aber mit den entsprechenden Pluralformen: wr. budsem und russ. budem? Hier steht der Buchstabenunterschied d-ds für einen regelmäßigen Lautunterschied zwischen den beiden Sprachen (und übertreibt diesen sogar etwas). Dieser Unterschied könnte in gewissem Sinne als zu leicht, als Akzentphänomen vernachlässigt werden. Man redet z.B. vernünftigerweise auch nicht von einer gemischten Sprache, wenn ein Franzose grammatisch und lexikalisch korrekt Deutsch spricht, und nur seine Aussprache ihn (manchmal) als Franzosen kenntlich macht; es ist also gleichgültig, wenn er die deutsche Aussprache mal trifft, mal nicht. Deutlicher ist jedoch schon der Unterschied zwischen Weißrussisch und Russisch bei der Futurform der dritten Person Singular von ‚sein‘: wr. budse und russ. budet. Das Fehlende -t am Schluss der weißrussischen Form ist primär kein Ausspracheunterschied, sondern ein Unterschied in den Endungen. Zur Beantwortung der Frage, ob die gemischte weißrussische-russische Rede systematisch ein anderes Drittes im Vergleich zum Weißrussischen und Russischen darstellt, müsste (ausgehend von einer Klärung der prinzipiellen Relevanz von einzelnen Phänomen) auf der Grundlage des angesprochenen zukünftigen repräsentativen Korpus geprüft werden, ob sich in der gemischten Rede Muster und Subsysteme herausbilden, die sich sowohl vom Weißrussischen als auch vom Russischen abheben. Diese Frage kann zurzeit niemand umfassend beantworten. Wenn in Zukunft aber doch solche neuen Muster- und Systembildungen festgestellt werden können, dann darf man sie sich auf absehbare Zeit nicht als „all-weißrussisch“ einheitlich vorstellen, sondern eher als eine Reihe arealer, um städtische Zentren etablierter Koine. Und selbst dann wäre die mögliche dritte, gemischte Sprache, das mögliche gemischte System sicher keine Sprache in dem Sinne, wie das vom Weißrussischen und Russischen als potentielle oder reale Dachsprachen gesagt
4
Vgl. Suprun, Аdam Е.: Soderžanie оbučenija russkomu jazyku v belorusskoj škole, Minsk: Vyšėjšaja škola 1987.
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werden kann, sondern sie wäre eine sogenannte Subvarietät, eine Umgangssprache, mit arealen Spezifika insbesondere um städtische Zentren. Ob man sie dem Weißrussischen (als russifiziertes Weißrussisch) oder dem Russischen (dann mit starkem weißrussischem Substrat) zuordnen oder als etwas Drittes ansehen will, wäre sicher zum Teil politische Geschmackssache, könnte aber auch von den empirischen Befunden abhängig gemacht werden. Die – zumindest aus Sicht der Befragten – extrem schwache Etablierung des „nicht-gemischten“ Weißrussischen als Alltags- und auch schon als Erstsprache und die starke Verbreitung der gemischten Rede bergen ein großes Problem für das Weißrussische als Standardsprache. Die große Stärke der jungen, damals auszubauenden weißrussischen Standardsprache des 20. Jahrhunderts war im Vergleich zum Russischen aber auch zum Polnischen, die bis dahin diese Domäne beherrschten, ihre größere Nähe zu autochthonen Varietäten. Dies kam der bäuerlichen Identität der „Hiesigen“ (tutėšyja) entgegen. Wenn dieses Moment der Nähe aber schwindet, indem durch die Binnenmigration vom Land in die Städte und die damit einhergehende „Hybridisierung“ der Redegewohnheiten das autochthone Substrat beziehungsweise die autochthone mundartliche Basis schwindet, dann geht die Stärke der weißrussischen Standardsprache, eben ihre Nähe zu autochthonen Varietäten, zum großen Teil verloren. Wenn man dem Volk im Sinne Luthers nicht aufs „mischende Maul“ schauen will, so bleibt nur das Anknüpfen an den alten Standard. Ein solches Modell der Reaktivierung war im slawischen Raum schon einmal erfolgreich: Die tschechische Standardsprache ist im Kern eine Reaktivierung des Tschechischen (Böhmischen) aus der Zeit der Wende vom 16. zum 17. Jahrhundert. Nach langem Niedergang als Hoch- und Schriftsprache wurde sie im 19. Jahrhundert in der sogenannten nationalen Wiedergeburt reaktiviert und zum heutigen Standard ausgebaut. Das Tschechische hatte sich aber über die zwei Jahrhunderte dazwischen in lokalen Subvarietäten nicht zuletzt auch in den Städten weiter entwickelt und verändert. Das heutige Ergebnis ist eine große Distanz zwischen der Umgangssprache, die in allen sozialen Schichten fest etabliert ist, und der Standardsprache. Dies nennt man in der Sprachwissenschaft Diglossie. Ein solches Szenario ist auch in Weißrussland möglich, nur dass die Umgangssprache eben eine gemischte wäre. Dies ist sogar prinzipiell unabhängig davon, ob Weißrussisch oder Russisch die faktisch primäre oder sogar einzige offizielle Staats- und Dachsprache würde. Letzteres ist das aus heutiger Sicht Naheliegende. Dann könnte eine gemischte Umgangssprache zum Träger einer arealen weißrussischen Identität werden. Manche junge ukrainische Schriftsteller und Sänger wenden sich heute bereits dem sogenannten Surschyk (suržyk) zu, dem ukrainisch-russischen Pendant zur weißrussisch-russischen Trasjanka. Die gemischte Sprache könnte mit der Zeit aber auch zugunsten des Russischen schwinden, das nicht-gemischte Weißrussische dann aber noch viel eher. Aber auch wenn durch einen heute als völlig unwahrscheinlich erscheinenden radikalen politischen Wandel das Weißrussische zur einzigen Staatssprache gemacht wür-
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de, hätte die gemischte Sprache gute, vielleicht sogar noch bessere Überlebenschancen. Selbst unter einer weißrussischen „Staatsdachsprache“ bliebe ein starker russischer Einfluss über Jahrzehnte wahrscheinlich.
L ITERATUR Bieder, Hermann: „Der Kampf um die Sprachen im 20. Jahrhundert“, in: Dietrich Beyrau, Rainer Lindner (Hg.), Handbuch der Geschichte Weißrusslands, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2001, S. 451-471. Hentschel, Gerd/Kittel, Bernhard: „Urteile von Weißrussen über die Verbreitung ,ihrer Sprachen‘ im Lande“, in: Wiener Slawistischer Almanach 67 (2011) (im Druck). Hentschel, Gerd/Taranenko, Oleksandr/Woolhiser, Curt/Zaprudski, Siarhiej (Hg.): Studies on Belorussian Trasjanka and Ukrainian Suržyk as results on Belorussian- and Ukrainian-Russian language contact. (Papers from a conference, Oldenburg, June 15th – 18th 2007.), Frankfurt a. M. u.a.: BIS-Verlag (im Druck). Taranenko, Oleksandr: “Ukrainian and Russian in contact: attraction and enstrangement“, in: International Journal of the Sociology of Language 183 (2007), S. 119-140. Zaprudski, Siarhiej: “In the grip of replacive bilingualism: the Belarusian language in contact with Russian“, in: International Journal of the Sociology of Language 183 (2007), S. 97-118.
Traditionen in der Geschichte. Überlegungen zu einer Belarus-Historiographie S IARHEI K HODZIN
In der Republik Belarus entwickelte sich die Geschichtswissenschaft in Forschung und Lehre im Rahmen gesamteuropäischer Prozesse. Jene Divergenzen, die den Eindruck hinterlassen, gegen die allgemeinen Regeln zu verstoßen, erweisen sich bei genauerer Betrachtung als Folgen spezifischer weißrussischer Traditionen. Neuerdings ruft auch die im Informationszeitalter vor sich gehende Globalisierung das Interesse von Politikern und Wissenschaftlern hervor. Während sich in den westlichen Diskursen konkrete Ansichten über den Inhalt dieser Prozesse herausgebildet haben, dauert die Debatte über Begrifflichkeiten und Bedeutungen im postsowjetischen Raum noch an. Die Situation unterscheidet sich inzwischen aber wesentlich von derjenigen am Ende des 20. Jahrhunderts. Neben der postsowjetischen und neomarxistischen Schule haben sich im östlichen Europa die Apologeten der von Lucien Febvre und Marc Bloch inspirierten Schule der Annales etabliert. Ungeachtet der Tatsache, dass ihr Konzept älter als ein halbes Jahrhundert ist, wird es immer noch als „nouvelle histoire“ bezeichnet. Diese Richtung wird im postsowjetischen Raum von einem ganzen Spektrum historiographischer Strömungen repräsentiert, unter denen die Alltagsgeschichte, die Wirtschafts- und Sozialgeschichte, die Mentalitätengeschichte, die Gendergeschichte, die Historische Demographie und die Mikrogeschichte zu nennen sind. Vor diesem Hintergrund ist es an der Zeit, eine erste Bilanz zu ziehen.
1. K RISEN Die letzte Finanzkrise stellte unmittelbar die Stabilität unserer globalisierten Welt in Frage. Für Geisteswissenschaftler handelt es sich vor allem um eine
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„Krise in den Köpfen“. Als Handlungsmaximen wurden nicht mehr moralische und ethische Prinzipien, sondern Egozentrismus und Profitgier ausgemacht. In diesem Zusammenhang ist an die sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts zu erinnern, in denen die Generation, die die Schrecken des Zweiten Weltkrieges nicht mehr selbst miterlebt hatte, kritische Fragen stellte, die zur Erschütterung der bisherigen Weltanschauung führten. Diese Krise fand in der Sowjetunion erst in den achtziger Jahren ihren Widerhall, und zwar über die Aktivitäten der „Sechzigerjahre-Generation“ (šestidesjatniki). Bemerkenswerterweise lassen sich auch in Meistererzählungen längst vergangener Epochen ähnliche Krisenphänomene beobachten. Im Zeitalter der Nordischen Kriege beispielsweise wurde im 16. und 17. Jahrhundert in den ostmitteleuropäischen Chroniken und Memoiren das patriotische Pathos durch das Bedrohungsszenario der Sintflut ersetzt. In der Folge liefert die weißrussische, litauische und polnische Memoirenliteratur des 18. Jahrhunderts ausgezeichnetes Material für Fragen der Mikrogeschichte oder der Psychogeschichte. Abgesehen davon speist sich das Misstrauen gegenüber Metanarrativen aus dem ständigen Konflikt zwischen „Vätern und Söhnen“ (Iwan Turgenew). Jedenfalls wird die auf Universalität Anspruch erhebende Erfahrung der Väter von der jüngeren Generation in einer Nachkrisenzeit nur zurückhaltend angenommen. Der menschlichen Entwicklung selbst liegt ein Konflikt zugrunde, den Winston Churchill metaphorisch folgendermaßen umschrieben haben soll: „Wenn Sie 20 Jahre alt und kein Liberaler sind, haben Sie kein Herz, wenn Sie 40 Jahre alt und kein Konservativer sind, haben Sie keinen Verstand.“ Dieser Sachverhalt ist an den Hochschulen in besonderem Maße zu verspüren, weil sich hier die Standpunkte verschiedener Generationen überlagern. In der Magna Charta der Universitäten wird als wichtigstes Prinzip die Einheit von Forschung und Lehre proklamiert. Aus den Bedingungen unserer Moderne und Postmoderne resultiert indes ein Problem: Wie kann die Ausbildung an Massenuniversitäten diesem Prinzip gerecht werden? Virulent wird dieses Problem dort, wo die Traditionen des alten gymnasialen Typs mit den Formen des Frontalunterrichts nachwirken. In welcher Weise werden die neuen, auf der Förderung der eigenständigen und kreativen Arbeit beruhenden Ansätze im Stande sein, mit einem solchen System zu konkurrieren? Aller bisherigen Erfahrungen zum Trotz gibt es bei der Entwicklung des Bologna-Prozesses mehr Fragen als Antworten.
2. I RRITATIONEN Versucht man den Zustand der Fachdisziplin Geschichte in der Republik Belarus zu umreißen, so mangelt es an Begriffen. In der westlichen Tradition bezieht sich Historiographie mittlerweile weniger auf die Akkumulation von Wissen oder Fakten als vielmehr auf die Theorie und Philosophie der Geschichte. Für den amerikanischen Politikwissenschaftler Francis Fuku-
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yama beispielsweise stellt sich die Postmoderne als Triumph des Westens, als Sieg der liberalen Idee dar.1 Allerdings war Fukuyama nicht imstande, das Vakuum, das die Krise der kommunistischen Ideologie im östlichen Europa nach sich zog, mit Inhalt zu füllen. Wendet man sich der Geschichtsschreibung in Weißrussland zu, muss man die Rolle spezifischer Traditionen berücksichtigen. Für viele ausländische Historiker mag es den Anschein haben, dass die weißrussische Geschichtswissenschaft extrem konservativ ist, insbesondere wegen der übermäßigen Ideologisierung. Allerdings wird dabei der Kontext unterschlagen, in dem sich die Historiographie entwickelt. Die weißrussische Nation ist relativ jung. Ihre Wurzeln sind in der Agrargesellschaft verankert. Wenn die Nation auch nicht gerade bäuerlicher Natur ist, so entbehrt sie doch der urbanen Mentalität. Daher verhält sich die moderne weißrussische Gesellschaft eher konservativ. Sie verlässt sich nicht auf Worte, prüft alles lange und sehr genau, setzt eher auf eigene Erfahrungen. Traditionen gewährleisten die Stabilität einer solchen Gesellschaft und die Kontinuität ihrer Entwicklung. Ebenso wie in der breiten Öffentlichkeit gab es unter den Historikern immer auch Querdenker. Vor dem Hintergrund der Perestroika schlug der Prozess namens Meinungsvielfalt gerade am Ende der achtziger und zu Anfang der neunziger Jahre hohe Wellen. Diese Art von Revolution hatte sowohl zerstörerische als auch schöpferische Elemente. Um zu verstehen, was in der Gesellschaft geschah, muss man die historiographische Tradition analysieren, die zumindest indirekt das öffentliche Bewusstsein beeinflusste. Auch wenn die destruktiven Tendenzen dieser Zeit insbesondere das sowjetische Erbe in Mitleidenschaft zogen, ging die weißrussische Geschichtswissenschaft nicht so weit, historischen Masochismus zu betreiben. Allerdings wurde alles, was bis dahin unerschütterlich schien – der Begriff der Objektivität, die Zuverlässigkeit der historischen Quellen, die Methoden der Forschung –, in Frage gestellt. Teils begannen sogar der an historischen Themen interessierte Journalismus oder die politische Publizistik den Geschichtsdiskurs zu bestimmen. Das Bestreben, vermeintlich Unbekanntes oder Verbotenes zu erforschen, führte nicht selten dazu, das Rad neu zu erfinden. Buchtitel mit den Phrasen „Neu“ oder „Weiße Flecken“ füllten die Verlagskataloge. Die Nationalgeschichte befand sich im Stadium eines heranwachsenden Kindes, das behauptet, seine Eltern seien besser als alle anderen, und das gleichzeitig darauf besteht, alles gehöre ihm. Am deutlichsten spiegelte sich die Mythologisierung der Geschichte in der Neubewertung des Großfürstentums Litauen wider. Ein schlagendes Beispiel dafür sind die Werke des Philologen Mikalai Jermalowitsch, der mittlerweile von einem weißrussischen Großfürstentum spricht.2 Seit der Mitte der neunziger Jahre
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Vgl. Francis Fukujama: Konec istorii i poslednij čelovek, Moskva: AST 2004. Vgl. Ermalovič, Mikalaj: Belaruskaja dzjaržava Vjalikae knjastva Litoŭskae, Minsk: Bellitfond 2003.
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bestimmen drei Strömungen die weißrussische Geschichtsschreibung. Während die konservative Schule an den Postulaten des Marxismus-Leninismus festhält, strebte die liberale Schule in Anlehnung an die westliche Forschung danach, das Bild der Sowjetunion einer gründlichen Revision zu unterziehen. Die Oberhand gewann indes eine Richtung, die alle neuen Ansätze unter Berücksichtigung des Faktors der Traditionen auf die spezifische Entwicklung der weißrussischen Gesellschaft abstimmte.
3. R AHMENBEDINGUNGEN Im Unterschied zur postsowjetischen Historiographie operiert die westeuropäische Geschichtswissenschaft auf dem Fundus bereits erschlossener Archivquellen. Sie konzentriert sich daher auf die Entwicklung neuer Fragestellungen und die Anwendung neuer Methoden. Die Historiker in den Nachfolgestaaten der Sowjetunion stehen hingegen vor dem Dilemma, dass viele Archivalien bisher noch gar nicht zugänglich waren. Die geringe Kenntnis der Archivkunde und die mangelnde Selbständigkeit der Archivleitungen sind dafür verantwortlich, dass Historiker in die Situation geraten, sich in den Archiven auf die Jagd nach Fakten begeben und dabei Beute machen zu müssen. In Zukunft sollten Historiker und Archivare mehr aufeinander zugehen. Wie verhält sich die weißrussische Historiographie zu dem Phänomen, das in der internationalen Geschichtswissenschaft „cultural turn“ genannt wird? In den Geistes- und Humanwissenschaften, die sich ohnehin mit dem Menschen befassen, mutet es paradox an, dass der anthropologische Blick etwas vollständig Neues bieten soll. Brisant wird die Sache, wenn zweifelhafte Theorien weiterhin über eine veränderte Terminologie vermittelt werden. Beispielsweise beruhte die Konzipierung der Nationalgeschichte in der Republik Belarus zu Anfang der neunziger Jahre noch auf marxistischer Grundlage. Zu dieser Zeit traten Politik- und Gesellschaftswissenschaftler auf den Plan – die ehemaligen Experten für den historischen Materialismus und die Geschichte der Kommunistischen Partei der Sowjetunion –, die die Historiographie im Zeichen der Kulturologie zu erneuern trachteten. Trotz progressiver Ansätze blieb in der wissenschaftlichen Umgangssprache alles beim Alten. Als Errungenschaft der weißrussischen Geschichtswissenschaft verblieb das an den deutschen Historismus des 19. Jahrhunderts erinnernde Konzept der Neuverortung des Menschen in der Vergangenheit. Den Menschen aus seiner Zeit heraus zu verstehen, bedeutet von den Wertesystemen und den Lebensinteressen der Gegenwart zu abstrahieren.
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4. T RADITIONEN Signifikanterweise spielte der Traditionalismus in Weißrussland zu allen Zeiten eine große Rolle. Bereits die litauischen Großfürsten waren gezwungen, nach dem Prinzip zu handeln: „Das Alte wird nicht berührt, das Neue wird nicht eingeführt.“3 In diesem Sinne hielten Innovationen im Großfürstentum Litauen oft im herkömmlichen Gewande Einzug. Sie beruhten auf Entlehnungen aus westeuropäischen Ländern, die sich wie von selbst in die soziale Ordnung des Großfürstentums einfügten. Als Beispiel kann das Magdeburger Stadtrecht genannt werden. Es hatte eindeutig westeuropäischen Charakter, ließ sich aber auch mit den lokalen Traditionen vereinbaren. Die Eigenart der Lokalverwaltung war sogar so fest verankert, dass sich das Zarenreich nach den Teilungen Polens und der Inkorporierung Weißrusslands am Ende des 18. Jahrhunderts genötigt sah, Prinzipien des Litauischen Statuts, des im Großfürstentum Litauen kodifizierten Rechts, in den westlichen Gouvernements beizubehalten. Selbst die Bolschewiki hatten weißrussische Spezifika zu respektieren, als sie 1925 ein eigenes Gesetzbuch für die Belorussische Sozialistische Sowjetrepublik (BSSR) verabschiedeten. Weder im Großfürstentum Litauen noch in der polnischlitauischen „Adelsrepublik“ (Rzeczpospolita) waren alle Stände im Reichstag vertreten gewesen. Beim Sejm hatte es sich ausschließlich um eine Interessenvertretung des Adels, der Szlachta gehandelt. Für die übrigen Stände waren der Großfürst oder der König verantwortlich. Diese Tradition blieb für die politische Kultur in Weißrussland nicht ohne Folgen. Sie bedingt die einflussreiche Stellung des Staatsoberhaupts in der weißrussischen Gesellschaft. Über das Ziel hinaus schoss die Nationalgeschichtsschreibung indes in dem Bestreben, die weißrussische Staatlichkeit älter zu machen, als sie tatsächlich ist. Die Fürstentümer von Turow (wr. Turau) und Polozk (wr. Polazk) waren im 11. und 12. Jahrhundert auf dem heutigen Territorium der Republik Belarus angesiedelt, umfassten aber nie das gesamte Siedlungsgebiet der Weißrussen, abgesehen davon, dass für diesen frühen Zeitraum noch gar nicht von einer weißrussischen Ethnie gesprochen werden kann. Einheit stiftete wieder einmal die Tradition. Gemeint ist die Christianisierung durch Byzanz. In der orthodoxen Überlieferung wird die Übernahme des byzantinischen Erbes zur Begründung einer Tradition humanistischer Bildung und Kunst verklärt und ein Kontrast zum finsteren Mittelalter der lateinischen Welt postuliert. Auf der Grundlage der Orthodoxie begriff sich die ostslawische Bevölkerung des Kiewer Reichs jedenfalls als eine große Gemeinschaft. Das sprichwörtliche „Sammeln der russischen Länder“, d.h. der ehemaligen Territorien des Kiewer Reiches, ging in der Folge nicht al-
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Lietuvos Metrika, Band 6: 1494-1506, Vilnius: Mokslo ir Enciklopedijų Leidykla 2007, S. 170.
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lein von Moskau aus. In der Tat hatten auch die litauischen Großfürsten ein Interesse daran, die orthodoxe Bevölkerung unter ihrem Zepter zu vereinigen. Sie handelten dabei nicht nur mit militärischer Gewalt, sondern sicherten sich auch die Unterstützung der orthodoxen Kirche. Eine erfolgreiche Sammlungspolitik führte insbesondere der litauische Großfürst Witaut, der deswegen auch „der Große“ genannt wird. Am Ende des 13. und zu Beginn des 14. Jahrhunderts eroberte er weite Teile des ehemaligen Kiewer Reichs. Die Kehrseite der Medaille stellte die Slawisierung der Balten im Großfürstentum Litauen dar. Auf diesem Fundament vollzog sich die weißrussische Ethnogenese, zu deren wichtigsten Voraussetzungen das Territorium, die Kultur und die Sprache gehörten. Eine Besonderheit bestand darin, dass Altweißrussisch zur Kanzlei- und Verkehrssprache des Großfürstentums avancierte. Neben den Rivalitäten zwischen dem Großfürstentum Litauen und dem Moskauer Reich und den daraus resultierenden kriegerischen Auseinandersetzungen sind auch kulturelle Transfers und transnationale Bezüge hervorzuheben. Noch heute sind die Weißrussen stolz darauf, dass ihre Vorfahren die ersten Lehrbücher verfassten, nach denen die Russen die Grammatik erlernten. Der in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts in Moskau tätige weißrussische Schriftgelehrte Simeon von Polazk zeichnete sich nicht nur als Erzieher der Kinder des Zaren Aleksei Michailowitsch aus, sondern konnte sowohl den Aufbau einer Druckerei und einer Bibliothek zu seinen Verdiensten zählen. Als Übergangsregion zwischen der Orthodoxie, dem Katholizismus und dem Protestantismus stellte sich Weißrussland als ein Hort der Toleranz dar, die sich neben dem Glauben auch auf Sitten und Bräuche sowie auf Gefühle und Ideen erstreckte. Aufgrund dieser Tradition, die die Grundlagen des Selbstbestimmungsrechts der Völker mit der Achtung von Minderheitenrechten vereinbarte, erfüllte Weißrussland alle Voraussetzungen für eine Gesellschaft europäischer Prägung. Während des Zweiten Weltkriegs gelang es den nationalsozialistischen Besatzern daher nicht, in Weißrussland das Feuer interethnischer Konflikte zu entfachen. Vielmehr sind zahlreiche Beispiele von Weißrussen zu nennen, die ihre jüdischen Mitbürger vor dem Tod retteten. Dass Toleranz nicht die Preisgabe der eigenen Freiheit verheißt, bezeugt der Partisanenkrieg, den die Weißrussen den Deutschen lieferten. Die konservative Richtung der weißrussischen Historiographie betrachtet die 1918 proklamierte Belarussische Volksrepublik (BNR) und die 1919/20 gegründete Belorussische Sozialistische Sowjetrepublik (BSSR) als Glieder einer Kette, als Etappen auf dem langen Weg der Errichtung eines weißrussischen Staates. Ohne Zweifel stellt die BNR in ideeller Hinsicht einen wichtigen Schritt in die Unabhängigkeit dar, einen Schritt in Richtung Integration in die westeuropäische Gemeinschaft. Mit der Konsolidierung der BSSR gelang bis zum Zweiten Weltkrieg die Wiedervereinigung der nach dem Ersten Weltkrieg auseinandergerissenen weißrussischen Siedlungsgebiete. Unter sowjetischem Vorzeichen wurden zum ersten Mal in der
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weißrussischen Geschichte ein Staatsapparat, ein Bildungssystem und ein Kulturbetrieb geschaffen. Die BSSR wurde als „Partisanenrepublik“ in der gesamten Welt bekannt und verwandelte sich von einem Agrarland in einen Industriestaat. Dennoch zeichnet sich die traditionelle historische Schule nach wie vor durch die Fokussierung auf den „Großen Vaterländischen Krieg“ beziehungsweise den Zweiten Weltkrieg aus. Im Unterschied zu früher werden dabei aber neben den heldenhaften auch den tragischen Seiten der Besatzungszeit Aufmerksamkeit geschenkt, wie etwa dem Schicksal der Kriegsgefangenen und der nach Deutschland deportierten Zwangsarbeiter.
5. Z USAMMENFASSUNG Die Neukonstituierung der belarussischen Geschichtswissenschaft setzte bei der Überwindung des Historischen Materialismus an und beruhte auf der Kritik an der zunehmend empirisch oder positivistisch operierenden marxistischen Schule. Allerdings beurteilen die Anhänger der neuen historischen Schule die Vergangenheit nicht selten mit den Kategorien der Gegenwart. Sie unterschlagen dabei, dass vergangene Epochen eigene und andersgeartete Weltanschauungen hervorbrachten. Diesbezüglich ist anzumerken, dass die Übertragung von Ergebnissen psychologischer Forschungen des 19. und 20. Jahrhunderts auf die Epoche des 16. Jahrhunderts im Prinzip der Suche von Vertretern der marxistischen Schule nach Klassen in der antiken Gesellschaft gleicht. Ähnliche Probleme entstehen bei der Anwendung westlicher Konzepte in der Lehre. Genau wie in den Vereinigten Staaten von Amerika und in der Europäischen Union wird die Hochschulbildung auch in der Republik Belarus zu einer Massenerscheinung. Die Universitäten verlieren dabei ihre elitäre Tradition. Die Frage ist, ob bei der Imitierung westlicher Modelle nicht Wesentliches verlorengeht. Inwiefern sind für uns andere Formen überhaupt annehmbar? Oder ist eine solche Frage im Zeitalter der Globalisierung sinnlos? Offensichtlich treten wir in eine Phase ein, in der Antworten keine Ergebnisse darstellen, sondern wiederum neue, tiefer gehende Fragen hervorrufen. Übersetzung von Elizaveta Slepovitch
L ITERATUR Kipel, Vitaut/Kipel, Zora (Hg.): Belorussian Statehood. Reader and Bibliography, New York: Byelorussian Institute of Arts and Sciences 1988. Zaprudnik, Jan: Historical Dictionary of Belarus, Lanham, Md./London: Scarecrow Press 1998.
Rekonstruktionen der belarussischen Geschichte. Zur Überwindung von Stereotypen V ICTOR S HADURSKI
Sowohl in der internationalen als auch in der weißrussischen Wissenschaft wird der Sinn einer weißrussischen Nationalgeschichte angezweifelt. Dabei wird argumentiert, dass die Herausbildung des Ethnonyms Belarusse oder Weißrusse ebenso wie die Entstehung der belarussischen oder weißrussischen Literatursprache erst auf das 19. Jahrhundert zurückgeführt werden könne. Außerdem könne der Beginn einer eigenen weißrussischen Staatlichkeit erst auf den Zusammenbruch der Sowjetunion Ende 1991 datiert werden. Bei diesem Verständnis der Geschichte handelt es sich meines Erachtens um eine Vereinfachung des Problems. Denn die Vorfahren der heutigen Weißrussen lebten seit Jahrhunderten in einem großen kompakten Gebiet, das von anderen Ethnien durch Waldungen und Flüsse getrennt war. Selbstverständlich identifizierten sich die Bewohner mit ihrer Region. Sie zeichneten sich durch kulturelle und sprachliche Eigenheiten aus, die sie von den benachbarten Völkern unterschieden und die bis heute erhalten geblieben sind. Zugegebenermaßen schwankte die Eigenbezeichnung der Region und ihrer Bewohner im Laufe der Jahrhunderte in Abhängigkeit von der Einbeziehung in das jeweilige Vielvölkerreich. Aber auch in dieser Hinsicht stellte die Entwicklung der weißrussischen Ethnie nichts Besonderes dar. Ein Wandel der Ethnonyme ist typisch für „kleine Völker“. Schließlich setzte der Aufschwung des Nationalbewusstseins in Europa generell erst im 19. Jahrhundert ein. Zu beklagen ist, dass Belarus zu den am wenigsten bekannten Ländern Europas gehört. Noch heute ist nicht nur in der breiten Öffentlichkeit, sondern auch unter Wissenschaftlern die Ansicht verbreitet, Weißrussland habe in der europäischen Geschichte und in der europäischen Kultur kaum Spuren hinterlassen. Dieser Pessimismus in Bezug auf den Sonderweg in der weißrussischen Geschichte und die Eigenart der weißrussischen Sprache
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und Kultur findet in weiten Teilen der weißrussischen Gesellschaft eine Entsprechung. Das bedeutet aber nicht, dass das weißrussische Volk, das seit 1991 mit der Republik Belarus über einen unabhängigen Staat verfügt, keine den politischen Haupt- und Staatsaktionen gemäße, sondern lediglich eine die Banalitäten des Alltags widerspiegelnde Geschichte habe. Denn das Problem besteht vielmehr darin, dass das historische Gedächtnis vieler Weißrussen durch die Einflussnahme mächtiger Nachbarn erschüttert wurde, und dass ihr politisches Bewusstsein heute von den Wurzeln ihrer Vergangenheit abgekoppelt ist. Um das Phänomen Belarus begreifen zu können, muss die historische Entwicklung eines Volkes vergegenwärtigt werden, das im geographischen Zentrum Europas lebt.
1. D IE WEISSRUSSISCHE E THNIE WAR IM L AUFE IHRER G ESCHICHTE FAST IMMER EIN B ESTANDTEIL VON V IELVÖLKERREICHEN , OHNE DIE T ITULARNATION ZU STELLEN Die weißrussische Geschichte hat bis ins 20. Jahrhundert kaum Traditionen von Staatsbildungen aufzuweisen. Jahrhunderte lang war das Siedlungsgebiet der Weißrussen Bestandteil von Vielvölkerreichen, nämlich des altrussischen Staates, der sogenannten Kiewer Rus, des Großfürstentums Litauen, der polnisch-litauischen Union, des Zarenreichs und der Sowjetunion. Mitunter war das Territorium der heutigen Republik Belarus sogar zwischen den Nachbarstaaten aufgeteilt. Die jeweils dominanten ethnischen Gruppen kultivierten ihre eigenen Vorstellungen über die historische Entwicklung, setzten ihre Interessen in der Sprachenfrage um und strebten die Assimilierung anderer Völkerschaften an. Im Laufe von Jahrhunderten stand die weißrussische Ethnie unter polnischem Einfluss, bedingt durch die Union von Lublin 1569, d.h. durch den staatsrechtlichen Zusammenschluss des Königreichs Polen und des Großfürstentums Litauen, und durch die Kirchenunion von Brest (poln. Brześć) 1595/96, d.h. durch die Unterstellung der orthodoxen Bevölkerung unter den Primat des Papstes. Ein großer Verlust für die weißrussische Kultur war das seitens der polnisch-litauischen Machthaber 1691 erlassene Verbot des Altweißrussischen als Kanzleisprache. Der diesbezügliche Reichstagsbeschluss sah vor, nur noch Polnisch und Latein im Dienstgebrauch zu tolerieren. Nach Einverleibung der weißrussischen Gebiete ins Russische Reich wurde der Prozess der Polonisierung am Ende des 18. Jahrhunderts durch eine intensive Russifizierung ersetzt. Mit allen verfügbaren Mitteln wurde der Gedanke propagiert, dass die Weißrussen „verdorbene“ Russen seien. Die Regierung machte es sich zur Aufgabe, die durch die Polonisierung bedingten Unterschiede zwischen den weißrussischen und den russischen Untertanen zu verwischen. 1840 erließ Zar Nikolaus I. eine Verordnung, mit der die
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Bezeichnung Belorussija oder „Weißrussland“ verboten wurde. Das weißrussische Territorium wurde fortan offiziell „Nordwestgebiet“ genannt. Insgesamt gesehen ist der Assimilierungsprozess immer auch dadurch begünstigt worden, dass die Weißrussen anders als die Vorfahren der heutigen Litauer, Letten und Esten in kultureller und sprachlicher Hinsicht den polnischen und russischen Ethnien verwandt waren. Während der Sowjetzeit waren die Weißrussen gezwungen, sich den politischen Entscheidungen im Moskauer Kreml unterzuordnen, erhielten aber Attribute eigener Staatlichkeit zugeschrieben. Hinzuweisen ist auf den Status einer Unionsrepublik mit eigener Verfassung und auf staatliche Symbole wie die eigene Flagge oder das eigene Wappen. Für das Prestige der Belorussischen Sozialistischen Sowjetrepublik (BSSR) sprach darüber hinaus die Tatsache, dass sie 1945 neben der Ukrainischen Sozialistischen Sowjetrepublik (USSR) zusätzlich zur gesamten Sowjetunion zu den Gründungsmitgliedern der Vereinten Nationen gehört hatte. Allerdings wurden die Hoffnungen der Unionsrepubliken auf eine Erweiterung ihrer Rechte gegenüber dem Kreml nie erfüllt. Obgleich nach dem 20. Parteitag von 1956, der eine Abrechnung mit dem stalinistischen Personenkult vollzogen hatte, in der Innen- und Außenpolitik vorübergehend ein liberalerer Kurs eingeschlagen wurde, setzte sich die Sowjetisierung aller Lebensbereiche fort. In diesem Zusammenhang wurden die weißrussische Sprache und Kultur als ethnographisches Anschauungsmaterial betrachtet und bei Festen und Festivals im In- und Ausland instrumentalisiert, um den sozialistischen Internationalismus zu veranschaulichen. In seiner Rede zum 40. Jahrestag der BSSR verkündete der sowjetische Parteichef Nikita Chruschtschow 1959 in Minsk: „Je schneller wir alle Russisch sprechen werden, desto schneller werden wir den Kommunismus aufbauen.“1 Staatliche Unabhängigkeit erlangten die Weißrussen durch die Auflösung der Sowjetunion, die von den Staatschefs Weißrusslands, Russlands und der Ukraine am 8. Dezember 1991 im weißrussischen Nationalpark Beloweschskaja Puschtscha vollzogen wurde. In der Zeit der Systemtransformation fand eine intensive Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte statt. Neue Akzente wurden dabei in Bezug auf die Infragestellung von Geschichtsmythen bei den Weißrussen gesetzt als auch im Hinblick auf die Popularisierung der weißrussischen Geschichte im Ausland. Allerdings ist das Stereotyp von Belarus als einer rückständigen Provinz am Rande von Großmächten weiterhin in den Köpfen der meisten Weißrussen präsent.
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Toržestvennoe zasedanie Verchovnogo Soveta BSSR i Central’nogo Komiteta Kompartii Belorussii, Minsk: Belarus 1959, S. 12
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2. D IE K ONVERSION WEISSRUSSISCHER E LITEN ZUR S PRACHE UND R ELIGION DOMINIERENDER E THNIEN TRUG ZUR VERSPÄTETEN E NTWICKLUNG EINER NATIONALEN T RÄGERSCHICHT BEI Der Umstand, dass die Weißrussen in Polen-Litauen oder im Russischen Reich zwar „Ureinwohner“ waren, nicht aber zur dominierenden Ethnie gehörten, führte zum Übertritt ihrer Elite – zunächst des landbesitzenden Adels, später der intellektuellen Kreise – zur jeweiligen Titularnation. Die Übernahme von Sprache und Religion garantierte eine Verbesserung der Lebensbedingungen. Wege in Karrieren wurden dadurch ebenso geöffnet wie Zugänge zu materiellen Gütern. So führte etwa bei der Volkszählung von 1897 ein Drittel des Adels seinen Stammbaum auf das Großfürstentum Litauen zurück. Gebürtige Weißrussen, die in anderen Nationen zu „Stars“ ersten Ranges aufstiegen, waren der Mönch und Schriftsteller Simeon von Polozk (wr. Polazk), der Dichter Adam Mickiewitsch, der Dichter Władisław Syrokomlja, der Komponist Stanisław Moniuszko, der Wissenschaftler Ihnat Damejka, der Mediziner und Revolutionär Nikolai Sudsilowski und der Dichter Guillaume Apollinaire. Die Sprache wies sie als Angehörige einer anderen Kultur aus, aber von ihrer Herkunft und von ihrer Weltanschauung her repräsentieren sie ohne Zweifel auch Weißrussland. Es wäre allerdings falsch darüber zu streiten, welches Volk mehr Recht auf den Einen oder den Anderen hat. Es wäre sinnvoller zu behaupten, dass diese Persönlichkeiten für verschiedene Nationen sprechen und letzten Endes der Weltkultur gehören. Als ernsthaftes Problem bei der Nationsbildung kristallisierte sich seit der Frühen Neuzeit der Rückgang des weißrussischen Anteils an der städtischen Bevölkerung infolge verlustreicher Kriege und Epidemien heraus. Nicht von ungefähr hatte die mittelalterliche Stadt eine besondere Rolle bei der Herausbildung einer lokalen Kulturtradition gespielt. Paradoxerweise war der Anteil der städtischen Bevölkerung in Weißrussland in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts geringer als zu Anfang des 12. Jahrhunderts. Die Wiederbelebung der Städte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hing mit der Vertreibung der in der Frühen Neuzeit eingewanderten jüdischen Handwerker und Kaufleute vom flachen Lande einerseits und mit der Abkommandierung russischer Beamter in die Verwaltungszentren andererseits zusammen. Unter diesen Voraussetzungen verwandelten sich die Städte zu Repräsentantinnen einer Kultur, die sich von derjenigen der auf dem Lande lebenden weißrussischen Bauern unterschied. 1897 befanden sich auf dem heutigen Territorium 6.579.600 Menschen (73 Prozent Weißrussen, 13,8 Prozent Juden, 4,7 Prozent Ukrainer, 4,3 Prozent Russen und 2,5 Prozent Polen). Die Stadtbevölkerung, die rund eine Million Menschen stellte, verteilte sich auf 58,2 Prozent Juden, 17,8 Prozent Russen, 13,2 Prozent Weißrussen und 12 Prozent Polen. Minsk setzte sich zu 51 Prozent aus Juden und
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lediglich zu 9 Prozent aus Weißrussen zusammen.2 Der Niedergang der mittelalterlichen Städte Weißrusslands und die Polonisierung oder Russifizierung der Eliten führten dazu, dass keine Trägerschichten vorhanden waren, die den Weg in die politische Autonomie oder staatliche Unabhängigkeit hätten vorbereiten können. Im 19. Jahrhundert, das auch das Jahrhundert der „nationalen Wiedergeburt“ genannt wird und das im Zeichen der Nationalstaatsbildung stand, waren die weißrussischen Bauern die letzten Bewahrer lokaler Traditionen. Sie schufen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Voraussetzungen für die Werke nationaler Führungspersönlichkeiten. Auf Grundlage der bäuerlichen Mundart bildete sich die weißrussische Literatursprache.
3. W EDER IN DER G ESCHICHTSWISSENSCHAFT NOCH IN DER E RINNERUNGSKULTUR GIBT ES EINEN K ONSENS DARÜBER , WELCHE H ERRSCHAFTS VERBÄNDE ALS V ORGÄNGER DES WEISSRUSSISCHEN S TAATES BETRACHTET WERDEN KÖNNEN Nach wie vor werden Debatten über die Herkunft einzelner Persönlichkeiten und über das Erbe längst nicht mehr existierender Staaten geführt. Die größten Meinungsverschiedenheiten bestehen sowohl unter Historikern als auch unter Laien in Bezug auf das Großfürstentum Litauen, das sich seit der Mitte des 13. Jahrhunderts zu einem der größten Reiche des mittelalterlichen Europa entwickelt hatte. Einige Wissenschaftler sind der Ansicht, dass es sich beim Großfürstentum um einen weißrussisch-litauischen Staat handelte, wobei sie die dominierende Rolle der Weißrussen beziehungsweise ihrer Vorfahren mit Blick auf die Einwohnerzahl und der Größe des Territoriums hervorheben. Altweißrussisch war die Kanzleisprache des Staates. Auch die Statuten des Großfürstentums von 1529, 1566 und 1588 waren auf Altweißrussisch verfasst. In allen drei Statuten gab es Verordnungen über die obligatorische Verwendung dieser Sprache in Verwaltungsangelegenheiten. Belegt ist dieser Sachverhalt durch die sogenannte litauische Metrik, einer Sammlung aller staatlichen Dokumente. Andere Wissenschaftler, die sich auf die sowjetische Geschichtsschreibung stützen, sind der Meinung, dass die Vorfahren der Weißrussen im Großfürstentum Litauen lediglich eine untergeordnete Rolle spielten, weil die litauischen Feudalherren den Ton angaben. Diese Auffassung unterliegt einer Ideologisierung. Sie geht von der These aus, dass die Ostslawen nur ein staatliches Zentrum hatten, nämlich Moskau, dem das alleinige Recht zustand, „Länder zu sammeln“. Eine dritte
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Narysy historyi Belarusi, Band 1, Minsk: Belarus 1994, S. 329-333.
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Forschergruppe neigt schließlich zum Kompromiss. Sie weist auf den multiethnischen Charakter des mittelalterlichen Staates hin und charakterisiert das Großfürstentum als eine Föderation der Völker, die sich heute in Weißrussland, Litauen, Russland und der Ukraine wiederfinden. Demzufolge wurde das Großfürstentum als baltisch-slawischer Staat errichtet, in dem die ostslawische Bevölkerung in sozialer, wirtschaftlicher und kultureller Hinsicht eine maßgebliche Rolle spielte. Ohne in die laufenden Auseinandersetzungen eingreifen zu wollen, kann behauptet werden, dass die Gründung des Großfürstentums Litauen den Zerfall der weißrussischen Gebiete beendete und zur politischen und ethnischen Konsolidierung der weißrussischen Ethnie beitrug. Bereits seit dem 13. Jahrhundert begannen sich im Großfürstentum charakteristische Merkmale einer eigenständigen slawischen Sprache zu entwickeln. Das Kirchenslawische nahm immer mehr die Besonderheiten des lokalen, altweißrussischen Dialekts an. Innerhalb des Großfürstentums konsolidierte sich das Siedlungsgebiet der Weißrussen. Eine wichtige Rolle für die weißrussische Kultur und die weißrussische Nationalbewegung spielte vom 16. bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts die Stadt Wilna (lit. Vilnius, poln. Wilno). Aufschlussreich für die Einstellung der Weißrussen heute sind die Umfrageergebnisse des Unabhängigen Instituts für sozio-ökonomische und politische Forschungen (NISĖPI) aus dem Jahre 2004. Die Antworten auf die Frage „Welcher Herrschaftsverband stellte Ihrer Meinung nach den ersten weißrussischen Staat in der Geschichte dar?“ verteilten sich zu 34,6 Prozent auf das Großfürstentum Litauen, zu 15,1 Prozent auf die Belarussische Volksrepublik (BNR), zu 17,0 Prozent auf die Belorussische Sozialistische Sowjetrepublik (BSSR) und zu 18,2 Prozent auf die Republik Belarus. Immerhin 15,1 Prozent aller Respondenten konnten sich nicht entscheiden3 Im Dezember 2009 wurde bei einer Erhebung des Minsker Laboratoriums für axiometrische Forschungen NOVAK und des Belarussischen Instituts für Strategische Forschungen (mit Sitz in Vilnius) auf eine ähnliche Frage nach dem Ursprung der weißrussischen Staatlichkeit wie folgt votiert: Fürstentümer von Polozk (wr. Polazk) und Turow (wr. Turau) – 17,7 Prozent, Großfürstentum Litauen – 38,1 Prozent, BNR – 5 Prozent, BSSR – 12,4 Prozent, Republik Belarus – 9,2 Prozent.4 Die Antworten der letzten Umfrage weisen darauf hin, dass um das im 12./13. Jahrhundert bestehende Fürstentum Polozk heftige Debatten geführt werden. Kann man das mittelalterliche Fürstentum überhaupt als erstes weißrussisches staatliches Gebilde betrachten? Inwieweit unterschied sich seine ethnische Zusammensetzung von den anderen altrussischen Fürstentümern? Inwiefern war der Polozker Fürst vom
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Bjulleten’ „Novosti NISĖPI“ (2004) Nr. 1 (31). Siehe www.iiseps.org/bullet041.html vom 1.3.2011. Tamkovič, Aljaksandr: „Budz’ma“ nahadaŭ herojaŭ i adsvjatkavaŭ svoj „peršy hod“, in: Svobodnye novosti vom 23. Dezember 2009, S. 13.
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Kiewer Großfürsten abhängig? Die Auseinandersetzung wird dadurch erschwert, dass eine detaillierte Rekonstruktion der politischen Verhältnisse wegen des Mangels an schriftlichen Quellen nur bedingt möglich ist. Jedenfalls korrespondieren die Interpretationen häufig mit den politischen Überzeugungen der jeweiligen Forscher.
4. D IE R EKONSTRUKTION DER HISTORISCHEN E NTWICKLUNG W EISSRUSSLANDS WIRD DADURCH ERSCHWERT , DASS SICH B ENENNUNGEN UND S ELBSTBEZEICHNUNGEN VON E POCHE ZU E POCHE ÄNDERTEN Eines der wichtigsten Probleme für die Belarusforschung ist die Etymologie der wechselhaften Bezeichnungen für die Bevölkerung, die auf dem Territorium der heutigen Republik Belarus lebte, weil damit ethnische Zuschreibungen und nationale Identitäten angesprochen sind. Durch die spezifische Lage Weißrusslands in der multikulturellen Übergangszone zwischen Ostund Westeuropa wurden die Ethnogenese erschwert und die Entwicklung von Nationalsprache und Nationalbewusstsein verlangsamt. Ein gutes Beispiel bildet der in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts wirkende Schriftgelehrte und Bibeldrucker Franzysk Skaryna. Den politischen Realitäten entsprechend wies er stets darauf hin, dass Polozk seine Heimatstadt, Polen aber sein Vaterland sei. Weil er sich seinem Regionalbewusstsein gemäß mit dem Großfürstentum Litauen identifizierte, bezeichnete er sich meist als „Litauer“ (litvin). Wegen seiner Zugehörigkeit zur orthodoxen Kirche beschrieb er sich während eines Studienaufenthaltes in Italien aber als „Rusine“ (rusin). Skarynas Aussagen lassen sich verallgemeinern. Wie die Bevölkerung im übrigen Europa schauten auch die Weißrussen kaum über den Horizont ihrer Heimatregion hinaus. Davon abgesehen begriffen sich die Bewohner des Territoriums, das heute zum zentralen und westlichen Teil der Republik Belarus zählt, als Angehörige des Großfürstentums Litauen und nannten sich dementsprechend Litauer. Es besteht Grund zur Annahme, dass sich diese Bezeichnung nicht nur auf die Staatsangehörigkeit, sondern auch auf die Zugehörigkeit zu einer sich neu konstituierenden Ethnie bezog. Die ethnische Konsolidierung der ostslawischen Bevölkerung im Großfürstentum Litauen verlangsamte sich nach der Union von Lublin 1569 immer mehr und kam infolge der Teilungen Polens am Ende des 18. Jahrhunderts ganz zum Erliegen. Im Moskauer Reich fand im zweiten Jahrzehnt des 17. Jahrhunderts für das Gebiet zwischen Düna (russ. Sapadnaja Dwina) und Dnepr die Bezeichnung „Weiße Rus“ (Belaja Rus’) Verbreitung. Seine Bewohner wurden „Belarusen“ (belaruscy) genannt. Dieser Begriff hatte indes eine konfessionelle Bedeutung. Nur die orthodoxe Bevölkerung beziehungsweise die Mitglieder der orthodoxen Kirche verstanden sich als Bela-
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rusen oder als Anhänger des belarusischen Glaubens. Tatsächlich diente diese Terminologie dem Zarenreich zur ideologischen Rechtfertigung seiner territorialen Expansion. Hatte die zarische Regierung Anfang des 19. Jahrhunderts noch auf das Konzept „Belarus und die Belarusen“ gesetzt, um die Bezeichnungen „Litauen und die Litauer“ zu verdrängen, wurden mit der Einleitung einer Politik der Russifizierung ab 1840 keine diesbezüglichen Kompromisse mehr gemacht. „Belarus und die Belarussen“ wurde in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine Parole der weißrussischen Patrioten, die damit gegen die russische Unterdrückung protestierten. Vor diesem Hintergrund kam die Bezeichnung Litauer zur Gänze den Angehörigen der baltischen Ethnie zugute, die im Norden von Wilna lebten, den Samogiten und denen sich ihnen später anschließenden Aukschtaiten.
5. ALS Ü BERGANGSZONE ZWISCHEN VERSCHIEDENEN M ÄCHTEN , R ELIGIONEN UND K ULTUREN GERIET W EISSRUSSLAND OFTMALS IN DEN B RENNPUNKT VERHEERENDER K RIEGE Eine zentrale Rolle bei der Herausbildung einer ethnischen Identität spielte für die weißrussische Bevölkerung die Religion. Weißrussische Gebiete befanden sich nicht nur an der Kreuzung großer Staaten, sondern auch am Scheideweg von Religionen, die ihrerseits eine östliche und eine westliche Zivilisation repräsentierten. Diesbezüglich ging der amerikanische Politikwissenschaftler Samuel Huntington sogar so weit, eine Spaltung Weißrusslands anzusetzen. Den westlichen, vom Katholizismus geprägten Landesteil schrieb Huntington der einen Zivilisation zu, den östlichen, von der Orthodoxie beeinflussten Landesteil der anderen.5 Unberücksichtigt blieb dabei die Rolle der Unierten Kirche, die seit ihrer Gründung 1596 bis zu ihrem Verbot 1839 als Kompromiss fungierte. Huntington ist aber dahingehend zuzustimmen, dass Weißrussland bei Auseinandersetzungen zwischen seinen mächtigen Nachbarn als Puffer missbraucht wurde. Kriege waren eine ständige Gefahr. Heereszüge von West nach Ost und von Ost nach West überrollten das Territorium und zogen die Bevölkerung in Mitleidenschaft. Berechnungen zufolge wurde in den letzten acht Jahrhunderten in Weißrussland durchschnittlich alle zehn Jahre Krieg geführt. Die Kriegsgefahr nimmt daher im Bewusstsein der Weißrussen einen festen Platz ein. Daraus resultiert auch die Neigung des weißrussischen Volkes, sich an jede Macht anzupassen. Immer gilt die Devise: „Hauptsache, kein Krieg!“ Weißrussland war praktisch von allen bewaffneten Konflikten betroffen, die im Baltikum für Aufsehen sorgten, sei es der Livländi-
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Chantington, Samuėl: Stolknovenie civilizacij, Moskva: ACT 2003, S. 5.
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sche Krieg 1558-1583, der russisch-polnische Krieg 1654-1667, der Große Nordische Krieg 1700−1721, der Russlandfeldzug Napoleons 1812, der Erste Weltkrieg 1914-1918 oder der Zweite Weltkrieg 1939-1945. Mitunter führten Kriege sogar dazu, dass die weißrussische Bevölkerung in Gruppen gespalten wurde, die gezwungen waren, gegeneinander zu kämpfen. Zu einer der größten Tragödien in der weißrussischen Geschichte gestaltete sich der russisch-polnische Krieg Mitte des 17. Jahrhunderts, der zu einem Bevölkerungsverlust von annähernd 50 Prozent führte. Eine demographische Katastrophe ähnlichen Ausmaßes stellte der Zweite Weltkrieg dar, in dem mehr als ein Viertel der Bevölkerung umkam. Kein Wunder, dass die Menschen in Weißrussland die Geschichte ihres Landes geradezu mit Kriegen und Tragödien assoziieren. Errungenschaften, die in Friedenszeiten erzielt wurden, etwa kulturelle und wirtschaftliche Beziehungen zu den Nachbarn, geraten dabei aus dem Blickfeld.
6. D AS O RIENTIERUNGSBEDÜRFNIS IST FÜR DIE W EISSRUSSEN IN B EZUG AUF G ESCHICHTE , G EGENWART UND Z UKUNFT STÄRKER DENN JE Diskussionen über Weißrusslands Platz in der europäischen Zivilisation im Allgemeinen und über die Position der Republik Belarus im östlichen Teil des europäischen Kontinents im Besonderen sind heutzutage wieder aktuell. Das Land ist wieder zwischen zwei große Mächte eingekeilt, zwischen der Europäischen Union, die durch die Osterweiterung 2004 zu einem direkten Nachbarn geworden ist, und der Russischen Föderation, die nach Stärkung ihres Einflusses in den ehemaligen Sowjetrepubliken strebt. Unter diesen Voraussetzungen gerät Weißrussland in die Gefahr, zu einem Puffer degradiert zu werden, zu einer Barriere zwischen führenden Akteuren der internationalen Politik. Indes gelten innerhalb der Republik Belarus gänzlich andere Bedingungen als zuvor. Es bildet sich eine nationale Elite heraus, die eine Ideologie weißrussischer Staatlichkeit vertritt. Auch die junge Generation ist an einem selbständigen Leben interessiert und hängt nicht mehr nostalgisch an der Vergangenheit. Insgesamt gesehen versteht es die weißrussische Gesellschaft immer mehr, den hohen Wert der Unabhängigkeit zu schätzen. Allerdings ist unbestimmt, an wessen Seite der Weg in die Zukunft beschritten werden soll. Die weißrussische Öffentlichkeit kann sich nicht zwischen „Russland und Europa“ entscheiden. Umfragen bestätigen diesbezüglich einen gewissen Dualismus mit schwankenden Optionen für die eine oder andere Integrationsform. Dieser Umstand ist der weißrussischen Regierung durchaus bewusst. Am 31. Juli 2009 teilte Außenminister Sergei Martynow der Nachrichtenagentur „Agence Europe“ mit: „Für ein Land, das sich zwischen zwei Supermächten befindet, gibt es keine Wahl. Wir pflegen keine Freundschaften auf Kosten Anderer. Und was die Beziehungen zur
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Europäischen Union betrifft, gilt für uns prinzipiell, dass wir zwischen der Freundschaft mit Russland und der Freundschaft mit der Europäischen Union die Waage halten.“6 Das bedeutet, das Weißrussland geopolitisch für eine Außenpolitik prädestiniert ist, deren Ziel die Bewahrung gutnachbarschaftlicher Beziehungen zum Westen wie zum Osten sein muss. In letzter Zeit verwendete die weißrussische Regierung öfters den Begriff „Brücke“, um die spezifische Lage des Landes zu kennzeichnen. Das Bestreben, die „goldene Mitte“ zu treffen, verlangt von der weißrussischen Diplomatie geradezu die Präzision eines Juweliers.
7. Z USAMMENFASSUNG Die Probleme, die im Inland wie im Ausland in Bezug auf die Wahrnehmung der weißrussischen Geschichte vorhanden sind, müssen nicht unbedingt Pessimismus hervorrufen. Den Weißrussen und ihren Vorfahren ist es über Jahrhunderte gelungen, unter ungünstigen Bedingungen die Besonderheiten ihrer Sprache und ihrer Traditionen zu bewahren. Dies kann der Grund für einen optimistischen Blick in die Zukunft sein. Belarus verfügt über die erforderlichen Voraussetzungen für die Schaffung einer offenen demokratischen Gesellschaft, die fähig ist, Fortschritte in allen Sphären zu gewährleisten, darunter auch im Prozess der Integration in die Europäische Union. Denn Weißrussland ist historisch gesehen ein Raum der Überschneidungen und Kreuzungen verschiedener kultureller Einflüsse. Zugleich besitzen die Weißrussen reichlich Erfahrung bei der Bewahrung ihrer nationalen Spezifika. Um ihre Ziele zu erreichen, muss die weißrussische Gesellschaft auf die Nation setzen und den Minderwertigkeitskomplex überwinden, der mit der von außen kommenden Zuschreibung einer kulturellen Provinz verbunden ist. Übersetzung von Elizaveta Slepovitch
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„Interv’ju Ministra inostrannych del Belarusi S. Martynova dlja informacionnogo agenstva ,Agence Europe‘, 29 ijulja 2009“, in: Ministerstvo inostrannych del Respubliki Belarus‘. Siehe http://mfa.gov.by/press/news_mfa/html vom 1.3.2011.
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L ITERATUR Beyrau, Dietrich/Lindner, Rainer (Hg.): Handbuch der Geschichte Weißrußlands, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2001. Bugrova, Irina: Politische Kultur in Belarus. Eine Rekonstruktion der Entwicklung vom Großfürstentum Litauen zum Lukašenko-Regime, Mannheim: FKSS 1998. Lindner, Rainer: Historiker und Herrschaft. Nationsbildung und Geschichtspolitik in Weißrußland im 19. und 20. Jahrhundert, München: Oldenbourg Verlag 1999. Marples, David: Belarus: A Denationalized Nation, Amsterdam: Harwood Academic Publishers 1999. Snyder, Timothy: The Reconstruction of Nations: Poland, Ukraine, Lithuania, Belarus, 1569-1999, New Haven u.a.: Yale University Press 2003. Vakar, Nicholas P.: Belorussia. The Making of a Nation. A Case Study, Cambridge: Harvard University Press 1956. Zaprudnik, Jan: Belarus. At a Crossroads in History, Boulder/San Francisco/Oxford: Westview Press 1993.
Trans- und multikulturelle Entwicklungspfade am Rande Ostmitteleuropas. Belarus und die Ukraine vor dem Anbruch der Moderne C HRISTOPHE V . W ERDT
Wir verorten Belarus und die Ukraine meist eindimensional im historischen und kulturellen Orbit Russlands. Die beiden Staaten und Gesellschaften werden aus der engen historischen Konstellation, die sie zweifellos mit Russland verbindet, nur mit Mühe ausdifferenziert. Diesen Eindruck bestätigen die weißrussische und ukrainische Nationalbewegung gleich selbst: Sie beziehen sich in ihrem Denken zumeist an prominenter Stelle auf Russland und die Sowjetunion, von welchen sie sich mit Hilfe des Konstrukts abgrenzen, Belarussen und Ukrainer seien eigenständige, tief in der Geschichte wurzelnde Nationen. Ich will an dieser Stelle in keiner Weise die Berechtigung einer nationalen Perspektive in der Geschichtsschreibung der beiden Staaten in Frage stellen. Diese konzentriert sich darauf, mit Blick auf die Gegenwart und auf ein vermeintliches Ziel der Geschichte, nachzuzeichnen, wie sich nationale Gesellschaft und Nationalstaat herausgebildet haben – im Falle von Belarus besonders auch unter Berücksichtigung gewisser Defizite in der vermeintlich teleologischen historischen Entwicklung hin zur Nation. Solche Geschichtsschreibung verfolgt nicht zuletzt die Aufgabe, die jungen Staaten als „natürliche“ Endprodukte eines geschichtlichen Prozesses zu legitimieren. Solange die weißrussische und die ukrainische Geschichte dominant nach dem exklusiven nationalen Paradigma betrachtet werden, besteht jedoch die Gefahr, Wesentliches in diesen Geschichten zu verpassen. Ihr Plot droht dadurch zu einer Erzählung „verspäteter“ oder „unvollkommener“ Nationsbildung herabgemindert zu werden. Viel eher dürfte ein geschichtswissenschaftlicher Ansatz fruchtbar sein, der untersucht, wie die Geschichte der Gebiete des heutigen weißrussischen beziehungsweise ukrainischen Staates über weite Strecken im Zusammenhang einer trans- und multikulturellen
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Peripherie verlief. Dies gilt nicht zuletzt selbst für die Nationsbildungsprozesse. Obwohl man diese häufig ausschließlich als Phänomen der kulturellen und sozialen Ab- und Ausgrenzung darstellt, wurden gerade die jeweiligen Nationsbildungen von Belarussen und Ukrainern – aber auch von Juden, Polen und Russen – gewichtig von diesem interaktiven trans- und multikulturellen Kontext beeinflusst. Ein „transnationaler“ Zugang zur Geschichte der Gebiete, Gesellschaften und Kulturen, über die die Moderne eher willkürlich die politischen Staatsgrenzen der Republik Belarus und der Ukraine gelegt hat, entsagt einem ausschließlich ethnonationalen Ansatz, der in seiner Tendenz national definierte Einheiten isoliert behandelt.1
1. D IE VON
TRANSKULTURELLE G ROSSREICHEN
P ERIPHERIE
Die historischen Gesellschaften und Kulturen der Territorien, welche die Basis der modernen Staaten Belarus und Ukraine bilden, befanden sich bis zum Ende des 20. Jahrhunderts, als sie die Eigenstaatlichkeit erlangten, mehr oder weniger immer an der Peripherie von Großreichen. Der Begriff „Peripherie“ ist dabei nicht abwertend in der Bedeutung von „zweitrangig“ gemeint. Er bringt vielmehr einerseits zum Ausdruck, dass die weißrussischen und ukrainischen Gebiete aus dem Blickwinkel des jeweiligen Zentrums politisch am Rande lagen. Andererseits bedeutete ihre periphere Situierung auch, dass sich die genannten Regionen historisch an der „Umlaufbahn“ benachbarter staatlicher und kultureller Systeme bewegten und dadurch in und mit diesen kommunizierten. Im politischen Sinne gilt diese periphere Lage allerdings nicht für das Mittelalter und die multipolare Reichsbildung der Kiewer Rus (10.–13. Jahrhundert). Diese hatte neben Kiew (ukr. Kyjiw) verschiedene politische Zentren, und die einzelnen Fürstentümer verfügten über ausgeprägte lokale Identitäten. Zwei dieser Fürstentümer, dasjenige von Polozk (wr. Polazk) im Nordwesten (heute Belarus) und jenes von Halytsch-Wolhynien im Südwesten (heute Ukraine), wurden von der späteren nationalen Geschichtsschreibung zu mittelalterlichen Vorläufern der modernen Staaten Belarus und Ukraine stilisiert. Kulturell aber sind diese beiden Fürstentümer sehr wohl an der Peripherie zu verorten, unterhielten doch die genannten Fürstentümer in einem Ausmaß Beziehungen zum benachbarten lateinischen Europa, das für das Kiewer Reich außergewöhnlich war. Nur zwei Episoden sollen dies hier verdeutlichen: Polozk stand im intensiven Handelskontakt mit Riga, so dass
1
Vgl. auch: Werdt, Christophe von: „Transformation und nationale Identität in der Ukraine und in Belarus. Ein historischer Vergleich“, in: Carsten Goehrke/Seraina Gilly (Hg.), Transformation und historisches Erbe in den Staaten des europäischen Ostens, Bern: Peter Lang Verlag 2000, S. 331–364.
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sich dort im 13. Jahrhundert eine katholische Gemeinde niederließ; die Fürsten von Halytsch-Wolhynien beriefen im gleichen Zeitraum westliche deutschrechtliche Kolonisten zum Ausbau ihrer Städte ins Land und traten vorübergehend sogar in die Familie der durch den katholischen Papst gekrönten christlichen Königsdynastien ein. Bereits im späten Mittelalter manifestierte sich damit die historisch besondere kulturelle Grenzlage von Belarus und der Ukraine. Spezifisch war diese allerdings nur in dem Sinne, als dass sie die Räume des lateinischen und orthodoxen Europa in Beziehung setzte. Denn die kulturelle Hybridität, die daraus für Belarus und die Ukraine resultierte, ist wohl in hohem Ausmaße kennzeichnend für alle mehr oder weniger durchlässigen Grenzräume. Unter dem Untersuchungsblickwinkel von „Grenzraum“ und „Hybridität“ sind die weißrussische und ukrainische Geschichte überdies als zutiefst europäisch zu bezeichnen. Zwischen dem 14. und 18. Jahrhundert verstärkte sich die Prägung von Ruthenien – die latinisierte Bezeichnung (abgeleitet von Rus) für Belarus und die Ukraine in der Sprache der zeitgenössischen Quellen – als politische und kulturelle Peripherie. Im ersten Abschnitt dieser Periode war Ruthenien cum grano salis Teil des Großfürstentums Litauen (bis 1569), anschließend der polnisch-litauischen Adelsrepublik. Beide waren multikulturelle Reichsbildungen – das Großfürstentum Litauen flächenmäßig zeitweise sogar die größte Europas. Neben der namengebenden polnischen und litauischen politischen Nation umfasste diese Reichsbildung auch jüdische und deutsche Sprach- oder, wohl zutreffender gesagt, katholische, protestantische und israelitische Konfessionsgemeinschaften – um nur die wichtigsten zu nennen – und natürlich die ruthenisch-orthodoxe Konfessionsethnie. Ruthenien war, obwohl es ungefähr 90 Prozent der Fläche und mehr als drei Viertel der Bevölkerung des litauischen Großfürstentums umfasste, politisch Peripherie dieser Reichsbildungen. Das Großfürstentum Litauen und das Königreich Polen wurden im Großen und Ganzen politisch von katholischen Herrscherdynastien und Adelsgeschlechtern, der polnischen und litauischen „politischen Nation“ dominiert. Allerdings hat man wohl bisher die Partizipation des orthodoxen ruthenischen Elements an der politischen Nation PolenLitauens eher unterschätzt. Jedenfalls war es davon nicht ausgeschlossen. Die politisch periphere Stellung verstärkte den Charakter von Belarus und der Ukraine als fruchtbare kulturelle Peripherie zweier Konfessionsund Kulturräume. Denn im multikulturellen Staatsverband Polen-Litauens, in dem die Adelsnation mit ihren politischen und wirtschaftlichen Vorrechten über alle kulturellen Grenzen hinweg große Anziehungskraft ausstrahlte, konnten die ruthenischen Länder ihre politische Autonomie nur sehr beschränkt bewahren und sich vor äußeren Einflüssen abschotten – anders etwa als das benachbarte Moskauer Zarenreich. So entwickelte sich Ruthenien zu einem Ausschnitt der orthodoxen Welt, für den der Austausch, die kreative Aneignung und kulturelle Diffusion mit dem lateinischen Europa konstitutiv war. Ruthenien scheint darin anderen orthodox-lateinischen Grenzräumen durchaus vergleichbar – etwa Siebenbürgen. Eine unvollständige,
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summarische Stichwortliste für dieses Phänomen der kulturellen Hybridität muss an dieser Stelle genügen: humanistisch geprägte Auseinandersetzung mit der eigenen Religion, Sprache, Geschichte, was bis ins eigene Bildungswesen ausstrahlte; kyrillischer Buchdruck; Barockarchitektur; Magdeburger Stadtrecht; politisch freiheits- und rechtsbewusste Adelsnation. Es handelte sich dabei um Erscheinungen, die Ruthenien aus dem benachbarten katholischen Europa rezipierte und sich aneignete. Damit verankerte es sich strukturell als Teil Ostmitteleuropas. Als sichtbarstes institutionelles Zeugnis dieser Grenzlage Rutheniens steht bis in die Gegenwart die griechischkatholische oder unierte Kirche. Auch sie war dabei weniger Resultat des Drucks der gegenreformatorischen katholischen Kirche als vielmehr eine der möglichen reformerischen Antworten auf die Begegnung der orthodoxen Kirche Polen-Litauens mit Reformation und Gegenreformation – eine andere Antwort war die Laienbewegung der orthodoxen Bruderschaften. Angesichts solcher Produkte des ruthenischen Grenzraums wird man beim Begriff „kulturelle Peripherie“ kaum an „zweitrangig“ denken wollen. Bereits in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts, und schließlich definitiv im Zuge der verschiedenen Teilungen Polen-Litauens, wechselten Belarus und die Ukraine von der östlichen Peripherie Polen-Litauens an die westliche Peripherie Russlands. Auch wenn zu berücksichtigen ist, dass das ukrainische Kosakenhetmanat noch über Jahre eine gewisse Autonomie genoss, so lagen doch Belarus und die Ukraine eindeutiger als noch zuvor an der politischen Peripherie – nun allerdings von Moskau und St. Petersburg. Wiederum spielte jedoch die weißrussisch-ukrainische Peripherie, jetzt im Rahmen des Russländischen Imperiums, kulturell eine produktive und fruchtbare Rolle. Dies sei an ausgewählten Beispielen illustriert. Während der kriegerischen Konfrontation mit Polen-Litauen in der Mitte des 17. Jahrhunderts ließ der Moskauer Zar zu Tausenden weißrussische Handwerkerfamilien aus den Städten des Großfürstentums Litauen ins Zarenreich umsiedeln. Eine andere Form des Wissenstransfers aus der ruthenischen Peripherie vollzog sich bis in die erste Hälfte des 18. Jahrhunderts, als Zöglinge der Kiewer Akademie einen bedeutenden Teil der kulturell-geistlichen Eliten Russlands stellten. Unter anderem trugen sie wesentlich dazu bei, das Russländische Reich in der Tradition einer kontinuierlichen Herrschaftsbildung zu imaginieren, die zurück bis auf das Kiewer Reich gehe. Eine Konzeption, die auch die Gebiete von Belarus und der Ukraine als Teil der russländischen Geschichte begriff und dadurch deren „Wiedervereinigung“ mit Russland im 17. Jahrhundert rechtfertigte. Schließlich ist daran zu erinnern, dass sich die großrussische nationale Identität in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts vor allem in der Auseinandersetzung mit der polnischen und ukrainischen Nationalbewegung an der „westrussischen“ und „kleinrussischen“ Peripherie des Russländischen Imperiums formierte. Kurz zusammengefasst: Bis ins 20. Jahrhundert hinein – also über eine Zeitspanne von gut 700 Jahren hinweg – brachten Belarus und die Ukraine den orthodoxen und den lateinisch-katholischen Teil Europas als deren hyb-
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ride Peripherie in einen fruchtbaren kulturellen Austausch. Dies – selbstverständlich mit einer regional unterschiedlichen und grundsätzlich von West nach Ost abnehmenden Intensität – macht letztlich in der Außensicht die Spannung und das im europäischen Vergleich Besondere in der Geschichte sowohl von Belarus als auch der Ukraine aus.
2. M ULTIKULTURALITÄT Der „transkulturelle“ Aspekt der weißrussischen und ukrainischen Geschichte ist in erster Linie auf kulturelle Transfer- und Diffusionserscheinungen zwischen dem lateinisch-katholischen und orthodoxen Europa fokussiert. Ein solcher Blickwinkel ist grundsätzlich bipolar ausgerichtet. Zugleich zeichnete die Region jedoch auch eine ausgesprochene kulturelle und konfessionelle Multipolarität aus. Diese Multikulturalität war vor allem eine Erscheinung des städtischen Umfelds. Die ausgeprägt multikonfessionelle Zusammensetzung der Bevölkerung in den Städten Rutheniens hat ihren Ursprung ebenfalls im späten Mittelalter. Bestrebungen, die auf die Festigung der Landesherrschaft und die wirtschaftlich-fiskalische Aufwertung der Städte abzielten, legten die Grundlagen eines multipolaren Städtewesens. Sie begleiteten die Entwicklung des städtischen Raums sowohl im späten Mittelalter und der frühen Neuzeit als auch in einer späteren Phase während der Zugehörigkeit von Belarus und der Ukraine zum Russländischen Reich. Bereits zwischen dem ausgehenden 13. und dem Ende des 14. Jahrhunderts wanderte fremdstämmige Bevölkerung in die Städte am westlichen Rand Rutheniens ein. Juden und deutschrechtliche – nur selten auch tatsächlich deutschsprachige – Kolonisten aus den westlichen Ausläufergebieten der Ostkolonisation siedelten in den bereits bestehenden ruthenischen Burgstädten. Sie genossen dabei eine gesonderte, privilegierte Rechtsstellung gegenüber der ansässigen städtischen orthodoxen ruthenischen Bevölkerung, die erst mit der Zeit ins Magdeburger Stadtrecht überführt wurde. Überdies gehörten Armenier, Griechen, Karäer und Tataren schon im Mittelalter zum multikulturellen Erscheinungsbild der ruthenischen Städte. Denn das Großfürstentum Litauen reichte in den Zeiten seiner größten Ausdehnung bis in den Schwarzmeer-Raum, und von dorther verliefen wichtige internationale Handelswege nach Westen. Vergleichbar mit den vorgenannten spätmittelalterlichen und neuzeitlichen Prozessen des städtischen Landesausbaus war die Kolonisation Neu-Russlands, der südöstlichen und an das Schwarze Meer anstoßenden ukrainischen Gebiete im ausgehenden 18. und 19. Jahrhundert. Auch hier war das auslösende Moment die strukturelle wirtschaftliche Modernisierung und herrschaftliche Absicherung relativ dünn besiedelter und neu eroberter, ins Russländische Imperium zu integrierender Gebiete. Es brachte ebenfalls multikulturelle Stadtlandschaften hervor – am prominentesten wäre hier Odessa (ukr. Odesa) zu nennen.
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Die multikulturelle Städtelandschaft von Belarus und der Ukraine war regional und diachron sehr unterschiedlich ausgeprägt. Bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts war das städtische Leben Rutheniens in seiner Multikulturalität vor allem von der Frage bestimmt, wie die politisch und wirtschaftlich bevorrechtete katholische Bevölkerung im Verbund mit der orthodoxen beziehungsweise eben mit der unierten Einwohnerschaft gemeinsam als städtische Gemeinde funktionieren sollte. Natürlich stellte sich dieses Problem nur dort, wo die Stadtbevölkerung tatsächlich zu höheren Anteilen unterschiedlicher Konfession war. Als Paradebeispiele können hier die beiden großen und bedeutenden, am Westrand Rutheniens gelegenen Städte Wilna (lit. Vilnius, poln. Wilno) und Lemberg (ukr. Lwiw, poln. Lwów) dienen. In der großen Krise des ruthenischen Städtewesens in der Mitte des 17. Jahrhunderts, ausgelöst durch den Nordischen Krieg und seine Folgen, verminderte sich die Stadtbevölkerung um mehr als die Hälfte. Nach diesem Einbruch und mit dem wachsenden politischen Einfluss Russlands in der Region veränderte sich seit der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts auch das demographische Gesicht der Städte. Insbesondere nahm der Anteil der jüdischen Bevölkerung markant zu, nicht zuletzt infolge gesetzlicher Ansiedlungsbeschränkungen der russländischen Reichsregierung für die Juden. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts lag der Anteil der jüdischen Stadtbevölkerung so bei über 50 Prozent in Belarus und bei gut einem Drittel in den verschiedenen Regionen der Ukraine. Parallel zu diesem Vorgang verminderte sich in den westlichen Gouvernements Russlands der Anteil der weißrussischen und ukrainischen Stadteinwohnerschaft zugunsten der russischsprachigen oder besser gesagt der russifizierten Bevölkerung. In der multikulturellen Stadtlandschaft von Belarus und der Ukraine traten damit die Beziehungen zwischen Juden, Polen und sich russifizierenden oder russischen Einwohnerschaften stärker in den Vordergrund. Allerdings ist dieses demographische Bild eine grobe Vereinfachung, da in der Realität die ethnischen Zuschreibungen dieser Eindeutigkeit entbehrten. Zwar änderte sich die Bevölkerungszusammensetzung der weißrussischen und ukrainischen Städte im Laufe der Zeit, und damit verschoben sich auch die Vektoren des multikulturellen Zusammenlebens. Die Städte der Region blieben jedoch bis ins 20. Jahrhundert multikulturelle Schmelztiegel, in welchen seit dem Mittelalter drei und mehr Konfessionsgemeinschaften oder Nationalitäten koexistierten, kommunizierten und interagierten. Sicherlich ist auch diese Multikulturalität ein spezieller, wenn auch zweifellos in den multipolaren Wechselwirkungen kompliziert zu analysierender Beitrag an die europäische Geschichte.
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3. F OLGEN
FÜR DIE WEISSRUSSISCHE UND UKRAINISCHE N ATIONSBILDUNG
Mit Nachdruck wurde bisher die „transnationale“ oder besser „trans-“ und „multi-kulturelle“ Dimension der Geschichte von Belarus und der Ukraine angedeutet. Diese Sicht dürfte nicht nur auf Zustimmung stoßen. Denn die Konzentration auf den „trans“-Charakter sowie auf die Hybridität und die Multikulturalität scheint die Eigenwertigkeit, ja ethno-nationale Eigenständigkeit einer weißrussischen und ukrainischen historischen Entwicklung zu bezweifeln, die sich von den Nachbargesellschaften abhebt und eine eigene „Leistung“ darstellt. Tatsächlich kann kaum in Abrede gestellt werden, dass die geschilderten trans- und multikulturellen Merkmale die weißrussische und ukrainische Nationsbildung im 19. und 20. Jahrhundert mit besonderen Herausforderungen konfrontiert – ja diese als vermeintliches teleologisches Endprodukt der moderneren Geschichte sogar in Frage gestellt haben. Belarus und die Ukraine waren bis ins ausgehende 18. Jahrhundert politisch periphere Teile einer multikonfessionellen Adelsrepublik, eines Staates also mit vielfach geteilter Herrschaft. Das Prinzip „cuius regio, eius religio“, das sich im 16. Jahrhundert in westeuropäischen Fürstenstaaten etablierte und über konfessionelle Einebnung religiöse Einheit und ungeteilte Herrschaft durchsetzte, wirkte sich im östlichen Ostmitteleuropa nicht zugunsten von Belarus und der Ukraine aus. Mithin gab es im Gebiet Rutheniens keine staatliche Macht, die frühzeitig konfessionelle Gleichförmigkeit als eine Vorstufe späterer weißrussischer oder ukrainischer nationaler Einheit erzwang. Vielmehr funktionierten in Ruthenien auch die Kirchen in einem transnationalen Kontext. Die unierte Kirche wirkte im 18. Jahrhundert als Gefäß der Polonisierung. Im 19. Jahrhundert stellte dann das Russländische Imperium bei seinen „westrussischen“ Bewohnern in den weißrussischen und ukrainischen Gebieten zwar konfessionelle Einheit her. Dies geschah jedoch über die Zwangsvereinigung der unierten mit der russisch-orthodoxen Kirche – also im Kontext einer antipolnischen Russifizierungspolitik. Vor diesem historisch multikonfessionellen Hintergrund ohne „nationale“, sondern tendenziell transnationale Konfessionen dauert bis heute die Diskussion an, welche Funktion die unierte und die orthodoxe Kirche für die Formierung und Existenz einer gesonderten nationalen Identität der Belarusen und Ukrainer haben. Einzig im Bereich des habsburgischen Galizien konnte sich die unierte Kirche während des 19. Jahrhunderts als „nationale“ Konfession der Ukrainer etablieren. Mit dem Hinweis auf das habsburgische Galizien, wo sich verschiedene ukrainische Identitätsdiskurse und schließlich eine ukrainische Nationalbewegung vergleichsweise frei entfalten konnten, haben wir einen gewichtigen Unterschied im transnationalen Entwicklungsweg von Belarus und der Ukraine angesprochen. Das Vorhandensein oder eben Fehlen politischer und gesellschaftlicher Eliten, die frühzeitig das Fundament nationaler Bewegun-
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gen legten, dürfte eine weitere wichtige Differenz sein. Denn die kulturelle Hybridität Rutheniens bewirkte, dass sich im Verlaufe der Neuzeit der orthodoxe ruthenische Adel dem attraktiven Zivilisationsmodell der katholisch-polnischen Adelsrepublik zuwandte. Er polonisierte sich zumindest in gewissen Bereichen seines sozialen Lebens, wobei dies die Fortexistenz multipler Identitäten durchaus nicht ausschloss. Die Welt des Adels wandelte sich aber tendenziell zu einer solchen der katholischen Konfession, der polnischen Sprache und Kultur – von der politischen Adelsnation später zur polnischen Nation. Die belarussische und ukrainische Sprache und Kultur sowie die unierte Kirche entwickelten sich demgegenüber zum Kennzeichen einer sozial bäuerlich definierten Welt, die politisch und kulturell anational im Lokalen verankert war. Im Gegensatz zu Belarus entstand allerdings während des 17. Jahrhunderts im Gebiet der Ukraine in Gestalt des Kosakentums eine antikatholische, antipolnische ukrainische Elite. Sie bewahrte bis ins ausgehende 18. Jahrhundert zumindest Ansätze einer autonomen ukrainischen „Para“-Staatlichkeit und darüber hinaus einer regionalen Identität innerhalb des Russländischen Imperiums. Ideologisch und teilweise auch personell knüpfte die ukrainische Nationalbewegung im 19. Jahrhundert an die historische Erfahrung des Kosakentums an. Die demgegenüber transkulturelle, gerade ausgesprochen nicht-exklusive Dimension der Geschichte des Großfürstentums Litauen, die von der weißrussischen Nationalbewegung als Protoplast der eigenen Nation stilisiert wird, erfüllte diese Funktion als Reservoir eines nationalen Elitenprojekts weitaus weniger. Sieht man sich die andere wichtige Form einer potentiell nationalen Elite genauer an – jene der historisch-kulturellen Intelligenzija –, dann sind auch hier wesentliche Entwicklungsunterschiede zwischen Belarus und der Ukraine erkennbar, die zumindest teils mit der Qualität der Multikulturalität der Städte zusammenhängen. Die Universität Wilna – 1578 als Jesuitenakademie gegründet, in ihrer Zielsetzung als Vorhut der katholischen Gegenreformation Ausdruck der kulturellen Peripherie des Großfürstentums Litauen – wurde nach dem polnischen Novemberaufstand von 1830/31 aufgrund des Vorwurfs geschlossen, eine Keimzelle nationaler Verschwörung(en) gegen den russischen Staat zu sein. Bis zur Gründung der Universität Minsk (wr. Mensk) (1921) gab es damit auf dem Gebiet von Belarus keine Einrichtung mehr, die eine nationale Intelligenzija hätte hervorbringen können. Auch das weißrussische Stadtbürgertum konnte dieses „Manko“ aufgrund seines geschilderten, weitgehend jüdisch-polnisch-russischen multikulturellen Charakters nicht wettmachen. Demgegenüber wirkten auf dem Gebiet der Ukraine im 19. Jahrhundert drei Universitäten: jene von Lemberg, Kiew und Charkow (ukr. Charkiw); sie sind aus der ukrainischen nationalen Bewegung kaum wegzudenken.
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4. Z USAMMENFASSUNG Trans- und multikulturelle Zusammenhänge prägten nicht nur die vormoderne ruthenische Geschichte. Sie legten auch die Grundlagen für die sozialen Strukturen der Moderne und stellten damit eine besondere Herausforderung für die moderne weißrussische und ukrainische Nationsbildung dar. Die sowjetische Nationalitätenpolitik der zwanziger Jahre trieb die weißrussischen und ukrainischen Nationsbildungsprojekte wesentlich voran. In der Ukraine überschnitt sich diese Zeit zugleich mit einer Phase der wirtschaftlichen Modernisierung und Urbanisierung. Als Folge davon gewann die immer noch stark bäuerlich geprägte Welt der ukrainischen Nation immerhin auch eine starke moderne urbane Identität. Demgegenüber gewann die multikulturelle, in höherem Maße jüdisch geprägte Stadtlandschaft der Belorussischen Sozialistischen Sowjetrepublik (BSSR) vor dem Krieg weniger deutlich einen weißrussischen Charakter – und wurde dann noch durch die Ereignisse des Zweiten Weltkriegs besonders tiefgreifend und weitgehend zerstört. Erst der Wiederaufbau nach dem Krieg brachte der BSSR den entscheidenden Schub der wirtschaftlichen Modernisierung und Urbanisierung. Die BSSR erlebte um die Mitte des 20. Jahrhunderts so insgesamt eine soziale Umwälzung katastrophalen Ausmaßes. Eine in ihrer Sozialstruktur ganzheitliche, das heißt vor allem urbane moderne Nation formierte sich damit in Belarus erst in der Nachkriegszeit. Die weißrussische Nationsbildung lief deshalb nicht mehr unter dem Vorzeichen der Belarusifizierung ab, sondern ganz im Fahrwasser der Sowjetisierung. Die Fernwirkungen dieser sozialen Ausgangslage bei der Nationsbildung im 20. Jahrhundert reichen bis in die Gegenwart des unabhängigen weißrussischen und ukrainischen Staats. Der vorgestellte historische trans- und multikulturelle Kontext begleitet so bis in unsere Zeit die Entwicklung des ostslawischen Ostmitteleuropa. Er macht einerseits das Besondere und Herausfordernde, andererseits auch das zutiefst europäische Wesen eines Raums aus, der über Jahrhunderte unter der Bezeichnung Rus/Ruthenien eben nicht nur terminologisch vom Moskauer Russland abgegrenzt ein Eigenleben führte. Dieser Kontext war in der Vielfalt seiner Vektoren zutiefst europäisch – um zum Schluss ein Pathos zu bemühen, das vor einer vorschnellen politischen Ausgrenzung der Republik Belarus und der Ukraine aus dem politischen Europa warnen will.
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L ITERATUR Friedrich, Karin/Pendzich, Barbara M. (Hg.): Citizenship and Identity in a Multinational Commonwealth. Poland-Lithuania in Context, 1550-1721, Leiden/Boston: Brill 2009. Jablonowski, Horst: Westrussland zwischen Wilna und Moskau. Die politische Stellung und die politischen Tendenzen der russischen Bevölkerung des Großfürstentums Litauen im 15. Jahrhundert, Leiden: Brill 1955. Plokhy, Serhii: The Origins of the Slavic Nations. Premodern Identities in Russia, Ukraine, and Belarus. Cambridge u.a.: Cambridge University Press 2006. Rohdewald, Stefan/Frick, David/Wiederkehr, Stefan (Hg.): Litauen und Ruthenien. Studien zu einer transkulturellen Kommunikationsregion (15.18. Jahrhundert) / Lithuania and Ruthenia. Studies of a Transcultural Communication Zone (15th-18th Centuries), Wiesbaden: Harrassowitz 2007. Snyder, Timothy: The Reconstruction of Nations: Poland, Ukraine, Lithuania, Belarus, 1569-1999. New Haven: Yale University Press 2003.
Von der urbanen zur nationalen Identität. Die belarussische Variante Z ACHAR Š YBEKA
„NICHT STÄDTISCH, NICHT DÖRFLICH… WER BIN ICH DANN?“ … „EIN DÖRFLICH-STÄDTISCHER BAUER.“ (AUS DER VOLKSDICHTUNG)
Die Defizite urbaner Identität in Weißrussland erklären in vielerlei Hinsicht Spezifika der Republik Belarus, insbesondere auch die Missverständnisse, die sich immer wieder im Umgang mit der Europäischen Union ergeben. Um die Merkmale dieser Identität herauszukristallisieren, muss man sich an Fernand Braudel, einen Fachmann für die europäische Mentalitätengeschichte wenden. Seiner Ansicht nach erfolgte die Entwicklung der modernen europäischen Stadt in drei Phasen. Am Anfang stand die offene Agrarstadt, die im ländlichen Milieu verfangen und dem Feudalherrn untertänig war. Dann folgte die geschlossene Handelsstadt, die gleichermaßen autark und unabhängig war. Schließlich entstand die ihrer Autonomie beraubte Industriestadt, die in den Nationalstaat integriert war. Die sich in der zweiten Phase konsolidierende urbane Identität ging in der dritten Phase in eine nationale Identität über. Während sich zunächst alle Einwohner von Paris als Pariser begriffen, bezeichneten sich später alle Einwohner von Frankreich als Franzosen. Obgleich sich der Nationalstaat die Stadt Untertan machte, nahm er für sich selbst das Leitbild der freien Stadt in Anspruch.1 Wie ver-
1
Brodel’, Fernan: Material’naja civilizacija, ėkonomika i kapitalizm. ХV-XVIII vv. Band 1: Struktury povsednevnosti: vozmožnoe i nevozmožnoe. Moskva: Progress 2006, S. 479–483.
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halten sich soziale Identität und nationales Bewusstsein in der weißrussischen Geschichte zueinander? Welche Rolle können die Städte bei der Etablierung von Demokratie und Marktwirtschaft übernehmen?
1. N IEDERGANG
DER
S TÄDTE
Auf dem Territorium der heutigen Republik Belarus gab es vom 9.-15. Jahrhundert offene Städte. Es handelte sich um die Zeit des Kiewer Reichs und die Anfänge des Großfürstentums Litauen. Daneben entstanden auch halboffene Städte, deren Freiheit durch die Abhängigkeit von einem lokalen Feudalherrn beschränkt war. Derartige Städte existierten in der Blütezeit des Großfürstentums Litauen (in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts) und während der Union von Polen-Litauen (von der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts bis ins 18. Jahrhundert). Die Verfasstheit dieser Städte bildete das Vorbild für die Konstituierung der „Adelsrepublik“ (Rzeczpospolita), zu der sich Weißrussen, Litauer, Polen und Ukrainer zusammenschlossen. In diesem Zusammenhang erzielte die urbane Identität einen gesellschaftlichen Wert. Die Bewohner der jeweiligen Städte nannten sich selbst mit Stolz „Polozker“ (poločane), „Brester“ (berestjane) oder „Sluzker“ (slučane), weil sie mit dieser Bezeichnung die Unabhängigkeit von der feudalen Ordnung verbanden. Von der Bedeutung der urbanen Identität zeugt auch der von der jüdischen Bevölkerung gepflegte Brauch, den Familiennamen von den Heimatorten abzuleiten. Beispielsweise geht der Name „Minski“ auf die Stadt Minsk (wr. Mensk) zurück, „Pinski“ auf Pinsk und „Kopysski“ auf Kopys. Zur Entstehung eines weißrussischen Nationalstaats, der sich am Leitbild der freien Stadt orientierte, kam es allerdings nicht. Stattdessen wurden die Siedlungsgebiete der Weißrussen infolge der Teilungen Polens am Ende des 18. Jahrhunderts aus dem europäischen Kontext herausgerissen und dem Einfluss des russischen Eurasismus unterworfen. Im Zarenreich gab es keine Tradition einer für Experimente offenen Stadt. In Russland dominierte nicht die Stadt über das Dorf, sondern das Dorf über die Stadt. Nicht die Stadt modellierte den Nationalstaat, sondern der autokratische Staat konstruierte die Stadt nach seinem Ebenbild. Auch in Weißrussland wurde die Stadtentwicklung infolge der staatlichen Reglementierung in die autokratische Richtung gelenkt. Dieser Tradition blieben die weißrussischen Städte bis heute verhaftet. Daher konnte die urbane Identität nicht in die nationale Identität einmünden. Denn der russische Staat war dörflicher Herkunft. Da die in Polen-Litauen entwickelte städtische Identität nicht mehr gefragt war, ging sie allmählich verloren. Anders ausgedrückt verflüchtigte sich die urbane Mentalität. Verantwortlich dafür war die Zerstörung der sich selbst verwaltenden Gemeinde durch die Autokratie. Seinen Niederschlag fand dieser Prozess insbesondere in der Abschaffung des Magdeburger Stadtrechts. Hinzuweisen ist aber auch auf die Eliminierung und Marginalsierung der Eliten in der
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Folge von Napoleons Russlandfeldzug 1812 und der gegen die russische Herrschaft gerichteten Aufstände von 1830/31 und 1863/64. Weil die Städte in der weißrussischen Provinz des Zarenreichs überwiegend von Juden bewohnt und schwach industrialisiert waren, ergaben sich für die Entwicklung einer städtischen Identität unter der weißrussischen Bevölkerung keine überzeugenden Perspektiven.
2. U NVOLLKOMMENE U RBANITÄT In der Belorussischen Sozialistischen Sowjetrepublik (BSSR) fand vor dem Hintergrund der in der Nachkriegszeit forcierten Industrialisierung in den sechziger und siebziger Jahren ein rasanter Urbanisierungsprozess statt. Allerdings resultierte aus der tief verwurzelten vorindustriellen Tradition eine hybride dörflich-städtische Mentalität, die als „unvollkommene urbane Mentalität“ zu bezeichnen ist. Ihre Träger waren Zugezogene. Zu den Komponenten ihrer mentalen Disposition zählen die folgenden Punkte: 1. Der Hang zur Mythologisierung oder die Neigung zu Utopien, insbesondere der Glaube an die kommunistische Moral. 2. Der Mangel an historischem Bewusstsein. Zugezogene interessieren sich selten für die Geschichte und Vergangenheit Weißrusslands. Sie scheren sich wie früher meist nur um den „eigenen Hof“. 3. Das Streben zur Selbstisolation oder die Suche nach einem bäuerlichen Leben in der Stadt. Beispielsweise ist „Verstecken“ (das Lieblingsspiel weißrussischer Kinder) den Erwachsenen entlehnt, die ständig damit beschäftigt sind, sich von Allen und vor Allem zu verbergen (vor der Staatsmacht, vor den bösen Nachbarn, vor den bösen Blicken). Zugezogene versuchen bei erster Gelegenheit auf die Datscha oder zu den Eltern ins Dorf zu fliehen. Im Gegensatz dazu kommen Alteingesessene oder normale Städter (d.h. Personen mit urbaner Mentalität) nicht auf die Idee, sich von der Gesellschaft abzusondern. Sie fühlen sich voneinander abhängig und füreinander verantwortlich. 4. Das defizitäre Nationalbewusstsein. Nach wie vor dominieren ein sowjetisches und ein regionales Bewusstsein. 5. Die apolitische Einstellung. Den Zugezogenen ist es im Prinzip gleichgültig, wer an der Macht ist, – vorausgesetzt, die Obrigkeit hält den Kontakt zum Dorf aufrecht, ohne die Landwirtschaft zu stören. Denn die Erfahrung lehrt, dass die politische Macht in den weißrussischen Gebieten häufig wechselte, aber nie gut war. Es kam lediglich darauf an, sich ihr anzupassen. 6. Das an die Unterwürfigkeit oder Kriecherei der Bauern aus der Zarenzeit erinnernde Verhalten der Städter. Die Ursachen wurzeln in der Leibeigenschaft. Vor der Agrarreform von 1861 waren sage und schreibe 54 Prozent der weißrussischen Bevölkerung leibeigen, in Russland selbst aber nur 38 Prozent.2 Lei-
2
Šybeka, Zachar: Narys historyi Belarusi (1795-2002). Minsk: Ėncyklapedija 2003, S. 68.
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der hatten die Weißrussen bisher weder die Zeit noch die Möglichkeit, ihre sklavische Mentalität abzulegen. 7. Der als Kehrseite der Medaille auftretende Stolz erinnert hingegen in seiner Ungezähmtheit an steinzeitliche Urmenschen. 8. Und schließlich der sprichwörtliche Neid bei den Zugezogenen. Einem Sprichwort zufolge bereitet es einem Weißrussen größte Freude, wenn sein Nachbar eine Kuh verliert. Vielleicht ist das ein wenig übertrieben, aber es mangelt den vom Land Zugezogenen tatsächlich an Bemühen um gegenseitige Hilfe. Alles in allem treffen diese Merkmale auf die eine oder andere Weise auch für alle übrigen, verspätet in die Phase der Industrialisierung eingetretene Länder zu, im weißrussischen Fall finden sie aber einen besonders deutlichen Ausdruck. Einer der Gründe für die Unvollkommenheit und den marginalen Zustand der Urbanität ist der Einfluss der bolschewistischen Ideologie auf die Mentalität der weißrussischen Städter. Auf diese Weise hat sich in der BSSR ein eigenartiger Typ des Stadtbürgers herausgebildet. Er hinterlässt einen grauen, ängstlichen und unsicheren Eindruck. Seinen Mitbürgern gegenüber verhält er sich intolerant und aggressiv, der Obrigkeit gegenüber dienstfertig und der Familie gegenüber brutal. Er liebt es, gut zu essen, zu trinken, zu rauchen, auf dem Sofa vor dem Fernseher zu liegen, und ordentlich zu fluchen. Die Crux besteht darin, dass Menschen mit einem solchen Bewusstsein leicht zu lenken sind. Zweifellos wurden in sowjetischen Städten auch Möglichkeiten zur Selbstverwirklichung geschaffen. Im Prinzip verfügten die Städter über genug Zeit für Weiterbildungsmaßnahmen. Jedoch nutzten die ehemaligen Landbewohner dieses Angebot nicht besonders oft. Die Zielstrebigen wanderten gewöhnlich in die Großstädte der übrigen Sowjetunion ab. Es blieben meist Menschen mit durchschnittlichen Fähigkeiten, die sich mit der Stellung eines Provinzlers zufrieden gaben. Unter diesen Voraussetzungen arrangierte sich die weißrussische Intelligenzija, d.h. die Gruppe der Fachschul- und Hochschulabsolventen, mit ihrer Unterordnung unter ihr russisches Pendant. Dadurch wiederum fühlte sich die russischsprachige Elite ermutigt, der weißrussischen Sprache aggressiv zu begegnen. Derart bedrängt fehlte der weißrussischstämmigen Elite leider die Geisteskraft, ihre nationale Ehre zu verteidigen. Würdiger verhielt sich die jüdische Minderheit. Auf die in der Breschnewzeit zunehmende Diffamierung ihrer Bevölkerungsgruppe antwortete sie mit Massenauswanderung. Der zweite Grund für die Tradierung der bäuerlichen Mentalität in der Stadtbevölkerung ist auf die Dominanz der Klein- und Mittelstädte zurückzuführen. In diesen Siedlungen war der Bezug zur dörflichen Mentalität noch unmittelbar. Empirische Studien von Soziologen zeigen, dass sich die Bewohner kleinerer Städte durch Provinzialismus, geringere Partizipationsbereitschaft und niedrige Ansprüche an die Lebensqualität auszeichnen. Gleichzeitig verfügt dieser Menschenschlag über Freundlichkeit, Empathie und Sinn für Humor. Faktisch verhindern Kriecherei, Arroganz, Neid und andere Merkmale bäuerlicher Mentalität die Konsolidierung einer städti-
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schen Gesellschaft. Weil sie Repressionen der Sowjetmacht zu befürchten hatte und von den sozialen Experimenten des totalitären Regimes erdrückt wurde, erlitt die urbane Identität Deformationen. Symptomatisch dafür steht der Text eines populären Liedes: „Meine Adresse ist nicht ein Haus oder eine Straße. Meine Adresse ist die Sowjetunion.“ Die ehemaligen Dorfbewohner wurden in den Städten nicht heimisch. Sie arbeiteten und überwinterten in den Städten, kehrten aber immer wieder in ihre ländliche Heimat zurück. Auf ihren Datschas und im dörflichen Elternhaus waren sie als Stadtbewohner der Kontrolle der Dorfbehörden entzogen und fühlten sich daher relativ frei. Aus dieser mentalen Disposition heraus erklärt sich in mancherlei Hinsicht die Gleichgültigkeit weißrussischer Städter gegenüber sozialen Bewegungen und gegenüber ihrem kulturellen Erbe.
3. R UDIMENTÄRES N ATIONALBEWUSSTSEIN Das Problem der urbanen Identität ist in Weißrussland im Zusammenhang mit dem in die Gänge gekommenen Prozess der Nationsbildung aktuell. Es stellt sich die Frage, ob nach westlichem Muster die Entstehung einer nationalen Identität auf Grundlage der autonomen Stadt realistisch ist. Vieles, wenn nicht alles, hängt davon ab, wie die Potentiale des Staates und der Städte zueinander in Verhältnis stehen und wie sich die Beziehungen zwischen dem Staat und den Städten gestalten. Wird die weißrussische Stadt nach dem Vorbild der westeuropäischen Stadt in der Lage sein, die Persönlichkeit national zu konfigurieren und die Nation zu konsolidieren? Kann sie dem Staat im Hinblick auf die Praktizierung der Demokratie ein Beispiel sein? Anders gefragt, wird sie den Weg fortsetzen, der durch die zaristischbolschewistische Expansion unterbrochen wurde, den Weg der kommunalen Autonomie, den die westeuropäischen Städte gegangen sind? Dies ist keine einfache Frage, vor allem wenn man bedenkt, dass die westeuropäische Stadt, die früher an der Wiege der Nation stand, mittlerweile dadurch die nationalen Traditionen konterkariert, dass immer mehr multikulturelle und transnationale Aspekte zum Tragen kommen. Anders verhält sich die Sache in der modernen weißrussischen Stadt. Sie verfügt über keine nationale Identität, die sie preisgeben kann. Von der Globalisierung sind die weißrussischen Städte noch nicht so stark betroffen wie die Städte des Westens. Optimistisch stimmt immerhin die Tatsache, dass die durch die Bolschewiki in Mitleidenschaft gezogene urbane Identität allmählich wieder erstarkt. Die zweite und insbesondere die dritte Generation der weißrussischen Stadtbewohner betrachten ihre Stadt inzwischen als Heimat. Sie nehmen städtische Umgangsformen an, beteiligen sich aktiv am gesellschaftlichen Leben und zeigen Interesse an ihrer Geschichte. Für den Erfolg spricht auch die Erfahrung der westeuropäischen Länder. Jede europäische Nation hat in ihrer Entwicklung bestimmte soziale Konflikte erlebt,
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soziale Toleranz erduldet und endlich eine sozio-ökonomische und geistigkulturelle Konsolidierung erlangt. Eine wichtige Rolle spielte dabei immer die Stadt, die für die Notwendigkeit gegenseitiger Hilfe zum Zwecke des Überlebens stand. Am Beispiel der fortgeschrittenen Länder wird deutlich, dass sich der Staat die Stadt nicht ewig unterordnen kann. Beispielsweise sind ökologische Fragen inzwischen so relevant geworden, dass die Städter damit die Bewahrung der menschlichen Zivilisation verbinden. Der Staat hat sich in dieser Hinsicht als machtlos erwiesen. Oligarchen, die über Häuser und Villen in Vorstädten verfügen, ziehen sich immer mehr von den Problemen der Stadt zurück. Unter ihrem Einfluss folgt die Politik des Staates allem Anderen, nur nicht urbanen Diskursen. Es ist nicht auszuschließen, dass sich demnächst eine städtische Revolte abzeichnet. Die moderne westeuropäische Stadt ist sich ihrer Rechte längst bewusst. Sie beginnt sogar, dem Staat ihren Willen zu diktieren. Fast alles dient inzwischen der Stadt. Auch in Weißrussland würde eine neue Etappe in den Stadt-Staat-Beziehungen die Chancen einer Zivilgesellschaft erhöhen. Die Frage ist, ob der weißrussische Staat, der seiner Herkunft nach dörflich ist, bereit ist, in Sachen Demokratie und Toleranz bei der Stadt in die Lehre zu gehen, und in Bezug auf die Nationsbildung die städtischen Ressourcen zu nutzen.
4. U RBANE
UND NATIONALE I DENTITÄT
Die heutige Republik Belarus leistet wenig für die moderne politische Nation. Im heutigen Minsk leben Minsker und in Weißrussland leben neben Weißrussen noch Russen, Polen, Juden und Ukrainer. Unter Letzteren halten sich nur wenige für Belarussen russischer, polnischer, jüdischer oder ukrainischer Herkunft. Ihre Blicke richten sich nach Russland, Polen, Israel und zur Ukraine. In bizarrer Weise organisiert der weißrussische Staat für sie Festivals nationaler Kulturen, tatsächlich handelt es sich um ausländische Kulturen. Dennoch ist seit der Erlangung der staatlichen Unabhängigkeit in Weißrussland ein spezifischer Prozess der Zerstörung der ländlichen und kollektivwirtschaftlichen Ersatz-Nation zu beobachten, der durch die Dominanz des nationalen über das sowjetische Bewusstsein und durch die Bildung der urbanen Nation auf den Ruinen des sowjetischen Bewusstseins gekennzeichnet ist. Dieser Prozess kommt dank der Stadt und nicht dank dem Staat zustande. Die Stadt und das Ausland tragen mit ihrem ökonomischen Rationalismus inklusive der Garantie wirtschaftlicher Profite dazu bei, den Menschen vom sowjetischen Bewusstsein zu befreien, auch gegen den Willen der neosowjetischen Führung. Insbesondere wenn Weißrussen im Ausland gewesen sind, fangen sie an, sich von anderen Nationen zu distanzieren. Sie setzen immer mehr auf das Prestige der weißrussischen Kultur und der weißrussischen Sprache.
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Interessanterweise wiederholt sich eine Situation, die bereits im zaristischen Russland zu beobachten war, eine Situation, in der das der Staatlichkeit beraubte Volk spontan die Nation erschuf und sich selbst als „Hiesige“ (tutėjšyja) bezeichnete. Daran erkennt man ein Spezifikum der verspäteten Nationsbildung in Weißrussland. Eine weitere Besonderheit besteht darin, dass dieser Prozess mittlerweile nicht durch die Bauern, sondern durch die Städter initiiert wird. Die Ressourcen des Dorfes sind erschöpft, aber die Ressourcen der Stadt reichen noch aus. Unabhängig von der nationalen Zugehörigkeit nehmen die Städter eine urbane Identität an. Auf diese Weise manifestiert sich ein neues Modell der politischen Nation, das weniger imperialen, als vielmehr städtischen Mustern folgt und auf eine weißrussische ethno-kulturelle Komponente setzt. Als wichtigste Ressource für die Bildung einer solchen Nation dienen das ethnische Bewusstsein der Weißrussen und die urbane Identität der Vertreter anderer ethnischer Gruppen. Für die erfolgreiche Umsetzung dieses Nationalprojekts ist der demokratische Staat europäischer Prägung am besten geeignet. Ein solcher Staat wird nach dem Leitbild der freien Stadt geschaffen und gewährleistet am ehesten das Hinüberwachsen der urbanen in die nationale Identität.
5. Z USAMMENFASSUNG Am Ende bleibt die Frage, ob die Demokratisierung und Nationalisierung des modernen weißrussischen Staates mit den Rudimenten des sowjetischen politischen Systems vereinbar sind. Berücksichtigt man die aktuellen Tendenzen der gesellschaftlichen Entwicklung, lässt sich behaupten, dass die Zeiten der verantwortungslosen Experimente von Autokraten und Diktatoren bald vorüber sein werden. Die gesellschaftliche Ordnung und die sozialen Beziehungen geraten zunehmend unter den Einfluss der städtischen Zentren und der städtischen Öffentlichkeit. Weniger der Staat als vielmehr die Stadt bestimmt über die Gesellschaftsstruktur. Der autoritäre weißrussische Staat ist gezwungen, sich ökonomischen und politischen Notwendigkeiten zu fügen. Darüber hinaus gilt es in Betracht zu ziehen, dass die Weißrussen sich mit liberalen Vorstellungen anfreunden. Im Jahre 2007 betrachteten sich 80 Prozent der weißrussischen Städter als Europäer.3 Anders ausgedrückt: Die Städter sind bereit, westeuropäische Werte zu übernehmen. Es ist daher nicht ausgeschlossen, dass in Belarus zuerst die Stadt und dann der Staat national werden. Vermutlich werden der Prozess der weißrussischen Nationsbildung und die Konstituierung des weißrussischen Nationalstaats erst nach Etablierung der Marktwirtschaft zu einem erfolgreichen Abschluss kommen. Denn das Nationalbewusstsein wird unter den Bedingungen der
3
Taras, Anatol’ (Hg.): Istorija imperskich otnošenij: belarusy i russkie. 1772–1991 gg, Smolensk: Posoch 2008, S. 84-89.
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Marktwirtschaft dominant, und der Nationalstaat wird von den Protagonisten der Marktwirtschaft geschaffen. Dies war zumindest in Westeuropa im 19. Jahrhundert der Fall. Übersetzung von Elizaveta Slepovitch
L ITERATUR Ackermann, Felix: Palimpsest Grodno. Nationalisierung, Nivellierung und Sowjetisierung einer mitteleuropäischen Stadt. 1919 – 1991, Wiesbaden: Harrassowitz 2010. Bohn, Thomas M.: Minsk - Musterstadt des Sozialismus. Stadtplanung und Urbanisierung in der Sowjetunion nach 1945, Köln/Weimar/Wien: Böhlau Verlag 2008. Rohdewald, Stefan: „Vom Polocker Venedig“. Kollektives Handeln sozialer Gruppen in einer Stadt zwischen Ost- und Mitteleuropa (Mittelalter, Frühe Neuzeit, 19. Jahrhundert bis 1914), Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2005. Šybeka, Zachar: Haradskaja cyvilizacyja: Belarus’ i svet. Kurs lekcyj [Stadtkultur: Belarus‘ und die Welt. Vorlesungen], Vil’nja: Eŭrapejski humanitarny universitėt 2009. Werdt, Christophe v.: Stadt und Gemeindebildung in Ruthenien. Okzidentalisierung der Ukraine und Weißrusslands im Spätmittelalter und in der frühen Neuzeit, Wiesbaden: Harrassowitz 2006.
Zwischen Moskau und Warschau. Identitäten des weißrussischen Adels in der Frühen Neuzeit H ENADZ ’ S AHANOVIČ
Diskussionen über das Wesen des Nationalismus haben in der westlichen Geschichtswissenschaft in den letzten Jahrzehnten nicht nur die Verbindung von Nation und Ethnie, sondern auch den mittlerweile in den Nachfolgestaaten der Sowjetunion in Mode gekommenen Begriff „Ethnos“ selbst in Frage gestellt. Vor dem Hintergrund intensiver Debatten um die weißrussische Identität besteht auch unter Historikerinnen und Historikern der Republik Belarus ein immenses Interesse an der Nationalgeschichtsschreibung. In diesem Zusammenhang erregt insbesondere diejenige Epoche Aufmerksamkeit, in der Weißrussland nicht in den Verband des russländischen oder des sowjetischen Imperiums gehörte, nämlich die Zeit des Großfürstentums Litauen im 16. und 17. Jahrhundert. Leider tragen Veröffentlichungen, die der offiziellen Doktrin in der Bildungspolitik folgen und damit das Problem aus der Sicht des Lukaschenka-Regimes darstellen, nicht zum wissenschaftlichen Verständnis bei. In letzter Zeit wird in den Geschichtslehrbüchern wieder eine Auffassung über den Ursprung des weißrussischen Volkes propagiert, der zufolge nur diejenigen zu den Belarusen zählen, die orthodoxen Glaubens waren. „Abfall von der Orthodoxie führte unweigerlich zur kulturellen, sprachlichen, ethnischen Assimilation der ostslawischen Bevölkerung, Katholisierung bedeutete Polonisierung.“ Durch die Polonisierung wiederum „schwor die Elite ihrem Volk, seiner Religion, Kultur und Sprache ab, ging zur polnischen Ethnie über“ – behauptet Jakow Treschtschenok, der heute den Ton in der offiziellen Geschichtspolitik bestimmt. Einfacher ausgedrückt lautet die Aussage wie folgt: Wenn die Bewohner des Großfürstentums Litauen orthodox waren, dann hielten sie sich quasi für „Russen“ und repräsentierten im eigentlichen Sinne die weißrussische Ethnie, aus der in der Folge die weißrussische Nation erwuchs. Wenn sie aber
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ihren alten Glauben verrieten und sich über die Akzeptanz der Brester Union dem Primat des Papstes unterwarfen, dann wurden sie zu „Polen“.1 Dieser Ansatz einer ethnokonfessionellen Zuschreibung muss natürlich als arg vereinfacht bezeichnet werden. Westliche Beispiele haben bereits gezeigt, dass sich eine enge Verbindung von Nationalbewusstsein, Religion und Sprache nicht von vornherein bestätigt. Klassisch ist diesbezüglich der italienische Fall, bei dem für die Zeit bis zum Ende des 18. Jahrhunderts nicht davon ausgegangen werden kann, dass die Sprache ein Gemeinschaftsgefühl gestiftet haben kann. An diesen Befund anknüpfend soll im Folgenden problematisiert werden, ob die (proto)nationale Identität der Elite auf dem Territorium des heutigen Weißrussland seit der sich in der Mitte des 16. Jahrhunderts vollziehenden staatsrechtlichen Vereinigung des Königreich Polens mit dem Großfürstentum Litauen durch konfessionelle und kulturelle Faktoren bestimmt wurde, zumal sich der Einfluss der Orthodoxie in dieser Zeit zweifelsohne verringerte. Inwiefern war die Verbindung von Religion, Sprache und Kultur auf der einen Seite und der nationalen Identität auf der anderen Seite maßgebend? Wie wichtig waren die Fragen des Glaubens und der Sprache für das politische Bewusstsein des weißrussischen Adels, der sich zwischen den Polen Moskau und Warschau zu positionieren hatte?
1. D IE R OLLE
DER
R ELIGION
Zweifellos bildeten Belarus und die Ukraine, als sie sich unter der Herrschaft der Jagiellonen-Dynastie befanden, noch eine historisch-kulturelle Gemeinschaft mit der absoluten Dominanz der byzantinischen Orthodoxie. Die Vorrangstellung des Christentums östlichen Ritus‘ führte jedoch nicht zu einem gemeinsamen Selbstbewusstsein der Bevölkerung aus den Teilen des ehemaligen Kiewer Reiches, die inzwischen mehr oder minder selbständige Fürstentümer bildeten. Nicht zufällig bezeichnen Wissenschaftler Belarus und die Ukraine, die einen regelmäßigen Kontakt mit der lateinischen Welt unterhielten, zur Unterscheidung von den nordöstlichen, unter dem Zepter des Moskauer Reiches stehenden Gebieten einer lateinischen Begriffsbildung folgend Ruthenien und die Bewohner „Ruthenen“. Unter den Letzteren subsumieren die Quellen gewöhnlich die Vertreter des Adels, die sich zum Christentum östlichen Ritus‘ bekannten, d.h. „griechischen“ oder „rusischen“ Glaubens waren, unabhängig von ihrer ethnischen Herkunft. Es konnte sich dabei auch um ruthenisierte Litauer handeln. Folglich stimmte die Zugehörigkeit zur Religion nicht immer mit der ethnischen Zugehörigkeit überein.
1
Treščenok, Jakov: Istorija Belarusi. Band 1: Dosovetskij period. Učebnoe posobie, Mogilev: Mogilevskij gosudarstvennyj universitet 2003, S. 9-10.
I DENTITÄTEN
DES WEISSRUSSISCHEN
A DELS
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Unter dem Einfluss der Reformation und insbesondere der Brester Kirchenunion von 1596 ging die konfessionelle, genauer orthodoxe Einheit der alten Rus verloren. Allerdings fuhren die historischen Rusinen auch nach der Bekehrung zum Protestantismus oder zum Katholizismus in je eigener Weise fort, sich mit der alten Rus zu identifizieren. Nachdem es dem Papst gelungen war, die Kirchen auf dem Territorium Polen-Litauens zu vereinen, ging aus der „alten“, orthodoxen Rus die „neue“, unierte Rus als Massenphänomen hervor. Fortan bezeichneten sich die Unierten als „ruthenische Nation“ und behaupteten auf dieser Grundlage, dass sich die „Disunierten“, also die Orthodoxen, welche die Union nicht akzeptierten, sich von der eigentlichen Rus abgespalten hätten. Wenn man den Inhalt des Begriffs Rus auf die orthodoxe Bevölkerung reduziert, bedeutet das demgemäß, den historischen Tatsachen zu widersprechen. Inwiefern war die Zugehörigkeit zu der einen oder anderen Konfession in dieser Zeit für das eigene Selbstverständnis überhaupt ausschlaggebend? Zweifelsohne war sie, wie bei jeder traditionellen Gesellschaft, auch für den weißrussischen Adel die wichtigste Komponente der Identität – sie war aber nicht inkompatibel. Trotz der Offensive der Gegenreformation und der durch den Klerus verschärften Spannungen waren die Beziehungen zwischen den Vertretern verschiedener Konfessionen noch lange durch Toleranz geprägt. Im Alltag rief der konfessionelle Unterschied keinesfalls antagonistische Verhältnisse hervor, vielmehr lebte die Tradition gutnachbarschaftlicher Beziehungen weiter. Wie die Quellen bestätigen, war es übliche Praxis, dass der spezifischen Ausgestaltung des Ritus bei Beerdigungen und Hochzeiten wenig Beachtung geschenkt wurde, dass man Ehen über konfessionelle Grenzen hinweg schloss und sich sogar gegenseitig materiell unterstützte. Beispielsweise ordnete der orthodoxe Statthalter von Witebsk (wr. Wizebsk) Mikołaj Sapieha 1598 in seinem Testament an, ihn in der römisch-katholischen Kirche, aber nach griechischem Ritus zu begraben; darüber hinaus vermachte er Teile seines Vemögens sowohl der orthodoxen als auch der katholischen Kirche. Etwas später formulierte sein Verwandter Jan Piotr Sapieha, ein überzeugter Katholik, seinen letzten Willen dahingehend, dass man ihn in der orthodoxen Kirche des eigenen Landgutes begraben solle. Nur im Fall widriger Umstände „soll man mich in der katholischen Kirche zu Grabe legen“, führte er weiter aus. Die orthodoxe Adlige Anna Komar erbat 1655 in ihrem Testament für den Fall der Abwesenheit eines orthodoxen Popen die Totenmesse von einem unierten Priester. Die Kalvinisten Krysztof und Janusz Radziwiłł bestatteten ihre Töchter in einer orthodoxen Kathedrale in Sluzk (poln. Słuck). Ausgesprochen tolerant wurden die Glaubensunterschiede auch im Familienleben wahrgenommen. So bekannten sich die drei Töchter des eine konfessionelle Mischehe führenden Stadtvogts von Wilna (poln. Wilno, lit. Vilnius), Iwan Chodkewitsch, zu drei verschiedenen Glaubensrichtungen (Orthodoxie, Kalvinismus und Arianismus). Unter den Söhnen des Vogts von Mstislaw (wr. Mszislau), Semen Wojna, befanden sich zwei Katholiken und drei Orthodoxe. Beispiele, die für die
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sekundäre Bedeutung konfessioneller Unterschiede in den Sozialbeziehungen zeugen, gibt es viele. Unter den Bedingungen der traditionellen Vielfalt und Offenheit des Großfürstentums Litauen und der gesamten polnischlitauischen Union hätte es kaum anders sein können.
2. D IE B EDEUTUNG DER S PRACHE Wenden wir uns nun der Frage zu, inwiefern die Sprache als konstitutives Element für eine weißrussische Identität in der Frühen Neuzeit betrachtet werden kann. Dabei ist zu berücksichtigen, dass im öffentlichen und konfessionellen Leben des Großfürstentums Litauen gleichzeitig vier Sprachsysteme funktionierten: Kirchenslawisch, Ruthenisch (prostaja mova, d.h. „Volkssprache“ oder Altweißrussisch), Polnisch und Latein. Ein und dieselbe Person musste mehrere Sprachen aktiv beherrschen. Der Wechsel von Ruthenen oder „Rusinen“ in die polnische Sprache, der sich Ende des 16. Jahrhunderts intensivierte, wurde dadurch bedingt, dass deren Rolle im sozialen und politischen Leben zunahm. Im multinationalen Polen-Litauen wurde „Polnisch“ (pol’ščizna) zu einer Art Lingua Franca. Es handelte sich um einen eigenständigen Prozess, der nicht durch den Staat reguliert wurde. Bemerkenswerterweise war der Beschluss des Warschauer Landtags von 1697 über die Ersetzung des Altweißrussischen, der sogenannten ruthenischen Kanzleisprache, an den Gerichten durch das Polnische vom weißrussischen Adel initiiert worden. Was die Wahl der Sprache im Gottesdienst und im Unterricht angeht, hielt sich die Staatsmacht ebenfalls zurück. Nicht einmal der Adel kam auf den Gedanken, die Sprachfrage mit der Entwicklung des Volkes zu verknüpfen. Beispielsweise unterstützte der Litauer Krysztof Radziwiłł auf seinem Gut in Sluzk die Ausbildung der orthodoxen Jugend in der in Weißrussland üblichen Sprache, während er sich der gleichen Angelegenheit in Litauen selbst gegenüber gleichgültig verhielt, obgleich die Polonisierung dort rasanter vonstattenging. Es bleibt festzuhalten, dass die sprachliche Polonisierung damals nicht mit dem Wechsel der nationalen Identität einherging, denn es gab noch keine universelle Verbindung von Sprache und Nationalbewusstsein, wie man in der Epoche des europäischen Nationalismus in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu behaupten begann. In einer Kontaktzone funktionierten gemeinhin mehrere Sprachsysteme nebeneinander. Dementsprechend war auch die Literatur der mittlerweile einen festen Bestandteil Polen-Litauens bildenden Regionen Belarus und Ukraine polyglott und vielschichtig. Die Autoren des 16./17. Jahrhunderts verwendeten verschiedene Sprachen und wechselten je nach der kommunikativen Situation von der einen in die andere. Selbst die antilateinischen Polemiker schrieben mitunter Polnisch, um gelesen und verstanden zu werden, obwohl sie sich eigentlich der Verteidigung des orthodoxen Glaubens verpflichtet fühlten. Mit der Mehrsprachigkeit in dieser Region, der Unbestimmtheit der Grenzen und dem Wechsel
I DENTITÄTEN
DES WEISSRUSSISCHEN
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von einem Sprachcode zum anderen hat sich unlängst auch die italienische Slawistin Giovanna Brogi Bercoff auseinandergesetzt. Zu Recht wies sie darauf hin, dass das Werk der Schriftkundigen ostslawischer Herkunft, die auf Latein und Polnisch kommunizierten und sich in die polnische Kultur integrierten, ohne ihre ruthenischen Wurzeln zu verkennen, durchaus als Phänomen des weißrussischen oder ukrainischen kulturellen Erbes betrachtet werden kann.2 Interessante Informationen über das Selbstverständnis im Großfürstentum Litauen enthalten Verzeichnisse von Studierenden des päpstlichen Seminars in Wilna. Unter denen, die im Zeitraum vom Ende des 16. bis ins 17. Jahrhundert Rusinen genannt wurden, finden sich neben Orthodoxen auch Katholiken und Unierte. Bemerkenswerterweise gibt es darunter Ruthenen, die über keines der aus heutiger Sicht gemeinhin als unerlässlich betrachteten Merkmale von „Rusentum“ (ruskost’) verfügen. Es handelte sich um Katholiken, die nicht mehr die russische Sprache beherrschten. Andererseits war allen Unierten diese Sprache geläufig, was von der realen und nicht von der scheinbaren Verbindung von griechisch-katholischem und „ruthenischem“ Selbstbewusstsein zeugt. Wenn zudem in Betracht gezogen wird, dass viele römisch-katholische Studierende, die nicht Litauisch, sondern Rusisch sprachen, als „Litauer“ (lat. lithuanus) identifiziert wurden, dann kann das traditionelle Prinzip der Unterscheidung von Weißrussen und Litauern nach Selbstbezeichnung, Religion und Sprache nicht aufrechterhalten werden.
3. D IE K ONSTITUIERUNG EINER ADELSNATION Auf dem Territorium, auf dem sich heute die Republik Belarus befindet, hatte sich bereits Mitte des 16. Jahrhunderts eine relativ einheitliche staatliche Gemeinschaft herausgebildet, die von der Elite des Großfürstentums Litauen repräsentiert wurde, welche sich aufs Ganze gesehen schätzungsweise zu 40 Prozent aus Rusinen aus Belarus und der Urkraine rekrutierte. Am Vorabend der Union von Lublin von 1569 erwarben die Ruthenen im Zuge von politisch-administrativen Reformen im Großfürstentum Litauen als Angehörige der Szlachta die gleichen Freiheiten und Privilegien wie die Katholiken. Durch den Rechteausgleich kam der Entwicklungsprozess einer ständisch geprägten Nation zum Abschluss. Als symbolischer Meilenstein diente dabei das Litauische Statut von 1566, in dem der Begriff „Adelsnation“ (naród szlachecki) geprägt wurde. Hauptelemente dieser Gemeinschaft
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Brogi Bercoff, Giovanna: „Die Kunst der Variation. Zur Barockpredigt in der Ukraine und in Russland“, in: Dagmar Christians (Hg.), Bibel, Liturgie und Frömmigkeit in der Slavia Byzantina. Festgabe für Hans Rothe zum 80. Geburtstag, München/Berlin: Sagner Verlag 2009, S. 375-390.
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waren verbriefte Rechte und ein gemeinsames staatliches Bewusstsein. In Polen-Litauen war der weißrussische Adel genauso wie der litauische oder die polnische Szlachta unabhängig vom Glauben am öffentlichen Leben beteiligt. Die Zugehörigkeit zur politischen Gemeinschaft dieses multinationalen und multikonfessionellen Staates setzte die Loyalität gegenüber der Macht voraus, nicht aber das Bekenntnis zu einem bestimmten Glauben oder zu einer bestimmten Sprache. Nicht von ungefähr wurde beim Adelsnachweis nie auf die ethnische Herkunft Bezug genommen, denn sie spielte keine Rolle. Entscheidend waren immer der soziale Status und die damit verbundenen Rechte und Privilegien. Allmählich wurde der gesamte privilegierte Stand, der am öffentlichen Leben teilnahm, sowohl mit dem Großfürstentum Litauen als Herrschaftsgebilde als auch mit dem „litauischen Volk“ (poln. naród litewski; altwr. narod litovskij) identifiziert. Quellen des 16. und 17. Jahrhunderts zufolge konstituierten die sich als „Litauen“ (poln. Litwa; wr. Litva) oder „Litwinen“ (altwr. litviny) definierenden privilegierten Stände und das litauische Volk eine Adelsnation, eine einheitliche politische Gemeinschaft, die sich aus unterschiedlichen ethnisch-kulturellen Gebieten Rutheniens, Litauens und Schemaitiens, d.h. Niederlitauens, zusammensetzte. Ein ethnischer Rusine (lat. gente Ruthenus) war zugleich ein politischer Litwine (lat. natione Lithuanus). Das Bewusstsein einer Zugehörigkeit zur Rus als einer konfessionell-kulturellen Einheit widersprach weder einer Identifikation mit dem „litauischen“ noch mit dem „polnischen“ politischen Volk. Innerhalb dieses Vielvölkerreiches bewahrte sich die Bevölkerung einen Teil ihrer „rusischen“, litauischen oder schemaitischen Identität. Von der Koexistenz der letzteren zeugt markant eine Beschwerde einer Gruppe von Schemaiten, die dem litauischen Großfürsten 1542 die Verteilung ihrer Verwaltungsposten zwischen Litauern, Ruthenen und Polen vorwarfen. Angesichts multipler Identitäten konnte sich ein und dieselbe Person in verschiedenen Situationen unterschiedlich präsentieren. Dieses Phänomen ist auch in Mitteleuropa seit dem Mittelalter bekannt. Die Bevorzugung der einen oder anderen Identität hing von den jeweiligen Umständen und der individuellen Wahl ab. Im weißrussischen Fall wird immer wieder darauf hingewiesen, dass sich der Pionier des weißrussischen Buchdrucks Franzysk Skaryna sowohl als „Rusine“ (rusin) als auch als „Litauer“ (lat. Lithuanus) bezeichnete. Der oben erwähnte Witebsker Statthalter Mikolaj Sapieha, ein orthodoxer Adliger, trug sich als Jugendlicher 1546 in die Matrikel der Universität Leipzig als „ex Rossa“ ein und ein Jahr später als „Lithuanus“. Im 17. Jahrhundert wurden die Begriffe „Litwine“ (litvin) und „litauisches Volk“ (narod litovskij) im Verwaltungsgebrauch des Großfürstentums Litauen unabhängig von der geographischen Lage zur allgemeinen Selbstbezeichnung des Adels. Er definierte sich sowohl auf dem Gebiet des heutigen Litauen als auch auf dem Gebiet des heutigen Weißrussland als „litauische Adelsnation“ (narod litovskij). Beispielsweise beantragten die Adeligen aus Kaunas (poln. Kowno), „unser litauisches Volk“ nicht übermäßig
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mit Steuern zu belasten, und die Ritterschaft aus Minsk (wr. Mensk) verlangte in ähnlicher Weise, dass Steuereintreiber aus dem „Kreis unseres litauischen Volkes eingesetzt werden sollen“.
4. D IE H ERAUSFORDERUNG DURCH M OSKAUER Z ARENREICH
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Die Standhaftigkeit der politischen Gemeinschaft in der polnisch-litauischen Union wurde in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts durch die verheerenden Kriege zwischen Russland, Schweden und Polen-Litauen auf die Probe gestellt. Bei den lokalen Eliten offenbarte sich nicht nur eine Identifikation mit dem staatlichen Patriotismus, sondern auch die Bereitschaft, die neue Macht des orthodoxen Zaren oder des protestantischen Königs zu akzeptieren. Vor die Wahl zwischen dem polnischen König und dem Moskauer Zaren gestellt, blieb der orthodoxe Adel seinem „lieben Vaterland“ durchaus treu, da er in der polnisch-litauischen Union den Garanten seiner Rechte und Freiheiten erblickte. Signifikant ist die Erfahrung des orthodoxen weißrussischen Adligen Konstantin Poklonskij und seines belarusischen Regiments. Motiviert durch die Hoffnung auf die orthodoxe Mission des Zaren trat er zu Anfang des Krieges auf die Seite Moskaus über, kehrte dann aber wieder „zum lieben und goldenen Vaterland“ zurück, weil seine Landsleute unter der zarischen Macht „anstelle des Besseren in die größere bittere Unfreiheit“ geraten seien.3 Der Eindruck, dass politische Interessen bei der Entscheidungsfindung schwerer wogen als konfessionelle Affinitäten, lässt sich durch weitere Beispiele untermauern. Als Janusz und Bogusław Radziwiłł in Kejdany (poln. Kiejdany) 1655 mit dem protestantischen Schweden ein Abkommen über die Trennung des Großfürstentums Litauen von der polnischen Krone und über die Errichtung einer litauisch-schwedischen Union schlossen, wurden sie von der Szlachta ohne Rücksicht auf die Konfession unterstützt. Zu den Unterzeichnern der Urkunde gehörten nicht nur Protestanten, sondern auch Katholiken und Orthodoxe. Jedoch blieb die Mehrheit der Truppen dem König treu. Eingekeilt zwischen den ins Großfürstentum Litauen eingedrungenen Heeren Moskaus und Schwedens gab sie sich mit einer Intensität und Weise der „Liebe zum Herren und zum Vaterland“ hin, um die sie selbst die polnische Szlachta beneiden musste. Nachdem die Moskauer Armee fast das gesamte Großfürstentum Litauen besetzt hatte, fand sich allerdings bereits im Herbst 1655 eine Gruppe von Magnaten (Adelige mit Großgrundbesitz) und Angehörigen des Kleinadels (Szlachta) zusammen, die sich zu einer Allianz mit den Okkupanten bereitfanden. Ihre Führer gelobten dem Zaren
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Akty otnosjaščiesja k istorii Južnoj i Zapadnoj Rossii. Band 14: S.-Peterburg: Prac 1889, S. 550-551.
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Loyalität im Falle einer Einstellung der Kampfhandlungen und im Falle einer Garantie der Unantastbarkeit ihrer Besitztümer. Um Beschlagnahmungen und Zerstörungen zu vermeiden, ging die in der Region ansässige Szlachta diesbezüglich sogar eigenständig vor. Das dem Zaren Anfang 1656 unterbreitete Angebot der Ritterschaft von Oszmiany (wr. Aschmjany) sah eine Union mit Moskau auf der gleichen Grundlage vor, „die es zuvor mit der polnischen Krone gab“. Die Szlachta Weißrusslands und Litauens verlangte von ihren Delegierten bei den Friedensverhandlungen zwischen Polen-Litauen und Russland in Wilna 1656 die baldige Vertragsunterzeichnung und drohte den Polen im Falle eines Scheiterns sogar mit dem Übertritt in die zarische Untertanenschaft. Je länger der Landbesitz von SzlachtaAngehörigen unter der Oberhoheit des Zaren blieb, desto stärker wurde das moskautreue Lager. Es wäre jedoch übertrieben, darin mehr als nur situativen Pragmatismus zu sehen. Nachdem Polen-Litauen 1660 mit Schweden Frieden geschlossen und Anfang der sechziger Jahre auf weißrussischem Territorium eine Reihe von Siegen über die zarische Armee errungen hatte, wandelte sich wiederum die Einstellung gegenüber Moskau. Im Gegensatz zur polnischen Szlachta forderte der gesamte im Landtag des Großfürstentums Litauen vertretene Adel vergeblich die Fortsetzung des Krieges bis zur Rückgabe aller verlorenen Länder. Zugegebenermaßen blieb die promoskauische Orientierung eines Teiles des Adels im Großfürstentum Litauen ein konstanter Faktor im politischen Leben der polnisch-litauischen Union. Sie nahm in Krisenzeiten zu. Sobald sich die innenpolitische Situation stabilisierte, verringerte sie sich wieder. Daran spiegelt sich in gewisser Weise die tatsächliche Stimmungslage des lokalen Adels wider, der sich wegen seiner geographischen Nähe zu Moskau in einer schwierigeren Situation befand als der polnische Adel. Dem häufig von Oligarchen des Großfürstentums Litauen inspirierten und demonstrierten Wunsch einer Annäherung an Moskau fehlte jedoch immer ein konfessioneller, historischer oder kultureller Hintergrund.
5. Z USAMMENFASSUNG Insgesamt gesehen lässt sich für die Frühe Neuzeit keine klare Verbindung von (proto)nationaler Identität und gemeinsamer Sprache oder Religion ausmachen. Konfessionell-kulturelle Übereinstimmungen waren nicht ausgeschlossen. Die Konstellationen verhielten sich vage und ließen Alternativen zu. Die Annahme eines anderen Glaubens oder die Bevorzugung einer anderen Sprache bedeuteten nicht automatisch Assimilation oder Übertritt in eine andere Ethnie. In der Hierarchie der multiplen Identitäten des privilegierten Standes in der frühneuzeitlichen Belarus scheint der politische Faktor am meisten hervorzuragen. Gemeint ist die Bereitschaft der sich als Staatsbürger (poln. obywatel) verstehenden Adligen sich mit dem politischen System Polen-Litauens zu identifizieren. Die Bedeutung dieses Phä-
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nomens für die Entstehung der modernen weißrussischen Nation muss von der Historiographie noch thematisiert werden. Eines aber dürfte sich als unstrittig erweisen: Die Beschränkung der Perspektive auf konfessionelle Zusammenhänge in der Betrachtung über die Ursprünge dieser Nation, die Reduzierung nationaler Traditionen auf die Orthodoxie und das „Rusentum“ (ruskost’) entbehrt jeder wissenschaftlichen Grundlage. Übersetzung von Elizaveta Slepovitch
L ITERATUR Friedrich, Karin/Pendzich, Barbara M. (Hg.): Citizenship and Identity in a Multinational Commonwealth. Poland-Lithuania in Context, 1550-1721, Leiden, Boston: Brill 2009. Diedrich, Hans-Christian: „Auf dem Weg zur Glaubenseinheit …“. Reformationsgeschichte Weißrusslands, Erlangen: Martin-Luther-Verlag 2005. Jablonowski, Horst: Westrussland zwischen Wilna und Moskau. Die politische Stellung und die politischen Tendenzen der russischen Bevölkerung des Großfürstentums Litauen im 15. Jahrhundert, Leiden: Brill 1955. Niendorf, Mathias: Das Großfürstentum Litauen. Studien zur Nationsbildung in der Frühen Neuzeit (1569-1795), 2. revidierte Aufl. Wiesbaden: Harrassowitz 2010. Plokhy, Serhii: The Origins of the Slavic Nations. Premodern Identities in Russia, Ukraine, and Belarus, Cambridge u.a.: Cambridge University Press 2006.
Von den Ostgebieten der Adelsrepublik zu den Westgouvernements des Zarenreiches: Die Integration Weißrusslands in das Russische Imperium nach den Teilungen Polens J ÖRG G ANZENMÜLLER
Das weißrussische 19. Jahrhundert war von einem Herrschaftswechsel geprägt. Preußen, die Habsburgermonarchie und das Zarenreich teilten in den Jahren 1772, 1793 und 1795 Polen unter sich auf, und Russland verleibte sich dabei 62 Prozent des Territoriums und 45 Prozent der Bevölkerung der alten Adelsrepublik ein. Das östliche Weißrussland gelangte im Zuge der ersten Teilung von 1772 zum Zarenreich und bildete zunächst die Gouvernements Polozk (wr. Polazk) und Mogiljow (wr. Mahiljou). Aus mehreren territorialen Umstrukturierungen gingen schließlich die Gouvernements Witebsk (wr. Wizebsk) und Mogiljow hervor. Infolge der zweiten bzw. dritten Teilung annektierte das Russische Reich auch die westliche Hälfte Weißrusslands und formte daraus die Gouvernements Minsk (wr. Mensk) und Grodno (wr. Hrodna). Der territorialen Angliederung folgte die staatliche Integration der polnischen Teilungsgebiete. Die zarische Regierung stand im 19. Jahrhundert vor der Aufgabe, die litauischen, weißrussischen und ukrainischen Provinzen der polnischen Adelsrepublik in Gouvernements des russischen Zarenreiches zu transformieren. Die Frühe Neuzeit hat Weißrussland eine polnische Prägung verliehen. Vor den Teilungen Polens gehörte Weißrussland zum Großfürstentum Litauen, das im Zuge der Personalunion von Krewo 1385 und der Realunion von Lublin 1569 mit dem Königreich Polen vereinigt worden war. Der litauische Adel wurde im Zuge der Taufe ihres Großfürsten Jagiełło 1385 nicht nur christianisiert, sondern in den folgenden Jahrhunderten auch kulturell assimiliert. Polnische und litauische Adlige sprachen nicht nur die gleiche Sprache – nämlich Polnisch – sondern hatte auch dasselbe kulturelle Selbst-
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verständnis. Weißrussland war ein integraler Bestandteil der „Adelsrepublik“ (Rzeczpospolita) und der polnische Adel bildete seine Oberschicht. Der Adel in Polen-Litauen wies eine Reihe von Besonderheiten auf. Zum einen war in keinem europäischen Land der Anteil des Adels an der Gesamtbevölkerung so hoch wie in der Adelsrepublik. Im 18. Jahrhundert gehörten rund acht Prozent der Bevölkerung dem Adel an. Zum zweiten war der polnisch-litauische Adel sozial heterogen. Er setzte sich aus einer dünnen Schicht reicher Magnaten, einem Hauptanteil aus Gutsbesitzern sowie grundbesitzenden Kleinadligen und zu immerhin 40 Prozent aus mittellosen Adligen zusammen. Letztere hatten den Boden, den sie bearbeiteten, entweder nur gepachtet oder waren ganz ohne grundherrschaftliche Einkünfte. Nicht selten standen sie sogar im Dienst eines gutsbesitzenden Adligen. Eine dritte Besonderheit war die politische Verfasstheit des polnischen Adels. Die Szlachta, wie sich der polnisch-litauische Adel seit dem 14. Jahrhundert nannte, hatte ständische Selbstvertretungsorgane herausgebildet und eine politische Eigenständigkeit errungen, die sie zu einer selbstbewussten Gegenkraft zum Monarchen werden ließ. Infolgedessen bildete sich in Polen keine absolutistische Monarchie heraus, sondern eine Adelsrepublik, in der die Szlachta den polnischen König wählte. Die Kandidaten auf den Thron, die nicht selten aus Geschlechtern ausländischer Herrscherdynastien stammten, mussten immer mehr Rechte an den Adel abtreten, um auf dem Reichstag eine Stimmenmehrheit zu gewinnen. Schon am Ende des 16. Jahrhunderts bedurfte jedes Gesetz der Zustimmung des „Reichstages“ (sejm). Außerdem war die Szlachta einer ständischen Rechtsprechung unterworfen, in der die Richter nicht vom König ernannt, sondern vom Adel selbst gewählt wurden. Die Bauernschaft bildete mit knapp 90 Prozent den größten Stand in den Gebieten des Großfürstentums Litauens. Sie bewirtschafteten das Land als Freie, mussten seit dem 15. Jahrhundert jedoch zunehmend Fronarbeit oder einen Zinssatz an ihren Gutsherren leisten. Die Volkssprache der Bauern war Weißrussisch, und sie gehörten der orthodoxen oder der unierten Kirche an. Die sozialen Schranken gegenüber dem katholischen und Polnisch sprechenden Hochadel waren damit auch kulturell markiert. Eine eigene soziale Gruppe bildeten die Juden. Ihr Anteil an der Bevölkerung stieg im Verlauf der Frühen Neuzeit von fünf auf zehn Prozent an, wobei sie vor allem in den kleinen Städten siedelten. Dort stellten sie nicht selten die Mehrheit der Einwohner oder bildeten sogar eine geschlossene jüdische Kommune, das sogenannte Schtetl. Die Juden nahmen in der Adelsrepublik eine Mittlerrolle zwischen Stadt und Land ein. Sie versorgten als Handwerker oder Händler die Dörfer mit Waren, transportierten die adligen Getreideerträge in die Städte und verkauften sie dort. Adlige Großgrundbesitzer stellten Juden auch gerne als Verwalter ihrer Güter ein und ließen sie das adlige Brennerei- und Schankwesen betreiben. Eine hohe Besteuerung und ein überproportionales Bevölkerungswachstum führten zur
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hoffnungslosen Verschuldung der jüdischen Gemeinden sowie zu wachsender Armut. Im Folgenden soll ausgelotet werden, welche tief greifenden Veränderungen die Region im Zuge der Teilungen Polens erfuhr. In welcher Weise veränderte die russische Herrschaft den Raum und die Sozialstruktur der Adelsrepublik und inwieweit transformierte sie Weißrussland von einem östlichen Landesteil der Adelsrepublik in Westgouvernements des Zarenreiches?
1. D IE SYMBOLISCHE U MPRÄGUNG W EISSRUSSLANDS : ARCHITEKTUR UND I NFRASTRUKTUR ALS F ORMEN IMPERIALER R EPRÄSENTATION Herrschaftswechsel finden zunächst auf symbolischer Ebene statt. Im Europa des 18. und 19. Jahrhunderts folgten auf die militärische Okkupation die Veröffentlichung eines Besitzergreifungspatents, die Vereidigung der örtlichen Elite, der Austausch der Herrschaftssymbole und die Huldigung des neuen Herrschers. In den Fällen, in denen die Staatsgewalt noch keine Bürokratie herausgebildet hatte, ersetzte eine symbolische Herrschaftsrepräsentation die institutionelle und personelle Durchdringung der annektierten Territorien mit einem eigenen Beamtenapparat. Das Zarenreich war nach den Teilungen Polens in der weißrussischen Provinz noch weitgehend abwesend und konstituierte seine Herrschaft deshalb zunächst in Akten symbolischer Kommunikation und Repräsentation: der Adel musste einen Treueid auf die Zarin schwören, der Raum wurde durch das Aufstellen von Grenzpfosten umcodiert und Gerichte sowie Verwaltungseinrichtungen wurden durch das Aufhängen eigener Wappen und der Einführung eigener Uniformen als Institutionen des Zarenreiches gekennzeichnet. Unmittelbar nach dem symbolischen Vollzug des Herrschaftswechsels entwickelte das Zarenreich eine rege Bautätigkeit in den weißrussischen Gouvernements. Es entstanden vor allem repräsentative Steinbauten, darunter Gouvernements- und Provinzialkanzleien sowie Wohnhäuser für staatliche Repräsentanten des Zarenreiches. Nicht zuletzt die Gouverneurssitze repräsentierten städtebaulich das Imperium in der Provinz. Sie wurden an zentralen Plätzen der Gouvernementsstädte errichtet, dominierten die umliegenden Gebäude und folgten einem einheitlichen, klassizistischen Baustil. Sie demonstrierten einerseits den zarischen Herrschaftsanspruch und gaben andererseits der Staatsgewalt reichsweit ein einheitliches Gesicht. Gleichzeitig zählten die Neubauten häufig zu den ersten Steinhäusern in jenen neuen Verwaltungszentren, die häufig eher Marktflecken denn Städten glichen. Sie verliehen dem Anspruch der zarischen Regierung, Fortschritt in die weißrussische Provinz zu tragen, symbolischen Ausdruck. Bis zum Jahr 1784
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hatte man in den beiden weißrussischen Gouvernements Mogiljow und Polozk 270 staatliche Gebäude errichtet, darunter 59 aus Stein. Der Ausbau der Städte ist nur ein Bereich, in dem das Zarenreich die Infrastruktur der weißrussischen Gouvernements modernisierte. Unmittelbar nach der ersten Teilung drängte Katharina II. auf die Ausbesserung und den Neubau von Straßen, die Errichtung von Brücken, die Anlage von Kanälen sowie die Organisation eines funktionierenden Postwesens. Innerhalb weniger Jahre wurde Erstaunliches geleistet. Zeitgenössische Berichte lobten den guten Zustand der Straßen, die nach neuesten Plänen errichteten Steinhäuser sowie die sauberen und gut funktionierenden Poststationen. Reisende zeigten sich wiederholt vom neu angelegten Wegenetz in der weißrussischen Provinz begeistert: Breite, gerade verlaufende Birkenalleen verbanden einerseits die Kreise untereinander und andererseits die beiden Gouvernements sowohl mit der Hauptstadt als auch mit den angrenzenden Regionen. Um das Reisen so angenehm wie möglich zu gestalten, wurden Hügel abgetragen, Brücken über Flüsse gebaut und entlang der Straße auf beiden Seiten Kanäle angelegt. Ein Netz von Poststationen bot dem Rastenden in neu errichteten Holzhäusern eine Mahlzeit oder ein Zimmer zur Übernachtung. Nicht zuletzt Katharina II. zeigte sich bei ihrem Besuch des Gouvernements Mogiljow im Jahre 1780 mit dem wohlgeordneten Zustand ihrer neuen Herrschaftsgebiete äußerst zufrieden. Ganz besonders lobte sie die Straßen: Sie seien wie Gärten.1 Die Aneignung des Raumes durch das Zarenreich erfolgte also in einem fortschrittlichen Gewand. Klassizistische Architektur, komfortable Alleen und ein funktionierendes Postwesen demonstrierten die Leistungsfähigkeit des Imperiums und machten die ordnende Hand zarischer Herrschaft in der weißrussischen Provinz sichtbar. Dagegen standen die kleinen Dörfer mit ihren baufälligen Holzbauten und alles andere, was vom Selbstbild der ordnungsstiftenden Staatsgewalt abwich, als Relikt der alten Adelsrepublik und ihrer politischen Ordnung. Der Herrschaftswechsel im Zuge der Teilungen Polens hatte also einen modernisierenden Anspruch, wobei die Neuerungen eher auf technischen Gebieten wie Infrastruktur sowie Architektur stattfanden und nicht das Gesellschaftssystem betrafen: Die Leibeigenschaft blieb bestehen und der polnische Adel bildete weiterhin die lokale Elite.
1
Vgl. Lev N. Ėngel’gardt: Zapiski, Moskva: Novoe Literaturnoe Obozrenie 1997, S. 26-28.
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2. D IE U MGESTALTUNG DES POLNISCHEN ADELS : DIE I NTEGRATION DER G UTSBESITZER UND DIE D EKLASSIERUNG DES K LEINADELS Dem Zarenreich mangelte es am Ende des 18. Jahrhunderts an qualifiziertem Verwaltungspersonal, um die Teilungsgebiete mit einer staatlichen Bürokratie zu durchdringen. Die zarische Regierung war bei der Etablierung einer russischen Herrschaft auf den Territorien der untergegangenen Adelsrepublik auf das Mitwirken der lokalen Elite in der Verwaltung angewiesen. Deshalb blieben altpolnische Institutionen wie die Landtage oder Gerichte bestehen, und St. Petersburg war bemüht, diese in den Dienst des neuen Staates zu stellen. Folglich hing auch die Integration Weißrusslands in das Zarenreich von der Kooperation des polnischen Provinzadels mit der russischen Staatsmacht ab. Eine Voraussetzung dieser traditionellen Elitenintegration war die Respektierung der jeweiligen administrativen und rechtlichen Ordnung sowie der Besitzverhältnisse und des bestehenden Wertesystems. Die Szlachta musste demzufolge der Zarin den Treueid schwören und erhielt daraufhin dieselben Rechte und Privilegien wie der russische Adel. Im Gegenzug blieben die adligen Selbstverwaltungsorgane bestehen. Schwieriger gestaltete sich die Integration der Szlachta in den Reichsadel. Der polnische Adel war um ein Vielfaches zahlreicher als der russische, und die verarmte Szlachta stellte in den Augen Katharinas II. ein soziales sowie ein politische Problem dar. Die Zarin traute einem wirtschaftlich abhängigen Kleinadel jedoch nicht zu, die zarische Herrschaft vor Ort auszuüben und die russische Staatsgewalt in der Provinz zu repräsentieren. Die zarische Regierung leitete aus diesem Grunde eine Adelsrevision ein, deren Ziel es war, den besitzlosen Kleinadel aus dem Adelsstand auszuschließen. Nur die grundbesitzenden Adligen sollten in den Reichsadel integriert und rechtlich mit dem russischen Adel gleichgestellt werden. Allerdings fehlten die personellen Ressourcen, eine solche Adelsüberprüfung selbst durchzuführen. Die zarische Regierung musste die Umsetzung der Adelsrevision an den Adel übertragen und somit die Kontrolle über das Verfahren aus der Hand geben. Der lokale Adel legte bei der geforderten Selbstüberprüfung seine eigenen Maßstäbe an und schloss in nur wenigen Fällen seine Standesgenossen aus dem Adelsstand aus. Erst Nikolaus I. nahm die Adelsrevision in staatliche Hand und deklassierte innerhalb weniger Jahre die besitzlose Szlachta. Zum einen reagierte er mit diesem Schritt auf die sich häufenden Berichte über die Fälschung von Adelsnachweisen und die Bestechung von Beamten. Nikolaus begegnete mit seiner Politik des forcierten Staatsausbaus allerdings ebenso dem Novemberaufstand von 1830/31, der dem Zaren die Schwäche der staatlichen Institutionen auch in der weißrussischen Provinz drastisch vor Augen geführt hatte. Ein zunächst dilettantischer Putschversuch von Warschauer Offiziersschülern am Abend des 29. Novembers 1830 hatte sich binnen kur-
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zem in einen militärischen Aufstand verwandelt, der vom Königreich Polen schnell auf die Westgouvernements übergriff und von der zarischen Armee nur unter erheblichen Verlusten niedergeschlagen werden konnte. Der polnische Kleinadel war in Weißrussland einer der Hauptträger des Aufstandes gewesen. Nikolaus beendete daraufhin die Adelspolitik seiner Vorgänger, welche auf die Wahrung der Rechte und Traditionen des polnischen Adels gesetzt hatten. Die Szlachta sollte nun in der russischen Ständeordnung aufgehen und gerade durch die vorbehaltlose Anerkennung der zarischen Normen in die Gesellschaft des Russischen Imperiums integriert werden. Langfristig führte somit die zarische Integrationspolitik zur Abschaffung der Szlachta als eine gesellschaftliche Kategorie mit einem eigenen Normenund Wertegerüst. Die Teilungen Polens hatten somit eine ganz wesentliche Auswirkung auf die Sozialstruktur der Region zur Folge. Mit der sozialen Transformation der Szlachta verlor Weißrussland ein weiteres Element jener polnischen Prägung, welche es während seiner langen Zughörigkeit zur Adelsrepublik gekennzeichnet hatte. Gleichzeitig schien die russische Integrationspolitik mit dem Novemberaufstand von 1830 gescheitert. Und spätestens nach einem weiteren Aufstand im Januar 1863 hatte sich jene Frontstellung verhärtet, die das polnisch-russische Verhältnis bis zum Ende des Ersten Weltkrieges kennzeichnete: Die zarische Regierung sah in Polen einen Hort der Revolution, und die polnische Nationalbewegung nahm die zarische Politik nur noch als aggressive Russifizierung wahr. Die weißrussischen Bauern standen letztlich zwischen den beiden Konfliktparteien: Die polnische Nationalbewegung versuchte sie für ihren Kampf gegen die „russischen Unterdrücker“ zu vereinnahmen, während das Zarenreich sich zum Wahrer des orthodoxen Glaubens stilisierte und vorgab, die Bauern gegen die „katholischen Gutsbesitzer“ in Schutz nehmen zu müssen. Die weißrussische Nationalbewegung tat sich schwer, ein alternatives Konzept zu diesen beiden Kulturen zu entwerfen. Dies mag ein Grund dafür gewesen sein, weshalb sie während des gesamten 19. Jahrhunderts keine ideologische Strahlkraft entfalten konnte und ihre Wirkung auf wenige Intellektuelle beschränkt blieb.
3. F ORTWÄHRENDE F REMDHEIT UND KONSERVIERTE ARMUT : D IE UNTERBLIEBENE I NTEGRATION DER WEISSRUSSISCHEN J UDEN INS Z ARENREICH Im Zuge der Teilungen Polens wurden zum ersten Mal Juden in nennenswertem Umfang zu Untertanen des Zarenreichs. Bis dahin hatte sich die zarische Gesetzgebung zu den Juden weitgehend auf Ausweisungen beschränkt. Eine Fortsetzung dieser politischen Linie war angesichts der Inkorporation der größten jüdischen Ansiedlung Europas nicht möglich und entsprach auch nicht dem Selbstverständnis Katharinas II. als aufgeklärte
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Monarchin. Die Zarin gewährte ihren jüdischen Untertanen stattdessen die Unantastbarkeit ihres Eigentums und weitreichende Freiheiten. Auch der Kahal blieb als Institution der jüdischen Selbstverwaltung bestehen. Allerdings untersagte die zarische Regierung den Juden, sich im Inneren Russlands niederzulassen. Sie mussten in den polnischen Teilungsgebieten bleiben und erhielten nur die Erlaubnis, sich in den neu erworbenen und unterbevölkerten Gebieten am Schwarzen Meer anzusiedeln. Alexander I. erklärte dieses Gebiet dann zum jüdischen „Ansiedlungsrayon“ (čerta osedlosti) und unterband damit eine jüdische Binnenmigration in die Zentren des Zarenreiches. Das Festhalten der Juden in ihren angestammten Wohnorten konservierte die bestehenden sozialen Verhältnisse: Mit dem Schtetl blieb zwar der Inbegriff der ostjüdischen Lebenswelt erhalten, allerdings auch die grassierende Armut und die Abgeschiedenheit von den Zentren des Imperiums. Eine unmittelbare Auswirkung auf die weißrussischen Juden hatte Katharinas II. tief greifender Umbau der Sozialverfassung des Russischen Reiches. Die aufgeklärte Zarin war bestrebt, eine ständische Gesellschaft zu etablieren und unterteilte die Bevölkerung in soziale Kategorien. Die Juden ordnete sie aufgrund ihrer wirtschaftlichen Tätigkeit der Stadtbevölkerung zu und rechnete sie entweder zu den „Kleinbürgern“ (meščane) oder zur Kaufmannschaft. Damit erhielten auch Juden jene korporativen Rechte, die Katharina II. den Stadtgemeinden verlieh, und machte die weißrussischen Juden zumindest auf lokalpolitischer Ebene zu gleichberechtigten Bürgern. Andererseits entsprach diese eindeutige Zuteilung nicht den sozialen Realitäten. Anders als in Mittel- und Westeuropa lebten zahlreiche Ostjuden auf dem Land und sahen sich nun einer ordnenden Staatsmacht gegenüber, die sie zur Umsiedlung in die Städte und Marktflecken bewegen wollte. Auch wenn der zarischen Staatsgewalt die Mittel fehlten, diese Anordnung durchzusetzen, so schwebte die Vertreibung fortan als ständige Bedrohung über den auf dem Lande lebenden Juden. Die weißrussischen Juden erfuhren die Teilungen Polens zunächst also weniger als Bruch, denn als Fortsetzung ihrer ostjüdischen Lebensverhältnisse. Auch wenn Alexander I. 1804 den Juden die Gleichberechtigung für den Fall in Aussicht stellte, dass diese sich an die Kultur und Lebensweise der russischen Mehrheitsgesellschaft anpassten, so förderte die zarische Regierung eine solche Assimilation kaum. Der jüdische Ansiedlungsrayon bewahrte vielmehr die ostjüdische Lebenswelt, unterband jedoch gleichzeitig die Migration derjenigen, die dieser dörflichen Enge entkommen wollten und zementierte auf diese Weise die Abgeschiedenheit der Juden von der zarischen Gesellschaft. Im Verlauf des 19. Jahrhunderts erhöhte sich der staatliche Zugriff auf die Bevölkerung des Zarenreiches. Infolgedessen begann die zarische Regierung nun vermehrt, das Eigenleben der jüdischen Gemeinden zu reglementieren. 1844 schuf sie den Kahal ab und übertrug die jüdische Selbstverwaltung sowie die Rechtsprechung an die allgemeine städtische Selbstverwaltung. Diese Maßnahme war von dem Gedanken geleitet, dass der
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Kahal als wichtigster Rückhalt jüdischer Tradition der Integration im Wege stünde. Auch wenn dieses Verbot in der Praxis nicht durchgesetzt werden konnte, und die meisten jüdischen Organisationen illegal weiterarbeiteten, so hatte Nikolaus I. sich mit seiner Gesetzgebung von der toleranten Judenpolitik Katharinas II. und Alexanders I. abgewandt. Er und seine Nachfolger beschritten fortan den Weg einer Diskriminierung der Juden bei fortgesetztem Assimilationsdruck. Dem aufkommenden Antisemitismus setzte man keine Schranken, sondern öffnete ihm durch eine solche Politik vielmehr Tür und Tor. Folglich stellten weniger die Teilungen Polens als die Wende in der zarischen Judenpolitik im 19. Jahrhundert die zentrale Herausforderung für die ostjüdische Kultur in Weißrussland dar.
4. Z USAMMENFASSUNG Die Teilungen Polens bildeten einen wichtigen Einschnitt in der Geschichte Weißrusslands. Die Bevölkerung wurde in die von Katharina II. geschaffene ständische Struktur des Zarenreiches eingepasst, die zarische Regierung förderte den orthodoxen Glauben sowie die russische Sprache und Kultur. Die größten Veränderungen resultierten allerdings nicht aus dem Herrschaftswechsel selbst, der zunächst vor allem auf symbolischer Ebene vollzogen wurde und die sozialen Strukturen der Adelsrepublik weitgehend bestehen ließ. Einen einschneidenden Wandel brachte vielmehr das 19. Jahrhundert mit sich, als die zarische Regierung insbesondere unter Nikolaus I. den staatlichen Zugriff auf die Bevölkerung intensivierte und unmittelbar in die soziale Struktur und in die Lebenswelten der Menschen eingriff. Zweifellos hätten vergleichbare Entwicklungen Weißrussland auch dann erfasst, wenn es unter polnischer Herrschaft geblieben wäre. Die Reformen des letzten polnischen Königs, Stanisław II. August, zielten zum Beispiel darauf ab, den besitzlosen Kleinadel zu deklassieren und stattdessen die städtischen Schichten in den politischen Prozess mit einzubeziehen. Aufgrund der Teilungen Polens erfuhr Weißrussland jedoch den Ausbau der russischen und nicht der polnischen Staatsgewalt. Und Weißrussland wurde somit Bestandteil eines autokratisch verfassten Staatswesens, das bei der Integration seiner Bevölkerung nur zögerlich auf gesellschaftliche Partizipation setzte. Die polnische Adelsrepublik, die im Mai 1791 die erste kodifizierte Verfassung Europas verabschiedet hatte, hätte vermutlich eine andere Entwicklung genommen. Bis heute finden sich in Weißrussland zahlreiche Spuren des frühneuzeitlichen Polens sowie Überreste der russischen Herrschaft im 19. Jahrhundert. Ja, diese doppelte kulturelle Prägung durch die Adelsrepublik und das Zarenreich ist eine Eigenheit, die Weißrussland mit Litauen und Teilen der Ukraine gemein hat. Die deutschen Besatzer im Zweiten Weltkrieg und die sowjetische Herrschaft haben jedoch zahlreiche jener charakteristischen Merkmale zerstört, insbesondere durch die Ermordung der weißrussischen
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Juden und die Vernichtung ihrer ostjüdischen Kultur. Die Republik Belarus bezieht dennoch auch heute noch ihren spezifischen Reiz daraus, dass hier polnische Wurzeln, eine russische Prägung und eine sowjetische Überformung eng miteinander verwoben sind.
L ITERATUR Haumann, Heiko: Geschichte der Ostjuden, München: Deutscher Taschenbuch-Verlag 1999. Hildermeier, Manfred: „Die jüdische Frage im Zarenreich. Zum Problem der unterbliebenen Emanzipation“, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 32 (1984), S. 321-357. Leslie, Robert F.: Polish Politics and the Revolution of November 1830, London: Athlone Press 1956. Müller, Michael G.: Die Teilungen Polens 1772 – 1793 – 1795, München: C.H. Beck Verlag 1984. Skinner, Barbara: The Western Front of the EasternChurch. Uniate and Orthodox Conflict in 18th-Century Poland, Ukraine, Belarus, and Russia, De Kalb: Northern Illinois University Press 2009 Thaden, Edward C.: Russia’s Western Borderlands, 1710-1870, Princeton: Princeton University Press 1984.
„Eine Mischung von Menschen und Sprachen wie beim Turmbau zu Babel.“ Die russländische Vielvölkerstadt Polozk im Kaleidoskop von Augenzeugenberichten S TEFAN R OHDEWALD
Die heute zur Republik Belarus gehörenden Städte waren – wie auch die der Ukraine – aufgrund ihrer Geschichte bis zum Zweiten Weltkrieg stärker als andere Städte Europas von kulturellen Praktiken konfessioneller, ethnischer und ständischer Differenz geprägt. Dies war das Ergebnis ihrer mit Mitteleuropa eng verflochtenen Geschichte: Polozk (wr. Polazk), das hier als Beispiel dienen soll, entstand als eine der ältesten Städte des Kiewer Reiches. Noch im 12. Jahrhundert war sie unter den ostslawisch-warägischen, byzantinisch beeinflussten Städten wichtiger als Minsk oder das erst im 13. Jahrhundert entstehende Lemberg (ukr. Lwiw). Im Gegensatz etwa zu Kiew wurde sie auch nicht vom Tatarensturm verwüstet. Allerdings gestaltete auch sie sich mit der Erweiterung des Großfürstentums Litauen und dessen Eingliederung in mitteleuropäische Zusammenhänge vom 14. Jahrhundert an grundlegend um. Im Kontext mit dem schon im 13. Jahrhundert immer stärker werdenden Handel mit dem katholischen Riga ist im 15. Jahrhundert zu beobachten, wie sich in Polozk eine städtische Kommune festigte, die – im Unterschied etwa zu Lemberg – nicht Katholiken, sondern orthodoxe Ostslawen bildeten. Die Verleihung des Magdeburger Rechts an die überwiegend orthodoxe Stadt im Jahre 1498 schloss diesen Vorgang ab. Das Führungsgremium der Bürgergemeinde, der Stadtrat oder Magistrat, wurde seither zu gleichen Teilen von Vertretern der griechischen und der römischkatholischen Religion besetzt. Die Eingliederung in mitteleuropäische Konfessionsbildungsvorgänge sowie die Zuwanderung aschkenasischer Juden aus den Städten Polens veränderten Polozk im 16. und 17. Jahrhundert erneut stark. Aus der ehemals von Orthodoxen beherrschten Stadt wurde eine multikonfessionelle Vielvölkerstadt im Übergangsraum zwischen dem orthodoxen Osteuropa und dem lateinischen Mitteleuropa. Für diese waren
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jüdische Gemeinden in den Städten charakteristisch – im westlichen Mitteleuropa bis ins Spätmittelalter, im östlichen Mitteleuropa bis zum Zweiten Weltkrieg. Nach der Mitte des 19. Jahrhunderts lebten in nahezu allen damals russländischen Städten, die bis zum Ende des 18. Jahrhunderts zu Polen-Litauen gehört hatten, mehrheitlich Juden, orthodoxe Ostslawen beziehungsweise Russen und wenige Ruthenen, d.h. Belarusen oder Ukrainer, sowie Katholiken, die oft polnischer nationaler Identität waren. Die städtische Moderne entwickelte sich bis zum Ersten Weltkrieg weitgehend ohne Ukrainer oder Belarusen, die zu annähernd 90 Prozent auf dem Lande lebten. 1897 waren von den 20.255 Bewohnern von Polozk 61,5 Prozent jüdischen Glaubens. 80 Prozent der Bürger waren Juden – und 96 Prozent der 12.481 Juden waren Bürger. Unter den Stadtbewohnern russischer Muttersprache (3.523) gab es knapp mehr Bürger (1.246) als Bauern (1.152). Unter den 3.122 Polozkern belarusischer Muttersprache waren hingegen die Bauern (1.686) zahlreicher als die Bürger (1.253). 18 Prozent der Christen waren Adlige und Beamte. Nur 13 Prozent der gesamten Stadtbevölkerung waren christliche Bürger und Kaufleute.1 Polozk war eine mittelgroße Kreisstadt und steht für die Hälfte der Stadtbevölkerung Russlands, die um 1900 in Städten mit bis zu 50.000 Einwohnern lebte. Im Folgenden soll anhand von Berichten von Zeitgenossen des 19. Jahrhunderts am Beispiel von Polozk aufgezeigt werden, wie überaus uneinheitlich die Blickwinkel der Beobachter dieser sprachlichen und religiösen urbanen Vielfalt sein konnten.
1. I NSZENIERTE E INHEIT
DER
V IELFALT
Zu Beginn der Blick einer Kaiserin. Im Frühling 1780 beehrte Katharina die Große die Gebiete Polen-Litauens, die ihre Truppen 1772 besetzt hatten, erstmals mit einem Besuch. Dabei beobachtete Katharina zunächst ein babylonisches Sprach- und Völkergemisch. In einem Brief an ihre Familie berichtete sie, was ihr nach der Überquerung der früheren Grenze aufgefallen war. Zahlreiche ethnische und konfessionelle Gruppen lebten hier durchmischt, niemand sei gleich gekleidet oder spreche dieselbe Sprache fehlerfrei. Ihr Vergleich war der mit dem Völkerwirrwarr zur Zeit des Baus des Turms von Babel.2 Katharina erkannte, was diese Gegend von den zentralrussischen Gouvernementen des Reiches, aber auch von ihrer
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Trojnickij, N. A. (Hg.): Pervaja vseobščaja perepis’ naselenija Rossijskoj imperii, 1897, izdanie central’nogo statističeskogo komiteta ministerstva vnutrennich del, Band 5: Vitebskaja gubernija, Heft 1, S.-Peterburg: Central’nyj Statističeskij Komitet 1899, Tabelle 24, S. 269. Sbornik imperatorskogo Russkogo istoričeskogo obščestva, Band 9: S.-Peterburg: Imperatorskoe Russkoe Istoričeskoe Obščestvo 1869, S. 47.
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deutschen Heimat unterschied: der Reichtum an Völkern und Glaubensrichtungen auf engstem Raum. Als sie am 19. Mai 1780 in Polozk einzog, bot sich die ethnokonfessionell so vielfältige Stadtbevölkerung der Herrscherin als eine in Religionen, Stände und Zünfte gegliederte Einheit dar. Die Jesuiten, die unierten Basilianer und die jüdische Gemeinde boten am folgenden Abend eindrückliche „Beleuchtungen“ ihrer Gebäude beziehungsweise des Flusses.3 An dieser Inszenierung der Stadtgesellschaft wurden erstaunlich selbstverständlich alle ethnokonfessionellen Gruppen beteiligt. Die Stadtbevölkerung und gerade die Juden blickten damals mit Hoffnung auf Katharina. Nach westeuropäischem Vorbild sollten auch in Russland die regionalen Stände und der Stand der Bürger als vermittelnde Körperschaften Aufgaben der Staatsverwaltung vor Ort übernehmen. Diese Stände waren in Zentralrussland im Vergleich zu Polen-Litauen aber noch kaum ausgebildet. Umgekehrt war es im damaligen Europa unerhört und revolutionär, auch Juden an der ständischen Selbstverwaltung teilhaben zu lassen. Die gleichzeitig erlassenen josephinischen Toleranzpatente gingen merklich weniger weit. Das Leben in Polozk war damals im Sinne der auch Katharina vorgeführten beziehungsweise staatlich inszenierten „gegliederten Einheit“ geprägt vom Bewusstsein um die ethnokonfessionelle Vielfalt. Der unbekannte Verfasser des chronikartigen „Tagebuchs“ des unierten Sophienklosters berichtet für den Mai des Jahres 1773 auf Polnisch, wie ein Petersburger Erlass die Einrichtung von Friedhöfen außerhalb der Stadtbefestigungen vorschrieb und zur Suche nach einem neuen Platz führte. Die Unierten mussten dabei auf die römischen Katholiken sowie die Orthodoxen Rücksicht nehmen. Nebenbei nahmen sie auch wahr, wo die Juden ihren Friedhof wählten.4 Den Unierten des griechischen Ritus, die seit der Union von Brest (1596) dem Papst unterstellt waren, war zu Ende des 18. Jahrhunderts klar, dass sie selbst nur eine religiöse Gruppe unter mehreren anderen darstellten und keinen Alleinanspruch auf die Stadt erheben konnten.
2. ABSTUFUNG UND AUSGRENZUNG VON G RUPPEN DURCH B EOBACHTUNG Ganz anders war der Blick des vom vorromantischen Jena geprägten Christian Hieronymus Justus Schlegel, der als Hauslehrer in das Vielvölkerreich reiste. Er berichtete von seinen „Reisen in mehrere russische Gouvernements“ zwischen 1780 und 1792 ausführlich von seinem Aufenthalt in Po-
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Ebd. Band 1: S.-Peterburg 1867, S. 399f. Archeografičeskij sbornik dokumentov, otnosjaščichsja k istorii SeveroZapadnoj Rusi, Band 10: Vil’na: Upravlenie Vilenskogo učebnogo okruga 1874, S. 350.
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lozk, das er als „älteste Stadt in Weißrußland“ bezeichnete. Des Weiteren beklagte er sich aber ausführlich über die dortigen „polnischen Juden“. Dabei baute er eine unüberwindbare kulturelle Unterscheidung auf und beschimpfte sie schließlich als „Schande der Menschheit“. Ihre angebliche Vorliebe, sich als Adlige aufzuführen, verband er mit dem Betrugsvorwurf.5 Tatsächlich war Polen-Litauen vom Spätmittelalter an zur Zufluchtsstätte von Juden aus Aschkenas beziehungsweise aus den deutschsprachigen Gebieten geworden. Nicht zuletzt wegen der schon zuvor bestehenden ständischen und rechtlichen Uneinheitlichkeit der Städte in Polen und insbesondere derjenigen im Großfürstentum Litauen gewannen die Juden einen festen Platz in der fragmentierten lokalen Gesellschaft. Auch für Polozk ist belegbar, dass sich Mitglieder ihrer Führungsgruppe den städtischen Eliten der übrigen Bevölkerung beziehungsweise dem Adel anzunähern versuchten und damit über ethnokonfessionelle Grenzen hinweg denselben ständischen Vorstellungen anhingen. Schlegels Blick forderte nun eine ethnische Vereinheitlichung der Stadt, die keine Juden zuließ. Aber nicht nur vom aufkeimenden wissenschaftlichen Rassismus beeinflusste humanistische Gelehrte sondern auch vom Bekehrungsgedanken vorangetriebene Missionare fanden den Weg nach Polozk. Der vom mosaischen Glauben zum christlichen konvertierte John Christian Moritz berichtete am 10. November 1818, wie er kurz nach seiner Ankunft in der Stadt in Gespräche mit Juden über die Propheten und die Psalmen verwickelt worden sei. Er habe mehrere Stunden in der Synagoge mit Rabbi Mendel sowie den 80 besten Gelehrten der Stadt debattiert.6 Ende des 18. Jahrhunderts war Polozk berühmt für seine Rabbis. Die Stadt war ein Zentrum des Chassidismus sowie seiner Gegner, der Vertreter der rabbinischen Orthodoxie der Misnagdim. Ein Beispiel für die Verflechtung von Polozker Juden mit Westeuropa gibt etwa der in der Stadt geborene und aufgewachsene spätere englische Theologe und Graveur Solomon Bennett, der als ein Vertreter der jüdischen Aufklärung und als Künstler durch eine Skulptur Friedrichs II. Beachtung fand. In seinen Lebenserinnerungen nannte er das mit der ersten Teilung Polen-Litauens durch Russland „neuerbeutete Gebiet“ beziehungsweise „Weiß-Rußland“ „mein Vaterland“.7 Damit stellt seine Aussage ein
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Schlegel, Christian H. J.: Reisen in mehrere russische Gouvernements in den Jahren 178*, 1801, 1807 und 1815, 3 Bände, Meiningen: Keyßnersche Hofbuchhandlung 1819, Band 2, S. 87f. The Jewish Expositor and Friend of Israel Containing Monthly Communications Respecting the Jews and the Proceedings of the London Society 4 (1819), S. 116f. Bennett, Salomon: Israel’s Beständigkeit. Eine unbefangene Beleuchtung mehrerer wichtiger Bibelstellen, insbesondere sogenannter messianischer Weissagungen; in kritischer Erwiderung auf das von Lord Crawford erschienene öffentliche Sendschreiben an die hebräische Nation, nebst einem kurzen Abriß der jüdischen
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frühes Beispiel der landespatriotischen Aufladung des räumlichen Begriffes Weißrussland dar. Russland war nach dem weltweiten Verbot und der Ausweisung der Jesuiten aus den anderen europäischen Staaten dank Katharina II. zur einzigen Zufluchtsstätte des Jesuitenordens geworden. 1782 wurde Polozk, wo sich das älteste und bedeutendste Kollegium der Region befand, zum Sitz des Ordensgenerals. 1812 wurde das Kollegium zur Akademie. Diese war nicht zuletzt für die adlige, polnisch(-litauisch) ausgerichtete Elite der Region wichtig. Jan Barschtscheuski, ein polnisch und weißrussisch schreibender katholischer Adliger, erinnerte sich an seine Schulzeit in Polozk. Damals war der Tag des hl. Ignatius von Loyola am ersten August der Beginn der Schulferien und die Stadt voller Gäste, nicht zuletzt wegen der Schultheaterstücke. Polozk erschien dann als „die Hauptstadt der ganzen Weißen Rus“.8 1814 ließ Papst Pius VII. den Jesuitenorden wieder zu – 1820 wurden die Jesuiten aus Russland ausgewiesen. Nach der Niederschlagung des polnischen Novemberaufstandes von 1830/31 wurden 1835 die Gebäude der früheren Akademie zum staatlichen Kadettenkorps umgewandelt. In Polozk entstand eine der ersten Kadettenausbildungsanstalten nach preußischem Vorbild außerhalb der beiden Hauptstädte. Dies war ein deutliches Zeichen für den Machtanspruch auf die Stadt und die Region. Aber Polozk war damals überdies auch noch als Erzbistum der Hauptort der regionalen Unierten Kirche: Ein weiterer Akt zur Vereinheitlichung der konfessionellen Lage erfolgte deshalb 1839, als in Polozk die Bischöfe dieser Kirche mit der Russischen Orthodoxen Kirche zwangsvereinigt wurden. Die orthodoxe Staatskirche duldete keine Spaltung mehr. Auch nach der Umgestaltung der Jesuitenakademie zum Vorposten des russländischen Militarismus und der Auflösung der Union blieb der Stadtraum nicht nur von orthodoxen Lehrern und Beamten beansprucht. 1863 wurde in der Umgebung des Hauptplatzes der örtliche Beginn des polnischen Januaraufstandes in Szene gesetzt. Dmitri N. Kaigorodow, Sohn eines in Polozk dienenden Generalmajors und „Vater“ der russischen Phänologie, erinnerte sich 1907 lebhaft an den Aufstand, den er als Schüler am Kadettenkorpus vor mehr als vierzig Jahren beobachtet hatte. Polnisch orientierte adlige Gutsbesitzer der Region nutzten die Feierlichkeiten zu Fronleichnam im Stadtzentrum zu politischen Zwecken. 9 Das Singen religiöser Lieder in Kirchen gehörte zu den üblichen Formen des Widerstandes. Aber im Wett-
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Geschichte und Nachrichten über den Zustand der heutigen Juden in Europa. Aus dem Englischen übersetzt von Friedr. Ludw. Wilh. Wagner, Darmstadt: J. P. Diehl 1835, S. 206. Barščėŭski, Jan: Vybranyja tvory, Minsk: Belaruski Knihazbor 1998, S. 142. Kajgorodov, D. N.: „Iz vremen pol’skogo vosstanija 1863 g. (Vospominanija starogo kadeta-Poločanina)“, in: Istoričeskij vestnik (1907) Nr. 108, S. 792-802, hier S. 794f.
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streit mit den Orthodoxen um den städtischen Raum musste dieser wenngleich selbstbewusste, so doch weitaus schwächere polnisch-katholische Gegenentwurf rasch scheitern. Wie westliche Reisende seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts nahmen nun auch russische Beobachter die Polozker Juden von der Jahrhundertmitte an immer kritischer wahr und stellten sie in einen Zusammenhang mit antipolnischen Vorstellungen. Ein anonymer Verfasser eines Leserbriefes an die slawophile Moskauer Zeitschrift Den (Denʼ/„Der Tag“), der 1865 auch im Westnik Sapadnoi Rossii (Vestnik Zapadnoj Rossii/„Bote Westrusslands“) in Wilna (wr. Wilnja, lit. Vilnius) veröffentlicht wurde, zeigte sich vom ersten Eindruck von der Stadt abgestossen. Das Stadtzentrum sei in den Händen von Juden. Nur mit Bildung könne dem angeblichen Polonismus in Weißrussland entgegengewirkt und die russische Nationalität zur Vorherrschaft gebracht werden.10 Der Verfasser der Zeilen vertrat und förderte die damalige Petersburger Sicht auf die Stadt, in der Katholiken als Polen sowie Juden als sogenannte Fremdstämmige keinen Platz mehr haben sollten – obwohl orthodoxe Christen in den Städten weit und breit in der Minderheit waren.
3. D ER B LICK DEN S PALT
DES JÜDISCHEN
M ÄDCHENS
DURCH
Für das ausgehende 19. Jahrhundert ist ein sehr ausführliches Selbstzeugnis aus jüdischer Sicht erhalten, das ein Schlaglicht auf das Zusammen- oder besser Nebeneinanderleben der unterschiedlichen ethnokonfessionellen beziehungsweise religiösen Gruppen in der Stadt wirft. Mary Antin schilderte in ihren Erinnerungen die achtziger Jahre in Polozk. Das Buch erschien 1912 erstmals in New York oder im „Gelobten Land“, wie sie die Vereinigten Staaten nannte, und ist ein bis heute häufig wiederaufgelegter sowie zitierter Klassiker der Migrationsliteratur. Mary Antin berichtete, wie sie die eben beschriebene Ausgrenzung in ihrer, wie es ihr in den USA erschien, im Mittelalter liegenden Kindheit erlebt hatte. Reisen ihrer Bekannten und Verwandten aus Polozk ins eigentliche Russland seien immer Anlass zu Tränen und Angst gewesen. Witebsk (wr. Wizebsk), Wilna und Riga lagen dagegen in ihrer Wahrnehmung in einem nähereren, freundlicheren Raum. In Russland aber seien der Zar und furchtbare Gefängnisse. Tatsächlich war die Aufenthaltsberechtigung von Juden in Russland mit Ausnahmen auf die früheren polnisch-litauischen Gebiete, den so genannten „Ansiedlungsrayon“ (čerta osedlosti) beschränkt. Dies war die erste Lektion, die Mary als kleines Mädchen nur mit Schwierigkeiten lernen und verstehen konnte. Der Ansiedlungsrayon und damit Polozk war umzäunt und die Welt in Juden und Christen geteilt. Bis sie selbst die Erkenntnis gewonnen hatte, eine Ge-
10 Vestnik Zapadnoj Rossii (1864/65) Nr. 3, S. 402-407, hier S. 402f.
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fangene zu sein, hatte sie sich bereits an dieses Gefühl der Gefangenschaft gewöhnt. Antin beschrieb auch Freundschaften zu christlichen Kindern, in denen sich allerdings zuweilen die Trennung stärker zeigte als die Zuneigung. Christliche Spielkameraden hielten es für selbstverständlich, jüdische Mädchen mit Dreck zu bewerfen. Allerdings gab es auch freundliche christliche Spielgefährten und Familien. Dennoch betonte Mary Antin eine scharfe Trennung von Christen und Juden in Polozk wegen der unterschiedlichen religiösen Lebenswelten sowie Gesetze. „Man war entweder ein Jude, der ein rechtschaffenes Leben führte, oder man war ein Christ, der dazu da war, die Juden zu belästigen, während man vom jüdischen Unternehmertum lebte.“ Sie machte insbesondere die christlichen Priester für die Herstellung dieser Trennung verantwortlich, und fürchtete wie alle Polozker Juden Ikonen und Kreuze in christlichen Häusern. Die Wortführer der russisch-orthodoxen Minderheit der Stadt, hauptsächlich Staatsbeamte und Lehrer am Kadettenkorps sowie einige Kaufleute, versuchten seit der Mitte des 19. Jahrhunderts vermehrt, ihrem am Bevölkerungsanteil gemessen immer schwächeren Gewicht mit Inszenierungen der Stadt als uraltem Hort der Orthodoxie entgegenzuwirken. Noch 1860 scheiterten ihre Bemühungen, die Gebeine der hl. Jewfrosinija, einer Fürstentochter aus dem 12. Jahrhundert, aus Kiew nach Polozk überführen zu lassen. Der Kiewer Metropolit hatte Bedenken, da die Stadtbevölkerung zur Mehrheit aus fremdgläubigen Katholiken und Juden bestehe. Dies und die angebliche Bedeutungslosigkeit der Stadt verbiete eine Verlegung der Gebeine aus Kiew, das für die Orthodoxie von erstrangiger Bedeutung war.11 Die Antwort auf den polnischen Aufstand veränderte die Lage aber grundsätzlich. Die bereits 1867 von Orthodoxen ins Leben gerufene Nikolai- undJewfrosinija-Bruderschaft wurde rasch zum sozialen Rückgrat der Orthodoxen der Stadt. Sie glich darin der Begräbnisgesellschaft der Juden, die in der Frühen Neuzeit gegründet worden war. Das Ziel der Nikolai-und Jewfrosinija-Bruderschaft war unverhohlen die Russifizierung der Stadt. Bereits 1870 konnte ein Mittelfinger der Seligen nach Polozk gebracht werden. Die Feiern zu Ehren der Schutzherrin des weißrussischen Landes wurde von nun an zur großen Kundgebung, die jährlich von Neuem den Anspruch der Orthodoxen über den mehrheitlich jüdischen Stadtraum bekräftigte. Erst 1910 konnten die gesamten Gebeine mit großem Aufwand und von Massen besuchten Feierlichkeiten nach Polozk überführt werden. Nach den Unruhen von 1905, während derer die Orthodoxen zeitweise die Kontrolle über den Stadtraum an Juden verloren hatten, galt es, mithilfe der Fürstentochter den Machtanspruch über die als russisch definierte Stadt und ihre Zukunft herzustellen.
11 Nacyjanal’ny histaryčny archiŭ Rėspubliki Belarus’ (NHARB), Minsk f. 1416, vop. 2, spr. 11752, ark. 8.
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Auch Mary Antin zeigte sich von diesen Prozessionen beeindruckt in ihren Erinnerungen, die sich auf die Zeit der ersten Pogrome in der Ukraine bezogen: Den Juden war während der jährlichen Prozessionen mit den Reliquien die Anwesenheit auf den Straßen verboten. Sie selbst hielt sich im verbarrikadierten Elternhaus auf und hatte Todesangst. Sie fürchtete eine Provokation und den Ausbruch von Pogromen auch in Polozk, und erspähte durch Ritze im Fensterladen Soldaten auf der Straße. Orthodoxe stellten bei diesem Anlass unter Polizeischutz einen sakralen Raum in der städtischen Öffentlichkeit her, aus der Juden zeitweilig, aber regelmäßig, ausgeschlossen wurden. Umgekehrt schlossen Juden Christen in gewissen Situationen aus ihrer Wahrnehmung aus, etwa um religiösen Reinheitsvorstellungen zu entsprechen. Beispielsweise waren Reinigungsbäder abgeschlossene Räume in der Stadt. Kehrten junge Frauen aus ihnen nach Hause zurück, verdeckten sie sich mit einem Tuch die Augen, um mit einem Blick auf Christen nicht gleich wieder verunreinigt zu werden. Zuhause angekommen, wurden sie wie Heldinnen empfangen. Aber nicht erst auf der Straße, sondern bereits im Empfangszimmer des väterlichen Hauses begann der Raum der Orthodoxen. Ein großes koloriertes Porträt des Zaren im Salon des Vaters im Haus der Eltern von Mary ängstigte die Kinder aufgrund ihrer Vorstellungen vom Zarenreich, stellte aber bei Hausbesuchen der Polizei oder seitens der Behörden eine Sicherheitsmaßnahme für die Familie dar. Das Porträt diente in diesem Fall zur Aufrechterhaltung der Kommunikation von Juden mit Christen an der Grenze der der Familie vorbehaltenen Wohnräume zur öffentlichen Lebenswelt. Russische Nationalflaggen an der Außenseite der Häuser zur Straße hin stellten an Feiertagen eine ähnliche, unter Strafandrohung durchgesetzte Maßnahme dar und waren gemäß Antin unter den Juden nicht beliebter.12
4. G EWALT
UND F RIEDENSSCHLUSS IM AUS CHRISTLICHER P ERSPEKTIVE
S TADTRAUM
Zu einem Blick in die Stadt während der gewaltsamen Auseinandersetzungen des Jahres 1905 kann eine Chronik dienen, die ein unbekannter Berichterstatter verfasste, der seit 1894 ein Amt in der Pokrowskaja-Kirche innehatte. Der Eintrag seiner Chronik zum Jahr 1905 bezog die Unruhen ganz auf die „überwältigende Mehrheit jüdischer Bevölkerung“ in den Städten der Region. Auch in Polozk beobachtete er eine außerordentliche Tätigkeit bei der Verteilung von Aufrufen zur Revolution in den verschiedenen öffentlichen Räumen der Stadt.13 Am 18. Oktober entlud sich Gewalt in der Stadt. Sechs Juden sowie ein christlicher Telegraphist kamen dabei ums Le-
12 Antin, Mary: The Promised Land, Boston, New York: Mifflin 1912, S. 8f., 18f. 13 NHARB, f. 2602, vop. 1, spr. 46, ark. 24.
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ben. In den folgenden Tagen ereignete sich eine weitere Zuspitzung der Lage, die zu noch mehr Opfern führte. Der Polizeimeister spielte, glaubt man seinem Bericht, gemeinsam mit dem gleichfalls orthodoxen Stadtpriester eine entscheidende Rolle bei der Befriedung der Situation. Beide versuchten letztlich mit Erfolg, die jüdische Bevölkerung dazu zu bewegen, eine Demonstration zur öffentlichen Bezeugung der Loyalität zum Staat abzuhalten. Der Marsch führte die Menge zur Synagoge. Nach einer Ansprache durch den staatlichen Rabbiner zog man darauf in die orthodoxe Kathedrale, wo der Stadtpriester seinerseits predigte.14 Die Stadtgesellschaft, die in den Gewaltausbrüchen gespalten worden war, trat nun auf den Straßen von Polozk nachdrücklich als Einheit auf. Die christlichen Wortführer gestanden der jüdischen Bevölkerung in dieser Handlungslogik und in Einklang mit dem überlieferten Konzept des Reichspatriotismus aber nur die Möglichkeit zu, sich gemeinsam mit ihnen der Herrschaft des Zaren zu unterwerfen. Eine andere Grundlage für gemeinsames politisches Handeln war undenkbar. Sehr intensiv wurden stattdessen religiöse Mittel zur Befriedung eingesetzt. Diese konnte nur gelingen, da sich die Kadetten und Soldaten ganz zurückzogen. Entscheidend war die mit der gemeinsamen Demonstration bezeugte Anerkennung einer Gegenwart der jüdischen Bevölkerung im öffentlichen Raum der Stadt. Dennoch blieb das Zusammenleben überaus zerbrechlich.
5. S TÄDTISCHE S ELBSTVERWALTUNG UND V EREINSWESEN Wesentlich für die Verschärfung der Probleme der Stadt zur Wende ins 20. Jahrhundert war unter anderem der Ausschluss der Juden aus der Kommunalpolitik durch die Städteordnung von 1892. Juden, Orthodoxe, Katholiken, Altgläubige und Eingläubige – diese anerkannten die Hierarchie der Orthodoxen Kirche, behielten aber, wie die Altgläubigen, die alten Riten bei – hatten in Polozk im Rahmen der Wahlen in die Selbstverwaltung nach den Reformen zu Ende des 18. Jahrhunderts in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts nach und nach eine kollektive Ehrvorstellung in der nun gemeinsam herzustellenden Stadtgesellschaft entwickelt. In Wahlkampfkoalitionen, die ethnokonfessionelle Grenzen regelmäßig überschritten, begannen sie und ihre Wortführer, kollektives Handeln für die Stadt als multiethnische Einheit zu gestalten. Mit der Umsetzung der Städteordnung von 1892, die von lokalen Orthodoxen begrüßt wurde, verloren die Juden aber ihr Wahlrecht. Nach diesem Datum wurde es immer schwieriger, Wahlen in die Selbstverwaltungsorgane ordentlich abzuhalten. Die Wahlverfahren, die bisher geholfen hatten, kollektives Handeln über ethnokonfessionelle Grenzen hinweg zu gewährleisten, stießen mit der nationalen Dynamisierung der
14 NHARB, f. 1430, vop. 2, spr. 678, ark. 168 adv.
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Auseinandersetzungen rasch an die Grenzen ihrer Tragfähigkeit. Obschon die Juden über kein Wahlrecht mehr verfügten, nahmen ihre führenden Vertreter weiterhin an den kommunalpolitischen Handlungszusammenhängen teil. Gemeinsam mit Vertretern der immer unversöhnlicher zerstrittenen Parteiungen der Orthodoxen beziehungsweise der Russen sowie der Katholiken beziehungsweise der Polen kam die Stadtpolitik zum Erliegen. Erfolglose Wahlgänge verhinderten über Jahre hinweg das Funktionieren der Selbstverwaltung. Trotz des scharfen Gegensatzes, der sich gerade im Rahmen der städtischen Selbstverwaltung nach 1892 deutlich zeigte, handelten zahlreiche Christen und Juden zur Wende ins 20. Jahrhundert aber in immer mehr Vereinen gemeinsam, insbesondere in der Freiwilligen Feuerwehr und in der Bibliotheksgesellschaft. 623 Polozker waren Mitglied einer der Assoziationen, die Juden und Christen in etwa zu gleichen Teilen trugen, 305 von ihnen waren Juden. Führende Vertreter der ethnokonfessionellen Gemeinschaften trafen sich regelmäßig in ihren Funktionen in den Vorständen zahlreicher Vereine und Gesellschaften. Die Teilhabe im Vereinswesen konnte einer anderen Logik gehorchen als in der städtischen Selbstverwaltung. So wirkte im Vereinswesen weiterhin die Gleichberechtigung der Angehörigen unterschiedlicher ethnokonfessioneller Gruppen.
6. Z USAMMENFASSUNG Die geschilderten Beispiele bezeugen unter Anderem, wie wichtig die Wahrnehmung des Stadtraumes für individuelle Vorstellungen über die Zugehörigkeit zu Gruppen und über diese selbst in der Vielvölkerstadt war. Deutlich wird, wie die jeweiligen Blickwinkel die Gegenwart anderer Gruppen im Stadtraum verzerrten oder ganz aus der vereinheitlichenden Wahrnehmung ausschlossen. Für die Herstellung und bewusste Bekräftigung einer solchen Andersartigkeit war gerade der Vorgang der Beschreibung kultureller Differenz entscheidend. Mit der Eingliederung von Polozk in das Russländische Reich ordnete Katharina II. ein vorgeblich dem Staat Nutzen bringendes Zusammenleben der unterschiedlichen ethnokonfessionellen Gruppen ‚von oben‘ an. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts scheiterte dieses Muster aber: Die Vielvölkerstadt zerbrach zusehends an den neuartigen Nationalismen und politischen Herrschaftsvorstellungen der orthodoxen Minderheit. Aus dem übernationalen, ganz auf die Dynastie der Romanow konzentrierten Vielvölkerreich sollte, so die Wunschvorstellung, auch und gerade an seinem Westrand mehr und mehr ein nationales Reich der Russen werden. Das von Katharina II. beobachtete babylonische Völkerwirrwarr sollte im modernen, hier ethnisch homogen imaginierten Nationalstaat keinen Platz mehr haben. Die Revolutionen von 1917, die frühe Sowjetunion, und vor allem der Zweite Weltkrieg veränderten die Zusammensetzung der Stadtbevölkerung von Polozk wie der ganzen Region von Grund auf. Erst-
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mals seit der Frühen Neuzeit stellen nach der Schoah Ostslawen beziehungsweise Belarusen, Ukrainer und Russen in den Städten von Belarus und der Ukraine die ganz überwiegende Mehrheit der Bevölkerung.
L ITERATUR Rohdewald, Stefan: „Vom Polocker Venedig“. Kollektives Handeln sozialer Gruppen einer Stadt zwischen Ost- und Mitteleuropa (Mittelalter, frühe Neuzeit, 19. Jahrhundert bis 1914), Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2005. Rüthers, Monica: Tewjes Töchter. Lebensentwürfe ostjüdischer Frauen im 19. Jahrhundert, Köln/Weimar/Wien: Böhlau Verlag 1996. Schmidt, Christoph: Die entheiligte Utopie. Jüdische Ideen- und Sozialgeschichte am Dnepr (1750-1900), Köln/Weimar/Wien: Böhlau Verlag 2004. Staliunas, Darius: Making Russians. Meaning and Practice of Russification in Lithuania and Belarus after 1863, Amsterdam u.a.: Rodopi 2007.
Eine verspätete Nation? Anfänge weißrussischer Identitätsfindung im ausgehenden Zarenreich R UDOLF A. M ARK
Unter den nationalen Bewegungen des Russländischen Reiches stellten weißrussische Bestrebungen nach Selbstbestimmung eine wenig spektakuläre Erscheinung dar. Anders als im Fall der baltischen Völker, der Ukrainer oder gar der Polen existierte bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs im politischen Diskurs des Zarenreiches keine weißrussische Frage. Erst lange nach Kriegsausbruch und im Kontext der deutschen Besatzungs- und Annexionspolitik in Osteuropa konstituierte sich eine Weißrussische Volksrepublik, die nach dem Bürgerkrieg einer Belorussischen Sozialistischen Sowjetrepublik (BSSR) weichen musste. Die Bolschewiki brachten den Weißrussen nicht nur die ersten modernen eigenstaatlichen Strukturen, sondern auch eine nationale Geschichtsschreibung, welche die bescheidenen historiographischen Ansätze der Vorkriegszeit aufnahm, aber mit Beginn der Stalinschen Terrorphase schon wenige Jahre später ihr Ende fand. In sowjetischer Zeit verboten sich angesichts ideologischer Verengungen und des herrschenden Wissenschaftsparadigmas Forschungen über die nationale Bewegung, es sei denn sie wurden im Kontext der siegreichen bolschewistischen Revolution betrieben. Erst mit der unverhofften Unabhängigkeit des Landes 1991 konnte sich das Interesse der Historikerinnen und Historiker wieder unvoreingenommener des Themas annehmen. Davor waren Publikationen über Belarus auch in den westlichen Ländern eher dünn gesät, und Kenntnisse über Land und Leute waren nur unter Spezialisten verbreitet. Die Weißrussen hatten zu lange im Schatten ihrer mächtigen Nachbarn Russen, Litauer und Polen gestanden – sozusagen als ein „kleines Volk“, wie sie analog zu anderen fremdbeherrschten Völkern apostrophiert wurden. Die Bezeichnungen „große“ und „kleine“ Völker waren von Friedrich Engels, Karl Marx und Tomáš G. Masaryk in die Welt gesetzt worden. Später wurden sie von Historikern übernommen, um damit Ethnien zu bezeichnen,
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die nur rudimentäre oder keine eigenstaatlichen Strukturen und nur in Ansätzen Elemente einer nationalen Kultur entwickeln konnten, weil sie von den „großen“, in der Regel Imperien bildenden Nationen vielfach abhängig waren und in ihren Entfaltungsmöglichkeiten beschränkt wurden. Wie zahlreiche andere Völker lebten auch die Weißruthenen, wie sie im deutschen Sprachraum lange Zeit genannt wurden, im 19. Jahrhundert unter fremder Herrschaft. Sie zählten 1897 rund 5,8 Millionen unter den Untertanen des Zaren in den westlichen Gouvernements zwischen Smolensk und Wilna (russ./wr. Wilnja, lit. Vilnius), Tschernihiw (russ. Tschernigow) und Pskow. Historisch bedingt waren sie gesellschaftlich und politisch kaum organisiert und demonstrierten so gut wie kein nationales Eigenbewusstsein. Dazu fehlten fast alle Voraussetzungen. Ihre eigene Geschichte war im Laufe der Jahrhunderte unter litauisch-polnischer und russischer Herrschaft aus der Erinnerung verloren gegangen und musste erst wieder rekonstruiert werden. Welche Momente und Faktoren die nationale Entwicklung der Weißrussen bis zum Ersten Weltkrieg bestimmten, soll im Folgenden vor dem Hintergrund ihrer Geschichte beleuchtet werden.
1. D AS
POLNISCH - LITAUISCHE
E RBE
Nach dem Niedergang des Kiewer Reiches waren die Vorfahren der heutigen Weißrussen, Teile der ostslawischen Bevölkerung, dem Großfürstentum Litauen eingegliedert worden. Dessen Entwicklung profitierte vom kulturellen Vorsprung der neuen Untertanen, die mit Schriftlichkeit, Literarität und anderen Kulturtechniken zur Institutionalisierung und Modernisierung des sich formenden litauischen Herrschaftsverbandes beitrugen. Die litauischen Statute des 16. Jahrhunderts legen davon anschaulich Zeugnis ab. Das ostslawische Idiom wurde praktisch erst im 17. Jahrhundert von Latein und Polnisch als Kanzleisprache abgelöst. Dessen ungeachtet konnte aber an der litauischen Identität des Großfürstentums kein Zweifel bestehen. Selbst noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts bestimmte die fehlende eigenstaatliche Tradition das politisch-institutionelle Denken der weißrussischen Bewegung. Auch die kurzlebige Litauisch-Weißrussische Sowjetrepublik des Jahres 1919 kann dafür als Beleg dienen. Dass die Weißrussen zu keinem Zeitpunkt ihrer Geschichte ein Territorium besiedelten, das eine selbstständige Einheit gebildet hätte, dürfte nicht zuletzt auch dazu beigetragen haben, dass selbst noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts Staatlichkeit nur in einem polnisch-litauischen Kontext vorstellbar erschien. Wo sollte man auch sonst Orientierung finden?! Ethnischnationale Institute existierten so wenig wie ein nationales Sonderbewusstsein der weißrussischen Bevölkerung. Selbst was sich hinter der Bezeichnung „Weißrussland“, „Belarus“ etc. verbarg, war keineswegs eindeutig und entsprechend definiert. Zwar wurde in einer deutschen Chronik des 15. Jahrhunderts der von den Städten Brest (poln. Brześć), Wizebsk (russ.
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Witebsk), Polazk (russ. Polozk) und Smolensk markierte Raum als „Weiße Rus“ (belaja rus’) beschrieben1, aber für Polen und Litauer bildeten im 16. und 17. Jahrhundert die Moskauer Rus die „Weiße“, während gleichzeitig Teile der von Weißrussen bewohnten Gebiete Litauens als „Schwarze Rus“ (černaja rus’) bezeichnet wurden. Auch im russischen Verständnis war damals „Weiße Rus“ gleichbedeutend mit „Große Rus“ (velikaja rus’) bzw. den nordöstlichen Teilen der von Moskau beherrschten Territorien. Im 17. Jahrhundert schloss die Bezeichnung selbst einen Teil der Ukraine mit ein. Gleichzeitig standen Benennungen wie „Litauen“ oder „litauisch“ für Weißrussland und weißrussisch – sozusagen als Toponym für das von Weißrussen bewohnte Territorium.2 Mit solchen Begriffen wurden also Herrschaftsbereiche belegt, politische Verhältnisse kenntlich gemacht oder Einflusszonen bzw. entsprechende Herrschaftsansprüche Moskaus, Wilnas oder Warschaus markiert. Es war vor diesem Hintergrund nur logisch, dass nach der Teilung Polens seit 1772 die von Russland annektierten östlichen Gebiete der Rzeczpospolita, der polnischen „Adelsrepublik“, als „Weißrussland“ (Belorussija) dem Zarenreich inkorporiert wurden. Damit sollte der Zusammenhang der „wiedergewonnenen“ Territorien mit der Großen Rus’, die Restituierung ihrer westlichen Peripherie sozusagen, zum Ausdruck gebracht werden, nicht zuletzt auch deshalb, weil sich selbst die Wissenschaftler über die ethnische Zuordnung der neuen Untertanen St. Petersburgs nicht im Klaren waren. Die ersten „Entdecker“ der Weißrussen waren polnische Literaten und Volkskundler, die in ihnen zunächst eine vor allem folkloristisch interessante östliche Randgruppe ihres eigenen Volkes beschrieben. Dementsprechend bestimmte der polnisch-litauische Kontext auch die Wahrnehmung der russländischen Regierung. Der anfänglich den Nordwestprovinzen eingeräumte Sonderstatus wurde nach dem Schock des polnischen Aufstandes von 1830/31 aufgehoben. Die Bezeichnung Litauen oder Weißrussland und der öffentliche Gebrauch der weißrussischen Sprache – quasi als ein polnischer Dialekt – wurden verboten und das seither als „Westrussland“ (Zapadnaja Rossija) oder auch „Nordwestliche Region“ (Severozapadnyj kraj) apostrophierte Gebiet entpolonisiert beziehungsweise russifiziert. Die polnisch-litauischen Statute und die überkommenen Einrichtungen wurden abgeschafft und Weißrussen sowie ihr Land administrativ und institutionell an die Reichsstrukturen angepasst. Ganz aus der Welt schaffen konnte man die Bezeichnungen Weißrussland und Weißrussen allerdings nicht. Sie begannen zunächst als ethnologische Termini neue Bedeutung zu
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Begunov, Ju. K.: „,Weiße Rusʼʻ und Weißrussen in einer deutschen Chronik des 15. Jahrhunderts“, in: Forschungen zur osteuropäischen Geschichte 27 (1980), S. 299-305. Vakar, Nicholas P.: „The Name ,White Russiaʻ“, in: The American Slavic and East European Review 8 (1949) 3, S. 202.
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gewinnen, als Wissenschaftler und Publizisten die ostslawischen Wurzeln der Weißrussen entdeckten und sich unter einem allrussischen imperialen Paradigma auch die Weißrussen (belorussy) neben den Kleinrussen (malorussy) den Großrussen (velikorussy) zu- und einordnen ließen. Gleichzeitig setzten nationale Emanzipationsbestrebungen ein, die unter der weißrussischen Bevölkerung erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts identifizierbar wurden.
2. W EISSRUSSLAND
UNTER DEM
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Gründe für das späte Erscheinen einer weißrussischen Bewegung lassen sich viele nennen. Vor allem fehlte eine entsprechende Intelligenz- und Oberschicht als Bewahrer und Förderer weißrussischer Tradition und eines entwicklungsmächtigen Patriotismus’. 1897 lebten rund 97 Prozent der Weißrussen auf dem Land, waren Bauern oder im agrarischen Bereich tätig. In den Städten mit mehr als 50.000 Einwohnern stellten sie nur 7,3 Prozent der Bürger, lagen also weit hinter Juden, Polen und Russen.3 Die geringe Präsenz in den Städten zeugte von der mangelnden sozialen Mobilität der Weißrussen, deren Anteil an den nichtbäuerlichen Ständen und Berufsgruppen sich jeweils unter dem Durchschnitt in den jeweiligen Gouvernements bewegte. Zudem gehörten sie – wenn überhaupt – überwiegend zu den städtischen Unterschichten. In der Verwaltung, bei den freien Berufen oder im Handel und Bankenwesen waren sie am wenigsten vertreten. Auch auf dem Land existierte keine weißrussische Oberschicht. Der Adel hatte sich unter polnisch-litauischer Herrschaft bis zum 16. Jahrhundert polonisiert und den orthodoxen Glauben der Vorfahren zugunsten des Katholizismus aufgegeben. Die Masse der bäuerlichen Bevölkerung war zwar durch die Kirchenunion von Brest mit den unierten Bistümern unter die Jurisdiktion des Papstes gestellt worden, blieb aber nach Habitus und geistlicher Orientierung der Orthodoxie nahe. Der lateinische Einfluss beschränkte sich auf die Hierarchen. Daher trennten Bauern und Adel nicht nur sozialökonomische, sondern auch konfessionelle und nationalkulturelle Schranken. Bis weit ins 19. Jahrhundert hinein bewahrte der Adel seine polnischlitauische Identität, die auch nach dem Januaraufstand nicht aufgegeben wurde. Gleichzeitig passten sich vor allem die Magnaten an die Machtverhältnisse an und entwickelten Loyalität zu Herrscher und Imperium, da sie nicht zuletzt Stabilität und Sicherheit der sozialen und ökonomischen Verhältnisse garantierten. Die unterste Schicht des indigenen Adels hatte dage-
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Bauer, Henning u.a. (Hg.): Die Nationalitäten des Russischen Reiches in der Volkszählung von 1897. B: Ausgewählte Daten zur sozio-ethnischen Struktur des Russischen Reiches: Erste Auswertungen der Kölner NFR-Datenbank, Stuttgart: Steiner Verlag 1991, Tabellen 001, 040, 043, 050.
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gen schon bald nach der Annexion Weißrusslands durch das Zarenreich alle Privilegien verloren, weil deren Vertreter mehrheitlich die Kriterien zur Aufnahme in den russländischen Adelsstand nicht erfüllten und in der Gruppe der Staatsbauern aufgingen. Daher fehlte eine weißrussische Oberschicht als Träger und Förderer eines nationalen Sonderbewusstseins, und eine nichtadelige Bildungsschicht hatte sich bis zum Ende des 19. Jahrhunderts noch kaum entwickeln können. Gleichzeitig war die Masse der bäuerlichen Bevölkerung in ihren lokalen ländlichen Verhältnissen befangen und infolge von Landmangel und vielfältiger Not mit dem alltäglichen Überleben beschäftigt. Sie war konservativ und galt größtenteils als zarentreu. Für ein die dörfliche Gemeinde übergreifendes, national bedingtes Gemeinschaftsgefühl der Bauern fehlten die Voraussetzungen. Dessen ungeachtet haben in den nordwestlichen Gouvernements des Russländischen Reiches Entwicklungen stattgefunden, die im Laufe des 19. Jahrhunderts für das Entstehen einer nationalen weißrussischen Bewegung Impulse lieferten. Dabei standen beschleunigende wie retardierende Faktoren in Wechselwirkung. Die polnischen Schriftsteller und Wissenschaftler studierten nach dem Novemberaufstand von 1830/31 nicht nur aus romantischem oder rein akademischem Interesse Sprache und Kultur der bäuerlichen ostslawischen Bevölkerung in den an Russland verlorenen Gebieten, sondern wollten das dort lebende einfache „Volk slawischen Stammes, seit alters her eng blutsverwandt mit den Lechen ...“4 als zur eigenen Nation gehörig identifizieren. Damit trugen sie aber zur Konturierung dieser Teile des polnischen „Grenzlandes“ (kresy) als eines gesonderten Kultur- und Lebensraumes bei, der dem Begriff Weißrussland Struktur verlieh. Er war nicht mehr aus der Welt zu schaffen. Gleichwohl spielten zunächst weiterhin die sozialökonomischen Unterschiede, die Polen und Weißrussen, Grundbesitzer und Abhängige, trennten, die entscheidendere Rolle. Wie 1846, als in Galizien die Bauern gegen die insurgierende Szlachta, d.h. den polnischen Adel, vorgingen, statt diese gegen die österreichische Staatsgewalt zu unterstützen, spielte sich 1862/63 während des polnischen Januaraufstandes z. B. im Gouvernement Mahiljou (russ. Mogiljow) ähnliches ab. Die weißrussischen Bauern ließen sich ebenso wenig mobilisieren, weil auch sie von einem Sieg der Szlachta nichts zu erwarten hatten. Die Interessen der bäuerlichen Untertanen waren keineswegs mit denen ihrer polnischen Grundherrn identisch. Für die weitere Entwicklung bedeutsam wurden die Konsequenzen, die St. Petersburg aus dem polnischen Aufstand zog, sowie die Abschaffung der Leibeigenschaft im Russländischen Reich. Materiell brachte die Bauernbefreiung keine wirkliche Erleichterung für die weißrussischen Landwirtschaften. Zwar hatten sie etwas größere Landanteile erhalten als im Reichsdurchschnitt üblich, aber 1877 befanden sich mehr als 50 Prozent und 1905 im-
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Rypiński, Alexander: Białoruś. Paris: J. Marylski 1840, S. 18.
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mer noch 47,3 Prozent der agrarischen Nutzfläche in der Hand der Gutsbesitzer. Lediglich der Anteil des Adels unter den letzteren war zurückgegangen – mit 11,5 Prozent allerdings weniger stark als im gesamten europäischen Teil des Zarenreiches, wo sich der Rückgang auf 27,2 Prozent bezifferte.5 Ein Grund könnte die Praxis gewesen sein, konfiszierte polnische Landgüter an Zuwanderer aus Russland zu vergeben, unter denen Adelige dominiert haben dürften. Die Situation der meisten Bauern war daher weiter bestimmt von Landmangel und Überbevölkerung. Möglichkeiten, Dorf und ländliche Armut zu verlassen gab es zugleich nur sehr beschränkt, da die bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts nur langsam wachsende gewerbliche und industrielle Produktion in den weißrussischen Gouvernements nur beschränkte Arbeitsmöglichkeiten bot. Lediglich dort, wo Eisenbahnlinien die regionale Erschließung beschleunigten, konnte von wirtschaftlichem Aufschwung die Rede sein. 1900 wurden in Weißrussland insgesamt 85.146 Betriebe gezählt, von denen jedoch nur 799 als Unternehmen oder Großbetriebe, der Rest als Klein-, Handwerks- und Heimarbeitsbetriebe klassifiziert wurden.6 Migranten mussten daher in anderen Teilen des Kaiserreichs, etwa in den baltischen Provinzen, aber auch im Ausland ihr Glück versuchen. Soziale Aufstiegsmöglichkeiten in den weißrussischen Städten gab es kaum. Die im Grunde sich nur langsam verändernden sozialökonomischen Verhältnisse bildeten ein retardierendes Moment der weißrussischen Bewegung. Es potenzierte sich durch die Russifizierungspolitik, die St. Petersburg neben Enteignung und Deportation der Insurgenten als Entpolonisierungsstrategie in den Nordwestprovinzen verfolgte. Die wenigen polnischen Schulen sowie die von der unierten Kirche unterhaltenen weißrussischen Bildungseinrichtungen wurden geschlossen, der Klerus unter Kontrolle gestellt und der öffentliche Gebrauch des Polnischen wie des Litauischen verboten. Die Zwangsmaßnahmen waren so nachhaltig, dass bereits bis 1866 rund 30.000 Adelige – darunter die größten Latifundienbesitzer – vom Katholizismus zur Orthodoxie konvertierten.7 Der Zwangskonversion unterlag auch die bäuerliche Bevölkerung. Ganz bewusst zur Russifizierung genutzt wurden Bildungseinrichtungen. Daher wurden für Studenten orthodoxen Glaubens Sonderstipendien mit der Verpflichtung vergeben, nach ihrem Studium einige Jahre lang in den westlichen Gouvernements zu unterrichten. Auch das einzige Lehrerseminar, das 1864 in Maladsetschna (russ. Mo-
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Paniuticz, Wiaczesław: „Dobra ziemskie na Białorusi w drugiej połowie XIX wieku“, in: Zapiski Historyczne 43 (1978) 4, S. 62-65, S. 72. Kischtymau, Andrej: „Rückständigkeit und Industrialisierung im 20. Jahrhundert“, in: Dietrich Beyrau/Rainer Lindner (Hg.), Handbuch der Geschichte Weißrußlands, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2001, S. 262. Duščyc, V.: „Haloŭnyja momanty historyi belarusskaha narodu“, in: A. Stašeŭskaha u.a. (Hg.), Belarus’. Narysy historyi ėkonomiki, kul’turnaha i rėvoljucyjnaha ruchu, Mensk: BSSR Central’nyj Ispolnitel’nyj Komitet 1924, S. 20.
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lodetschno) eingerichtet wurde, konnte als Russifizierungsagentur betrachtet werden. Hier erhielten Aufnahme und mögliche Aufstiegschancen nur aus orthodoxen Familien stammende Bauernkinder. Sie wurden bereits nach einer vierjährigen Ausbildung als Grundschullehrer eingesetzt, sofern an ihrer Loyalität zum Zaren und ihrem Bekenntnis zum Russentum keine Zweifel bestanden. Tatsächlich bildeten sie dann in der Regel auch verlässliche Stützen der Russifizierungspolitik. Weiterführende Karrieren eröffnete darüber hinaus die Aufnahme in geistliche Seminare der orthodoxen Kirche oder auch in Gymnasien und ähnliche Bildungseinrichtungen, wie sie in einzelnen größeren Städten Weißrusslands vorhanden waren. Im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts begannen sich deren Absolventen dann auch an den Hochschulen und Universitäten in St. Petersburg, Moskau, Charkow (ukr. Charkiw), Dorpat (russ. Jurew, estn. Tartu) und Warschau einzuschreiben. Von dort aus stand manchen auch der Weg ins Ausland offen, was vor allem Kunststudierende wahrnehmen konnten. Wer es so weit gebracht hatte, konnte auf eine verheißungsvolle Karriere in Staat und Gesellschaft des Reiches hoffen, wenn er nicht mit radikalen politischen Strömungen in Berührung gekommen war und sich revolutionären Kreisen und Bewegungen angeschlossen hatte.
3. D IE ANFÄNGE
DER NATIONALEN
B EWEGUNG
Im Diskurs der Eliten bzw. der politischen Öffentlichkeit des Russländischen Reiches war – anders als die ukrainische Frage oder auch die Situation der Völker des Baltikums – Weißrussland und dessen Zukunft kein Thema. Noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde in den Zentren des Kaiserreiches die Existenz einer eigenständigen weißrussischen Kultur bestritten oder in Abrede gestellt. Weißrussland und die Weißrussen hatten keine Tribüne, auf der sie sich darstellen konnten. Die moderne weißrussische Sprache ist erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchung und Normierung geworden. Nur wenig früher, in den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts, kann man mit dem Erscheinen der Werke von Franzischak Bahuschewitsch und Janka Lutschyna (Nesluchouski) den Beginn der weißrussischen Literatur ansetzen. Beide Dichter schrieben und publizierten vor allem auch in der Absicht, die Literaturfähigkeit ihrer Muttersprache zu demonstrieren und nationales Eigenbewusstsein zu wecken. Sie fanden zudem rasch Nachahmer, unter denen Janka Kupala und Jakub Kolas den nachhaltigsten Ruhm ernteten. Bereits in den Titeln der Werke springt das nationale Anliegen der Dichter dem Leser in die Augen: Ales Paschkewitsch: „Vera belarusa“ (Der Glaube des Weißrussen, 1905), „Muzykant belarusski“ (Der weißrussische Musikant, 1906), Jakub Kolas: „Belarusam“ (An die Belarusen, 1906), Janka Kupala: „Maladaja Belarus’“ (Junges Weißrussland, 1913) Tschischka Hartny: „Dumki belarusa“ (Die
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Volkslieder des Weißrussen, 1909), H. Leutschyk ): „Čyžyk belaruski“ (Weißrussischer Zeisig, 1912) usw. Kein Wunder also, dass solche Titel meist nur unter Pseudonym veröffentlicht werden konnten. Ungeachtet dessen ist die Bedeutung der Literaten und Publizisten als Träger und Verbreiter eines weißrussischen Patriotismus und ihr Bestreben, der nationalen Identität ihres Volkes im Schatten von Russen, Polen und Litauern Kontur zu verleihen, nicht zu unterschätzen. Sie schufen in und mit ihrem Diskurs eine Öffentlichkeit, die sich wie die Schriftsteller auch zu politisieren begann. Zudem konnten nun auch Impulse von außen entsprechende Resonanz finden. Sie kamen aus unterschiedlichen Quellen. Die das Russländische Reich unter Alexander II. erschütternde Bewegung der „Volksfreunde“ oder narodniki eine agrarsozialistische revolutionäre Strömung, hatte sich auch in den weißrussischen Gouvernements bemerkbar gemacht und in den siebziger Jahren unter polnischen Gymnasiasten und der städtischen Intelligenzija, d.h. des oppositionell eingestellten Lesepublikums, Anhänger gefunden. Sie radikalisierten sich gegen Ende der Dekade und schlossen sich der im Entstehen begriffenen sozialdemokratischen Bewegung im Zarenreich an. Entsprechend richtete sich das Hauptinteresse solcher Gruppierungen in erster Linie auf die russische und die polnisch-jüdische Handwerker- und Arbeiterschaft der Städte. Deren politisch rechtlose und ökonomisch bedrängte, d. h. proletarisierte Unterschicht radikalisierte sich daher als erste soziale Gruppe, während die ländliche weißrussische Bevölkerung davon zunächst unberührt blieb. Dennoch liegen in jenen Jahren des revolutionären Aufbruchs, als politische Emanzipationsund soziale Befreiungsideen von prominenten Vordenkern der russischen und nichtrussischen Untertanen des Zaren öffentlich und heimlich verbreitet und diskutiert wurden, auch die Anfänge der politischen weißrussischen Bewegung. Petersburger Studenten aus dem Umfeld der Narodniki wandten sich zwischen 1882 und 1884 mit Pamphleten an die Öffentlichkeit, um für bessere ökonomische Bedingungen und Reformen in den weißrussischen Gebieten zu agitieren. Außerdem forderten sie die Anerkennung der kulturellen und politischen Eigenständigkeit Weißrusslands, dessen Bevölkerung trotz aller widrigen Umstände Tradition, Sprache und „gesonderte Nationalität“ bewahrt habe.8 Es wurden aus jenen Kreisen aber auch radikalere Forderungen erhoben: In einem „Sendschreiben an die weißrussischen Landsleute“ wurde 1884 ganz im Geiste der sozialrevolutionären Programmatik der radikalen Narodniki auch schon zum politischen Umsturz aufgerufen. Gleichzeitig scheiterten aber Versuche, eine alle revolutionären Kräfte vereinigende sozialrevolutionäre weißrussische Volkspartei zu gründen. Dage-
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Sambuk, S. M: „Novye dokumenty belorusskich narodnikov načala 80-ch godov XIX veka“, in: P. Z. Savočkin (Hg.), Sovetskoe slavjanovedenie. Materialy IV konferencii istorikov-slavistov (Minsk 31 janvarja – 3 fevralja 1968 g.), Minsk: BGU im.V.I.Lenina 1969, S. 375-376.
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gen stellten sich die Narodniki, deren Zentralkomitee keine institutionelle Konkurrenz akzeptieren wollte; außerdem war sich die Bewegung in der Nationalitätenfrage nicht einig, die zudem für die meisten Narodniki weit hinter der sozialen Revolution rangierte. Auch die Polizei verhinderte die Gründung einer revolutionären weißrussischen Organisation. Allerdings gelang es deren Initiatoren, zwei Nummern ihrer Zeitung Homon (Homon. Belorusskoe revoljucionnoe obozrenie/„Heidenlärm. Weißrussische Revolutionäre Rundschau“) mit der politischen Programmatik der nationalen Bewegung zu veröffentlichen. Angeregt von politischen Ideen und Konzeptionen, wie sie teilweise von Michail Bakunin, vor allem aber von den Vordenkern der nationalen Emanzipation der Ukrainer seit Mitte des 19. Jahrhunderts propagiert wurden, forderte sie für Weißrussland Autonomie in einer künftigen demokratischen und föderativ organisierten Russländischen Republik. Damit reihten sich die nationalen „Erwecker“ Weißrusslands in den Chor der Föderalisten und Befürworter von Autonomielösungen für die sogenannten „kleinen“ Völker Ostmittel- und Osteuropas ein. Nur eine Gemeinschaft selbstbestimmter Völker konnte den Weißrussen den gewünschten Schutz gegen polnische oder russische Vereinnahmung garantieren und helfen, auf eigenen Füßen zu stehen, war in Homon zu lesen. Diese ersten Äußerungen zur weißrussischen Frage waren zu sporadisch und in ihrer Breitenwirkung zu sehr begrenzt, als dass sie als Beweis für die Existenz einer nationalrevolutionären Bewegung dienen könnten. Es handelte sich eher um Erscheinungen einer Vorläuferorganisation mit bescheidenem Entwicklungspotential. Da sie aber mit den ersten Publikationen der weißrussischen Dichtung in den achtziger Jahren zusammenfielen, wurden sie als Beginn eines „kulturellen Nationalismus“ der Weißrussen interpretiert. Aber auch dafür sprach wenig. Es waren einzelne Stimmen und es fehlte – anders als etwa bei den Ukrainern – jede Art von politischrevolutionärer Entschiedenheit. Auch wenn der Attentäter Alexanders II., Ihnat Hrynjawizki, aus der lokalen Faktion der Narodniki in den Nordwestprovinzen stammte, gibt es keine Evidenz, dass er den Kaiser aus weißrussisch-nationalistischen oder regionalpatriotischen Empfindungen ermordet hätte. Der Anschlag auf den Zaren war die Tat sozialrevolutionärer Aktion – mehr nicht. Erst eine Generation später, als politische Gruppierungen und kulturelle Organisationen entstanden waren, die sich als nationale Vereinigungen verstanden, nahm zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine weißrussische Bewegung Gestalt an. Vor allem in den Universitätsstädten Dorpat, St. Petersburg, Moskau, Charkow, aber auch in Wilna und Minsk bildeten sich Studentenzirkel, Klubs und Bildungsvereine, die sich um die Verbreitung der verbotenen weißrussischen Literatur bemühten, Themen der nationalen Geschichte und Kultur diskutierten und sich auch publizistisch engagieren wollten. Während letzteres aufgrund der polizeilichen Überwachung erfolglos blieb, verdichteten sich Kontakte und Kommunikation zwischen den lokalen Gruppen und Zirkeln und führten 1902 zu einem Zusammenschluss des St. Petersburger „Kreises für weißrussische Volksbildung“ mit anderen,
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meist sozialistischen Gruppen zur Gründung der „Weißrussischen revolutionären Gemeinschaft (hramada)“. Ein Jahr später wurde sie in „Weißrussische Sozialistische Gemeinschaft (hramada)“ umbenannt. Ihr politisches Programm ließ aber sehr deutlich erkennen, wie wenig prononciert noch Ideologie und Philosophie der weißrussischen Bewegung waren. Praktisch gab sie Forderungen und Ziele der Polnischen Sozialistischen Partei wieder. Mit der Partei Józef Piłsudskis, des späteren Wiederbegründers der polnischen Rzeczpospolita, aber auch Rosa Luxemburgs, stand sie in engem Kontakt, da der radikalere Teil der Hramada-Mitglieder in dieser Partei die ersten politischen Erfahrungen gesammelt hatte. Dass die weißrussische Bewegung inzwischen dabei war, sich zu einer gesellschaftlichen und politischen Kraft zu entwickeln, manifestierte sich in einer ganzen Reihe weiterer Organisationen und Verbände. Neben der Hramada in St. Petersburg und im Umfeld ihrer Filialen in Minsk und Wilna bildeten sich zwar von einer kurzfristigen Ausnahme abgesehen noch keine politischen Parteien, aber nach und nach Berufsvereinigungen. Zu den bekanntesten zählten die „Weißrussische Bauernunion“, die „Weißrussische Lehrerunion“ oder auch die „Weißrussische Union der Lehrerseminare“. Nach der russischen Revolution von 1905 und im Zug der von St. Petersburg gewährten Freiheiten konnten dann auch die ersten Verlags- und Publikationsprojekte auf den Weg gebracht werden. Unter diesen kam der Herausgabe der Zeitungen Nascha dolja (Naša dolja/„Unser Los“) und vor allem Nascha niwa (Naša niva/„Unsere Flur“) als Foren und Organisationszentren der Hramada besondere Bedeutung zu. Dessen ungeachtet konnte man vor Beginn des Ersten Weltkrieges kaum von einer weißrussischen Bewegung sprechen, die einen politischen Faktor dargestellt oder im politischen Diskurs der russländischen Öffentlichkeit Aufmerksamkeit gefunden hätte. Die im Vergleich etwa mit der Ukraine erst spät einsetzenden nationalen Emanzipationsbestrebungen und ihre Institutionalisierung waren zu rudimentär, um die Zeit der Reaktion nach 1907 tatsächlich unbeschädigt überstehen zu können. Die Bewegung äußerte sich fast nur in der Literatur und einigen wenigen Presseorganen. Ihre gesellschaftliche Basis war zu schmal, um wirklich Breitenwirkung zu erreichen. Dies war auch ein Resultat der Modernisierungsdefizite in den Nordwestprovinzen. In ihnen wurden weniger Schulen und Lehrstätten unterhalten und in geringerer Zahl Zeitungen herausgegeben als in allen übrigen europäischen Gouvernements des Zarenreiches. Jene hatten auch weniger Leserinnen und Leser. 1897 waren noch fast 80 Prozent aller Weißrussen über zehn Jahre Analphabeten. Die patriotische Intelligenzija musste sich fast ausschließlich aus der Bauernschaft rekrutieren, deren Kindern sich erst mit dem Beginn des 20. Jahrhunderts gewisse Ausbildungs- und damit entsprechend mehrere Aufstiegschancen boten. Ein Blick auf Herkunft und soziale Zusammensetzung der bei Ausbruch des Ersten Weltkrieges in der nationalen Bewegung aktiven weißrussischen Patrioten veranschaulicht diese Besonderheit. Es ist davon auszugehen, dass sich über 3.000 Personen in der
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Hramada und ihrem Umfeld engagierten. Die meisten von ihnen waren ländlicher Herkunft. Mehr als die Hälfte dürften Studenten, Schüler und Lehrer gewesen sein.9 Der sehr hohe Anteil von Studenten und der relativ hohe von Lehrern wurde bereits von den Zeitgenossen wahrgenommen. Er war durchaus bezeichnend, denn ähnliche Verhältnisse ließen sich damals auch etwa in Estland oder der Slowakei beobachten. Studierende und Lehrer bildeten das unterste Stratum der patriotischen Intelligenzija. Außerdem „lebten“ sie mehr denn andere in und mit der bäuerlichen Bevölkerung, von der sie abstammten, deren Sprache und Kultur sie am besten bewahrt hatten. Ähnliches galt für Künstler und Schriftsteller, aber auch für eine schmale Schicht von Angestellten und mittleren Beamten, wie sie vor dem Ersten Weltkrieg in den Städten Weißrusslands lebten. Hier gibt es auch eine Parallele zur nationalen Bewegung der Ukrainer des Zarenreiches.
4. Z USAMMENFASSUNG Abschließend bleibt zu konstatieren, dass das historische Erbe der polnischlitauischen Rzeczpospolita zu prägend und dessen Wirkmächtigkeit bis zum Ende des 19. Jahrhunderts in den weißrussischen Gouvernements des Zarenreiches zu nachhaltig war, um eine nationale Bewegung vor der Jahrhundertwende entstehen zu lassen. Selbst danach verzögerten die sozialökonomische Rückständigkeit des Landes, seine überwiegend bäuerliche Bevölkerung sowie die geringen Modernisierungsfortschritte insgesamt die soziale Differenzierung und volle nationalkulturelle Entfaltung der Weißrussen vor dem Ersten Weltkrieg. Visionen von nationaler Selbstbestimmung, die in der russländischen Öffentlichkeit diskutiert worden wären, fehlten in der Regel ebenso wie eine weißrussische Elite, die solche Bestrebungen als nationales Projekt hätte popularisieren können. Ihr Kreis und die Reichweite ihrer Aktivitäten waren eng, zudem eher literarisch-kulturell induziert denn Ausdruck nationalemanzipatorischer oder gar revolutionärer Willenskraft. Folglich konnte die nationale Bewegung der Weißrussen – anders als die der Polen, der baltischen Völker oder auch der Ukrainer – 1914 keinen politischen Faktor darstellen. Auch Krieg, Besatzung, revolutionärer Umbruch und deren katalysatorische Wirkung haben daran nichts ändern können. Es waren daher viel weniger indigene Kräfte als äußere Einflussfaktoren, welche die Bolschewiki bestimmten, mit der Gründung der Sowjetunion auch den Weißrussen kulturelle Autonomierechte und eigenstaatliche Strukturen zu gewähren.
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Mark, Rudolf A.: „Die nationale Bewegung der Weißrussen im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts“, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas NF 42 (1994) 4, S. 508.
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L ITERATUR Karskij, E.: Geschichte der weißrussischen Volksdichtung und Literatur, Berlin, Leipzig: de Gruyter 1926. Lindner, Rainer: Historiker und Herrschaft. Nationsbildung und Geschichtspolitik in Weißrußland im 19. und 20. Jahrhundert, München: Oldenbourg 1999. McMillin, Arnold: Die Literatur der Weißrussen. A History of Byelorussian Literature. From its Origins to the Present Day, Gießen: Schmitz Verlag 1977. Staliunas, Darius: Making Russians. Meaning and Practice of Russification in Lithuania and Belarus after 1863, Amsterdam u.a.: Rodopi 2007. Weeks, Theodore R.: Nation and State in Late Imperial Russia. Nationalism and Russification on the Western Frontier, 1863-1914, DeKalb: Northern Illinois University Press 2008. Wexler, Paul N.: Purism and Language: A Study in Modern Ukrainism and Belorussian Nationalism (1840-1967), New York/The Hague: Indiana University Press 1974.
Das Vorurteil der „jüdischen Sowjetmacht“. Antisemitismus und Antibolschewismus in der Zwischenkriegszeit A LEXANDER F RIEDMAN
Am 19. März 1944, wenige Monate vor der Befreiung der westweißrussischen Stadt Brest (poln. Brześć) durch die Rote Armee, veröffentlichte die lokale, unter deutscher Besatzungsherrschaft erscheinende Kollaborationszeitung Nasche slowo (Naše slovo/„Unser Wort“) einen antisemitischen Witz, in dem zwei prominente Bolschewiki, der ehemalige Volkskommissar des Äußeren Maxim M. Litwinow und der Volkskommissar des Inneren Lawrenti P. Berija von einem Jungen als Juden angesprochen werden. Dem in ukrainischer Sprache herausgegebenen Blatt ging es in diesem Fall weniger darum, seine Leser zu amüsieren. Im Hinblick auf den aus deutscher Sicht katastrophalen Kriegsverlauf sollte die einheimische Bevölkerung für den „letzten Kampf“ gegen die Bolschewiki mobilisiert werden. Denn der in Białystok (wruss. Belastok), unweit von Brest geborene, jüdischstämmige Diplomat Litwinow, und der vorsätzlich als Jude dargestellte Chef der Geheimpolizei, der Georgier Berija, verkörperten in diesem Witz den „grausamen jüdischen Bolschewismus“. Antisemitische Humorgeschichten, die eine jüdische Überpräsenz in den sowjetischen Führungskreisen suggerierten, sind nicht erst durch die nationalsozialistische Propaganda in Umlauf gebracht worden. Es handelte sich bereits in den zwanziger und dreißiger Jahren um einen wichtigen Bestandteil der sowjetischen Alltagskultur. Wahrscheinlich hatte auch die Minskerin Hanna Jakaulewa noch vor Kriegsausbruch derartige Erzählungen vernommen. Der Fall Jakaulewa veranschaulicht die Wirksamkeit antisemitischer Stereotype in Weißrussland. Anfang des Krieges befand sie sich in einer schrecklichen Situation: Ihr nicht einmal zwei Jahre alter Sohn erkrankte und starb am 28. Juli 1941, genau einen Monat, nachdem die deutschen Truppen die Hauptstadt der Belorussischen Sozialistischen Sowjetrepublik (BSSR) besetzt hatten. Am nächsten Tag bat Jakaulewa die Stadtverwaltung
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um die Erlaubnis, das Kind zu beerdigen. In ihrem Antrag informierte die Mutter den stellvertretenden Stadtkommissar, dass der Junge von einer Ärztin behandelt worden sei, die im „jüdischen Wohnbezirk“ (žydoŭski raën) lebte. Damit wurde in Minsk das von den deutschen Besatzern eingerichtete Ghetto bezeichnet. Verwendete Jakaulewa diese Bezeichnung ohne Absicht? Oder benutzte sie bewusst den vor dem Krieg strikt verbotenen Terminus schydouski (dt. verächtlich „jüdisch“) und drückte auf diese Weise ihre antisemitischen Gefühle aus? Die maschinengeschriebene Akte aus dem Minsker Gebietsarchiv ermöglicht nicht, diese Fragen eindeutig zu beantworten. Selbst wenn der besagte Antrag von einer dritten, unbekannten Person nach den Aussagen der trauernden Mutter verfasst worden sein sollte, belegt dieses Beispiel, dass die weißrussische Bevölkerung mit antisemitischen Ausdrücken vertraut war. Zwar degradierten die Nationalsozialisten und die lokalen Kollaborateure die Sowjetbürger jüdischer Nationalität, die im Sommer 1941 in den besetzten Gebieten verblieben waren, in rechtlose schydy (žydy/dt. verächtlich „Juden“). Doch wurde das von der Besatzungspresse konstruierte Stereotyp des „jüdischen Bolschewismus“ bzw. der „jüdischen Sowjetmacht“ nicht erst von den Deutschen nach Weißrussland gebracht. Um die Ursachen dieses Vorurteils erklären zu können, wird zunächst die Lage der Juden in der BSSR vor dem deutsch-sowjetischen Krieg geschildert. Danach werden Besonderheiten des für breite Bevölkerungsschichten charakteristischen Antisemitismus in der Zeit von der Etablierung der stalinistischen Gewaltherrschaft bis zum deutschen Überfall auf die Sowjetunion anhand mehrerer Fallbeispiele thematisiert. Hierfür wird auf Geheimberichte der Vereinigten Staatlichen Politischen Verwaltung (OGPU) und des Volkskommissariats des Inneren (NKWD) an das Minsker Stadtparteikomitee und an weitere Parteiorgane der Republik zurückgegriffen.1 Anschließend wird die Rolle der Geheimpolizei im Kampf gegen den Antisemitismus verdeutlicht.
1. W EISSRUSSISCHE J UDEN Nach der Aufteilung des polnischen Staates im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts gerieten die weißrussischen Gebiete unter russische Herrschaft. Am Ende des 18. Jahrhunderts und im 19. Jahrhundert verabschiedeten die Zarin Katharina II. und ihre Nachfolger eine umfassende antijüdische Gesetzgebung, welche unter anderem die Einrichtung eines Ansiedlungsrayons
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Die Zitate beziehen sich auf folgende Akten: Gosudarstvennyj archiv Minskoj oblasti (GAMO): f. 1p, op. 1a, d. 124, l. 113; f. 1p, op. 1a, d. 128, l. 66; f. 164p, op. 1, d. 39, ll. 9, 144; f. 164p, op. 1, d. 134, ll. 186, 246, 247; f. 164p, op. 1, d. 232, ll. 16, 17, 75, 111, 112; f. 164p, op. 1, d. 233, ll. 28, 35, 36; f. 1050, op. 1, d. 14, l. 112.
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vorsah, in dessen Zentrum sich das heutige Weißrussland befand. Weil der jüdischen Bevölkerung zugleich verboten wurde, sich auf dem flachen Land niederzulassen, mussten sie auf die städtischen Siedlungen ausweichen. In der Regel wurden die sogenannten Marktflecken oder Schtetl in Weißrussland in quantitativer Hinsicht von Juden dominiert. Sie spielten im lokalen Wirtschaftsleben teilweise eine zentrale Rolle. Die Oktoberrevolution markiert eine Zäsur in der Geschichte der weißrussischen Juden. Nach einer langen Epoche der Unterdrückung wurden sie wegen ihrer Nationalität nicht mehr verfolgt. Einerseits wurde der Antisemitismus vehement als „Waffe des Klassenfeinds“ bekämpft. Andererseits zerschlugen die neuen Machthaber die jüdischen Gemeindeinstitutionen, verfolgten „Klassenfeinde“ jüdischer Herkunft und organisierten einen Feldzug gegen die jüdische Religion, die hebräische Sprache, den Zionismus und andere „konterrevolutionäre Strömungen“. Zahlreiche Juden wurden von der sozialistischen Umgestaltung der Wirtschaft schwer getroffen. In der Zwischenkriegszeit galt die BSSR innerhalb der Sowjetunion als eines der wichtigsten Zentren jiddischer Sprache und Kultur. Bürger jüdischer Herkunft etablierten sich als wesentlicher Bestandteil der lokalen Partei-, Staats-, Wirtschafts-, Wissenschafts- und Kulturelite. Zweifelsohne rief diese Entwicklung in der Gesellschaft widersprüchliche Reaktionen hervor. Judenfeindliche Ressentiments hatte es in Weißrussland auch vor 1917 gegeben. Häufige blutige Pogrome, wie in Bessarabien oder in der Ukraine, waren indes ausgeblieben. Nach der Oktoberrevolution nahm der Antisemitismus neue und durchaus gefährliche Züge an.
2. P ROLETARISCHER ANTISEMITISMUS Die Glaubwürdigkeit der in Berichten der sowjetischen Geheimpolizei dargelegten Äußerungen und Handlungen konkreter Personen ist problematisch. Sie spiegeln allerdings nicht nur die Quintessenz geheimpolizeilicher Tätigkeit wider, sondern beleuchten auch die in der Gesellschaft verbreiteten Vorstellungen, Hoffnungen und Träume. So strotzen Berichte vom Ende der zwanziger und aus der ersten Hälfte der dreißiger Jahre von Meldungen über antisemitische Vorfälle in Betrieben, Fabriken, landwirtschaftlichen Kollektivwirtschaften. Mit ihrem Leben unzufriedene Bauern und Arbeiter hätten in privaten Gesprächen Juden für alle Missstände (mit-)verantwortlich gemacht. Sie hätten antijüdische Flugblätter verbreitet, Gewaltaktionen gegen jüdische Kollegen oder andere Personen jüdischer Herkunft geplant und durchgeführt. Die Geheimpolizei sammelte Informationen über teils redelustige, teils aktive Antisemiten und nahm auffällige Unruhestifter fest. Beispielsweise geriet ein Arbeiter der Minsker Süßwarenfabrik Anfang 1933 unter Beobachtung der OGPU. Er fiel durch seine scharfen Äußerun-
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gen über die Situation in der Fabrik und in der Sowjetunion auf. Nicht nur innerhalb der Süßwarenfabrik, sondern bezogen auf die gesamte Sowjetunion glaubte er, die Herrschaft der verhassten Juden vernehmen zu können. Vom „Gesindel“, das immer gut unterkommen würde und bereits den ganzen sowjetischen Apparat überschwemmt hätte, war die Rede. Emporkömmlinge, suspekte „Juden“ im Verein mit dem neuen „Adel“ (d.h. die Kommunisten), würden die Macht in ihren Händen konzentrieren und alle, sich aus nichtjüdischen Arbeitern rekrutierenden „Russen“ unterdrücken. Letztere würden in Gefängnisse eingewiesen oder verbannt. An die langfristige „jüdische Herrschaft“ in der Sowjetunion wollte der Arbeiter nicht glauben. Er hoffte auf einen baldigen Sturz der Machthaber und auf die anschließende Abrechnung mit den Juden. Im Unterschied dazu waren die Äußerungen von Arbeitern der Minsker Maschinenbaufabrik und einer Brigadeleiterin der Minsker Lederfabrik verhaltener. Ein Arbeiter sorgte im Herbst 1931 für Aufsehen, indem er den angeblichen „jüdischen Chauvinismus“ im Betrieb geißelte und dafür aus der Partei ausgeschlossen wurde. Dennoch handelte es sich nicht um einen Einzelgänger. Nach Geheimpolizeiinformationen waren andere Arbeiter über den schnellen Karriereaufschwung ihrer jüdischen Kollegen empört, die alle wichtigen Posten besetzt und Privilegien erhalten hätten. Der aus der Partei Ausgestoßene war in ihren Augen ein Held, der es wagte, offen die Wahrheit zu sagen. Sozialneid gegenüber Aufsteigern jüdischer Herkunft kam im März 1934 auch bei einer Betriebsversammlung der Lederfabrik zum Ausdruck, als eine abgesetzte Brigadeleiterin gegen die „jüdische Verschwörung“ protestierte und sich zum „russischen Opfer“ stilisierte. Juden hätten sie ihres Postens enthoben und die Stelle einem engen Bekannten zugeschanzt. Ihr zorniger Versuch, „jüdische Intrigen“ zu entlarven, misslang indes komplett. Die Frau erhielt eine Rüge und wurde zudem aus dem Werkkomitee ausgeschlossen. Energische Maßnahmen, die bei Ausfällen gegen Juden ergriffen wurden, trugen jedoch nicht dazu bei, den Antisemitismus zu beseitigen. Im Gegenteil, letzterer erfuhr noch eine Radikalisierung. Viele judenfeindlich gesinnte Arbeiterinnen und Arbeiter sympathisierten mit den bestraften „Kämpferinnen“ und „Kämpfern“ gegen die „jüdische Sowjetmacht“. Weil sie sich das Schicksal der Ausgestoßenen ersparen wollten, verzichteten sie auf öffentliche antisemitische Äußerungen. Nicht von ungefähr kam es in der ersten Hälfte der dreißiger Jahre zur massiven Verbreitung anonymer Flugblätter mit Pogromaufrufen, in denen die Parole der berüchtigten Schwarzen Hundert aus der vorrevolutionären Zeit „Schlage die Juden, rette Russland!“ wieder aufgelegt wurde. Antisemitische Hetzaufrufe trugen zur Zunahme der gegen Juden gerichteten Gewaltausbrüche bei. Beispielsweise registrierte die Geheimpolizei im Oktober 1934 folgendes Gespräch in der Wohnung eines Minsker Bauarbeiters. Um den Tisch versammelt hatten sich der Gastgeber, seine Schwägerin, ihr Ehemann und eine Bekannte. In alkoholisiertem Zustand behauptete der
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Hausherr, die unerträgliche Situation in der Sowjetunion würde sich dann bessern, wenn diejenigen vernichtet werden, denen es gut gehe, nämlich Juden und Kommunisten. Er bedauere, ohne Waffe nicht nachts durch die Stadt streifen und jüdische sowie kommunistische „Feinde“ abknallen zu können. Seine Schwägerin und ihr Ehemann seien wiederum bereit gewesen, Juden zu töten. Aus Sicht der Geheimpolizei handelte es sich keinesfalls um unvorsichtiges Geschwätz. Vielmehr habe sich an diesem Abend eine „konterrevolutionäre Organisation“ gebildet.
3. ANTISEMITISMUS
IM
B ILDUNGSWESEN
Nach Angaben der Geheimpolizei waren nicht nur Arbeiter und Bauern, sondern auch Parteikader und staatliche Funktionsträger mit dem Bazillus des Antisemitismus infiziert. Sie würden antisemitische Witze erzählen, antijüdische Flugblätter verfassen und ihre jüdischen Kollegen beschimpfen oder drangsalieren. Beispielsweise spottete der Vorsitzende des Betriebskomitees eines Torfwerks bei Minsk, der unter anderem für die Kultur- und Propagandaarbeit zuständig war, einem Geheimpolizeibericht aus dem Jahre 1934 zufolge über Juden, insbesondere über deren mangelhafte Russischkenntnisse. Ein jüdisches Mitglied des Kommunistischen Jugendverbandes sei von ihm nicht nur gemobbt, sondern auch geschlagen worden. Bei antisemitischen Äußerungen in Schulen und Hochschulen reagierte die Geheimpolizei sehr sensibel. In einem Bericht an das Parteikomitee der Stadt Minsk vom Januar 1931 wurde ein Doktorand an der Kommunistischen Hochschule als „verkappter Antisemit“ bäuerlicher Herkunft mit bescheidenen geistigen Fähigkeiten bloßgestellt. Im Februar 1933 folgte ein Bericht über den Hooliganismus an den Minsker Schulen. Als besonders verwerflich wurde darin der Fall eines Schülers geschildert, der einen jüdischen Mitschüler beleidigt und geschlagen hatte, seine Tat danach nicht nur nicht bereute, sondern in einer eigens einberufenen Vollversammlung der Schule bekräftigte, er habe Juden drangsaliert und werde dies auch in Zukunft tun. Aus der Reaktion der Geheimpolizei ist ersichtlich, dass sich Funktionsträger, potentielle Aufsteiger oder auch Kinder antisemitische Ausfälle offiziell nicht erlauben durften.
4. J UDEN , S TALIN UND H ITLER Geheimpolizeiberichte aus der zweiten Hälfte der dreißiger und vom Anfang der vierziger Jahre zeigen, dass antisemitische Ressentiments in der weißrussischen Gesellschaft weiterhin verankert waren. Die Zahl von Gewaltausbrüchen und öffentlichen antijüdischen Aktionen ging allerdings aufgrund des harten Vorgehens des bolschewistischen Regimes gegen Anti-
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semitismus zurück. Unter den Bedingungen der stalinistischen Gewaltherrschaft verstärkte dies in Augen vieler Antisemiten das Bild der „jüdischen Sowjetmacht“. Diese Bevölkerungsgruppe war geneigt, in allen umstrittenen Entscheidungen der Regierung eine „jüdische Verschwörung“ gegen die nichtjüdische Mehrheit zu sehen. Ein markantes Beispiel dafür liefern Geheimpolizeiberichte aus dem Minsker Gebiet vom Herbst 1940, in denen die Reaktionen der Bevölkerung auf die Einführung der Studiengebühren in der Schuloberstufe sowie an Hochschulen zusammengefasst wurden. Offenbar kursierten Gerüchte, denen zufolge die Studiengebühren auf eine jüdische Initiative zurückzuführen seien, um den Bauern den Aufstieg zur Macht zu versperren. Bemerkenswerterweise geht aus den Berichten auch hervor, dass antisowjetisch gesinnte Bürger von den Nationalsozialisten eine Befreiung von der stalinistischen Diktatur erhofften. Beispielsweise habe ein Lehrling der Minsker Maschinenbaufabrik seinen Unmut im Dezember 1940 deshalb Ausdruck gegeben, weil ihn der Wachdienst in betrunkenem Zustand nicht zu seinem Arbeitsplatz lassen wollte. Empört habe er auf Juden geschimpft und Stalin vorgeworfen, die Sowjetmacht für „zwei Holzwaggons“ an Hitler zu verkaufen. Dem deutschen „Führer“ habe er ein langes Leben gewünscht und darüber hinaus gedroht, die Betriebsjugend zur Arbeitsniederlegung aufzurufen. Von der Androhung einer Inhaftierung habe er sich unbeeindruckt gezeigt. Im Alkoholrausch habe er prahlerisch behauptet, das Gefängnis sei ohnehin seine Heimat, dort könne er trinken so viel er wolle, sich satt essen und obendrein noch umsonst Kleidung ergattern. Sein Schicksal ist unbekannt.
5. K AMPF GEGEN „ KONTERREVOLUTIONÄRES G EDANKENGUT “ Während die bolschewistische Propaganda die Bevölkerung im Geiste des proletarischen Internationalismus zu erziehen versuchte und folglich den Antisemitismus anprangerte, untersuchte die Geheimpolizei antisemitische Vorfälle, um judenfeindlich gesinnte „konterrevolutionäre Elemente“ zur Verantwortung zu ziehen. Die Vorfälle wurden dabei nicht nur als antijüdische Ausfälle, sondern in erster Linie als antisowjetische Aktionen interpretiert. Tatsächlich traf dies mitunter zu. Antisemiten griffen in ihren Äußerungen und Flugblättern jüdische Mitbürger nicht unbedingt aus religiösen oder rassistischen Gründen an. Sie hetzten gegen Juden, weil sie diese als Drahtzieher des Bolschewismus erachteten. In der Hauptsache ging es der Geheimpolizei nicht um den Schutz der jüdischen Bevölkerung, sondern um den Schutz des bolschewistischen Systems vor der „Konterrevolution“. Markanterweise wurden in der ersten Hälfte der dreißiger Jahre Schülerinnen und Schüler, die ihre jüdischen Al-
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tersgenossen drangsalierten, oder Arbeiterinnen und Arbeiter, die jüdische Kolleginnen und Kollegen diffamierten, als „antisowjetische Elemente“ auch dann abqualifiziert, wenn ihr Antisemitismus mit dem Antibolschewismus nichts zu tun hatte. Aus Sicht der Geheimpolizei verstießen sie gegen den offiziell propagierten proletarischen Internationalismus und stellten sich somit gegen die Sowjetmacht.
6. Z USAMMENFASSUNG Während der Hochphase des Stalinismus war der Antisemitismus in der BSSR in den dreißiger Jahren unter weiten Schichten der nichtjüdischen Bevölkerung verbreitet, unter Parteimitgliedern und Parteilosen, Mitgliedern des Kommunistischen Jugendverbandes, Arbeitern, Bauern, Schülern und Studenten. Antisemitische Ressentiments waren alters- und geschlechterübergreifend. Diesbezügliche Äußerungen in privaten Gesprächen, Attacken gegen jüdische Kollegen und judenfeindliche Flugblätter wurden von der Geheimpolizei in Stadt und Land, in Fabriken und landwirtschaftlichen Kollektivwirtschaften sowie in Schulen und Universitäten regelmäßig registriert. In der zweiten Hälfte der dreißiger Jahre gelang es den Bolschewiki indes, den Antisemitismus durch repressive Maßnahmen weitgehend aus der Öffentlichkeit zu verdrängen. Im Untergrund lebte er aber in unterschiedlichen Formen wieder auf. Althergebrachte antisemitische Parolen und Vorurteile sowie geschmacklose Witze blieben weiterhin im Umlauf. Neben einer relativ harmlosen, sowohl von anti- als auch von prosowjetisch eingestellten Kreisen artikulierten Form des Antisemitismus entwickelte sich in der BSSR der Zwischenkriegszeit das Vorurteil vom „jüdischen Bolschewismus“ und von der „jüdischen Sowjetmacht“. Das hing damit zusammen, dass Juden im Rahmen der sozialistischen Modernisierung einerseits die Chance erhalten hatten, einen sozialen Aufstieg zu erzielen, und andererseits Schlüsselpositionen im Partei- und Staatsapparat besetzen konnten. Dieser Vorstellung zufolge profitierten Juden von der stalinistischen Diktatur und unterjochten die nichtjüdische Bevölkerung. Dieser neue, in der BSSR staatlicherseits mit geheimpolizeilichen Methoden als antisowjetische Erscheinung bekämpfte Antisemitismus hatte einen aggressiven Charakter. Um Strafen zu entgehen, mussten die Antisemiten ihre Gefühle unterdrücken. Dennoch träumten sie davon, mit dem verhassten „jüdischen Regime“ abzurechnen und manche von ihnen setzten ihre Hoffnungen auf das antisemitische nationalsozialistische Deutschland. Als die Wehrmacht am 22. Juni 1941 die Sowjetunion überfiel, gingen diese Bürgerinnen und Bürger davon aus, der Tag der Befreiung sei gekommen.
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L ITERATUR Basin, Jakov: Bol’ševizm i evrei: Belorussija, 1920-e [Der Bolschewismus und die Juden: Weißrussland in den zwanziger Jahren]. Minsk: Varaksin 2008. „Existiert das Ghetto noch?“ Weißrussland: Jüdisches Überleben gegen nationalsozialistische Herrschaft, Berlin, Hamburg, Göttingen: Verlag Assoziation 2003. Liebermann, Mischket: Aus dem Ghetto in die Welt. Autobiographie, Berlin: Verlag der Nation 1979. Smilovickij, Leonid: Evrei Belarusi. Iz našej obščej istorii 1905-1953 [Juden in Weißrussland. Aus unserer gemeinsamen Geschichte 19051953], Minsk: Arti-Feks 1999.
Konkurrenz der Erinnerungen: Partisanenwiderstand und Holocaust in der belarussischen Gedenkkultur E KATERINA K EDING
„In der Welt kennt man Belarus als ‚Partisanenrepublik‘ und Belarussen als Menschen, die sich beim Kampf gegen die Pest des Nationalsozialismus nicht verborgen haben ... Alle, die für unser Land gekämpft haben, ihre Kinder und Enkelkinder, werden sehen, wie die dankbare Belarus sich an große Heldentaten erinnert und sie verehrt. Sie sollten darauf stolz sein, dass die Waffenbrüderschaft unserer Völker die schrecklichste Gefahr des 20. Jahrhunderts besiegt hat.“1 So lautete im Jahre 2004 die Botschaft des belarussischen Präsidenten Aljaksandr Lukaschenka an die Nationalversammlung und das belarussische Volk. Damit wurde die Erinnerung an „die großen Heldentaten des belarussischen Volkes“ während des Zweiten Weltkrieges zum Hauptziel der aktuellen Geschichtspolitik erklärt. Im gleichen Jahr erschien in einem Wizebsker Verlag ein Buch, das erstmals das Ghetto der Stadt Wizebsk (russ. Witebsk) thematisierte. Eine nach sechzig Jahren in Form eines dokumentarischen Berichts geschriebene Geschichte über das Schicksal der jüdischen Bevölkerung von Wizebsk, die auf den Erinnerungen der Überlebenden und auf Archivunterlagen basiert, erlangte in kleiner Auflage aber nicht die Aufmerksamkeit der breiten Öffentlichkeit und fiel auch mir nur zufällig ins Auge. Geboren und aufgewachsen in Wizebsk muss ich zugeben, im Jahre 2004 noch nicht gewusst zu haben, dass sich in der Besatzungszeit in meiner Stadt ein Ghetto befunden hatte. Dass die im Westen liegende Belorussische Sozialistische Sowjetrepublik (BSSR) eine prägende Erfahrung mit der nationalsozialistischen Besatzung gemacht hat, ist kaum zu bestreiten, schließlich wurde sie als erste
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Auszug aus der Botschaft Lukaschenkas an die Nationalversammlung und das belarussische Volk vom 14. April 2004, in: Belarus’ v gody Velikoj Otečestvennoj vojny 1941-1945, Minsk: Institut istorii, BELTA 2005, S. 2.
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Sowjetrepublik überfallen und als letzte befreit. Im Rahmen der belarussischen offiziellen Geschichtspolitik wird das Gedenken an die Besatzungszeit im „Großen Vaterländischen Krieg“ nicht nur als Visitenkarte des Landes präsentiert und für touristische Zwecke genutzt, sondern auch als zentraler Baustein in der nationalen Opfererzählung aufgefasst. Die großen Verluste und die Tatsache, dass die BSSR als letztes Land in Europa seine vor dem Krieg erreichte Bevölkerungszahl erst wieder im Jahre 1973 erlangte, werden immer wieder als Argumente angeführt. Auf der Suche nach einer Antwort auf die Frage – was zeichnet die Gedenkkultur an die nationalsozialistische Besatzungszeit in Belarus aus? – bin ich am Beispiel der Erinnerungsorte meiner Heimatstadt auf zwei Phänomene gestoßen, die meines Erachtens auch für das ganze Land kennzeichnend sind. Einerseits wird das Gedenken an den Partisanenwiderstand, der nicht nur mit den destruktiven Aspekten des Krieges, sondern auch mit dem Stolz der Menschen verbunden ist, ausgeprägt und durch unterschiedliche Medien transportiert. Andererseits ist das Gedenken an den Holocaust, der Belarus unmittelbar betrifft, weil vor dem deutschen Überfall fast jeder dritte Einwohner Jude war, kaum in der Erinnerungstopographie der Stadt präsent. Welchen Platz nimmt das Gedenken an den „Großen Vaterländischen Krieg“ im öffentlichen Raum der Republik Belarus ein? Wie wurde und wird das Gedenken an den Partisanenwiderstand architektonisch umgesetzt? Wie ist das Gedenken an den Holocaust in den Denkmälern präsent? Wie werden die Hierarchien in den Denkmallandschaften in einer bestimmten Region gebildet? Welche Botschaften liegen den Denkmälern zugrunde? Auf der Suche nach den Antworten auf diese Fragen fand im Frühling 2008 meine Reise nach Wizebsk und in das Wizebsker Gebiet statt, die dieses Mal nicht nur eine Heimatreise sondern zum ersten Mal eine Forschungsreise war.
1. W IZEBSK
UND DAS
W IZEBSKER G EBIET
Das Wizebsker Gebiet befindet sich im Norden der Republik Belarus und umfasst 21 Rayons mit dem administrativen Zentrum Wizebsk. Im Westen wird Wizebsk vor allem mit Marc Chagall und Yehuda Pen in Verbindung gebracht. Wizebsk wird als „eine Hauptstadt der europäischen Kulturgeschichte“ beschrieben, die Jahre vor der Oktoberrevolution Anschluss an die Moderne gefunden habe.2 Unberücksichtigt geblieben ist hingegen die Tatsache, dass Wizebsk und das Wizebsker Gebiet auch im Hinblick auf die
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Schlögel, Karl: „Die erste Stadt der neuen Welt. Wie Witebsk in Weißrussland für einen historischen Augenblick zur Metropole der Moderne wurde“, in: Die Zeit vom 19.01.2006, siehe http://www.zeit.de/2006/04/A-Witebsk?page=all vom 30.12.2009.
P ARTISANENWIDERSTAND
UND
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IN DER
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Ereignisse der nationalsozialistischen Besatzung und ihrer Musealisierung von der Nachkriegszeit bis heute von Interesse sind. Während des Vorrückens der Heeresgruppe Mitte, die im Juni 1941 von der Wehrmacht gebildet wurde und sich nach dem Überfall auf die Sowjetunion Richtung Moskau bewegte, befand sich Wizebsk in einer Zone ständiger, heftiger Kämpfe. Am 11. Juli 1941 wurde die Stadt besetzt, bis Ende Juli 1941 wurde das gesamte Verwaltungsgebiet okkupiert. Weil Wizebsk als Verkehrsknoten die Kontrolle über die Transportströme an der ganzen Ostfront gewährleistete, wurde die Stadt deutscherseits zur Festung erklärt, die bis zum letzten Soldaten verteidigt werden sollte. Sowjetischerseits wurde die Region zum „Partisanenland“ (partizanskij kraj) ernannt. Angeblich waren 36 sowjetische Partisanenbrigaden tätig. Die Bildung einer prosowjetischen Partisanenbewegung beruhte auf einer Reihe von Faktoren: geographische (viele Wälder, Sümpfe und Seen), politische (Anschluss an die Sowjetunion bereits im Jahre 1918, fortgeschrittener Prozess der Sowjetisierung, Nähe zu Moskau) und wirtschaftliche (die Folgen von Kollektivierung und Massenhunger waren hier nicht so spürbar wie z.B. in der Ukraine). Im Hinblick auf das Gedenken an den Holocaust können das Wizebsker Gebiet und die Stadt Wizebsk eine vier Jahrhunderte lange jüdische Tradition aufweisen, die sich unter anderem in der Zugehörigkeit der Region zum Ansiedlungsrayon für die jüdische Bevölkerung des Zarenreichs niederschlug. Nach der Besatzung im Juli 1941 begann die massenhafte Vernichtung der Juden, die im Gegensatz zu den westlichen Gebieten von Belarus bereits im Februar 1942 zum Abschluss kam. Am 26. Juni 1944, am Tag der Befreiung der Stadt, wurde unter den 118 Überlebenden kein einziger Jude mehr gezählt (vor dem Krieg lebten in Wizebsk 180.000 Menschen, davon etwa 37.000 Juden).
2. E RINNERUNGSTOPOGRAPHIE
DER
R EGION
Dass es in der sowjetischen Moderne darum gegangen war, die Überlegenheit der Staatsmacht in monumentalen Formen zu symbolisieren, lässt sich an einem Ereignis ablesen, welches kurz vor der Besetzung der Stadt Wizebsk an der Gabelung der Autostraßen nach Leningrad und Polazk (russ. Polozk) an einem Lenin-Denkmal stattgefunden haben soll. Demnach sei ein deutscher Panzer bei dem Versuch, das Denkmal umzustoßen, von einem sowjetischen Panzer gerammt worden. Beide Panzer hätten sich im Moment des tödlichen Zusammenstoßes aufgebäumt und in dieser Pose die gesamte Besatzungszeit gegenübergestanden. Der Überlieferung zufolge versinnbildlichten die Panzer nicht nur den Mut und Heroismus der Verteidiger der
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Stadt, sondern auch den Patriotismus der Sowjetmenschen und ihre grenzenlose Liebe zu Lenin.3 Wenn man sich der Erinnerungstopographie des Wizebsker Gebiets und insbesondere der Stadt Wizebsk zuwendet, springt sofort ins Auge, dass der größte Platz im öffentlichen Raum den Denkmallandschaften eingeräumt ist, die sich dem „Großen Vaterländischen Krieg“ widmen. Bereits in der unmittelbaren Nachkriegszeit hatte das Parteikomitee des Gebiets die Erinnerung an die Besatzungszeit zu einer „der lebenswichtigsten und notwendigsten Aufgaben“ stilisiert. Orte, die „jedem sowjetischen Menschen am Herzen liegen und ohnehin mit der heroischen Geschichte des belarussischen Volkes verbunden sind“, seien zu identifizieren und zu musealisieren.4 Im Rahmen einer solchen Geschichtspolitik ist es nicht verwunderlich, dass der öffentliche Raum jedes Jahr mit neuen Erinnerungszeichen gefüllt wurde. Im Jahre 1959 wurden im Wizebsker Gebiet 40 Denkmäler, 9 Gedenktafeln und 429 Soldaten- und Partisanengräber gezählt, im Jahre 1973 in der Stadt Wizebsk 65 Denkmäler, 14 Skulpturen, 6 Obelisken, 3 Stelen und 40 Gedenktafeln.5 Beim 40. Jubiläum der Befreiung der BSSR vom Nationalsozialismus befanden sich in der Stadt mehr als 107 Denkmäler, mehr als 35 Prozent waren dem Zweiten Weltkrieg gewidmet.6 Und im Jahr 2007 wurde die Erinnerung an die Besatzungszeit in der Region in mehr als 1.600 Monumenten wach gehalten. Einer der wichtigsten Erinnerungsorte ist die Heldenanlage, der ehemalige Platz des Gouverneurspalastes. Im Jahre 1912 wurde hier das Denkmal für die Helden des „Vaterländischen Krieges“ von 1812 aufgestellt. Seit der nationalsozialistischen Besatzung ist es zugleich ein Denkmal an den „Großen Vaterländischen Krieg“, weil die Geschossspuren aus der Zeit von 1941 bis 1944 sichtbar blieben. Somit kommt in dieser materialisierten Botschaft der Versuch zum Ausdruck, die Erinnerung an die Napoleonischen Kriege mit dem Gedenken an den Zweiten Weltkrieg zu verknüpfen und die beiden Ereignisse in ihrer Kontinuität zu betrachten. Doch der Kult um den Zweiten Weltkrieg konnte auch kontraproduktiv wirken. Beispielsweise wurde 1990 bei der Konzeption der Ausstellung „Der Große Vaterländische Krieg in Wizebsk und im Wizebsker Gebiet“ Anspruch auf die gesamte zweite Etage des alten Rathauses erhoben. Auf die Ausstellungsfläche bezogen sollte der Zweite Weltkrieg somit ein Drittel der tausendjährigen Geschichte der Stadt einnehmen. Außerdem wurde geplant, die Wände und Decken der zweiten Etage zu betonieren, um einen Kampfstand zu errichten, was im Grunde genommen zur Zerstörung des alten Rathauses geführt hätte.
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Pachomov, N. I./Dorofeenko, N. I./Dorofeenko, N. V.: Vitebskoe podpol’e. Minsk: Belarus’ 1974, S. 14. Gosudarstvennyj archiv Vitebskoj oblasti (GAVO), f. 2852 op. 2, d. 447, l. 35. GAVO, f. 2852 op. 2 d. 482 l. 37 . GAVO, f. 322, op. 13, d. 80, l. 227-229.
P ARTISANENWIDERSTAND
3. G EDENKEN
AN DEN
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H OLOCAUST
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P ARTISANENWIDERSTAND
Am 23. Juli 1944 wurde in der befreiten Stadt Wizebsk in Anwesenheit von Pjotr Zacharowitsch Kalinin, der zur Zeit der Besatzung als Sekretär des Zentralkomitees der weißrussischen Kommunisten und als Leiter des Stabs der Partisanenbewegung tätig gewesen war, eine Partisanenparade abgehalten, welche die Epoche der Aufbauzeit und der „Partisanenrepublik“ einleitete. Eine der wichtigsten Bezugsfiguren für die belarussische Nation – Pjotr Mironawitsch Mascherau – vereinigt in sich in idealer Weise beide Aspekte. Mascherau (1918-1980) stammte aus dem Wizebsker Gebiet und hatte 1935-1939 an der Pädagogischen Universität in Wizebsk studiert. Am Anfang der Besatzungszeit leitete er den kommunistischen Untergrund in Rassony. Im August 1941 trat er in die Reihen der prosowjetischen Partisanen ein. Für seine Leistungen im Krieg wurde er im Alter von 26 Jahren als „Held der Sowjetunion“ ausgezeichnet. Von 1965 bis 1980 übernahm er das Amt des Ersten Sekretärs des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei. Er gilt bis heute als der populärste Parteichef der Nachkriegszeit. Das liegt nicht zuletzt daran, dass die Modernisierung Weißrusslands in seiner Amtszeit ihren Höhepunkt erfuhr und ihm persönlich zugeschrieben wurde. Sein unerwarteter Tod durch einen Autounfall machte ihn zu einem Nationalhelden, der als Repräsentant der Partisanenmentalität und als Garant des Wohlstands in hohem Ansehen stand. Seine Person genießt so breite Beliebtheit, dass sie immer wieder für politische Zwecke instrumentalisiert wird. Während der Perestroika wurde bekannt gegeben, dass sein Vater dem Großen Terror von 1937 zum Opfer gefallen sei. Dadurch wurde suggeriert, dass viele Menschen trotz bitterer Erfahrungen mit dem Stalinismus bereit waren, der Sowjetunion zu dienen.7 Heutzutage berufen sich demokratische Initiativen der Republik Belarus auf Mascherau. Einer Schlagzeile zufolge verkörpert Mascherau „die Geschichte von Belarus“, während Lukaschenka für „die Schande und das Unglück von Belarus“ stehe. Den Impuls für die öffentliche Auseinandersetzung lieferte Lukaschenkas Verordnung aus dem Jahre 2005, eine Minsker Hauptstraße, die seit 1981 den Namen Mascheraus trug, in „Prospekt der Sieger“ umzubenennen. Lukaschenka berief sich dabei auf Wünsche von Veteranen und Einwohnern der Stadt. Diese Aktion rief viele Menschen auf die Straßen, vor allem die Mitglieder der Bürgerinitiative „Veteranen für Demokratie“, die mit Mascherau-Porträts protestierten. Die Demonstration wurde gewaltsam zerschlagen und die Polizei vernichtete vor den Augen der Veteranen Fotos von Mascherau. Wie diese Aktion zu deuten ist, bleibt ungewiss. Ohne Zweifel stand die Aktion der Re-
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Sahm, Astrid: „Politische Konstruktionsversuche weißrussischer Identität. Zur Bedeutung des Rückgriffes auf die Geschichte für die unabgeschlossene weißrussische Nationalstaatsbildung“, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas NF 42 (1994), S. 541-561, hier S. 557.
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gierung mit der Geschichtspolitik in Zusammenhang, die das Regime der oppositionellen Mythenbildung entgegensetzt. In der belarussischen Provinz hat die Erinnerung an Mascherau hingegen keine Beeinträchtigung erlebt. Seit 1980 gehört ein Besuch des Denkmals, das sich in der Nähe des Stadttheaters in Wizebsk befindet, zu jeder Führung durch die Stadt und zu den Zeremonien am Tag des Sieges. Dabei handelt es sich um eine bronzene Brustbüste, die 1,2 Meter hoch und auf einem 2,5 Meter hohen Sockel platziert ist. Links von der Büste befindet sich ein Stein in Würfelform, auf dessen Kanten zwei Reliefs zu sehen sind. Auf einem Relief erscheint das Symbol von Hammer und Sichel, das Leistungen auf dem Gebiet der Arbeit versinnbildlichen soll. Auf einem anderen Relief werden Eichenblätter als Symbol des Muts, der rote Stern als Symbol des sowjetischen Sieges und die Zahlen 1941-1945 abgebildet. Auf dem Fundament sind zwei Leninorden mit Hammer und Sichel und zwei Medaillen mit dem Goldenen Stern sowie die Inschrift in russischer Sprache „Mascherow Pjotr Mironowitsch – Held der Sowjetunion – Held der sozialistischen Arbeit“ zu sehen. Somit verkörpert das Denkmal die Symbiose der Partisanenerfahrungen mit den Zielen des sozialistischen Aufbaus der Nachkriegszeit. Diese beiden Elemente fungierten als integrative und identitätsstiftende Instrumente der belarussischen Nachkriegsgesellschaft. Neben Mascherau kam noch ein weiterer Wizebsker zu besonderen Ehren. Minai Filipawitsch Schmyreu oder Bazka (bac‘ka) beziehungsweise „Väterchen“ Minai, wie er von den Partisanen genannt wurde, gilt als Organisator und Leiter der Partisanenbewegung im Wizebsker Gebiet. Über ihn wurden zahlreiche Bücher, Gedichte und Lieder geschrieben. Seine Gestalt ist in jedem Schulbuch abgebildet. In Wizebsk tragen nicht nur eine Grundschule und eine Fachschule, sondern auch eine Straße, eine Brücke und ein Schiff seinen Namen. Neben der Grundschule wurde seine Büste aufgestellt. An dem Haus, in dem Schmyreu in der Nachkriegszeit wohnte, befindet sich eine Gedenktafel. Außerdem wurde im Wizebsker Gebiet eine Kartoffelsorte „Bazka Minai“ und eine Johannisbeersorte russisch „Minai Schmyrew“ benannt, die laut Wissenschaftlern eine „besondere Widerstandsfähigkeit aufweisen“. Anlässlich des 25. Jubiläums der Befreiung vom Nationalsozialismus wurde in Minsk ein Schmyreu-Museum eröffnet. In der Nähe des Museums wurde eine Gedenkstätte errichtet, die als eine Art Fortsetzung der Museumsausstellung zu verstehen ist. Hier befindet sich eine Grünanlage, deren Bäume von den Partisanen der Ersten Weißrussischen Partisanenbrigade für die nachfolgenden Generationen gepflanzt wurden. Außerdem ist ein Fragment einer Bahnschiene hinterlegt, das den sogenannten „Schienenkrieg“ symbolisieren soll. 1969 wurde die Anlage durch ein Denkmal ergänzt. Auffällig ist, dass Schmyreus Hemd mit nationalen Ornamenten verziert ist. Dies kann als Versuch verstanden werden, anhand der Gestalt des sowjetischen Partisanen eine (quasi-)nationale belarussische Identität zu konstruieren. Faktisch ging es um die Propagierung der sowjetischen Heimat.
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4. D IE G EDENKSTÄTTE „D URCHBRUCH “ Richten wir nun unsere Aufmerksamkeit auf den Landkreis Uschatschy, wo seit dem Jahre 1974 die Gedenkstätte „Durchbruch“ an den Partisanenwiderstand erinnert. Zur Zeit der Besatzung bildete die Ortschaft Uschatschy das Zentrum einer Partisanenzone, die eine Fläche von 3.000 Quadratkilometern mit 1.220 Siedlungen umfasste. Im Zusammenhang der Befreiung von Wizebsk gab es Stoff, mit dem um die betreffende Partisanenzone ein Mythos gewoben wurde. Die sowjetische Führung musste im Frühjahr 1944 davon ausgehen, dass die Deutschen versuchen würden, die Partisanen im Hinterland der 3. und 4. Panzerarmee zu vernichten, um sich einen Rückzug ohne Hindernisse offen zu halten. In der Tat verfolgten die Deutschen ein doppeltes Ziel: erstens, die Sicherheit der Rückzugswege zu gewährleisten und zweitens, die Partisanenbewegung zu schwächen, d.h. vor allem die Zerstörung der Eisenbahnlinien und Straßen zu verhindern oder zu mindern. Mitte April 1944 ging die Wehrmacht mit mehr als 20.000 Soldaten zum Angriff auf die Partisanen im Landkreis Uschatschy über. Heftige Kämpfe begannen im April 1944, Anfang Mai wurden alle Partisanen eingeschlossen. Vom 4. auf den 5. Mai 1944 gelang den Partisanen der sagenumwobene Durchbruch durch die feindlichen Linien. Den deutschen Berichten zufolge waren die Aktionen im Landkreis Uschatschy sehr erfolgreich. Nach einigen Wochen sollen die Verluste der Partisanen bereits bei 7.000 Getöteten und 7.000 Kriegsgefangenen gelegen haben. Wenn man den Schätzungen glaubt, blieben von den ursprünglich 17.000 Partisanen nach den Aktionen nur noch 3.000 am Leben. Die erfolgreiche Operation habe somit die befürchtete Zusammenarbeit zwischen den Partisanen und der Roten Armee im Zuge des sowjetischen Angriffs im Jahre 1944 vereitelt. Amerikanische Forscher haben die Bedeutung der Aktionen im Landkreis Uschatschy bestätigt. Wenn die Partisanen weiterhin die Kontrolle behalten hätten, wären die Rückzugswege der dritten deutschen Panzerarmee abgeschnitten worden.8 Wenden wir uns den belarussischen sowjetischen und postsowjetischen Quellen zu, entsteht vor unseren Augen hingegen eine Heldengeschichte ganz anderer Art. Nach Angaben des eingangs zitierten Buches über den Wizebsker Untergrund verloren die Deutschen im Laufe der ersten zwei Monate des Kampfes mehr als 6.000 Soldaten und Offiziere, 3 Panzer, 4 Flugzeuge, 11 Kleinkampfwägen und 61 weitere Fahrzeuge. Im Laufe der militärischen Auseinandersetzungen, die 27 Tage andauerten, hätten die belarussischen Partisanen die Einkesselung durchbrochen und „mit nicht schwächer werdender Kraft“ dem Feind weite-
8
Vgl. Mavrogondo, Ralph/Ziemke, Earl: „The Polotsk Lowland“, in: John A. Armstrong (Hg.), Soviet Partisans in World War II, Madison: The University of Wisconsin Press 1964, S. 517-556, hier S. 546.
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re Schläge versetzt.9 Unerwähnt bleiben indes die eigenen Verluste. Dennoch oder gerade deshalb lässt sich diese Erzählung in allen Lehrbüchern, Propagandabroschüren, in der Presse und wissenschaftlichen Aufsätzen sowohl aus sowjetischer als auch postsowjetischer Zeit nachlesen. Einer der wenigen, wenn nicht der einzige, der versucht hat, den Durchbruchsmythos zu dekonstruieren, war der bekannte belarussische Schriftsteller Wassil Bykau, der 1924 in der Nähe von Uschatschy geboren wurde. In seinen Literaturwerken und Interviews versucht er eine andere Sicht auf die deutsche Besatzung darzustellen. So wies er darauf hin, dass das offiziell deutschen Tätern zugeschriebene Massaker von Chatyn tatsächlich das ukrainische Polizeibataillon 118 zu verantworten habe. In dem 1943 niedergebrannten Dorf Chatyn wurde 1969 die bis heute zentrale Gedenkstätte an die nationalsozialistische Besatzung in der Republik Belarus errichtet. Auch in Uschatschy habe die deutsche Besatzung alle Charakterzüge eines Bürgerkriegs angenommen, in welchem die Zahl der Partisanen der Zahl der Kollaborateure entsprach. Laut Bykau haben sich die deutschen regulären Truppen erst dann eingemischt, als sich die Frontlinie Polazk (russ. Polozk) zu nähern begann. Dies habe dazu geführt, dass die Partisanenzone im Gebiet Uschatschy eingekreist und der Widerstand mit repressiven Maßnahmen gebrochen worden sei. In einem Interview bezeichnete Wassil Bykau „den legendären Durchbruch“ als Euphemismus, mit dem die vernichtende Niederlage umschrieben werde. Seiner Meinung nach waren nur versprengte Reste durchgebrochen.10 Wenn man die 1974 errichtete Gedenkstätte genau betrachtet, findet sich eingangs eine Karte der Partisanenzone mit einer sowjetischen Interpretation der Ereignisse. Geht man weiter, gelangt man zu zwei durchlöcherten Wänden, die den militärischen Charakter der Kämpfe versinnbildlichen. Zugleich symbolisieren die Wände auch die deutschen Reihen, die von den Partisanen durchbrochen wurden. Am bedeutendsten ist die 7,5 Meter hohe Bronzefigur, mit der ein heldenhafter Partisan präsentiert wird, der nach vorne strebt und nur an den Sieg und den Durchbruch denkt. Die Maschinenpistole in seiner linken Hand und das zerrissene Hemd auf seiner Brust tragen zur Heroisierung der Gestalt bei. Ein weiteres Element der Gedenkstätte bildet das Ehrengrab, wo 450 während der Blockade umgekommene Partisanen begraben sind. Daneben befindet sich die Komposition „Der letzte Halt“. Diese besteht aus drei bronzenen Gewehren in Form einer Pyramide und soll eine Erholungspause der Partisanen vor dem Kampf darstellen. Auf einem Spruchband ist folgende Botschaft zu lesen: „Sie kamen im
9 Pachomov: Vitebskoe podpol’e (wie Anm. 3), S. 209. 10 „,Kateharyčna ab’jaŭljaju, čto ja – pis’mennik belaruskiʻ. Hutarka Jurasja Zaloski z Vasilem Bykavym“, in: Dzejsloŭ Literaturna-mastackae i publicistyčnae vydann’e 45 (2010), H. 2, siehe http://www.dziejaslou.by/inter/dzeja/dzeja.nsf/ htmlpage/byk39?OpenDocument vom 14.2.2010.
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Kampf gegen den Feind um und haben somit die heilige Verpflichtung vor der sowjetischen Heimat und Geschichte erfüllt.“ An den symbolischen Botschaften ist abzulesen, dass die Errichtung dieser Gedenkstätte eng mit einem Mythologisierungsprozess verbunden ist, der die kollektive Einheit und das Zusammengehörigkeitsgefühl bekräftigen sollte. Am Ort der vernichtenden Niederlage ist ein Raum konstruiert worden, der mit dem „legendären, sieghaften Durchbruch“ gefüllt wurde. Ein traumatischer Ort wurde zu einem heldenhaften Ort umgedeutet. Bei der Konzeption der Gedenkstätte wurden die Partisanen mit einem für die sowjetische Gesellschaft typischen Heldenmythos verbunden. Herausgekommen ist ein Sowjetmensch, der mit seiner Selbstopferung und Selbstverleugnung nach dem Vorbild der Heiligen und Märtyrerlegenden gestaltet ist, wobei Gott als Adressat des Opfers durch die Heimat und die Geschichte ersetzt wurde. Der Gestus versteht sich als ein „Sterben für...“, das von den Überlebenden und Nachgeborenen mit Ehre und Ruhm vergoldet wird.
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Unmittelbar nach dem Krieg befanden sich die Erschießungsstätten und Friedhöfe der jüdischen Bevölkerung in Wizebsk und im Wizebsker Gebiet in einem miserablen Zustand. Beispielsweise wurde in dem Dorf Lyntupy der jüdische Friedhof aufgelassen. Vor dem Ehrengrab, an dem mehrere Hundert erschossene Menschen begraben liegen, blieben nur zwei Grabsteine stehen. Daneben ist das Dorf Sirozina zu erwähnen, in dem an einer Stelle, an der Juden erschossen worden waren, eine Schweinefarm gegründet werden sollte. Nachdem die Verwandten der Ermordeten sich mit Bittschriften an die politischen Repräsentanten der Region gewandt hatten, wurde beschlossen an der Stelle einen Getreidespeicher und ein Getreidesilo zu errichten. Ferner ist auf ein weiteres Dorf, Ljady, hinzuweisen, in dem die Grabplatten des jüdischen Friedhofs dafür genutzt wurden, den Weg zum Stall zu pflastern. Die Misere ist unter anderem darauf zurückzuführen, dass die überlebenden Juden erst in den fünfziger Jahren begannen, in ihre früheren Heimatorte zurückzukehren und bis dahin niemand ihrer umgekommenen Angehörigen gedachte. Im Dorf Sirozina zum Beispiel ging die Initiative zur Errichtung eines Denkmals auf R. L. Massarski zurück, der während der Besatzungszeit ein in der ganzen Region bekannter Partisan gewesen war und nach dem Krieg als Direktor einer Handelsgenossenschaft fungierte. Ursprünglich war geplant, die Namen der über dreißig Opfer auf Jiddisch und Russisch zu verewigen. Stattdessen erschien auf der Platte die Phrase: „Ewige Erinnerung an die Verwandten, die von den Händen der faschistischen Täter am 18. November 1941 umgekommen sind.“ Heute ist dieses
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Denkmal nicht mehr zu sehen. Es wurde 1991 bei der Errichtung der Autobahn von einem Traktor zerstört.11 Zu einer Wende in der Erinnerungskultur kam es 1967, als Israels Sieg im Sechs-Tage-Krieg in sowjetischen Parteikreisen eine Welle des Antisemitismus hervorrief. Zur Veranschaulichung der Situation seien die Vorgänge in der Kleinstadt Kamen genannt, die über eine lange jüdische Tradition verfügte. Weil Juden 1806 die Bevölkerungsmehrheit stellten, wurde ihnen seitens der zarischen Behörden sogar eine Knabenschule zugestanden. Tragischerweise kamen unmittelbar nach dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion am 17. September 1941 fast alle der noch in der Stadt verbliebenen 177 Juden um. Der einzige Überlebende, Moisei Aksenzeu, errichtete später ein provisorisches Holzdenkmal. Von den Angehörigen der Familien Raichelson und Reitman wurden dann Mittel für ein neues Denkmal gesammelt, das 1966 eingeweiht werden konnte. Die russische Inschrift lautete: „Kameraden, entblößt das Haupt vor der Erinnerung an die Gefallenen. Unter diesem Hügel ruhen 177 friedliche sowjetische jüdische Bürger des Städtchens Kamen, barbarisch erschossen von den faschistischen Tätern am 17. September 1941. Ewig sei das Gedenken an sie.“ Ein Jahr nach der Einweihung wurde Girsch Raichelson überraschend zum Parteikomitee des Wizebsker Gebiets eingeladen. Ihm wurde vorgeschlagen, dem errichteten Denkmal einen offiziellen Status zu geben und die Verantwortung an die lokale Schule zu übertragen. Dafür wurde er aufgefordert, „kleine“ Veränderungen vorzunehmen. Er wurde belehrt, dass zur Zeit des Krieges nicht nur Juden umgekommen seien: „Deshalb muss das Wort ‚Juden‘ verschwinden. Und der Davidstern, das Symbol des für uns feindlichen Staates, soll durch den fünfzackigen Stern ersetzt werden.“ Obgleich Raichelson diesen Vorschlag abgelehnt hatte, musste er bei seinem nächsten Besuch 1968 feststellen, dass die Veränderung eigenmächtig vorgenommen worden war. Der Hinweis auf die jüdischen Opfer war mit weißer Farbe unkenntlich gemacht und der Davidstern ersetzt worden.12 In Wizebsk wurde zuerst der Ort der in der Niederung des Flusses Wizba (russ. Witba) erfolgten Massenerschießung musealisiert. Unter der deutschen Besatzung waren hier mehr als 20.000 Menschen umgebracht worden, darunter mehr als 10.000 Juden. Als 1964 eine Gedenktafel angebracht wurde, fehlte bei der Inschrift indes ein Hinweis darauf, dass an dieser Stelle Juden beerdigt waren: „Hier wurden Tausende erschossene und gefolterte Opfer der faschistischen Besatzung begraben. Die Mutter Heimat wird sich ewig an die Helden erinnern, die ihr Leben hingaben für das Glück und den
11 Smilovickij, Leonid: Katastrofa evreev v Belorussii 1941-1944, Tel’-Aviv: Biblioteka Matveja Černogo 2000, S. 278. 12 Raichelson, Girsch: „Kogda kričat kamni“, in: Mišpocha. Istoriko-publicističeskij žurnal 22 (2008), siehe http://www.mishpoha.org/n22/22a18.shtml vom 1.6.2008.
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Frieden der Bevölkerung.“ Ebenfalls 1964 wurde am Wizebsker Rathaus an der Stelle, an der zur Zeit der Besatzung ein Galgen gestanden hatte, eine Gedenktafel für die sowjetischen Helden mit der folgenden Widmung angebracht: „Dem beispiellosen Mut der sowjetischen Patrioten, die an dieser Stelle in den Jahren 1941-1944 von den deutsch-faschistischen Eroberern hingerichtet wurden.“ Dieser Erinnerungsort ist fest in die Topographie der Stadt eingeschrieben. Er wird in jeder Stadtführung erwähnt. Die Bilder der Gehenkten bilden Leitmotive der Ausstellung über die Besatzungszeit im Heimatmuseum. Erst in den neunziger Jahren wurde aus einem Leserbrief bekannt, dass das erste Opfer eine jüdische Frau gewesen ist. Diese Tatsache bleibt in den Führungen bis heute unerwähnt. Dass sich in Wizebsk in der Besatzungszeit ein Ghetto befand und an einigen Orten der Stadt mehr als 20.000 Juden umgebracht wurden, ist erst seit 1993 Bestandteil der Erinnerungstopographie. Eine bedeutende Rolle ist dabei der örtlichen jüdischen Gemeinde zuzuschreiben, welche nach vielen Bittschriften im Jahre 1990 offiziell anerkannt wurde und die Aufgabe übernahm, sich um die Erhaltung der Friedhöfe und die Renovierung oder Errichtung von Denkmälern zu kümmern. 1992 wurden ein Chagall-Denkmal aufgestellte und ein Kunstmuseum mit der Dauerausstellung „Marc Chagall und Wizebsk“ eröffnet. 1993 wurde der berühmteste Sohn der Stadt noch einmal dadurch geehrt, dass sein Name einer Straße und einer Gasse verliehen wurde. Dennoch bleibt die Erinnerung an die reiche jüdische Geschichte der Stadt bis dato unterrepräsentiert. Von den 483 Straßen der Stadt tragen immer noch 56 Straßen, Plätze und Prospekte Namen, die unmittelbar mit Ereignissen und Helden des Zweiten Weltkrieges verbunden sind. Immerhin wurde 1993 auf dem Gelände des ehemaligen Ghettos ein Gedenkstein aufgestellt. Darauf ist folgende Botschaft in belarussischer Sprache zu lesen: „Hier wird ein Denkmal an die Häftlinge des Wizebsker Ghettos, Opfer des faschistischen Genozids in den Jahren 1941-1944 errichtet“. Presseberichten zufolge soll die Realisierung 2001 kurz vor dem Abschluss gestanden haben. Laut dem Vorsitzenden der jüdischen Gemeinde liegt die Verzögerung vor allem an der Unterfinanzierung des Projekts. Unter diesen Bedingungen ist es kein Wunder, dass das Gebäude des ehemaligen Kulturhauses, das auch zum Ghetto gehörte, seit Jahren leer steht und dem Verfall ausgesetzt ist. Es ist zur Heimstatt von Alkoholikern und Obdachlosen geworden.
6. Z USAMMENFASSUNG Aus eigener Erfahrung kann ich bestätigen, dass die Erinnerung an die nationalsozialistische Besatzung im öffentlichen Raum der Republik Belarus einen festen Platz eingenommen hat. Erst nach meiner Übersiedlung nach München im Jahre 2006 und während der Beschäftigung mit dem Thema Erinnerungskulturen habe ich erfahren, dass es auch in meiner Heimatstadt
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während der Besatzung ein Ghetto gab. Denkmäler an den Partisanenwiderstand, welche fest in meinem Gedächtnis eingeschrieben sind, kann ich jetzt aus mehreren Perspektiven und differenzierter betrachten, was nicht die Relativierung des Sieges meines Volkes bedeutet, sondern mir einen spannenden Blick und neue Erkenntnisse in Bezug auf das Thema Erinnerungskultur verschafft. Wie an den aufgeführten Beispielen deutlich wird, werden einige Partisanendenkmäler explizit mit Heldensemantiken aufgeladen (Gedenkstätte Durchbruch), andere an einigen Stellen bewusst mit nationalen Symbolen geschmückt (Denkmal für Minai Schmyreu). Während an den Schulen und in den Universitäten in der Republik Belarus in letzter Zeit einige strittige Themen zur Diskussion gestellt worden sind, scheinen traditionell konservative Medien der Erinnerung – wie etwa jene des Denkmals – in der belarussischen Provinz kaum Veränderungen unterworfen zu sein. Die meisten neu gebauten Denkmäler an den Partisanenwiderstand in Wizebsk bleiben immer noch den Traditionen des Realsozialismus verhaftet und weisen eine wenig kritische Reflexion der Besatzungserfahrung auf. Wenn der Zustand der jüdischen Friedhöfe und Denkmäler unmittelbar nach dem Krieg tatsächlich katastrophal war – oft aus finanziellen Gründen – wurde das Gedenken an den Holocaust in den fünfziger und sechziger Jahren etwas aktiver. An den Orten der Vernichtung wurden Denkmäler und Obelisken errichtet. Die meisten von ihnen wurden aus lokaler oder privater Initiative aufgestellt und mit den wichtigen Erinnerungsdaten des Zweiten Weltkrieges verbunden. Seit 1967 wurde der Brauch, an die Orte der Massenvernichtung der Juden Kränze niederzulegen, die mit jüdischen Symbolen ausgestattet waren, oder die Inschriften auf Jiddisch zu schreiben, als schweres Verbrechen, zionistische Propaganda und antisowjetische Tätigkeit betrachtet. Diese Politik fand ihren Höhepunkt in der Tatsache, dass nicht nur in den Akten der „Außerordentlichen Staatlichen Kommission für die Verluste im Großen Vaterländischen Krieg“ und in diversen Veröffentlichungen, sondern auch an den bestehenden Denkmälern das Wort „Jude“ durch die Redewendungen „friedliche Bewohner“, „sowjetische Bürger“ oder „Opfer des Faschismus“ ersetzt wurde. Obwohl nach der Auflösung der Sowjetunion in der Geschichtspolitik in Bezug auf den Holocaust neue Möglichkeiten entstanden sind, welche die Aufstellung von Denkmälern sowie jiddische und neuhebräische Inschriften ermöglichen, bleibt die Initiative den Opfergruppen und ihren Angehörigen überlassen. Wenn im Rahmen von Jubiläumsvorbereitungen die Gelder für die Denkmäler an den Partisanenwiderstand bestritten werden, bleiben die Denkmäler an den Holocaust weiterhin auf die Hilfe belarussischer jüdischer Gemeinden aus dem Ausland angewiesen.
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L ITERATUR Chiari, Bernhard: Alltag hinter der Front. Besatzung, Kollaboration und Widerstand in Weißrußland 1941-1944, Düsseldorf: Droste Verlag 1998. Gerlach, Christian: Kalkulierte Morde. Die deutsche Wirtschafts- und Vernichtungspolitik in Weißrußland 1941 bis 1944, Hamburg: Hamburger Edition 1999. Kalinin, P. S.: Die Partisanenrepublik, Berlin: Dietz Verlag 1968. Kohl, Paul: „Ich wundere mich, daß ich noch lebe.“ Sowjetische Augenzeugen berichten, Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 1990. Kurilo, Olga/Herrmann, Gerd-Ulrich (Hg.): Täter, Opfer, Helden. Der Zweite Weltkrieg in der weißrussischen und deutschen Erinnerung, Berlin: Metropol Verlag 2008. Musial, Bogdan: Sowjetische Partisanen 1941-1944. Mythos und Wirklichkeit, Paderborn u.a.: Schöningh Verlag 2009.
Die Sowjetisierung der ehemaligen polnischen Ostgebiete nach dem Zweiten Weltkrieg aus der Sicht des „kleinen Mannes“ I RYNA S. K ASHTALIAN
Aus weißrussischer Perspektive stellte der dem Hitler-Stalin-Pakt am 17. September 1939 folgende Anschluss „Westweißrusslands“ (Zapadnaja Belarus’) an die Belorussische Sozialistische Sowjetrepublik (BSSR) eine Wiedervereinigung dar. In der Tat wurde der Kriegseinritt für die ehemaligen „östlichen Grenzmarken“ (kresy wschodnie) der Zweiten Polnischen Republik durch die Errichtung der sowjetischen Herrschaft um fast zwei Jahre verschoben. Auf den feierlichen Empfang der Roten Armee durch prokommunistisch gesinnte Bevölkerungsteile folgte jedoch der harte Alltag der intensiven Sowjetisierung, die für den einfachen Bürger nicht gerade positiv ausfiel. Das Streben des sowjetischen Staates, seine wichtigsten gesellschaftspolitischen Anliegen möglichst rasch durchzusetzen, äußerte sich aufgrund seines allgemeinen Misstrauens gegenüber der lokalen Bevölkerung unter anderem in der Zwangskollektivierung der Landwirtschaft, in Deportationen potentieller „Feinde der Sowjetmacht“ und in der Aufoktroyierung der russischen Sprache in den Schulen. Allerdings vereitelte der deutsche Überfall auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 die konsequente Umsetzung der sowjetischen Planwirtschaft. Deshalb wurde die deutsche Wehrmacht von großen Bevölkerungsteilen in Westweißrussland freudig empfangen. Nach der Befreiung Weißrusslands von den deutschen Besatzern bemühte sich die Sowjetunion ab Sommer 1944 erneut um die Eingliederung der westweißrussischen Gebiete. Zu den wichtigsten Maßnahmen der Sowjetisierung zählten im ersten Nachkriegsjahrzehnt die Wiederaufnahme der Kollektivierung der Landwirtschaft, die abermalige Bekämpfung „antisowjetischer Elemente“ sowie der Bevölkerungsaustausch mit Polen und die Verdrängung der Religion aus dem öffentlichen Leben. Im Zuge der sowje-
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tischen Modernisierung ließen sich in den vor dem Holocaust noch großenteils von Juden bevölkerten Kleinstädten sowohl russifizierte Parteikader aus dem Osten als auch landflüchtige Bauern aus der Region nieder. Letztere distanzierten sich zunehmend von ihrem dörflichen weißrussischen Erbe und suchten ihr Heil in der Annahme einer proletarischen oder sowjetischen Identität. Vor diesem Hintergrund brachte die sogenannte Wiedervereinigung neue Begrifflichkeiten mit sich. „Westler“ (zapadniki) und „Ostler“ (vostočniki) wurden die Vertreter der jeweiligen Regionen genannt. Diese Bezeichnungen traten sogar im offiziellen Schriftverkehr auf, womit die Sensibilisierung der Beamten für die Integrationsprobleme neuer sowjetischer Bürger belegt wird. Dennoch wurde der Ausdruck „Westler“ praktisch zu einem Etikett, das die Unzuverlässigkeit der betreffenden Person markierte. Archivakten enthalten ausführliche Informationen über die Durchsetzung von Anordnungen in den Behörden, geben aber sehr wenig darüber Aufschluss, wie die einfachen Menschen auf die Veränderungen in den neu hinzugekommenen Regionen der BSSR reagierten. Woran sie dachten, und warum sie so handelten, wie sie handelten, sind Fragen, die diese Quellen nur schwer beantworten können. Weshalb etwa konnte ein und dieselbe Person in der einen Situation loyal zur Sowjetmacht stehen und alle Verordnungen erfüllen und gleichzeitig in der anderen aber sich dem Untergrund anschließen und bewaffneten Widerstand leisten?
1. O RAL H ISTORY – I NTERVIEWS ALS HISTORISCHE Q UELLE Alltagsgeschichte spiegelt sich zweifelsohne in allen zeitgenössischen Quellen wider. Am besten aber wird die Wahrnehmung von Prozessen und Ereignissen durch einen einfachen Menschen, den „kleinen Mann“, in persönlichen Erinnerungen greifbar, mit allen Vor- und Nachteilen ihrer Subjektivität. Reminiszenzen an die Sowjetisierung Westweißrusslands sind heutzutage auf unterschiedlichen Informationsträgern und in verschiedenen Sammlungen zu finden. Auch wenn sie der Thematik nicht immer zur Gänze entsprechen, haben sie ein Prisma von Interessen zu bieten. Aufschlussreich sind diesbezüglich drei Interviewsammlungen: 1. Das von der Stiftung Erinnerung, Verantwortung, Zukunft, der Freien Universität Berlin und dem Deutschen Historischen Museum betriebene digitale Archiv „Zwangsarbeit 1939-1945. Erinnerungen und Geschichte“ ist seit Februar 2009 online.1 Von den rund 600 Interviews aus 26 Ländern stammen 46 aus Weißrussland. 2. Das „Visual History Archive of the Shoah Foundation Institute for
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Zwangsarbeit 1939-1945. Erinnerungen und Geschichte, siehe http://www. zwangsarbeit-archiv.de/ vom 7.1.2011.
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DER EHEMALIGEN POLNISCHEN
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Visual History and Education of the University of Southern California“ ist seit Mai 2009 über die Homepage der Freien Universität Berlin zugänglich.2 Von den ca. 52.000 Interviews wurden mehr als 600 auf Russisch geführt, davon 248 in den Jahren 1995-1998 in der Republik Belarus. In den meisten Fällen wurden Juden befragt, deren Schicksal zu verschiedenen Zeiten mit Weißrussland verbunden war. Ungefähr 400 haben nach dem Krieg in der BSSR gelebt. 3. Zu erwähnen sind schließlich noch die Interviews mit 46 Personen, die die Autorin dieses Artikels im März 2009 auf der Grundlage eines Fragenkatalogs zur Alltagsgeschichte Weißrusslands von 1944 bis 1953 sammelte. Die Mehrheit der Befragten gehörte zu einer Generation, die zwischen 1920 und 1930 geboren wurde und ihren Wohnsitz im Nachkriegsjahrzehnt in der BSSR hatte. In dieser Phase begann bei den Meisten der Einstieg ins Berufsleben, weshalb insbesondere die unmittelbaren Einflüsse der Sowjetisierung auf die Familie, die Ausbildung und die Karriere erinnert wurden. Die häufigsten Angaben beziehen sich auf familiäre Traditionen, auf die Russifizierung der Schule, auf den Bevölkerungsaustausch, auf die Zwangskollektivierung der Landwirtschaft und auf den offiziell propagierten „Kampf gegen das Banditentum“.
2. R EAKTIONEN DER O STLER DIE W IEDERVEREINIGUNG
AUF
Die Einstellung der einfachen Menschen zur Sowjetisierung Westweißrusslands hing von persönlichen Interessen ab. Diesbezüglich unterschieden sich Ostler und Westler. Ungeachtet der Tatsache, dass die Grenze zwischen beiden Teilen der BSSR nicht mehr existierte, verhielt sich die Bevölkerung im Osten der besonderen Situation des Westens gegenüber gleichgültig. Vielleicht lag es daran, dass die Menschen ihre eigenen Probleme hatten und über den Horizont ihrer jeweiligen Nachbarsiedlung nicht hinausschauten. Möglicherweise befürchteten sie aber auch einfach, dass übermäßige Neugier politische Konsequenzen nach sich ziehen würde. Massenmedien lieferten Informationen, die nicht nur einseitig und unzureichend, sondern für Dorfbewohner auch nur schwer zugänglich waren: „Wir abonnierten keine Zeitungen. Es war teuer. Warum sollte ich sie auch abonnieren? Stell dir vor, nur 17 Rubel blieben mir übrig, und ich weiß selbst nicht, für was.“ In Unkenntnis der wirklichen Lage verfestigten sich bei den Ostlern regelrechte Stereotypen: „Wir haben Polen die Bruderhand gereicht.“ – „Wir freuten uns sehr, dass sie von diesem Herrenjoch befreit wurden.“
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Visual History Archive of the Shoah Foundation Institute for Visual History and Education of the University of Southern California (USC), siehe http://www. vha.fu-berlin.de/en/index.html vom 7.1.2011.
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Besser informiert waren lediglich diejenigen Ostler, die unmittelbare Kontakte zu Westweißrussland pflegten, etwa aus familiären Gründen, wegen Arbeitseinsätzen oder aufgrund von Warenaustausch. Allerdings ist darauf hinzuweisen, dass verwandtschaftliche Beziehungen zwischen den Bewohnern der BSSR und den Kresy, den polnischen Ostgebieten, aufgrund der repressiven Politik der Sowjetunion in der Zwischenkriegszeit praktisch verlorengegangen waren. Begegnungen ergaben sich am ehesten im Grenzraum zwischen den beiden Teilen Weißrusslands. Darüber hinaus eröffnete eine befristete oder dauerhafte Übersiedlung von Ostlern in den Westen neue Wege. Dafür waren neben den beruflichen Aufstiegschancen auch die desolaten Lebensbedingungen in der Heimat verantwortlich: „Wir überlegten und beschlossen nach Westweißrussland zu gehen, weil alles kaputt war und ich nicht mehr in den Rayon Krupki zurückkehren wollte.“ Die Gruppe der Übersiedler übertrug in den westweißrussischen Alltag all die Ängste und Sorgen, die unter der sowjetischen Herrschaft bereits existierten. In den Interviews erwähnen die Respondenten nur das, womit sie unmittelbar konfrontiert waren. Sie erinnern sich daran, dass sehr viele Menschen während des Bevölkerungsaustausches in den Jahren 1944 bis 1946 nach Polen aussiedelten, um der Kollektivierung der Landwirtschaft zu entgehen. Wie heftig der Kampf mit sogenannten Feinden der Sowjetunion geführt wurde, nahmen sie im Gegensatz zu den Westlern indes nicht wahr. In der Tat waren es die eigenen Erfahrungen mit dem Kolchos-Systems, die den Ostlern die Unterschiede zu den Lebensverhältnissen im Westen bewusst machten. In den Westlern sahen sie „Eigentümer, vermögende Einzelbauern, die europäischer, die Polen sind, die ordentlicher und besser leben“. Trotz der Gefahren, die in Westweißrussland unter anderem in Form bewaffneter Angriffe auf Vertreter der Staatsmacht lauerten, waren die meisten Ostler um Anpassung an die jeweiligen Besonderheiten bemüht. Der „kleine Mann“ war in der Regel kein hochgestellter sowjetischer Beamter und daher bereit, sich in die lokale Gemeinschaft zu integrieren.
3. R EAKTIONEN DER W ESTLER S OWJETISIERUNG
AUF DIE
Diejenigen Westler, die die erneute Ankunft der Sowjets begrüßten, waren durch die Propaganda in die Irre geführt worden. Sie waren nicht darüber informiert, wie die Menschen in der Sowjetunion wirklich lebten. Eine Vorstellung vom wirtschaftlichen Ungleichgewicht zwischen Ost- und Westweißrussland erhielten Westler, als sie Bedürftige aus dem Osten trafen, die bei ihnen Lebensmittel besorgen wollten. Als Ursache wurde die Kollektivierung der Landwirtschaft in der Sowjetunion erachtet. Der öffentlichen Meinung zufolge hatte man in Polen besser leben können, obgleich es auch dort nicht besonders einfach gewesen war. Tatsächlich galten die Kresy in
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DER EHEMALIGEN POLNISCHEN
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Polen als „Armenhaus“. In der Perspektive der Westler sah dies jedoch anders. Eine weit verbreitete Ansicht lautete: „Wer arbeitete, hatte genug.“ Einige Respondenten betonen in den Interviews sogar, dass es in den Kresy keine Armen, sondern nur mittelständische Bauern gegeben habe. Faktisch hatten allerdings nach dem Hitler-Stalin-Pakt gerade die Armen ihre Hoffnungen auf die Sowjetunion gesetzt. Viele andere hatten aber die Lebensbedingungen in Polen akzeptiert und verhielten sich deshalb jeglichen Veränderungen gegenüber skeptisch. Für die Westler hatte die Sowjetisierung sowohl positive als auch negative Seiten. Den Ausschlag gaben pragmatische Gründe. Die Auffassung derjenigen, die erst seit Beginn sowjetischer Herrschaft ein Pferd halten oder ein Studium antreten konnten, unterschied sich wesentlich von denjenigen, denen Land weggenommen wurde und deren Angehörige deportiert wurden. In der Regel überlagerten sich die Wahrnehmungen. Während die gewaltsame Umgestaltung kultureller und wirtschaftlicher Traditionen nachteilig empfunden wurde, erfuhren fadenscheinige Reformen wie die Aufteilung des vermeintlichen Großgrundbesitzes oder die angebliche Reduzierung der Arbeitsanforderungen in den Kolchosen vorübergehend eine wohlwollende Resonanz. Insbesondere diejenigen, die in Polen arm gewesen waren, erblickten in der sowjetischen Herrschaft gewisse Vorzüge: „Wir haben besser als in Polen gelebt. In Polen hatte mein Vater kein Pferd. Er hatte nur eine Kuh. Ein Pferd musste er ausleihen, um Land pflügen zu können. Und als die Russen kamen, war es für meine Eltern besser als in Polen.“ Unter gewissen Umständen, sei es eine schwach ausgebaute Lokalverwaltung, ein Mangel an Parteiaktivisten oder eine räumliche Distanz zur nächsten Stadt, war der Einfluss der Sowjetmacht wenig spürbar. Verstöße gegen staatliche Auflagen resultierten daraus, dass Verantwortliche vor Ort die Wirtschaftspläne nicht immer auf legale Art und Weise erfüllen konnten. Im Endeffekt reichte die Bandbreite von einer „harten“ bis zu einer „weichen“ Sowjetisierung. Vieles war von Beziehungen zu Funktionsträgern abhängig oder davon, wie sich die Lösung von Konflikten nach außen darstellen ließ. Das Operieren mit Potemkinschen Dörfern oder die Vorspieglung falscher Tatsachen standen auf der Tagesordnung. Bemerkenswerterweise waren Westler von Führungspositionen weitgehend ausgeschlossen. Beispielsweise entstammten 1953 in den westweißrussischen Verwaltungsgebieten von 1.175 Parteifunktionären nur 121 der einheimischen Bevölkerung.3 Für das Verhalten der einfachen Westler waren gewöhnliche menschliche Einstellungen maßgeblich. Diejenigen, die für sich und für ihre Ver-
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Hardzienka, Aleh: „Apazycyja ŭ Belarusi (1944-1953)“, in: Žyve Belarusʼ. Biblijatėka hystaryčnych artykulaŭ, siehe http://jivebelarus.net/history/new-history/oposition-inbelarus-1944-1953.html vom 7.1.2011.
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wandten eine sichere Zukunft ausmachen konnten, gaben sich loyal. Diejenigen, die skeptisch blieben, ignorierten die Sowjetmacht nach Kräften oder widersetzten sich. Offener Protest hielt sich angesichts stalinistischer Repressionen indes in Grenzen. Die meisten versuchten durch Anpassungen an das neue System ihren Status zu erhalten oder gar zu verbessern. Während die ältere Generation sich vorsichtig und zurückhaltend verhielt, agierte die Jugend risikofreudig und offensiv. Teils war sie bereit, sich im neuen Staat zu engagieren, teils artikulierte sie ihre Unzufriedenheit.
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R USSIFIZIERUNG
Die Sowjetisierung des westweißrussischen Bildungssystems zeigte sich in der Einführung des kyrillischen Alphabets sowie in der Schwerpunktverlagerung auf die russische Sprache. Offiziell waren die meisten Schulen nach dem Krieg weißrussisch ausgerichtet. Aufgrund Lehrermangels stammte ein Großteil des Personals jedoch aus dem östlichen Teil der BSSR oder aus anderen Sowjetrepubliken. Es handelte sich dabei um Fachkräfte, die das Weißrussische nicht ausreichend beherrschten. Aufgrund dieser Faktoren wurde der Russifizierung des Schulbetriebs Vorschub geleistet. Weil sich diese Tendenz nach dem Vollzug des Bevölkerungsaustauschs mit Polen und der Auflösung polnischer Schulen noch intensivierte, kam es sogar zu Protesten von Vertretern der studierenden Jugend. Wie sich Schüler verhielten, die kaum Russisch konnten, aber in der Sprachenfrage weniger prinzipienfest waren, bezeugen Erinnerungen: „Wir haben angefangen zu lernen, damals konnte man lernen, wie man wollte, deswegen haben wir keine richtige Sprache: weder die weißrussische noch die ukrainische oder die russische. Damals gingen wir in eine russische Schule.“ – „Nach 1939 war es: Die Lehrerin sprach Russisch und wir unsere hiesige Sprache. So, verstehen Sie? Wir konnten doch die russische Sprache nicht. Wir sprachen alle unsere Dorfsprache. Und 1939, als die Russen hierher kamen, zogen alle Lehrer aus Russland, aus dem Osten hierher. So. Sie sprachen alle auf Russisch, und wir antworteten ihnen in unserer Sprache. Aber wir verstanden einander.“ Über die Situation waren sich die sowjetischen Behörden durchaus im Klaren. Einer Lehrerin aus dem Osten wurde bei ihrer Abkommandierung in den Westen folgender Rat mit auf den Weg gegeben: „Die Westler sind ungebildet im Russischen, gehen Sie doch als Lehrerin hin.“ Zur Monopolisierung der Bildung durch den sowjetischen Staat gehörte auch die Verdrängung der Kirche aus dem öffentlichen Leben. Religiöse Traditionen blieben in den Familien erhalten, obwohl die sowjetische Führung insbesondere gegen die katholische Kirche einen harten Kampf führte. In der Regel hingen in den Häusern Ikonen und die kirchlichen Feiertage wurden begangen. Allerdings wurden religiöse Aktivitäten zunehmend im Verborgenen abgehalten. Zwar ließen die Eltern ihre Kinder nach wie vor taufen, doch gingen sie nachlässiger mit der religiösen Erziehung um. Im
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Interesse der beruflichen Laufbahn ließen Gottesdienstbesuche bei der jungen Generation merklich nach.
5. D IMENSIONEN
DES
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In den Fällen, in denen die Bevölkerung ihre Interessen einer erheblichen Bedrohung ausgesetzt sah, war sie durchaus bereit, Widerstand zu leisten, insbesondere bei der Kollektivierung der Landwirtschaft. Eine gängige Taktik war der vorübergehende Rückzug in die benachbarten Wälder. Wegen der Hartnäckigkeit der lokalen Beamten ließ sich damit aber nur vorübergehend etwas ausrichten. Den Bauern Westweißrusslands blieb schließlich keine Wahl. Dem Eintritt in die Kolchose konnten sie sich nur durch die dauerhafte Übersiedlung in die Stadt entziehen. In der Regel wurde durch eine formelle Anpassung an die Machtverhältnisse die Gefahr politischer Repressionen umgangen. Auf diese Weise konnte dem Regime immerhin passiver Widerstand entgegengesetzt werden, etwa durch ein laxes Verhältnis zur Arbeit, durch die Ignoranz von Propagandakampagnen oder durch die Einreichung von Beschwerden an höhere Instanzen. Aktiver Protest bis hin zum individuellen oder kollektiven bewaffneten Kampf resultierte aus lokalen Konflikten und äußerte sich eher spontan. Während der antisowjetische Untergrund noch nationalistische Ziele vertrat, sahen sich unorganisierte Kräfte eher aus der Not der Stunde heraus gezwungen, zu den Waffen zu greifen und ein Leben am Rande der Gesellschaft oder in der Illegalität zu führen. Den antisowjetischen Widerstand vom gewöhnlichen Banditentum abzugrenzen, ist schwierig. Weder Verwaltungsakten in den Archiven noch Antworten in den Interviews vermögen, eine klare Auskunft zu geben. Insgesamt gesehen betrachten die Befragten den Widerstand als unbedeutend. Widerständische werden als flüchtige Straftäter, nicht aber als „Waldbrüder“ beschrieben. Eine positive Auffassung wird nur von denjenigen vertreten, die Verwandte oder Bekannte in den Reihen aufständischer Verbände hatten, oder die sich nach dem Fall der Sowjetunion ein unzensiertes Bild von den Ereignissen machen konnten. Das Problem besteht nach wie vor darin, dass Zeitzeugen verinnerlichte Topoi der sowjetischen Propaganda, wie den Mythos des Partisanenkampfes, rekapitulieren, und sich immer noch scheuen, Konflikte mit der Staatsmacht zu thematisieren. Sie berichten darüber nur mit leiser Stimme oder führen Sätze nicht zu Ende. Dies ist darauf zurückzuführen, dass traumatische Erfahrungen und die unbewusste Angst vor der Verfolgung unzensierter Aussagen zur Vorsicht gemahnen. Diejenigen, die nicht im offenen Konflikt mit dem Regime getreten waren, schützen sich bei der Charakterisierung der Nachkriegszeit mit Floskeln: „Alles gut, denn es gab keinen Krieg“ – „Wir sind einfache Leute, deswegen war es gut so, wie es war.“
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Tatsächlich hatte die Bevölkerung in Westweißrussland ständig zu befürchten, in die Auseinandersetzungen zwischen dem antisowjetischen Untergrund und der Staatsmacht hineingezogen zu werden. Sie war der Willkür und der physischen Gewalt von beiden Seiten ausgesetzt. Daher versuchten die Meisten Konflikte zu vermeiden, indem sie sich neutral verhielten. Mit der Stärkung der sowjetischen Verwaltung und der Schwächung des antisowjetischen Untergrundes distanzierten sich die Einheimischen dann auch immer weiter von den sogenannten „Banditen“.
6. Z USAMMENFASSUNG Die Durchsetzung der Sowjetisierung Westweißrusslands verlief im ersten Nachkriegsjahrzehnt weitgehend problemlos. Überall wurde der sowjetische Lebensstil oktroyiert und der Atheismus propagiert. Der Erfolg gründete sich dabei einerseits auf die Einschüchterung der Bevölkerung durch die Androhung und Ausübung staatlicher Gewalt. Im Zuge des Bevölkerungsaustauschs mit Polen wurde der Untergrundbewegung mit der Abwanderung potentieller Widerstandskämpfer der Rückhalt in der Bevölkerung genommen. Unter diesen Voraussetzungen entwickelte sich ein äußerlicher Konformismus zur maßgeblichen Verhaltensstrategie der Bevölkerung. Im Endeffekt wurden die gleichen ungeschriebenen Gesetze wirksam wie in der alten BSSR. Über politische Probleme wurde nicht öffentlich gesprochen. Brisante Themen wurden nicht einmal vor den eigenen Kindern ausgebreitet. Vor diesem Hintergrund blieb die Sehnsucht der Westler nach einer sicheren Zukunft mit gesellschaftlichen Freiräumen irreal. Stattdessen löste eine Propagandakampagne die nächste ab. Individuelle Interessen ließen sich nur schwer durchsetzen, wenn sie den Vorstellungen des Regimes entgegenstanden. Beispiele aus der Alltagspraxis zeigen, dass der „kleine Mann“ am ehesten durch passiven Widerstand zum Ziel kam. Diesbezüglich glichen sich die Menschen im Westen und Osten des Landes. Das, was sie weiterhin unterschied, waren Traditionen des nationalen Dissenses, der religiösen Freiheiten und der wirtschaftlichen Emanzipation, die in den Kresy der Zwischenkriegszeit noch lebendig waren. Übersetzung von Elizaveta Slepovitch
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L ITERATUR Benecke, Werner: Die Ostgebiete der zweiten polnischen Republik. Staatsmacht und öffentliche Ordnung in einer Minderheitenregion 1918-1939, Köln, Weimar, Wien: Böhlau Verlag 1999. Ciesielski, Stanisław (Hg.): Umsiedlung der Polen aus den ehemaligen polnischen Ostgebieten nach Polen in den Jahren 1944-1947, Marburg: Verlag Herder-Institut 2006. Sword, Keith: Deportation and Exile. Poles in the Soviet Union, 1939-1948, Houndmills, London: Palgrave Macmillan 1994. Zwangsumsiedlung, Flucht und Vertreibung. Atlas zur Geschichte Ostmitteleuropas, Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung 2009.
Blat – „Vitamin B“ im sozialistischen Weißrussland? Gesellschaftskritik in der Satirezeitschrift Woschyk E LIZAVETA S LEPOVITCH
WESHALB WIRD DER APOSTEL PETRUS IN DIE HÖLLE VERTRIEBEN? ER HAT MENSCHEN ÜBER BLAT INS PARADIES PASSIEREN LASSEN. TITELBLATT DER ZEITSCHRIFT WOSCHYK, 1968, HEFT 7
Das umgangssprachliche, eher negativ konnotierte Wort blat, dessen etymologischer Ursprung bis heute durchaus umstritten ist, hat sich mittlerweile als wissenschaftlicher Begriff etabliert. Blat meint die Verwendung informeller sozialer Netzwerke und Beziehungen, um knappe Waren und Dienstleistungen zu erhalten und lästige Formalitäten zu umgehen.1 Über Blat zu verfügen bedeutete, Einfluss und Schutz über private Kontakte (Bekannte, Freunde) zu genießen. Letztere basierten auf Sympathie und Vertrauen und garantierten gegenseitige Hilfe. Beim Blat handelte es sich um eine Art Tauschhandel ohne Geld, um einen Austausch von Gefälligkeiten, der auf persönlichen Beziehungen beruhte. Ein Sowjetbürger hatte sein ganzes Leben mit Blat zu tun und war, erwünscht oder unerwünscht, darauf angewiesen. Weil Geld in einer Planwirtschaft nicht als das wichtigste Element der wirtschaftlichen Transaktionen funktionierte, übernahm Blat die Rolle der Finanzen. Durch Verwendung informeller sozialer Netzwerke ließen sich diverse Alltagsprobleme lösen, der berufliche Aufstieg beschleunigen oder einfach eine höhere Lebensqualität erzielen. Blat, „Vitamin B“ sowjetischer Art, war ein kennzeichnendes
1
Ledeneva, Alena V.: Russia’s Economy of Favours. Blat, networking and informal exchange, Cambridge: Cambridge University Press 1998, S. 1.
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Merkmal des sozialistischen Systems. Die Kommunistische Partei und der sowjetische Staat nahmen diesen Sachverhalt als eine negative gesellschaftliche Entwicklung wahr, die es zu beseitigen galt. Aus diesem Grund setzte sich die weißrussische Satirezeitschrift Woschyk (Vožyk/„Igel“) kritisch mit dem sozialistischen „Vitamin B“ auseinander.
1. W OSCHYK : D IE WEISSRUSSISCHE S ATIREZEITSCHRIFT Die Satirezeitschrift Woschyk erschien seit August 1945 in Minsk. Das Periodikum wurde vom Zentralkomitee der Kommunistischen Partei Weißrusslands in weißrussischer Sprache herausgegeben. Diese Besonderheit lag darin begründet, dass viele weißrussische Künstler mit dem Periodikum zusammenarbeiteten. Einerseits war Weißrussisch insbesondere für Schriftsteller Alltags- und Schriftsprache. Andererseits wurde diesem Presseorgan eine erhebliche propagandistische Bedeutung beigemessen: Es sollte das Publikum im In- und Ausland auf die Förderung der weißrussischen Sprache und Kultur in der Belorussischen Sozialistischen Sowjetrepublik (BSSR) hinweisen. Zu den Mitarbeitern dieser Zweiwochenschrift gehörten die bekanntesten Schriftsteller und Dichter der Republik: Jakub Kolas, Michas Lynkou, Janka Bryl, Pjatro Hlebka, Pimen Pantschanka, Maksim Tank oder Ryhor Baradulin. Eine Zeitlang war der Satiriker und Fabeldichter Kandrat Krapiwa Chefredakteur der Zeitschrift. Der Herausgeber nutzte das Periodikum, um negative gesellschaftliche Entwicklungen anzuprangern und die Bevölkerung im kommunistischen Geiste zu erziehen. Dementsprechend befasste sich die Zeitschrift mit dem Bürokratismus, entlarvte Gauner und Schwindler, verurteilte Alkoholiker und Schmarotzer, geißelte Religion, vor allem Geistliche, stellte karikierend die „äußerst schlechte“ Lage im westlichen Ausland dar, reagierte auch auf die aktuellen außenpolitischen Entwicklungen und spottete über westliche kulturelle Einflüsse in der BSSR. Bemerkenswerterweise befasste sich das Periodikum ausführlich und dabei nicht selten auf der Titelseite mit dem Phänomen des Blat. Damit wurde offiziell eingestanden, dass Blat in der BSSR existierte, weit verbreitet war und bekämpft werden sollte.
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GEGEN
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In der Zeitschrift findet man eine Fülle von Publikationen, die Blat explizit oder implizit behandeln: Karikaturen, satirische Feuilletons, Leserbriefe, Kurzgeschichten, Berichte aus der Provinz etc. Durch Auswertung dieser Publikationen können die wichtigsten Bereiche ausgemacht werden, in denen Blat in der Nachkriegszeit verbreitet war. Aus der Sicht des Periodi-
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kums konzentrierte sich das Problem vor allem auf den Handel und den Dienstleistungsbereich sowie auf das Bildungs-, Gesundheits- und Justizwesen. Bemerkenswerterweise handelte es sich um diejenigen Bereiche, in denen der sozialistische Staat chronische Mängel aufwies. Darüber hinaus charakterisierte das Periodikum die wichtigsten Regeln des Blat, schilderte die einzigartige Blat-Sprache und setzte sich mit seinem Einfluss auf Freundschaftsbeziehungen auseinander. Handel und Dienstleistungsbereich Anhand der genannten Publikationen lässt sich die Rolle des Blat im sowjetischen Handel sowie im Dienstleistungsbereich bzw. in der Verteilung und Umverteilung von Gütern und Dienstleistungen rekonstruieren: Ein allgegenwärtiges Defizit (von Wurst bis Theaterkarten) und lange Warteschlangen waren die Ursachen von Blat. Verkäuferinnen und Verkäufer sowie Direktoren von Geschäften und Lagerleiter waren in Blat-Praktiken am stärksten involviert. Illegal beziehungsweise halblegal wurden Waren (im Geschäft unter der Theke oder beim Diensteingang) an bekannte und verwandte Personen verkauft. Letztere Besonderheit spiegelt eine im Jahre 1984 veröffentlichte Karikatur markant wider, in der folgendes Gespräch auf der Straße nachgezeichnet wurde: „- Was gibt’s Neues im Geschäft? - Das hängt davon ab, zu welchem Eingang du gehst.“ Karikaturen aus dem Woschyk zufolge waren Blat-Praktiken auch für Kinder offensichtlich. Beispielsweise fragte auf der Titelseite vom März 1981 ein kleiner Junge, ob seine Mutter ihn unter dem Ladentisch gekauft habe, genauso wie im Ausland hergestellte modische Jeans. 1984 belehrte ein Kind seine Mutter dahingehend, dass ein im Geschäft angeblich nicht vorhandenes Spielzeug beim „schwarzen Eingang“ (wr. čorny uvachod), also beim Diensteingang, erworben werden könne. Die Zeitschrift ließ auch nicht außer Acht, dass Blat-Praktiken im Handel und Dienstleistungsbereich den gesellschaftlichen Aufstieg von Vertretern niederer Sozialschichten in die sogenannte Blat-Elite ermöglichten. Es handelte sich um Kontrolleure, Leiter der Lebensmittel- und Haushaltswarenlager, Verkäufer und Verkäuferinnen, die Zugang zu Defizitwaren hatten, Mitarbeiter von Restaurants, Kneipen sowie von Schneider- und anderen Werkstätten. Zu dem Personenkreis, der über Zugang zu Ressourcen verfügte und von Blat profitieren konnte, gehörten darüber hinaus Angestellte in den Verwaltungen und Mitglieder von Gewerkschaften, die u.a. für die Verteilung von Ferienschecks zuständig waren. Summa summarum trifft eine populäre sowjetische Redewendung den Kern der Sache: „Wer etwas be-
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wacht, der macht davon Gebrauch.“ Einige Beispiele sollen diese Entwicklung veranschaulichen. 1983 thematisierte eine Karikatur im Woschyk die Auswüchse des Überwachungssystems: Ein Betriebsdirektor bekommt es mit der Angst zu tun, weil ein Roboter statt eines Menschen die Revision übernehmen soll. Denn ein Roboter lasse sich nicht bestechen! 1986 und 1987 standen die Lagerleiter in einer Reihe von Karikaturen im Mittelpunkt: Karikatur 1. Der Bräutigam fragt seine Braut vor der Trauung: „- Ist dein Vater tatsächlich Lagerleiter?“ Karikatur 2. Die Mutter fragt den Vater wütend: „- Was für ein Handelslagerleiter bist du, wenn du deinem Sohn die Kosmonautenkarriere nicht ermöglichen kannst?!“ Karikatur 3. Schauspieler im Theater: „- Wir müssen heute unser Bestes geben. Die ganze Elite mit dem Lagerleiter an der Spitze ist da!“ Ein ominöser Aspekt, der im Zusammenhang mit Blat immer wieder thematisiert wird, ist die Rolle des großen Unbekannten beim Bezug von Defizitwaren: Man berufe sich auf ihn, um seinen Forderungen Nachdruck zu verleihen. Dabei sei die persönliche Bekanntschaft mit dieser Person mitunter gar nicht vonnöten. Ihr Name sei ein Kennwort, ein Schlüssel, der viele Türen öffne. Sie gewährleiste den Kauf von exotischen Bananen oder die Anfertigung eines modischen Mantels. Nicht selten wurde eine anonyme „starke Hand“ oder „behaarte Pfote“ erwähnt. Erstere fand in den Heften der Stalinzeit ihren Widerhall, letztere tauchte erst in den Perestroika-Jahren auf. So wurde in einem satirischen Beitrag 1988 vom „Homo Lapiens“ (von wr. lapa, d.h. „Pfote“) gesprochen. Die Pfote sei wie der Geist Gottes ganz oben angesiedelt, in den Ministerien, in der Hauptstadt. Es gäbe „einfache“ und „behaarte“ Pfoten. Während von einfachen Pfoten Hilfe in relativ unkomplizierten Situationen zu erwarten sei, hätten behaarte Pfoten die Möglichkeit, Wunder zu bewirken. Bildungswesen und Karriere Das Bildungswesen wurde vom Woschyk als Lebensbereich dargestellt, der von Blat-Praktiken besonders stark geprägt war. Das Periodikum zeigte, wie Eltern ihre Kinder an Fach- und Hochschulen unterbrachten, und wie sie ihnen halfen, Prüfungen zu bestehen und den obligatorischen Arbeitseinsätzen nach dem Studium, etwa als Lehrer auf dem Land, zu entgehen. In Karikaturen aus den Jahren 1948 und 1954 wurden Gespräche zwischen Hochschulabsolventen geschildert:
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Karikatur 1. „- Verstehst du, ich habe mein Diplom, den Kopf, die Hände, aber man lässt mich nicht in der Stadt. - Du solltest nach 'Händen' in Institutionen suchen. Mir ist es gelungen, in der Stadt zu bleiben.“ Karikatur 2. „- Ninel, freue dich für mich! Ich fahre nicht mehr aufs Land. -… - Der Vater ist für mich gefahren … ins [Bildungs-]Ministerium.“ Der zunächst unverständliche Witz erscheint dann geistreich, wenn in Betracht gezogen wird, dass das Bildungsministerium für die Arbeitsverteilung der Hochschulabsolventen zuständig war. Über die eigene Karriere mussten sich Töchter und Söhne aus gutem Hause, d.h. von Eltern mit guten Beziehungen, – so suggeriert der Woschyk – keine Gedanken machen. Gesundheitswesen Die sowjetische Propaganda betonte zwar unermüdlich die tiefgreifenden Erfolge des Gesundheitswesens. Doch war die tatsächliche Situation meilenweit vom Propagandabild entfernt. Dieser Sachverhalt erfährt in mehreren Publikationen des Woschyk eine Bestätigung, obgleich das Thema „Blat und Medizin“ nicht so häufig wie die Themen „Blat und Handel“ oder „Blat und Dienstleistungen“ Erwähnung finden. Blat wurde genutzt, um Arzneimittel zu erwerben, die in den staatlichen Apotheken kaum oder überhaupt nicht vorhanden waren, um von angesehenen Fachkräften behandelt zu werden, um eine Diagnose zu erhalten, die vom Wehrdienst befreite oder bestimmte Privilegien (beispielsweise bei der Wohnungsverteilung) mit sich brachte. Sogenannte Schmarotzer ließen sich mit Hilfe von Blat krankschreiben. Einen solchen Fall problematisiert eine Karikatur aus dem Jahre 1983: Als eine Ärztin eine Schachtel Pralinen überreicht bekommt, „merkt“ sie plötzlich, dass ihre Patientin immer noch nicht arbeitsfähig ist. In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass Pralinen oder Schokolade in der Sowjetunion eine übliche Dankesgeste waren. Dienstleistungen und Gefälligkeiten wurden auch mit Wurst und Cognac, Torten, Blumen oder Parfüm vergolten. Derartige Verbindlichkeiten wurden vom Woschyk ironisch als unabdingbarer Bestandteil von Blat-Beziehungen gekennzeichnet. Justizwesen Im Gesundheitswesen erwies sich Blat als nützlich, im Justizwesen garantierte Blat Narrenfreiheit. Eine Karikatur aus dem Jahre 1965 bildete folgendes Gespräch zweier junger Arbeiter ab:
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„- Steh auf, eine Kommission aus dem Ministerium ist da. - Na und, mein Vater ist Staatsanwalt.“ Bei der Schilderung von Blat im Justizwesen prangerte der Woschyk ausnahmsweise mit der gebotenen Vorsicht und Zurückhaltung einzelne Richter und Anwälte an, die aus Profitgier bereit waren, bei gesetzwidrigen Handlungen ein Auge zuzudrücken. Blat und seine Regeln. Die Blat-Sprache Im Woschyk wurden Redewendungen wiedergegeben, die die Regeln des Blat umschrieben. Als wichtigstes Merkmal galt die Gegenseitigkeit: „Wenn du mir hilfst, helfe ich dir“ oder „Eine Hand wäscht die andere“. Das Wechselverhältnis von Leistung und Gegenleistung spiegelt sich an der folgenden Aussage wider: „Wer gut schmiert, der fährt gut.“ Dass Blat mit freundschaftlichen und verwandtschaftlichen Beziehungen verbunden war, lässt sich an einer Reihe von Redewendungen ablesen: „Ein Verwandter gibt immer einem anderen Verwandten die Hand.“ – „Kann man denn einem Verwandten nicht helfen?“ – „Habe nicht hundert Rubel, habe lieber hundert Freunde.“ Oder sogar: „Habe nicht hundert Rubel, habe lieber einen [mächtigen] Freund.“ Die Beschreibung von Blat unterlag darüber hinaus einer Militarisierung der Sprache: Waren seien nicht gekauft, sondern beschafft worden. Bekannte und Verwandte seien durchgeboxt und untergebracht worden. Manchmal wurde auf den Begriff „Blat“ verzichtet und stattdessen mit den Bezeichnungen „Bekanntschaften“ oder „Beziehungen“ operiert. Letzteren wurde dabei offenbar eine größere Bedeutung beigemessen. Im Jahre 1991 hieß es: „Bekanntschaften sind eine Kleinigkeit, man braucht Beziehungen.“ Blat und Freundschaft Woschyk-Publikationen zeigen, dass „unsere Leute“ und „notwendige Leute“, also Verwandte, Freunde und Bekannte bei Beziehungen oder BlatPraktiken eine zentrale Rolle spielten. Karikaturen aus den Jahren 1971, 1986 und 1990 zeigen die Dimensionen auf: Karikatur 1. Gespräch zwischen Freundinnen: „-Wie hast du diese Stiefel besorgt? - Die Frau meines Onkels hat eine Bekannte, die mit dem Cousin des Geschäftsleiters verheiratet ist.“ Karikatur 2. Gespräch zwischen zwei Verkäuferinnen: „-Soll ich diese Stiefel zum Ladentisch bringen? - Spinnst du? Ich habe noch nicht alle Bekannten angerufen.“
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Karikatur 3. Anzeige in einem Geschäft: „Helden der Sowjetunion und der sozialistischen Arbeit, Ordensträger und Teilnehmer des Großen Vaterländischen Krieges, Kriegsversehrte und ‚unsere Leute‘ werden außer der Reihe bedient.“ Der Woschyk problematisierte auch die Instrumentalisierung von Beziehungen, d.h. die in der Gesellschaft verankerte Tendenz, sich um die Knüpfung und Aufrechterhaltung von Freundschaften zu Blat-Zwecken zu bemühen. Es kam darauf an, von nützlichen Bekanntschaften profitieren zu können und gleichzeitig selbst als Blat-Partnerin beziehungsweise Blat-Partner attraktiv zu erscheinen. Mit kleinen Geschenken wurde bei bestimmten Anlässen um die Gunst wichtiger Leute geworben. Gemeint waren Funktionäre, Ärzte, Hochschullehrer, Lagerleiter und Verkäuferinnen. Sobald jemand aus dieser Riege seinen Platz verlor, fiel er indes aus dem System heraus. Ehemalige Freunde und Bekannte kehrten sich von ihm ab. Ein solcher Fall wurde im Jahre 1974 in einer Kurzgeschichte „Treffen der Freunde“ geschildert: „- Hallo Wasja! Wo arbeitest du jetzt? - Im Ministerium! - Wollen wir Cognac trinken gehen? Ich lade dich ein! Und welche Stelle hast du da? - Ich saniere den Boden im Flur! - Weißt du, Wasja, ich habe meinen Geldbeutel vergessen. Trinken wir irgendwann nächstes Mal.“ Während der fiktive Bauarbeiter Wasja lediglich auf einen Cognac verzichten musste, verspielte eine Verkäuferin in einem Feuilleton vom Anfang der achtziger Jahre sogar die Chance, ihren Traummann kennenzulernen. Als ein junger Mann versucht mit ihr anzubändeln, erwägt die misstrauische Frau, es gehe ihm ausschließlich um den Zugang zu Defizitwaren. Dem Woschyk zufolge trug Blat dazu bei, zwischenmenschliche Beziehungen zu belasten: Wenn jemand einen mächtigen Freund anrufe, um mit ihm zu plaudern, vermute dieser, er werde aus bestimmten pragmatischen Gründen angerufen. Blat in der Zeit der Perestroika Bis in die erste Hälfte der achtziger Jahre kritisierte der Woschyk lediglich einzelne Personen, die sich über Blat zu bereichern trachteten. Mit Beginn der Perestroika wagte das Periodikum, das auf Korruption beruhende System insgesamt in Frage zu stellen. Einerseits wurden Menschen verspottet, die auch dann auf Blat zurückgriffen, wenn es überhaupt nicht nötig war. Andererseits wurde die Lebendigkeit des Blat darauf zurückgeführt, dass es
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sich in manchen Fällen als hilfreich erwies. Während der Wirtschaftskrise an der Wende von den achtziger zu den neunziger Jahren nahm die Bedeutung des Blat zu. In der BSSR wurde die Situation durch die Folgen der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl noch verschärft. Voller Sarkasmus zeigte der Woschyk das Wirken von Blat bei der Verteilung von Hilfsgütern aus dem Ausland und bei Reisen von Kindern aus den verseuchten Regionen ins Ausland sowie bei der Verteilung von Wohnungen an Evakuierte.
3. Z USAMMENFASSUNG Blat gehörte zu den Phänomenen, die das Alltagsleben der Bevölkerung in der BSSR maßgeblich prägten. Seine rasante Verbreitung spiegelt krisenhafte Symptome in der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklung der Nachkriegszeit wider. Die weißrussischsprachige Zeitschrift Woschyk, die im Kulturleben eine bemerkenswerte Rolle spielte, bekämpfte Blat im Auftrag des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei Weißrusslands. Um diese Aufgabe zu erfüllen, wurden zahllose Karikaturen und Satiren veröffentlicht. Damit wurden Verfehlungen im Handel und Dienstleistungsbereich sowie im Bildungs-, Gesundheits- und Justizwesen angeprangert. Kontrolleure, Lagerleiter und Direktoren wurden als Blat-Elite entlarvt. Das Minsker Periodikum war als Element der sowjetischen Propaganda bis zur Perestroika darum bemüht, Blat als Fehlverhalten von Einzelpersonen abzustempeln, ohne damit eine Handlungsmaxime für breite Bevölkerungsschichten zu verbinden. Kritisiert wurden ein ungeschickter Lagerleiter oder ein bereits auf das Abstellgleis geschobener Kolchosvorsitzender, jedoch nicht das sowjetische Handelswesen oder die Kollektivwirtschaften auf dem Lande. Die Veröffentlichungen besiegelten in der Regel den sich ohnehin abzeichnenden Untergang der Blat-Elite. Vor diesem Hintergrund lautete die Botschaft des Woschyk, Blat sei lediglich eine unscheinbare, aber schädliche Bakterie im ansonsten kerngesunden Körper der Sowjetunion, über den die Kommunistische Partei wache. Erst unter dem Einfluss der Perestroika und im Angesicht der Folgen der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl begann sich der Woschyk im übertragenen Sinne mit der körperlichen Hygiene zu befassen. Fortan wurden Probleme nicht mehr nur noch auf das Fehllaufen kleiner Rädchen im System, sondern auf den schadhaften Motor und die marode Maschinerie zurückgeführt. Viele Menschen lasen den Woschyk mit Vergnügen. Dass die Zeitschrift einen Beitrag zur Bekämpfung des Blat leisten konnte, glaubte indes kaum jemand. Die Leser begriffen Blat in der Regel als eine Ausgeburt des Staatssozialismus. Es gab jedoch auch Bürger, die in das Periodikum Hoffnungen auf eine Verbesserung der Lage setzten. In Briefen an die Redaktion schilderten sie markante Blat-Fälle. Nicht selten geriet die Zeitschrift dadurch in die Situation, dem Denunziationswesen Vorschub zu leisten. Neid und Missgunst waren in vielen Fällen die Motive für einen Leserbrief, der im
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Interesse der sozialen Gerechtigkeit privilegierte Bevölkerungsgruppen anklagte. Im Endeffekt verlor der Woschyk, der sowjetweißrussische „Igel“, seinen Kampf gegen den Blat. Wie bei dem Wettlauf zwischen Hase und Igel handelte es sich um einen Kampf, der nicht zu gewinnen war. Anders als in der Fabel hatte in der Sowjetunion die Bevölkerung in die Rolle des Hasen schlüpfen müssen, der sich den Anfeindungen des Igels nur durch Unterlaufen hatte erwehren können. Blat zählte zu den eigensinnigen Überlebensstrategien, die die Bevölkerung dem Sozialismus entgegenstellte. Er formte den Charakter des Homo sovieticus, der seine Zählebigkeit bis heute hin immer wieder unter Beweis stellen muss.
L ITERATUR Bugrova, Irina: Politische Kultur in Belarus. Eine Rekonstruktion der Entwicklung vom Großfürstentum Litauen zum Lukašenko-Regime, Mannheim: FKKS 1999. Ledeneva, Alena V.: Russia’s Economy of Favours. Blat, networking and informal exchange, Cambridge: Cambridge University Press 1998. Lovell, Stephen u.a. (Hg.): Bribery and Blat in Russia. Negotiating reciprocity from the middle ages to the 1990s, London: Macmillan 2000.
Von der Begegnung Davids mit dem sowjetischen Goliath. Kommunismus und Volksfrömmigkeit in Belarus R AYK E INAX
Bis zum Zweiten Weltkrieg stellte Belarus in ethnischer und religiöser Hinsicht einen Flickenteppich dar. Diese Feststellung soll keineswegs ein Idyll suggerieren, als ob das alltägliche menschliche Zusammenleben in einer vormodernen, ruralen Gesellschaft im Gegensatz zur industriell-urbanen Lebenskultur frei von jeglichen Problemen gewesen wäre. Nichtsdestotrotz war die Moderne bis dato noch nicht mit all ihren hässlichen, verwerflichen und bedrohlichen Begleiterscheinungen bis in die weißrussische Peripherie vorgedrungen. Diesen „Vorzug“ hatte „die Belarus“ (Belarusʼ als ursprüngliche feminine Bezeichnung für das Land und seine Bewohner) mit anderen europäischen Regionen durchaus gemein. Der Verlauf des Zweiten Weltkrieges warf aber, angefangen mit dem sowjetischen Einmarsch in die zu „Westweißrussland“ (Zapadnaja Belorussija) deklarierten polnischen „Ostgebiete“ (kresy wschodnie) vom September 1939, diese traditionellen, ländlichen Ordnungsvorstellungen komplett über den Haufen. Nach Kriegsende standen politische und soziale Weichenstellungen für das „wiedervereinigte Weißrussland“ an, welche der stalinistischen Deutung einer vermeintlich prosperierenden und glücklichen sowjetischen Völkergemeinschaft folgten. Das alles sollte darüber hinwegtäuschen, dass die Belorussische Sozialistische Sowjetrepublik (BSSR) von 1944 einen maximal verwüsteten Landstrich im Westen der Sowjetunion darstellte, dessen Vorkriegsbevölkerung zu großen Teilen tot oder außer Landes war. Das Territorium der Sowjetrepublik wurde bei Kriegsende zunächst an der Westgrenze arrondiert. Die Moskauer Führung versprach sich davon die Lösung einer Reihe von virulenten Problemen, war doch der Großteil der Verzichtsgebiete rund um die Stadt Belastok (poln. Białystok) mit katholischen Weißrussen besiedelt. Zur Eingliederung der östlichen Grenzmarken der zweiten polnischen Republik in die Sowjetunion gehörte des Weiteren
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ein umfangreicher Bevölkerungsaustausch mit der Volksrepublik Polen. Vorrangiger Anlass für das stalinistische Regime war die Sicherung des Grenzgebietes. Zwischen 1945 und 1947 verließen ca. 274.200 Polen die BSSR, im Gegenzug wanderten lediglich 37.000 Weißrussen zu. Vor allem im Gebiet Grodno (wr. Hrodna), aber auch in anderen Regionen der Westgebiete verödeten zumindest zeitweilig viele kleinere Städte und Dörfer. In Polen selbst verblieben vermutlich noch mehrere hunderttausend Weißrussen, denen eine Repatriierung aus nachvollziehbaren Gründen nicht gerade erstrebenswert erschien. Die einsetzende Sowjetisierung bedeutete insbesondere für die westlichen Regionen der BSSR die Nationalisierung der Industrie und des Handels, die Enteignung der dezimierten alten Eliten, die Paralysierung der örtlichen Intelligenzija und die Kooptation neuer, zuverlässiger Verwaltungskader. Daran anknüpfend stellte jedoch die Kollektivierung der landwirtschaftlichen Produktion die größte politische, sozioökonomische und organisatorische Herausforderung der Nachkriegszeit dar. Die Kolchosen wurden in der Regel auf den Resten derjenigen errichtet, die bereits 1940/41 im sowjetischen Buchungssystem existiert hatten. Statt eines kontinuierlichen Aufbaus entstand aber wiederum vielerorts nur Stückwerk. Die Kollektivierung war erst Ende des Jahres 1952 – auf dem Papier – nahezu vollständig abgeschlossen. Aber im Vergleich zu anderen sowjetischen Anbaugebieten war die BSSR auch danach noch für lange Zeit ein Notstandsgebiet. Was nun folgte, waren erhebliche soziale Umwälzungen. Die enteigneten, ihrer Wurzeln beraubten Bauern versuchten in Massen, in die vom Krieg zerstörten Städte zu emigrieren. Deshalb setzte erst nach dem Zweiten Weltkrieg in der BSSR, vor allem im bislang ruralen Westen der Republik, die Urbanisierung ein, zunächst zögerlich und ab den fünfziger Jahren immer massiver. Die wirtschaftliche Entwicklung der Republik war ebenfalls einem starken Wandel unterworfen, wobei Maschinenbau und Metallverarbeitung dominierten. Die Industrialisierung der Republik erfolgte damit im gesamtsowjetischen Kontext. Davon ist Belarus bis heute sozioökonomisch stark geprägt. Die Vielfalt an Religionsgemeinschaften erschwerte hingegen das Vordringen der sowjetischen Moderne in das belarussische Dorf. Wie reagierte die Parteiführung unter Chruschtschow darauf und welche Erfolge zeitigte die aggressive „wissenschaftlich-atheistische Propaganda“ in der BSSR in den fünfziger und sechziger Jahren?
1. R ELIGIONSPOLITIK
UNTER
C HRUSCHTSCHOW
Trotz des Furors, mit dem der Zweite Weltkrieg auf weißrussischem Territorium gewütet hatte, war vorzugsweise im westlichen Landesteil, also in Gebieten, die erst 1944 dauerhaft der BSSR einverleibt wurden, und welche demzufolge die Zwangskollektivierungen der dreißiger Jahre und den anschließenden Großen Terror nicht erlebt hatten, eine recht vielfältige Kultur
K OMMUNISMUS UND V OLKSFRÖMMIGKEIT
IN
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an Religionsgemeinschaften erhalten geblieben. In der unmittelbaren Nachkriegszeit war das Regime zu sehr mit anderen Aufgaben belastet, um diesem Problem größere Aufmerksamkeit zu schenken. Paradoxerweise war es dem ambitionierten „Entstalinisierer“ Nikita Chruschtschow vorbehalten, der Religion, und damit grundsätzlich allen Religionsgemeinschaften und Glaubensrichtungen, den unversöhnlichen ideologischen Kampf anzusagen. Ab 1958, nachdem er alle politische Macht unangefochten in seiner Person vereinigt hatte, ging er an die Verwirklichung seines kommunistischen Zukunftskonzepts, welches u. a. die verschärfte Bekämpfung der als rückständig betrachteten religiösen Überbleibsel vorsah. Die materialistische Weltanschauung bildete die Grundlage allen ideologischen Eifers gegenüber den Religionen in der Sowjetunion. Deren Tage waren aber angesichts des vermeintlich rasanten Aufbaus einer kommunistisch-atheistischen Gesellschaftsordnung gezählt, und die Gläubigen galten als bewusste oder unbewusste Träger von Ansichten und Bräuchen, die dem Sozialismus fremd waren. Die atheistische Erziehung entwickelte sich zu einem der zentralen Prinzipien bei der schulischen und wissenschaftlichen Ausbildung, und wurde nicht zuletzt im neuen Programm der Kommunistischen Partei (KPdSU) von 1961 propagiert. Auch der Staatsapparat und mit ihm die sowjetische Gesetzgebung wurden in den Dienst des ideologischen Feldzugs gestellt. Die unmittelbaren Zeugnisse religiösen Lebens im Lande, wie die Klöster und Kirchen, sollten mit administrativer Hilfe ihre Tätigkeit möglichst rasch einstellen. Von Beginn an standen auch die Geistlichen im Fokus der Auseinandersetzung. Die rasch angepasste Gesetzeslage blieb so schwammig, dass es den Kirchenbehörden ein Leichtes war, den Kirchenvorstehern oder einzelnen Gläubigen einen eklatanten Gesetzesverstoß nachzuweisen. Damit war der Entzug der amtlichen Registrierung für eine Glaubensgemeinde oder den Geistlichen der absoluten Willkür der Behörden unterworfen. War die Registrierung der Gemeinde erst einmal annulliert, besaß diese keine legale Existenzgrundlage mehr. Somit kamen die Behörden rasch dem Hauptziel näher: die maximale Dezimierung von Kirchen und Glaubensgemeinschaften.
2. D ER „K IRCHENKAMPF “
IN DER
B SSR
All diese Phänomene bündelten und potenzierten sich in der BSSR, wo russisch-orthodoxe, katholische, evangelische und baptistische, jüdische sowie tatarisch-muslimische Glaubensgemeinschaften zumindest formal – wie in der gesamten Sowjetunion – legal tätig sein konnten. Die Gruppierung der Altgläubigen wurde ebenfalls legalisiert und damit wenigstens geduldet. Pfingstler bzw. die Pfingstgemeinden standen prinzipiell vor der Alternative, eine Zwangsgemeinschaft mit den Baptisten einzugehen, oder eine Existenz im Untergrund aufzubauen. Die Zeugen Jehovas, die Adventisten des
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siebten Tages und viele andere (Splitter-)Gruppen waren dagegen von einer Registrierung ausgeschlossen und somit grundsätzlich illegal. Gegen diese Sekten mit ihrem angeblich fanatischen, gesellschaftsfeindlichen und antisowjetischen Charakter, gingen die Behörden vor allem mit der Härte des Strafgesetzes vor. Dies umfasste auch die Überwachung und gegebenenfalls „Zersetzung“ durch das Komitee für Staatssicherheit (KGB). Vordergründig zielte dieses Unterfangen auf den Aberglauben, die gesundheitliche Schädigung der Sektenmitglieder durch das Hervorrufen von Trancezuständen und ihre Verweigerung gegenüber dem gesellschaftlichen Leben beziehungsweise gegenüber der Erfüllung ihrer staatsbürgerlichen Pflichten. In Wahrheit war den Behörden wohl eher suspekt, dass sie auf diese religiösen Gruppen keinerlei Zugriff hatten, sodass als letztes Mittel nur die Kriminalisierung blieb. In ihrem Streben nach atheistischem Purismus wusste sich die weißrussische Partei- und Staatsführung durchaus mit der Moskauer Chefetage einig. Auch in der BSSR stellten besonders die Sekten den ideologisch anvisierten Feind dar. Deren Gläubige galten als einfältig und rückständig einerseits, oder andererseits als willenlose Geschöpfe in den Fängen gewissenloser Sektengurus. Der Grund für derartige Zuschreibungen dürfte aber am triftigsten in der Verweigerung von Steuerzahlungen sowie in der Absage an den Armeedienst oder an die Mitgliedschaft in sowjetischen Organisationen und Verbänden zu finden sein. Immer wieder stand ihr angeblich fanatischer Glaube zur Debatte, der die Kinder lehre, nicht zur Schule zu gehen, und jegliche medizinische Behandlung ablehne. Aber auch der Schließung einzelner Kirchen und Gebetshäuser der legal tätigen Sprengel durch die lokalen Behörden waren von Amts wegen kaum Grenzen gesetzt. Formal triftige Gründe ließen sich immer herbeiziehen: wegen Leerstands, mangelhafter sanitärer Bedingungen, Baufälligkeit, Verstoßes gegen die Brandschutzbestimmungen, steuerlicher Zahlungsunfähigkeit usw.; oder auf Grund dessen, dass für die Gebäude eine andere Verwendung oder gar der Abriss vorgesehen war. Oft bedurfte es aber nicht einmal einer Begründung, um den Gläubigen ihren Gebetsraum und damit ihre unmittelbare Existenzberechtigung als Gemeinde zu nehmen. Wie überall in der Sowjetunion hatte die orthodoxe Kirche in der BSSR besonders starke Verluste zu verzeichnen. Eine der wichtigsten Einnahmequellen, der Erlös aus dem Kerzenverkauf, wurde zum Beispiel so extrem besteuert, und andere Abgaben gleichzeitig erhöht, dass die finanziellen Mittel der Gemeinden drastisch sanken und die Insolvenz drohte. Nicht selten sammelten die Gläubigen daher – nach geltendem Sowjetrecht illegal – zusätzliche Geldbeträge ein, um die Gehälter der Geistlichen aufbessern und die Kirchen in einen würdigeren Zustand versetzen zu können. Mitunter sollte die Kollekte auch dazu dienen, den Bevollmächtigten der staatlichen Kirchenbehörde nachsichtig zu stimmen.
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3. ALLTAG UND RELIGIÖSE P RAXIS EINER S OWJETREPUBLIK
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Einer der Gründe für das Überleben der Glaubensgemeinschaften ist sicherlich in der tief verwurzelten Volksfrömmigkeit beziehungsweise in der Religiosität innerhalb breiter Bevölkerungskreise zu suchen. Im Gegensatz zum Klerus, den die Behörden als Feindbild vor Augen hatten, und den sie stigmatisieren, schikanieren oder mit gewaltsamen Mitteln ausschalten konnten, war das religiöse Verhalten der Laien eben kaum zu kontrollieren. Diese Volksreligiosität äußerte sich im alltäglichen religiösen Brauchtum der Gläubigen. Im atheistischen Staat entstanden dadurch automatisch Spannungen. Selbst unter Stalin führte die Anwendung brachialer Gewalt zu keiner dauerhaften Lösung, eben weil auf eine relative Bevölkerungsmehrheit Rücksicht zu nehmen war. Ungeachtet dessen, dass die freie und öffentliche Ausübung von Religion umso stärker reglementiert und sanktioniert wurde, besaßen viele Gläubige sowieso ein distanziertes Verhältnis zur Amtskirche. Die überwiegend bäuerlich ausgeprägte Religiosität war ein heterogenes Phänomen. Sie manifestierte sich vor allem in der täglichen Einhaltung religiöser Riten in den Häusern, im Ikonen- und Aberglauben und in der Abhaltung religiöser Feiertage. Der dörfliche Alltag war auch nach dem Zweiten Weltkrieg noch eng mit der Scholle, dem Vieh, klimatischen Zyklen und Schutzheiligen verbunden. Auch Parteimitglieder und Staatsfunktionäre hatten mitunter die berühmte Ikone oder den häuslichen Altar beibehalten – entweder aus persönlichen Bedürfnissen oder mit Rücksicht auf Familienangehörige. Nach und nach kristallisierten sich drei religionsspezifische Missverhältnisse heraus: zwischen Stadt und Land, zwischen den Geschlechtern und unter den Generationen. In manchen Regionen wurden über 50 Prozent und mehr der Neugeborenen getauft. Eine Großzahl der dörflichen Begräbnisse fand nach kirchlichem Ritus statt. Viele Priester hatten noch im Lager gesessen, sodass sie das schikanöse Verhalten der lokalen Behörden wohl kaum in ihrem Tun abschrecken konnte. Andererseits gab es unter den Gemeindevorstehern auch außerordentlich willfährige Amtsinhaber. Volksreligiosität war auch immer offen für neue spirituelle Einflüsse. Daher hatten Abspaltungen, das Sektenwesen und religiöse Minderheiten zeitweilig großen Zulauf zu verzeichnen. Vor allem in den Städten erhielten unter Chruschtschow Untergrundkirchen und Sekten Zuwachs. Für die atheistischen Eiferer waren ein derartiger religiöser Pluralismus und die fließenden Grenzen zwischen den miteinander verzweigten Bekenntnissen die Hauptursache für ihren propagandistischen Misserfolg. Sie waren von vornherein gar nicht in der Lage, ihre Gegner eindeutig zu charakterisieren. Umgekehrt galt aber auch, dass an eine offene Herausforderung von Partei und Sowjetstaat seitens der Gemeinden und des Klerus nicht zu denken war. Um ihre Interessen zu artikulieren, stand den Betroffenen in der Regel
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nur das gesetzlich zugestandene Petitionswesen zur Verfügung. Darin brachten sie ihre Liebe zur sowjetischen Heimat, bedingungslose Loyalität gegenüber der Partei und der Regierung, sowie einen absolut unzweifelhaften Arbeitswillen zum Ausdruck. Mitunter verwahrten sich die Verfasser auch gegen die Schikanen, die ihnen seitens der örtlichen Behörden zugemutet wurden. In der Praxis hatten diese Appelle aber kaum Erfolg. Dennoch wurden während der sommerlichen Feldarbeit auch weiterhin Psalmen gesungen und Gottesdienste unter freiem Himmel abgehalten. Pilgerreisen zu sogenannten heiligen Orten, wie zum Beispiel Quellen oder exponierten (Natur-) Steinen, wurden weiterhin unternommen, sofern sie von den Behörden nicht in Nacht-und-Nebel-Aktionen dem Erdboden gleich gemacht worden waren. Nach wie vor zogen allerlei Wunderheiler, zwielichtige Quacksalber und selbsternannte Propheten von Dorf zu Dorf und boten neben ihren Waren Heil und umfassende Erleuchtung feil. Manche Glaubensgemeinden gingen sogar so weit, auf Feld und Flur eigenmächtig Kreuze aufzustellen, oder Kirchen, Kapellen und Friedhöfe wiederherzurichten.
4. D IE E RGEBNISSE
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K AMPAGNE
Natürlich ging offiziellen Angaben zufolge die Anzahl der registrierten Gemeinden und der in ihnen organisierten Gläubigen zurück. Sicher sank der Umfang religiöser Publikationen und deren Auflagen. Trotz des demonstrativen Triumphgebarens der Staats- und Parteispitze bei der Verkündung der schrumpfenden Zahlen bieten diese nur ein Zerrbild der realen Lage auf regionaler Ebene und zeugen weniger von einem Rückgang religiöser Einstellungen im Land. Der Siegeszug des Atheismus in der sowjetischen Bevölkerung zeigte zwar statistisch fragwürdige Erfolge, blieb aber jenseits dessen Fiktion. Ein Großteil aller Konfessionen wirkte hart an den Grenzen zwischen Loyalität, Legalität und Renitenz oder eben im Untergrund weiter. Die Kampagne konnte dagegen nur unter hohen administrativen und sozialen Kosten aufrecht erhalten werden. Teilweise wurde man von der Hartnäckigkeit religiöser Überzeugungen – nämlich der Volksreligiosität – überrascht. Über die Attraktivität der Kirchen konnten sich die Behörden sowieso lediglich an hohen Feiertagen wie Ostern oder Weihnachten einen flüchtigen Überblick vor Ort verschaffen und damit ihrer Überwachungsund Kontrollfunktion nur sporadisch nachkommen. Ansonsten herrschte weitgehende Unkenntnis über die reale Stärke der Gläubigen. Religiöse Lebenseinstellungen in der Bevölkerung waren damit nicht plötzlich aus der Welt, geschweige denn entscheidend dezimiert. Nur die Ausübung fand nun im privaten Raum beziehungsweise im Verborgenen statt. Daher lässt sich ein signifikanter Nutzen oder Erfolg der Kampagne so nicht feststellen. Spricht man von einer Abnahme der religiösen Überzeugungen respektive von einer Durchschlagskraft der Säkularisation, so waren wohl eher die zunehmende Urbanisierung bäuerlicher Bevölkerungsschichten und die In-
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dustrialisierung der Städte ursächlich, weniger die aufwändig inszenierten Kampagnen der Chruschtschow-Periode. Wenn man also nach den Gründen dafür fragt, weswegen die verschiedenen Konfessionen diesen massiven Angriff überstanden und der atheistische Staat letztlich nicht triumphierte, wird man stärker als bislang nach der Rolle von Religiosität im Alltag der sowjetischen Menschen fragen müssen. Da die Urbanisierung und Industrialisierung des westlichen Landesteils erst nach dem Krieg einsetzte, und auch im Osten der Republik zuvor kaum großflächig stattgefunden hatte, konnte eine Säkularisierung breiter, ehemals bäuerlicher Bevölkerungskreise sowieso erst verspätet einsetzen. Erst mit den sechziger Jahren nahmen diese Phänomene einer Modernisierung nach sowjetischem Bauplan zunehmend an Fahrt auf. Religion blieb dabei im (west-)belarussischen Dorf stark verwurzelt. Es scheint, dass geografische Abgeschiedenheit dieses Phänomen zusätzlich stark begünstigte. Dies betraf vor allem das bis 1960 existierende Gebiet Molodetschno (wr. Maladsetschna) und die sogenannte Pinschtschina (Pinsker Gebiet), deren Lage an der westlichen Peripherie recht günstige (Über-)Lebensbedingungen für Kirchen und Sekten bot, und wo ein starker Rückhalt in der Bevölkerung vorhanden war.
5. Z USAMMENFASSUNG Religion war das vermeintliche Haupthindernis auf dem Weg in die versprochene, glorreiche kommunistische Zukunft. Daher waren auch in der vermeintlichen Hochphase einer Entstalinisierung in der Sowjetunion – die Zeit vor und nach dem 22. Parteitag 1961 – typisch stalinistische Instrumente der Auseinandersetzung mit zuvor markierten Feinden, wie gezielte Stigmatisierungen, administrativer Druck und strafrechtliche Repressalien, noch nicht eingerostet. Die Entstalinisierungspolitik in allen Bereichen ging durchaus mit der Anwendung althergebrachter Methoden an der ideologischen Front einher. Die antireligiöse Kampagne Chruschtschows von 19581964 ist in seine Bemühungen um eine Modernisierung der dörflichen Sowjetunion einzuordnen. Sowjetische Behörden und atheistische Propagandisten zielten darauf ab, die dörfliche Kultur und Lebenswelt innerhalb kürzester Zeit mit dem sowjetischen Gesellschaftsmodell in Einklang zu bringen. Der Stadt-Land-Gegensatz sollte langfristig verschwinden und die landwirtschaftliche Produktivität erhöht werden. Zusammen mit anderen Reformprojekten erwartete Chruschtschow eine Verbesserung der materiellen und kulturellen Lebensbedingungen auf dem „sozialistischen“ Dorf nebst einer grundlegenden Veränderung der Lebensverhältnisse. Religiöser Habitus galt dabei als schlimmes, auszurottendes Übel und als eine der Hauptursachen für die bäuerliche Rückständigkeit. Mit der Überwindung all dessen sollten en passant die notorisch unwirtschaftlichen Kolchosen von ihrer alten Schwäche befreit werden. Als Mittel wählte Chruschtschow vor allem die
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administrative Zurückdrängung der orthodoxen (Amts-)Kirche und eine massierte Propagandaoffensive. Die Strategien der Kirchengemeinden waren auf das nackte Überleben und die behutsame Durchsetzung ihrer (formal rechtmäßigen) Interessen ausgerichtet. Ihr Protest gegen die pauschalen Verdächtigungen des Staates und gegen das harsche Einschreiten der Behörden kam in einer hartnäckigen Flut an schriftlichen Eingaben an die höchsten Staatsorgane der Union (Oberster Sowjet, Ministerrat, Kirchenräte) und deren Vertreter zum Ausdruck. Um das eigentliche Anliegen geschickt in die Schreiben einzubetten, nutzten die Protagonisten den ganzen Kanon der offiziellen rhetorischen Worthülsen. Der Diskurs war also durch die sowjetische Ideologie und ihre Propagandasprache vorgegeben. Dabei wurde immer wieder auf den Widerspruch zwischen der Propaganda vom friedlichen kommunistischen Aufbau beziehungsweise der Modernisierung des Landes und der repressiven Religionspolitik hingewiesen. Die Gläubigen empfanden sich dabei in den seltensten Fällen als Opponenten gegenüber dem sowjetischen Regime und dessen Ideologie. Als Befürworter des Sowjetstaates hofften sie nur auf die ungehinderte Ausübung ihrer Riten. Religiöse Einstellungen waren für sie durchaus mit einem sowjetischen Alltagsleben vereinbar, womit erst die Grundlagen der bemerkenswerten Koexistenz von Sowjetstaat und dörflicher Alltagskultur geschaffen wurden. Als Individuum nahmen die meisten Dorfbewohner eben an beiden (kulturellen) Sphären teil. Das heißt, dass eine religiöse Prägung und der regelmäßige Gang zur Kirche überhaupt nicht ausschloss, Mitglied in einer sowjetischen Organisation oder begeisterter Patriot zu sein. Nichtsdestotrotz wurden sie in den Zeitungen als ungebildet, arbeitsscheu, reaktionär, abergläubisch und als Gegensatz zum „neuen Sowjetmenschen“ verunglimpft. Damit kommt unweigerlich die Frage nach den Gründen für das atheistische Propagandagetöse auf. Während sich die Kampagne für die Gläubigen als irrelevant erwies, war sie für die Atheisten und die Partei funktional. Die Propagandisten selbst hegten die Überzeugung, an einem epochalen Projekt mitzuwirken, da sie doch halfen, fremde, sowjetfeindliche religiöse Doktrinen zu bekämpfen. Unter den Kadern herrschten also zunächst durchaus Enthusiasmus und Optimismus. Darüber hinaus ordnete sich die Kampagne in die aus der Vergangenheit bekannten, gewohnheitsmäßigen Rituale der stalinistischen Parteiherrschaft ein. In ihrer Auseinandersetzung mit den sowjetischen Religionsgemeinschaften verzichteten Chruschtschow und auch die lokalen Machthaber immerhin auf die systematische Anwendung offenen Terrors, weil dies offenbar zu riskant geworden war. Ersetzt wurden die überkommenen Praktiken in der Regel durch ein bürokratisches Vorgehen mit legalem Anschein, wobei die Gesetzeslage unklar oder mehrdeutig blieb. Die endgültige Entscheidung lag immer in der Willkür der staatlichen Organe. Bei den kirchenrechtlichen Einschnitten wurde mitunter sogar recht erfolgreich mit den Spitzen der offiziellen Konfessionen kollaboriert. Andererseits erfolgte die lokale Umsetzung der Moskauer Direktiven vor Ort oftmals harscher als eigentlich
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vorgegeben. Es sollten zwar so viele Kirchen wie möglich geschlossen werden, brutale oder aufsehenerregende Mittel waren dabei aber nicht vorgesehen. Hierfür waren eher die regionalen und lokalen Parteiorgane in Zusammenarbeit mit den örtlichen Sowjets und den Sicherheitsorganen verantwortlich. Gegen diese Exzesse, die von den Gläubigen vereinzelt als „stalinistische oder sogar Gestapo-Methoden der Abrechnung mit der örtlichen Bevölkerung“1 betrachtet wurden, gab es andererseits von oben kein Einschreiten. Das Ziel einer atheistischen Republik war zwar von der weißrussischen Kommunistischen Partei recht selbstbewusst propagiert worden, ist aber bis zum Beginn der Breschnew-Zeit (glücklicherweise) nicht erreicht worden. Die Parteiführung stellte sich dennoch stets als unermüdlichen Musterknaben bei der atheistischen Erziehung der weißrussischen Bevölkerung dar. Im Mittelpunkt der Kampagnen standen das unwissenschaftliche Gedankengut und das Verharren in der Vergangenheit, welches die Religion angeblich auszeichnete. Dabei diene diese angeblich auch noch großbourgeois-individualistischen und amoralischen Lebensweisen, und verbreite nationalistische Vorurteile. Jenseits der Gängelung durch Partei, Behörden und Presse mussten die Gläubigen noch viele weitere persönliche Einschränkungen in Kauf nehmen. Angesichts von Anfahrtswegen bis zu 60 Kilometer zum nächstgelegenen Gotteshaus waren selbst die Ausübung der Riten und die persönliche Motivation einer Reihe von Hindernissen ausgesetzt. Auf die überzeugten Gläubigen hatte die atheistische Propaganda dennoch kaum Einfluss, weil ihr Weltbild wenig anfällig für die darin enthaltenen Argumentationsversuche war. Außerdem war die antireligiöse Bewegung sehr schlecht organisiert. Die Propagandisten waren in großer Zahl mangelhaft ausgebildet und unmotiviert. Ihnen fehlte zum Teil elementares Wissen über Religion und Religiosität, sodass ihr Aktionismus vor allem auf dem Dorf wenig Eindruck auf die alltäglichen Lebenszusammenhänge machte. Mit der antireligiösen Kampagne versuchte Chruschtschow letztlich, das individuelle Bewusstsein eines jeden Gläubigen mit einem raschen, entschlossenen Schnitt umzuformen. Gläubige sollten in dieser euphemistischen Vorstellung binnen kurzer Zeit zu zuverlässigen, zivilisierten Sowjetbürgern mutieren. Für die weißrussische Landbevölkerung war dagegen das sowjetische Alltagsleben mit ihrer traditionellen, bäuerlich-religiösen Identität kompatibel. Solange aber der Staat das sichtbare religiöse Leben unter Generalverdacht stellte und reglementierte, mussten auch die Gläubigen in der BSSR etwas leiser treten. Ihre Umerziehung zu begeisterten sowjetischen Atheisten war jedenfalls weitestgehend misslungen.
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Schreiben der Gläubigen der Himmelfahrts-Kirchgemeinde der Stadt Woloschin (wr. Waloschyn) im Minsker Gebiet an den Allerheiligsten Patriarchen von Moskau und ganz Russland Aleksej vom 30. August 1962. Gosudarstvennyj archiv Minskoj oblasti (GAMO), f. 3196, op. 1, d. 62, ll. 118-119.
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L ITERATUR Dunn, Ethel/Dunn, Stephen: Kulturwandel im sowjetischen Dorf, Berlin: Duncker & Humblot 1977. Lubachko, Ivan S.: Belorussia under Soviet Rule, 1917-1957, Lexington: University Press 1972. Madey, Johannes: Kirche zwischen Ost und West. Beiträge zur Geschichte der Ukrainischen und Weißruthenischen Kirche, München: BernwardVerlag 1969. Millar, James R. (Hg.): The Soviet Rural Community. A Symposium, Urbana: University of Illinois Press 1971. Siebert, Diana: Bäuerliche Alltagsstrategien in der Belarussischen SSR (1921-1941). Die Zerstörung patriarchalischer Familienwirtschaft, Stuttgart: Steiner Verlag 1998.
Vom Tauwetter zur Perestroika. Die Sechziger-Jahre-Generation in der weißrussischen Kultur D ZMITRY K RYVASHEI
Die Nachkriegszeit ging sowjetischen Erzählungen zufolge in die Geschichte Weißrusslands als eine heroische Zeit des Wiederaufbaus und des Wirtschaftswachstums ein. Die Städte wuchsen und wurden immer schöner, die landwirtschaftlichen Kollektivwirtschaften vergrößerten sich und nahmen an Bedeutung zu, die Produktivität des Landes und der Bildungsstand der Bevölkerung stiegen an. Im Endeffekt verwandelte sich die Belorussische Sozialistische Sowjetrepublik (BSSR) in ein Land des Fleisches und der Milch sowie der chemischen Industrie und des Maschinenbaus. Unter dieser Prämisse gerieten die „Heldentaten des Volkes an der Arbeitsfront“ in die Schlagzeilen der Zeitungen und Zeitschriften. Sie fanden in zahlreichen Gedichten und Romanen, in Kunstwerken und Filmen ihren Niederschlag. Die Künstler gaben sich alle Mühe, den „arbeitenden Menschen“ zu verherrlichen, um den kreativen Geist anzuspornen und auf weitere Erfolge einzustimmen. Nach der Überwindung des stalinistischen „Personenkults“ stand die sowjetische Kulturpolitik indes nicht nur im Zeichen des „Tauwetters“, sondern auch des Autoritarismus. Immerhin brachte die Ära Chruschtschow erste Wellen eines freien Denkens mit sich, die in der BSSR allerdings nur in abgeschwächter Form ankamen. Nach wie vor zeichnete sich das totalitäre System durch den Anspruch aus, den sowjetischen Alltag in allen Sphären zu kontrollieren. Daher begaben sich in den sechziger Jahren nur wenige Vertreter der weißrussischen Kultur auf die Suche nach dem eigentlichen Sinn des Lebens. Die Meisten interessierte die eine „Wahrheit“, die offizielle Anerkennung und materiellen Wohlstand einbrachte. Dennoch reifte ein latenter ideologischer Nonkonformismus heran. Welche Rolle spielte die „Sechziger-Jahre-Generation“ (šestidesjatniki) im öffentlichen Leben der BSSR? Trug sie dazu bei, die Renaissance der weißrussischen Kultur in der Zeit von Glasnost und Perestroika vorzubereiten?
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1. K ULTURELLES T AUWETTER UND POLITISCHER F ROST In einem Gespräch charakterisierte der bekannte Philologe Adam Maldsis den Zeitraum von 1957 bis 1962 mit den folgenden Worten: „Wir fühlten eine gewisse Nachsicht ...“ Hinter dem Ausdruck „Nachsicht“ verbirgt sich eine besondere Bedeutung. Damit wird hervorgehoben, dass die Behörden bei der Kontrolle des Kulturlebens die Zügel nur vorübergehend lockerten. Waren im Zuge der Bemühungen um die Überwindung des stalinistischen „Personenkults“ unmittelbar nach dem 20. Parteitag noch weißrussischsprachige Schriftsteller und Dichter aus den Straflagern entlassen worden, sahen sich Kulturschaffende, die die entstandenen gesellschaftlichen Freiräume mit öffentlichen Appellen ausfüllen zu können glaubten, neuerlichen Verhaftungen ausgesetzt. Zu dieser Gruppe gehörte beispielsweise Bronislaw Rschewski, der sich im Krieg als aktives Mitglied der Partisanenbewegung ausgezeichnet hatte. Als promovierter Historiker und Dozent für weißrussische Sprache am Pädagogischen Institut in Grodno (wr. Hrodna) schrieb Rschewski Briefe an weißrussische Zeitungen und verfasste Eingaben an Behörden und Parteiführer. Darin beschwerte er sich über die sowjetische Nationalitätenpolitik und die administrativen Beschränkungen der weißrussischen Sprache. Weil er darüber hinaus die Proteste der Studenten seines Instituts gegen die Marginalisierung von Schulen mit weißrussischer Unterrichtssprache unterstützte, wurde er im Februar 1957 während einer Vorlesung verhaftet. Unter den Bedingungen des „Tauwetters“ kam es immerhin zu Solidaritätsbekundungen einfacher Bürger und lokaler Abgeordneter. Dennoch musste Rschewski eine siebenjährige Verbannung auf sich nehmen. Seiner Petitionskampagne tat dies keinen Abbruch. Im Oktober 1957 versuchte er, den sowjetischen Kultusminister auf die Lage der weißrussischen Sprache in der BSSR aufmerksam zu machen.1 Allerdings wurden die letzten Hoffnungen auf ein Wiederaufleben der weißrussischen Sprache im Januar 1959 zunichte gemacht, als Nikita Chruschtschow in Minsk die russische Sprache zum konstitutiven Element einer neuen Gemeinschaft von „Sowjetmenschen“ erklärte.2 Dadurch wurden eine Verringerung der Auflagen weißrussischer Bücher, die Einstellung weißrussischer Periodika und die Schließung weißrussischer Schulen hervorgerufen. Was Rschewski betrifft, wurde seine Verurteilung nach mehreren Appellen an das Oberste Gericht 1961 revidiert. Fortan musste er sich mit der Rolle eines Schullehrers in seiner Heimatstadt begnügen. Er erhielt Publikationsverbot und hatte die
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Dzjarnovič, Aleh (Hg.): Dėmakratyčnaja apazycyja Belarusi. 1956-1991. Pėrsanažy i kantėkst. Davednik, Minsk: Archiŭ Najnoŭšae historyi 1999, S. 159160. Toržestvennoe zasedanie Verchovnogo Soveta BSSR i Central’nogo Komiteta Kompartii Belorussii, Minsk: Belarus’ 1959, S. 12.
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Überwachung seines Hauses durch den Komitee für Staatssicherheit (KGB) hinzunehmen. Vor diesem Hintergrund ist nicht weiter verwunderlich, dass der weißrussische Schriftstellerverband keine Möglichkeit hatte, neue Impulse zu setzen. Jegliche Bemühungen wurden staatlicherseits im Keim erstickt. Im Rahmen einer allgemeinen Trendwende in der sowjetischen Kulturpolitik, die sich nicht zuletzt aus Gründen der politischen Zensur wieder auf den „sozialistischen Realismus“ besann, warf der Kultusminister der BSSR auf dem IV. Schriftstellerkongress der BSSR im Februar 1959 einigen Autoren vor, das Leben zu naturalistisch darzustellen und ideologische Verallgemeinerungen zu vernachlässigen. Durch die Konzentration auf nichtige Kleinigkeiten, argumentierte der Minister, sei den Schriftsteller entgangen, was sich im Zuge der Modernisierung an fundamentalen Veränderungen im Lande zugetragen habe.3 Retrospektiv vermögen die den Auflagen der Zensur unterlegenen Verlautbarungen des Kongresses nur durch den Auftritt eines zu dieser Zeit noch jungen Kritikers Interesse zu erwecken. Die Rede ist von Ales Adamowitsch, der seine Impressionen vom Pavillon der modernen Kunst der Brüsseler Weltausstellung von 1958 zum Besten gab. Die westliche Moderne hinterließ bei ihm den „Eindruck eines gekrümmten Spiegels, in dem sowohl der Mensch als auch die Natur in einer monströsen Form dargestellt werden“.4 Eine solche Äußerung wäre an und für sich nichts Besonderes, wenn sie nicht gerade aus dem Mund eines später berühmt gewordenen Schriftstellers und Querdenkers stammte. Auf dem Plenum des Schriftstellerverbandes der BSSR von 1957 war Adamowitsch noch dafür kritisiert worden, dass er die Analyse des Ideengehaltes von der Wirkung der Ästhetik trenne. Ihm war bei dieser Gelegenheit empfohlen worden, bei der Literaturkritik mehr Respekt obwalten zu lassen. Wessen wurde Adamowitsch überhaupt bezichtigt? Er hatte sich erlaubt, Romane von „Größen“ der weißrussischen Literatur negativ zu bewerten und die weißrussische Poesie der Nachkriegszeit als „getrübten Strom“ zu bezeichnen.5 Vor diesem Hintergrund erscheint sein zwei Jahre später erfolgter Sinneswandel ungewöhnlich. Leider lässt sich nicht konkretisieren, wie aufrichtig Adamowitsch 1959 gewesen ist. Aber die Tatsache, dass er überhaupt nach Brüssel gefahren war, spricht für sich. Eine Genehmigung für eine Reise in den Westen konnte nur eine ideologisch sattelfeste Person erhalten. Offenbar hatte sich Adamowitsch die öffentliche Schelte zu Herzen genommen und entschieden, dass es besser sei, dem Mainstream zu folgen als eigene Wege zu gehen. Daraus folgt, dass er seine wahren Ansichten lange verborgen hielt. Getragen von Glasnost und Perestroika geriet er schließlich
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„VI z’еzd pis’mennikaŭ BSSR“, in: Litaratura i mastactva vom 13.2.1959, S. 4. Ebd. Belaruski dzjaržaŭny archiŭ-muzej literatury i mastactva (BDAMLM), f. 78, оp. 1, d. 76, l. 19.
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in die Rolle eines Sprechers der weißrussischen Opposition. Vielleicht schlug er auch in diesem Fall wieder nur die Richtung ein, die er für aussichtsreich hielt? Denn inzwischen war die „nationale Wiedergeburt“ zu einem zentralen Thema im öffentlichen Diskurs avanciert.
2. S OZIOÖKONOMISCHE S TAGNATION UND INDIVIDUELLER N ONKONFORMISMUS In der weißrussischen Kulturszene der sechziger Jahre gab es nur wenige Vertreter, die sich als Nonkonformisten bezeichnen lassen. Der diesbezüglich am ehesten herausragende Schriftsteller Wassil Bykau stellt sich in seinen Memoiren die Frage, ob richtige Ideen von Nutzen sind, wenn sie sich nur indirekt oder verkehrt herum vortragen lassen. Seiner Meinung nach hatte es eines scharfen Intellekts bedurft, einen ehrlichen Gedanken zu äußern, ohne Verdacht zu erregen.6 Die damit verbundenen Implikationen lassen sich aus der Diskussion um eine nationale Kunstausstellung ablesen, die das Wochenblatt Litaratura i mastaztwa (Litaratura i mastactva/„Literatur und Kunst“) im Januar 1963 eröffnete. Abgedruckt wurden Klagen angesehener weißrussischer Kulturschaffender darüber, dass einige Künstler sich den Formen des modernen Stils verschrieben, ohne die künstlerische Methode selbst zu würdigen. Der Maler Ewgeni Saizew forderte einen prinzipiellen Kampf gegen die Mittelmäßigkeit und den Naturalismus, behauptete zugleich aber, dass es bei der Suche nach neuen Ausdrucksformen „keine Hindernisse“ gäbe. Für den heutigen Leser ist nur schwer nachvollziehbar, wie man innovative Werke kritisieren und gleichzeitig die Freiheit der Kunst postulieren kann. Saizew schien es einfach darum gegangen zu sein, Handlungsspielräume auszuloten.7 Als Bykau am 26. Februar 1963 in der Litaratura i mastaztwa Stellung bezog, verteidigte er die in Ungnade gefallenen Künstler und äußerte den Wunsch, die Wirklichkeit zum wesentlichen Merkmal der Literatur zu erheben. Im Unterschied zum „sozialistischen Realismus“ sollten bei der Schilderung von Persönlichkeiten nicht nur das Positive zum Ausdruck kommen, sondern auch Probleme angesprochen werden, die die Menschenwürde herausforderten.8 Realiter mündete die Entwicklung der Sowjetunion nach Chruschtschows Sturz 1964 in die Phase einer sozioökonomischen Stagnation ein, die von einem politischen Neostalinismus getragen und einer gesellschaftli-
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Bykaŭ, Vasil’: Doŭhaja daroha dadomu. Kniha ŭspaminau, Minsk: Kniha 2003, S. 287. „Temy, žanry, vyraženne. Abmerkavanne respublikanskaj mastackaj vystaŭki 1962 hoda“, in: Litaratura i mastactva vom 16.1.1963, S. 3. Bykaŭ, V: „Prablema staraja i novaja“, in: Litaratura i mastactva vom 26.2.1963, S. 1-2.
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chen Apathie begleitet wurde. Für die Mehrheit der Schriftsteller galt in der Breschnew-Ära unter den Bedingungen der Repressionen gegen Aktivisten und der Erdrosselung kultureller Kreativität die Hauptsorge nicht mehr der Lage der Gesellschaft, sondern der persönlichen Situation im offiziellen Literaturbetrieb. Wie in den Jahren des Stalinismus gewann der Eigennutz wieder die Oberhand über die moralische Verantwortung.9 In seinen Memoiren bezeichnet Wassil Bykau die damalige Welt als unnatürlich und hässlich. Seiner Meinung nach wurden unter Chruschtschow und Breschnew nicht nur die christlichen Gebote über Bord geworfen, sondern auch die Logik des gesunden Menschenverstands. Mit Bitterkeit konstatiert der Schriftsteller, dass in der Literatur nur eine Wahrheit erlaubt war, nämlich diejenige, die der Macht diente.10 In der Tat legten die Parteiorgane alles daran, die Wahrheit zu reglementieren. Ihnen standen Lektoren und Zensoren zur Seite, die für Treuedienste mit Wohnungen, Posten, akademischen Titeln und Auszeichnungen belohnt wurden. Beispielsweise bezichtigte ein „Geheimgutachter“ den Dramatiker Kastus Hubarewisch, den „hellen Traum der Sowjetmenschen vom Kommunismus“ zu banalisieren. In spitzfindiger Weise zog der Kritiker zur Begründung seiner Behauptung den folgenden Ausspruch des Protagonisten eines Dramas heran: „So wirst Du die Augen schließen, ohne je in den Geruch des Kommunismus gekommen zu sein.“11 Ähnlich absurd argumentierte der Geheimdienst KGB, als er 1974 in der Akademie der Wissenschaften eine sogenannte „Fünfergruppe“ aufspürte. Ihr wurde nicht nur zur Last gelegt, politische Gespräche geführt und illegale Literatur gelesen, sondern auch die Lieder der von der gesamten sowjetischen Bevölkerung verehrten Moskauer Liedermacher Bulat Okudschawa und Wladimir Wyssozki gesungen zu haben.12 Ungeachtet dessen verbreiteten sich in Weißrussland auch die Strömungen der westlichen Jugendkultur. Begünstigt wurde die Überwindung des „Eisernen Vorhangs“ nicht nur durch Transistorempfänger, die westliche Stimmen empfangen konnten, sondern auch durch Schwarzhändler, die modische Kleidung und Schallplatten vertrieben. In den siebziger Jahren entstand mit der Folklorebewegung darüber hinaus eine völlig neue Form der demokratischen Opposition. Die Jugendlichen lernten Volkslieder, setzten sich mit Volkskunde auseinander und feierten traditionelle Feiertage wie Kaljady (Weihnachten), Hukanne Wjasny (Fastnacht), Kupalle (Sommersonnenwende), Dsjady (Allerseelen). Sie protestierten damit sowohl gegen das Vergessen nationaler Traditionen in der Stadt als auch gegen die Vernachlässigung der weißrussischen Identität durch die Führung von Staat und
Bič, М. О./Sidorcov, V. N./Fomin, V. M.: Istorija Belarusi: ХХ v., Minsk: Narodnaja Asveta 1992, S. 318-319. 10 Bykaŭ: Doŭhaja daroha dadomu (wie Anm. 6), S. 345. 11 Nacional’nyj archiv Respubliki Belarus (NARB), f. 4, op. 62, d. 347, l. 4. 12 Dzjarnovič (Hg.): Dėmakratyčnaja apazycyja Belarusi (wie Anm. 1), S. 196-204. 9
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Partei. Nicht zu Unrecht wurde ihnen Nationalismus vorgeworfen. Obgleich der Liberalisierungsprozess mit dem Ende des „Tauwetters“ jäh zum Erliegen gekommen war, hinterließen unkonventionelle Enthusiasten auch in der Zeit der Stagnation Spuren in der weißrussischen Kultur. Dadurch trafen Glasnost und Perestroika in Weißrussland auf fruchtbaren Boden.
3. Z USAMMENFASSUNG Die weißrussische Kultur befand sich zu Zeiten Chruschtschows und Breschnews als integrativer Bestandteil des ideologischen Systems unter ständiger Beobachtung der herrschenden Elite. Nach Stalins Tod hatte der vom „Tauwetter“ herrührende Wind des demokratischen Wandels die BSSR in erheblich geschwächter Form erreicht. Die Erscheinungsformen des freien Denkens, die sich unter den weißrussischen Intellektuellen auf der Grundlage des „kritischen Realismus“ (versus „sozialistischer Realismus“) offenbarten, widersprachen dem Konservatismus des offiziellen Kulturbetriebs. Nur wenige Vertreter der Kulturszene begaben sich auf die Suche nach einer höheren Wahrheit und nach neuen Ausdrucksformen. Für die Meisten war eine andere „Wahrheit“ von Interesse, eine Wahrheit, die ein wohlhabendes Leben und die Achtung des Propagandaapparats einbrachte. Obgleich die kurze Zeit des „Tauwetters“ von der langen Phase der Stagnation abgelöst wurde, begann Weißrussland in den sechziger Jahren sich einen Platz in der Weltkultur zu sichern. Der „Eiserne Vorhang“ wurde nicht nur dank Jeans und Rock’n‘Roll, sondern auch durch die Leistungen der Sechziger-JahreGeneration in Frage gestellt. Mangels Masse entstand zwar keine Gegenkultur, doch wurden Nischen geschaffen, in denen sich eine alternative Kultur entwickeln konnte. Jeder Versuch, sich in diese Epoche zu versenken, regt zum Nachdenken über ein auf Lenin zurückgehendes Postulat des Sozialismus an: „Man kann nicht in der Gesellschaft leben und von ihr frei sein.“ Demgegenüber gilt es zu fragen: Inwiefern ist es möglich, in einem totalitären System ehrlich zu bleiben? Was zeichnet den Mut eines schöpferischen Menschen aus? Reicht Mut überhaupt aus? Ist es grundsätzlich denkbar, in einem Staat, der dem Diktat einer Ideologie unterliegt, ein schöpferischer Mensch zu sein? Was beinhaltet ein Kunstwerk vom Autor selbst? In welchem Maße sind seine Überzeugungen und seine Weltanschauung noch vorhanden? Wie weit wurde auf Ansprüche und Wünsche Anderer, d.h. der Kulturpolitiker und des Publikums, Rücksicht genommen? Und zuletzt eine persönliche Frage an den Leser: Könnten Sie sich unter diesen Bedingungen nonkonformistisch verhalten? (... Und wie lange?!). Übersetzung von Elizaveta Slepovitch
D IE S ECHZIGER-J AHRE-G ENERATION
IN DER WEISSRUSSISCHEN
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L ITERATUR Bykau, Wassil: Novellen, 2 Bände, Berlin: Verlag Volk und Welt 19741976. Hlybinny, U.: Vierzig Jahre weißruthenischer Kultur unter den Sowjets, München: Institut zur Erforschung der UdSSR 1959. Letter to a Russian Friend. A „Samizdat“ Publication from Soviet Byelorussia, London: Association of Byelorussians in Great Britain 1979. McMillin, Arnold: Belarusian Literature in the 1950s and 1960s. Release and Renewal, Köln/Weimar/Wien: Böhlau Verlag 1999. Seduro, Vladimir: The Byelorussian Theater and Drama, New York: Research Program on the U.S.S.R. 1955.
Anthropologischer Schock? Reaktionen in der BSSR auf die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl A LIAKSANDR D ALHOUSKI
Der Tschernobyl-GAU von 1986 gehört unbestritten zu den beispiellosen Katastrophen der Menschheitsgeschichte, obwohl nach offiziellen Angaben nur 31 Menschen unmittelbar infolge des Unglücks ums Leben kamen.1 Eine relativ unbedeutende Ortschaft nahe dem Atomkraftwerk wurde für die sowjetische Bevölkerung zum Symbol für die bewusst in Kauf genommene Verstrahlung von Zivilisten und Militärs, für die fortlaufende Zurückhaltung von Informationen, für das Herunterspielen der Folgen, mit einem Wort für die Verantwortungslosigkeit der höheren Parteibonzen und die Gleichgültigkeit von Physikern und Medizinern. Auf diese Weise trug die Katastrophe von Tschernobyl (ukr. Tschornobyl; wr. Tscharnobyl) wesentlich zum Zusammenbruch des scheinbar übermächtigen sowjetischen Staates bei. Davon abgesehen löste die Atomkatastrophe weltweites Entsetzen aus. Beispielsweise setzte der deutsche Soziologe Ulrich Beck auf den „anthropologischen Schock“, um die Veröffentlichung seines Buches über die Risikogesellschaft zu rechtfertigen.2 Ungeachtet dessen propagierten die Massenmedien in der Belorussischen Sozialistischen Sowjetrepublik (BSSR), die nahezu zwei Drittel des radioaktiven Niederschlags hinzunehmen hatte, ein sowjetisches Bewusstsein, das in der Solidarität mit den Betroffenen und in der positiven Arbeitsmoral ihren Ausdruck gefunden habe. Wie nahm die Bevölkerung der am meisten betroffenen Region die Katastrophe tatsächlich wahr? Erlitt sie überhaupt einen Schock im westlichen Sinne? Was steckte eigentlich hinter dem offiziellen Heroenkult?
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Vgl. Brüggemeier, Franz-Josef: Tschernobyl, 26. April 1986. Die ökologische Herausforderung, München: Deutscher Taschenbuch Verlag, 1998, S. 24. Vgl. Beck, Ulrich: Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, Frankfurt a.M.: Suhrkamp Verlag, 1986.
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1. D IE B EWERTUNG DER T SCHERNOBYL -K ATASTROPHE ALS EIN REGIONALES P ROBLEM DER SÜDLICHEN B EZIRKE W EISSRUSSLANDS (1986-1988) In den ersten Monaten nach der Katastrophe traten die evakuierte Bevölkerung und die Bewohner der an die 30-Kilometer-Sperrzone grenzenden Ortschaften auf der Grundlage des sowjetischen Petitionswesens mit den verantwortlichen Instanzen von Staat und Partei in einen aktiven mündlichen und schriftlichen Dialog. In Anbetracht des Fehlens von konkreten Daten über die Strahlenbelastung, der Durchführung der Evakuierung an sich sowie der notwendig gewordenen Einschränkungen im Alltag gab es mehr als genug Gründe für das Verfassen von „Beschwerden“ (žaloby), „Anträgen“ (zajavlenija) und „Vorschlägen“ (predloženija), mithin von Eingaben. Ihre Autoren, zumeist die Einwohner der Bezirke Bragin (wr. Brahin), Narowlja (wr. Naroulja) und Chojniki, verfolgten die verschiedensten Zwecke. Die einen strebten danach, materielle Probleme zu lösen, welche aus der Evakuierung resultierten; die anderen versuchten, vom Staat den Status von Betroffenen und dementsprechende Privilegien zu erlangen, oder forderten eine rasche Zuweisung von Wohnraum in „sauberen“ Bezirken. Unter den Tschernobyl-Eingaben erscheint der kollektive schriftliche Protest gegen die Verletzung der Rechte durch örtliche Beamte am bemerkenswertesten. Die betroffene Bevölkerung berichtete den höchsten sowjetischen Instanzen von der Weigerung der lokalen Behörden, sie aus den gesundheitlich gefährlichen Wohngebieten zu evakuieren, sowie über den Zwang, dort zu arbeiten. Kennzeichnend ist, dass diese Rechtsverletzungen von den Eingabenverfassern als das Fehlen staatlicher Fürsorge wahrgenommen wurden. Den Gomeler (wruss. Homel) Behörden, die für die betroffenen Bezirke verantwortlich waren, gelang es in der Folge unter Einbeziehung der weißrussischen Parteiführung, diesen Protest durch einen „Tschernobyl-Sozialkontrakt“ (Černobyl‘skij social‘nyj kontrakt) lokal zu begrenzen und zu neutralisieren. Damit erzielten die Machthaber einen materiellen Kompromiss mit der Mehrheit der Betroffenen: Ein Teil bekam Wohnräume in Regionen mit „günstiger Strahlungslage“, ein anderer Teil verblieb, ausgestattet mit Vergünstigungen, in riskanten Bezirken. Der eigentliche Sinn des Tschernobyl-Sozialkontrakts bestand darin, dass die staatliche Garantie der persönlichen Sicherheit von den Betroffenen honoriert werden musste. Zum einen wurden eine großflächige Dekontaminierung und Maßnahmen zur Verbesserung der Infrastruktur vorgenommen. Zum anderen unterlag die Bevölkerung der Verpflichtung, in vollem Umfang die sozialistischen Pläne zu erfüllen und sich jeglicher Proteste zu enthalten.
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Die staatliche Politik des Verschweigens und Vertuschens trug dazu bei, dass Proteste in Gebieten mit „günstiger Strahlungslage“ weniger intensiv ausfielen. Die Bevölkerung dieser Regionen meldete sich in der Regel nur dann zu Wort, wenn sie zur Bekämpfung der Katastrophenfolgen herangezogen wurde, oder wenn Wohnungsprobleme evakuierter Verwandter zu lösen waren. Bizarrerweise beschäftigte sich die belarussische Intelligenzija zu dieser Zeit vor allem noch mit sprachwissenschaftlichen und historischen Problemen. Als nationale Tragödie wurde das Reaktorunglück erst später erachtet. Eine Ausnahme stellte immerhin das Schreiben des Schriftstellers Ales Adamowitsch an Michail Gorbatschow dar, welches vom Geist des Aufbegehrens gegen die sowjetische Bürokratie getragen wurde.3 Die Kernkraft-Spezialisten verfassten einerseits Expertenberichte über die Folgen der Tschernobyl-Katastrophe und testeten andererseits den Einsatz eines mobilen Atomreaktors auf dem Territorium der BSSR. Vor dem Hintergrund der Eigendynamik, die Glasnost und Perestroika in der Sowjetunion in den Jahren 1988/89 entfalteten, nimmt es Wunder, dass die Verschlechterung der ökologischen und ökonomischen Lebensbedingungen in der BSSR lediglich die Mobilisierung der Bevölkerung in den kontaminierten, nicht aber in den evakuierten Bezirken zur Folge hatte. Im Namen von landwirtschaftlichen Organisationen und Bildungseinrichtungen verfasste Eingaben nahmen für sich in Anspruch, das öffentliche Interesse des ganzen Wohnortes zu vertreten. In der Regel handelte es sich um die Forderung materieller Kompensationen. Gleichzeitig strebten diejenigen, die bereits Privilegien genossen, eine Revision des Tschernobyl-Sozialkontrakts an. Zunehmend wurde der Wunsch nach Umsiedlung in „saubere“ Bezirke laut. Dieser Sachverhalt ist sowohl mit der ansteigenden wirtschaftlichen Krise zu erklären, welche die materiellen Vorzüge des Lebens in den verseuchten Wohnorten nivellierte, als auch mit den immer eindeutiger werdenden Strahlungsrisiken. In Anbetracht fehlender Strahlenmessgeräte gerieten Kinder in die Rolle von biologischen Strahlungsmessern: Aus der Verbreitung von Erkrankungen zogen die Erwachsenen untrügliche Rückschlüsse auf die Strahlengefahr. In der BSSR wurde die Tschernobyl-Katastrophe zunächst vor allem mit der Ukraine assoziiert. Allenfalls die südlichen Bezirke des Gebietes Gomel wurden als kontaminierte Zone in Betracht gezogen. Diese Wahrnehmung war die unmittelbare Folge der staatlichen Vertuschungspolitik. Sie entsprach dem Bestreben der Partei, Probleme im Rahmen des sowjetischen Eingabewesens zu lösen, ohne sie an die Öffentlichkeit dringen zu lassen. In diesem Zusammenhang erwiesen sich Beschwerden als effektives Instrument zur Durchsetzung individueller Interessen. Ausgehend von der Masse der eingegangenen Eingaben an die Instanzen von Staat und Partei lässt sich
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Adamovič, Ales’: „Nicht nur ein AKW. Ein Brief an Michail S. Gorbačev“, in: Osteuropa 56 (2006) H. 4, S. 19-23.
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schlussfolgern, dass für die Bevölkerung der BSSR das Wohnungsproblem die eigentliche soziale Frage darstellte. Nicht von ungefähr erhielt die evakuierte Bevölkerung in der ohnehin überfüllten Hauptstadt Minsk keine Wohnberechtigung.
2. D IE B EWERTUNG DER T SCHERNOBYL -K ATASTROPHE ALS NATIONALE T RAGÖDIE (1989-1991) Seit 1989 wurden die Probleme der kontaminierten Regionen, die bis dato hauptsächlich im nichtöffentlichen Dialog der Betroffenen mit den Behörden mittels des Eingabewesens verhandelt wurden, zum Gemeingut einer breiten Öffentlichkeit. Eine wesentliche Rolle spielten dabei die Massenmedien, die immer öfter kritische Reportagen zu Tschernobyl publizierten. Zäsuren setzten die Veröffentlichung einer Karte über die Kontaminierung der BSSR und die Aufhebung der Zensur. Daran schlossen sich eine Reihe von Publikationen zur Atomkraft und die Herausgabe von ökologischen Zeitungsausgaben an. Damit wurde die Bevölkerung in die Lage versetzt, selbständig das Ausmaß der Katastrophe einzuschätzen. In diesem Klima begannen kollektive Eingaben den Charakter eines öffentlichen Protests anzunehmen. Vieles wurde nicht nur in der Presse veröffentlicht, sondern auch in Fernsehsendungen besprochen. Nun wurde es üblich, auf den „anthropologischen Schock“ Bezug zu nehmen. Mit drei Jahren Verspätung wurde Glasnost auch im Hinblick auf Tschernobyl Realität. In den Jahren 1989 bis 1991 wurde nicht nur die Informationssperre durchbrochen, sondern auch eine neue Kommunikationsform erprobt. Im Zuge der Perestroika wurde die Rolle der Sowjets aufgewertet und der Bevölkerung damit weitere Anknüpfungspunkte geboten. Einerseits ersetzten die Obersten Sowjets die Parteigremien als Adressaten, andererseits gestalteten sich Eingaben zu Wähleraufträgen. Obgleich letztere während der Wahlkampagnen verfasst wurden, blieben sie im Laufe der gesamten Legislaturperiode von Relevanz. Sowohl die Mitteilungen an die Abgeordneten als auch die Einsendungen an die Massenmedien verfolgten hauptsächlich sozioökonomische Ziele. Daneben zeichneten sich allmählich Formen aktiven Protests ab. Bei den Organisatoren von Kundgebungen und Streiks in den kontaminierten Regionen handelte es sich um Vereinigungen von Arbeitern, die zuvor mittels Eingaben mit den Behörden kommunizierten. Je nach Niveau der Strahlenbelastung forderten sie die Verbesserung der Lebensbedingungen oder die Umsiedlung in „saubere“ Gebiete. 1990 wurde Gomel zum wichtigsten Protestzentrum in der Provinz. Für die Mobilisierung der Bevölkerung waren die Gewerkschaften verantwortlich. Den Höhepunkt der zivilgesellschaftlichen Aktivitäten bildete der Marsch „Für das
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Überleben“ (Za vyžyvanie), der vom 6. bis 8. Juli 1990 nach Moskau unternommen wurde. Einige Monate später war Minsk das Ziel. In der Hauptstadt stand die Mobilisierung der Tschernobyl-Aktivisten im engen Zusammenhang mit der Entwicklung der Nationalbewegung. Zum Fixpunkt wurde der alljährliche „Tschernobyl-Marsch“ (Čarnobyl‘ski šljach), der in seiner Reichweite alle Protestaktionen in der Provinz in den Schatten stellte. Im Unterschied zu den Gewerkschaften verfolgte die Belarussische Volksfront (BNF) mit ihren Demonstrationen neben sozioökonomischen auch politische Ziele. Obgleich die Tschernobyl-Katastrophe zu einer nationalen Tragödie stilisiert wurde, scheute die ländliche Bevölkerung der kontaminierten Region den Konflikt mit den Behörden und suchte ihr Heil nach wie vor in Eingaben. Zwar ging die städtische Bevölkerung zum aktiven Protest über, doch suchte sie Lösungen im Rahmen der bestehenden sowjetischen Ordnung. Lediglich die BNF forderte eine neue, von Moskau unabhängige und demokratische Belarus. Fatal sollte sich die Tatsache erweisen, dass die Protestaktionen in der Hauptstadt und in der Provinz zu keiner Zeit koordiniert wurden.
3. Z USAMMENFASSUNG Die Reaktionen der Bevölkerung in der BSSR auf die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl wurden durch eine kollektive Grundhaltung und paternalistisches Denken einerseits und durch mangelndes ökologisches Bewusstsein und defizitäres Rechtsempfinden andererseits bestimmt. Mit der Besinnung auf das sowjetische Eingabewesens begab sich die von der Kontaminierung betroffene Bevölkerung in die Rolle eines Bittstellers. Daher rückten weder die Forderung nach Informationsfreiheit noch die Forderung nach Schadensersatz auf die Tagesordnung. Stattdessen propagierten die Massenmedien einen sowjetischen Heroenkult und evozierten durch materielle Anreize und Pressezensur die Fortsetzung der Produktion in den kontaminierten Gebieten. Vor diesem Hintergrund trat der „anthropologische Schock“ in der BSSR unter eigenwilligem Vorzeichen mit dreijähriger Verspätung ein. Im Zuge des Aufschwungs der Nationalbewegung wurde die TschernobylKatastrophe seit 1989 als ökologischer Genozid gewertet. Allerdings sollte sich nach einer vorübergehenden Intensivierung zivilgesellschaftlicher Aktivitäten immer mehr die Bereitschaft zum materiellen Kompromiss unter den Bedingungen einer temporären Demokratisierung durchsetzen.
L ITERATUR Sahm, Astrid: Die weißrussische Nationalbewegung nach der Katastrophe von Tschernobyl (1886-1991), Münster, Hamburg: Lit Verlag 1994.
Tschernobyl als politisches und gesellschaftliches Problem in der Republik Belarus A NDREI S TEPANOV
Am 26. April 1986 ereignete sich im Atomkraftwerk Tschernobyl (ukr. Tschornobyl; wr. Tscharnobyl) eine Explosion, die zur fast vollständigen Zerstörung des vierten Kernblocks und zur Freisetzung großer Mengen radioaktiver Substanzen in Atmosphäre und Umwelt führte. Obwohl sich das Kernkraftwerk auf dem Territorium der Ukraine befand, belasteten mehr als 60 Prozent des radioaktiven Niederschlags das Territorium der Belorussischen Sozialistischen Sowjetrepublik (BSSR). Die radioaktive Wolke zog nicht nur über das westliche Territorium der Sowjetunion, sondern auch über Ostmitteleuropa, Skandinavien, Großbritannien und den östlichen Teil der Vereinigten Staaten von Amerika. Die Explosion provozierte eine Katastrophe, die in ihrer Dimension sowohl die Atombombeneinsätze von Nagasaki und Hiroshima als auch alle bisherigen Unfälle in Atomkraftwerken übertraf. Sie hatte eine enorme Auswirkung auf ganze Landstriche und deren Bewohner, was sich in medizinischen, ökologischen, sozialen und politischen Folgen äußerte. Es handelt sich dabei aber nicht nur um eine technische Katastrophe, sondern auch um eine Herausforderung an alle politischen, wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Institutionen der modernen Gesellschaft. Ein Vierteljahrhundert später sind die Konsequenzen immer noch spürbar. Es handelt sich bei Tschernobyl nicht nur um einen geographischen Ort, sondern auch um ein gesellschaftspolitisches Problem, das sich in einem Komplex von Folgen für Menschen und Umwelt äußert und letztlich auch Auswirkungen auf die Entwicklung und Nutzung der Kernenergie in der Welt hat. Die Rede ist von Richtungsänderungen und Paradigmenwechseln in der wissenschaftlichen Forschung, von der Transformation des sowjetischen Herrschafts- und Gesellschaftssystems sowie von politischen Umgestaltungen in den am meisten betroffenen Staaten, nämlich in der Republik
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Belarus, in der Ukraine und in Russland. Wie ist die Auswirkung Tschernobyls auf die politischen und gesellschaftlichen Prozesse im heutigen Weißrussland zu bewerten? Wie werden die Katastrophe und ihre Folgen verstanden?
1. D ER T SCHERNOBYL -K OMPLEX Tschernobyl spielt für Weißrussland eine vielschichtige Rolle. Erstens handelt es sich trotz der Koppelung an ein bestimmtes Ereignis um einen unvollendeten Prozess, der Auswirkungen auf die Umwelt sowie auf das soziale und politische Leben hat. Zweitens provoziert Tschernobyl kollektive Vorstellungen über gemeinsame Erfahrungen. Die Bezugnahme auf die Geschichte bietet Argumente für aktuelle politische Debatten. Drittens ist Tschernobyl mit dem Prozess des politischen Wandels in Weißrussland verbunden, mit der Erlangung der staatlichen Unabhängigkeit und mit der zivilen und sozialen Mobilisierung der Bevölkerung sowie mit der Herausbildung politischer Parteien und der Durchführung der ersten freien Wahlen. Tschernobyl stellt eine Sphäre dar, innerhalb derer politische Akteure die Möglichkeit finden, sich zu artikulieren und zu agieren, seien es Parteien, die seit 1989 am „Tschernobyl-Marsch“ (čarnobyl’ski šljach) teilnehmen, der Staat oder staatliche Institutionen, die mit der Überwindung der negativen Folgen befasst sind, akademische Institutionen und Wissenschaftler, die sich mit den Auswirkungen der Katastrophe auseinandersetzen, Interessengruppen, die in den betroffenen Gebieten Projekte realisieren, oder Massenmedien, die die Problematik in die Öffentlichkeit tragen. Schwierigkeiten bestehen nicht nur bei der Bewertung der Strahlenbelastung für die menschliche Gesundheit, sondern auch bei der Lokalisierung der Verseuchung. Auf der einen Seite ist es unmöglich, Tschernobyl eindeutig zu erfassen. Es befindet sich wie die Strahlung überall. Andererseits aber ist es der Name eines geografischen Ortes. Das Problem hängt damit zusammen, dass es für die Ortsbestimmung keine physischen Rahmen gibt. Man kann radioaktiv kontaminierte Gebiete auf der Karte festlegen, die Strahlung in Sievert und Becquerel ausdrücken. Aber die Aussagekraft der Messdaten wird immer wieder dadurch relativiert, dass Tschernobyl auch eine Art des Denkens und der Wahrnehmung derjenigen ist, die von der Katastrophe betroffen sind.
2. D IE T SCHERNOBYL -P OLITIK Durch den Super-GAU unterliegt die Wahrnehmung der Realität des Eindrucks einer Zeit vor und einer Zeit nach Tschernobyl. Diese Zäsur markiert die Diskontinuität zwischen Gegenwart und Vergangenheit und zeigt dabei
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nicht nur die Notwendigkeit auf, die Idee des friedlichen Atoms zu revidieren, sondern betont auch die Rolle der Wissenschaft bei sozialen Prozessen und die Bedeutung der Zivilgesellschaft für die politische Ordnung. Im Kontext der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl haben sich weniger die Ursachen als vielmehr die Auswirkungen als relevant erwiesen – abgesehen von der Tatsache, dass die Untersuchungsergebnisse empfehlen, eine Reihe noch funktionierender Kraftwerke desselben Typs zu schließen. Wenn man über die Auswirkungen auf die Umwelt spricht, dann geht es vor allem um die schweren ökologischen Folgen, um die Verschmutzung von Boden, Luft und Wasser. Die Auswirkungen auf die menschliche Gesundheit drücken sich in einer Häufung von Geschwulstkrankheiten in den verseuchten Regionen aus. Seit 1990 wird eine erhebliche Zunahme von Schilddrüsenkrebs, von Erkrankungen des Blutgefäß- und Lymphsystems sowie von genetischen Veränderungen beobachtet. Darüber hinaus nahm die Sterblichkeit in der Republik Belarus von 1990 bis 2004 um 43 Prozent zu. Die gesundheitlichen und demographischen Folgen wirkten sich auch auf die Gesellschaftsstruktur aus. Neben den Migrationsbewegungen ist auf die Bildung von Interessen- und Opfergruppen hinzuweisen. Die Reaktorkatastrophe provozierte Debatten über die Nutzung der Kernenergie und über die Risiken der Strahlenbelastung für die betroffene Bevölkerung. Planungen eines weißrussischen Kernkraftwerks kamen zum Erliegen. Das diesbezügliche Moratorium von 1998 wurde indes Anfang 2008 wieder außer Kraft gesetzt. Momentan wird in der Region Grodno (wr. Hrodna) ein Atomkraftwerk projektiert. In den Jahren 1990 und 1998 wurden Konzepte zur Erschließung kontaminierter Gebiete entwickelt. Im Jahre 1995 wurden Maßnahmen zum Schutz der Bevölkerung ergriffen, die in der Konsolidierungsphase nach der Errichtung des Sarkophags in Tschernobyl weiterhin auf verseuchtem Territorium lebte. Alles in allem vereinnahmte die Bekämpfung der Folgen der Reaktorkatastrophe den weißrussischen Staat in einem Maße, die als „Tschernobyl-Politik“ (černobyl’skaja politika) bezeichnet werden kann. Auf diese Weise erwies sich Tschernobyl als eigenartiger Katalysator einer politischen und sozialen Mobilisierung, zu der auch Aktivitäten der Zivilgesellschaft gehören. Seit 1989 organisiert die Belarussische Volksfront (BNF) an den Jahrestagen der Katastrophe einen Tschernobyl-Marsch. Darüber hinaus sind zahlreiche Stiftungen, Verbände und Vereine zu nennen, die sich um humanitäre Hilfe bemühen.
3. D IE T SCHERNOBYL -L EUTE Zu den Folgen von Tschernobyl gehörte die Herausbildung spezifischer sozialer Gruppen, die Betroffene gestaffelt nach medizinischen Parametern erfassen. Es handelt sich um an den Räumungsarbeiten unmittelbar nach dem Reaktorunfall beteiligte Liquidatoren, um Evakuierte aus der kontami-
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nierten Zone und um „eigenmächtige Siedler“ (samosely) in der kontaminierten Zone. Sie werden „Tschernobyl-Leute“ (černobyl‘cy) genannt. Heutzutage leben in Weißrussland schätzungsweise 3-4 Millionen Menschen dieser Kategorie. Die Reaktorkatastrophe führte zu einer neuen Klassifizierung des weißrussischen Territoriums und der weißrussischen Bevölkerung. Interessanterweise wurde die Kategorie „betroffene Bevölkerung“ noch nicht unmittelbar nach der Katastrophe auf die Agenda gesetzt. Zuerst war lediglich von Opfern der Explosion die Rede. Später wurde durch Gesetze und Verordnungen eine Klassifizierung der betroffenen Bevölkerung vorgenommen. 1991 wurden Liquidatoren und Betroffene unterschieden. Zu den Liquidatoren zählen demnach Personen, die von 1986 bis 1989 mit Räumungsarbeiten am Kernkraftwerk und in der kontaminierten Zone befasst waren. Zu den Betroffenen gehören folglich Personen, die auf verseuchtem Gebiet lebten und immer noch leben, und Kinder und Jugendliche, bei denen Leukämie, Schilddrüsenerkrankungen und Tumore infolge radioaktiver Verseuchung diagnostiziert wurden. In der Verordnung des Gesundheitsministeriums von 1999 wurden die medizinischen Folgen als ausschlaggebendes Kriterium für die Zugehörigkeit zu den Tschernobyl-Leuten festgeschrieben. Im Gesetz von 2009, das die soziale Fürsorge erneut regelte, wurden wieder die Dauer des Aufenthalts in der kontaminierten Zone und der Grad der persönlichen Strahlenkrankheit in Betracht gezogen.
4. D AS T SCHERNOBYL -T ERRITORIUM Der Begriff „Tschernobyl-Territorium“ (černobyl’skaja territorija) resultiert aus dem Bemühen, die von der Strahlung betroffenen Gebiete zu definieren und die Auswirkung der Strahlung zu registrieren. Er umfasst daher geografische Flächen mit unterschiedlichem Grad an Kontamination. Zu den ersten Praktiken der Lokalisierung gehörte die Bestimmung einer 30-KilometerZone um das Kernkraftwerk. Diese Zone hieß zuerst „Zirkelzone“, da es sich um ein Gebiet handelte, das entsprechend den Anforderungen des Strahlenschutzes auf der Karte mit einem Zirkel umrissen wurde, mit dem Epizentrum der Reaktorkatastrophe in der Mitte und einem Radius von 30 Kilometern. Die festgelegten Grenzen der Verstrahlung waren relativ. Sie gaben nur den Umfang des Territoriums an, spiegelten aber nicht den tatsächlichen Grad der Verstrahlung wider. Selbstredend waren die Konsequenzen immens. Die Einwohner von Siedlungen, die nicht zur 30Kilometer-Zone gehörten, sich aber in 40-45 Kilometer Entfernung noch in gefährlicher Nähe zum Epizentrum der Explosion befanden, wurden in den ersten Tagen nach dem Unfall nicht umgesiedelt. Folglich belegen sämtliche Bemühungen, Tschernobyl einzugrenzen, eine Kluft zwischen den Vorstellungen über die Folgen und den tatsächlichen Auswirkungen des Unfalls. Zu den Praktiken der Lokalisierung gehörte auch die Veröffentlichung von Karten mit Angaben zur Verstrahlung. Die „Pilz-Karte“, die in der Zeitung
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Gomelskaja Prawda (Gomel’skaja Pravda/„Gomeler Wahrheit“) am 23. Mai 1989 veröffentlicht wurde, illustriert nicht nur die Freisetzung radioaktiver Elemente, sondern weist auch auf Gebiete hin, die für das Sammeln von Pilzen freigegeben waren. Der Anteil des „Tschernobyl-Territoriums“ an der Gesamtfläche der Republik Belarus beträgt 23 Prozent, im Falle der Ukraine 7 Prozent und im Falle Russlands 0,5 Prozent. In der Republik Belarus wurde das „Tschernobyl-Territorium“ nach dem Untergang der Sowjetunion gesetzlich fixiert, um Fragen der Verwaltung und der Umsiedlung zu regeln. Im Jahre 1991 wurden vier Zonen unterschieden, eine bewohnbare Zone mit periodischer Strahlungskontrolle, eine mit dem Recht auf Umsiedlung versehene Zone, eine für die mittelfristige Umsiedlung in Betracht gezogene Zone, eine für die kurzfristige Umsiedlung vorgesehene Zone und eine Evakuierungs- oder Sperrzone. Zentrale Kriterien dieser Klassifizierung waren die Bewohnbarkeit (durchschnittliche jährliche Strahlendosis), der Verseuchungsgrad (Bodendichte der Radionuklide) und die Versorgung mit einwandfreien Lebensmitteln (Produktion und Logistik). In der revidierten Fassung des Gesetzes von 1999 offenbarte sich eine zunehmende Tendenz der Relativierung von Tschernobyl in den sozialen Praktiken. Beispielsweise wurde der Grad der Auswirkung von Strahlung auf den Menschen durch den Grad der Auswirkung von Strahlung auf die Bevölkerung ersetzt. Dies zeugt einerseits davon, dass Tschernobyl als kollektive Erfahrung an Bedeutung zunahm. Andererseits erfährt Tschernobyl im Sinne der Konstruktion einer Post-Tschernobyl-Realität eine Objektivierung. Tschernobyl fungiert im öffentlichen Diskurs nur noch als Hintergrundfolie für Probleme der Sozialversicherung, des Gesundheitswesens und der öffentlichen Ordnung. Als Kehrseite wird es bei der Propagierung der staatlichen Wohlfahrtspflege instrumentalisiert.
5. Z USAMMENFASSUNG Wenn man sich mit den Folgen von Tschernobyl auseinandersetzt, d.h. mit der Bevölkerung und mit dem Territorium, dann rücken die Auswirkungen der Katastrophe auf die Umwelt und den Alltag in den Mittelpunkt des Interesses. Als signifikant erweisen sich weniger der Atomunfall und die Zerstörung des Kernkraftwerks selbst, als vielmehr die langfristigen Folgen der Freisetzung radioaktiver Elemente. Obwohl das Kernkraftwerk abgeschaltet ist und keine Energie mehr produziert, hat Tschernobyl bis heute Auswirkungen auf die sozialen und politischen Verhältnisse in der Republik Belarus. Hinzuweisen ist auf die Maßnahmen der Behörden, die damit befasst sind, die Folgen von Tschernobyl zu überwinden respektive zu beseitigen oder zu minimieren. Die Rede ist vom Problem der Interpretation Tschernobyls, das von Anfang an ein Ereignis bildete, welches in besonderem Maße
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der Erklärung und des Verstehens bedarf: „Tschernobyl ist ein Geheimnis, das wir noch zu enträtseln haben. Ein ungelesenes Zeichen. Vielleicht ist es ein Rätsel für das 21. Jahrhundert, eine Herausforderung. Klar geworden ist: Zu den kommunistischen, nationalen und neuen religiösen Herausforderungen, unter denen wir leben und die wir überleben, kommen noch neue Herausforderungen, noch wildere und elementarere, dem Auge aber noch verborgene. Etwas davon hat sich durch Tschernobyl jedoch bereits enthüllt...“.1 Übersetzung von Elizaveta Slepovitch
L ITERATUR Alexijewitsch, Swetlana: Tschernobyl. Eine Chronik der Zukunft, Berlin: Berliner Taschenbuch Verlag 2006. Dawson, Jane I.: Eco-Nationalism. Anti-nuclear Activism and National Identity in Russia, Lithuania, and Ukraine, Durham, London: Duke University Press 1996. Marples, David R.: Belarus: From Soviet Rule to Nuclear Catastrophe, New York: St. Martin’s Press 1996. Petryna, Adriana: Life Exposed. Biological Citizens after Chernobyl, Princeton, Oxford: Princeton University Press 2002. Sahm, Astrid: Transformation im Schatten von Tschernobyl. Umwelt- und Energiepolitik im gesellschaftlichen Wandel von Belarus und der Ukraine, Münster, Hamburg, London: Lit Verlag 1999. Tschernobyl: Vermächtnis und Verpflichtung. Themenheft der Zeitschrift: Osteuropa 56 (2006), H. 4.
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Aleksievič, Svjatlana: Čarnobyl’skaja malitva, Minsk: Hronka 1999, S. 24
Der neue Staat in alten Kleidern. Symbolische Narrative der Republik Belarus E LENA T EMPER
Der Fall des „Eisernen Vorhangs“ vor zwanzig Jahren führte zur Neu- oder Wiederauferstehung unabhängiger Staaten auf der politischen Karte des östlichen Europas. Die neue oder wiedererlangte Staatlichkeit musste durch ein neues Pantheon der eigenen Geschichte legitimiert werden. Zu einem wesentlichen Kriterium für die Konstruktion einer neuen kollektiven Identität wurde dabei die erinnernde Konstruktion eines in die Vergangenheit zurückprojizierten Wertekanons. Der politische Systemwechsel ging mit der Wiederkehr nationaler Mythen und dem Wandel staatlicher Symbole einher. Vielerorts in Osteuropa wurden kommunistische Denkmäler gestürzt, Straßen umbenannt und die Staatssymbole geändert. Die Rückwendung zum Vertrauten äußerte sich in den neuentstandenen postsowjetischen Staaten vor allem in der Neugestaltung des öffentlichen Raums durch die alten, jahrzehntelang verbannten Bilder in Form von Denkmälern, Wappen und Flaggen sowie ihrer Abbildungen auf Banknoten, Münzen, Briefmarken, durch die Umgestaltung von Staatsbauten und den Wiederaufbau ehemaliger Residenzen, durch das Entfernen sozialistischer Propagandaplakate, durch Straßenumbenennungen und das Einführen neuer Feiertagskalender und Formen staatlichen Zeremoniells. Die augenfälligen visuellen Auswirkungen der politischen Systemtransformation machten deutlich, dass gerade in Umbruchszeiten den Symbolen und visuellen Präsentationen im weitesten Sinne als Mittel der Selbstdarstellung des Staates und staatlich gelenkter Konstruktion der kollektiven Identität eine zentrale Rolle zukommt. Daher stellt sich die Frage, ob sich für die Republik Belarus, die das Erbe des treuesten Vasallen des ehemaligen sowjetischen Imperiums angetreten hat, eine ähnliche symbolische Wende konstatieren lässt.
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1. Z EICHEN
DER N ATION NACH DER STAATLICHEN U NABHÄNGIGKEIT
Die Republik Belarus, die 1991 aus der Sowjetunion austrat, vollzog zeitgleich mit der Verkündung der staatlichen Souveränität und der Namensänderung des Staates auch den Wechsel der Staatssymbolik. Die reformierte symbolische Ordnung sollte vor allem den neuen nationalen Identitätsentwurf widerspiegeln. Den Kern des belarussischen nationalen Modells bildete die Mythisierung des frühneuzeitlichen Fürstentums Polazk (russ. Polozk) und des mittelalterlichen Großfürstentums Litauen, dessen Territorium vorwiegend aus belarussischen Gebieten bestand und in dem die altbelarussische Sprache als Amtssprache verwendet wurde. Der Bezug auf den mittelalterlichen Staat sollte zugleich mehrere Aspekte aufzeigen: eine eigene beziehungsweise keine russische Vergangenheit, eine lange Tradition der Staatlichkeit, die kulturelle Zugehörigkeit zu Europa und nicht zuletzt die Eigenständigkeit der belarussischen Sprache, die ihr während der Sowjetzeit abgesprochen wurde. Unmittelbar nach der Unabhängigkeitserklärung im August 1991 waren die nationalen Kräfte bestrebt, eine möglichst rasche symbolische Distanzierung von der sowjetischen Vergangenheit durchzusetzen. Daher stellte der Bezug auf das ikonographische Erbe des Großfürstentums Litauen und der Belarussischen Volksrepublik (BNR) von 1918 – das Wappen Pahonja („Verfolgung“) und die weiß-rot-weiße Fahne – eine logische Konsequenz dar, den neuen Staat auch auf der symbolischen Ebene von der kommunistischen Ideologie und dem Sowjetsystem deutlich abzugrenzen. Ein erster Schritt in diese Richtung wurde bereits im Januar 1990 unternommen, als der Oberste Sowjet das Belarussische als Staatssprache gesetzlich einführte, während Russisch zur zwischennationalen Verkehrssprache erklärt wurde. Damit sollte der Prozess der landesweiten Belarussifizierung eingeleitet und die zu Sowjetzeiten betriebene Russifizierung gestoppt werden. Mittels symbolischer Praxis der Distanzierung von der sowjetischen Vergangenheit sollte die Einheit eines nationalstaatlich verstandenen kulturellen Rahmens geschaffen werden, innerhalb dessen sich die neue Nation definieren und ihren Mitgliedern „das Gefühl für den Ort“ in der Gesellschaft vermitteln konnte. Die Strategie der Belarussischen Volksfront (BNF), auf den antisowjetischen Impetus zu setzen, erwies sich jedoch auf lange Sicht bei der Einführung der neuen Staatssymbole nicht als zukunftstauglich. Wie in vielen anderen Fragen musste die nationale Fraktion den Widerstand des kommunistisch dominierten Obersten Sowjets überwinden. Erschwerend kam hinzu, dass die BNF-Politik keinen Rückhalt in der Bevölkerung besaß. Diese war nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion mit den Folgen der Wirtschaftskrise beschäftigt und hatte wenig patriotisches Empfinden für die national-staatlichen Belange. Schlagwörter wie „Krise“, „Verschlechterung der Lebensumstände“ wurden unweigerlich mit „Unab-
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hängigkeit“, dem Wappen Pahonja und der „weiß-rot-weißen Fahne“ assoziiert. Des Weiteren wurde die Chance vergeben, die Einführung der neuen Staatssymbolik als „Ritual des Wandels“, als Sinnbild eines politischen Neuanfangs aufwändig zu inszenieren. Stattdessen verlief der Wechsel der staatlichen Symbole ohne einen besonderen zeremoniellen Aufwand. Über Nacht verschwanden die rot-grüne Fahne der Belorussischen Sozialistischen Sowjetrepublik (BSSR) sowie deren Staatswappen, und die weiß-rot-weiße Fahne und das Wappen Pahonja nahmen ihren Platz ein. Von diesem historischen Moment gab es keine Übertragung im staatlichen Fernsehen, keine professionellen Dokumentaraufnahmen und keine nennenswerte Berichterstattung in den Printmedien. Der aufwändigen Inszenierung des symbolischen Übergangs stand ferner die Tatsache entgegen, dass die Staatssymbole sukzessive eingeführt werden sollten. Ein letzter, nicht zu unterschätzender Grund für die unzureichende Vermittlung der neuen Staatssymbolik lag darin, dass die Trägerschaft des nationalen Erbes der Belarussen, zu dem vor allem Sprache, Traditionen und Geschichtskenntnis zählen, aus einigen wenigen Intellektuellen, Schriftstellern und Künstlern bestand. Diesen haftete jedoch die negative Vergangenheit der belarussischen Nationalisten an, die während der Okkupation im Zweiten Weltkrieg versucht hatten, unter dem deutschen Protektorat die nationale Idee zu beleben und die Eigenstaatlichkeit wieder zu erlangen. Durch Artikel zum Thema Staatssymbolik in Zeitungen und Zeitschriften wurden Anfang der neunziger Jahre zwar Traditionen und mögliche Deutungen vor allem von Pahonja ins öffentliche Bewusstsein gehoben. Sie standen allerdings angesichts der tiefgreifenden politisch-wirtschaftlichen Umbrüche nicht im Zentrum des Interesses. Wie in anderen Teilrepubliken der ehemaligen Sowjetunion waren auch die Menschen in Belarus mit existenziellen Problemen beschäftigt. Die Mehrheit der Bevölkerung, die zu Sowjetzeiten einen relativen Wohlstand genoss, stand der Politik der BNR reaktionär entgegen. Diese suggerierte, dass die Sowjetzeit am besten aus der belarussischen Geschichte und aus dem individuellen Gedächtnis gestrichen werden sollte. Besonders die belarussischen Partisanen, die Anfang der neunziger Jahre ein Drittel der Gesamtbevölkerung ausmachten, fühlten sich gewissermaßen betrogen. Die BNF-Aktivisten hatten zu wenig bedacht, dass von der belarussischen Mehrheit die rot-grüne Sowjetfahne sowie die rote Fahne der Sowjetunion weniger mit der Idee des Kommunismus, sondern vielmehr mit dem Sieg im Zweiten Weltkrieg assoziiert wurden. So blieb die BNF – ungeachtet ihrer relativen politischen Erfolge – mit ihrem Programm allein. Der Vorschlag über die Änderung der Staatssymbolik war das letzte Anliegen, das die BNF-Abgeordneten im Parlament durchsetzen konnten. Alle späteren Anträge scheiterten. Die Entscheidung über die neuen Staatsinsignien fand politisch zum richtigen Zeitpunkt statt. Nicht zuletzt wurde sie durch den im August 1991 gescheiterten Kommunistenputsch in Moskau begünstigt. Die geschockte Nomenklatura, die Parteielite, die um ihre Position bangte, ging einige Kompromisse mit der Opposition ein.
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Doch bereits ab Mitte September erlangte sie ihre alte Machtstellung wieder. Am deutlichsten war das daran zu erkennen, dass die Vorschläge, eine eigene nationale Währung einzuführen sowie eigene Streitkräfte zu formieren, abgelehnt wurden. Die symbolische Positionierung spielte eine entscheidende Rolle, nicht nur als die Unabhängigkeitsdeklaration von Belarus verfassungsmäßig in Kraft getreten war. Sie war ebenfalls entscheidend in ihrer Signalwirkung für die Hervorhebung der staatlichen Souveränität spätestens beim Abschluss der Viskuli-Verträge am 8. Dezember 1991. Mit der Unterzeichnung der Urkunde zur Kündigung des Unionsvertrages erhielt die Republik Belarus ihre vollständige staatliche Unabhängigkeit. Nur zwei Tage später erließ der Oberste Sowjet den Beschluss über die Parameter des Staatswappens.
2. R ÜCKKEHR
ZUM SOWJETISCHEN
E RBE
Die Zeit der postsowjetischen Unabhängigkeit, in der die nationale Idee sich zu festigen begann, dauerte nur wenige Jahre. Nach dem Machtantritt Präsident Aljaksandr Lukaschenkas im Jahr 1994 folgte die offizielle Geschichtspolitik anderen, und zwar sowjetisch konnotierten Prämissen. Der staatliche Erinnerungsdiskurs basiert auf der Belorussischen Sozialistischen Sowjetrepublik (BSSR, 1919) als erstem real existierenden belarussischen Staat. Den zentralen Moment der nationalen Idee im offiziellen Verständnis bilden der Rekurs auf den „Großen Vaterländischen Krieg 1941-1945“ (sowjetische Bezeichnung des Zweiten Weltkrieges) und der Mythos von Belarus als „Partisanenrepublik“, der in der Sowjetzeit bewusst aufgebaut wurde. Eine solche Geschichtslesart kommt nicht umhin, die besondere Verbundenheit zum russischen „Brudervolk“ hervorzuheben. Ein deutliches Beispiel für die historische Rückbesinnung des Landes auf seine sowjetische Vergangenheit stellt die Veränderung der Staatssymbolik dar, die im Mai 1995 per Referendum durchgesetzt wurde. Das gültige Symbolsystem ist ein Produkt sowjetischer Prägung und geht auf die Gründung der BSSR zurück, die bis zur Eingliederung der Westbelarus/Westweißrusslands/der polnischen Ostgebiete (Kresy wschodnie) infolge des Hitler-Stalin-Paktes im September 1939 nur zum Teil die geopolitischen Grenzen der Belarussischen Volksrepublik (BNR) einschloss und eine der fünfzehn Republiken der ehemaligen Sowjetunion bildete. Das reanimierte Sowjetwappen, vermindert um Hammer und Sichel, und die sowjetbelarussische rot-grüne Flagge repräsentieren folglich die Republik. Damit ist Belarus die einzige postsowjetische Republik, die zu den sowjetischen Insignien zurückgekehrt ist. Das mittelalterliche Wappen und die weiß-rot-weiße Flagge gelten seitdem als Symbole der Opposition. Vor dem Hintergrund des restaurativen politischen Kurses der Regierung, der stark an die sowjetischen Erinnerungstraditionen anknüpfte, und der bereits durchgeführten Wiedereinführung modifizierter BSSR-Symbolik erschien die Ent-
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scheidung für eine revidierte Hymne der BSSR nun konsequent. Die neue Hymne wurde einen Tag vor dem Unabhängigkeitstag, am 2. Juni 2002, vom Präsidenten bestätigt.1 Der Aushandlungsprozess wurde für die Bevölkerung durch ihre aktive Beteiligung medial inszeniert. Nachdem sich die Belarussen mit vokalen Interpretationen der Hymnenvorschläge vier Tage vor der Abstimmung im Radio vertraut machen durften, wurde schließlich im telefonischen Plebiszit, an dem 118.000 Menschen teilnahmen, abgestimmt. Obwohl die Mehrheit sich offensichtlich für eine neue Hymnenversion äußerte, präsentierte die Jury, der kein einziger Dichter angehörte, unter Leitung des Vizepremierministers als Ergebnis ihrer viermonatigen Arbeit ein Arrangement aus der alten Hymnenmusik der BSSR und einem modifizierten Hymnentext der BSSR.2 Damit folgte Belarus dem Vorbild des „slawischen großen Bruders“ Russland, das nur zwei Jahre zuvor eine Hymnenänderung vorgenommen hatte. Bei der neuen Hymne der Russländischen Föderation handelt es sich um die Melodie der ehemaligen Sowjethymne mit einem modifizierten alt-neuen Text. Bezeichnenderweise wurden die Veränderungen im Text vom Autor der ersten und zweiten Textvariante der sowjetischen Hymne, Sergei Michalkow, vorgenommen.
3. P ROPAGANDA DER S TAATSSYMBOLE
NEOSOWJETISCHEN
Die belarussische Regierung setzt bei der Propagierung der Staatssymbole außer auf klassische Bilder (Poster, Fotographie) verstärkt auf die audiovisuellen Medien (Fernsehen, Rundfunk, Internet). Durch die Verbindung mit dem Auditiven entfalten die auf statischen Bildern basierenden Repräsentationsformen eine stärkere Wirkung und bleiben so im Gedächtnis der Menschen länger haften. Einen Eindruck solcher Inszenierungen vermittelt die massenwirksame Performance der Staatshymne, die am Tag ihrer gesetzlichen Registrierung und zugleich am Vorabend der Feierlichkeiten zum Unabhängigkeitstag am 3. Juli 2002 im Beisein des Präsidenten von einem Chor in Begleitung eines Militärorchesters uraufgeführt und im staatlichen Fernsehen übertragen wurde. Im Jahr 2003/2004 gab es insgesamt vier Aufzeichnungen der Staatshymne für die beiden staatlichen Fernsehkanäle. Jede von ihnen hatte eine
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„Rėspublika Belarus’. Prėsident ab dzjaržaŭnym himne Rėspubliki Belarus’“, in: Nëman (2002) H. 6, S. 3–6. Skobelev, Ė. M.: Herb, Scjah i Himn Belaruskaj Dzjaržavy. Minsk: Mastackaja litaratura 2006.
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besondere Choreographie.3 Im ersten Videoclip wurde die Hymne von einer großen Menschengruppe in schwarz, deren einziges nationales Erkennungsmerkmal aus kleinen Staatsfähnchen in ihren Händen bestand, aufgeführt. Die Inszenierung wurde von einem Militärorchester begleitet. Als Kulisse diente die Anhöhe vor der Minsker Kathedrale an einem Winterabend. Die Uraufführung dieses Volksgesangs der Staatshymne wurde in der Silvesternacht 2003 übertragen. Danach erschien die Aufzeichnung der Hymne in dieser Form vor und nach jeder Nachrichtensendung des ersten Fernsehkanals. Sehr bald wurde jedoch befürchtet, dass eine solche „dunkle Masse“ ohne Differenzierungsmerkmale (abgesehen von den Staatsfähnchen) kein Träger der „belarussischen Identität“ sein kann. Das neue Drehbuch sah die Aufführung der Hymne in einem hell beleuchteten Studio vor, wobei die Sänger nationale Kostüme der in Belarus lebenden Völker trugen. Außerdem ermöglichte die Anwesenheit verschiedener Alters- und Geschlechtergruppen, Familien- und Berufsverbände, die hier in aller Deutlichkeit hervortraten, die Nation als eine heterogene multiethnische Gemeinschaft zu sehen. In einer solchen Variante der visuellen Repräsentation, die fast eine mustergültige, am meisten authentische und beinahe wörtliche Hymnenverfilmung darstellte, erschien die moderne Republik Belarus als Erbin der sowjetischen Doktrin des Internationalismus: die belarussische Nation bilden außer Belarussen noch Russen, Ukrainer, Polen und Juden. Eine solche Lesart der Hymne kann als ein unmittelbares Ergebnis des neo-sowjetischen Politikkurses des Präsidenten gewertet werden, der im Hymnentext offen zu Tage kommt und seine ideologische Grundlage bildet. Die Botschaft war offensichtlich. Nach dem Zerfall der Sowjetunion übernahm Belarus eine Rolle als Garant der „Brüderunion der Völker“. Diese Aussage entsprach durchaus der von Lukaschenka am Anfang seiner Amtszeit eingeschlagenen politischen Richtung: „Belarus wird als Retter der slawischen Zivilisation gesehen, und wir sollten diese Zivilisation retten.“4 Das zweite belarussische Fernsehen präsentierte bald seine eigene Version der Hymneninszenierung. Die neue Variante zeichnete sich durch zwei Neuerungen aus: Zum einem wurde hier die Staatssymbolik ins Zentrum des Geschehens gerückt und zum anderen wurde das Konzept einer „Vielvölkernation“ zu Gunsten „einer Nation“ aufgegeben. Einen Chor gab es ebenfalls nicht mehr zu sehen, dafür wurden aber Textpassagen zum Mitsingen eingeblendet. In dieser Version fungierte die Staatshymne als musikalische Begleitung einer Symbolikshow. Als Hauptakteure der Visualisierung traten hier die Fragmente des Staatswappens (der Stern, das Banner, die Wei-
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Sarna, Aleksandr: „Identičnost’ ,na...ʻ. Performans naroda/nacii na belorusskom televidenii“, in: Perekrёstki (2006) H. 1/2, S. 12–18; ders.: „Političeskaja reklama – 2006: vlasti i opposicii“, in: Palityčnaja sfera (2006) H. 7, S. 63–74. Narodnaja gazeta vom 12.4.1995.
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zenähren, Leinen- und Kleebündel) auf. Die Struktur der Aufzeichnung war strikt auf das korrespondierende Verhältnis zwischen der verbalen – dem Hymnentext – und der visuellen Komponente – der Symbolik – ausgerichtet. So wurde während der gesamten ersten Strophe das Staatswappen in Gold eingeblendet. Beim Refrain wurden das Wappen und die Staatsfahne abwechselnd gezeigt und im Verlauf der zweiten Strophe rotierte der rote Stern um die eigene Achse. Die Inszenierung fand ihren Höhepunkt während der dritten Strophe, als die einzelnen Elemente des Wappens, nun in Farbe, zu einem großen Staatswappen zusammengeführt wurden. Bei dieser Variante wurde gänzlich auf die Konstruktion eines Raums verzichtet. Die Identifikation mit dem Staat und dem Volk sollte allein über seine staatlichen Embleme erfolgen. In einer Art Konkurrenzkampf zwischen den beiden Fernsehsendern um die beste Hymnenaufzeichnung folgte bald die neue Version des ersten Fernsehkanals. Im Videoclipstil folgte zum Hymnengesang ein Sammelsurium von allem „traditionell“ Belarussischen: Störche, Erntemaschinen auf dem Feld, zahlreiche Naturaufnahmen, Veteranenparade, junge Menschen in Volkskleidern usw. Die Bilder wurden thematisch sortiert. Während der ersten Strophe der Hymne erschienen Produkte des technischen Fortschritts der Republik wie der Traktor „Belarus’“, eine Lastwagenkolonne der Marke „MAZ“ etc. Während der zweiten Strophe kam die Kriegsthematik auf: der Obelisk auf dem Platz des Sieges in Minsk (wr. Mensk), Veteranen, die Kriegschronik. Ihr folgten aktuelle Aufnahmen sowie Ausschnitte des Musikfestivals Slawischer Basar in Wizebsk (russ. Witebsk) und des Festivals der Kulturen in Hrodna (russ. Grodno) mit vergnügten und fröhlichen Menschen. Den Abschluss bildeten Themen wie „Geschichte“ mit den Abbildungen der Schlösser in Neswisch (wr. Njaswisch) und Mir und „Sport“ mit Bildern belarussischer Athleten bei den Olympischen Sommerspielen 2004. Die Themenblöcke wurden abwechselnd von fliegenden Störchen und einem Hubschrauber, an dem die Staatsfahne befestigt wurde, ineinander übergeleitet. Die Aufnahmen des Hubschraubers stammen von der Eröffnung der Kriegsparade zum 60. Jahrestag der Befreiung Minsks am 3. Juli 2004. Auch hier wurde der Hymnentext zum Mitsingen eingeblendet. Diese Hymneninterpretation setzte auf die Traditionen des Landes. Die wirtschaftlichen Erfolge, Heldentum, Kultur- und Sportereignisse sollten bei den Menschen Stolz auf ihr Land wecken und ihren eigenen Beitrag zum belarussischen Wohlergehen anregen. Zu Propagandazwecken erschien 2003 die offizielle Standardaufnahme der Hymne auf CD. Ihre Distribution erfolgte über Buchläden, Warenhäuser, Souvenirshops, Kioske. Zu einem für belarussische Verhältnisse nicht unbedingt erschwinglichen Preis von etwa fünf Euro bekam der neue Besitzer außer des Hymnentextes und der Noten auch die Beschreibung ihrer Entstehungsgeschichte und einen Auszug aus dem Gesetz über die Verwendung der Staatssymbolik. Seit Dezember 2008 wurden alle öffentlichen Verkaufsstellen per Dekret dazu verpflichtet, das Informationsmaterial über
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die Staatssymbolik (eine DVD) in ihrem ständigen Angebot vorweisen zu können. Freilich gehört die Inszenierung der Staatshymne zur Choreographie jeder Feierlichkeit zum Unabhängigkeitstag. Umrahmt wird das kollektive Singen vom Tragen einer überdimensionalen, etwa 60 Meter langen Staatsflagge und einer von Menschen gestalteten Darstellung des Staatswappens am Obelisk des Sieges in Minsk. Zum Abschluss und als Höhepunkt der Feier wird die Hymne mit einen Feuerwerk in fünf- bis achtstündigen Konzerten von allen Teilnehmern aufgeführt. Alternativ zur Staatshymne hatte die belarussische Opposition, vertreten durch Parteivorsitzende und Angehörige der Intelligenzija, Anfang März 2003 eine eigene Nationalhymne angenommen. Aus sechs möglichen Vorschlägen wurde die religiöse Hymne „Allmächtiger Gott“ (Mahutny Boža) ausgewählt. Am 24. März fand ein kollektives Singen der Hymne vor dem Denkmal des Nationaldichters Janka Kupala statt.
4. Z USAMMENFASSUNG Am Beispiel der Staatshymne wurde deutlich, dass die politische Kommunikation und die Ästhetik der herrschenden Eliten eng an sowjetische Traditionen anknüpfen. Das Geschichts- und Weltbild und somit auch das staatliche Bildungssystem, der öffentliche Diskurs und die Medien sind von realsozialistischen Kontinuitäten geprägt. Die Maßnahmen zur Popularisierung der Staatssymbolik zeigen deutliche Wirkung. Nach der letzten Meinungsumfrage des unabhängigen Forschungszentrums NISEPI äußerten sich auf die Frage „Wie stehen Sie zur gegenwärtigen Staatssymbolik (Wappen, Flagge, Hymne) der Republik Belarus’?“ 56,7 Prozent der Befragten positiv; 12,3 Prozent haben eine negative Einstellung und 28,2 Prozent der Befragten waren indifferent.5 Lukaschenkas Strategie, in der symbolischen Politik auf den antinationalen Impetus zu setzen, erwies sich aus mehreren Gründen als erfolgreich. Die modifizierten sowjetischen Staatssymbole stellten in weiten Teilen der belarussischen Bevölkerung einen stärkeren Erinnerungsort dar als die nationale Symbolik, die in der Tradition des Großfürstentums Litauen verwurzelt ist. Die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg, das individuelle Gedächtnis der Kriegs- und Nachkriegsgenerationen und nicht zuletzt die sowjetische Propaganda schufen eine starke Identifikation der belarussischen Mehrheit mit den ehemaligen Symbolen der BSSR. Die Einführung der neuen Staatssymbole im Jahr 1995 war schließlich auch deshalb wirksam, weil sie den in der Bevölkerung bereits vorhandenen Stimmungen entsprach. Angesichts der damaligen schweren Wirtschaftskrise verhielten sich
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Vgl. die Ergebnisse der nationalen Meinungsumfrage des NISEPI vom 2.–12. Dezember 2008. Siehe http://www.iiseps.org/data2.html vom 3.3.2009.
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breite Schichten der Öffentlichkeit stark antinational und wünschten sich das sowjetische Staatssystem zurück. Die Anfang der neunziger Jahre verpassten Chancen, die Rituale des Übergangs mittels Symbolik zu inszenieren, wurden vom ersten belarussischen Präsidenten aktiv genutzt. Die öffentliche Inszenierung der reformierten Staatssymbolik erfolgte in verschiedenen Schritten. Lukaschenka erklärte schon vor seinem Amtsantritt die Symbolpolitik zu einer wichtigen Aufgabe. Durch die Einbeziehung des Volkes bei der Entscheidung über die Veränderung der Staatssymbolik im Referendum von 1995, beim öffentlichen Wettbewerb für den besten Erklärungstext der neuen Staatsembleme und ebenso bei der Suche nach einer geeigneten Staatshymne durch eine öffentliche Ausschreibung sollte zum einen auf die Transparenz des Staates – die Meinung eines jeden Einzelnen zählt – hingewiesen werden. Zum anderen, und das ist wichtiger, sollte die direkte Volksbeteiligung bei den Findungsprozessen eine noch wirksamere Identifikation mit dem erreichten „volkseigenen“ Ergebnis erzeugen.
L ITERATUR Goehrke, Carsten/Gilly, Seraina (Hg.): Transformation und historisches Erbe in den Staaten des europäischen Ostens, Bern: Peter Lang Verlag 2000. Heinrich, Hans-Georg/Lobova, Ludmilla (Hg.): Belarus: External Pressure, Internal Change, Frankfurt a. M. u.a.: Peter Lang Verlag 2009. Konturen und Kontraste. Belarus sucht sein Gesicht. Themenheft der Zeitschrift: Osteuropa 54 (2004) H. 2. Lindner, Rainer/Meissner, Boris (Hg): Die Ukraine und Belarus’ in der Transformation. Eine Zwischenbilanz, Köln: Verlag Wissenschaft und Politik 2001. Scharff, Roland (Hg.): Belarus. Zwischenbilanz einer stornierten Transformation, Osnabrück: Fachhochschule Osnabrück 2001. Temper, Elena: Belarus versinnbildlichen. Staatssymbolik und Nationsbildung seit 1990, Köln, Weimar, Wien: Böhlau Verlag 2011.
Die eigentliche Minderheit? Die staatliche Inszenierung weißrussischer Ethnizität in der Republik Belarus F ELIX A CKERMANN
WIR, DIE BELARUSSEN, SIND EIN FRIEDLICHES VOLK MIT DEM HERZEN TREU UNSEREM VATERLAND, WIR SIND GUTE FREUNDE UND STÄRKEN UNS IN EINER TÜCHTIGEN UND FREIEN FAMILIE. ES LEBE DER NAME UNSERES LANDES, ES LEBE DIE BRÜDERLICHE VÖLKERUNION! UNSERE LIEBE MUTTER HEIMAT, EWIG LEBE UND BLÜHE BELARUS! ZUSAMMEN MIT UNSEREN BRÜDERN JAHRHUNDERTELANG VERTEIDIGTEN WIR UNSER HEIM, IN KÄMPFEN UM FREIHEIT, IN KÄMPFEN UM DAS LEBEN GEWANNEN WIR DIE FAHNE UNSERES SIEGES! DIE FREUNDSCHAFT ZWISCHEN VÖLKERN IST DIE KRAFT DER VÖLKER UND DIES IST UNSER HEILIGER SONNIGER WEG. AUF, IN DEN KLAREN HIMMEL GEHE, O FAHNE DES SIEGES, O FAHNE DER FREUDE! HYMNE DER REPUBLIK BELARUS SEIT 2002
Alle zwei Jahre wird in Grodno (wr. Hrodna) im äußersten Nordwesten der Republik Belarus ein Festival der nationalen Kulturen gefeiert. Das staatlich finanzierte und vom städtischen Exekutivkomitee organisierte Event versetzt die Stadt in einen Ausnahmezustand – Akteure aus ganz Belarus zeigen ihre Tanz-, Gesangs- und Handwerkskünste auf unzähligen Bühnen, die
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in den Hinterhöfen der Altstadt aufgebaut werden. Das dreitägige Festival ermöglicht dem teilnehmenden Beobachter wie unter einem Brennglas die offizielle Inszenierung von Ethnizität in einem postsowjetischen Staat zu erleben. Grodno lässt sich dabei als exemplarischer Ort lesen, der im Zuge der neunziger Jahre zunehmend mit einem Label versehen wurde, das im Westen Europas leicht als ,Multikulti‘ gedeutet werden könnte und vor Ort als „multinational“ bezeichnet wird. Die 320.000 Einwohner zählende Stadt im Nordwesten der Republik Belarus hat heute eine 25 Prozent starke polnische Minderheit, die ebenso wie die meisten der 62 Prozent weißrussischen Einwohner hauptsächlich aus den Dörfern der umliegenden Region nach Ende des Zweiten Weltkriegs nach Grodno gekommen ist.1 So wird in Grodno betont, dass die staatliche Volkszählung für die Stadt mit zehn Prozent Russen und zwei Prozent Ukrainern größere Gruppen aufweist. Während vor 1945 etwa 50 Prozent der Einwohner Juden waren, leben heute offiziell nur noch 0,4 Prozent Juden in Grodno.2 2006 nahm ich im Rahmen einer Exkursion mit meinen Studenten der Europa-Universität Viadrina am Festival der nationalen Kulturen teil. Zur Vorbereitung recherchierten einzelne Gruppen jeweils die Geschichte einer nationalen Minderheit. Vor Ort beobachteten sie ihre öffentliche Präsentation besonders genau. Ich stellte mir nach Gesprächen mit einigen der ursprünglichen Initiatoren und heutigen Organisatoren die Frage, warum auf einem Fest, das zum Beginn der neunziger Jahre zur Repräsentation von kultureller Differenz der Minderheiten in der jungen Republik erdacht wurde, die Titularnation der sowjetischen Republik und mit 81 Prozent formell die klare Bevölkerungsmehrheit, in Grodno doch die größte Bühnenshow inszeniert. Wie lässt sich erklären, dass aus dem zuvor „Festival der nationalen Minderheiten“ genannten Ereignis nach und nach ein „Festival nationaler Kulturen“ wurde? Warum wird weißrussische Kultur in der Aneinanderreihung und Inszenierung folkloristischer Attribute mit in den Reigen der Minderheiten aufgenommen? Und im Zusammenhang mit meinem Forschungsvorhaben zur Geschichte von Ethnizität im Grodno des 20. Jahrhunderts schwang auch eine noch grundsätzlichere Frage mit: Was sagt das Festival der nationalen Kulturen über die ethnischen Wurzeln der modernen weißrussischen Nation aus?
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Vgl. Ackermann, Felix: „Vom Dorf nach Grodno. Die Sowjetisierung Westweißrusslands als Akkulturationsprozess dörflicher Migranten“, in: Thomas M. Bohn (Hg.), Von der „europäischen Stadt“ zur „sozialistischen Stadt“ und zurück? Urbane Transformationen im östlichen Europa des 20. Jahrhunderts, München: Oldenbourg Verlag 2009, S. 335-359. Vgl. Ackermann, Felix: „Stadt an der Memel: Grodno im 20. Jahrhundert“, in: Nordost-Archiv 16 (2006), S. 89-111; Druhaja Harodnja. Themenheft der Zeitschrift: Arche (2010) H. 1-2.
STAATLICHE I NSZENIERUNG WEISSRUSSISCHER E THNIZITÄT
1. W EISSRUSSISCHE P RÄSENZ
BEIM
F ESTIVAL
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DER
NATIONALEN KULTUREN Zur Eröffnung des Festivals marschiert jede Minderheit mit einem Schild mit der offiziellen Benennung Tataren, Usbeken, Juden etc. durch die alte Hauptstraße der Altstadt, die noch immer Sowjetstraße heißt. Im alphabetisch sortierten Kurzüberblick der Nationalitäten der ehemaligen Sowjetunion überraschen am Ende zwei Gegebenheiten: Die polnische Minderheit wurde aus der alphabetischen Reihenfolge herausgelöst und tritt fast kurz vor dem Ende des Zugs in großer Zahl an. Den Wimpel- und Flaggenträgern folgt ein Blasorchester, das zu diesem Anlass aus einer Kleinstadt westlich der Memel entsandt wurde, um der polnischen Präsenz auf dem Festival einen entsprechenden Klang zu verleihen. Danach erschienen für mich unerwarteterweise die Gastgeber im Zug der nationalen Minderheiten: die Weißrussen. Die Stadtverwaltung, die seit Monaten nichts anderes tut, als das große Fest zu organisieren, hat Kollektive aus Verwaltung, Betrieben und Schulen verpflichtet, Abordnungen mit Spruchbändern und weißrussischen Flaggen zum Umzug zu entsenden, um den Reichtum der weißrussischen Kultur zu demonstrieren. Währenddessen haben Vertreter der weißrussischen Opposition das Weite gesucht und sich auf ihre Landsitze in den umliegenden Dörfern zurückgezogen – für sie bedeutet das Festival einen Einbruch der Barbaren vom Dorf. Während der Eröffnungszug nur von wenigen Grodnoern wahrgenommen wird, kommen am dritten Tag alle auf dem sowjetischen Platz zusammen, um das große Feuerwerk zu erleben. Wenn man Antony D. Smith in seiner Argumentation folgt, dass zur Begründung jeder modernen Nation in jedem Falle ethnische Wurzeln ein wichtiges konstituierendes Element seien, kann man in der Entstehung des modernen weißrussischen Grodno einen Schlüssel zum Verständnis der weißrussischen Nation sehen. Smith meinte damit nicht, dass alle unter dem Banner der Nation versammelten Bürger gleicher Abstammung sein müssten.3 Das Vorhandensein gemeinsamer Symbole und Mythen ist laut Smith die Grundlage für den Erfolg nationaler Agitation. Somit gilt es nicht zu beweisen, dass Grodno schon immer ausgesprochen weißrussisch in einem nationalen Sinne war, sondern zu zeigen, wie die Stadt heute inszeniert wird und wie dabei auf zuvor geschaffene Zeichensysteme zurückgegriffen wird. Beim Festival der nationalen Kulturen handelt es sich um ein auf Republikebene ausgetragenes Großereignis, welches im Zweijahresrhythmus alle Ressourcen der lokalen Verwaltung bündelt. Es hat sich zum Aushängeschild der Gebietsstadt entwickelt, sie positioniert sich innerhalb der Republik mit ihrem Reichtum an kulturellem Erbe. Dafür wurde das Bild der Blume geschaffen, welches nicht ganz zufällig auch Norman Davies für die be-
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Smith, Antony D.: The Ethnic Origins of Nations, London: Blackwell 1986, S. 6ff.
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wusste Europäisierung des polnischen Breslau verwendet hat.4 Statt also die nationalen Wurzeln einer Stadt zu betonen, was in beiden Fällen schwierig ist, wird ihre kulturelle Vielfalt in den Mittelpunkt gestellt. So zumindest war der Ausgangsimpuls der Stadt im Aufbruch der frühen neunziger Jahre. Die Akteure, die das Festival damals aus der Taufe gehoben haben, definierten nationale Minderheiten ursprünglich als den „natürlichen Reichtum der Region“. Damit meinten sie in erster Linie die ethnischen Gruppen des historischen Litauens: Juden, Litauer, Tataren und Polen. Russen und Ukrainer lagen nicht im Fokus der ersten Organisatoren, zu denen auch der damalige Vizebürgermeister Aljaksandr Milinkewitsch, 2006 gemeinsamer Kandidat der Opposition bei den Präsidentschaftswahlen, gehörte. Dennoch wurden Russen und Ukrainer ebenso berücksichtigt. Mit den Jahren und der Entwicklung hin zu einem Festival von Nationalitäten, die als ethnisch definierte Volksgruppen verstanden wurden, kamen auch jene Gruppen hinzu, die als Arbeitskräfte aus der gesamten Sowjetunion in den Westen der Belorussischen Sozialistischen Sowjetrepublik (BSSR) migriert waren. Später haben sich die Weißrussen selbst als eine solche Volksgruppe in den Reigen der Nationalitäten eingereiht und deshalb laufen sie nun am Ende des Zuges. Daher ist es legitim die Frage zu stellen, ob jene Weißrussen, die am Ende des Zuges schreiten, unter den Bedingungen des Regimes von Alexander Lukaschenko doch die größte nationale Minderheit im Land darstellen? Oder machen sie eben jene Mehrheit aus, die das Festival benötigt, um sich selbst als Repräsentanten nationaler Kulturen zu verstehen? Der Unterschied liegt im Verständnis des Begriffs nationaler Minderheit. Wie geschildert verwenden die Organisatoren des Festivals eine sowjetisch folkloristische Konzeption von Nationalität, die alle Bürger der Republik mit einigen ethnographischen Merkmalen versieht, die sich in Form von Kleidung, Tanz und Gesang zu besonderen Gelegenheiten inszenieren lassen. Diese steht dem Selbstverständnis der mehr oder minder organisierten weißrussischen Intelligenzija entgegen, die sich in ethnischen Termini mit Bezug auf das Erbe des Großfürstentums Litauens und auf die Gründung einer Belarussischen Volksrepublik (BNR) im Jahre 1918 definiert. In ihrer Sichtweise ist das Festival und die Teilnahme einer weißrussischen Abordnung Ausdruck dessen, dass die sowjetische Fremdherrschaft des Landes bis heute nachwirkt und dass die Weißrussen als ethnische Gruppe längst zur Minderheit und genau deshalb zu aktiven Teilnehmern des Festivals geworden sind.
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Davies, Norman/Moorhouse, Roger: Die Blume Europas. Breslau, Wrocław, Vratislavia. Die Geschichte einer mitteleuropäischen Stadt, München: Droemer Knaur 2002.
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2. D IE F OLKLORISIERUNG DER K ULTUR IM Z UGE DER S OWJETISIERUNG Die soeben geschilderte Sichtweise lässt sich zwar bis zu einem bestimmten Grad als christliche Märtyrergeschichte lesen und somit auch nachvollziehen – tatsächlich wurden Vertreter jener kulturellen Eliten, die sich als Weißrussen verstanden, im Stalinismus und auch nach 1944 verfolgt. Der Aderlass der lokalen Bevölkerung auf dem heutigen Gebiet der Republik Belarus war sowohl unter den Bolschewiki als auch unter nationalsozialistischer Herrschaft enorm.5 Doch diese Erzählung blendet zwei größere Vorgänge aus, die genauso wichtig, wenn nicht entscheidend waren: die Shoa und der Exodus der verbliebenen polnischen Bürger aus den von der Sowjetunion annektierten Gebieten führten zum vollständigen Verschwinden städtischer Eliten im Westen des Landes. Sie selbst verstanden sich in den seltensten Fällen als weißrussische Eliten, waren doch Städte wie Grodno, Pinsk oder Brest (poln. Brześć) vor dem Zweiten Weltkrieg nur in geringem Maße von der Präsenz weißrussischer Bürger geprägt. Als zweiter Vorgang in Erinnerung zu rufen ist die Frage, wie jene Städte, die zuvor stark polnisch-jüdisch geprägt waren, und deren christlich-orthodoxe Bürger sich zumeist als Russen betrachteten, letztlich weißrussisch wurden. In einem demographischen Sinne erfolgte dies erst, als die Stadtöffentlichkeit längst sowjetisch geprägt war. Somit lässt sich die starke Russifizierung und Sowjetisierung der weißrussischen Bürger, die noch heute im Grodnoer Festivalsaufzug zur Schau gestellt wird, durch die nachholende sowjetische Industrialisierung erklären. Deren Kraft ist durch eine Kombination von Landflucht vor der Kollektivierung, der Verstädterung der Region und der Verdörflichung der Städte zu erklären. Die post-sowjetische Inszenierung von Ethnizität, wie sie auf dem Grodnoer Festival alle zwei Jahre zur Schau gestellt wird, hat viel gemein mit jenem Bild des Weißrussischen, welches die Bauern nach der Ankunft in der sowjetischen Stadt vorfanden. Dort hatte man das Weißrussische in Form von Folklore kurzum als das Bäuerliche inszeniert. So wie zum Beginn des 21. Jahrhunderts wurde bereits im Laufe der fünfziger Jahre des 20. Jahrhunderts eine städtische Interpretation des Dörflichen geschaffen, indem in unzähligen Zirkeln und Selbstbeschäftigungsgruppen Volkskunst, Tanz und Gesang als städtische Kulturpflege betrieben wurden. Damals entstand weißrussische Folklore in dieser Region zum ersten Mal in Form einer städtischen Praxis in einem staatlich organisierten Raum, in dem jeder national
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Ackermann, Felix: „Sklejanie zniszczonego kalejdoskopu. Chronika demograficznych strat wojennych miasta Grodna. 1939-1949“, in: Edmund Dmitrów (Hg.), Kontynuacja i przełom w warunkach zmieniających się okupacji. Stosunki międzyetniczne w Białymstoku i Wilnie 1939-1941, 1941-1944/45, Białystok (im Druck).
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definierten Gruppe ein bestimmter Ort von sehr beschränktem Ausmaße zugewiesen wird.6 In Wettbewerben und Rechenschaftskonzerten wurden dann die Ergebnisse der in jenen Räumen erarbeiteten Repertoires zur Schau gestellt. Gerade in der Form des Wettbewerbs, die auch auf dem Festival der Kulturen zum Einsatz kommt, entfaltet sich die vereinheitlichende Wirkung sowjetischer Kulturpolitik. Zwar präsentierte jede Gruppe einen etwas anderen Dialekt, etwas andere Tänze, aber insgesamt waren die Formen der Inszenierung, in die sie gepresst wurden, die gleichen. So tanzen heute in Grodno nicht nur die Weißrussen zu postsowjetischer Popmusik auf ihrem nationalen Hinterhof, sondern auch die Polen, die Tataren, die Russen und die Ukrainer. Was man systemkritisch als Nivellierung von Unterschieden beschreiben kann, lässt sich aber auch als Schaffung eines gemeinsamen Referenzsystems erklären. Wie anderswo nationale Ideologie Bürger geschaffen hat, die sich trotz ihrer Klassenunterschiede horizontal verbunden fühlten, haben wir es hier mit der Folge sowjetischer Ideologie zu tun, die einen Großteil der Staatsbürgerschaft horizontal organisiert – trotz der Unterschiede in den jeweils repräsentierten nationalen Kulturen. In diesem Sinne geht es beim Grodnoer Festival gar nicht um Minderheiten, sondern um die Mehrheit. So ist es auch kein Widerspruch, dass die Mehrheit der Weißrussen als Minderheitengruppe inszeniert wird, die auf Augenhöhe mit den anderen nationalen Gruppen des Landes ihre folkloristisch konzipierte Kultur repräsentiert.
3. D AS W IEDERAUFLEBEN VON T RADITIONEN POLNISCH - LITAUISCHEN U NION
DER
Die Vielfalt des Festivals wird geprägt durch die jeweilige Symbolik der gewählten Orte, die Art, die Bühnen farbig zu schmücken, die Programmatik der Auftrittskomposition, den Ansagestil der Moderatoren, die Art der elektronisch-folkloristischen Gegenwart der jeweiligen Volksmusik, die immer wieder neu erdachten Trachten, den Gesang von Jung und Alt, die Choreographien der Tanzgruppen, das allgemeine Streben im Wettbewerb um den schönsten nationalen Hinterhof, die Wertschätzung für die gewonnenen Urkunden und Pokale, die Ehre auf einen der offiziellen Empfänge eingeladen zu werden und die Aufregung, die alle Beteiligten bei der Frage empfinden, ob der Präsident in diesem Jahr nach Grodno kommen wird oder nicht. Das ganze Spektakel ist Teil einer größeren staatlichen Kulturstrategie, die zwar auf Planen und Dirigieren von oben basiert. Sie wird aber auch getragen durch eine relative Freiwilligkeit der Teilnehmer, durch ihr Streben
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Vgl. Kekljudev, S. Ju.: „Posle fol’klora“, in: Živaja starina (1995) H. 1, S. 2-4; Baško, Volga u. a. (Hg.): Tradycyjnaja mastackaja kul’tura Belarusaŭ. Band 3: Hrodzenskae panëmanne, Minsk: Belaruskaja Navuka 2006.
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nach einer möglichst würdevollen, künstlerisch angemessenen und formell akzeptierten Repräsentation folkloristischer Unterschiede: die vielen Hundert Teilnehmer des Festivals, die Menschenmassen auf den Straßen der Grodnoer Altstadt und Volkskünstler, die im Park ihre Heimproduktion feilbieten, sind allesamt freiwillige und aktive Mitstreiter dieser Inszenierung. Dass es immer wieder zu Konflikten um das Festival kommt, die dazu führten, dass wie 2004 die litauische und 2006 auch die polnische Minderheit die Kooperation verweigern, widerlegt nicht das Argument, dass die Sowjetisierung auch im Westen Weißrusslands erfolgreich und weitgehend war. Zwar stellen jene Teile der litauischen und polnischen Minderheit, die die Zusammenarbeit mit den Stadtverwaltern verweigern, die national bewussten kulturellen Eliten ihrer Gruppen dar, die die Sowjetisierung weiter Teile der katholischen Bauernschaft jeweils als nationale Tragödie auffassen. Aber die Formen, in denen sie ihre Ethnizität bei vergangenen Festivals repräsentiert haben und bei den sich ihnen bietenden Gelegenheiten repräsentieren, unterscheiden sich kaum von denen durch andere Gruppen auf dem Festival gebotenen. Auch sie sind zumeist Migranten vom Dorf, die zu einem starken Grad Teil des sowjetischen Mainstreams geworden sind. Dass dennoch ein Bewusstsein für ihre historische Herkunft und in einigen Familien auch der Glaube und die Sprache überdauert haben, widerlegt die These von der Russifizierung durch Migration in die Stadt nicht. Die Probleme bei der Wiedergeburt der polnischen Gemeinschaft im heutigen Weißrussland führen vor Augen, dass es sich eben um die Neuerfindung einer Tradition, nicht aber um das Hervorzaubern einer Tradition aus dem Untergrund handelt.7 Auf der einen Seite haben wir es mit einer post-sowjetischen Tradition zu tun, die vor allem an den Zweiten Weltkrieg und die folgende sowjetische Übernahme der Stadt anknüpft. Diese Vision der Vergangenheit hat ihre Daseinsberechtigung, da weit über 90 Prozent der heutigen Bewohner nicht aus Grodno selbst stammen beziehungsweise erst in zweiter Generation hier leben. So ist Grodno erst durch den Exodus des weißrussischen Dorfes in die Stadt weißrussisch geworden. Aufgrund der sowjetischen Kulturpolitik und der regionalen Bedeutung der Stadt als Verwaltungssitz des Gebiets war die Stadt zu diesem Zeitpunkt bereits stark sowjetisch geprägt und die Bauern zahlten als Eintrittspreis in die Stadt den Preis der Akkulturation – sie versuchten sowjetische Staatsbürger zu werden. Diese sprachen Russisch und distanzierten sich von ihrer dörflichen Herkunft. Dieser Prozess war sowohl für orthodoxe als auch für katholische Bauern charakteristisch. Heute haben sowohl Polen als auch Weißrussen Probleme bei der Wieder-
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Vgl. Wachowicz, Barbara: „Ty jesteś jak zdrowie“. Z Mickiewiczem nad Wilią i Świtezią, ze Słowackim w Krzemieńcu, z Orzeszkową nad Niemnen. Warszawa: Oficyna Wydawnicza Rytm 1993; Gawin, Tadeusz: Zwycięstwa i Porażki. Odrodzenie polskości na Białorusi 1987-2000. Białystok: Zakład 2003.
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geburt ihrer nationalen Traditionen – und hier insbesondere mit der populären Verbreitung der polnischen und weißrussischen Sprache. Um ein Anknüpfen an die vorsowjetische Zeit zu ermöglichen, haben sowohl polnische als auch weißrussische Akteure einen Gegenentwurf zur sowjetischen Interpretation der Geschichte entworfen. Sie verankern die Herkunft ihrer ethnischen Gruppen in einer Vergangenheit von nationaler Blüte. Bei beiden liegt diese Verankerung insbesondere in der Frühen Neuzeit und in dieser Region im Bezug auf das Großfürstentum Litauen.
4. Z USAMMENFASSUNG Obwohl sich die sowjetischen und nationalen Narrative gegenseitig auszuschließen scheinen, haben sie beide eine eigene Erklärungskraft. Ohne die europäische Vergangenheit des Gebietes, das heute die Republik Belarus umfasst, lässt sich die historische Bedeutung Grodnos nicht erschließen. Und ohne das Ausmaß und die Folgen der Migration der weißrussischen Bauernschaft unter sowjetischen Bedingungen erschließt sich nicht die Bedeutung der post-sowjetischen Gegenwart. Deren klares und zugleich widersprüchliches Antlitz ist in Grodno das Festival, in dem sich alle historischen ethnischen Gruppen in einen Reigen mit den sowjetischen Arbeitsmigranten und ihren Kindern begeben und sich die Weißrussen am Ende selbst einreihen. Damit inszeniert sich Weißrussland als Vielvölkerstaat, als Staat, in dem post-sowjetische Bürger friedlich zusammen leben – egal welcher ethnischen Herkunft sie sind. Die Inszenierung nationaler Kulturen ist dabei vor allem ein folkloristisches Ritual, deren Performanz wichtiger ist als nationale Konnotationen, die über die Gegenwart des Dorfes in der Stadt hinausgehen. Dass die Weißrussen sich selbst in den Reigen ihrer nationalen Kulturen einreihen, ist dabei kein Widerspruch. Heute ist weißrussische nationale Kultur, die auf etwas anderes als auf das sowjetische Erbe rekurriert, genauso in der Minderheit wie beispielsweise die Aktivisten der polnischen Minderheit, die sich gegen das Regime auflehnen. Gleichzeitig ist dieser Zustand für die Mehrheit der Weißrussen kein Widerspruch. Da sie selbst Kinder der Sowjetunion sind, ruft die Durchmischung sowjetischer Narrative mit einigen neuen bürgerlichen Elementen der Staatsideologie Lukaschenkos keine negativen Konnotationen hervor, wie dies für die kulturelle Elite des Landes sowie für Beobachter aus dem Westen der Fall ist.
L ITERATUR Ackermann, Felix: Palimpsest Grodno. Nationalisierung, Nivellierung und Sowjetisierung einer mitteleuropäischen Stadt. 1919–1991, Wiesbaden: Harrassowitz Verlag 2010.
Ostereier und junge Katzen. Einblick in das Staat-Kirche-Verhältnis in der Republik Belarus M ARTIN S CHÖN
Die heutige Republik Belarus befand sich historisch – akzeptiert man denn das Großfürstentum Litauen als seinen legitimen Vorgänger – seit dem Mittelalter zwischen Ost und West, zwischen Russland und Polen, zwischen Orthodoxie und Katholizismus. Kriege und strategische Bündnisse mit den Nachbarn hatten häufig zur Folge, dass Teile der Bevölkerung oder des Kleinadels sich einer neuen Konfession zuwandten, um politische Privilegien zu erlangen, oder schlicht zwangskonvertiert wurden, wie es insbesondere nach der Zerschlagung der polnischen Adelsrepublik, der Rzeczpospolita, durch Katharina die Große geschah, als die belarussischen Unierten, die 1596 den Primat des Papstes anerkannt hatten, sozusagen über Nacht orthodox umgetauft wurden. Auch der Protestantismus hatte besonders in der Blütezeit des Großfürstentums im 16. Jahrhundert Fuß fassen können. Alle drei großen christlichen Konfessionen können somit auf eine lange Tradition in Belarus zurückblicken, ihre gesellschaftspolitische Stellung variierte dabei je nach historischer Periode und politischer Stärke des jeweiligen Nachbarn. Sieht man von der sowjetischen Periode ab, in der alle Konfessionen staatlichen Repressionen ausgesetzt waren, beginnt die moderne Geschichte einer ‚integrativen‘ belarussischen Religionspolitik, deren Staat die Religionsfreiheit grundsätzlich akzeptiert und Kirchen in seine innen- und außenpolitischen Konzepte einbindet, mit der Unabhängigkeit 1991. Seit 1994 wird das Land nun autoritär regiert, sein Staatschef in der europäischen Presse nicht selten als „letzter Diktator Europas“ bezeichnet. Es stellt sich die Frage, nach welchen Kriterien die Staatsführung belarussische Kirchen behandelt und welche Konfessionen im modernen, postsowjetischen Belarus eventuell staatliche Priorität genießen.
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1. R EISE
NACH
R OM
Betrachtet man die Entwicklung der Beziehungen zwischen der belarussischen Staatsführung und dem Heiligen Stuhl, so muss auffallen, dass in den letzten Jahren Treffen auf höchster zwischenstaatlicher Ebene stattgefunden haben. Zunächst reiste im Juni 2008 Kardinalstaatssekretär (quasiMinisterpräsident) Tarcisio Bertone nach Minsk und überbrachte die Nachricht des Heiligen Vaters, dass der Vatikanstaat zur Aufnahme diplomatischer Beziehungen mit der Republik Belarus bereit sei. Beide Seiten waren voll des Lobes füreinander: Alexander Lukaschenko unterstrich, wie viel die katholische Kirche für die Stärkung traditioneller christlicher Werte in der belarussischen Gesellschaft tue, Bertone zeigte sich zufrieden mit dem belarussischen Religionsgesetz, das die traditionellen Kirchen effektiv schütze. Pikanterweise kritisieren Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International gerade dieses Gesetz heftig für seine Restriktivität gegenüber kleinen und neueren Religionsgemeinschaften. Im April 2009 reiste Lukaschenko dann selbst nach Rom und traf sich dort mit dem Papst. Beobachter vermuten, dass es bei dem Treffen unter anderem um die Perspektive eines Konkordats ging. Dieses Treffen zwischen Papst und Präsident war nicht nur das erste in der Geschichte des jungen belarussischen Staates. Es ist auch deshalb ein besonderes Ereignis, weil Lukaschenko sich innenpolitisch der katholischen Kirche gegenüber jahrelang reserviert gezeigt hatte. Dies äußerte sich unter anderem in der symbolischen Abwesenheit bei hohen katholischen Feiertagen, nahm doch der Präsident erstmals im Jahr 2005 (über zehn Jahre nach Amtsantritt!) an der katholischen Weihnachtsfeier und 2008 an den katholischen Osterfeierlichkeiten teil. Bis dahin ignorierte der Präsident faktisch die höchsten Feiertage einer Konfession, zu der sich immerhin ein gutes Fünftel der Bevölkerung bekennt (in den polnisch geprägten Westgebieten des Landes ist sogar die Mehrheit der Menschen katholisch, beispielsweise zählt das Gebiet Grodno/wr. Hrodna nach Angaben der katholischen Kirche 600.000 Kirchenmitglieder, was in etwa 60 Prozent der Bevölkerung entspricht). Die einzige Kirche, mit der Belarus bisher einen Grundsatzvertrag über Zusammenarbeit abgeschlossen hat, ist die Belarussische Orthodoxe Kirche, zu deren Konfession sich mit bis zu 80 Prozent eine absolute Mehrheit der Belarussen bekennt. Lukaschenko traf sich seit seinem Amtsantritt im Jahr 1994 regelmäßig mit der Führung der Orthodoxen Kirche, insbesondere zu symbolträchtigen Gelegenheiten wie Feiertagen. Beispielsweise erwies Lukaschenko alljährlich zu Ostern dem belarussischen Metropoliten Filaret die Ehre eines Besuchs. Im Jahr 2007 verschaffte Filaret seiner Freude darüber besonderen Ausdruck und überreichte Lukaschenko im Namen des russischen Patriarchen ein Osterei aus Porzellan. Das luxuriöse Geschenk erhielt Lukaschenko wohl auch als Dankeschön für die exquisiten Beziehungen zwischen beiden Seiten, die sich auch in Rubeln beziffern lassen. Seit Jahren bezuschusst der Staat beispielsweise Bauprojekte der Orthodoxen Kir-
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che, von der Kofinanzierung werden Kirchen, Klöster und kirchliche Bildungseinrichtungen errichtet. Diese staatlichen Zuwendungen betrugen 1998 noch eine Milliarde Belarussischer Rubel (nach heutigem, wesentlich schwächerem Wechselkurs etwa 250.000 Euro); 2006 wurde allein für den Umbau der theologischen Akademie in Minsk der fünffache Betrag erübrigt. Die katholische Kirche wird hingegen wesentlich bescheidener subventioniert. Rund 800 Millionen Belarussische Rubel (etwa 200.000 Euro) stellte der Staat 2005 für die Restaurierung der Minsker Kathedrale zur Verfügung. Die Sonderstellung der Orthodoxen Kirche in der Republik Belarus manifestiert sich indes nicht nur in Geldmengen, sondern auch in Attributen des Präsidenten, der sie beispielsweise bei den Weihnachtsfeierlichkeiten 2007 als „unsere“ Kirche bezeichnete.
2. P ROBLEME
MIT JUNGEN
K ATZEN
Dass Staatschefs gute Beziehungen zu Kirchenoberhäuptern pflegen, ist in Europa durchaus üblich. Auch eine bevorzugte Behandlung der „Mehrheitskirche“ in multikonfessionellen Ländern ist keine Seltenheit, man denke etwa an Italien oder Polen. Auf den ersten Blick also eine durchaus normale Staat-Kirche-Beziehung, wäre da nicht das auffallend kühle, ja geradezu misstrauische Verhältnis des Staates gegenüber protestantischen Glaubensgemeinschaften. Ein Beispiel aus dem Alltag belarussischer Pfingstgemeinden kann dies illustrieren: Wenn man der Aussage von Pfarrer Gennadi Kernaschizki Glauben schenken kann, dann hatte sein Besuch in der Abteilung für Religionen und Nationalitäten des Minsker Stadtrats im September 2007 etwas Entwürdigendes. Der Pfarrer der Pfingstgemeinde „Gottes Kirche“ war von Alla Rabizawa, der Abteilungsleiterin, zu einem Gespräch geladen worden. Rabizawa war unzufrieden darüber, dass der Pfarrer keine Mitgliedsliste seiner Kirche hatte vorlegen wollen. Sie hatte diese eingefordert – als Bedingung für die Genehmigung des Baus der Kirche. Ungesetzlich, fand Kernaschizki. Er weigerte sich – und erregte damit offenbar den Zorn der Beamtin. Sie habe ihn angeschrieen, so der empörte Pfarrer später zu Menschenrechtlern, ihm mit Gefängnis gedroht und erklärt, Protestanten vermehrten sich in Belarus „wie junge Katzen“.1 Zumindest statistisch entbehrt Rabizawas Aussage nicht jeglicher Grundlage: Zwar sind Zahlen über belarussische Protestanten Mangelware, jedoch ist bekannt, dass die Pfingstler seit Jahren die größte protestantische Kirche des Landes sind. Das Präsidialorgan Belarus sewodnja (Belarusʼ segodnja/„Belarus heute“) schätzte
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„Za Dzjažauny čynoŭnik ličyc, što pratėstanty u Minsku ,množacca, jak kacjanjatyʻ“, in: Za svabodnae veravyznanne vom 22.10.2007. Siehe www.forreligiousfreedom.info/news2007.phpsubaction=showfull&id=11930810 88&archive=&cnshow=news&start_from=&ucat=3& vom 17.2.2011.
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ihre Mitgliederzahlen 2003 auf circa 60.000, was bereits damals ein Spitzenwert unter den protestantischen Glaubensgemeinschaften war. Ostergeschenke hier, Katzenvergleiche dort? Natürlich kann man annehmen, dass es sich bei dem Minsker Skandal um einen Einzelfall handelt. Zumal nicht alle protestantischen Kirchenvertreter Repressionen ausgesetzt sind. Beispielsweise wird das Oberhaupt der Christen Evangelischen Glaubens, Bischof Sergei Chomitsch, in regelmäßigen Abständen in Staatszeitungen wie der Belarus sewodnja interviewt, außerdem können seine Gemeinden relativ ungestört Sozialarbeit betreiben: Sie unterhalten Zentren für Drogenabhängige, Suppenküchen, Kleiderausgabepunkte und betreiben Seelsorge in Gefängnissen. Doch auf die Anerkennung durch das Staatsoberhaupt warten die Pfingstler seit 16 Jahren vergeblich. Hinzu kommt, dass die Gemeinde des Minsker Pfarrers Kernaschitski geradezu symptomatisch für die ernsthaften Probleme steht, die protestantische Kirchen im Allgemeinen – nicht nur die Pfingstler – mit ihren Kirchengebäuden haben. Der Vergleich mit sich schnell vermehrenden Haustieren mag auf persönlichen Aversionen einer Beamtin beruhen, die bürokratischen Hürden beim Kirchenbau erscheinen jedoch systembedingt. Im belarussischen Religionsgesetz von 2002 ist eine Reihe von verschärften Kontrollmaßnahmen enthalten, die insbesondere protestantische Kirchengemeinden hart treffen. Darunter auch der für Kernaschitski verhängnisvolle Artikel 25, der religiöse Rituale generell nur in extra dafür vorgesehenen „Kultgebäuden“ erlaubt. Im Jahre 2007 verweigerte der Staat etwa 45 Prozent der 200 PfingstGotteshäuser einen „Kultstatus“, so dass sich die Gläubigen strafbar machten, wenn sie sich zum gemeinsamen Gebet versammelten. Als schwierig erweisen sich noch eine Reihe weiterer Punkte des Gesetzes: Artikel 14 legt eine Mindestanzahl von 20 volljährigen Mitgliedern für die Legalisierung einer religiösen Gemeinde fest – protestantische Gemeinden sind jedoch nicht selten kleiner als 20 Mitglieder, was mit ihrer dezentralen, auf dem Prinzip der „Hauskirchen“ beruhenden Struktur zu tun hat. Artikel 15 verlangt, dass in landesweiten religiösen Vereinigungen (Assoziationen) mindestens eine Gemeinde 20 Jahre auf dem Territorium der Republik Belarus legal tätig gewesen sein muss – geradezu unmöglich für die Pfingstler, die in der Sowjetunion illegal agieren mussten. Und schließlich dürfen nach Artikel 29 Ausländer nur ein Jahr religiöse Tätigkeiten in Belarus mit Genehmigung der Behörden praktizieren – gerade protestantische Kirchen greifen jedoch aufgrund des Fehlens belarussischer Kader verstärkt auf polnische, ukrainische oder lettische Pfarrer zurück. Es drängt sich daraufhin der Verdacht auf, das Gesetz sei geradezu maßgeschneidert auf eine Repression der belarussischen Protestanten zugeschnitten worden. Nun erschweren einige der genannten Gesetzesartikel durchaus auch der katholischen Kirche ihre Tätigkeit in der Republik Belarus (von den Problemen neuer Religionsformen wie Hare Krishna oder Bahai ganz zu schweigen). Sie hat beispielsweise ebenfalls massiv unter der Nichtregistrierung ihrer Kirchengebäude zu leiden. Erzbischof Tadewusch Kandrusewitsch be-
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klagte im Februar 2008 im Interview mit der staatlichen Rundfunkgesellschaft, es gäbe aufgrund behördlicher Absagen in der Hauptstadt Minsk lediglich vier Kirchen und zwei Kapellen auf 300.000 Katholiken. Zwar hat die katholische Kirche keine Probleme mit dem „Traditionsparagrafen“, da viele ihre Gemeinden lange genug legal in Belarus tätig sind. Sie ist jedoch direkt von den Auflagen für ausländische Pfarrer betroffen, da sie nach eigenen Angaben etwa 50 Prozent polnische Pfarrer einsetzt. Von Visaverweigerung oder gar Ausweisung sind jährlich etwa ein Dutzend Geistliche betroffen. Diese rigorose Ausweisungspraxis gründet sich wahrscheinlich darauf, dass der Staat die polnischen Geistlichen als Gefahrenquelle oder zumindest als Unsicherheitsfaktor wahrnimmt, da die in Belarus einflussreiche polnische Kirche ihr gesellschaftspolitisches Selbstverständnis auf einer quasi-kirchlichen Widerstandsbewegung gegen ein totalitäres Regime gründet. Hinzu kommt, dass es in der katholischen Kirche in Belarus insbesondere an der Basis belarussisch-nationale Bestrebungen gibt, was die anfänglich ausschließlich an Russland und dem sowjetischen Erbe orientierte Innen- und Außenpolitik von Lukaschenko konterkarierte. Wahrscheinlich aus diesen Gründen waren die Beziehungen des jungen belarussischen Präsidialstaates zur katholischen Kirche von Anfang an sehr angespannt. Zumal katholische Pfarrer in Belarus dafür bekannt sind, kein politisches Blatt vor den Mund zu nehmen. Ein besonders prominentes Beispiel ist Pfarrer Grzegorz Chudek, der bis Januar 2007 in der Stadt Retschyza (russ. Retschiza) tätig war und dessen Fall die belarussischen Medien monatelang beschäftigte. Chudek hatte der polnischen Zeitung Tygodnik wschodni („Östliche Zeitung“) ein Interview gegeben und darin erklärt, die Belarussen lebten „schlimmer, als [die Menschen] in Polen vor 40 Jahren“, außerdem zögen sich die Frauen so an „dass die Straßen aussehen wie in einem Softporno“.2 Die Ausweisung folgte auf dem Fuße. Nun mag die Polemik in Chudeks Worten eine krasse Ausnahme unter belarussischen Pfarrern gewesen sein – die implizite Kritik am politischen System ist es nicht. Nicht selten stellen Pfarrer in der Gemeinde kritische Fragen, und nicht umsonst bot die Minsker Kathedrale jahrelang in ihrem Souterrain Musikern eine Bühne, die von der Staatsmacht aus politischen Gründen mit Aufführungsverboten belegt worden waren (beispielsweise dem Rockmusiker Ljawon Wolski oder dem Barden Dmitri Waizuschkewitsch).
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„Nuda, zmrok, bezvychodnas’c’. Tut ljudi žyvuc, jak u heta“, in: Naša niva vom 9.12.2008. http://www.nn.by/index.php?c=ar&i=14196 vom 17.02.2011.
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3. N EUE
WAHRE
F REUNDSCHAFT
Dennoch scheint das Eis zu tauen. Bereits vor dem erwähnten Treffen zwischen Lukaschenko und Bertone hatte die katholische Kirche erste Dialogsignale erhalten: Im Jahr 2006 bekam sie Gelder für den Bau der Minsker Kathedrale, 2007 das erste Mal in der Geschichte des jungen belarussischen Staates die Erlaubnis zum Bau einer neuen Kirche in der Hauptstadt Minsk. Es folgte die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zum Vatikanstaat, wodurch auch die innenpolitische Zusammenarbeit eine Aufwertung erfuhr. Grund für das staatliche Dialogangebot – das bis zur Inaussichtstellung eines Konkordats geht – dürften vor allem die veränderten Beziehungen des Landes zu seinen Nachbarn sein. Denn der präsidiale Gründungstraum einer Einheit mit Russland erlebte in den Jahren des putinschen Pragmatismus einen herben Dämpfer. Putin fuhr Russlands Subventionen auf ein Minimum zurück, so dass sich Lukaschenko auf der Suche nach neuen potenten Geldgebern seit 2000 schrittweise Richtung Westen orientierte und der Europäischen Union eine Annäherung durch die Freilassung politischer Gefangener und die Nichtanerkennung der abtrünnigen georgischen Republiken Abchasien und Süd-Ossetien schmackhaft machte. Die Europäische Union zeigt sich seither gesprächsbereit und setzte unter anderem ihre Einreiseverbote für belarussische Beamte aus. Dennoch sind die Beziehungen zwischen Minsk und Brüssel nach wie vor weit von einer Normalisierung entfernt – führende Vertreter der Europäischen Union beklagen insbesondere Lukaschenkos mangelnde Bereitschaft zur politischen Liberalisierung, und politische Beobachter beginnen bereits, die Erfolge des Dialogs in Frage zu stellen. In einer solchen Situation kann Minsk jeden Fürsprecher in der Europäischen Union gebrauchen. Der Vatikan ist mit seiner tiefen Verwurzelung in Italien ein interessanter Gesprächspartner. Tatsächlich scheint diese Taktik Früchte zu tragen: Ende 2009 besuchte Silvio Berlusconi als erster europäischer Staatschef seit Jahren die belarussische Hauptstadt, traf sich mit Lukaschenko und zeigte sich beeindruckt von Lukaschenkos hohen Wahlergebnissen, ohne dabei zu erwähnen, dass deren Legitimität von der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) in Frage gestellt wird. Natürlich bleibt eine Aussöhnung mit der katholische Kirche auch innenpolitisch für das belarussische Regime attraktiv, da der Katholizismus die dominante Konfession im westlichen Teil des Landes ist. Auf ein derartiges Tauwetter werden die protestantischen Kirchen wohl noch lange warten müssen. Misstrauische Beamte haben sie mit Hilfe der restriktiven Gesetze in einen nicht enden wollenden Kleinkrieg um einzelne Kirchengebäude verwickelt, die Staatsführung ignoriert sie mit beeindruckender Konsequenz, und sie werden – abgesehen von einzelnen Ausnahmen – in der staatlich dominierten Medienlandschaft entweder als kultureller Fremdeinfluss identifiziert oder gleich als totalitäre Sekte diffamiert. Das belarussische Fernsehen sendete sogar einen speziellen Dokumentarfilm unter dem Titel „Expansion“, der die Drohkulisse einer protestantischen Un-
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terwanderung der Gesellschaft inszenierte. In Zeitungsartikeln wird regelmäßig auf die bedrohliche Perspektive eingegangen, zur protestantischen Republik zu werden. Es drängt sich der Eindruck auf, dass protestantische Kirchen in Belarus unerwünscht sind. Warum? Die belarussischen Protestanten sind die kleinste – und am meisten zersplitterte – der drei großen belarussischen Religionsgemeinschaften. In repräsentativen Umfragen gaben zwischen 1997 und 2004 zwischen 2 und 5 Prozent der Befragten an, der protestantischen Konfession anzugehören.3 Sie verteilen sich auf mindestens sechs Assoziationen protestantischer Kirchen. Die meisten Gemeinden zählen die Christen Evangelischen Glaubens mit 488 Gemeinden im Jahr 2006. Ihre Mitgliederzahl wurde von der Staatszeitung Belarus sewodnja drei Jahre zuvor auf etwa 60.000 geschätzt. An den Gemeindezahlen gemessen folgen die Baptisten (265 Gemeinden, 13.510 Mitglieder im Jahr 2002), die Adventisten (72 Gemeinden, allerdings nur 4633 Mitglieder im Jahr 2009) und die charismatischen Christen des Vollständigen Evangeliums mit 54 Gemeinden (keine Angabe von Mitgliederzahlen). Dazu kommen die zahlenmäßig schwachen Lutheraner, deren 25 Gemeinden im Jahr 2006 laut Komitee für Religion und Nationalitäten auf drei rivalisierende Organisationen verteilt waren. Mehrere Protestantische Kirchen wiesen zwischen 1999 und 2006 ein starkes Wachstum von etwa 20 Prozent auf, darunter die Pfingstler und Adventisten. Zwar vermehrten sich die Christen des Vollständigen Evangeliums an den Gemeindezahlen gemessen weniger schnell (von 47 Gemeinden im Jahre 1999 auf 54 Gemeinden im Jahr 2006). Es muss allerdings berücksichtigt werden, dass diese Gemeinden mit mehreren hundert Gläubigen in der Regel wesentlich größere Mitgliederzahlen aufweisen als Gemeinden der Christen Evangelischen Glaubens oder der Adventisten. Christen Evangelischen Glaubens und Christen des Vollständigen Evangeliums betreiben eine aktive Öffentlichkeitsarbeit und sind besonders stark in den Medien präsent.
4. „T OTALITÄRER G EIST “ Umfragen zeigen, dass belarussische Protestanten insgesamt überdurchschnittlich gebildet, einkommensstärker und staatskritisch eingestellt sind. Viele Befragungen zeigen außerdem, dass Protestanten wesentlich protestund widerstandsbereiter als Katholiken oder Orthodoxe sind. Dies äußert sich auch im öffentlichen Auftreten vieler Gemeinden. Ein Beispiel ist die Jugendpolitik. Protestantische Kirchen üben in offenen Briefen und Pressemitteilungen Kritik an der Mitgliederwerbung quasi-staatlicher Jugendorga-
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Cvilik, Marina (Hg.): Voprosy svobody sovesti i religioznych organizacij v Respublike Belarus’. Sbornik dokumentov i materialov, Minsk: Četyre četverti 2005, S. 310.
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nisationen wie dem Belarussischen Republikanischen Jugendverband. Die Christen des Vollständigen Evangeliums zeigten sich dabei als besonders kritikfreudig. Pfarrer Boris Tschernoglas, Mitglied ihres vierköpfigen Leitungsrats, erklärte, jedes diktatorische Regime wünsche die Kindererziehung aus der Familie fern zu halten. Ähnlich heftig ging das Oberhaupt der Christen des Vollständigen Evangeliums, Bischof Wladislaw Gontscharenko, mit dem autoritären Staat zu Gericht: er sprach von einem „totalitären Geist“, der das Land erfasst habe.4 In Protestbriefen drohten die Christen des Vollständigen Evangeliums sogar Präsident Lukaschenko mit Aktionen zivilen Ungehorsams im ganzen Land, sollten die staatlichen Repressionen gegen die Kirchen nicht eingestellt werden. Mit ebensolcher Furchtlosigkeit machte sich die Assoziation an die Demontage staatlicher Erinnerungskultur und organisierte 2007 ein Projekt zur Aufarbeitung der Stalin-Repressionen mit dem Titel „Der Weg der Buße“. Seither wurden antisowjetische Veranstaltungen durchgeführt, staatskritische Forschungen und Materialien publiziert, Erinnerungs-Gottesdienste abgehalten und offene Briefe an die Nation verfasst. Darin kritisierten die Koordinatoren der Aktion, dass die stalinistischen Repressionen in der Republik Belarus in keinem einzigen Schulbuch thematisiert würden. Solch offene Worte sind keine Selbstverständlichkeit in einem autoritären Staat, der gegen Kritiker regelmäßig hohe Geld- und Gefängnisstrafen verhängt. Vielleicht ist die offene Staatskritik auch der Grund, warum die Christen des Vollständigen Evangeliums eklatante Probleme haben, ihre Kirchengebäude zu registrieren oder in staatlichen Einrichtungen, beispielsweise Krebskrankenhäusern, Sozialarbeit zu betreiben. Im Unterschied dazu können die Christen Evangelischen Glaubens praktisch unbehindert in Gefängnissen und Krankenhäusern agieren – und das, obwohl ihre Gemeinden durchaus kritikbereit sind. Beispielsweise unterschrieben die etwa zwanzig Pfingstler-Gemeinden der Kleinstadt Stolin einen öffentlichen Protestbrief an die Präsidialzeitung Belarus Sewodnja, weil diese einen Artikel mit dem Titel „Betrug kann die Ehe retten“ veröffentlicht hatte. Darin riet der Redaktionspsychologe Paaren, deren Verhältnis in die Jahre gekommen sei, zu einem Seitensprung. Der Stoliner Pfarrer Anatoli Ljaschko war empört und verfasste mit seiner Gemeinde den Protestbrief an die Adresse des Sprachrohrs der Präsidialadministration. Ein mutiger Schritt, schließlich ist letztere das eigentliche Machtzentrum im belarussischen Präsidialstaat und verfügt als Verwaltung des Staatsoberhaupts über praktisch uneingeschränkte exekutive Vollmachten. Einige Pfingstgemeinden fallen sogar durch politische Aktivitäten auf, beispielsweise die Minsker Gemeinde Johannes der Täufer. Fast die gesamte
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„Vjačeslav Gončarenko obratilsja k obščestvennosti“, in: Invictory. Megaportal christianskich resursov vom 1.2.2007. Siehe http://news.invictory.org/ issue10152.html vom 17.02..2011.
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Führungsriege der radikaloppositionellen Jugendorganisation Junge Front sind Kirchenmitglieder, beispielsweise ihr Vorsitzender Dmitri Daschkewitsch, der 2006 zu anderthalb Jahren Gefängnis verurteilt wurde. Der polnische Gastpfarrer Jarosław Lukasik wurde bezeichnenderweise im Sommer 2007 von den belarussischen Behörden ausgewiesen. Als Lukasik von seinen Anhängern zum Zug gebracht wurde, sangen diese zum Abschied die oppositionelle Nationalhymne „Allmächtiger Gott“ (Mahutny Boža). Eine Woche nach seiner Ausweisung erklärte Lukasik, seine Aufgabe sei es, Vertreter der „Nationalen Elite“ zu unterstützen, die ein neues Belarus aufbauen würden.5 Der Dachverband der Christen Evangelischen Glaubens verhält sich zu solch systemkritischen und von revolutionärem Duktus geprägten Äußerungen einzelner Gemeinden ambivalent. Einerseits ist Bischof Chomitsch bereit, politisch radikale Gemeinden öffentlichkeitswirksam zu unterstützen, zum Beispiel im Juni 2007 durch Massengebete. Er schlägt dabei aber noch lange keine so regimekritischen Töne an wie die Führung der Christen des Vollständigen Evangeliums, was einer der Gründe dafür sein könnte, dass Pfingstler in ganz Belarus relativ ungestört in der Sozialarbeit tätig sein können. Dass Gemeinden der Christen Evangelischen Glaubens dennoch praktisch keine neuen Kirchen registrieren dürfen, mag neben ihrer Kritikfreude auch an ihren internationalen Kontakten liegen: Ähnlich wie die Christen des Vollständigen Evangeliums pflegen die Pfingstler ausgezeichnete Beziehungen zu evangelikalen Gruppen aus den USA, die mit Geldern helfen, Pfarrer ausbilden und Seminare in Belarus durchführen. Vor dem Hintergrund der angespannten außenpolitischen Beziehungen – und des grundsätzlichen Misstrauens der Staatsmacht gegenüber Westkontakten – trägt dies sicherlich kaum zu einem entspannten Verhältnis zwischen Staat und Protestanten bei. Während kritische, öffentliche Äußerungen eine Prärogative der Christen des Vollständigen Evangeliums und einzelner Pfingstgemeinden zu sein scheinen, machten in Bezug auf die Reform des Religionsgesetzes auch die sonst sehr unauffälligen Baptisten und Adventisten aus ihrem Unmut keinen Hehl. Gemeinsam verfassten Christen Evangelischen Glaubens, Christen des Vollständigen Evangeliums, Baptisten und Adventisten mehrere Protestbriefe und Anfragen an die höchsten Staatsorgane, einige ihrer Aktivisten schlossen sich sogar zu der Organisation „Für Glaubensfreiheit“ zusammen, die im Jahr 2007 eine erfolgreiche Unterschriftenkampagne zur Änderung des Religionsgesetzes initiierte. Es gelang, die laut Verfassung nötigen 50.000 Unterschriften zu sammeln, allerdings lehnte es das Verfas-
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Lukasik, Jaroslav: „Belorusskie vlasti stremjatsja izgnat’ vsech missionarov“, in: Vjasna. Pravaabarončy centr. Siehe http://spring96.org/ru/news/11425 vom 17.2.2011.
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sungsgericht erwartungsgemäß ab, das Verfahren zur Gesetzesänderung einzuleiten.
5. Z USAMMENFASSUNG Die protestantischen Kirchen in Belarus mögen – das hat die nähere Betrachtung zweier wichtiger Dachverbände gezeigt – nicht in gleicher Heftigkeit mit dem Staat zu Gericht gehen; dennoch nehmen sie beide eine ähnlich kritische Grundhaltung gegenüber der Staatsmacht ein. Das rigide Vorgehen des Staates gründet sich vermutlich primär auf staatlicher Furcht vor einer schwer kontrollierbaren, westlich beeinflussten und staatskritisch eingestellten Gruppe, die sich öffentlichkeitswirksam in gesamtgesellschaftlich bedeutsame Belange wie Erziehung, öffentliche Moral und Religionspolitik einmischt. Dabei behandelt der Staat jedoch nicht alle protestantischen Kirchen gleich. Offenbar unterscheidet er die Gemeinden und Dachverbände nach ihrem gesellschaftspolitischen Destabilisierungspotential. Diese staatliche Einschätzung erscheint wesentlich differenzierter, als Analogien in Ostereier-Katzen-Schemata glauben machen könnten. Bei genauerer Betrachtung entsteht der Eindruck, dass der Staat bis ins Detail abwägt, welche Kirchen ihm welchen innen- und außenpolitischen Nutzen bringen, und sich dabei auf differenzierte Analysen des Kirchenverhaltens stützt. Die belarussische Staatsmacht wendet eine ganze Bandbreite an kirchenpolitischen Instrumenten an, von der Tolerierung (wie im Falle der von den Christen Evangelischen Glaubens betriebenen Sozialarbeit) über indirekte Repression (wie im Falle der Nichtregistrierung von protestantischen und katholischen Kirchengebäuden) bis zur direkten Repression (beispielsweise der Ausweisung von Pfarrern). Das Beispiel katholische Kirche zeigt dabei besonders deutlich die Differenzierung staatlicher Religionspolitik: Während auf oberster Hierarchieebene bereits intensiv kooperiert wird, übt der Staat durch Ausweisungen und Bau- und Registrierungsverbote starken Druck auf die Gemeinden und ihre Pfarrer aus, die oft eine staatskritische Basisarbeit machen. Noch schlechter geht es jedoch den Protestanten, insbesondere jenen Kirchen und Verbänden, die dem Staat zu freigeistig und westlich orientiert sind. Bis sie dem Präsidenten Ostereier schenken und sich dabei als Ansprechpartner und Subventionsempfänger empfehlen dürfen, wird wohl noch sehr viel Zeit vergehen. Bis dahin bleibt das staatliche Wohlwollen in Form von Repressionsfreiheit und dem Zugang zu öffentlichen Ressourcen wohl in erster Linie anderen Kirchen vorbehalten.
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L ITERATUR Belarus Perspektiven. Zeitschrift. Dortmund 2006 ff. Der Fall Belarus. Gewalt, Macht, Ohnmacht. Themenheft der Zeitschrift: Osteuropa 60 (2010) H. 12. Diedrich, Hans-Christian: „… unser Traum, zur Einheit zu gelangen.“ Der Protestantismus (Luthertum und Calvinismus) im heutigen Weißrussland. Ein Überblick, Berlin/Braunschweig: Amt für Religionspädagogik und Medienarbeit 2001. Konturen und Kontraste. Belarus sucht sein Gesicht. Themenheft der Zeitschrift: Osteuropa 54 (2004) H. 2. Märtyrer der belarussischen Christen im 20. Jahrhundert, Dortmund: Bildungs- und Begegnungswerk 2001.
Baba Warja. Oder: Belarus von Angesicht zu Angesicht T HOMAS M. B OHN
Auf den ersten Blick mag es triftige Gründe geben, eine Reise in die Republik Belarus und einen Besuch der Hauptstadt Minsk (wr. Mensk) zu unterlassen. Skeptisch stimmen nicht nur die Folgen der atomaren Katastrophe von Tschernobyl, die Weißrussland in besonderer Weise belasten, sondern auch das autoritäre Regime des Präsidenten Alexander Lukaschenko, der eine Isolierung von der Europäischen Gemeinschaft bewusst in Kauf nimmt. Auf die Idee, dass sich im Dreieck der Metropolen Warschau, St. Petersburg und Moskau eine wenig bekannte Stadt befindet, deren Faszination ihresgleichen sucht, müssen Skeptiker erst noch gebracht werden. Was der westliche Besucher in Minsk vorfindet, ist ein originelles Museum der Sowjetunion. In städtebaulicher und architektonischer Hinsicht beeindrucken die Dimensionen der öffentlichen Räume und die Durchschlagskraft des Sozialistischen Realismus. Kaum eine andere Stadt weist so breite Straßen, so große Plätze und so viele neoklassizistisch-stalinzeitliche Gebäude auf wie Minsk. In Bezug auf die Lebensverhältnisse ist nach wie vor eine Konservierung des von der Mangelgesellschaft und der Kommandowirtschaft geprägten sozialistischen Erbes zu spüren. Sowohl die aufwändige Renovierung der Hauptstadt als auch die verhaltene Urbanität, die im neuen Bahnhofsgebäude oder in diversen Straßencafés ihren Ausdruck gefunden haben, zeugen lediglich von einer Scheinblüte. Während die Erschwernisse des Alltags in den Momenten, in denen die Menschen in der Masse agieren, rüde Umgangsformen hervorrufen, vermitteln die im Familienkreis entgegengebrachte Gastfreundschaft und Herzlichkeit immer wieder einen Eindruck von der „slawischen Seele“. Wer bereit ist, sich auf die Hauptstadt der Republik Belarus einzulassen, wird sich ihrem Reiz nicht entziehen können und das kulturhistorisch einmalige Angebot zu schätzen lernen. Was der Besucher indes nicht mehr finden wird, ist „die Belarus“ an sich (Belarusʼ als ursprüngliche feminine Bezeichnung für das Land und seine Bewohner). Denn die multikulturelle Lebenswelt der weißrussischen Bauern und der
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polnischen Verwalter, der jüdischen Händler und der russischen Beamten verschwand im 20. Jahrhundert im Zuge der Zwangskollektivierung der Landwirtschaft und des stalinistischen Terrors, des nationalsozialistischen Überfalls und des Holocausts sowie der Industrialisierung und der Urbanisierung. Daher stellt sich die Frage, an welche Traditionen national oder patriotisch gesinnte Weißrussen heute noch anknüpfen können.
1. R EISEN
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Meine erste Reise nach Weißrussland im Herbst 1997 stand zunächst nicht unter einem besonders guten Omen. Auf der Suche nach einem geeigneten Forschungsthema zur Urbanisierung der Sowjetunion hatte ich dankbar eine Einladung eines weißrussischen Kollegen von der Belarussischen Staatsuniversität angenommen, traf aber wegen einer defekten Belavia-Maschine erst mit zwölfstündiger Verspätung in Minsk ein. Während der Autofahrt über den spätabendlichen Prospekt fühlte ich mich dann aber durch den Anblick eines Freilichtmuseums des Sozialistischen Realismus wieder versöhnt. Ferner wurde ich am nächsten Vormittag bei der Registrierung in den Bibliotheken und Archiven von der Aufgeschlossenheit gegenüber einem ausländischen Benutzer überrascht. Damit hatte ich mein Thema gefunden: die unter sowjetischer Herrschaft erfolgte Transformation des alten, vorrevolutionären Minsk in eine „sozialistische Stadt“, in ein neues Minsk, das in den siebziger Jahren – angereichert durch die Partisanenideologie – mit der Aureole einer „Heldenstadt“ versehen wurde. Alles in allem ging ich, immer wieder durch den Semesterbetrieb unterbrochen, bis zum Frühling 2003 an einem Ort schwanger, der sich einst als Sonnenstadt des Sozialismus gerierte und nach Erlangung der staatlichen Unabhängigkeit der Republik Belarus zu einer Kommandozentrale eines autoritären Regimes pervertierte. Bezüglich des postsowjetischen Alltags und der in Ansätzen stecken gebliebenen sozioökonomischen Transformation hatte ich viel gesehen und erlebt, beschränkte mich bei der Abfassung meiner wissenschaftlichen Qualifikationsschrift aber darauf das zu analysieren, was die Archive zur Stadtgeschichte und zum Urbanisierungsprozess hergaben. Das Bergen der in den Erinnerungen der Bevölkerung verborgenen Schätze wollte ich den weißrussischen Kolleginnen und Kollegen überlassen. Meine Perspektive reduzierte sich noch auf diejenige des modernen Sozialhistorikers und des außen stehenden Beobachters. Heute bin ich zu der Überzeugung gelangt, dass man Belarus nur begreifen kann, wenn man sich den Spuren Swetlana Alexijewitschs folgend für individuelle Schicksale und kollektive Erfahrungen interessiert. Angesichts der von Weltkriegen, Terrorregimen und ökologischen Katastrophen gekennzeichneten Entwicklung des 20. Jahrhunderts brauchen wir weniger eine Geschichte von Ereignissen und Strukturen als vielmehr eine Geschichte der Leiden und Gefühle.
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Darüber hinaus unterlag mein professionelles Unterfangen einem getrübten Blick. Obgleich ein Fünftel der Gesamtbevölkerung der Republik Belarus in der Hauptstadt zu Hause ist, lässt sich in Anlehnung an die Devise „Russland ist nicht Moskau“ formulieren: „Weißrussland ist nicht Minsk.“ Immerhin habe ich es mir nicht nehmen lassen, allen wichtigen Regionen des Landes, abgesehen von der kontaminierten Zone um Gomel (wr. Homel), zumindest eine Stippvisite abzustatten. Aus den Eindrücken von Landschaften und Siedlungen, aus den Begegnungen mit Menschen unterschiedlichen Alters und verschiedener Berufe resultiert ein Bild, das über die Entwürfe meines Minsk-Buches hinausgeht. Belarus von Angesicht zu Angesicht ist mir mehrmals erschienen, interessanterweise nur einmal in der Hauptstadt. Angeregt durch eine Archivakte, die das Rätsel der illegalen Siedlung Neuscheipitschi am Stadtrand von Minsk preisgab, suchte ich den Ort des Geschehens auf und lernte dabei Großmutter Barbara oder Baba Warja kennen.
2. N EUSCHEIPITSCHI Als ich bei meiner ersten Expedition in einem der Mäander des SwislatschFlusses auf eine Siedlung aus Holzhäusern und Gärten stieß, ließ ich mich noch von den Entdeckerfreuden übermannen. Denn schließlich hatte ich dörflich anmutende Gehöfte inmitten der Millionenstadt Minsk in einer Entfernung von dreißig Fußminuten vom Zentrum nicht erwartet. Wie eine in journalistischer Manier vorgenommene Zeitzeugenbefragung ergab, handelte es sich dabei aber nicht um das sagenumwobene Neuscheipitschi, sondern um das angrenzende Viertel Stolowaja Okoliza. Offensichtlich hatte ich es mit verschiedenen Kulturschichten zu tun, deren Erschließung archäologischer Findigkeit bedurfte. Das Gelände liegt im Süden des Zweiradwerks und wird von einer Flussschleife und dem Neubauviertel Serebrjanka umsäumt. Kulturschicht I, das ursprüngliche Dorf Scheipitschi, hat sich in Resten im südwestlichen Zipfel noch erhalten. Von Kulturschicht II, einem Lagerpunkt für deutsche Kriegsgefangene, wird im Folgenden noch die Rede sein. Kulturschicht III, das historische Neuscheipitschi, das Ende der sechziger Jahre wegsaniert wurde, lag gegenüber von Stolowaja Okoliza an der Zweiten Fahrradgasse. Kulturschicht IV bildet das auf dem Territorium des untergegangenen Neuscheipitschis errichtete Serebrjanka. Historisch gesehen gestaltete sich die Problematik wie folgt: Im Oktober 1947 überließ die nach dem weißrussischen Parteiführer benannte Kolchose Ponomarenko dem Innenministerium Land, das unmittelbar an die Stadt Minsk angrenzte. Hier wurde eine Lagerabteilung für deutsche Kriegsgefangene errichtet, deren Aufgabe es war, Kies und Sand zu gewinnen. Folglich führte der Minsker Rayon besagtes Grundstück seit 1948 nicht mehr in seinem Kataster. Eine mehr als zweijährige Existenz war dem Lager aber nicht beschieden. Bis Ende 1949 wurden alle in Weißrussland befindlichen Kriegsgefangenen repatriiert oder als Kriegsverbrecher in die östlichen Teile
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der Sowjetunion überführt. Dennoch scheint eine offizielle Auflösung des Lagers ausgeblieben zu sein. Die Vermutung liegt nahe, dass die Wachmannschaften zunächst die verbliebenen Baracken übernahmen. Im Frühjahr 1950 begann dann jedenfalls der illegale Bau von Holzhäusern auf dem Territorium des ehemaligen Kriegsgefangenenlagers. Von nun an traten die Immobilienhändler auf den Plan. Sie versorgten die in der Stadt zu kurz Gekommenen mit privatem Wohnraum. Auf diese Weise formierte sich eine Siedlung, die nach dem 200-300 Meter entfernten Dorf Scheipitschi benannt wurde. Bis Anfang 1957 wurden in Neuscheipitschi etwa 200 Häuser errichtet, in denen rund 1.500 Menschen lebten. Zum Großteil handelte es sich um Arbeiter und Angestellte des benachbarten Zweiradwerkes. In den Akten wird daneben auch immer wieder auf Personen hingewiesen, die „nirgends“ arbeiteten. Nennen wir sie Kapitalisten. Sie hatten sich Zugang zu Baumaterialien verschafft und lebten von der Rendite ihrer Häuser. Schließlich hatten in Neuscheipitschi noch 60 Milizionäre mit ihren Familien ein Unterkommen gefunden. Es handelte sich um die Personengruppe, die der Siedlung durch ihren Status und ihre ordnungsgemäße Meldung im Minsker Rayon einen Anstrich von Legalität vermittelte. Alles in allem war die Gemeinde gut organisiert. Ihre findigen Bürger zweigten vom städtischen Netz Strom ab, richteten Radio-Stationen ein und vergaben Hausnummern. Dennoch war jedem klar, dass es sich hier um einen rechtsfreien oder gar herrschaftsfreien Raum handelte. In administrativer Hinsicht war die Siedlung, so hieß es auf Amtsrussisch, „niemandem unterstellt“. Weil sich weder der Rat des Landkreises Minsk noch der Rat im Stalin-Viertel der Stadt Minsk für zuständig erklärte, waren die Bewohner von Neuscheipitschi bei keinem Einwohnermeldeamt eingeschrieben. Männer im wehrpflichtigen Alter waren bei keiner Militärbehörde registriert. Und es gab kein Finanzamt, an das Steuern oder Abgaben gezahlt werden mussten. Ernsthaft über das Problem nachzudenken, begann der Rat der Stadt Minsk erst, nachdem Nikita Chruschtschow auf dem 20. Parteitag der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (KPdSU) im Februar 1956 nicht nur ein Ende des Personenkults verkündet, sondern auch eine Begrenzung des Wachstums von Großstädten postuliert hatte. Auffallend war dabei, welch moderaten Töne die mit den Gegebenheiten vor Ort vertrauten Vertreter der Miliz im April 1956 im Minsker Stadtrat anstimmten. Schließlich einigte man sich in Bezug auf die Fälle von „eigenmächtiger Bautätigkeit“ auf den Kompromiss, bereits bestehende Siedlungen nicht anzutasten, in Zukunft aber jeglichen, sich am Stadtrand entwickelnden baulichen Wildwuchs im Keim zu ersticken. „Säuberungen“ wurden auf einer im Oktober 1956 vom Zentralkomitee der weißrussischen Kommunisten in Minsk einberufenen Sondersitzung nur von einigen forschen Parteiführern eingefordert. Das Modell, das hier angedacht wurde, verhieß, die Mitglieder der landwirtschaftlichen Kollektivwirtschaften wieder aufs Land zu verbannen, die ihre Betriebe innerhalb der letzten Jahre unerlaubt verlassen und sich am Stadtrand von Minsk angesiedelt hatten. Unterstützung fand dieser Vor-
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schlag jedoch nur bei wenigen der versammelten Wirtschaftsbosse. Immerhin hatten Letztere ein genuines Interesse daran, aus einem Heer von Arbeitskräften schöpfen zu können. Folglich wurde das Prinzip „Stadtluft macht frei“ sanktioniert. Letztendlich wurde das Problem Neuscheipitschi erst im Mai 1959 im Zuge der Erweiterung der Minsker Stadtgrenze gelöst, d.h. im Sinne einer Eingemeindung und Legalisierung. Damit wurde die letzte „Freie“ Stadt in Weißrussland auf profane Art und Weise „sowjetisch“. Wie der Volksmund zu berichten weiß, ließen sich in den sechziger Jahren in Neuscheipitschi vor allem „Zigeuner“ nieder. Und es soll genau diese Bevölkerungsgruppe gewesen sein, die bei der Sanierung der Siedlung zu Beginn der siebziger Jahre als erste in den Genuss einer begehrten Neubauwohnung gekommen sei. Fasziniert von den Einblicken in das Chaos einer städtischen Gesellschaft in der stalinistischen und poststalinistischen Sowjetunion, konnte ich mich der Versuchung nicht entziehen, bei der Rekonstruktion der Ereignisse auf das Stilmittel der Ironie zu setzen, um den Informationen aus dem trockenen Verwaltungsschriftwechsel Leben einzuhauchen. Dabei verwischten sich unwillkürlich die Grenzen zwischen Fakten und Fiktionen. Gelebte oder erlebte Geschichte sieht indes anders aus. Zumindest unterscheiden sich die Wahrnehmungen und Schwerpunktsetzungen von Beobachtern und Betroffenen. Das konnte ich in einem Gespräch mit der letzten Zeitzeugin des Experiments Neuscheipitschi erfahren. Bei den folgenden Aussagen handelt es sich lediglich um ein Sammelsurium flüchtiger Erinnerungen an eine Begegnung, die vor über einer Dekade stattfand.
3. B ABA W ARJA An der Wende vom 20. zum 21. Jahrhundert war Baba Warja über 90 Jahre alt und ihres Lebens bereits überdrüssig. In ihr begegnete meinem weißrussischen Kollegen und mir eine Person, die die Sowjetunion – das Objekt meines historischen Interesses – in ihrer gesamten Epoche durchlebt hatte. Baba Warja hatte mehr zu vermitteln als jedes Lehrbuch der Geschichte. Sie wohnte bei ihren Kindern in einem der solideren Privathäuser des an das ehemalige Neuscheipitschi angrenzenden Holzhausviertels Stolowaja Okoliza. Wegen ihrer Gebrechlichkeit ansonsten ans Bett gebunden, erwartete sie ihre Besucher auf einem Sessel in einem bescheiden eingerichteten Zimmer, das allenfalls durch eine kleine Ikonenecke die Aufmerksamkeit auf sich zog, welche – wie sich im Verlaufe des Gesprächs herausstellte – so gar nicht zu der durchaus sowjetisch sozialisierten Bewohnerin passten. Baba Warja war zu diesem Zeitpunkt nahezu blind. Obwohl ihre zierliche Gestalt in dem großen Sessel zu versinken schien, zeugten ihr entschlossener Ausdruck und ihre hellen Augen von einstiger Energie und Willenskraft. Wie hätte sie als Kriegswitwe auch sonst drei Töchter unter den Bedingungen der nationalsozialistischen Okkupation und der entbehrungsreichen
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Nachkriegszeit großziehen können? Sie erschien mir im wahrsten Sinne des Wortes eigensinnig, wie ein Mensch aus einer anderen Zeit, wie ein Mensch, dem man nichts vormachen konnte. Es handelte sich um eine Person, die viel Freude und noch mehr Leid erfahren hatte, und die als Überlebenskünstlerin viel zu erzählen wusste, die sich aber immer treu geblieben war in ihrer Anspruchslosigkeit. Während der Zeit der deutschen Besatzung zählte der legendäre Partisanenführer Iwan Kabuschkin zu Baba Warjas Gästen. Ihr Mann wurde erst nach der im Juli 1944 erfolgten Befreiung von Minsk in die Rote Armee eingezogen. Tragischerweise fiel er bei Königsberg einer Mine zum Opfer. Aus Rücksicht auf die angeschlagene Gesundheit von Baba Warja und aus Respekt vor der Privatsphäre ihrer Familie stellten wir nur wenige Fragen. Antworten erhielten wir in der Sprache, die gemeinhin trasjanka („Mischfutter“) genannt wird. Offenbar war der regionale Dialekt, den Baba Warja Mitte der dreißiger Jahre aus der nordöstlichen Region ihres Heimatlandes mitgebracht hatte, seit den fünfziger und sechziger Jahren immer mehr in dem in der Hauptstadt dominierenden Russischen aufgegangen. Neuscheipitschi war für Baba Warja kein großes Thema. Provisorische Unterkünfte schienen im Minsk der Nachkriegszeit angesichts des allgemeinen Wohnungsmangels die Regel gewesen zu sein, so dass die Einwohner nicht auf die Idee kamen, an dem aus der eigenmächtigen Bautätigkeit stammenden Wildwuchs illegaler Siedlungen Anstoß zu nehmen. Vielmehr wusste Baba Warja zu berichten, dass sie zu der Zeit, als sich auf dem Gelände von Neuscheipitschi noch ein Lagerstützpunkt für Kriegsgefangene befand, kurzerhand einige Deutsche angeheuert hatte, um sich eine neue Behausung zimmern zu lassen. Die Entlohnung sei in Naturalien erfolgt. Insbesondere die Milcherträge ihrer Kuh, an die sie nach Kriegsende unter Ausnutzung guter Beziehungen und Einsetzung taktischer Manöver trickreich gelangt war, schien das Überleben von Baba Warjas Familie gesichert zu haben. Denn die Vergütung durch den an der Minsker Stadtgrenze gelegenen Landwirtschaftsbetrieb, in dem Baba Warja arbeitete, in Form von sogenannten Tagewerken oder Verrechnungseinheiten für eine potentielle Gewinnbeteiligung, brachte im Zeitalter der Lebensmittelrationierung effektiv nichts ein. Aus irgendeinem Grund befürwortete Baba Warja dennoch die in den dreißiger Jahren vollzogene Zwangskollektivierung der bäuerlichen Betriebe. Handelte es sich bei der nach dem amtierenden Parteichef Panteleimon Ponomarenko benannten Kolchose, bei der Baba Warja angestellt war, um einen landwirtschaftlichen Musterbetrieb oder stammte unsere Zeitzeugin aus derart ärmlichen Verhältnissen, dass sie jegliche agrarpolitische Veränderung als Verbesserung erachtete? Gehörte sie etwa der Spezies des Homo Sovieticus an, die in den dreißiger Jahren gezüchtet wurde? Für diese Kategorien der Sowjetmenschen schien das bolschewistische Modernisierungsprogramm immerhin eine Überwindung der bitteren Armut garantiert zu haben. Der Tribut, den diese Generation dafür zu zahlen bereit waren, lautete
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Enthaltsamkeit in der individuellen Lebensführung und Aufopferung für die gemeinsame Sache. – Wie auch immer: Es handelt sich um Fragen, wie sie nur von einem westlichen Historiker gestellt werden können, der sich für die Ambivalenz von Mitmachen und Unterlaufen im Stalinismus interessiert. Als der Name Stalin fiel, ging in Baba Warjas Gemüt eine radikale Veränderung vor. Ihr Körper sackte zusammen, ihre Züge versteinerten. In diesem Moment habe ich mehr über den Personenkult und den Terror erfahren als aus Beschreibungen mancher Stalinismusforscher. Baba Warja wurde sichtlich von der Vergangenheit eingeholt. Der Schrecken war ihr in die Glieder gefahren, die Angst stand ihr ins Gesicht geschrieben. Fragen zu stellen, erübrigte sich. Auf die eher verlegene Erkundigung nach dem Schicksal ihrer Nachbarn, bestätigte sie zögerlich, dass Unschuldige verschwunden seien. Und dennoch war in ihrem Bewusstsein noch etwas Anderes vorhanden, etwas Positives, das ihrer Jugend einen Sinn gegeben zu haben schien, etwas, das den Rahmen geboten haben mag für ein glückliches Leben an der Seite eines früh verstorbenen Mannes. Sie nannte es „kommunistische Moral“ … Das Stichwort Jugend veranlasste Baba Warja unwillkürlich, eine mentale Rückkehr von der Mitte des 20. an den Beginn des 21. Jahrhunderts vorzunehmen. Ihre Sorge – so betonte sie nachdrücklich – galt der jungen Generation. Einerseits sei diese zu beglückwünschen, dass sie Hunger und Entbehrungen, die peinigende Not unter deutscher Besatzung und die bittere Armut der Nachkriegszeit nicht erlebt habe. Andererseits seien die jungen Leute zu bedauern, weil die postsowjetische Transformation in der Republik Belarus zu Werteverlusten und zur Individualisierung geführt hätte. Beim Wechsel der Bezugsperson von Stalin zu Lukaschenko, vom strengen Vater zum getreuen Sohn, klarten sich Baba Warjas Gesichtszüge merklich auf. Ihre Augen begannen geradezu zu leuchten. Ihr Lebensmut flackerte wieder auf. Alexander Lukaschenko – ihren „Landsmann“ aus dem Witebsker Gebiet (wr. Wizebsk) – betrachtete sie als Präsidenten, dem man vertrauen kann, als Herrscher, der um das Wohl seiner Untertanen besorgt ist.
4. Z USAMMENFASSUNG Als Historiker faszinierte mich die Akte Neuscheipitschi, weil es sich um ein in den Schätzen der Archive verborgenes Lehrbeispiel für die Geburtswehen der „sozialistischen Stadt“ in der Phase zwischen Rekonstruktion und Bevölkerungsboom handelte. Vor dem Hintergrund der nach dem Zweiten Weltkrieg in der Belorussischen Sozialistischen Sowjetrepublik (BSSR) binnen eines Jahrzehnts erfolgten Verwandlung eines Agrarlandes in einen Industriestaat sahen sich Staats- und Parteiführung nicht imstande, den aus der Landflucht resultierenden Bevölkerungsdruck auf die Hauptstadt zu regulieren. Offensichtlich hebelte die spontan entstandene „Treibsandgesellschaft“ (Moshe Lewin) alle Mechanismen aus, die von der Partei geschaffen
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wurden, um die Migrationsströme zu steuern und die Bevölkerung zu kontrollieren. „Speaking Bolshevik“ (Stephen Kotkin) – die Verinnerlichung kommunistischer Werte durch die Übernahme des Parteijargons – konnte unter diesen Bedingungen gesellschaftlichen Eigensinns in der Zeit nach Stalin nicht mehr zum Tragen kommen. Indes lebte „Speaking Bolshevik“ in den Erinnerungen von Baba Warja wieder auf. In Baba Warja ist mir im wahrsten Sinne des Wortes ein Sowjetmensch erschienen, ein Mensch des Jahrhunderts der Sowjetunion, ein Mensch des 20. Jahrhunderts. Ihre Erfahrung beinhaltete gleichermaßen das Leiden und die Schönheit, die Opferbereitschaft und die Lebensfreude. Wie sollte es auch anders sein? Auf der einen Seite war die Belarus im Verlauf ihrer Geschichte immer wieder dazu verdammt gewesen, als Durchmarschgebiet für fremde Heere herzuhalten. Auf der anderen Seite verkörperte die greise Frau noch das an bitteren Erfahrungen reiche Lebensgefühl der weißrussischen Bauern. Für die Nachbarn war Baba Warja eine Institution, sie genoss Autorität. Ihre Familie brachte ihr Zuneigung und Mitleid entgegen. Für die Belarus war das 20. Jahrhundert das Jahrhundert der zerstörten Familien. Nur die Aufarbeitung dieser Geschichte, nur die Emanzipierung von den traumatischen Erfahrungen kann dazu beitragen, eine Moral zu verankern, die nicht auf „Väterchen“ Lukaschenko, sondern auf die Rolle Weißrusslands als Übergangsregion im alten Europa ausgerichtet ist. Angesichts des in der politischen Kultur verankerten Paternalismus und Fatalismus kann die Besinnung auf die eigene Familie den Belarussen des 21. Jahrhunderts eine Orientierung bieten. Nur durch die Reaktivierung ihrer Traditionen kann die Belarus lebendig gehalten werden. Multikulturalismus und Provinzialität haben das Leben seit der Frühen Neuzeit ausgezeichnet. Lokalpatriotismus und Regionalismus erscheinen als natürliche Optionen. Die Imagination Weißrusslands als einer Kontaktzone zwischen Ost und West lautet die pragmatische Aufgabe der Zukunft. Um die Republik Belarus zu verstehen, bedarf es der Vergegenwärtigung persönlicher Schicksale, der Sammlung von Familiengeschichten und der Bilanzierung einer Geschichte der Gefühle.
L ITERATUR Alexijewitsch, Swetlana: Der Krieg hat kein weibliches Gesicht, Berlin: Berliner Taschenbuch Verlag 2004; dies.: Die letzten Zeugen. Kinder im Zweiten Weltkrieg, Berlin: Aufbau Taschenbuch Verlag 2005; dies.: Seht mal, wie ihr lebt. Russische Schicksale nach dem Umbruch, Berlin: Aufbau Taschenbuch Verlag 1999; dies.: Tschernobyl. Eine Chronik der Zukunft, Berlin: Taschenbuch Verlag 2006; dies.: Zinkjungen. Afghanistan und die Folgen, Frankfurt a. M.: S. Fischer 1992.
Autorinnen und Autoren
Ackermann, Felix, Dr., Programmleiter im Institut für angewandte Geschichte in Frankfurt (Oder); Lehrbeauftragter der Professur Geschichte Osteuropas an der Europa-Universität Viadrina. Veröffentlichungen: „Vom Dorf nach Grodno. Die Sowjetisierung Westweißrusslands als Akkulturationsprozess dörflicher Migranten“, in: Thomas M. Bohn (Hg.), Von der „europäischen Stadt“ zur „sozialistischen Stadt“ und zurück? Urbane Transformationen im östlichen Europa des 20. Jahrhunderts, München: Oldenbourg Verlag 2009, S. 335-359; Palimpsest Grodno. Nationalisierung, Nivellierung und Sowjetisierung einer mitteleuropäischen Stadt. 1919-1991, Wiesbaden: Harrassowitz Verlag 2010. Bohn, Thomas M., Prof. Dr., Professor für Osteuropäische Geschichte am Historischen Institut der Justus-Liebig-Universität Gießen. Projekt: „Politik und Gesellschaft nach Tschernobyl“ (in Zusammenarbeit mit dem Zentrum für Zeithistorische Forschung in Potsdam, Volkwagen-Stiftung, 2008-2011). Veröffentlichungen: Minsk - Musterstadt des Sozialismus. Stadtplanung und Urbanisierung in der Sowjetunion nach 1945, Köln/Weimar/Wien: Böhlau Verlag 2008; „,Im allgemeinen Meer der Stimmen soll auch meine Stimme erklingen ...‘ Die Wahlen zum Obersten Sowjet der UdSSR von 1958 – Loyalität und Dissens im Kommunismus“, in: Geschichte und Gesellschaft 34 (2008), S. 524-549. Dalhouski, Aliaksandr, M.A., Doktorand am Historischen Institut der Justus-Liebig-Universität Gießen; Stipendiat im Forschungsprojekt: „Politik und Gesellschaft nach Tschernobyl“ (Volkswagen-Stiftung, 2008-2011). Promotionsprojekt: „Belarus nach Tschernobyl: Materieller Kompromiss unter den Bedingungen einer temporären Demokratisierung“. Veröffentlichungen: „Belarussische Zwangsarbeiter: Ihre Typen und Rekrutierungsmethoden“, in: Alexander von Plato/Almut Leh/Christoph Thonfeld (Hg.), Hitlers Sklaven. Lebensgeschichtliche Analyse zur Zwangsarbeit im internationalen Vergleich, Wien: Böhlau Verlag 2008, S. 194-206; „State Politics of Chernobyl and Written Protest of Belarusians in 1986-1991“, in: Crossroads
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Digest. The Journal for the studies of Eastern European Borderlands (2010) H. 1-2, S. 105-115. Einax, Rayk, M.A., wissenschaftlicher Mitarbeiter am Historischen Institut der Justus-Liebig-Universität Gießen. Promotionsprojekt: „Die Entstalinisierung in Weißrussland. Stabilität und Wandel in der Belorussischen Sowjetrepublik 1950-1965“. Veröffentlichungen: „Belarus – Erfolgsmodell und Idealzustand sowjetischer Staatlichkeit nach 1945“, in: Joachim v. Puttkamer/Jana Osterkamp (Hg.), Sozialistische Staatlichkeit. Vorträge der Jahrestagung des Collegium Carolinum Bad Wiessee vom 5. bis 8. November 2009, München (im Druck). Friedman, Alexander, Dr., wissenschaftlicher Mitarbeiter am Seminar für Osteuropäische Geschichte der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg im Forschungsprojekt „Die nationalsozialistische Okkupationspresse in den besetzten Gebieten der Sowjetunion, 1941–1944“ (2009-2011, Exzellenzinitiative des Bundes und der Länder); Leiter der deutsch-weißrussischen Forschergruppe „Krankenmorde in Belarus 1941–1944“ am Historischen Institut der Universität des Saarlandes (2009–2012, Gerda Henkel Stiftung). Veröffentlichungen: „Jews in Belarus“, in: Mark Avrum Ehrlich (Hg.), Encyclopedia of the Jewish Diaspora, Santa Barbara/Cal.: ABC-CLIO 2008, S. 946-952; Deutschlandbilder in der weißrussischen sowjetischen Gesellschaft 1919 bis 1941: Propaganda und Erfahrungen, Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2011. Ganzenmüller, Jörg, PD Dr., Vertreter des Lehrstuhls für Osteuropäische Geschichte an der Friedrich-Schiller-Universität Jena; abgeschlossenes Habilitationsprojekt: „Russische Staatsgewalt und polnischer Adel: Staatsausbau und Elitenintegration in den Westgouvernements des Zarenreiches (1772-1850)“. Veröffentlichungen: „Ordnung als Repräsentation von Staatsgewalt. Das Zarenreich in der litauisch-weißrussischen Provinz (17721832)“, in: Jörg Baberowski/David Feest/Christoph Gumb (Hg.), Imperiale Herrschaft in der Provinz. Repräsentationen politischer Macht im späten Zarenreich, Frankfurt a. M./New York: Campus Verlag 2008, S. 59-80; „Zwischen Elitenkooptation und Staatsausbau. Der polnische Adel und die Widersprüche russischer Integrationspolitik in den Westgouvernements des Zarenreiches (1772-1850)“, in: Historische Zeitschrift 291 (2010), S. 625662. Golz, Susanne, M.A., Studium der Slawistik, Kunstgeschichte und Osteuropäischen Geschichte in Jena, Leipzig, Kazan‘ und Moskau; Mitarbeiterin im Internationalen Büro der Friedrich-Schiller-Universität Jena.
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Hentschel, Gerd, Prof. Dr., Professor für Slawistische Sprachwissenschaft an der Universität Oldenburg. Projekt: „Die Trasjanka in Weißrussland – eine ‚Mischvarietät‘ als Produkt des weißrussisch-russischen Sprachkontakts: Sprachliche Strukturierung, soziologische Identifikationsmechanismen und Sozioökonomie der Sprache“ (in Zusammenarbeit mit dem Koautor des Beitrags, Bernhard Kittel, Volkwagen-Stiftung, 2009-2012). Veröffentlichungen: „Zur weißrussisch-russischen Hybridität in der weißrussischen ,Trasjanka‘“, in: Slavistische Linguistik 2006/2007 (= Slavistische Beiträge 464), S. 169-219; „On the development of inflectional paradigms in Belarusian Trasjanka: The case of demonstrative pronouns“, in: Gerd Hentschel/Siarhiej Zaprudski (Hg.), Belarusian Trasjanka and Ukrainian Suržyk: Structural and social aspects of their description and categorization, Oldenburg: BIS-Verlag 2008, S. 99-133. Kashtalian, Iryna S., M.A., Doktorandin am Osteuropa-Institut der Freien Universität Berlin. Promotionsprojekt: „The Repressive factors of USSR’s internal policy and everyday life of Belarusian society (1944-1953)“. Veröffentlichungen: „Stanovišča intėligencyi BSSR u 1947-1953 hh. (pa matėryjalach Asobaha sektara CK KP(b)B“, in: Belaruski histaryčny časopis (2006), Nr. 3, S. 28-32; „Ėkanamičnaja štodzënnasc’ BSSR u 1944–1953 hh“, in: Repressivnaja politika sovetskoj vlasti v Belarusi. Sbornik naučnych rabot (2007), Nr. 3, http://homoliber.org/ru/rp/rp030112.html. Keding, Ekaterina, M.A., Doktorandin am Lehrstuhl für Osteuropäische Geschichte der Ludwig-Maximilians-Universität München; Mitarbeiterin im Forschungsprojekt: „Musealisierung der Erinnerung. Zweiter Weltkrieg und nationalsozialistische Besatzung in Museen, Gedenkstätten und Denkmälern im östlichen Europa“ (Volkswagen Stiftung, 2008-2011). Promotionsprojekt: „Die Musealisierung der deutschen Besatzung im neuen Nationalstaat: Republik Belarus.“ Veröffentlichungen: „Schlüsselbilder des belarussischen Widerstands – Der Streitfall Maša Bruskina“, in: Monika Flacke u.a. (Hg.), Medien zwischen Fiction-Making und Realitätsanspruch – Konstruktionen historischer Erinnerungen, München: Oldenbourg Verlag 2011 (im Druck). Khodzin, Siarhei, Prof. Dr., Professor für Geschichte; Dekan der Historischen Fakultät der Belrussischen Staatlichen Universität in Minsk. Veröffentlichungen: „Istoričeskaja nauka i obrazovanie v uslovijach globalizacii“, in: Novejšaja istorija (1991-2006 gg.): gosudarstvo, obščestvo, ličnost’. Materialy meždunarodnoj naučno-teoretičeskoj konferencii (Minsk, 29 sentjabrja 2006 g.), Minsk: Belorusskaja Nauka 2007, S. 674-679; Istorija i teorija istočnikovedenija. Minsk: Izdatel’skij centr BGU 2008 (zusammen mit Valentin Grickevič, Sergej Kaun). Kittel, Bernhard, Prof. Dr., Professor für Methoden der empirischen Sozialforschung an der Universität Oldenburg. Projekt: „Die Trasjanka in Weiß-
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russland – eine ‚Mischvarietät‘ als Produkt des weißrussisch-russischen Sprachkontakts: Sprachliche Strukturierung, soziologische Identifikationsmechanismen und Sozioökonomie der Sprache“ (in Zusammenarbeit mit dem Koautor des Beitrags, Gerd Hentschel, Volkswagen-Stiftung, 20092012). Veröffentlichungen: „Mixed language usage in Belarus. The sociostructural background of language choice“, in: International Journal of the Sociology of Language 5 (2010), S. 47-71 (zusammen mit Diana Lindner, Sviatlana Tesch, Gerd Hentschel). Kryvashei, Dzmitry, Dr., Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Geschichte der Akademie der Wissenschaften der Republik Belarus in Minsk. Veröffentlichungen: Nacyjanal’nyja supol’nasci Belarusi ŭ peryjad hermanskaj akupacyi (čėrven‘ 1941 – lipen‘ 1944 hh.), Minsk: Belaruskaja Navuka 2009; „Razvitie kul’tury v Respublike Belarus‘“, in: Belarusʼ: Narod. Gosudarstvo. Vremja, Minsk: Belaruskaja Navuka 2009, S. 617-637. Mark, Rudolf A., Dr., wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Professur für Geschichte Mittel- und Osteuropas der Helmut-Schmidt-Universität/Universität der Bundeswehr Hamburg. Veröffentlichungen: „Putin und das Unionsprojekt Russland – Belarus“, in: Walter Feichtinger/Martin Malek (Hg.), Belarus zwischen Russland und der EU. Sowjetische Vergangenheit, autoritäre Gegenwart – demokratische Zukunft? Wien: Landesverteidigungsakademie 2008, S. 75-96; „Between Conformity and the Struggle for Political Survival – The Communist Parties in Belarus“, in: Uwe Backes/Patrick Moreau (Hg.), Communist and Post Communist Parties in Europe, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2008, S. 403-435. Petz, Ingo, M.A., Studium der Osteuropäischen Geschichte und Slawistik in Köln und Wolgograd. Freier Autor und Journalist. Er arbeitet im Rahmen des Grenzgänger-Programm der Robert Bosch Stiftung an einem Buch über Belarus.Veröffentlichungen: „Aufbruch durch Musik. Kulturelle Gegenelite in Belarus“, in: Osteuropa 57 (2007) H. 1, S. 49-56; „Kreativität und Selbstbehauptung. Die belarussische Kulturszene nach dem ,Blutsonntagʻ“, in Osteuropa 60 (2010) H. 12, S. 33-52. Rohdewald, Stefan, Dr., Akademischer Rat auf Zeit am Lehrstuhl für Neuere und Neueste Geschichte Osteuropas und seiner Kulturen der Universität Passau. Habilitationsprojekt: „‚Serbisches Himmelreich‘, ‚Gott Bulgarien‘ und der ‚makedonische Gott‘. (Trans-)Nationale religiöse Erinnerungsfiguren der orthodoxen Südslawen bis 1944“. Veröffentlichungen: „Vom Polocker Venedig“. Kollektives Handeln sozialer Gruppen in einer Stadt zwischen Ost- und Mitteleuropa (Mittelalter, Frühe Neuzeit, 19. Jahrhundert bis 1914), Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2005; Litauen und Ruthenien. Studien zu einer transkulturellen Kommunikationsregion (15.-18. Jahrhundert)/ Lithuania and Ruthenia. Studies of a Transcultural Communication Zone
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(15th–18th Centuries). Wiesbaden: Harrassowitz 2007 (Hrsg. zusammen mit David Frick, Stefan Wiederkehr). Sahanovič, Henadz’, Dr., Dozent an der Europäischen Humanistischen Universität Vilnius-Minsk; Herausgeber der Zeitschrift: Belaruski Histaryčny Ahljad/Belarusian Historical Review. Veröffentlichungen: „Der Eintritt des Großfürstentums Litauen in die polnische Adelsrepublik: Weißrussland im 16. und 17. Jahrhundert“ / „Weißrussland und die Agonie der Adelsrepublik (1648-1795)“, in: Dietrich Beyrau/Rainer Lindner (Hg.), Handbuch der Geschichte Weißrusslands, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2001, S. 93-105 / 106-118; „Die belarussische Historiographie zwischen Ost und West und die Historiographien der Nachbarn“, in: Zdisłav Krasnodębski/Stefan Garsztecki/Rüdiger Ritter (Hg.), Last der Geschichte? Kollektive Identität und Geschichte in Ostmitteleuropa. Belarus, Polen, Litauen, Ukraine, Hamburg: Verlag Dr. Kovač 2008, S. 291-308. Savitskaya, Natallia, M.A., wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Slavistik der Justus-Liebig-Universität Gießen. Promotionsprojekt: „Belarussisch zwischen Sprachbewahrung und Pragmatismus: zum Ausdruck der Sprachattitüden in metasprachlichen belarussischen online-Diskussionen“. Schön, Martin, M.A., Studium der Kulturwissenschaften an der EuropaUniversität Viadrina Frankfurt (Oder); Referent beim Internationalen Bildungs- und Begegnungswerk (IBB) in Dortmund. Veröffentlichungen: „Die Brester Festung im Kontext belarussischer Erinnerungskultur“, in: Olga Kurilo/Gerd-Ulrich Herrmann (Hg.), Täter, Opfer, Helden, Berlin: Metropol Verlag 2007, S. 149-157; „Zwischen Präsident und Public Good: Das Verhältnis zwischen Staat und Kirche in Belarus“, in: Antonius Liedhegener (Hg.), Religion, Zivilgesellschaft und bürgerschaftliches Engagement, Berlin: VS Verlag 2010, S. 149-157. Shadurski, Victor, Prof. Dr., Professor für Geschichte; Dekan der Fakultät für Internationale Beziehungen an der Belarussischen Staatlichen Universität in Minsk. Veröffentlichungen: Kul‘turnye svjazi Belarusi so stranami Central‘noj i Zapadnoj Evropy (1945-1990-e gody), Minsk: BGU 2000; Istorija meždunarodnych otnošenij (1789−1918), Minsk: BGU 2005 (zusammen mit Julija Malevič u.a.). Slepovitch, Elizaveta, M.A., Doktorandin am Lehrstuhl für Europäische Ethnologie/Volkskunde der Ludwig-Maximilians-Universität München (Schroubek Fonds Östliches Europa). Promotionsprojekt: „Blat in Sowjetweißrussland nach dem Zweiten Weltkrieg (1945-1991)“. Stepanov, Andrei, Dr., Lehrbeauftragter an der Fakultät für Politikwissenschaft an der Europäischen Humanistischen Universität in Vilnius; Stipendi-
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at im Forschungsprojekt: „Politik und Gesellschaft nach Tschernobyl“ (Volkswagen-Stiftung, 2008-2011); Promotion an der Universität Vilnius 2010: „Politika Černobylja v Belarusi v 1986-2008 godach: formirovanie i projavlenija diskurs-koalicij“. Veröffentlichungen: „The Role of ‚Chernobyl’ in the Political Process in Belarus: Shaping the Political System and Public Policy“, in: Hans-Georg Heinrich/Ludmilla Lobova (Hg.), Belarus: External Pressure, Internal Change, Frankfurt a. M. u.a.: Peter Lang Verlag 2009, S. 277-285; „Scientific Discourse of Chernobyl: Laboratories of Political Decisions“, in: Crossroads Digest. The Journal for the studies of Eastern European Borderlands (2010) H. 5, S. 31-51 Šybeka, Zachar, Prof. Dr., Professor an der Belarussischen Staatlichen Ökonomischen Universität in Minsk. Veröffentlichungen: „Die Nordwestprovinzen im Russischen Reich (1795-1917) / Das ,alte‘ Minsk – vom zarischen Gouvernementszentrum zur sowjetischen Hauptstadt“, in: Dietrich Beyrau/Rainer Lindner (Hg.), Handbuch der Geschichte Weißrusslands, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2001, S. 119-134 / 308-318; „Aktuelle Geschichtspolitik in Belarus (1994-2004)“, in: Zdisłav Krasnodębski/Stefan Garsztecki/Rüdiger Ritter (Hg.), Last der Geschichte? Kollektive Identität und Geschichte in Ostmitteleuropa. Belarus, Polen, Litauen, Ukraine, Hamburg: Verlag Dr. Kovač 2008, S. 381-393. Temper, Elena, Dr., wissenschaftliche Mitarbeiterin am Geisteswissenschaftlichen Zentrum Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas (GWZO) in Leipzig. Veröffentlichungen: „,Der reinste slawische Stamm‘. Identitätsbildung à la bielarusse“, in: Osteuropa 59 (2009) H. 12, S. 293-309; Belarus verbildlichen. Staatssymbolik und Nationsbildung seit 1990, Köln/Weimar/ Wien: Böhlau Verlag 2011. Werdt, Christophe v., Dr., Leiter der Schweizerischen Osteuropabibliothek an der Universität Bern. Veröffentlichungen: Stadt und Gemeindebildung in Ruthenien. Okzidentalisierung der Ukraine und Weißrusslands im Spätmittelalter und in der frühen Neuzeit, Wiesbaden: Harrassowitz 2006; „Belarus und die Gegenwart der Sowjetunion“, in: Carsten Goehrke/Seraina Gilly (Hg.), Transformation und historisches Erbe in den Staaten des europäischen Ostens, Bern: Peter Lang Verlag 2000, S. 331-364.
Histoire Thomas Etzemüller Die Romantik der Rationalität Alva & Gunnar Myrdal – Social Engineering in Schweden 2010, 502 Seiten, kart., zahlr. Abb., 35,80 €, ISBN 978-3-8376-1270-7
Bettina Hitzer, Thomas Welskopp (Hg.) Die Bielefelder Sozialgeschichte Klassische Texte zu einem geschichtswissenschaftlichen Programm und seinen Kontroversen 2010, 464 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN 978-3-8376-1521-0
Michael Hochgeschwender, Bernhard Löffler (Hg.) Religion, Moral und liberaler Markt Politische Ökonomie und Ethikdebatten vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart September 2011, 312 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1840-2
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Histoire Anne Kwaschik, Mario Wimmer (Hg.) Von der Arbeit des Historikers Ein Wörterbuch zu Theorie und Praxis der Geschichtswissenschaft 2010, 244 Seiten, kart., 23,80 €, ISBN 978-3-8376-1547-0
Stefanie Samida (Hg.) Inszenierte Wissenschaft Zur Popularisierung von Wissen im 19. Jahrhundert Juli 2011, 324 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1637-8
Achim Saupe Der Historiker als Detektiv – der Detektiv als Historiker Historik, Kriminalistik und der Nationalsozialismus als Kriminalroman 2009, 542 Seiten, kart., 44,80 €, ISBN 978-3-8376-1108-3
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Histoire Lars Bluma, Karsten Uhl (Hg.) Kontrollierte Arbeit – disziplinierte Körper? Zur Sozial- und Kulturgeschichte der Industriearbeit im 19. und 20. Jahrhundert Januar 2012, ca. 380 Seiten, kart., ca. 35,80 €, ISBN 978-3-8376-1834-1
Claudia Dittmar Feindliches Fernsehen Das DDR-Fernsehen und seine Strategien im Umgang mit dem westdeutschen Fernsehen 2010, 494 Seiten, kart., 34,80 €, ISBN 978-3-8376-1434-3
Thomas Etzemüller (Hg.) Die Ordnung der Moderne Social Engineering im 20. Jahrhundert 2009, 366 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1153-3
Petra Hoffmann Weibliche Arbeitswelten in der Wissenschaft Frauen an der Preußischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin 1890-1945 Mai 2011, 408 Seiten, kart., 38,80 €, ISBN 978-3-8376-1306-3
Alexandra Klei, Katrin Stoll, Annika Wienert (Hg.) Die Transformation der Lager Annäherungen an die Orte nationalsozialistischer Verbrechen Februar 2011, 318 Seiten, kart., 31,80 €, ISBN 978-3-8376-1179-3
Timo Luks Der Betrieb als Ort der Moderne Zur Geschichte von Industriearbeit, Ordnungsdenken und Social Engineering im 20. Jahrhundert 2010, 336 Seiten, kart., zahlr. Abb., 35,80 €, ISBN 978-3-8376-1428-2
Stefanie Michels Schwarze deutsche Kolonialsoldaten Mehrdeutige Repräsentationsräume und früher Kosmopolitismus in Afrika 2009, 266 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 28,80 €, ISBN 978-3-8376-1054-3
Thomas Müller Imaginierter Westen Das Konzept des »deutschen Westraums« im völkischen Diskurs zwischen Politischer Romantik und Nationalsozialismus 2009, 434 Seiten, kart., 33,80 €, ISBN 978-3-8376-1112-0
Massimo Perinelli Fluchtlinien des Neorealismus Der organlose Körper der italienischen Nachkriegszeit, 1943-1949 2009, 380 Seiten, kart., zahlr. Abb., 36,80 €, ISBN 978-3-8376-1088-8
Carola S. Rudnick Die andere Hälfte der Erinnerung Die DDR in der deutschen Geschichtspolitik nach 1989 März 2011, 770 Seiten, kart., 39,80 €, ISBN 978-3-8376-1773-3
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