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German Pages 354 Year 2018
Susanne Heyn Kolonial bewegte Jugend
Histoire | Band 133
Susanne Heyn (Dr. phil.) ist Historikerin und promovierte an der Leibniz Universität Hannover. Zu ihren Forschungsinteressen gehören historische Jugendforschung, Geschlechtergeschichte und deutscher Kolonialismus. Sie lebt und arbeitet in Frankfurt und Hannover.
Susanne Heyn
Kolonial bewegte Jugend Beziehungsgeschichten zwischen Deutschland und Südwestafrika zur Zeit der Weimarer Republik
Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Hans-Böckler-Stiftung TIT_HBS.eps [[+ Logo]]
Zugl. Dissertation, Leibniz Universität Hannover, 2016 mit dem Titel »Disparate Zukunftsvorstellungen. Kolonialbewegte Jugend zwischen der Weimarer Republik und dem Mandatsgebiet Südwestafrika«
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2018 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Maria Arndt, Bielefeld Umschlagabbildung: »Die preisgekrönte koloniale Strandburg der Eckernförder [Jugendgruppe]«, in: Jambo – Abenteuer, Unterhaltung und Wissen aus Kolonien und Übersee, 1928, Heft 7, S. 192 (aus Universitätsbibliothek Johann Christian Senckenberg, Frankfurt am Main) Lektorat: Dr. Karen Rauh Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-4265-0 PDF-ISBN 978-3-8394-4265-4 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]
Inhalt
Einleitung | 7
Thema und Fragestellungen | 7 Forschungsstand | 12 Forschungsperspektiven und Analyseinstrumentarium | 18 Materialkorpus und Aufbau der Studie | 25 Historisch-politische Kontextualisierungen | 33 1.1 Gesellschaftliche Rahmenbedingungen von Jugend in der Weimarer Republik | 34 1.2 Die Kolonialfrage in der Weimarer Politik | 46 1.3 Die deutsche Siedlerbevölkerung im Mandatsgebiet Südwestafrika | 62 1.
2.
Die junge Generation als Zielgruppe der Kolonialbewegung | 69
2.1 Die Entwicklung und Struktur der kolonialen Jugendarbeit | 70 2.2 Die ‚Jugendfrage‘: Kontinuitäten schaffen in der Kolonialbewegung | 97 2.3 Koloniale Einflussnahme auf die Institution Schule | 109 3.
Die koloniale Jugendbewegung zwischen Mythenbildungen und Zukunftsvisionen | 123
3.1 Koloniale Propaganda zwischen Vergangenheitskonstruktion und zukunftsweisenden Raumforderungen | 125 3.2 Politische Visionen und Sozialisation für eine koloniale Zukunft: Die Kolonialpfadfinder | 148 3.3 Bürgerlich-konservatives Geschlechtermodell: Die kolonialen Mädchengruppen | 164
4.
Deutsche Siedlernachkommen als zukünftige Kulturträger‘ für Südwestafrika | 177
4.1 Schulwesen und Jugendarbeit als Instanzen ‚deutscher Kultur‘ | 181 4.2 Mobilität vorbereiten: Angst vor kultureller ‚Degeneration‘ | 188 4.3 Zwischen prekären Lebenslagen und diskursiven Prägungen: Perspektiven von Eltern | 210 4.4 Die Infrastruktur der Mobilität | 216 5.
Bildungsaufenthalte von Siedlernachkommen in Deutschland | 235
5.1 Kolonialverbandlich-institutionell organisierte Aufenthalte | 237 5.2 Familiär-verwandtschaftlich organisierte Aufenthalte | 252 5.3 ‚Kolonialdeutsche‘ Identität vereindeutigen: Selbstpositionierungen von Siedlernachkommen | 258 5.4 Rückkehr nach Südwestafrika | 265 6.
Nachkommen der Siedlerfamilie Hälbich in Deutschland | 273
6.1 Perspektiven auf ehemalige Kolonie und Metropole: Zur familiären Bedeutung der Bildungsaufenthalte | 275 6.2 Junge Hälbichs zwischen Familie, Qualifizierung und Politik | 283 6.3 Verunsicherte Zugehörigkeit durch erlebte Mobilität | 296 Schlussfolgerungen | 309 Abkürzungsverzeichnis | 323 Quellen- und Literaturverzeichnis | 325 Danksagung | 351
Einleitung
THEMA UND FRAGESTELLUNGEN Der am 28. Juni 1919 unterzeichnete Versailler Vertrag besiegelte das Ende der deutschen Kolonialherrschaft. Die Territorien in Afrika, China und im Pazifik wurden zu Mandaten des neu entstandenen Völkerbundes erklärt, ihre Verwaltung übernahmen fortan verschiedene Staaten, darunter Frankreich, Großbritannien und die Südafrikanische Union. Allerdings mobilisierte nicht zuletzt „der doppelt empfundene Prestige- und Statusverlust“, nach der Kriegsniederlage weder politisch Weltmacht zu sein noch durch den Verlust des Kolonialbesitzes symbolisch zur „Gruppe der westlichen ‚Kulturnationen‘“ zu gehören, kolonialrevisionistische Bestrebungen.1 Die überwiegend von der Kolonialbewegung vehement forcierte Forderung nach Rückgabe der Kolonien blieb über die gesamte Zeit der Weimarer Republik bestehen. Politisches Ziel war es, wieder in den Kreis der Kolonialmächte aufgenommen zu werden. Flankiert wurde die Forderung mit einer auf die ehemaligen Überseeterritorien gerichteten „Projektions- und Phantasiegeschichte“,2 die – wie schon während des Kaiserreichs – in so unterschiedlichen Bereichen wie Film und Literatur, den Wissenschaften und dem Vereinswesen ihren Ausdruck fand. Die ehemaligen Kolonien waren somit weiterhin Bestandteil der „Gedanken- und Gefühlswelt der deutschen Gesellschaft“.3 Koloniale Denk- und Handlungsweisen setzten sich fort. Gleichzeitig blieb nach 1919 erzwungene und freiwillige, grenzüberschreitende Mobilität bedeutsam, die sehr unterschiedliche Akteurinnen und Akteure nach Deutschland und von dort auch wieder weg führte. Im Rheinland waren ‚Kolonial-
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Rogowski 2003, S. 246.
2
van Laak 2003, S. 71.
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Kundrus 2003a, S. 7. Zunehmend seit Ende des 19. Jahrhunderts spannte sich über die deutschen Kolonien hinaus ein „imperiale[r] und globale[r] Referenzrahmen“. Conrad 2008a, S. 94.
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soldaten‘4 der französischen Armee stationiert, deutsche Siedler/innen5 kehrten überwiegend als Folge von Ausweisungen aus den Überseeterritorien nach Deutschland zurück, auch (antikolonial aktive) Migrantinnen und Migranten aus kolonisierten Territorien fanden sich dort zusammen. 6 Zudem unterstützten vor allem Kolonialverbände und das Auswärtige Amt die Rückkehr von ‚Kolonialdeutschen‘ und die Neueinwanderung nach Südwestafrika, Ostafrika oder Kamerun. Im Vergleich der ehemaligen deutschen Kolonien stellte Südwestafrika als ehemalige Siedlungskolonie eine besondere Situation dar. Dort verblieb 1919 mit etwa 6000 Personen die größte deutsche Bevölkerungsgruppe, von der ein Teil weiterhin enge Verbindungen mit Deutschland unterhielt. Die Studie beschäftigt sich aus einer akteurszentrierten Perspektive mit der anhaltenden Präsenz kolonialer Imaginationen und Handlungsweisen in der Weimarer Republik. Sie berücksichtigt nicht nur die Kolonialbewegung in Deutschland, sondern auch die deutsche Siedlerbevölkerung im Mandatsgebiet Südwestafrika, um die fortdauernden Beziehungen zwischen ehemaliger Metropole und Kolonie herauszuarbeiten. Wenig Aufmerksamkeit haben in diesem Forschungsfeld bislang Jugendliche und junge Erwachsene erfahren, die als Mitglieder kolonialer Jugendgruppen in Deutschland und als mobile Siedlernachkommen aus Südwestafrika im Mittelpunkt dieser Studie stehen. Kolonialvereine ebenso wie Lobbygruppen der deutschen Siedlerbevölkerung maßen gerade nach 1919 der jungen Generation den Stellenwert einer gesellschaftlich relevanten Akteursgruppe bei. Seit dieser Zeit versuchten sie – teilweise in gegenseitiger Unterstützung –, Heranwachsende für die koloniale Revision und somit für eine Zukunft Deutschlands als erneute Kolonialmacht zu gewinnen. Die Arbeit zeigt, wie sich das Verhältnis zwischen junger Generation und der Kolonialbewegung in Deutschland sowie der deutschen Siedlerbevölkerung in Südwestafrika gestaltete, die sich infolge des ‚Kolonialverlusts‘ mit den veränderten und jeweils unterschiedlichen politischen Rahmenbedingungen auseinandersetzen mussten und dabei aufeinander bezogen waren. Daran wird deutlich werden, wie gerade aufgrund des ‚Kolonialverlusts‘ eine koloniale Jugendbewegung und Infrastruktur für die Mobilität heranwachsender Siedlernachkommen nach Deutschland erst hervorgebracht wurden und inwieweit sich diese Jugendlichen und jungen Erwachsenen am Weiterwirken kolonialer Vorstellungswelten und Handlungsweisen beteiligten. Allerdings erfasste die Jugendarbeit der Kolonialbe4
Einfache Anführungszeichen verweisen auf zeitgenössische Begriffe, auf eine Distanzierung von Begriffen oder auf den Konstruktionscharakter von Kategorien und Konzepten.
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In der Studie wird in der Regel gleichzeitig die weibliche und männliche Sprachform verwendet. Die Nutzung von nur einer der beiden Formen weist darauf hin, dass es sich ausschließlich um Frauen oder Männer gehandelt hat.
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Die Migrantinnen und Migranten kamen seltener aus den ehemaligen deutschen Kolonien als z.B. aus anderen afrikanischen Ländern oder Indien. Vgl. Conrad 2008a, S. 118.
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wegung bei weitem nicht die gesamte junge Generation. Dies lag vor allem an der Gleichgültigkeit der Mehrheit der Bevölkerung gegenüber der Kolonialfrage, aber auch daran, dass sich Kolonialkritiker/innen in Reaktion auf kolonialrevisionistische Bestrebungen zu Wort meldeten.7 Die Akteursgruppe Jugend spielte in (partei-)politischen Diskursen der Weimarer Republik eine wichtige Rolle. Der sich schon vor dem Ersten Weltkrieg entfaltende „Mythos der jungen Generation“ entwickelte danach zunehmend eine politische Dimension.8 Alle Parteien griffen die Generationenfrage auf und vor allem diejenigen aus dem Mitte-Rechts-Spektrum verbanden damit die Hoffnung, „die Jugend werde Deutschland nach dem verlorenen Krieg und den gesellschaftlichen Erschütterungen in seiner Folge zu neuer Identität verhelfen.“9 An solch eine Sehnsucht knüpfte auch die „nichtamtliche Kolonialbewegung“ an, die eine Vielzahl kolonial ambitionierter Vereinigungen umfasste.10 Ihre männlichen und weiblichen Mitglieder gehörten – wie bereits im Kaiserreich – mehrheitlich den administrativen, militärischen und wirtschaftlichen Führungsschichten sowie dem akademisch gebildeten Bürgertum an und hatten in der Regel ein direktes materielles oder ideelles Interesse an der Wiedererlangung der Kolonien.11 Sie waren zudem Teil der antirepublikanisch eingestellten politischen Rechten der Weimarer Republik. 12 Wenngleich die politische und mediale Einflussnahme der Kolonialbewegung die Bedeutung ihres vergleichsweise geringen Organisierungsgrades von unter 100.000 Mitgliedern übertraf, so ist doch unbestritten, dass letztlich ihre politische Wirkkraft auf die deutsche Bevölkerung begrenzt, ihre Forderung nach Kolonialrevision „trotz breiter Zustimmung ein Randphänomen“ blieb.13 Umso intensiver begann sie sich der jungen Generation zu widmen. Im Jahr 1924 entstand ein Kolonialer Jugendausschuss, der mit der Organisation kolonialer Vortragstätigkeit in Schulen, der Bildung von Jugendgruppen und der Herausgabe und Verbreitung der 1924 erstmals erschienenen Jugendzeitschrift Jambo betraut war.14 Nach der Umgestaltung der Jugendarbeit in den Jahren 1927/28 entwickelten 7
Vgl. u.a. Klein-Arendt/Heyn, 2007 und Heyn 2005.
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Zur Entstehung des Mythos um die Jahrhundertwende vgl. Stambolis 2003, S. 21-31.
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Ebd., S. 13.
10 Rogowski 2003, S. 243. Zwei weitere Kerngruppen kolonialrevisionistischer Bestrebungen waren die Reichsregierung mit dem Auswärtigen Amt sowie die in den Überseehandel involvierten Firmen und Banken als Vertreter der deutschen Wirtschaft. Vgl. ebd. und ausführlicher dazu Abschnitt 1.2. 11 Vgl. Pogge von Strandmann 1983, S. 284 und Gründer 52004, S. 219. 12 Vgl. Kundrus 2008, S. 139. 13 Conrad 2008a, S. 117. 14 Die Zeitschrift war reichlich illustriert, erschien seit 1925 monatlich und richtete sich an Heranwachsende, vor allem aber an die Mitglieder der kolonialen Schul- und Jugend-
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sich wie eine Art Spiegel der durchaus heterogenen Kolonialverbände verschiedene Jugendgruppierungen. Zudem schloss sich 1928 der neu gegründete Bund Deutscher Kolonialpfadfinder der Deutschen Kolonialgesellschaft (DKG) an. Dieser Bund betrachtete sich in seinen Organisationsstrukturen als von Erwachsenen unabhängig. Es entstand eine von Jugendlichen mitgestaltete koloniale Jugendkultur und -bewegung, die während der Weimarer Republik bis zu über 20.000 Mitglieder umfasste. Bedeutung hatte die koloniale Jugendbewegung, so die erste These, vor allem für die beteiligten Akteurinnen und Akteure selbst. Einerseits lässt sich aus einer zeitlichen Perspektive nachvollziehen, dass die Erlebnisgeneration des Kolonialismus versuchte, mit der Hinwendung zur Jugend eine Tradierung ihrer kolonialen Vergangenheit zu erreichen und diese in der Jugend weiterleben zu lassen. Andererseits zeigt eine räumliche Perspektive, dass sich die kolonialen Jugendgruppen mental mit den ehemaligen Kolonien in Beziehung brachten, obwohl oder gerade weil der konkrete Raum Übersee für die meisten unerreichbar blieb. Sie schufen sich in Deutschland temporäre kolonialistisch inszenierte Interaktionsräume und hielten somit Großmachtvorstellungen aufrecht.15 In diesem Prozess setzten die jungen Akteurinnen und Akteure auch eigene Akzente, wie sich vor allem am Beispiel der Kolonialpfadfinder mit ihrem bündischen Anspruch auf Selbsterziehung nachzeichnen lässt. Die Studie erörtert, welche Funktionen Kolonialverbände der jungen Generation zuwiesen und wie sie ihre Ziele unter Jugendlichen zu verankern versuchten. Zugleich wird untersucht, wie und mit welchen Inhalten die prokolonialen Heranwachsenden und jungen Erwachsenen als ‚Propagandaträger/innen‘ agierten und wie sie sich als zukünftige ‚Kolonialpionierinnen und -pioniere‘ inszenierten bzw. von anderen als solche inszeniert wurden. Die ehemaligen Kolonien waren somit für binnendeutsche Jugendliche vor allem als imaginierte Räume bedeutsam. Gleichzeitig gehörten ‚weiße‘16 Kinder deutscher Siedlerfamilien in Südwestafrika, die mehrheitlich dort geboren worden waren, zu einem veränderten, aber weiterhin bestehenden kolonialen Ordnungsgefüge. Mit dem Übergang der deutschen Kolonie in ein von der Südafrikanischen Union verwaltetes Mandatsgebiet lebte die dort verbliebene deutsche Siedlerbevölkerung nunmehr unter ‚fremder‘ Verwalgruppen. Sie beinhaltete u.a. Berichte über das Leben in den ehemaligen Kolonien, Abenteuergeschichten und Fabeln sowie Nachrichten aus den örtlichen Gruppen. Bis zum Jahr 1930 stieg die Anzahl der Leser/innen eigenen Angaben zufolge auf 30.000. Letzte Ausgaben erschienen Anfang der 1940er Jahre. Vgl. Speitkamp 2006, S. 75. 15 Gleichwohl gab es junge Erwachsene, die zwischen 1919 und 1933 nach Südwestafrika migrierten, z.B. junge Männer als Farmeleven oder junge Frauen als Hauswirtschafterinnen. Letztere wurden vor allem durch den Frauenbund der DKG unterstützt. 16 Zum Begriff siehe Abschnitt „Forschungsperspektiven und Analyseinstrumentarium“ in diesem Kapitel.
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tung. Die Siedler/innen waren keine homogene Gruppe, unterschieden sich vielmehr nach Beruf, Einkommen, Besitzstand, aber auch nach regionaler Herkunft aus Deutschland, Geschlecht und Alter. Sie setzten sich vor allem aus Farmerfamilien, Arbeitern und Angestellten der Minengesellschaften, Handwerkern und Geschäftsleuten sowie den nach den Ausweisungen von 1918/19 wieder zurückgekehrten rund 1400 Missionaren, Lehrern und Landbesitzern zusammen. 17 Den Machtverlust ließen Interessengruppen der deutschen Siedlerbevölkerung von Beginn an nicht unwidersprochen, sie strebten nach Autonomie und Selbstbehauptung. Mit Unterstützung aus Deutschland führten sie einen intensiven Kampf um den Erhalt deutscher Privatschulen, die sie als zentrale Reproduktions- und Repräsentationsinstanzen ‚deutscher Kultur‘ bewerteten. Im Zuge dieser Besorgnis um die Sozialisationsbedingungen Heranwachsender entwickelte sich zwischen Siedler/innen und Vertreter/innen von Kolonialverbänden zugleich eine Debatte um die kulturelle und qualifikatorische Sinnhaftigkeit von Bildungsaufenthalten für Siedlernachkommen in Deutschland. Es bildete sich ein aus verbandlichen und institutionellen Akteurinnen und Akteuren bestehendes Unterstützungsnetzwerk heraus, das jugendliche Mobilität in die ehemalige Metropole ermöglichte. Weitaus bedeutsamer für die Umsetzung der Aufenthalte waren transnationale Familienbeziehungen, d.h. ein Teil der Siedlerbevölkerung versuchte, auf verwandtschaftliche Strukturen in Deutschland zurückzugreifen. Da es sich sowohl um Schul- als auch um Ausbildungs- und Studienaufenthalte handelte, variierte das Alter der mobilen Siedlernachkommen zwischen sieben und 25 Jahren. So blieb – im Unterschied zu den meisten kolonial engagierten binnendeutschen Heranwachsenden – die Verbindung von ehemaliger Kolonie und Deutschland für einige hundert Siedlernachkommen nicht mehr nur eine Fiktion, sondern sie wurde real erfahrbar.18 Die Umsetzung dieser Mobilität zeigt, so die zweite These, dass Deutschland für einen Teil des imaginierten ‚weißen‘ deutschen Siedlerkollektivs als symbolische und materielle Ressource auch während der Mandatsherrschaft relevant blieb. Allerdings war die Zugehörigkeit von Siedlernachkommen zu diesem konstruierten Kollektiv umkämpft und von Aushandlungsprozessen begleitet. Verbandliche Akteurinnen und Akteure in Südwestafrika und Deutschland diskutierten darüber, welche Heranwachsenden ihnen für Deutschlandaufenthalte geeignet schienen. Daran knüpften sie die Frage, wer zu einem/einer idealtypischen Siedler/in ausgebildet werden und somit später als Repräsentant/in der Metropole gelten konnte. Die Stu17 Vgl. Eberhardt 2007, S. 71. An dieser Stelle wurde die von Eberhardt benutzte männliche Schreibweise beibehalten, da nicht deutlich wird, inwieweit sich in den genannten Gruppen Frauen befanden. 18 Allerdings sei darauf hingewiesen, dass Siedlernachkommen nicht nur nach Deutschland kamen, sondern auch in die benachbarte Südafrikanische Union oder andere Weltregionen migrierten. Darauf geht diese Studie nur am Rande ein.
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die beleuchtet die Rahmenbedingungen der Mobilität und untersucht, in welcher Weise in der diskursiven Rahmung verschiedene Differenzkategorien – vor allem Geschlecht und Klasse – relevant waren, sich überlagerten und welche Bedeutungen ihnen beim Aufbau einer Infrastruktur der Mobilität zukamen. Im Hinblick auf die Aufenthalte in Deutschland werden die unterschiedlichen Lebenskontexte der Siedlernachkommen skizziert und ihre eigenen Sichtweisen auf die Aufenthalte herausgearbeitet. Tiefere Einblicke in die Einstellungen und Handlungsweisen einer kleinen Anzahl von Siedlernachkommen und weiterer Familienmitglieder ermöglicht die materialreiche transnationale Korrespondenz der Großfamilie Hälbich. Insbesondere diese Analyse wird Identifikationsmuster von Siedlernachkommen offenlegen, die sich einer binären Konstruktion von Kolonie und Metropole teilweise widersetzten. Aus der gemeinsamen Betrachtung von ehemaliger Kolonie und Metropole leitet sich die dritte These ab. Während den Heranwachsenden der kolonialen Jugendbewegung die ehemaligen Kolonien vornehmlich als symbolische Ressource dienten, um an Großmachtansprüchen festzuhalten, fungierte für die Siedlernachkommen in Südwestafrika die Metropole als symbolische und materielle Ressource für ihre individuelle Lebensplanung. Daran zeigt sich, dass die in diesen beiden Kontexten aufscheinenden Entwürfe des jeweils ‚anderen‘ nur bedingt zur Deckung kamen und sich die Zukunftsvorstellungen der verschiedenen erwachsenen und heranwachsenden Akteurinnen und Akteure als disparat erwiesen. Die Studie verknüpft die bislang wenig zusammengeführten Forschungsfelder der neueren Kolonialgeschichte und der historischen Jugendforschung miteinander. Sie nimmt insbesondere Jugendliche und junge Erwachsene als Handelnde mit eigenen Akzentsetzungen in den Blick. Somit wird nachvollzogen, wie die Kolonialbewegung in Deutschland gemeinsam mit kolonialen Jugendgruppierungen eine koloniale Gedankenwelt aufrecht erhielt und wie sich hinsichtlich der temporären Aufenthalte von Siedlernachkommen in Deutschland die anhaltenden Beziehungen zwischen ehemaliger Kolonie und Metropole gestalteten. Im Vordergrund steht die Analyse der Präsenz des ‚Kolonialen‘ in der ehemaligen Metropole. Diese Präsenz wird nicht auf die kolonialrevisionistischen Projektionen ausgewählter binnendeutscher Akteurinnen und Akteure der jungen Generation reduziert, sondern auch entlang der Denkmuster und Handlungsorientierungen mobiler Siedlernachkommen aus Südwestafrika skizziert.
FORSCHUNGSSTAND Die Historiografie zum deutschen Kolonialismus hat verschiedene Phasen durchlaufen. Überwiegend in den späten 1960er und 1970er Jahren entstanden zentrale sozi-
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algeschichtliche Publikationen, die im Hinblick auf die Kolonien wirtschaftliche Aspekte und koloniale Herrschaftsverhältnisse thematisierten. Mit einem Perspektivwechsel lenkten sie den Blick zugleich auf Handlungsweisen der Kolonisierten und trugen damit zur Entwicklung einer kritischen Kolonialgeschichtsschreibung bei.19 Inspiriert durch die im angloamerikanischen Raum entstandenen Cultural und Postcolonial Studies rückte die deutsche Kolonialgeschichte erst in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre erneut auf die Forschungsagenda mit einer nunmehr mehrheitlich kulturgeschichtlichen Prägung. Neben kolonialen Diskursen und Repräsentationsweisen und der Produktion kolonialen Wissens konzentrierten sich Untersuchungen auf koloniale Identitätskonstruktionen und den Umgang mit der Erinnerung an die Kolonialvergangenheit.20 Diese neue Forschungsakzentuierung richtete sich nicht mehr allein auf die Kolonien, sondern auch auf Deutschland als von kolonialen Einflüssen geprägte Metropole. Zugleich lenkte sie das Interesse vermehrt auf die Zeit nach 1919, um vor allem das Fortwirken kolonialer Denk- und Handlungsweisen zu verdeutlichen. Bisher liegt für die postkoloniale Weimarer Republik keine Untersuchung vor, die sich sowohl mit kolonialen Jugendgruppen in Deutschland als auch mit dortigen temporären Aufenthalten deutscher Siedlernachkommen aus Südwestafrika beschäftigt und mit diesem Fokus die anhaltenden Beziehungen zwischen Deutschland und seiner ehemaligen Kolonie analysiert. Gleichwohl existieren erste Forschungsbeiträge, die den Zusammenhang von Jugend und Kolonialismus in der Weimarer Republik umreißen. Die veröffentlichte Magisterarbeit von Oliver Schmidt thematisiert den kolonialen Einfluss auf Jugendliche durch Schule, Jugendliteratur und koloniale Jugendgruppierungen.21 Weitere Artikel bzw. Abschnitte in Monografien widmen sich der Jugend als Zielgruppe kolonialrevisionistischer Propaganda22 oder untersuchen (lokale) koloniale Jugendgruppierungen, konzentrieren sich dabei überwiegend auf die Ereignis- und Organisationsgeschichte, weniger auf Jugendliche als handelnde Akteurinnen und Akteure.23 Zudem gibt es auf Jugendliteratur fokussierende Beiträge. Neben einem Überblick zu den verschiedenen Gen-
19 Beispielhaft seien hier Bley 1968 und Hausen 1970 genannt. 20 Diese vier Felder betrachtet Conrad als Schwerpunkte der neueren Forschung zum deutschen Kolonialismus. Vgl. dazu ausführlicher Conrad 2008b, S. 239f. Siehe zudem die Forschungsüberblicke von Lindner 2011 und 2008. 21 Schmidt 2008. Das darin enthaltene Kapitel über die Kolonialpfadfinder (S. 78-103) wurde in gekürzter Form bereits 2006 veröffentlicht. Schmidt 2006, S. 84-105. 22 Repussard 2014, Maß 2006, S. 53-56, Speitkamp 2006, Speitkamp 2005, S. 164f., Nöhre 1998, S. 79-92. Zu Konstruktionen von Geschlecht und ‚Rasse‘ in einem von Jugendlichen aufgeführten Bühnenstück vgl. Heyn 2008. 23 Hild 2007, 2006, zu kolonialen Mädchengruppen vgl. Heyn 2009.
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res kolonialer Jugendliteratur24 konzentriert sich ein Artikel auf Reise- und Abenteuerliteratur der 1920er und 1930er Jahre, um u.a. zu zeigen, wie darin Artikulationsmuster von ‚Fremdheit‘ produziert werden.25 Ein weiterer Beitrag arbeitet am Beispiel eines Memoirenberichts, eines Reiseberichts und einer illustrierten Kinderzeitschrift die Vielschichtigkeit kolonialistischer Imaginationen von ‚Afrika‘ heraus.26 Schließlich wurden auch Repräsentationen von ‚Deutschtum‘, ‚Rasse‘ und Raum in Schullesebüchern analysiert. 27 Im Unterschied zu dieser Konzentration auf kolonialrevisionistische und -rassistische Felder behandelt ein Artikel antiimperialistische Bestrebungen in der Jugend.28 Vor diesem Forschungshintergrund analysiert die vorliegende Studie die koloniale Jugendarbeit nicht nur in ihren verschiedenen Phasen und ihrer Heterogenität, sondern auch hinsichtlich der bislang kaum berücksichtigten Bedeutung von Geschlecht und Klasse in den Selbst- und Fremdkonstruktionen der jungen Akteurinnen und Akteure sowie deren Konstruktion temporärer kolonialistischer Räume. Bislang wenig Aufmerksamkeit hat die heranwachsende Generation der deutschen Siedlerbevölkerung im Mandatsgebiet Südwestafrika erfahren. Thematisiert wird sie in einigen geschichtswissenschaftlichen Publikationen, die die nationale Identitätskonstruktion deutscher Siedler/innen unter Mandatsverwaltung anhand von Einwanderungs- und Bevölkerungspolitik, Schul- und Bildungsfragen sowie Vereinspolitik untersuchen oder aber die Arbeit des Frauenbundes der DKG betrachten, war doch die Fürsorge deutscher Familien in den (ehemaligen) Kolonien ein zentrales Aufgabengebiet. Darin beschäftigen sich mehr oder weniger kurze Abschnitte mit der kontroversen und umkämpften Schulpolitik, der Diskussion um Bildungsaufenthalte von Siedlernachkommen in Deutschland sowie der außerschulischen Jugendarbeit.29 Ferner sind eine ältere rechtswissenschaftliche Untersuchung, die die Forderungen deutscher Siedler/innen nach Sprach-, Schul- und Staatsangehörigkeitsrechten
24 Springman 2012. 25 Becker 2002. 26 Springman 2011, S. 99-115. Zur Konstruktion kolonialer Welten in Jugendliteratur und -magazinen des Kaiserreichs siehe Bowersox 2011. 27 Kennedy 2002. 28 Piecha 2006. 29 Alle drei Aspekte greift Walther 2002, S. 130-152 auf. Schulpolitik und außerschulische Jugendarbeit thematisiert Eberhardt 2007, S. 64-73 und S. 125-127, Schulpolitik und Bildungsaufenthalte in Deutschland Venghiattis 2005, S. 348-357 und S. 369-374. Lediglich erwähnt werden die Bildungsaufenthalte von Wildenthal 2001, S. 191-193.
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beleuchtet,30 sowie eine ethnologische Publikation relevant, die sich mit der Identitätskonstruktion von Deutsch-Namibierinnen und -Namibiern nach der Unabhängigkeit beschäftigt. Sie zeichnet deren apologetisches Verhältnis zur Kolonialvergangenheit und deren anhaltende Abgrenzungsprozesse gegenüber den afrikanischen Bevölkerungsgruppen nach.31 Zudem erörtert ein neuerer Sammelband die Rolle der deutschen evangelischen Kirche im südlichen Afrika bis in die 1920er Jahre.32 Vorliegende Studie knüpft auch an geschlechtergeschichtliche Forschungen zum Kolonialismus an. Bislang wurden mit Blick auf die Verschränkungen von Nationalismus, Rassismus und Geschlecht, teilweise auch unter Einbeziehung von Ansätzen der Critical Whiteness Studies, sowohl das Engagement von Frauen in der Kolonialbewegung und koloniale Weiblichkeitsentwürfe33 als auch Konzeptionen kolonialer Männlichkeiten analysiert. 34 Wichtig sind zudem kulturwissenschaftlich inspirierte kolonialhistorische Forschungen zur Weimarer Republik, die sich mit kolonialrevisionistischen Veranstaltungen und dem Ausbau einer ‚imperialen Infrastruktur‘35 sowie kolonialistischen Mythenbildungen36 befassen. Schließlich werden 30 Bertelsmann 1979, siehe ferner die ebenfalls in der Rechtswissenschaft angesiedelte Studie von Fischer 2001, die sich mit der Entwicklung der kolonialen Rechtsordnung in allen ehemaligen deutschen Kolonien beschäftigt. 31 Schmidt-Lauber 1998. Zur Konstruktion von Siedleridentität am Beispiel von Denkmälern siehe Silvester 2005. Daneben hat sich Czaya 1967 mit ökonomischen und politischen Bestrebungen deutscher Siedler in Südwestafrika beschäftigt. Siehe ferner Smidt 1997 zur Stellung deutscher Frauen in (Deutsch-)Südwestafrika für die Zeit bis 1920. 32 Lessing u.a. 2011. Darüber hinaus gibt es eine Vielzahl populärwissenschaftlicher, überwiegend kolonialapologetischer Darstellungen über die deutsche Kolonialvergangenheit in Namibia, die in vorliegender Studie nicht berücksichtigt werden. 33 Während Wildenthal 2001 auch die Zeit der Weimarer Republik und des Nationalsozialismus berücksichtigt (S. 172-202) – siehe zum Wiederabdruck dieses Abschnitts Wildenthal 2010 –, fokussieren Dietrich 2007 und Walgenbach 2005a auf das Kaiserreich. Eine organisationsgeschichtliche Abhandlung zum Frauenbund der DKG hat Venghiattis 2005 vorgelegt. Siehe ferner zum Wechselverhältnis von Kolonialrevisionismus und dem Bild der ‚Neuen Frau‘ Schilling 2011. 34 Bischoff 2011 zeichnet in ihrer Zusammenschau von Kriminalitäts-, Kolonial- und Männlichkeitsdiskursen um 1900 nach, dass sich ‚weiße‘ männliche Identität und kannibalische Alterität nicht binär codieren lassen. Maß 2006 analysiert die Modifikationen kolonialer und soldatischer Männlichkeit zwischen 1919 und Mitte der 1960er Jahre in Deutschland. 35 van Laak 2004, 2003, Rogowski 2003. 36 Mehrere Publikationen beschäftigen sich mit Imaginationen über die Askari: Lewerenz 2011, Michels 2009, S. 116-133, 2008, 2004. Ferner liegen Untersuchungen zu Filmen, Literatur und Kunst vor, die kolonialistische und rassifizierende Diskurse und Repräsen-
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einige ältere politikgeschichtliche Untersuchungen herangezogen, die kolonialrevisionistische, innen- wie außenpolitische Forderungen und Aktivitäten der Reichsregierungen und Parteien, von Kolonialverbänden, Banken und Firmen erforscht haben.37 In einigen sehr frühen Publikationen diente der Kolonialrevisionismus als Ausgangspunkt, um dessen Stellenwert in der Innen- und Außenpolitik des Nationalsozialismus zu betrachten.38 Neben den wissenschaftlichen Untersuchungen zur deutschen Kolonialgeschichte bezieht sich vorliegende Arbeit auch auf solche aus dem Feld der historischen Jugendforschung, die sich bislang noch wenig mit kolonialen Thematiken beschäftigt hat.39 Um die koloniale Jugendarbeit in der politischen Kultur der Weimarer Republik zu verorten, rekurriert die Studie auf Forschungen, die die gesellschaftliche Mythisierung von Jugend(-lichkeit), die politische Bedeutung von Generationendenken und -konflikten sowie staatliche Kontroll- und Lenkungsmaßnahmen für die junge Generation beleuchten.40 Dafür ebenso relevant sind Forschungen zur Jugendarbeit anderer gesellschaftlicher Institutionen und Verbände. Für die bürgerliche Parteijugend und Jugendarbeit der militaristischen Veteranenverbände wurden bislang die Organisationsentwicklung und politische Programmatik unter-
tationen untersuchen. Krobb/Martin 2014, van Hoesen 2010, Rogowski 2010, Struck 2010, Nagl 2009, Poley 2005, Stahr 2004, Struck 2003. Siehe auch die ältere, ideologiekritische Publikation zu Kolonialliteratur von Warmbold 1982, der Kaiserreich und Weimarer Republik berücksichtigt. 37 Esche 1989, mit Fokus auf die DKG vgl. Nöhre 1998. Zudem liegen diverse Artikel in Sammelbänden oder Teilkapitel in Monografien vor: Speitkamp 2005, S. 155-166, van Laak 2005, S. 104-129, Pogge von Strandmann 2002, Gründer 52004, S. 213-233, Rüger 1995, Pogge von Strandmann 1986, 1983, Rüger 1977. Siehe auch die organisationsgeschichtlichen Beiträge von Hartwig 1985 zur DKG und von Weißbecker 1985 zur Korag. Eine ehemalige Kolonie steht im Zentrum bei Rwankote 1985, der sich u.a. mit der kolonialen Rücksiedlungspolitik nach Tanganyika beschäftigt, und bei Billy 2011, der sich auf Togo konzentriert. Eher populärwissenschaftlich: Baer/Schröter 2001, S. 145-155. 38 Hildebrand 1969, Schmokel 1964. Bei Schmokel findet sich eine knappe Darstellung der verschiedenen Vereine und Verbände der Weimarer Kolonialbewegung, Hildebrand betrachtet diese im Hinblick auf ihr Verhältnis zur NSDAP und verweist auf die zunehmende ‚Faschisierung‘. 39 Eine Ausnahme markiert das Jahrbuch des Archivs der deutschen Jugendbewegung vgl. Historische Jugendforschung 2006. Als Überblick zur Jugend in der Weimarer Republik vgl. Speitkamp 1998, S. 162-206 und Reulecke 1989. Zum Forschungsstand der historischen Jugendforschung bis Ende der 1990er Jahre vgl. Malmede 2000. 40 Mommsen 2003, Stambolis 2003, Domansky 1986, Mommsen 1985.
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sucht.41 Eine Publikation zur kirchlichen Jugendarbeit richtet sich neben den institutionellen Bedingungen auch auf die Selbstbilder verschiedener katholischer und evangelischer Jugendvereinigungen.42 Schließlich bezieht sich diese Studie auf Forschungen zur bürgerlich geprägten bündischen Jugend.43 Dazu liegen Untersuchungen zu Leitbegriffen der Jugendbewegung44 und zu Selbst- und Politikverständnissen der Jugendbünde vor. Sie thematisieren vor allem die antidemokratische Haltung sowie die Bedeutung von ‚Volksgemeinschaft‘ und ‚Führer-Gefolgschaftsprinzip‘.45 Einige widmen sich dezidiert dem Verhältnis von bündischer Jugend und Nationalsozialismus. 46 Zudem gibt es mehrere Publikationen zu Mädchenorganisationen in der bürgerlichen Jugendbewegung, ihren Selbstverständnissen und Identitätskonstruktionen. 47 Neuere Forschungen haben den Blick hin zu einer Geschlechtergeschichte der Jugend erweitert.48 Ferner sind verschiedene Beiträge zur Pfadfindergeschichte erschienen.49 41 Zur Parteijugend vgl. Krabbe 2010, S. 25-56, 1995 und den von ihm herausgegebenen Sammelband 1993. Zur Jugendarbeit militärischer Verbände vgl. Krabbe 2010, S. 67-73, Götz von Olenhusen 1993, Tautz 1998. 42 Götz von Olenhusen 1987b. 43 Als Standardwerk zur Geschichte der bürgerlichen Jugendbewegung zwischen 1900 und 1933 gilt immer noch die 1962 erstmals publizierte Untersuchung von Walter Laqueur. Hier wird die Studienausgabe Laqueur 1978 verwendet. Die Publikation von Rüdiger Ahrens konnte nicht in die Studie einbezogen werden. Vgl. Ahrens 2015. 44 Schröder 1996. 45 Thamer 2003, Giesecke 1981, der sich zugleich mit dem Versuch der staatlichen und verbandlichen Lenkung von Jugend beschäftigt, Raabe 1961. 46 Hellfeld 1987, Treziak 1986. Eine Zusammenfassung der Debatte findet sich bei Reulecke 2001a und 1993. Breuer/Schmidt 2010 nehmen die Diskussion wieder auf und konzentrieren sich auf die überbündische Zeitschrift Die Kommenden. Als Ausgangspunkt fordern sie, weder nationalsozialistische Ideologie noch bündische Ideenwelt als monolithische Blöcke zu begreifen. Eine Antwort, inwiefern sich zwischen diesen heterogenen Ideologieapparaten Übereinstimmungen finden lassen, bleiben sie am Ende aber schuldig. Den Fokus auf die Gedenkpolitik zum Ersten Weltkrieg richtet Weinrich 2013. Wenngleich er diese vornehmlich anhand der Hitlerjugend untersucht, nimmt er auch die bürgerliche Jugendbewegung, die katholische und sozialdemokratische Jugend in den Blick, um die soziale Reichweite der heroisch geprägten Kriegsdeutungen herauszuarbeiten. 47 Klönne 2000 (1990 als leicht abweichende Fassung mit anderem Titel), Andresen 1997, Schade 1996, Ras 1988, Musial 1982. 48 Vgl. dazu das Jahrbuch Historische Jugendforschung 2011. Benninghaus 1999b fordert diese Perspektiverweiterung explizit. 49 Diese Beiträge beschränken sich überwiegend auf Organisationsentwicklungen und Zielsetzungen und lassen die soziale Praxis der Beteiligten weitgehend unberücksichtigt. Zum
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FORSCHUNGSPERSPEKTIVEN UND ANALYSEINSTRUMENTARIUM Diese Studie geht davon aus, dass der Kolonialismus für das nationale Selbstverständnis Deutschlands zentral gewesen ist und in der deutschen Gesellschaft vielfältige Spuren hinterlassen hat.50 Mit Blick auf die Kurzzeitigkeit des deutschen Kolonialreichs empfiehlt sich eine terminologische Unterscheidung zwischen Kolonialherrschaft und Kolonialismus.51 Sie ermöglicht es, koloniale Beziehungsgeflechte und Denkweisen sowohl vor 1884 als auch nach 1919 in den Blick zu nehmen und somit Kontinuitäten, aber auch Zäsuren in der deutschen Kolonialgeschichte zu betrachten. Dass die koloniale Erfahrung in der Interpretation der deutschen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts überwiegend nur am Rande thematisiert wurde, gehe, so argumentieren Sebastian Conrad und Shalini Randeria, mit der „ausgeprägten Hegemonie der Nationalgeschichte“ einher und hänge insbesondere mit drei Aspekten zusammen.52 Erstens habe sich das koloniale Erbe durch die vergleichsweise kurze Dauer des deutschen Kolonialreichs und den fehlenden Dekolonisierungsprozess nicht im kollektiven Gedächtnis verankert. Zweitens gab es in Deutschland nach 1945 nur wenige migrantische Communitys aus den ehemaligen Kolonien, die eine Auseinandersetzung mit der deutschen Kolonialvergangenheit hätten forcieren können. Drittens richtete sich die Forschung vor allem auf die Geschichte der Shoah, wodurch die Bearbeitung der kolonialen Vergangenheit überlagert wurde. 53 So entstanden neben Ulrich Wehlers einschlägiger gesellschaftsgeschichtlicher Studie zum Kaiserreich weitere Überblickswerke zu dieser Epoche, in denen die Kolonialpolitik und -territorien lediglich als „Anhängsel der Geschichte“ dieser Zeit betrach-
Bund der Wandervögel und Pfadfinder: Laue 2010, 1987; zu Pfadfinderinnen: Klönne 2000, 1990, Kuhnke 1984. Nur Seidelmanns Arbeit von 1977 beschäftigt sich mit dem gesamten Spektrum der Pfadfinderbünde, berücksichtigt jedoch die Mädchen nicht. Zwei verschiedene Sozialisationsansätze für männliche Heranwachsende arbeitet Reulecke 2012 heraus. 50 Vgl. Conrad 2002. Birthe Kundrus fasst Kolonialismus als „reflexive[n] kulturelle[n] Vorgang, der nicht nur in der Kolonie, sondern auch in der Metropole Spuren hinterließ.“ Kundrus 2003b, S. 10. 51 Vgl. Eckert/Wirz 2002, S. 373f. Zudem sei darauf verwiesen, dass auch zu Staaten, die nicht über eigenen Kolonialbesitz verfügten, Forschungen zur kolonialen Verflechtung vorliegen, z.B. zur Schweiz. Siehe Purtschert et al. 2012. 52 Conrad/Randeria 2002, S. 40. 53 Vgl. ebd.
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tet werden.54 Auch Überblicksdarstellungen zur Weimarer Republik berücksichtigen die anhaltende koloniale Präsenz in der Metropole nicht.55 Diese Studie nimmt das Fortwirken des Kolonialismus in Deutschland nach 1919 zum Ausgangspunkt. Neuere kolonialgeschichtliche Forschungen zur Weimarer Republik haben den Blick für kulturwissenschaftliche Fragestellungen geöffnet und vor allem koloniale Diskurse und Repräsentationsweisen in Bildern, Filmen und der Literatur sowie koloniale Institutionen untersucht. Sie haben dazu beigetragen, koloniale Kontinuitäten über das Kaiserreich hinaus nachzuvollziehen, dabei aber die Frage der gesellschaftlichen Reichweite postkolonialer Diskurse eher vernachlässigt. Ausgehend von diesem Desiderat integriert die Arbeit eine akteurszentrierte und sozialgeschichtliche Forschungsperspektive, um die (eigenwilligen) Denk- und Handlungsweisen Jugendlicher und junger Erwachsener sichtbar zu machen. Der Kolonialismus in der Weimarer Republik wird nicht allein als Fantasieund Projektionsgeschichte der entstehenden jugendkulturellen kolonialen Infrastruktur untersucht,56 sondern auch als Geschichte der Mobilität von Siedlernachkommen zwischen Südwestafrika und Deutschland und damit einhergehender grenzüberschreitender verbandlich-institutioneller und familiärer Netzwerke. Grundlage der Studie ist der von Frederick Cooper und Ann Laura Stoler entwickelte programmatische Ansatz, Kolonie und Metropole in einem gemeinsamen analytischen Feld zu betrachten, um wechselseitige Beeinflussungen und Bezugnahmen in den Blick nehmen zu können.57 Ausgehend davon wird die Reichweite kolonialrevisionistischer Vorstellungen und Handlungsorientierungen in der Weimarer Republik analysiert und beleuchtet, inwieweit sie die Beziehungen zwischen Deutschland und seiner ehemaligen Kolonie Südwestafrika strukturierten. Im Mittelpunkt steht die Frage, welche Wirkungen sie innerhalb der heranwachsenden Generation hinterließen. Mit dieser Forschungsperspektive können die Divergenzen zwischen Kolonialfantasien und realen Handlungsmöglichkeiten der beteiligten Akteurinnen und Akteure offengelegt werden. Die deutsche Siedlerbevölkerung in Südwestafrika wird entlang folgender Überlegungen in den Blick genommen: Ganz allgemein lässt sich mit den Historikerinnen Caroline Elkins und Susan Pedersen als Ziel einer Siedlerbevölkerung das 54 Eckert/Wirz 2002, S. 375. Siehe Wehler 1995, Loth 1996, Ullmann 1995. 55 Siehe z.B. Büttner 2010, die die Kolonien lediglich im Zusammenhang mit den Versailler Vertragsbedingungen erwähnt. Die Beeinflussung der Weimarer Kultur durch koloniale Imaginationen, um nur ein Beispiel zu nennen, thematisiert sie nicht. 56 Auf die Bedeutung von Fantasien in der kolonialen Bemächtigungsgeschichte weist Kundrus 2003a, S. 7f. hin. 57 Vgl. Stoler/Cooper 1997, S. 1-56. Catherine Hall schreibt in ihrer Studie über Jamaica vom „making of colonising subjects, of racialised and gendered selves, both in the empire and at home“. Hall 2002, S. 13.
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„making a territory their permanent home while continuing to enjoy metropolitan living standards and political privileges“ betrachten. 58 Die Übertragung metropolitaner (europäischer) Lebensweisen in die Kolonien fand nicht als identische Reproduktion statt, vielmehr erhielten sie im kolonialen Ordnungsgefüge neue politische Bedeutungen, wie Stoler konstatiert.59 In Anlehnung an Stoler, die sich auf europäische Kolonialistinnen und Kolonialisten insgesamt bezieht, ist auch für eine Siedlerbevölkerung festzuhalten: „[They, S.H.] were neither by nature unified nor did they inevitably share common interests and fears; their boundaries – always marked by whom those in power considered legitimate progeny and whom they did not – were never clear.“60 Zur imaginären Überwindung dieser Heterogenität konstruierten sie „‚imagined communities‘“.61 Deutsche Siedler/innen in Südwestafrika verorteten sich in einem Spannungsfeld von Kolonie und Metropole. Helmut Bley zufolge bildeten sie im Verlauf ihres Siedlungsprozesses eine „doppelte[…] Loyalität“ heraus, indem sie sich sowohl Deutschland als auch dem neuen Territorium Deutsch-Südwestafrika verbunden fühlten.62 Die eigens vollzogene dualistische Aufspaltung in „nationale[s] Bewusstsein“ sowie „persönliche[…] und wirtschaftliche[…] Beziehungen“ vor Ort, ermöglichte ihnen, loyal und ungebunden zugleich zu agieren. 63 Birthe Kundrus differenziert diese Deutung weiter aus und grenzt sich von Daniel Joseph Walthers Zuschreibung einer regionalen Identität der „Südwester-Deutschen“ ab,64 indem sie die Siedler/innen in einem von Loyalität und Distanz zu Deutschland geprägten Kräftefeld verortet: „Einerseits fühlten sich die Kolonialdeutschen eins durch eine gemeinsame Geschichte, Kultur und Sprache. […] Die koloniale Gesellschaft versicherte sich selbst mit ihrem Nationalismus ihrer Zugehörigkeit zur Metropole und bedeutete der Zentralmacht Deutschland ihre Zugehörigkeit. Andererseits wurde sie getrennt durch unterschiedliche regionale, konfessionelle, politische, soziale und geschlechtliche Identitäten. Zudem faszinierten die ‚Südwester‘ bestimmte Teile des imaginierten wie des vorgefundenen ‚Afrikas‘: die Natur, die Freiheit, die Individualität. Die Kolonie sollte ein ‚zweites Deutschland‘ werden und gleichzeitig auch ‚Afrika‘ bleiben. Schließlich suchten sie sich wirtschaftlich und politisch vom Expansions-
58 Elkins/Pedersen 2005, S. 2. 59 Vgl. Stoler 1992, S. 321. 60 Ebd. 61 Ebd. Jeremy Silvester weist darauf hin, dass „the construction of ‚the settler’ as a category [was, S.H.] used to create ‚imagined communities‘“. Silvester 2005, S. 271. 62 Bley 1968, S. 240. 63 Ebd., S. 241. 64 Kundrus 2003b, S. 209.
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zentrum zu distanzieren und wendeten sich teilweise von sozialen und kulturellen Normen und Konventionen des Kaiserreichs ab.“65
Unter den veränderten politischen Rahmenbedingungen der 1919 einsetzenden Mandatsherrschaft musste dieses Interaktions- und Identifikationsgefüge neu ausgelotet werden, auch für die heranwachsende Generation bzw. von ihr. Für die Analyse der Beziehungsgeschichten zwischen ehemaliger Kolonie und Metropole steht Jugend als prozessuale und mehrfach relationale Analysekategorie im Zentrum. Der Begriff Jugend ist zu verstehen als historisch situierte, soziale Konstruktion, d.h. als „Ergebnis gesellschaftlicher Bedeutungszuweisung“.66 Wenngleich alle Menschen einen biologischen Reifeprozess durchlaufen, so sind es doch „gesellschaftliche Konventionen, die den Lebenslauf der Individuen strukturieren“, also die Übergangsphasen von Kindern zu Jugendlichen, von Jugendlichen zu Erwachsenen bestimmen.67 Diese Konventionen wiederum unterliegen historischem Wandel und sind auch zwischen Gesellschaften unterschiedlich. Der Begriff Jugend ist somit prozesshaft zu fassen. Damit ist noch nichts darüber ausgesagt, wie und wodurch sich die Lebensphase Jugend gestaltet. Mitte der 1980er Jahre plädierte Elisabeth Domansky für eine Forschungsperspektive, die gesellschaftliche Vorstellungen von und Rahmenbedingungen für Jugend ebenso betrachtet wie Jugendliche als Handelnde, die sich selbst als Akteurinnen und Akteure hervorbringen:
65 Ebd. Martin Eberhardt geht für die Zeit vor 1914 von einer doppelten Abhängigkeit der deutschen Siedler/innen aus, die nach dem Ersten Weltkrieg zu einer dreifachen geworden sei: „Zur Abhängigkeit von afrikanischer Arbeit, die ihre Macht begrenzte und andererseits zu Gewalt führte, und von der kolonialen Metropole, die Schutz und wirtschaftliche Sicherheit gewährte, kam nach 1919 die Abhängigkeit vom Deutschen Reich, das jetzt Existenz und Überleben einer abgegrenzten deutschen Siedlergemeinschaft sicherte.“ Eberhardt 2011, S. 223. Für den britischen Kontext nimmt Elizabeth Buettner in ihrer familiengeschichtlichen Studie über British Indians eine ähnliche Perspektive ein: British Indians „constitute, what Mrinalini Sinha has termed ‚an imperial social formation‘, whose contours are reducible neither to metropolitan nor indigenous colonized society but rather characterize the transnational intermediate zone bridging them.“ Buettner 2004, S. 3. Im Unterschied dazu betont Jürgen Osterhammel den Abgrenzungsprozess: „In Siedlungskolonien […] wurde die Abgrenzung von jener Heimatgesellschaft, deren einfache Reproduktion in Übersee zunächst beabsichtigt gewesen war, für die kollektive Bewußtseinsbildung geradezu konstitutiv.“ Osterhammel 2001, S. 229. 66 Dietze et al. 2007, S. 16. Sie beschäftigen sich in ihrem Beitrag vor allem mit Gender, ‚Rasse‘ und Sexualität. 67 Benninghaus 1999a, S. 37.
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„Die Ausformung von Jugend muß daher einerseits stets als Vorgang der definitorischen und faktischen Eingrenzung von Jugend durch Staat und Gesellschaft beschrieben werden. Andererseits ist zu untersuchen, wie Jugend sich handelnd selbst definiert, indem sie sowohl ein internes Selbstverständnis entwickelt, als auch ihre Sphäre gegenüber anderen gesellschaftlichen Gruppen abgrenzt.“68
In Anlehnung an diese Doppelperspektive untersucht die Studie, wie Jugendliche und junge Erwachsene in verbandlich-institutionellen und familiären Netzwerken adressiert und geformt wurden und gleichzeitig eigene Positionen und Identifikationsweisen ausbildeten sowie individuell und innerhalb von Gruppen eigene Räume schufen. Dabei gilt es auch, Widersprüche und Konfliktlinien aufzuzeigen.69 Solche Sozialisationsprozesse als komplexe Aushandlungsprozesse zu begreifen, heißt nicht, allein von einer schlichten Übertragung politischer Ideen sowie sozialer und kultureller Normen von einer auf die nächsten Generation auszugehen, sondern auch die Praxen der Jugendlichen in Form von Aneignungen zu betrachten. Praxen sind nach Alf Lüdtke „Formen, in denen sich Menschen die Bedingungen ihres Handelns und Deutens aneignen, in denen sie Erfahrungen produzieren, Ausdrucksweisen und Sinngebungen nutzen – und ihrerseits neu akzentuieren. Im Aneignen werden Agenten, die funktionieren, zu Akteuren, die deuten und vorführen, forcieren oder sich verweigern.“ 70
Es geht also darum nachzuvollziehen, in welcher Art und Weise die heranwachsenden Akteurinnen und Akteure kolonialrevisionistische Ambitionen und familiäre Zukunftsplanungen beeinflussten und so die Kolonialbewegung und Siedlerfamilien mitgestalteten: Inwiefern trugen sie zu diskursiven Verschiebungen in der Kolonialfrage bei? Inwieweit erneuerten sie kolonialrevisionistische Sozialisationsmodelle? Auf welche Weise nutzten sie die Bildungsmobilität für individualistische Bestrebungen? Es ist offensichtlich, dass sich die Handlungsbedingungen und damit einhergehend die Handlungsmöglichkeiten nicht für alle Heranwachsenden gleich darstell68 Domansky 1986, S. 114f. Auch Speitkamp weist darauf hin, dass Jugend nicht außerhalb von „sozialen Beziehungsgefügen“ existiere, sondern sowohl in die Erwachsenenwelt als auch in Gruppierungen Gleichaltriger eingebunden sei. Speitkamp 1998, S. 11. 69 Die soziale Konstitution des Individuums als historischen Prozess betrachtend weist Hans Medick darauf hin, dass sich dieser „innerhalb der Widersprüche und Konflikte der jeweiligen Gesellschaft abspielt, und […] daß diese Widersprüche und Mehrschichtigkeiten bis ins Subjekt hineinreichen.“ Medick 1989, S. 72. 70 Lüdtke 1994, S. 72, Herv. i. Org. In diesem Sinne wird der Begriff Akteurinnen und Akteure in vorliegender Studie verwendet.
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ten, sondern in eine „Vielfalt struktureller Kontextbedingungen und sozialer Hierarchien, in denen unterschiedliche soziale Differenzierungslinien zusammenspielen“, und in „ein Geflecht unterschiedlicher gesellschaftlicher Diskurse“ eingebunden waren.71 Besonders deutlich lassen sich diese Bedingtheiten anhand der Mobilitätsmöglichkeiten der Siedlernachkommen skizzieren. Die Fremd- und Selbstkonstruktionen von Jugendlichen waren geprägt von verschiedenen Differenzkategorien wie Geschlecht, Klasse und ‚Rasse‘. Diese sind gesellschaftlich produziert, d.h. „sie sind eingebunden in materielle Strukturen, sie haben sich im historischen Verlauf herausgebildet und verändert und sie sind das Ergebnis von sozialen Kämpfen“.72 Zu welchem Zeitpunkt sie in welcher Weise wirkmächtig wurden und ihnen die verschiedenen Akteurinnen und Akteure Bedeutung zuwiesen, bleibt somit zunächst deutungsoffen. Zugleich waren die kolonialen Jugendgruppierungen und Siedlernachkommen Teil einer ehemals kolonisierenden deutschen Gesellschaft, die sich als ‚weißes‘ Kollektiv imaginierte. Dieses lässt sich nach Katharina Walgenbach verstehen als eine „gesellschaftlich akzeptierte Zugehörigkeit zu einem privilegierten Kollektiv, welches sich auf der Basis biologistischer bzw. ‚rassischer‘ Kriterien gründet.“73 Diese Zugehörigkeit musste mitunter bestätigt werden, beispielsweise durch „kulturelle Performanz und Identifikation mit dem weißen Kollektiv“.74 In der Debatte über die Deutschlandaufenthalte von Siedlernachkommen sollte die Einhaltung eines bestimmten Verhaltenskodex und von Distinktionsbemühungen gegenüber der burischen Bevölkerung eine wichtige Rolle spielen. Darüber hinaus analysiert die Studie die junge Generation unter Bezugnahme auf die Kategorie Raum. Forschungen zum Raum haben im letzten Jahrzehnt in verschiedenen Disziplinen, nicht zuletzt den Geschichts- und Kulturwissenschaften Konjunktur. Dieser war eine Neukonzeptionalisierung von Raum vorausgegangen, die vor allem postmoderne Geografinnen und Geografen, wie z.B. Doreen Massey, Edward Soja und David Harvey, vorangetrieben haben.75 Sie lösten sich von einem territorial fixierten Raumverständnis und reklamierten die gesellschaftliche Produktion von Raum.76 Für die unter dem Begriff spatial turn gefassten neueren raumtheoretischen Ansätze fungiert vielfach Henri Lefebvres La production de l’espace (1974) als zentraler Referenztext. Mit einer seiner Kernaussagen „(Social) space is 71 Stauber 2010, S. 36. 72 Walgenbach 2005a, S. 52. Klasse und Schicht werden synonym benutzt. Es geht darum, die soziale Heterogenität der Siedlerbevölkerung und ihre sozialen Hierarchien zu verdeutlichen. 73 Dies. 2005b, S. 378. 74 Ebd. 75 Vgl. Bachmann-Medick 2006, S. 290. 76 Vgl. ebd.
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a (social) product“ stellte er Raum als per se vorfindlichen Zustand infrage und lenkte den Blick auf dessen soziale Hervorbringung. 77 Doris Bachmann-Medick zufolge wird „[d]ie soziale Konstituierung des Räumlichen […] hier ebenso betont wie die Rolle des Raums für die Herstellung sozialer Beziehungen.“ 78 Dieses relational ausgerichtete Raumverständnis geht nicht von einem physisch-territorialen Raumbegriff im Sinne eines Containers oder Behälters aus, in dem gesellschaftliche Prozesse ablaufen, sondern verweist auf die Dynamik, Wandelbarkeit und Prozesshaftigkeit von Raum. Eine Wechselwirkung legt auch Pierre Bourdieu in der folgenden Beschreibung von physischem und sozialem Raum zugrunde: „Der physische Raum lässt sich nur anhand einer Abstraktion (physischen Geographie) denken, das heißt unter willentlicher Absehung von allem, was darauf zurückzuführen ist, daß er ein bewohnter und angeeigneter Raum ist, das heißt eine soziale Konstruktion und eine Projektion des sozialen Raumes […].“79
Den physischen Raum kann es nur als angeeigneten physischen Raum geben, der auf sozialen Prozessen basiert. Durchzogen ist dieser Raum oder in anderen Worten das gesellschaftliche Kräftefeld von Machtverhältnissen und Hierarchisierungen. 80 Mittels dieses handlungsorientierten Raumkonzepts untersucht die Arbeit, wie sich koloniale Jugendgruppen durch Inszenierungen und Zeltlager temporäre kolonialistische Interaktionsräume schufen und wie im Rahmen der Mobilität von Siedlernachkommen Familienangehörige Beziehungs- und Bezugsräume konstruierten.81 Eine wichtige Rolle spielten mentale Aneignungsprozesse und kulturelle Zuschreibungen von Raum.82 Im Hinblick auf den geografischen Raum, der hier die politisch gerahmten Territorien Deutschland und Südwestafrika umfasst, sei, so die Geografin Julia Lossau, „die Existenz von voraussetzungslos gegebenen, natürli77 Zit. nach Schroer 2008, S. 138. 78 Bachmann-Medick 2006, S. 291. 79 Bourdieu 1991, S. 28. 80 Zu Bourdieus Theorie des sozialen und physischen Raums vgl. auch Neckel 2009, S. 45-55. 81 Auf die Bedeutung von Bewegungen für die Konstruktion von Räumen weisen auch die Historikerinnen Brigitte Reinwald und Laurence Marfaing hin: „Der Konstruktion von Räumen liegen Bewegungen im engeren wie im weiteren übertragenen Sinne zugrunde, d.h. Ortsveränderungen von Menschen, Gütern und Ideen, aber auch Überlagerungen realer und imaginärer Orte sowie mentaler Konzepte.“ Marfaing/Reinwald 2001, S. 3. 82 Zur Bedeutung der mentalen Ebene von Raumkonstruktion vgl. auch die Ausführungen von Nadine Klopfer, die sich in ihrer Arbeit zu Raum und Gesellschaft in Montreal zwischen 1880 und 1930 auf die Theorie der social construction of space des kanadischen Soziologen Rob Shields bezieht. Vgl. Klopfer 2010, S. 17f.
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chen geographischen Räumen“, infrage zu stellen und die Analyse auf „gesellschaftlich produzierte, wahrgenommene und angeeignete Bedeutungsräume“ zu richten.83 „In diesem Sinne sind etwa die Sahara, das Burgenland oder Niedersachsen Räume von Bedeutung, deren symbolische Gehalte nicht von ihrer physischen Materialität bestimmt sind, sondern Produkte kultureller Zuschreibungen sind“ 84, so Lossau weiter. Auch ehemalige Kolonie und Metropole lassen sich als ‚Räume von Bedeutung‘ betrachten, welche nicht zuletzt von Imaginationen durchzogen waren, die Heranwachsende davon hatten bzw. die Erwachsene im Rahmen der kolonialrevisionistischen Propaganda für sie bereitstellten.
MATERIALKORPUS UND AUFBAU DER STUDIE Der Untersuchung der kolonialen Jugendarbeit und Jugendbewegung in Deutschland liegen schriftliche Materialien zugrunde, die einerseits dem Bundesarchiv Berlin und dem Archiv der deutschen Jugendbewegung entstammen und andererseits veröffentlichte Publikationen sind. Den Hauptanteil bilden Akten aus den Beständen Reichskolonialamt und Deutsche Kolonialgesellschaft im Bundesarchiv. Berücksichtigt wurden vor allem Akten, die ausschließlich die Jugendarbeit der Kolonialbewegung dokumentieren sowie die der beteiligten Kolonialverbände, in denen Jugendarbeit als ein Arbeitsbereich unter anderen bedeutsam ist. Alle geben Aufschluss über den Aufbau und die Entwicklung der kolonialen Jugendarbeit/-bewegung in der Weimarer Republik. Korrespondenzen, Berichte, Satzungen, Presseartikel und Werbebroschüren dokumentieren Zielsetzungen und Aktivitäten der Jugendarbeit/-bewegung, die vielfältigen Umstrukturierungsprozesse machen die Heterogenität der beteiligten Gruppen und Personen deutlich. Zudem verweisen Schriftwechsel zwischen Kolonialverbänden untereinander sowie zwischen ihnen und Amtsstellen auf Probleme und Konflikte, z.B. Ressourcenknappheit, Differenzen hinsichtlich Organisierungsfragen oder Auseinandersetzungen auf lokaler Ebene. Die von Kolonialverbänden herausgegebenen Zeitschriften, die der internen Verständigung, vor allem aber Propagandazwecken dienten,85 geben ebenfalls Aufschluss über Zielsetzungen, Aktivitäten und Umstrukturierungen. Sie zeichnen in der Regel ein ‚harmonischeres‘ Bild, als es die Aktenbestände offenbaren und werden mit diesen kontrastiert. Sie dokumentieren zudem die Entwicklungen der Jugendarbeit innerhalb der einzelnen Kolonialorganisationen, sodass sich deren unter83 Lossau 2009, S. 42f. 84 Ebd., S. 43, Herv. i. Org. 85 Einige wenige waren ausschließlich Mitgliederzeitschriften, z.B. die Mitteilungen der DKG. Zu den verschiedenen Periodika der DKG vgl. Nöhre 1998, S. 47-57.
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schiedliche Schwerpunktsetzungen beispielsweise hinsichtlich ihrer geschlechterspezifischen Jugendarbeit oder der praktischen Ausrichtung in den Jugendgruppen beleuchten lassen. Die eigens für die koloniale Jugendarbeit/-bewegung herausgegebene Zeitschrift Jambo ermöglicht einen Einblick in die für die Jugendlichen bereitgestellten Wissensangebote und das Jugendgruppenleben anhand der lokalen Berichte. Allerdings waren diese kaum von Jugendlichen verfasst, sodass sich darüber nicht auf ihre eigenen Wahrnehmungen und Erfahrungen, sondern auf ihre Handlungsfelder rückschließen lässt. Dies gilt gleichermaßen für das bisher angeführte Material. Im Unterschied dazu ist eine Untersuchung der Selbstentwürfe, Vorstellungen und Wahrnehmungen von Jugendlichen und jungen Erwachsenen anhand des im Bundesarchiv und im Archiv der deutschen Jugendbewegung vorhandenen Schriftgutes des Bundes Deutscher Kolonialpfadfinder (später Deutscher Kolonial-Pfadfinderbund) möglich. Als kleiner, aber dennoch besonderer Textkorpus dokumentieren Schriftwechsel innerhalb des Bundes und mit der DKG, Berichte und Werbebroschüren die eigenen Zielsetzungen, interne Differenzen, aber auch das Spannungsfeld von Abgrenzung gegenüber und Zusammenarbeit mit Erwachsenen. Daneben legen die Zeitschriften Kolonialspäher, Kreuz und Lilie und Land vor uns sowie einzelne ‚Truppbücher‘ jugendbewegte Perspektiven auf ihre pfadfinderische Praxis offen. Während bei der Analyse der kolonialen Jugendarbeit/-bewegung Gruppenprozesse und -positionierungen zentral sind, werden die Siedlernachkommen und ihre Familien auch entlang biografisch-subjektiver Zugänge betrachtet, um Handlungsstrategien und Selbstverortungen ausgewählter Akteurinnen und Akteure nachzuvollziehen. Der Materialkorpus für diese zweite Akteursgruppe stammt aus mehreren deutschen und namibischen (Privat-)Archiven und Bibliotheken. Um Voraussetzungen, Rahmenbedingungen und die Infrastruktur der Mobilität von Siedlernachkommen zu beleuchten, wurden Bestände des Bundesarchivs Berlin, des Politischen Archivs des Auswärtigen Amtes in Berlin und der National Archives of Namibia in Windhoek herangezogen. Die Akten enthalten einige Berichte, überwiegend aber Schriftwechsel zwischen Angehörigen der Kolonialbewegung, Institutionen und Amtsstellen in Deutschland sowie Funktionsträgerinnen und Funktionsträgern der deutschen Siedlerbevölkerung in Südwestafrika. Sie dokumentieren nicht nur die von diesen Akteurinnen und Akteuren geführte Debatte über das Ermöglichen der Mobilität, in der nicht zuletzt Fragen ‚deutscher Identität‘ und ‚deutscher Kultur‘ verhandelt wurden, sondern auch die Entwicklung und die damit einhergehenden Schwierigkeiten beim Aufbau des (transnationalen) Unterstützungsnetzwerks. Die Motive von Eltern für die Aufenthalte ihrer Kinder in Deutschland lassen sich nur begrenzt ermitteln; anhand von Schreiben an oben genannte Akteurinnen und Akteure einerseits, durch retrospektives Schriftgut wie Familienchroniken und Memoiren andererseits.
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Die Aufenthalte in Deutschland lassen sich für die Mehrheit der Siedlernachkommen weder aus ihrer eigenen noch aus alltagsgeschichtlicher Perspektive rekonstruieren. Daher sind ein besonders wertvoller Textkorpus zwei Briefkonvolute (ca. 1000 Briefseiten) aus dem Bestand private accessions der National Archives of Namibia, die die ausführliche Korrespondenz zwischen Angehörigen der bereits seit den 1860er Jahren in Südwestafrika ansässigen deutschen Familie Hälbich in der Zeit von 1919 bis 1933 dokumentieren. Er enthält Briefwechsel zwischen und innerhalb der zweiten und dritten Generation, also zwischen Eltern und Kindern, zwischen Geschwistern sowie zwischen Tanten und Onkeln, Nichten und Neffen. Seit 1913 unterhielt die Großfamilie in Biebrich bei Wiesbaden ein Haus als Lebensmittelpunkt für diejenigen der dritten Generation, die in Deutschland eine Schulbildung und/oder Ausbildung durchliefen. Betreut wurden sie durch zwei Geschwister der zweiten Generation, die in jenem Jahr gemeinsam mit einigen Heranwachsenden nach Deutschland gekommen waren. Nach Ende des Ersten Weltkrieges folgten ihnen weitere Hälbich-Nachkommen. Die Briefwechsel dieser transnationalen Großfamilie ermöglichen ‚Innenansichten‘ der Bildungsaufenthalte, da sie Einblicke geben in die damit verbundenen Denkmuster und Handlungsweisen, die Wünsche, Sorgen und Zukunftspläne verschiedener Familienmitglieder, vor allem auch der Heranwachsenden. Hinsichtlich der Aufenthalte weiterer Siedlernachkommen ist die Materialbasis weitaus fragmentarischer. In begrenztem Maße lassen sich die Bildungs- und Wohnorte sowie die politischen und kulturellen Aktivitäten der Siedlernachkommen beleuchten, die das kolonialrevisionistische Umfeld betreute. Neben bereits erwähntem Archivgut und kolonialen Zeitschriften umfasst die Materialgrundlage Akten aus dem Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz. Die darin enthaltenen, zu Propagandazwecken verfassten Berichte und Werbebroschüren geben Aufschluss über die Sozialisationsabsichten von Erwachsenen, über zu vermittelnde Normen und Werte, nicht über Wahrnehmungen der Siedlernachkommen selbst. Im Unterschied dazu lassen sich basierend auf privaten Briefwechseln und Familienchroniken – überwiegend aus Privatarchiven – Rückschlüsse darüber ziehen, wie Familien mit den Aufenthalten umgingen und wie sich Siedlernachkommen zu den erst im Zuge der Mobilität entstandenen Fragen von Zugehörigkeit und Abgrenzung positionierten. Als Ergänzung dieser Selbstwahrnehmungen von Siedlerfamilien dienen zum einen retrospektive Betrachtungen in Form von Memoiren. Zum anderen sind sieben von mir im Oktober und November 2010 in Windhoek und Swakopmund erhobene Einzelinterviews verfügbar, in denen die aus einer ‚weißen‘ postkolonialen Position sprechenden Interviewpartner/innen zu ihrer Familiengeschichte und ihren Deutschlandaufenthalten befragt wurden. Vier der Interviews fanden mit zwischen 1914 und 1921 geborenen Personen statt, darunter drei Frauen und ein Mann, die mehrheitlich aus deutschen Farmerfamilien kamen. Bei ihrer Ankunft in Deutsch-
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land zur Zeit der Weimarer Republik waren sie im Alter von circa vier, sechs und zehn Jahren und somit noch in der Kindheitsphase. Die vierte Person kam erst 1935 im Alter von 16 Jahren nach Deutschland, soll aber dennoch berücksichtigt werden. Alle Aufenthalte waren privat und im Rahmen verwandtschaftlicher Strukturen organisiert. Die Aufenthaltsdauer variierte zwischen einem und zwölf Jahren, danach kehrten alle in das damalige Südwestafrika zurück. Während diese Interviewpartner/innen über ihre eigenen Deutschlandaufenthalte im Untersuchungszeitraum sprachen, berichteten zwei andere Frauen und ein Ehepaar von den Deutschlandaufenthalten ihrer Eltern bzw. Geschwister. Ihre Erzählungen dienen vor allem zur weiteren Kontextualisierung der in familiären Strukturen durchgeführten Bildungsaufenthalte. Bei der Interpretation dieser verschiedenen Materialsorten war zu berücksichtigen, dass es sich bei einem Großteil um Texte mit propagandistischen Inhalten handelt. Die die Kolonialvergangenheit heroisierenden Schriftwechsel und Publikationen der Kolonialbewegung und der kolonialen Jugendgruppen zielten neben der internen Selbstverständigung auf eine Popularisierung ihrer kolonialrevisionistischen Forderungen in der deutschen Bevölkerung. Allerdings ist mit der Funktion der Mobilisierung gesellschaftlicher Gruppen für ein spezifisches Ziel und somit der nach außen gerichteten Zielgruppenorientierung nur ein wichtiges Moment von Propaganda benannt. Denn in ihr drückt sich zugleich, wie Sandra Maß es formuliert, „die Repräsentation sinnhaft interpretierter Erlebnisse einzelner Menschen oder Gruppen“ aus.86 Von Propaganda als „kommunikative[m] System ausgehend, in dem über die Bedeutungen verhandelt wird, die die Menschen dem Erfahrenen zuweisen“, richtet Maß ihren Blick auf die „gegenseitigen Konstitutionsbedingungen von Propaganda und Subjekt“.87 Solch eine Lesart des oben skizzierten Materialkorpus, die sich auch auf die Produzentinnen und Produzenten der Propaganda richtet, verfolgt die vorliegende Studie, erweitert diese aber dahingehend, dass weniger bereits Erlebtes berücksichtigt wird, als vielmehr in die Zukunft gerichtete Wünsche, Sehnsüchte und Forderungen. Dies ist insofern bedeutsam, als nur wenige Mitglieder der kolonialen Jugendgruppen über koloniale Erfahrungen verfügten, sie aber aus der Kolonialvergangenheit ihre (kollektiven) Selbstkonstruktionen ableiteten, was sich besonders an den Schriften der Kolonialpfadfinder zeigen lässt. Neben diesen propagandistischen Publikationen, mit denen sich vor allem kollektive Selbstentwürfe analysieren lassen, geben Briefe aus Familienkorrespondenzen über individuelle Selbstpositionierungen und über Familienkonstellationen Auskunft. Briefe sind Selbstzeugnisse, zu denen Benigna von Krusenstjern zufolge diejenigen Textsorten gehören, in denen eine „Selbstthematisierung“ vorliegt, d.h. „die Person des Verfassers oder der Verfasserin tritt in ihrem Text selbst handelnd 86 Maß 2006, S. 18. 87 Ebd., S. 18f.
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oder leidend in Erscheinung oder nimmt darin explizit auf sich selbst Bezug“.88 Allerdings sind Briefe nicht zu verstehen als „true record of the writer’s inner world“.89 Vielmehr lassen sich darin die Sinnstiftungen und Deutungsmuster lesen, die Akteurinnen und Akteure ihrem Erlebten oder ihren Wünschen beimessen, sie dienen auch zur Konstruktion des Selbst. Das Selbst wiederum stellt sich in Briefen, die sich durch ihre Adressierung an konkrete Personen von anderen Textformen unterscheiden, über eine dialogische Form her. Der Schreibprozess kann nicht verstanden werden als „fully solitary act, for the writer is always responding to previous interactions and earlier exchanges.“90 Die Schreibenden sind sich in der Regel bewusst „what society expects from a letter both in terms of the form and the content“.91 Nicht nur gesellschaftliche, sondern auch familiäre Erwartungen beeinflussten die Inhalte von Briefen, was besonders für die Familienkorrespondenz der Hälbichs bedeutsam ist. Diese Erwartungen wiederum speisten sich zwar nicht nur, aber auch aus der Tatsache des Getrenntseins infolge der Bildungsaufenthalte. Irene Götz et al. betonen das ‚Prinzip der Trennung‘, mit dem sie auf die dynamische Struktur von Briefwechseln verweisen: „Dem Weggehenden erschliesst sich an einem neuen, fremden Ort eine neue Alltagswirklichkeit; der Zurückbleibende macht in dem beiden vertrauten Erlebnisraum neue Erfahrungen.“92 Es verändert sich für beide, wenngleich auf unterschiedliche Weise, der zuvor vorhandene gemeinsame Bezugsrahmen. Auch in den von mir erhobenen Interviews lassen sich Selbstverortungen, allerdings aus der Retrospektive, lesen. Die entstandenen Erzählungen sind in Anlehnung an Ruthellen Josselson und Amia Lieblich wie folgt zu verstehen: „Narratives are not records of facts, of how things actually were, but of a meaning-making sys88 von Krusenstjern 1994, S. 463, zit. nach Rutz 2002, S. 6. Demgegenüber umfasst der Begriff des Ego-Dokuments, welches nicht autobiografisch verfasst sein muss, eine größere Bandbreite an Materialsorten, z.B. Gerichtsakten, Nachrufe oder Urkunden. Winfried Schulze bietet folgende Definition an: In solchen Texten sollten „Aussagen oder Aussagepartikel vorliegen, die – wenn auch in rudimentärer und verdeckter Form – über die freiwillige oder erzwungene Selbstwahrnehmung eines Menschen in seiner Familie, seiner Gemeinde, seinem Land oder seiner sozialen Schicht Auskunft geben oder sein Verhältnis zu diesen Systemen und deren Veränderungen reflektieren. Sie sollten individuellmenschliches Verhalten rechtfertigen, Ängste offenbaren, Wissensbestände darlegen, Wertvorstellungen beleuchten, Lebenserfahrungen und -erwartungen widerspiegeln.“ Schulze 1996, S. 28. 89 Dobson 2009, S. 60. 90 Ebd., S. 69. 91 Ebd. 92 Götz et al. 1993, S. 173.
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tem that makes sense out of the chaotic mass of perceptions and experiences of life“.93 Der in diesen Erzählungen stattfindende Prozess, für sich ein sinnhaftes System von Bedeutungen zur Lebensorientierung zu entwerfen, ist wiederum mit der konkreten Erinnerung verbunden. Diese war im Gedächtnis der mehrheitlich hochbetagten Interviewpartner/innen von vielen anderen Erinnerungen überlagert, denn die Zeit der Weimarer Republik lag für sie viele Jahrzehnte zurück. Insbesondere der Zusammenhang von Erinnerung und Identifikationsweisen ist für die Analyse der Interviews von Belang. So betont Alistair Thomson: „Remembering is one of the vital ways in wich we identify ourselves in storytelling. We construct our identities by telling stories about our lives, either to ourselves as inner stories or daydreams, or to other people in social situations.“94 Ausgehend von diesen identitätsformenden Prozessen im Zuge des Erinnerns fungieren die Interviews nicht als lebensgeschichtliche Erzählungen. Fokussiert auf einen spezifischen Lebensabschnitt werden vielmehr Textausschnitte verwendet,95 um die nachträglichen Identifikationsweisen und Distinktionsbemühungen, die in den Erzählungen über die Deutschlandaufhalte zutage traten, herauszuarbeiten. Die Arbeit gliedert sich insgesamt in sechs Kapitel. Kapitel 1 beleuchtet die historisch-politischen Kontexte der verschiedenen Akteursgruppen. Beginnend mit einer Skizze über die gesellschaftliche Lage von Jugend in der Weimarer Republik widmet es sich anschließend den Reaktionen auf das Ende der deutschen Kolonialherrschaft sowie den involvierten Akteurinnen und Akteuren des kolonialrevisionistischen und kolonialkritischen Spektrums. Des Weiteren umreißt es die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen der deutschen Siedlerbevölkerung in Südwestafrika unter Mandatsverwaltung. In Kapitel 2 steht die junge Generation als Zielgruppe der Kolonialbewegung im Mittelpunkt. Nach der Darstellung der verschiedenen, von Umstrukturierungen geprägten Phasen der kolonialen Jugendarbeit werden die Hoffnungen und Erwartungen analysiert, die Kolonialverbände an Jugendliche richteten. Danach liegt der Fokus auf dem kolonialverbandlichen Einwirken auf die Institution Schule als zentrales Handlungsfeld der kolonialen Jugendarbeit. Kapitel 3 richtet den Blick auf die Aktivitäten der kolonialen Jugendgruppen und untersucht zunächst ihre sich zwischen mythischen Vergangenheitskonstruktionen und zukunftsweisenden Raumforderungen bewegende Propaganda und die damit einhergehenden Identifikationsmöglichkeiten. Anknüpfend an die sich darin zeigenden eigenen diskursiven Akzentsetzungen der Kolonialpfadfinder beschäftigt sich der nächste Teil vor allem mit ihrem kollektiven Selbstentwurf, der ihre politischen Visionen, Sozialisationsvorstellungen und das Schaffen temporärer kolonialistischer 93 Josselson/Lieblich 1995, S. 33, zit. nach Thomson 2011, S. 89. 94 Thomson 2011, S. 90. 95 Zur Unterscheidung von Quer- und Längsschnittanalyse in Auswertungsverfahren vgl. Krüger 2010, S. 323.
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Räume in der Natur umfasste. Daran schließt sich eine Analyse der Ziele und Aktivitäten der kolonialen Mädchengruppen an, anhand derer sich das Tradieren eines bürgerlich-konservativen Geschlechtermodells nachvollziehen lässt. Die drei folgenden Kapitel widmen sich den mobilen Siedlernachkommen aus Südwestafrika und den daraus resultierenden anhaltenden Verbindungen zwischen ehemaliger Kolonie und Metropole. Kapitel 4 beleuchtet die Debatte über die als notwendig erachteten Bildungsaufenthalte für Siedlernachkommen in Deutschland. Im ersten Abschnitt werden die Weiterentwicklung des deutschen Schulwesens und die entstehende außerschulische Jugendarbeit in Südwestafrika skizziert. Vor diesem Hintergrund analysiert der zweite Teil die verschiedenen Legitimationen für die Bildungsaufenthalte, die Angehörige der deutschen Siedlerbevölkerung und Kolonialakteurinnen und -akteure gaben, sowie die in diesem Zusammenhang formulierten Erwartungen an die Siedlernachkommen. Die sichtbar werdenden Differenzkategorien und bürgerlichen Distinktionsbemühungen spielten zwar auch – wie im dritten Abschnitt ausgeführt – für Eltern eine Rolle, waren aber für sie nicht ausschließlich handlungsleitend. Im letzten Teil werden die Aushandlungsprozesse um die entstehende Infrastruktur der transnationalen Mobilität nachvollzogen. Demgegenüber beschäftigt sich Kapitel 5 mit den in kolonialverbandlich-institutionellen und familiären Strukturen durchgeführten Bildungsaufenthalten der Siedlernachkommen. Es erörtert zunächst die Sozialisationsabsichten und damit verbundenen Wertvorstellungen, die die Kolonialverbände hinsichtlich ihrer mehrheitlich in Kooperation mit national-konservativen Bildungseinrichtungen organisierten Aufenthalte formulierten. Wie sich dazu die Wahrnehmungen und Wünsche von Eltern und Verwandten verhielten, die ihre Kinder im Rahmen von Familienstrukturen nach Deutschland kommen ließen, zeigt der zweite Teil. Der folgende Abschnitt rückt die Siedlernachkommen ins Zentrum und beleuchtet die mit ihren Mobilitätserfahrungen einhergegangenen Selbstwahrnehmungen, ihre Zugehörigkeits- und Abgrenzungsbemühungen. Die Frage der Rückkehr und die Faktoren, die diese beeinflussten, beleuchtet der letzte Teil. Das abschließende Kapitel 6 widmet sich den ‚Innenansichten‘ der Deutschlandaufenthalte am Beispiel der Denk- und Handlungsweisen der transnationalen Großfamilie Hälbich, welche die Brüche mit den kolonialverbandlich-institutionellen Vorstellungen offenlegen. Zunächst werden die Einstellungen von Familienmitgliedern zu ehemaliger Kolonie und Metropole und ihre damit verknüpften Betrachtungen der Bildungsaufenthalte analysiert. Die Bedeutungen, die Hälbich-Nachkommen während der Aufenthalte ihren sozialen und mentalen Bezugsräumen gaben, erörtert der zweite Teil. Schließlich untersucht der letzte Abschnitt die Auswirkungen ihrer Mobilitätserfahrungen auf Fragen der Selbstverortung und Zugehörigkeit. Die Schlussfolgerungen führen die Ergebnisse zu den beiden Akteursgruppen zusammen.
1. Historisch-politische Kontextualisierungen
Die Ausrufung der Republik am 9. November 1918 markierte den Übergang vom Kaiserreich in eine parlamentarische Demokratie. Im Zuge der gesellschaftlichen Reorganisation musste nicht nur ein neues politisches Ordnungsgefüge geschaffen, sondern auch die durch den Ersten Weltkrieg noch weiter „zerrissene Gesellschaft“ wieder zusammengeführt werden.1 Dabei fand eine Adressierung der jungen Generation statt, aber Jugendliche und junge Erwachsene traten auch als handelnde Akteurinnen und Akteure in Erscheinung. Dieses Kapitel dient zur historisch-politischen Kontextualisierung der nachfolgenden Analysen und widmet sich im ersten Teil der zentralen Akteursgruppe Jugend in der Weimarer Republik, zu der auch die kolonialen Jugendgruppen und die mobilen Siedlernachkommen gehörten. Es behandelt kursorisch die Sozialisations-, Bildungs- und Existenzbedingungen sowie die vielfältigen sich entwickelnden (politischen) Organisierungsmöglichkeiten. Der zweite Abschnitt beleuchtet die Reaktionen – insbesondere der Weimarer Politik – auf das Ende der deutschen Kolonialherrschaft und betrachtet im Hinblick auf die später erfolgende Analyse der kolonialen Jugendarbeit die zentralen Aktivitäten der Kolonialbewegung und des kolonialkritischen Spektrums. Der dritte Teil skizziert die durch die eingesetzte Mandatsverwaltung neu entstandenen politischen Rahmenbedingungen für die heterogene deutsche Siedlerbevölkerung in Südwestafrika. Denn diese Bedingungen beeinflussten die Umsetzung der Bildungsaufenthalte von Siedlernachkommen in Deutschland.
1
Büttner 2010, S. 21.
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1.1 GESELLSCHAFTLICHE RAHMENBEDINGUNGEN VON JUGEND IN DER WEIMARER REPUBLIK In der Weimarer Republik etablierte sich Jugend als gesellschaftlich relevante Gruppe, allerdings hatte dieser Prozess seinen Ausgangspunkt bereits im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts genommen. Durch eine verlängerte Schulphase dehnte sich in jener Zeit für männliche bürgerliche Jugendliche der Übergang zwischen Kindheit und Erwachsenenalter aus. In Wechselwirkung mit der Durchsetzung dieser eigenständigen Lebensphase Jugend entstanden eine gesellschaftlich und staatlich getragene Jugendpolitik sowie eine eigene Jugendkultur. 2 Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs veränderte den gesellschaftlichen Stellenwert der jungen Generation, denn ihre bis dato gesellschaftlich beschränkten Handlungsmöglichkeiten wurden zunehmend aufgehoben, für Jungen in größerem Maße als für Mädchen. Aus der Übernahme gesellschaftlich relevanter Funktionen, z.B. dem Einsatz in der industriellen Kriegsproduktion, als Soldaten an der Front oder als Schüler/innen im nationalen Arbeitsdienst, entwickelten Jugendliche ein neues politisches Selbstverständnis.3 Zugleich gewann die Peergroup als Sozialisationsinstanz neben der Familie an Bedeutung. Detlev Peukert zufolge lassen sich für die Weimarer Republik vier politisch relevante Generationen identifizieren: die vor 1870 geborene Wilhelminische Generation, die Gründerzeitgeneration mit Geburtsjahrgängen in der Dekade der Reichsgründung, die zwischen 1880 und 1900 geborene Frontgeneration sowie die sich daran anschließende überflüssige Generation,4 also die Nachkriegsgeneration, die im Zentrum dieses Kapitels steht. Sie war die Zielgruppe für die Jugendarbeit der Kolonialbewegung, aus ihr rekrutierten sich die Mitglieder der Kolonialpfadfinder und in ihr fanden die Siedlernachkommen, die sich (temporär) in Deutschland aufhielten, ihre Altersgenossinnen und -genossen. Zur politisch-kulturellen Kontextualisierung ihrer Aktivitäten sowie der Fremd- und Selbstpositionierungen werden im Folgenden zwei zentrale Aspekte skizziert, die die biografische Entwicklung der gesamten Nachkriegsjugend direkt oder indirekt betrafen: die Sozialisations- und Existenzbedingungen sowie die Vielfalt von Organisierungsmöglichkeiten, die von einer zunehmenden politischen Radikalisierung und politisch aufgeladenen Mythisierung von Jugend begleitet war. 2
Vgl. als Überblick Speitkamp 1998, S. 118-161.
3
Vgl. Domansky 1986, S. 118-126.
4
Vgl. Peukert 1987a, S. 26-31, Herv. i. Org. An anderer Stelle erläutert er den Begriff „überflüssige Generation“ wie folgt: „Das demographische und sozioökonomische Signum dieser Generationserfahrung ist die Überflüssigkeit und Unbrauchbarkeit des Einzelnen, gemessen an der Kluft zwischen der geringen Arbeitskräftenachfrage und dem dramatisch angeschwollenen Arbeitskräfteangebot.“ Peukert 1986, S. 146.
1. Historisch-politische Kontextualisierungen | 35
Es liegt auf der Hand, dass es die Nachkriegsgeneration nicht gab, sondern sich die Lebensrealitäten der jungen Menschen u.a. entlang von Klassen- und Geschlechterzugehörigkeiten unterschieden. In der kolonialen Jugendbewegung waren vor allem bürgerliche Jugendliche organisiert, wobei der Anteil männlicher Heranwachsender den der Mädchen und jungen Frauen deutlich überwog. Auch die sich in Deutschland aufhaltenden deutschen Siedlernachkommen aus Südwestafrika kamen überwiegend aus einem bürgerlichen Umfeld. Abhängig von der Betrachtungsweise ist darüber hinaus, welche Alterskohorten der Begriff Jugend in der Weimarer Republik umfasste. Im juristischen Sinn markierte das Alter zwischen 14 und 18 Jahren die Jugendphase, in der das Reichsjugendgerichtsgesetz vom 16. Februar 1923 galt.5 Danach griff die Gerichtsbarkeit für Erwachsene, allerdings erreichten Heranwachsende ihre Volljährigkeit und damit vollständige Autonomie gegenüber den Eltern erst mit 21 Jahren.6 Demgegenüber umfasste die Zugehörigkeit zur Jugend im politischen Raum, in dem auch die Kolonialjugend zu verorten ist, ein breiteres Altersspektrum. Auf Jugendpflegeverbände und die Jugendorganisationen der Parteien verweisend legt Krabbe eine Altersspanne zwischen etwa zehn und 30 Jahren zugrunde,7 die ebenso für die heterogenen Zusammenschlüsse der bündischen Jugend zutraf. Die Mitglieder der kolonialen Jugendbewegung waren in der Regel zwischen etwa zehn und 25 Jahren. Danach sollten sie in die Erwachsenenverbände überwechseln. Sozialisations-, Bildungs- und Existenzbedingungen Die innerfamiliären Beziehungen und die Bedeutung der Familie als eine der zentralen Sozialisationsinstanzen wurden durch den Ersten Weltkrieg nachhaltig verändert. Fast alle Jugendlichen waren mit dem Tod Familienangehöriger konfrontiert – seien es Väter und/oder Brüder gewesen. Kehrten die Väter lebend zurück, erlebten die Kinder, dass sich das Verhältnis der Eltern infolge unterschiedlicher Kriegserfahrungen und erschütterter bürgerlicher Geschlechterrollenbilder konfliktreich gestaltete. Während die Väter vielfach körperlich und/oder psychisch versehrt und zugleich als Kriegsverlierer in ihre Familien zurückkehrten, hatten die Mütter 5
Vgl. Domansky 1986, S. 127. Auch andere Gesetze waren auf das Alter bis 18 Jahre ausgerichtet. Von dem am 12. Mai 1920 verabschiedeten Lichtspielgesetz war die Gruppe der sechs- bis achtzehnjährigen betroffen, die sich Filme erst nach der Genehmigung durch entsprechende Prüfungsstellen anschauen durften. Das Gesetz zur Bewahrung der Jugend vor Schund- und Schmutzschriften zielte darauf, den Verkauf indizierter Publikationen an Jugendliche unter 18 Jahren zu verbieten. Vgl. ebd.
6
Junge Männer konnten erst mit 21 Jahren heiraten. Bei Einwilligung der Eltern war dies für Mädchen bereits im Alter von 16 Jahren möglich. Vgl. Benninghaus 1999a, S. 39.
7
Vgl. Krabbe 2010, S. 7.
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und teilweise die Jugendlichen selbst durch zunehmende Erwerbstätigkeit das Überleben der Familien gesichert. In der Folge missbilligten Frauen die vormalige Stellung des Ehemannes als (alleinige) familiäre Autoritätsperson.8 Auch männliche Jugendliche, die im zeitgenössischen Diskurs als „vaterlose Generation“ bezeichnet wurden, hinterfragten das „patriarchalisch-autoritäre Familien- und Erziehungsmodell“, wie individual- und sozialpsychologisch basierte Studien der 1920er Jahre zeigen.9 Zugleich rief der einsetzende Funktionsverlust der Familie bei ihnen – vor allem bei bürgerlichen Jugendlichen – soziale Orientierungslosigkeit und emotionale Verunsicherung hervor.10 Die Bildungs- und Existenzbedingungen der jungen Generation sind auf der Basis einer geschlechter- und klassendifferenzierten Betrachtungsweise recht unterschiedlich zu bewerten. Männliche bürgerliche Jugendliche konnten sich nicht mehr in dem Maße auf eine Schul- und Hochschulbildung als Garant für ihre soziale Statussicherung verlassen, wie dies in der Regel noch im Kaiserreich der Fall gewesen war.11 Demgegenüber ergaben sich für einen Teil bürgerlicher Mädchen und junger Frauen infolge des Ausbaus des höheren Mädchenschulwesens und der Zulassung zur Universität neue Berufsmöglichkeiten und Chancen auf materielle Unabhängigkeit.12 Zudem fanden sie in Handel und Industrie sowie im öffentlichen Dienst und im privaten Dienstleistungssektor neue Tätigkeitsfelder. Aus einer klassenspezifischen Perspektive blieb das Bildungssystem wenig durchlässig, denn Jugendliche aus Arbeiterfamilien waren im höheren Schulwesen auch weiterhin deutlich unterrepräsentiert.13 Für Arbeitermädchen stellten vor allem Berufe wie Verkäuferin oder Büroangestellte Aufstiegsmöglichkeiten dar, wenngleich der ungenügende Verdienst häufig genug den Verbleib im Elternhaus bedingte. 14 Eine dauerhaft abgesicherte berufliche Existenz war für die junge Generation in der Weimarer Republik – und zwar geschlechter- und klassenübergreifend – kaum möglich. Der tiefgreifende demografische Wandel infolge der langfristigen Aus8
Zu Familienstrukturen und -diskursen im Ersten Weltkrieg vgl. ausführlich Heinemann 2004, S. 21-65.
9
Speitkamp 1998, S. 169.
10 Vgl. Stambolis 2003, S. 130f. 11 Vgl. ebd., S. 114. 12 Vgl. Büttner 2010, S. 254f. 13 Vgl. Speitkamp 1998, S. 202. Zudem schlussfolgert Bernd Zymek „Für die große Mehrheit der Bevölkerung ist die Ableistung der Schulpflichtzeit selbstverständlich, Grundlage von individuellem und kollektivem Selbstbewußtsein, wie auch von Handlungskompetenz, aber darüber hinaus ist die Schule für sie nur selten mit beruflichen und sozialen Aufstiegsaspirationen verbunden. 1931 kommen nur etwa 5% der Schüler höherer Schulen aus Arbeiterfamilien.“ Zymek 1989, S. 178. 14 Vgl. Speitkamp 1998, S. 168.
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wirkungen des Industrialisierungsprozesses und der 2,7 Millionen Toten im Ersten Weltkrieg veränderte die Bevölkerungsstruktur dahingehend, dass die Gruppe der unter 20-jährigen von 44 Prozent um 1914 auf 30 Prozent um 1933 sank. Durch den daraus resultierenden Anstieg des Arbeitskräftepotenzials, das zur Existenzsicherung mit entsprechenden Stellenangeboten versorgt werden musste,15 wuchs nicht nur die Konkurrenz zwischen jungen und alten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, sondern auch innerhalb der jungen Generation. Auch die Entwicklung der Beschäftigungsstruktur und die (weltweite) Wirtschaftslage wirkten sich überwiegend ungünstig auf die Existenzsicherung Heranwachsender aus. Der in der unmittelbaren Nachkriegszeit in der Industrie bestehende Lehrstellenmangel sollte in den Folgejahren weiterhin ein Problem bleiben. Zwar wurde eine massenhafte Arbeitslosigkeit Jugendlicher in den ersten Nachkriegsjahren durch ausreichend bezahlte Hilfsarbeiter- und Anlernstellen abgewendet, allerdings verschlechterten sich ihre Arbeitsmöglichkeiten seit Mitte der 1920er Jahre bis auf eine kurzfristige Milderung in den Jahren 1927/28 zunehmend. Verantwortlich für ihre steigende Arbeitslosigkeit waren Rationalisierungs- und Personalabbauprozesse, die erfahrenen Arbeitskräften den Vorrang ließen.16 Durch die 1929 einsetzende Weltwirtschaftskrise spitzte sich die Situation der jungen Generation mit der sich drastisch erhöhenden Jugendarbeitslosigkeit schließlich in dramatischer Weise zu. Die 21- bis 24-jährigen waren davon am stärksten betroffen.17 Für männliche Heranwachsende zwischen 18 und 30 Jahren aus dem Arbeitermilieu benennt Peukert Erwerbslosigkeit als die dominante Alltagserfahrung in der Zeit von 1929 bis 1933.18 Von Deklassierungs- und Zukunftsängsten wiederum war auch die Situation an den Hochschulen geprägt. Die Zahl der Studierenden war zwischen 1914 und 1919 um etwa 40 Prozent auf rund 112.000 gestiegen und nahm fortan mit kurzen Ausnahmezeiten stetig zu, seit 1925 zwischen fünf und zwölf Prozent pro Jahr. Dies hing u.a. mit einer wachsenden Zahl von Studentinnen zusammen, aber auch damit, dass viele junge Erwachsene die Aufnahme eines Studiums als vorübergehenden Ausweg aus der Arbeitslosigkeit betrachteten. Zudem sollte der Hochschulabschluss zumindest vom Anspruch her den gesellschaftlichen Status wahren, wenn er schon nicht mehr die materielle Sicherung gewährleisten konnte. 19 Die ansteigenden Studierendenzahlen sind somit weniger als „soziale Öffnung der Hochschulen“ 15 Vgl. ebd., S. 163f. Erst um das Jahr 1933 glich sich die Bevölkerungsanzahl mit 65 Millionen Menschen wieder dem Vorkriegsniveau an. Vgl. ebd., S. 164. 16 Vgl. Reulecke 1989, S. 89f. 17 Vgl. u.a. ebd., S. 91. 18 Vgl. Peukert 1987b, S. 308. „Lehrlinge, junge Ungelernte und Mädchen“ konnten noch als „billige Arbeitskräfte“ Anstellung finden. Ebd. 19 Vgl. für diesen Absatz Stambolis 2003, S. 115.
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zu betrachten, vielmehr drückten sich darin die unsicheren Zukunftsperspektiven und der „Rückzug[…] der jungen Generation der Mittelschichten in ein verlängertes Ausbildungsmoratorium“ aus.20 Infolge der Weltwirtschaftskrise versuchten Studierende zunehmend in Handel und Industrie ein finanzielles Auskommen zu finden. Sie wichen auf minderqualifizierte Tätigkeiten aus, da sie eine ihrer Hochschulqualifikation angemessene Arbeitsstelle nicht finden konnten. Wie Jürgen Reulecke zutreffend konstatiert, bedeuteten die Entwicklungen auf dem Arbeitsmarkt insgesamt betrachtet eine „zunehmende Aushöhlung traditioneller Karrieren und Berufsfelder auf allen Ebenen, eine Nivellierung nach unten und letztlich für den gesamten Nachwuchs eine Dequalifikationsbedrohung, die bereits vor der Weltwirtschaftskrise in der Selbsteinschätzung und Gesellschaftswahrnehmung der Betroffenen tiefe Spuren hinterließ und sie schließlich immer radikaleren Lösungsstrategien geneigt machte.“21
Von sozialer Verelendung und beruflicher Perspektivlosigkeit war nicht nur die männliche Arbeiterjugend, sondern auch ein Großteil der männlichen bürgerlichen Jugend betroffen. Diese ökonomische Krisensituation konnte sich durch die Veränderungen im sozialstaatlichen Versorgungssystem weiter verschärfen, denn ab 1930 endete für alle unter 17-jährigen, ab 1931 für alle unter 21-jährigen der Anspruch auf Arbeitslosenunterstützung.22 Zur Entlastung der Jugendlichen führten Reichsregierung, Jugendverbände und weitere Gruppierungen einen ‚Freiwilligen Arbeitsdienst‘ ein, dessen rechtliche Grundlage eine Notverordnung von Juni 1931 war. Einigen Jugendlichen bot er in der akuten Situation Unterkunft, Verpflegung und ein geringes Taschengeld, allerdings keine zukunftssichernden Perspektiven. 23 Jugendleben in der Weimarer Republik bestand allerdings nicht nur aus drohender oder real erlebter beruflicher Perspektivlosigkeit. Die sich verändernde Arbeitswelt setzte auch jugendkulturelle Entfaltungsprozesse frei. Nicht zuletzt die durch den fortschreitenden Modernisierungsprozess entstandenen neuen gewerblich-technischen und industriellen Berufe ermöglichten Jugendlichen und jungen Erwachsenen ein gewisses Maß an soziokultureller, mitunter auch materieller Unabhängigkeit. Zudem schuf ein geregelterer Ausgleich zwischen Arbeit und Freizeit den Raum, um an der neuen, sich vor allem in Großstädten etablierenden Freizeitund Konsumkultur zu partizipieren.24 Jungen wie Mädchen frequentierten Kino-, 20 Ebd. 21 Reulecke 1989, S. 90. 22 Vgl. Stambolis 2003, S. 124. 23 Vgl. ebd., S. 126. Im November 1932 waren 285.000 Jugendliche für den Arbeitsdienst registriert. Vgl. Reulecke 1989, S. 91. 24 Vgl. Böhnisch/Gängler 1991, S. 51f.
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Tanz- und Sportveranstaltungen und wurden zu einer zentralen Zielgruppe des Massenkonsums. Während sich dadurch die Grenzen der Klassenunterschiede bis zu einem gewissen Grad öffneten, traten sie zwischen den Generationen in Bezug auf Interessen und Alltag stärker hervor. 25 In bestimmten Kreisen stieß diese neue urbane Massenkultur auf Ablehnung, so in Teilen der bündischen Jugend, die darin Kulturverfall und das „Undeutsche“ schlechthin sahen.26 Zudem bildete der nicht zuletzt mit dem Massenkonsum verbundene „Kult der Jugendlichkeit“, wie Domansky es nennt, ein Spannungsfeld zur ökonomisch wie auch politisch beschränkten Lebenssituation der jungen Generation: „Die doppelte Ausbeutung von Jugend – ihre materielle Unterdrückung bei gleichzeitiger Propagierung eines von der sozialen Realität losgelösten Jugend-Ideals als gesellschaftlichem Leitwert – kreierte Jugend als ein Phänomen im eigentlichen Sinne, nämlich als bloße Vorspiegelung. Damit war ein Meilenstein in der Konstruktion von Jugend erreicht, ohne den der parallel entwickelte Jugend-Mythos wirkungslos geblieben wäre.“27
Vor der näheren Betrachtung der sich in der Weimarer Republik intensivierenden politischen Dimension des Jugend-Mythos steht zunächst die Organisierung von Jugendlichen in gesellschaftlichen Institutionen und Verbänden im Mittelpunkt. Diese wurde durch eine verlängerte Freizeit zunehmend möglich. Jugendorganisationen und politische Orientierungen Über Familie und Staat hinaus wirkten einerseits gesellschaftliche Institutionen und Verbände auf die (politische) Sozialisation Heranwachsender ein. Andererseits fand sich ein kleiner Teil der jungen Generation in der bündischen Jugend zusammen, die versuchte, sich jenseits der etablierten Erwachsenenwelt in Gemeinschaften zu organisieren.28 Die Jugendarbeit der Kolonialbewegung stand somit in Konkurrenz zu den Rekrutierungsmaßnahmen von Parteien, Kirchen, Gewerkschaften, Sportverbänden und Wehrvereinen, aber auch einer Vielzahl von in der Weimarer Republik entstehenden Bünden.29 Als organisatorisches Dach für die staatliche, verbandliche und private Jugendarbeit diente der seit Juni 1919 bestehende Ausschuss der deutschen Jugendverbände, der seit 1926 Reichsausschuss der deutschen Jugendverbände (RddJ) hieß. Eine 25 Vgl. Speitkamp 1998, S. 170. 26 Peukert 1987a, S. 98f. 27 Domansky 1986, S. 133. 28 Vgl. Reulecke 1989, S. 99f. 29 Eine Übersicht der in der Weimarer Republik existierenden Jugendverbände findet sich bei Kneip 1974.
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Mitgliedschaft war schon deswegen attraktiv, weil Mitglieder zahlreiche staatliche Vergünstigungen in Anspruch nehmen konnten, z.B. Zuschüsse für die Errichtung von Jugendheimen, Fahrpreisermäßigungen für Gruppen oder die Durchführung von Lehrgängen.30 Im Jahr 1926 bestand er aus 76 Organisationen, denen mit 3,6 Millionen rund 40 Prozent der 9,1 Millionen Jugendlichen zwischen 14 und 21 Jahren angehörten. Mit 54 Prozent waren männliche Jugendliche mehr als doppelt so häufig organisiert wie weibliche mit 26 Prozent. Die meisten Jugendlichen waren mit 37,1 Prozent in Sportverbänden und mit 28,6 Prozent in den beiden Kirchen organisiert, davon 18 Prozent in katholischen und 10,6 Prozent in evangelischen Gruppierungen. Mitglied in volksbürgerlichen Organisationen waren 12,7 Prozent der Jugendlichen, gefolgt von 10,5 Prozent in berufsständischen Verbänden. Nur 1,1 Prozent gehörten parteipolitischen Gruppierungen, 1,2 Prozent der bündischen Jugend an.31 Insgesamt ist die Zahl der organisierten Jugendlichen sogar noch höher zu veranschlagen, denn in diesen Angaben wurden u.a. weder informelle Gruppen und Splitterverbände noch die Jugendverbände der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei (NSDAP), der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD) und der Wehrverbände berücksichtigt.32 Mit insgesamt etwa 15.000 bis 20.000 Mitgliedern am Ende der 1920er Jahre blieben die verschiedenen kolonialen Jugendgruppierungen, die sich als parteiübergreifend verstanden, auf einen kleinen Kreis beschränkt. Zum einen ist aber zu berücksichtigen, dass die Kolonialbewegung selbst nur rund 80.000 Mitglieder zählte. Zum anderen eignet sich meiner Ansicht nach nur ein Vergleich mit solchen Verbänden, die in erster Linie – wie die Kolonialjugend – eine politische Ausrichtung hatten, also politische Parteien, Gewerkschaften und Wehrverbände. Ein Vergleich mit den politischen Parteien zeigt, dass auch ihre Jugendgruppierungen mit Ausnahme der sozialistischen Verbände keine hohen Mitgliederzahlen hatten. Im Jahr 1927/28 zählte die Bismarckjugend der Deutschnationalen Volkspartei (DNVP) 40.000 Heranwachsende, die Hindenburgjugend der Bayerischen Volkspartei (BVP) 12.000, die Windhorstbünde des Zentrums 10.000 sowie der kommunistische Jugendverband 35.000 und die Hitlerjugend 18.000 Mitglieder.33
30 Vgl. Krabbe 2010, S. 13, der sich auf Hasenclever 1978, S. 109f. bezieht. 31 Vgl. Böhnisch/Gängler 1991, S. 50, die Mewes 1929, S. 157 heranziehen. 32 Vgl. Reulecke 1989, S. 99f. In seiner Übersicht nennt Mewes 1929 als nicht im RddJ vertretene Jugendverbände den Jung-Wehrwolf, die Kyffhäuser-Jugend, das Jung-Reichsbanner und die Jung-Rotfront mit einer Gesamtzahl von 700.000 Mitgliedern bis zu 21 Jahren. Vgl. Böhnisch/Gängler 1991, S. 50. 33 Vgl. ebd., S. 55, die sich auf Siemering 1931 beziehen. Hinsichtlich solcher Zahlen konstatiert Arndt Weinrich, dass bis 1933 „nicht der Typus des parteipolitisch engagierten Hitler-Jungen unter den Jugendlichen vorherrschend war.“ Weinrich 2013, S. 65.
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Die Jugendarbeit der Erwachsenenverbände hatte in der Regel einen instrumentellen Charakter. Vor dem Hintergrund der Nachwuchsrekrutierung, die auch die Kolonialbewegung verfolgte, beabsichtigten sie vor allem, „die Jugend für die eigenen Zwecke und die Durchsetzung ihrer jeweiligen Programme und weltanschaulichen Ziele zu gewinnen – ohne ihr allerdings Selbständigkeit und wirkliche Verantwortung zuzubilligen“, wie Jürgen Reulecke zutreffend konstatiert. 34 Dennoch ließ sich Jugend nicht einfach instrumentalisieren, wie folgende Beispiele zeigen: In der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD) kritisierte die junge Generation zunehmend seit Ende der 1920er Jahre die „Verkrustung und Überalterung der Partei.“35 Auch in den bürgerlichen Parteien traten Konflikte u.a. darüber auf, dass jungen Mitgliedern nach dem Übergang vom Jugend- in den Erwachsenenverband keine Karrierechancen eröffnet, sie nicht in die Vertretungsorgane gewählt wurden.36 Der Jungstahlhelm als Jugendorganisation des paramilitärischen Verbandes Stahlhelm stellte zunehmend seine untergeordnete Stellung und den Kontrollanspruch des Erwachsenenverbandes infrage.37 Schließlich waren auch die Kirchen mit Generationenkonflikten konfrontiert.38 Während die Jugendgruppierungen der Kolonialverbände im Kontext der institutionalisierten Jugendpflege zu betrachten sind, lassen sich die Kolonialpfadfinder zur bündischen Jugend zählen. Damit wird in der Regel die Fortsetzung der Ende des 19. Jahrhunderts entstandenen bürgerlichen Jugendbewegung bezeichnet, die sich als Reaktion auf die mit Industrialisierung und Urbanisierung einhergehenden gesellschaftlichen Umbrucherfahrungen entwickelt hatte und deren Mitglieder in „facettenreiche lebensreformerische Kontexte“ eingebunden waren.39 In der Forschung divergieren die Auffassungen darüber, welche Gruppierungen und Personen darunter subsumiert werden sollten und welche nicht, denn nach 1919 kam es zu Angleichungen innerhalb des heterogenen Spektrums jugendlicher Gruppierungen. In Übereinstimmung mit Speitkamp scheint es mir wenig sinnvoll, darunter entweder nur die „Nachfolger der Jugendbewegung im engeren Sinn“ oder alle Jugendorganisationen zu fassen, sondern zweckmäßiger, sie vornehmlich gegen die „breite[…] Masse der Jugendvereine und -verbände, wie sie in der Jugendpflege tätig waren“, abzugrenzen.40 34 Reulecke 1989, S. 94. 35 Stambolis 2003, S. 200. Zu den verschiedenen Strömungen der jungen Generation vgl. ebd., S. 55-74 und zur Zuspitzung des Generationenkonflikts vgl. ebd., S. 133-153. 36 Vgl. Krabbe 1993a, S. 60. Zur Entwicklung der bürgerlichen Parteijugend vgl. ders. 1995 und als Kurzüberblick ders. 2010, S. 25-56. 37 Vgl. Götz von Olenhusen 1993, S. 166-172. 38 Vgl. dies. 1987b. 39 Stambolis 2011, S. 1. 40 Speitkamp 1998, S. 183.
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Die bündische Jugend kennzeichneten vor allem drei Aspekte: Erstens ist ihre enorme Heterogenität zu nennen. Sie war, wie Jürgen Reulecke es formuliert, „keine große einheitliche Bewegung, sondern [umfasste, S.H.] eine Vielzahl meist von jungen Erwachsenen geführter ‚Bünde‘ und ‚Orden‘, ‚Ringe‘ und ‚Gefolgschaften‘, die sich häufig spalteten oder wieder auflösten“.41 Damit ist zugleich das zweite Charakteristikum genannt, nämlich die überwiegende Leitung der Bünde durch junge Erwachsene, die in der Regel auch ihre Wortführer waren. Schließlich zählte dazu drittens das bündische Selbstverständnis. Der Bund galt als elitäre Gemeinschaft und war ein Lebensprinzip. „Dieses verstand sich als Alternative zum normalen gesellschaftlichen Leben. Der Bund war intentional eine abgegrenzte Welt, eine Subkultur mit eigenen Normen und Werten. Der Bund selbst galt dabei als höchster Wert.“42 Entsprechend der außerordentlichen Vielfalt von Bünden lassen sich verschiedene Hauptströmungen differenzieren, die von gemäßigt nationalistisch und ‚völkisch‘ über pseudo-militärisch und nationalrevolutionär bzw. -bolschewistisch bis hin zu jugendbewegten Ausprägungen reichten.43 Die Mehrzahl der Bünde zählte zum rechten Spektrum und vertrat einen gemäßigten Nationalismus. 44 Kennzeichen des dominanten Politikverständnisses in der bündischen Jugend war eine ablehnende Haltung „zur Demokratie als gesellschaftlicher Ordnung und zum Parlamentarismus als Instrument der politischen Willensbildung“.45 Mehrheitlich grenzten sich die Bünde gegenüber organisierter Politik bzw. den etablierten Parteien ab. Sie standen in Opposition zur Parteienpolitik und betätigten sich im außerparlamentarischen Raum, dies zunehmend seit Ende der 1920er Jahre.46 Ihre Gegnerschaft zur Weimarer Republik verstärkte sich nicht zuletzt dadurch, dass sie sich weniger auf analytische oder rationale Positionen bezogen, sondern ein „irrationales Lebensund Gemeinschaftsgefühl“ favorisierten.47 Demgegenüber gab es auch nicht zu ver-
41 Reulecke 1989, S. 101. 42 Speitkamp 1998, S. 184. 43 Vgl. ebd., S. 187-191. Insgesamt betrachtet fällt die Kategorisierung in der Forschungsliteratur unterschiedlich aus. Beispielsweise erwähnt Matthias von Hellfeld neben den paramilitärischen Verbänden nur drei weitere Strömungen: eine idealistische, eine ‚völkische‘ und eine national-revolutionäre. Vgl. von Hellfeld 1987, S. 36-48. 44 Vgl. Speitkamp 1998, S. 187. 45 von Hellfeld 1987, S. 62. 46 Vgl. Stambolis 2003, S. 160. Einige Bünde beteiligten sich z.B. um 1929/30 an Aktivitäten gegen den Young-Plan. Siehe ebd., S. 158. 47 von Hellfeld 1987, S. 59, der sich auf Jovy 1984, S. 48 bezieht.
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nachlässigende demokratiebejahende Positionen, die beispielsweise die Deutsche Freischar, der Leuchtenburgkreis oder einige konfessionelle Bünde vertraten. 48 Im Unterschied zur bürgerlichen Jugendbewegung der Vorkriegszeit, die sich in Opposition zur Gesellschaft gestellt hatte, beabsichtigte die bündische Jugend explizit deren Veränderung.49 Die Ausgestaltung der geforderten neuen Gesellschaftsordnung blieb allerdings weitgehend nebulös. Vielfach wurde auf eine organische Gesellschaftsform, eine national geeinte ‚Volksgemeinschaft‘ und das ‚Führerprinzip‘ verwiesen,50 was die verschiedenen Strömungen in der bündischen Jugend unterschiedlich auslegten. In gleicher Weise waren die daran gekoppelten Vorstellungen vom ‚neuen Menschen‘ von divergierenden Idealen geprägt. Bernd Wedemeyer-Kolwe hat dies am Beispiel von Körperkonzepten nachgezeichnet, die von Freikörperkultur über freizeitorientierte Sportlichkeit bis hin zu militärisch-wehrhaften Prägungen reichten, und kommt zu dem Schluss, dass „[d]er einheitliche Entwurf des körperorientierten ‚Neuen Menschen‘ in der Jugendbewegung vor 1918 […] einer Vielfalt zum Teil konkurrierender Entwürfe gewichen [war, S.H.], die zwar noch als gemeinsame Klammer die Formung und Selbsterziehung des Körpers ansahen, aber politisch und kulturell auf keinen einheitlichen Nenner mehr kamen.“ 51
Den ‚neuen Menschen‘ propagierte nicht nur die bündische Jugend. Auch die in studentischen Hochschulverbänden organisierte Studierendenschaft beabsichtigte, mit dem Ideal des ‚neuen Studenten‘ die Gegenwart zu gestalten. Ihren Anspruch, die zukünftige Führungselite zu repräsentierten, wollten sie mittels politischer Bildungsarbeit durchsetzen. Der Einsatz für das Wohl der ‚Nation‘ war ebenso zentral wie ein den gestählten Körper propagierendes Männlichkeitsideal. 52 Vergleichbar mit einem Teil der bündischen Jugend etablierte sich auch unter Studierenden spätestens ab 1927 eine antirepublikanische Haltung, deren Gründe nicht zuletzt in ihrem gefährdeten sozialen Status und der Zukunftsunsicherheit zu suchen sind. Zunehmend zogen in den Ausschüssen und Parlamenten, die Studierende Anfang der 1920er Jahre gegründet und die die Länderregierungen in der Folge als Vertretungsorgane institutionalisiert hatten, nationalistische und großdeutsch orientierte Studierendenverbände die Wortführung an sich. Versuche, diese Tendenzen durch 48 Vgl. Krabbe 2010, S. 18. Im Unterschied zu obigen Forschungspositionen kommt er zu dem Schluss, dass „die Zahl rechtsorientierter Verbände, die derjenigen kaum übertraf, die die Republik bejahten oder sie wenigstens tolerierten.“ Ebd., S. 20. 49 Vgl. ebd., S. 22, der sich auf Laqueur 1962, S. 150 bezieht. 50 Vgl. Speitkamp 1998, S. 186. 51 Wedemeyer-Kolwe 2006, S. 154. 52 Vgl. Levsen 2006, S. 105-120, die in ihrem Beitrag den Fokus auf die Stadt Tübingen richtet.
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Auflösung ihrer Gremien einzudämmen, verschärften diese Situation weiter. ‚Völkische‘ und antisemitische Positionen wurden stärker. Somit wandte sich die zukünftige Elite schon früh gegen die Weimarer Demokratie. Der Nationalsozialistische Deutsche Studentenbund konnte bereits seit 1930 an immer mehr Hochschulen die absolute Mehrheit bei den Studierendenwahlen für sich gewinnen. 53 Die sich in Teilen der bündischen Jugend und in der Studierendenschaft vollziehende antirepublikanische Radikalisierung zeichnete sich auch im Wahlverhalten der jungen Generation ab. Am Stimmenzuwachs der NSDAP von 2,6 Prozent (810.000 Stimmen) im Jahr 1928 auf 18,3 Prozent (6,5 Millionen Stimmen) zwei Jahre später waren maßgeblich Wähler/innen zwischen 20 und 30 Jahren beteiligt. Daneben profitierte innerhalb der Parteienlandschaft nur die KPD mit einem Zugewinn von 1,25 Millionen Stimmen von der Beteiligung der Jung- und Neuwähler. Der Großteil der proletarischen Jugendwähler wählte ab 1930 die KPD.54 Für die Radikalisierung der männlichen Jugend, insbesondere am Ende der 1920er Jahre, finden sich in der Forschungsliteratur verschiedene Gründe. Neben der materiellen Situation, die vor allem von konkreter oder drohender Arbeitslosigkeit und teilweise von sozialem Abstieg gekennzeichnet war, habe die innenpolitische Situation, geprägt von Wirtschaftskrisen und einer Krise des Parteiensystems, zu antidemokratischen Haltungen beigetragen. Zudem wird auf die sozialpsychologische Dimension verwiesen. Durch Erlebnisse des Ersten Weltkriegs und gewaltsame Auseinandersetzungen in der 1920er Jahren seien Jugendliche an Gewalt als Mittel politischer Konfliktlösung gewöhnt gewesen.55 Darüber hinaus hat sich die historische Forschung mit der Frage beschäftigt, ob die bündische Jugend mit ihrer Ausrichtung auf ‚Volksgemeinschaft‘, ‚Reich‘ und ‚Führer-Gefolgschaftsprinzip‘ den Nationalsozialismus vorbereitet habe. Ausgangspunkt dafür war der nicht zu unterschätzende Einfluss, den sie auf die junge Generation insgesamt ausgeübt habe. Während Studien bis Ende der 1970er Jahre diese Frage bejahten, zeichnet die Forschung seit den 1980er Jahren ein differenzierteres Bild. Sowohl bündische Jugend als auch NSDAP rekurrierten zwar auf Vorstellungen des Kulturpessimismus und der konservativen Revolution, unterschieden sich aber dennoch hinsichtlich ihres Menschenbildes. Zudem agierten Angehörige der bündischen Jugend nach der Machtübernahme der NSDAP zwischen den Polen Anpassung und Widerstand.56 Zutreffend kommt Jürgen Reulecke zu dem Schluss, dass die „Handlungsmöglichkeiten und -spielräume“ der bündischen Jugend nicht 53 Vgl. Speitkamp 1998, S. 205 und Stambolis 2003, S. 156-158. 54 Vgl. Götz von Olenhusen 1987a, S. 261f. Der Stimmenzuwachs der NSDAP wurde zudem durch etwa 2,2 Millionen Wähler/innen begünstigt, die zuvor den bürgerlichen Rechtsparteien wie DNVP und DVP ihre Stimme gegeben hatten. Vgl. ebd., S. 261. 55 Vgl. ebd., S. 263f. 56 So fasst Krabbe die Debatte knapp zusammen. Vgl. Krabbe 2010, S. 23.
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überschätzt werden sollten und die Bewegung nicht isoliert vom gesamtgesellschaftlichen Kontext der Weimarer Republik betrachtet werden dürfe.57 Doch nicht allein die zunehmende politische Radikalisierung kennzeichnete die Organisierung von Jugend in der Weimarer Republik. Ebenso fand mit ihrer Anerkennung als gesellschaftlich relevante Gruppe eine im Unterschied zur Vorkriegszeit politisch stärker aufgeladene Mythisierung von Jugend und Jugendlichkeit statt. Stambolis umreißt diesen Mythos als „Erscheinungsform allgemeiner Orientierungs- und Perspektivlosigkeit und einer gesellschaftlichen Identitätskrise, die auf den Wandlungen der Sozialisationsbedingungen der jungen Generation seit der Jahrhundertwende beruhten.“58 Zentrale Initiatoren und Gestalter des Mythos waren allerdings nicht die in der Weimarer Republik Heranwachsenden, sondern Angehörige der in den beiden Jahrzehnten vor 1900 geborenen Frontgeneration, für deren Selbst- und Weltverständnis der Erste Weltkrieg eine bedeutsame Rolle spielte. Sie prägte ein Lebensgefühl, das mit dem Versuch einherging, die „Überwindung der alten Gesellschaft als Generationenaufbruch zu erleben […], als Überwindung der wilhelminischen Vätergeneration.“59 Wichtige Wortführer waren Gruppen, denen konservativ-revolutionäre junge Intellektuelle angehörten. Die 1918 erstmals publizierte Schrift Das Recht der jungen Völker des bereits 1876 geborenen Arthur Möller van der Bruck fungierte als einflussreicher Ideengeber. Dieser betrachtete Jugend als einen Wert an sich, der unhinterfragbar und bedingungslos anzunehmen ist.60 Jugend wurde mit Aufbruch, Veränderung und Erneuerung gleichgesetzt. In diesem gesellschaftlichen Prozess beanspruchte die bündische Jugend eine Führungsrolle.61 Doch blieb der Mythos der jungen Generation nicht auf ein jungkonservatives, intellektuelles Spektrum und die Jugendbünde beschränkt. Er erfasste neben außerparlamentarischen Institutionen und Verbänden wie Kirchen, Gewerkschaften oder den Kolonialverbänden auch die Parteienlandschaft. Indem sie sich als ‚Junge Front‘ verstanden, propagierten NSDAP und KPD Jugendlichkeit als immanenten Teil ihres Selbstverständnisses. Auch in den etablierten Parteien fanden die bereits erwähnten Auseinandersetzungen um die Generationenfrage statt. Es dominierte, wie Stambolis feststellt, seit dem letzten Drittel der 1920er Jahre „das Bild einer politischen Landschaft, in der traditionelle richtungspolitische Differenzen zurücktraten gegenüber dem Bemühen, generationenmäßige Fronten aufzubauen und politi-
57 Reulecke 2001a, S. 175. Für die Haltung der Jugendbewegung zum Nationalsozialismus siehe auch von Hellfeld 1987, S. 65-70. 58 Stambolis 2003, S. 20. 59 Böhnisch/Gängler 1991, S. 52. 60 Vgl. Stambolis 2003, S. 23. 61 Vgl. Thamer 2003, S. 276.
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sche Gegner als ‚unjugendlich‘ ins Abseits zu drängen.“62 Im Zuge der Versuche, sich ein möglichst jugendliches Image zu geben, sei es zu einer „Verjugendlichung der Politik“ gekommen.63 Diese Prozesse beeinflussten auch die Jugendarbeit der Kolonialverbände, die sich – wie spätere Kapitel verdeutlichen – gegen Ende der 1920er Jahre zunehmend mit dem Generationenverhältnis beschäftigten und nach Verjüngung strebten. Allerdings waren die Aktivitäten der Kolonialverbände nicht auf die Jugendarbeit beschränkt. Sie war eingebettet in Auseinandersetzungen um die Kolonialfrage in der Weimarer Republik.
1.2 DIE KOLONIALFRAGE IN DER WEIMARER POLITIK Das offizielle Ende des deutschen Kolonialreichs rief in der Weimarer Gesellschaft konträre Reaktionen hervor. 64 Kolonialverbände, Regierungsvertreter, Angehörige fast aller Parteien sowie am Überseehandel beteiligte Firmen und Banken setzten sich in unterschiedlicher Intensität für eine koloniale Revision ein. Hingegen lehnten die KPD und Teile der Sozialdemokratie, linksbürgerliche Intellektuelle65 sowie Vertreter/innen von Gewerkschaften, Frauen- und Friedensbewegung den Rückerwerb der deutschen Kolonien ab. Ebenso wandten sich Teile des ‚völkischen‘ Spektrums dagegen.66 Die zahlreiche Verbände umfassende Kolonialbewegung war mit ihren rund 80.000 Mitgliedern keine Massenbewegung, aber ihr gehörten einflussreiche Vertreter/innen aus Politik, Wirtschaft und Wissenschaft an, die die Forderung nach Kolonien auf der politischen Agenda hielten. Sie arbeitete van Laak zufolge beständig am Ausbau einer „imperialen Infrastruktur als Medium der – imaginären – Erschließung“ der Kolonialgebiete67 und war in der Öffentlichkeit präsenter als kolonialkritische Stimmen. Zum Rückerhalt der Kolonien oder zur Übertragung von Mandaten des Völkerbundes kam es indes nicht. 62 Stambolis 2003, S. 13. 63 Ebd. 64 Dirk van Laak argumentiert, dass „die Kolonien zunächst als Referenzpunkt im deutschen Gedächtnis blieben, ob man die Fortnahme nun für inakzeptabel hielt, den Umstand eher begrüßte oder sich vielmehr flexibel darauf einstellte.“ van Laak 2003, S. 75. 65 Sie beteiligten sich an humanitären und menschenrechtlichen Kampagnen und nahmen in diesem Zusammenhang koloniale Fragen bewusster in den Blick. Vgl. Rosenhaft 2003, S. 289. 66 Schubert 2003, S. 341f. Er verweist auf die Nationalsozialisten Gregor Strasser und Ernst Graf Reventlow, die sich gegen „ausbeuterische[…] Fremdherrschaft“ positionierten, sich dabei aber kaum auf kolonisierte Länder, sondern auf deutsche Minderheiten in anderen Staaten bezogen. Ebd., S. 342. 67 van Laak 2003, S. 75.
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Die Forderung nach kolonialer Revision war Bestandteil genereller Revisionsbestrebungen in der Weimarer Republik, deren Grundlage der Versailler Vertrag bildete. Scharfe Kritik an seinen Bedingungen übten die Kolonialbewegung und die außerparlamentarische politische Rechte insgesamt, aber auch die Weimarer Parteien von links bis rechts, die unterschiedliche Strategien verfolgten. Während Demokratinnen und Demokraten auf seine Veränderung „im Konsens mit den Westmächten“ zielten, richtete die politische Rechte ihre Agitation insbesondere auf „die Diffamierung ihrer inneren Gegner“.68 Der Vertrag schrieb neben dem Verzicht auf die Kolonien u.a. weitere Gebietsabtretungen, hohe Reparationszahlungen sowie die Kriegsschuld Deutschlands und seiner Verbündeten fest und galt – nicht zuletzt in der Bevölkerung – als ‚Schanddiktat‘.69 Die kolonialen Gebietsverluste wurden in der Mantelnote mit Deutschlands mangelnder Kolonisationsfähigkeit und seiner moralischen Schuld, resultierend aus der ihm vorgeworfenen brutalen Behandlung der Kolonialbevölkerung und der Militarisierung der Kolonien, begründet.70 Dafür den Gegenbeweis zu erbringen, erklärte die Kolonialbewegung fortan zu einem ihrer zentralen Agitationsfelder und prägte den Begriff der ‚Kolonialschuldlüge‘. So reihte sich diese „mythische Nachkriegerzählung“, wie Sandra Maß nachzeichnet, neben drei weiteren Mythenbildungen ein, die für die politischen Auseinandersetzungen der Weimarer Republik bedeutsam waren: die unbesiegte Armee, die Dolchstoßlegende und die Kriegsschuldlüge.71 Vor allem rechte Parteien und Gruppen versuchten, die Kriegsniederlage den revolutionären Geschehnissen in Deutschland und insbesondere der Sozialdemokratie zuzuschreiben und so den Niedergang des wilhelminischen Ordnungsgefüges zumindest auf symbolischer Ebene abzuwehren. Auch Gottfried Niedhart argumentiert in Bezug auf die politischen Eliten, „[d]ie Flucht aus der Realität machte diejenigen, die die Träger wilhelminischer Großmachtpolitik gewesen waren, blind für die tatsächlichen sozialen, wirtschaftlichen oder außenpolitischen Erfordernisse.“72 Gleichzeitig blieb im liberalen und sozialdemokratischen Spektrum, wie Maß weiter ausführt, eine eindeutige und wirkmächtige Gegenpositionierung zur Dolchstoßlegende aus. So stand in der Weimarer Republik die Aufarbeitung der Kriegserfahrungen hinter deren Mythisierung zu68 Büttner 2010, S. 129. Sie weist zudem auf die Unterschiedlichkeit in der Wahl der Mittel hin: „Für die Beziehungen der europäischen Staaten und den Frieden in Europa war es von großer Bedeutung, ob sich die deutschen Regierungen bei ihren Bemühungen um die Korrektur des Versailler Vertrags für Kooperation oder für Konfrontation entschieden.“ Ebd., S. 129. 69 Vgl. ausführlicher über die Verhandlungen zum Versailler Vertrag Kolb/Schumann 8
2013, S. 23-36 und Büttner 2010, S. 120-130.
70 Vgl. Speitkamp 2005, S. 156. 71 Maß 2006, S. 49f. 72 Niedhart 21996, S. 47.
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rück.73 Auch für die koloniale Jugendarbeit spielten Mythenbildungen, wie die Studie zeigen wird, eine zentrale Rolle. Zunächst aber interessiert an dieser Stelle, welche Verankerung die Kolonialfrage in der Weimarer Bevölkerung und im Parteienspektrum hatte. In der Bevölkerung stieß die Rückforderung der deutschen Kolonien in den ersten Monaten nach Kriegsende auf breite Zustimmung. Sie drückte sich einerseits im Februar und März 1919 in Massenprotesten in Berlin und Bremen aus, andererseits durch 3,8 Millionen bis April gesammelte Unterschriften gegen den „Raub der Kolonien“. 74 Zudem erhielt der aus Deutsch-Ostafrika zurückgekehrte Offizier Paul von Lettow-Vorbeck bei seiner Parade durch das Brandenburger Tor am 2. März 1919 einen umjubelten Empfang. Er galt als unbesiegt und symbolisierte „die bereits verlorengegangen geglaubte Idee von deutscher Weltmacht“.75 Allerdings gerieten die Kolonien als zurückzugewinnende Territorien bei der Mehrheit der Bevölkerung sukzessive aus dem Bewusstsein.76 In den ersten Nachkriegsjahren waren Deutschlands Prestigeverlust und der Kampf gegen den Versailler Vertrag sowie die von der Kolonialbewegung damit verbundene Forderung nach Kolonialrevision in der Bevölkerung noch weitgehend präsent. Einige Jahre später rückten andere politische Ereignisse wie die Ruhrbesetzung und die wirtschaftliche Konsolidierung in den Vordergrund und ließen den Gedanken an die Rückgewinnung der deutschen Kolonien allmählich verblassen. Diese fehlende politische Unterstützung für die Rückgabe der Kolonien sollte allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass Kolonialismus in der Alltagskultur ein wichtiger Bezugspunkt blieb. Literatur, Filme, Werbung und ‚Völkerschauen‘ präsentierten und manifestieren nicht zuletzt kolonialistische und rassistische Denkweisen.77 Auch die kolonialen Jugendgruppen prägten diese in ihrer Rolle als Propagandaträger mit. Für die Aufrechterhaltung kolonialrevisionistischer Forderungen sorgten Parteien- und Regierungsvertreter, insbesondere die zahlreichen Kolonialvereine. 78 Mit unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen reklamierten sie in ihren Argumentatio73 Vgl. Maß 2006, S. 48f. 74 Rogowski 2003, S. 245. 75 Maß 2006, S. 35. 76 Vgl. van Laak 2005, S. 109. Wolfe Schmokel weist auf ein undatiertes, aber wohl um 1930 verfasstes Memorandum hin, in dem Franz Ritter von Epp anmerkt, dass „die koloniale Frage von Regierung und Volk als drittrangig angesehen werde.“ Schmokel 1967, S. 27. 77 Vgl. dazu u.a. Krobb/Martin 2014, Rogowski 2010, Struck 2010, Nagl 2009, Stahr 2004 und Struck 2003. 78 Der Einfluss von Wirtschafts- und Bankenkreisen nahm in der Kolonialbewegung zum Ende der 1920er Jahre weiter zu. Vgl. Pogge von Strandmann 1983, S. 289 und Rüger 1977, S. 270-275.
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nen sowohl einen „Rechtsanspruch auf ehemaligen Kolonialbesitz“ als auch die „Gleichberechtigung Deutschlands in kolonialen Fragen“.79 Zudem betonten sie die Notwendigkeit eigener Kolonien als Rohstofflieferanten, Absatzmärkte und Siedlungsgebiete, mehr oder weniger ungeachtet bzw. trotz der geringen Bedeutung, die diese bereits während des Kaiserreichs für die deutsche Wirtschaft und Auswanderung hatten.80 Vor der Unterzeichnung des Versailler Vertrages stellten die Parteien mit Ausnahme von KPD und der Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei Deutschlands in der Nationalversammlung am 1. März 1919 einen Konsens über die Wiedereinsetzung Deutschland als Kolonialmacht her. 81 Von diesem blieb Dirk van Laak zufolge bis zur Machtübernahme der Nationalsozialisten „der Affekt gegen Versailles und das Bemühen um Revision“ erhalten. 82 Kontroverse Kolonialdebatten, wie dies noch im Kaiserreich der Fall gewesen war, gab es nach 1919 im Reichstag kaum, dennoch positionierten sich die Parteien fortan nicht einheitlich zur Kolonialfrage und maßen ihr zudem unterschiedliche Bedeutung bei.83 Am energischsten trat die rechtsliberale Deutsche Volkspartei (DVP) für den Kolonialrevisionismus ein, der mit dem ehemaligen Gouverneur von Deutsch-Ostafrika und späteren DKGVorsitzenden Heinrich Schnee einer der wichtigsten Kolonialpropagandisten der Weimarer Republik angehörte. Sein in mehrere Sprachen übersetztes und vom Auswärtigen Amt unterstütztes Buch Die koloniale Schuldlüge von 1924 kann als zentrale Propagandaschrift der Kolonialbewegung betrachtet werden. 84 Zudem erreichte Schnee, dass sich am 8. Mai 1925 Mitglieder aller im Reichstag vertretenen Parteien mit Ausnahme der KPD zu einer Interfraktionellen Kolonialen Vereinigung zusammenschlossen.85 In der linksliberalen Deutschen Demokratischen Partei 79 Speitkamp 2005, S. 161. 80 Zu den verschiedenen Argumenten vgl. ausführlich Nöhre 1998, S. 93-113. 81 Esche 1989, S. 161f. Vorausgegangen war dieser Forderung ein konsensfähiger Antrag, der von je einem Abgeordneten von SPD, Zentrum, DDP, DVP und DNVP unterzeichnet und fast einstimmig angenommen wurde. Vgl. ebd., S. 162. 82 van Laak 2004, S. 203. 83 Sofern nicht anders gekennzeichnet, beziehen sich die folgenden Ausführungen auf Gründer 52004, S. 219-221, Pogge von Strandmann 1983, S. 284f. und Esche 1989, S. 159-199, der eine detaillierte Analyse der Parteienpositionen zur Kolonialfrage vornimmt. 84 Vgl. Pogge von Strandmann 2002, S. 235. Die 12. Auflage von 1940 betrug 50.000 Exemplare und übertraf damit andere kolonialrevisionistische Schriften bei weitem. Vgl. Gründer 52004, S. 220. 85 Der Vorstand bestand aus fünf Abgeordneten: Vorsitzender Bell (Zentrum), letzter Kolonialminister; Dernburg (DDP), früherer Kolonialstaatssekretär; Quessel (SPD), Kolonialschriftsteller; Sachs (DNVP), früherer Pressereferent des Reichskolonialamts; Schnee
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(DDP) nahm die anfängliche Kolonialbegeisterung in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre tendenziell ab. Während sie ihre Forderung nach Kolonialbesitz zunächst mit nationaler Ehre sowie politischer und wirtschaftlicher Gleichberechtigung Deutschlands begründete, diskutierte sie später stärker über die politische und moralische Rechtfertigung von Kolonialbesitz. Neben diesen beiden liberalen Parteien forderte auch die stark antidemokratisch orientierte DNVP deutschen Kolonialbesitz und stellte machtpolitisch-nationalistische Argumentationen in den Vordergrund. Ein eher mäßiges Engagement für koloniale Revision zeigten die beiden katholischen Parteien Zentrum und BVP. Allerdings hatte auch das Zentrum mit Johannes Bell einen ambitionierten Kolonialrevisionisten in seinen Reihen. Zu parteiinternen Kontroversen kam es in der SPD. Ihre große Mehrheit wandte sich zwar gegen kolonialpolitisches Engagement, jedoch standen Parteivorstand und Reichstagsfraktion der Übertragung eines Völkerbundmandates nicht abgeneigt gegenüber. 86 Einige Mitglieder des rechten Flügels unterstützten den Kolonialrevisionismus sogar offensiv. Wenig Interesse an der Rückgewinnung der Kolonien hatten die Deutschvölkische Freiheitspartei87 und die NSDAP, da sie den „klassischen Kolonialismus“ als nicht mehr zeitgemäß ansahen.88 Im Gegensatz zu allen anderen Parteien sprach sich allein die KPD gegen jegliche Formen von Kolonialismus aus. Den Beitritt Deutschlands zum Völkerbund im Jahr 1926 betrachtete sie als „antisowjetische Haltung“ und die Option auf Übernahme eines Kolonialmandates als Einreihen Deutschlands in die Riege der imperialistischen Mächte.89 Die verschiedenen Reichsregierungen hielten über die Zeit der Weimarer Republik an kolonialen Revisionsappellen fest, wenngleich diese bei internationalen Verhandlungen in der Regel hinter durchsetzungsfähigeren Forderungen zurückstanden. Der innerstaatliche koloniale Verwaltungsapparat verschwand nicht, son(DVP), früherer Gouverneur von Deutsch-Ostafrika. Vgl. Heinrich Schnee: Die Interfraktionelle Koloniale Vereinigung, in: Koloniale Rundschau, 16. Jg., 1925, Heft 8, S. 253255, S. 253f. Sie hatte folgendes Ziel: „Allen [Parteien, S.H.] gemeinsam ist das Ziel, den Wiedereintritt in die überseeische Kolonisation zu ermöglichen. Darin stimmen alle in der Vereinigung vertretenen Parteien überein, so groß auch immer in anderen Fragen die Unterschiede zwischen ihnen sein mögen.“ Ebd., S. 253. 86 Vgl. Rüger 1977, S. 253. Auf der Konferenz der Sozialistischen Internationale in Luzern im August 1919 setzte sich der Parteivorstand der SPD mit Erfolg für eine Änderung der 1907 in Stuttgart erlassenen antikolonialen Resolution ein. Die neue Resolution enthielt nunmehr Forderungen zur Reformierung des Kolonialsystems und zur Möglichkeit Deutschlands, Mandate zu erwerben. Vgl. ebd., S. 253f. 87 Sie war im Dezember 1922 aus dem ‚völkisch‘-antisemitischen Flügel der DNVP hervorgegangen. Vgl. Hering 2003, S. 76. 88 Gründer 52004, S. 221. 89 Esche 1989, S. 195.
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dern erfuhr folgende Umstrukturierungen: Das 1920 aufgelöste Reichskolonialamt ging in der im Reichsministerium für Wiederaufbau angesiedelten KolonialZentralverwaltung auf, die nunmehr das Ziel hatte „die Weiterentwicklung der abgetrennten Schutzgebiete, die Entwicklung der kolonialen Frage überhaupt und die Möglichkeit der Wiedererlangung von Kolonialbesitz zu verfolgen.“ 90 Zugleich finanzierte sie einen Teil der Arbeit der Kolonialverbände und leistete für Kolonialunternehmen nicht nur Entschädigungszahlungen, sondern vergab im Zuge der nach und nach wieder einsetzenden Handelsbeziehungen in Kolonialgebieten auch Aufbaudarlehen.91 Unter dem seit 1923 als Außenminister amtierenden DVP-Politiker Gustav Stresemann kam es zur Auflösung der Kolonial-Zentralverwaltung und am 1. April 1924 zur Wiedereinrichtung einer Kolonialabteilung im Auswärtigen Amt. Die von ihm im November bestätigten neuen Richtlinien für die Kolonialpolitik beinhalteten u.a. die Durchführung kolonialer Propagandaaktivitäten in der Bevölkerung sowie das Streben nach wirtschaftlicher und siedlungspolitischer Gleichstellung mit dritten Staaten in den ehemaligen deutschen Kolonien. Auch zukünftige Mandatsübertragungen wurden anvisiert.92 In den folgenden Jahren kooperierten Auswärtiges Amt, das auf internationaler Ebene über deutsche Kolonialinteressen zu verhandeln versuchte, und Kolonialbewegung, die von der Regierung finanziell unterstützt kolonialrevisionistische Öffentlichkeitsarbeit leistete, enger miteinander. 93 Zentraler Akteur war hier die DKG, die sich als ältester und mitgliederstärkster Verein als Sprachrohr der Kolonialbewegung betrachtete. Allerdings zeigte sich schnell, dass Stresemanns realpolitischer Handlungsrahmen in der Außenpolitik begrenzt war, er eine „Politik der kleinen Schritte“ verfolgte.94 Während der Konferenz von Locarno im Oktober 1925 gab er anderen Themen den Vorrang und die europäischen Staaten revidierten lediglich den Vorwurf, Deutschland sei zu angemessener Kolonialpolitik nicht fähig gewesen, qualifizierte es sich doch durch den anvisierten Beitritt zum Völkerbund genauso wie andere Staaten zur Mandatsmacht.95 Die Aufnahme erfolgte am 10. September 1926 und fast genau ein Jahr später die Entsendung eines deutschen Vertreters in die Ständige Mandatskommission. Die Übertragung von Mandaten für Deutschland ergab sich daraus nicht.96 Allerdings erreichte die deutsche Regierung 90 Schreiben von Münch i.V. des Reichsministers für Wiederaufbau an Seitz, 11.6.1920, zit. nach Rüger 1977, S. 255. 91 Vgl. Gründer 52004, S. 217f. und ders. 1999, S. 300. 92 Vgl. Rüger 1977, S. 260. 93 Für die Zeit zwischen 1923 und 1926 vgl. Rüger 1995, S. 453-465. 94 Rogowski 2003, S. 248. 95 Vgl. Rwankote 1985, S. 105. 96 Unterstützt durch das Auswärtige Amt versuchte der deutsche Vertreter in der Mandatskommission zwischen 1928 und 1931 die Pläne Englands zu verhindern, in Ostafrika
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sukzessive die Aufhebung aller Beschränkungen gegenüber der „Betätigung und Niederlassung deutscher Staatsangehöriger und Unternehmen in den Mandaten und Kolonien der Alliierten“.97 Wenngleich sich die pragmatisch orientierte DKGSpitze zunächst weiterhin um die Unterstützung der auf internationale Verständigung gerichteten Politik Stresemanns bemühte und auf diesem Wege mittelfristig auf erneuten Kolonialbesitz hoffte, stieß das Mandatssystem als „Auswuchs des verhassten ‚Versailler Diktats‘“ bei Vertretern der fundamentalen Strömung wie Heinrich Schnee prinzipiell auf Ablehnung.98 So traten seit Mitte der 1920er Jahre innerhalb der Kolonialbewegung Konflikte hinsichtlich der deutschen Außenpolitik zutage. Zudem gestaltete sich die Zusammenarbeit zwischen Kolonialverbänden und Auswärtigem Amt zunehmend schwieriger. 99 Dies hing nicht nur damit zusammen, dass zum Unmut von DKG-Vertretern Stresemann während der Verhandlungen zum Young-Plan 1929 in Paris abermals von kolonialpolitischen Diskussionen bzw. Forderungen absah.100 Im Gegenzug war das dortige Verhalten von Reichsbankpräsident Hjalmar Schacht und Industrieverbandsvertreter Ludwig Kastl für die deutschen Regierungsvertreter problematisch. Ohne Absprache mit dem Auswärtigen Amt hatten sie gefordert, die Zahlung der Reparationen an den Erhalt einer kolonialen Rohstoffbasis zu knüpfen, worauf die britische Regierung mit scharfer Kritik reagierte.101 Mit dem Antritt Heinrich Brünings als Reichskanzler im März 1930 nahm die Außenpolitik einen anderen Kurs auf. Im Unterschied zu seinen Vorgängern versuchte er eine Lockerung der internationalen Beziehungen herbeizuführen, um eine „Closer Union“ durchzusetzen, d.h. die administrative Verschmelzung der britischen Kolonien Uganda und Kenia mit dem Mandatsgebiet Tanganjika. Rüger 1977, S. 269. Deutschland wollte sich damit die Hoffnung auf Übertragung des Mandats erhalten. Die Vereinigung der Gebiete gelang Großbritannien letztlich auf indirektem Weg. Vgl. Rwankote 1985, S. 245. Ausführlich zu den „Closer Union“-Bestrebungen siehe ebd., S. 209-245. 97 98
Gründer 52004, S. 224f. Rogowski 2003, S. 248, der diese Unterteilung in eine pragmatische und eine fundamentale Strömung vornimmt.
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Hartmut Pogge von Strandmann zufolge begann sich die Arbeitsteilung zwischen Kolonialbewegung und Reichsregierung bzw. Auswärtigem Amt nach 1928 zu lockern, nachdem letzteres zwischen 1924 und 1928 in der Kolonialfrage keine außenpolitischen Erfolge hatte erzielen können. Im Frühjahr 1929 kühlte die Zusammenarbeit weiter ab. Vgl. Pogge von Strandmann 1983, S. 288.
100 Vgl. Nöhre 1998, S. 124. Der Young-Plan revidierte die 1924 im Dawesabkommen festgelegten deutschen Reparationszahlungen durch eine Herabsetzung der Zahlungsverpflichtungen. 101 Vgl. Pogge von Strandmann 1983, S. 288 und ders. 2002, S. 235f.
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Deutschland eine unabhängigere Politik, auch in Bezug auf eine koloniale Wiedereinflussnahme zu ermöglichen.102 Zugleich erklärte Außenminister Curtius (19301931), die Forderung nach kolonialer Betätigung bis zu ihrer Erfüllung aufrechtzuhalten. Weder diese noch die Willensbekundungen der 1932 nachfolgenden Franzvon-Papen-Regierung reichten den Kolonialverbänden aus. In Form von Resolutionen, Propagandaschriften und Vorträgen forderten sie die Regierungen weiterhin zu einer offensiveren und entschiedeneren Kolonialpolitik auf.103 Doch auch am Ende der Weimarer Republik behielt die europäische Revision mit den Themen Reparationen, Aufrüstung und besetzte Gebiete vor der überseeischen den Vorrang. „Außenpolitische Erfolge, die auf diesen Gebieten Ende der 20er und zu Beginn der dreißiger Jahre errungen wurden, zeitigten keine kolonialen Nebenerfolge mehr“, so resümiert Adolf Rüger.104 Mit der Machtübernahme der NSDAP richtete sich die imperialistische Expansion dann eindeutig nach Osten. Die Aktivitäten der Kolonialbewegung erschöpften sich keineswegs in der überwiegend von DKG-Spitze und Wirtschaftsvertretern forcierten Einflussnahme auf die außenpolitische Regierungsarbeit. Parallel dazu betrieben die Kolonialvereine, die mit unterschiedlichen Arbeitsfeldern betraut waren – darunter auch die karitative Unterstützung zurückkehrender Siedler/innen aus den Kolonien –, in der Öffentlichkeit kolonialrevisionistische Agitation. Einige hatten ihren Ursprung bereits im Kaiserreich, während andere erst als Reaktion auf den Verlust der deutschen Kolonien entstanden. Die Angehörigen der Kolonialbewegung kamen weiterhin vor allem aus dem Offiziersstand, dem Beamtentum, der Mission, der Siedlerbevölkerung und der Wissenschaft oder waren Vertreter verschiedener Banken und Firmen.105 Sie blieben einem wilhelminischen Großmachtdenken verhaftet, das Joachim Nöhre zufolge insbesondere in der Vorstellung eines „deutsche[n] Sendungsbewusstsein[s]“ und eines gesellschaftlichen „Integrationsfaktor[s]“ seinen Ausdruck fand.106 Kolonialrevisionistische Akteurinnen und Akteure beharrten darauf, Deutschland habe als ‚Kulturnation‘ einen Erziehungsauftrag gegenüber der Menschheit, vor allem gegenüber den noch kolonisierten Ländern, zu erfüllen. Zu102 Vgl. Esche 1989, S. 233-235. 103 Vgl. Rüger 1977, S. 275. 104 Ebd. 105 In Studien ohne geschlechtergeschichtliche Perspektive findet die Beteiligung von Frauen in der Kolonialbewegung kaum Erwähnung. Mittlerweile liegen allerdings einige Arbeiten vor, die das koloniale Engagement von Frauen untersucht und u.a. gezeigt haben, dass diese in der kolonialen Propaganda, aber auch im karitativen Bereich wichtige Funktionen erfüllten. Die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg berücksichtigen Wildenthal 2001 und Venghiattis 2005. Für die Zeit des Kaiserreichs sind vor allem die Studien von Dietrich 2007 und Walgenbach 2005a zu erwähnen. 106 Nöhre 1998, S. 18.
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dem beanspruchten sie für sich, der deutschen Bevölkerung in einer Phase wirtschaftlicher und sozialer Umbrüche über Parteiengegensätze hinweg Orientierungshilfe zu sein bzw. eine Integrationsfunktion zu übernehmen, d.h. sie im gemeinsamen Kampf für die Wiedererlangung der Kolonien zu einen.107 Ebenso blieben Organisationsfragen in der Kolonialbewegung ein Thema. Im September 1922 initiierte die DKG, der die ehemaligen Gouverneure Theodor Seitz (1920-1930) und Heinrich Schnee (1930-1936) als Präsidenten vorstanden, die Gründung der Kolonialen Reichsarbeitsgemeinschaft (Korag). Ziel war die Bündelung und Koordination der kolonialrevisionistischen Vereinstätigkeiten mit dem Anspruch auf die eigene Führungsposition. Zum engeren Kreis der Korag gehörten neben der DKG der Deutsche Kolonialkriegerbund, der sich für die Belange von Kolonialoffizieren und -soldaten einsetzte, die Stiftung Kolonialkriegerdank für bedürftige ehemalige Militärangehörige, der Frauenbund der DKG und der Frauenverein vom Roten Kreuz für Deutsche über See als vornehmlich kulturelle und karitative Verbände, das Kolonialwirtschaftliche Komitee zur Förderung kolonialer Wirtschaftstätigkeit sowie der Deutschnationale Verein zur Unterstützung der Überseesiedlung und die Vereinigung für deutsche Siedlung und Wanderung als Beratungsstelle für Auswanderung.108 Daneben bestanden weitere Wohlfahrtsvereinigungen und akademische Gruppen sowie die verschiedenen kolonialen Jugendgruppierungen,109 die die vorliegende Studie in ihrer Heterogenität und im Spannungsfeld von alter und junger Generation analysiert. Der Versuch der DKG-Spitze, eine geeinte koloniale Bewegung zu schaffen und in der Öffentlichkeit ein entsprechendes Bild zu vermitteln, gelang ihr mit der Gründung der Korag als Dachorganisation nur bedingt. Erstere beeinflusste diese zwar maßgeblich und konnte ihre Führungsposition durchsetzen, jedoch traten der Korag nicht alle Kolonialverbände bei. Insbesondere mit dem seit 1904 bestehenden Deutschen Kolonialverein – Gesellschaft für nationale Siedlungs- und Auslandspolitik (DKV), der neben der Siedlung in Übersee vor allem eine Expansion in den Osten Europas propagierte, stand die DKG in Konkurrenz.110 Zudem zog ihre ambivalente Rolle im neuen parlamentarischen System der Weimarer Republik Joachim Nöhre zufolge Konflikte in der Kolonialbewegung nach sich: „Sie musste mit den Weimarer Regierungen zusammenarbeiten, um die Rückgabe [der deutschen Kolonien, S.H.] unter den damals gegebenen Umständen, nicht unter einem (noch) imaginären ‚starken Staat‘ der Zukunft erreichen zu können, setzte sich dadurch aber der Ge107 Vgl. für beide Aspekte ebd., S. 18-32. 108 Vgl. Esche 1989, S. 99. 109 Eine knapp gehaltene Übersicht der verschiedenen Gruppierungen findet sich bei Schmokel 1967, S. 15-19. 110 Vgl. Nöhre 1998, S. 59 und Schmokel 1967, S. 16f.
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fahr aus, als Gehilfe der ‚Erfüllungspolitiker‘ den Kontakt zu Teilen ihrer Basis zu verlieren und ihre Vorrangstellung in der Kolonialbewegung zu schwächen. Verabschiedete sie sich aber durch innere Emigration aus der Mitarbeit im Weimarer Staat, so musste auch jede Möglichkeit verloren gehen, auf Politik und öffentliche Meinung Einfluß auszuüben.“111
Die bereits skizzierte mehrjährige Zusammenarbeit der DKG-Führung mit den Reichsregierungen lehnten Teile der DKG-Basis und viele Kolonialkriegervereine ebenso ab wie den Versuch, eine breitere Öffentlichkeit einzubinden. Sie wählten vielmehr den Weg der Selbstbezogenheit.112 Ungeachtet dieser Differenzen wirkten alle Kolonialverbände an der kolonialrevisionistischen Propaganda mit. Sie umfasste neben einem umfangreichen Vortragswesen, Filmvorführungen und der Herausgabe einer Vielzahl von Kolonialpublikationen113 auch Ausstellungen, jährliche Kolonialtagungen und regelmäßige Gedenkfeiern. Ebenso fanden Einweihungen kolonialer Denkmäler etwa in Braunschweig, Bremen und Breslau sowie Ausstellungen von Kolonialprodukten auf Handelsmessen statt. Die koloniale Propagandaaktivität durchlief mehrere Stadien. Den verschiedenen prokolonialen Massenkundgebungen unmittelbar nach Ende des Ersten Weltkrieges folgte zunächst eine mehrjährige Konsolidierungsphase der Kolonialbewegung, in der sie nicht zuletzt bedingt durch die Inflation 1922/23 mit finanziellen Problemen konfrontiert war. 114 Den Auftakt für die erneute Intensivierung kolonialrevisionistischer Propaganda markierte der im September 1924 von der Korag durchgeführte Kolonialkongress in Berlin, mit dem sich die Veranstalter/innen zugleich auf den 40 Jahre zurückliegenden Beginn deutscher Kolonialherrschaft bezogen. Danach waren insbesondere außenpolitisch relevante internationale Ereignisse wie die Konferenz von Locarno 1925 Anlass für eine verstärkte Öffentlichkeitsarbeit. Einen Höhepunkt erreichten die Aktivitäten der Kolonialbewegung, so Christian Rogowski, im Vorfeld der Verhandlungen zum Völkerbundbeitritt Deutschlands im September 1926. Mit mehreren hundert Veranstaltungen und Vorträgen, kolonialen Filmvorführungen, ca. 1,5 Millionen Flugblättern sowie Artikelveröffentlichungen in über einhundert Zeitungen versuchte sie die Bevölkerung weiterhin von der Notwendigkeit deutschen Kolonialbesitzes oder zumindest von Kolonialmandaten zu überzeugen.115 Zudem ließ sie Briefklebemarken, koloniale Bildpostkarten, Werbeplakate und Wanderausstel111 Nöhre 1998, 148f. 112 Vgl. ebd., S. 148. 113 Neben unzähligen Zeitschriften wurden einige Standardwerke publiziert, z.B. Heinrich Schnee (Hg.), Deutsches Koloniallexikon, Leipzig 1920, 3 Bände und Hans Zache (Hg.), Das deutsche Kolonialbuch, Leipzig 1926. 114 Vgl. Speitkamp 2005, S. 162. 115 Vgl. Rogowski 2003, S. 247.
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lungen herstellen. Allerdings vermochte sie die Öffentlichkeit kaum auf ihre Seite zu ziehen. Am Beispiel der Anfang August 1926 in Hamburg abgehaltenen Kolonialwoche führt Rogowski dies zurück auf „die in weiten Kreisen als überholt empfundenen imperialen Inhalte und auf eine unzeitgemäße Ästhetik, die ein nunmehr an andere Realitäten und an andere Schau- und Erlebniseffekte gewöhntes Publikum nicht mehr anzusprechen vermochten.“116 Die weiterhin fehlende Verankerung des Kolonialrevisionismus in weiten Teilen der Bevölkerung verdeutlichte die DKG auch selbst in ihrem Allgemeinen deutschen Kolonialprogramm, das sie im Juni 1928 auf der internationalen Presse-Ausstellung Pressa in Köln im Rahmen der Kolonialen Sonderschau vorstellte. Neben der Bekanntgabe der „Einheit der Kolonialbewegung in ihren Methoden und Zielen“ galt es „eine Verständigungsbasis mit den der Kolonialen Bewegung noch fernstehenden deutschen Bevölkerungsschichten und Parteien zu schaffen und eine Verhandlungsunterlage für die Lösung des Kolonialproblems in Gemeinschaft mit dem Auslande herzustellen.“117 Dass sich diese Zielsetzungen nicht erfüllten, zeigen die letzten Jahre der Weimarer Republik. Nach Einschätzung der Korag sei 1929 nur ein Prozent der Bevölkerung kolonialinteressiert gewesen.118 Die auf eine Massenmobilisierung angelegten Propagandaaktivitäten konnten somit als gescheitert gelten. Diese Erkenntnis veränderte auch die Selbstdarstellung der DKG. Sie bezeichnete sich fortan häufiger als „Kampforganisation“, die bei der versuchten Durchsetzung ihrer kolonialrevisionistischen Forderungen auf hohe Mitgliederzahlen verzichten könne. 119 Infolge dieser negativen Bilanz und der wiederholten Enttäuschungen über die zurückhaltenden Kolonialforderungen von Regierungsvertretern bei internationalen Konferenzen wandten sich Angehörige der Kolonialbewegung zunehmend der NSDAP zu. Einer der ersten war Franz Ritter von Epp, Kolonialveteran und ehemaliger Freikorpsführer, der Klaus Hildebrand zufolge schon 1928 mit seinem Eintritt in die NSDAP eine Verbindung zwischen dieser und der Kolonialbewegung herstellte.120 Eine Angleichung der Zielsetzungen von beiden verfolgten seit etwa 1929 auch diverse DKG-Mitglieder wie der Hamburger Exporteur K. Woermann, der seit Mai 1929 zum Vorstand gehörte, der Generalsekretär Erich Duems, der seit Anfang der 1930er Jahre zugleich Verbindungsperson für die Kolonialpfadfinder war, und 116 Ebd., S. 258. 117 DKG-Generalsekretär Duems auf der ordentlichen Mitgliederversammlung der Korag am 22.6.1928 in Köln, zit. nach Rüger 1977, S. 267f. 118 Vgl. Pogge von Strandmann 2002, S. 236. Wie das Ergebnis zustande kam, thematisiert er nicht. 119 Nöhre 1998, S. 64. 120 Vgl. Hildebrand 1969, S. 768. Auch Eduard von Liebert, ehemaliger Gouverneur von Deutsch-Ostafrika und radikalkonservativer Siedlungspolitiker, trat 1929 der NSDAP bei. Vgl. Gründer 52004, S. 225.
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der Referendar H. Ludwig. Sie machten es sich zur Aufgabe, „einerseits die DKG mit den Ideen der neuen revolutionären ‚Bewegung‘ vertraut zu machen und zum anderen die in der nationalsozialistischen Partei organisierten Kräfte für die Ziele der DKG zu gewinnen.“121 Den kontinuierlichen Machtzuwachs der NSDAP beobachtend vollzog die Führungsriege der DKG ab 1932 den Schritt einer organisatorischen, personellen und auch ideologischen Anpassung. Insbesondere das Argument der Notwendigkeit von neuem ‚Lebensraum‘, das in der Kolonialbewegung seit Mitte der 1920er Jahre kontinuierlich bedeutsamer geworden war, bot gegenseitige Anknüpfungsmöglichkeiten im Hinblick auf Siedlungsraum in Übersee und im Osten Europas.122 Während die Kolonialbewegung einerseits mit dem kolonialpolitischen Desinteresse der Mehrheit der Bevölkerung einen Umgang finden musste, so hatte sie andererseits mit einem sich formierenden kolonialkritischen Spektrum eine direkte Gegnerschaft, die hier nicht unerwähnt bleiben soll.123 Dazu gehörte die kommunistisch dominierte Liga gegen koloniale Unterdrückung (LgkU),124 der Deutsche Zweig der Internationalen Frauenliga für Frieden und Freiheit (IFFF) als Teil des radikalen Spektrums der bürgerlichen Frauenbewegung und andere pazifistische Vereinigungen.125 Auch Angehörige von Gewerkschaften sowie humanitär und
121 Hildebrand 1969, S. 173. Er skizziert die Aktivitäten dieser Personen detailliert. Vgl. für Woermann S. 157-166, für Duems S. 166-171 und für Ludwig S. 171-173. In diese Zeit fiel auch der Zusammenschluss der Korag mit dem Arbeitsausschuß deutscher Verbände und dem Bund der Auslandsdeutschen zur Deutschen Arbeitsgemeinschaft, die „zur Herstellung einer starken inneren Front auf den gemeinsamen Gebieten der Kolonialpolitik, Revisionspolitik und des Auslandsdeutschtums“ dienen sollte. Bericht über die Sitzung des Ständigen Ausschusses der Korag am 2.3.1931, zit. nach Rüger 1977, S. 276. 122 Vgl. Maß 2006, S. 54f. 123 Die Darstellung umfasst beispielhaft verschiedene Akteursgruppen und ihre Perspektiven, nicht aber das gesamte kolonialkritische und antikoloniale Spektrum in der Weimarer Republik. 124 Die LgkU entstand im Februar 1926 auf Initiative von Willi Münzenberg und der Internationalen Arbeiterhilfe in Berlin, lokale Gruppen in anderen Städten folgten. Ihr gehörten Anhänger/innen des Kommunismus sowie prominente Pazifistinnen und Pazifisten an. Im Vorstand waren u.a. Fritz Danziger, Georg Ledebour, Otto Lehmann-Rüssbüldt, Willy Münzenberg, General von Schoenaich und Helene Stöcker vertreten. Vgl. o.V.: Liga gegen koloniale Unterdrückung, in: Die Friedens-Warte, 26. Jg., 1926, Nr. 11, S. 372. Zur Entwicklung der LgkU vgl. Martin 2005, S. 261-269 und Lütgemeier-Davin 1982, S. 42-44. 125 Vgl. Heyn 2005, S. 42-45.
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menschenrechtlich engagierte Intellektuelle sammelten sich in diesem Kreis. 126 Sie reagierten damit auf die wiedererstarkenden Propagandaaktivitäten der Kolonialbewegung nach 1924 und stellten zugleich die Legitimation von Kolonialherrschaft mit Blick auf die Emanzipationsbestrebungen in den kolonisierten Ländern infrage. Vor allem in jener Zeit, so Michael Schubert, ließen Kolonialkritiker/innen das Bild eines „‚selbständigen‘ Afrika[s]“ in den kolonialen Diskurs einfließen und konnten auf drei sich international entwickelnde Ideen rekurrieren: „Die Idee des Panafrikanismus, dargelegt auf den seit 1919 existierenden panafrikanischen Kongressen, die international organisierte kommunistische Idee eines ‚Befreiungskampfes‘ entstehender Nationalbewegungen in den ‚unterdrückten Ländern‘, […] und letztlich, die ja prinzipiell von Woodrow Wilson in seinen berühmten ‚Vierzehn Punkten‘ am 8. Januar 1918 dargestellte semantische Annäherung an die Vorstellung eines ‚Selbstbestimmungsrechts‘ der Kolonisierten.“127
Die Positionen der Kolonialkritiker/innen waren keineswegs homogen, sondern variierten von antikolonial, also der grundsätzlichen Ablehnung jeglicher Kolonialherrschaft, bis hin zu reformerisch, d.h. der bedingten Akzeptanz von Kolonialpolitik im Rahmen eines reformierten Mandatssystems des Völkerbundes. Wenngleich kolonialkritische Argumentationen ab Mitte der 1920er Jahre zunahmen, so ist doch unbestreitbar, dass sie über die gesamte Zeit der Weimarer Republik in der Minderheit blieben und sich eine starke antikoloniale Bewegung daraus nicht entwickeln konnte. Abgesehen von der LgkU bestand in der Weimarer Republik keine weitere Vereinigung, die den Kampf gegen Kolonialimperialismus so explizit zu ihrem Hauptanliegen machte. Andere Gruppierungen betrachteten die Auseinandersetzung mit Kolonialismus als einen von mehreren Aspekten ihrer politischen Arbeit. Zu den Zielen der Liga zählte, über Ursache und Wirkung der Kolonialpolitik aufzuklären, Protestaktionen durchzuführen, internationale Kongresse zu veranstalten, sich mit den kolonisierten Gesellschaften solidarisch zu erklären, praktische Hilfe zu leisten und sich schließlich mit ihnen im Kampf gegen den Imperialismus zu vereinen.128
126 Vgl. Klein-Arendt/Heyn 2007, S. 258f. 127 Schubert 2003, S. 333. 128 Vgl. o.V.: Liga gegen koloniale Unterdrückung, in: Die Friedens-Warte, 26. Jg., 1926, Nr. 11, S. 372. Mit diesen Zielen sympathisierten diverse pazifistische Organisationen: die Deutsche Liga für Menschenrechte, die beiden Jugendorganisationen Deutscher Pazifistischer Studentenbund und Bund freier sozialistischer Jugend, aus dem antimilitaristischen Bereich die Gruppe Revolutionärer Pazifisten, aus dem religiösen Spektrum der Bund Religiöser Sozialisten und von den kulturell orientierten Gruppierungen der
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Antikolonial positionierte sich neben dem reformpädagogischen Bund Entschiedener Schulreformer, insbesondere seinem Vorsitzenden Paul Oestreich, der das Argument des ‚Zivilisationsauftrages‘ Europas ad absurdum führte,129 auch die IFFF. Sie lehnte sowohl den Rückerhalt der Kolonien als auch die Übernahme von Mandaten ab und bewertete in ihrer Resolution von Oktober 1925 jede Form von Kolonialpolitik als unterdrückerisches Herrschaftsverhältnis: „Alle bisher erfolgten Kolonisationen dienten lediglich dazu, Länder und Völker im Interesse einiger weniger Machthaber bis zur völligen Erschöpfung auszubeuten; wirtschaftlich, politisch und ethisch zu Grunde zu richten; militärisch zu verseuchen, Kriege und Bürgerkriege scheußlichster Art zu zeitigen.“130
Allerdings stellten nicht alle kolonialkritischen Vereinigungen Ausbeutung, Zerstörung und Krieg ins Zentrum ihrer Auseinandersetzung mit der Kolonialfrage. Wie in der Friedensbewegung geführte Diskussionen zum Mandatssystem zeigen, bestand weitgehend Konsens hinsichtlich der Meinung, dass für erneuten Kolonialbesitz keine Notwendigkeit bestehe, waren doch die deutschen Kolonien weder als Rohstofflieferanten und Absatzgebiete noch als Auswanderungsterritorien bedeutsam gewesen. Nicht wenige Pazifistinnen und Pazifisten waren indes davon überzeugt, dass es Gesellschaften gebe, die ihrer Ansicht nach zur Selbstregierung (noch) nicht fähig seien und der ‚Erziehung‘ durch Menschen aus Europa bedürften. Mit solch einer kulturmissionarischen Prämisse plädierten sie für eine Beteiligung Deutschlands an einem reformierten, auf alle Kolonialgebiete zu übertragenden Mandatssystem.131 Doch blieben auch viele der antikolonialen Kritiker/innen homogenisierenden und klassifizierenden Denkweisen verhaftet, indem sie die Welt in Bund Entschiedener Schulreformer. Vgl. Lütgemeier-Davin 1982, S. 44. Zu den verschiedenen Organisationen vgl. ebd., S. 23-70. 129 Oestreich argumentierte, es sei ein „Wahnwitz zu behaupten, irgendein Stamm auf der Erde brunste nach unserer ‚elterlichen‘ Herrschafts-‚Vormundschaft‘, es ist eine Kühnheit zu verlangen, daß Völker als Erziehungsobjekte sich hergeben sollten, damit der ‚Erzieher‘ zu Verstande komme.“ Paul Oestreich: Sind Kolonien Erzieher zu volklicher Persönlichkeit?, in: Die Neue Erziehung, 9. Jg., 1927, Nr. 6, S. 447-451, S. 451, Herv. i. Org. 130 O.V.: Resolution III (Kolonialfragen), in: Die Friedens-Warte, 25. Jg., 1925, Nr. 11, S. 349. In einer anderen Erklärung der IFFF hieß es: „Kolonisation verletzt in krasser Weise das Selbstbestimmungsrecht der Völker, welches ein Grundrecht der ganzen Menschheit ist.“ Völkerversöhnende Frauenarbeit, V. Teil, 1926-1928, S. 16. 131 Ausführlicher zu dieser Diskussion vgl. Heyn 2005 S. 53-60. Eigene Kolonialmandate für Deutschland forderten hingegen nur wenige Pazifistinnen und Pazifisten. Vgl. ebd., S. 59f.
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‚zivilisierte‘ und ‚primitive‘ Kulturen einteilten und letztere in der Regel als unverdorben und rein betrachteten. Durch diese Romantisierung, die in Abgrenzung zum zivilisiert gesetzten Selbst stattfand, war der Blick auf die realen komplexen Verhältnisse in den kolonisierten Gesellschaften weitgehend verstellt. 132 Dennoch hielten sie an einem für alle Menschen geltenden Gleichheitsanspruch fest und ließen damit kolonialrevisionistische Forderungen nicht unwidersprochen. Die Kolonialbewegung wiederum hatte die kolonialkritischen Debatten im Blick und reagierte mit diffamierenden Kommentaren. Der Kolonialrevisionist Ludwig Scholz sprach den Akteurinnen und Akteuren „koloniale Sachkenntnis“ ab und unterstellte, dass sich ihre Positionen lediglich aus „Behauptungen und Befürchtungen“ speisten.133 Die politische Praxis des kolonialkritischen Spektrums bestand neben Eingaben an Ministerien vor allem aus Kundgebungen, Demonstrationen und anderweitigen Protestaktionen. Auch mit dem Umgang der Kolonialfrage im schulischen Bereich beschäftigten sie sich.134 Darüber hinaus nahmen sie an internationalen Treffen teil, um sich dort gegen kolonialrevisionistische Politik und für die Solidarität mit kolonisierten Ländern auszusprechen. Im Februar 1927 fand in Brüssel der von der LgkU initiierte Kongress gegen koloniale Unterdrückung und Imperialismus statt, auf dem erstmals kommunistische und sozialistische Vertreter/innen, Intellektuelle und Liberale aus Europa mit Delegierten aus Afrika, Asien, Latein- und Südamerika zusammentrafen. Ihr Ziel war die Verbindung internationalistischer und antikolonialistischer Politikansätze und die Gründung einer weltweit agierenden Liga gegen Imperialismus und für nationale Unabhängigkeit. Mit 26 der insgesamt 174 132 Vgl. dazu ebd., S. 49-53. Der bereits erwähnte Reformpädagoge Paul Oestreich war einer der wenigen, der die Beschreibungen von ‚wilden‘, ‚rückständigen‘ und ‚unkultivierten‘ Gesellschaften als Konstruktion entlarvte, die allein zur Legitimation von Kolonisierung gedient hätten. Vgl. ebd., S. 51f. 133 Ludwig Scholz: Deutsche Kolonialgegner, Dresden 1928, S. 7. Er rekurrierte auch auf ein Sonderheft der Europäischen Gespräche, das eine Befragung von Personen der deutschen Öffentlichkeit zur Kolonialpolitik dokumentierte. Unter den 50 Antworten der 200 Befragten blieben kolonialkritische Stimmen in der Minderheit, darunter Professoren und Schriftsteller wie M.J. Bonn, A. Einstein, F.C. Endres, F. Friedensburg, T. Mann und A. Paquet. Die meisten dieser Kolonialkritiker/innen bejahten die Frage nach einem mit anderen europäischen Mächten gleichberechtigten wirtschaftlichen Zugang Deutschlands zu bestehenden Kolonial- und Mandatsgebieten, sie sprachen sich aber alle dagegen aus, selbige für Deutschland zurückzufordern. Sie argumentierten u.a. mit Kriegs- und außenpolitischen Risiken, mit dem nahenden Ende des Kolonialzeitalters und dem Vorteil einer ‚neutralen‘ Position Deutschlands als Nichtkolonialmacht. Vgl. Europäische Gespräche, 4. Jg., 1927, Nr. 12, S. 609-676, besonders S. 616f., S. 626-628, S. 631-633, S. 652, S. 657-659. 134 Dieser Aspekt wird im Abschnitt 2.3 ausführlicher beleuchtet.
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Teilnehmenden bildete die deutsche die stärkste Delegation.135 Ein zweiter antiimperialistischer Weltkongress tagte im Juli 1929 in Frankfurt am Main, wo es zu gravierenden Auseinandersetzungen über politische Inhalte und Formen kam. Austritte bzw. Ausschlüsse führender Repräsentantinnen und Repräsentanten der Liga folgten, sodass nicht mehr alle antikolonialen Kräfte weltweit in der Liga vertreten waren. Sie löste sich im Mai 1937 auf.136 Am Kampf gegen koloniale Unterdrückung beteiligten sich ebenfalls in Deutschland lebende Afrikaner/innen und Afrodeutsche. Organisatorischen Ausdruck fand dieser u.a. in der 1929 in Berlin gegründeten Liga zur Verteidigung der ‚Negerrasse‘, deren französisches Pendant bereits seit 1926 existierte.137 Seit Anfang der 1930er Jahre nahmen kolonialkritische Äußerungen und Aktivitäten ab. Interne politische Spaltungen und erfolglose Gründungsversuche weltweiter antikolonialer Organisationen einerseits, die sich zuspitzende innenpolitische Situation in Deutschland andererseits, schienen die Kolonialfrage in den Hintergrund treten zu lassen. In den ersten Jahren des nationalsozialistischen Regimes kamen internationale Verständigungsprozesse und das Eintreten für weltweite Solidarität schließlich zum Erliegen. Wie diese Zusammenschau von Kolonialbewegung und kolonialkritischem Spektrum verdeutlicht hat, war die Kolonialfrage in der Weimarer Republik ein virulentes Thema, bei dem kolonialkritische Stimmen allerdings in der Minderheit blieben. Zwischen den beiden Lagern gab es fließende Übergänge, wie sich an der Friedensbewegung zeigen ließ, aber dies sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich ihre politischen Anliegen deutlich unterschieden. Während die Kolonialbewegung auf den Nationalstaat ausgerichtet war und versuchte, den früheren Status von Deutschland als Weltmacht wiederherzustellen, verorteten sich die Kolonialkritiker/innen in einem internationalen Netzwerk, welches menschenrechtliche und humanitäre Fragen sowie staatenübergreifende Solidarität in den Mittelpunkt seiner Arbeit stellte. Über die Zeit der Weimarer Republik veränderte sich der gesellschaftliche Stellenwert der Kolonialfrage. Das Interesse an den Kolonien ließ in der Bevölkerung sukzessive nach, andere Themen rückten in den Vordergrund. Dennoch hielt die Kolonialbewegung an ihrer Forderung nach Kolonialrevision fest und veranstaltete kontinuierlich propagandistische Aktivitäten. Die Kolonialfrage war eingebettet in einen breiteren revisionistischen Diskurs und wurde von 135 Vgl. Liga gegen Imperialismus und für nationale Unabhängigkeit (Hg.), Das Flammenzeichen vom Palais Egmont, Berlin 1927, S. 229 und S. 239f. Die deutsche Delegation repräsentierte u.a. die IFFF, die Deutsche Liga für Menschenrechte und den Bund religiöser Sozialisten. 136 Zum Kongress in Brüssel und zur Entwicklung der dort gegründeten Liga vgl. Piazza 1987, S. 6-43 und Dinkel 2012. 137 Vgl. Aitken/Rosenhaft 2005, S. 270-276.
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Kolonialverbänden benutzt, um Großmachtvorstellungen aufrechtzuerhalten. Zum Ende der 1920er Jahre hatte das Argument der Notwendigkeit von neuem ‚Lebensraum‘ zentrale Bedeutung erlangt und die Kolonialakteurinnen und -akteure versuchten zunehmend, die raumfordernden Zielsetzungen von NSDAP und Kolonialbewegung anzugleichen. Je mehr die Kolonialfrage in der breiteren Öffentlichkeit auf Desinteresse stieß, desto intensiver richteten sich Kolonialverbände damit an die junge Generation. Die Kolonialbewegung forcierte nicht nur kolonialrevisionistisch-propagandistische Aktivitäten, sondern beteiligte sich auch daran, ‚weißen‘ deutschen Siedlernachkommen aus Südwestafrika Bildungsaufenthalte in Deutschland zu ermöglichen. Wie sich die politischen Bedingungen der deutschen Siedlerbevölkerung unter Mandatsverwaltung gestalteten, skizziert der folgende Abschnitt.
1.3 DIE DEUTSCHE SIEDLERBEVÖLKERUNG IM MANDATSGEBIET SÜDWESTAFRIKA Im Jahr 1884 wurde Deutsch-Südwestafrika zum ‚Schutzgebiet‘ des Deutschen Reiches erklärt und sollte sich nach Ansicht der Kolonialakteurinnen und -akteure zu einem „zweiten Deutschland“ entwickeln.138 In diesem Prozess entstanden idealtypische Vorstellungen von den zukünftigen Siedlerinnen und Siedlern und der Gestaltung ihres Lebens in der Kolonie. Zentrale Bedeutung für die Umsetzung dieses ‚zweiten Deutschlands‘ wurde der Manifestation ‚deutscher Kultur‘ zugewiesen, die die Siedler/innen zu repräsentieren hatten. Diese ‚Anforderungen‘ stellten sie allerdings insofern infrage, als sie die damit einhergehenden normativen Ordnungsvorstellungen entlang der Kategorien ‚Rasse‘, Geschlecht und Klasse in unterschiedlicher und vielfältiger Weise überschritten.139 Die beabsichtigte Entstehung eines homogenen ‚weißen‘ deutschen Siedlerkollektivs blieb somit eine Illusion. Nach etwas über 30 Jahren kam die Kolonialherrschaft in Deutsch-Südwestafrika schließlich zu ihrem Ende. Am 9. Juli 1915 kapitulierten die deutschen Militärs, die unter dem Befehl von Gouverneur Theodor Seitz standen, vor der südafrikanischen Armee, die von General Louis Botha geführt wurde. Infolgedessen begann eine südafrikanische Besatzungsverwaltung. 140 Diese Übergangsphase endete mit der Unterzeichnung des Versailler Vertrages am 28. Juni 1919, in dem festgeschrieben wurde, die Südwestafrikanische Union als Mandatar für Südwestafrika
138 Kundrus 2003b, S. 8. 139 Vgl. u.a. die Publikation von Walgenbach 2005a. 140 Vgl. Gründer 52004, S. 127.
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einzusetzen.141 Die nachfolgenden Ausführungen basieren vor allem auf den einschlägigen Studien von Martin Eberhardt und Daniel Joseph Walther zur deutschen Siedlerbevölkerung unter Mandatsherrschaft in den 1920er und 1930er Jahren. Für die deutsche Siedlerbevölkerung hatte das Einsetzen der Mandatsverwaltung unmittelbare, existenzielle Konsequenzen, indem die Südwestafrikanische Union von dem in Artikel 22 des Versailler Vertrags festgelegten Recht Gebrauch machte, Angehörige des ‚Feindstaates‘ auszuweisen. Zwischen April und November 1919 mussten insgesamt 6374 deutsche Staatsangehörige das Land verlassen, von denen 1433 freiwillig gingen.142 Die Ausweisungen fanden nach der Zugehörigkeit zu fünf verschiedenen Klassen statt: Militärs mit Angehörigen (Klasse A), Beamte und Angestellte des deutschen Gouvernements mit Angehörigen (Klasse B), Beamte der Polizei mit Angehörigen (Klasse C), freiwillig Zurückkehrende (Klasse D) und schließlich sogenannte unerwünschte Personen (Klasse E). 143 So verblieben zunächst rund 6000 Deutsche in Südwestafrika, zu denen vor allem Farmer/innen, Beschäftigte der Minengesellschaften, Handwerker und Geschäftsleute gehörten. 144 Allerdings wuchs ihre Anzahl bereits in den nächsten Jahren wieder an, da Administrator Gysbert Reitz Hofmeyr den zuvor Ausgewiesenen auf besonderen Antrag und nach Einzelfallprüfung eine Wiedereinreise ermöglichte. 141 Südwestafrika wurde zum C-Mandat erklärt. Es gab A-, B- und C-Mandate, die wie folgt definiert wurden: Zu A-Mandaten gehörten solche Gebiete, deren Unabhängigkeit absehbar war. Die Mandatsmacht kontrollierte die Verwaltung, Militär- und Außenpolitik, verwaltete das Gebiet jedoch nicht unmittelbar. So genannte „minder entwickelte“ Regionen wurden den B-Mandaten zugeteilt, die der direkten Verwaltung eines Mandatars unterlagen. Folgende Bedingungen mussten eingehalten werden: Garantie der Gewissens- und Religionsfreiheit, Verhinderung von Sklaven- und Alkoholhandel, Unterlassung der Errichtung von Befestigungen oder von Heeres- und Flottenstützpunkten und der militärischen Ausbildung der Kolonisierten sowie die Gewährleistung des Handels anderer Völkerbundmitglieder im Mandatsgebiet. Die dritte Kategorie der CMandate war für sogenannte „am wenigsten entwickelte“ Gebiete vorgesehen. Es galten die gleichen Bedingungen wie für die B-Mandate, sie konnten aber zudem in die Gesetzgebung und Verwaltung des Mandatars eingegliedert werden. Fischer 2001, S. 198f. 142 Vgl. Eberhardt 2007, S. 61. Der von Eberhardt angegebene Zeitraum weicht von der Angabe bei Werner Bertelsmann ab, der sich auf die gleiche Quelle bezieht, jedoch eine Zeitspanne vom 11.11.1918 bis zum 28.6.1919 für die Ausweisungen angibt. Vgl. Bertelsmann 1979, S. 15. 143 Vgl. Eberhardt 2007, S. 61. 144 Als Gründe, warum von der Repatriierung nur die Hälfte der deutschen Siedlerbevölkerung betroffen war, vermutet Eberhardt vor allem, dass die in Südwestafrika verbliebenen Deutschen als ökonomische Stütze und als „Puffer“ gegen die ‚schwarzen‘ Bevölkerungsgruppen fungieren sollten. Ebd., S. 61f.
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Solch eine Erlaubnis erhielten im Jahr 1921 insgesamt 1184 Personen, darunter hauptsächlich Missionare, Lehrer und Landbesitzer, im Folgejahr waren es 247 Personen.145 Dies deutet zum einen darauf hin, dass die Mandatsverwaltung durchaus an einem kooperativen Verhältnis mit der deutschen Bevölkerung interessiert war. Zum anderen wird offensichtlich, dass es sich bei ihr nicht um eine homogene Gruppe handelte. Sie unterschied sich nach Beruf, Einkommen und der regionalen Herkunft aus Deutschland,146 zudem nach Besitzstand, Geschlecht und Alter. Es gab nicht den einen „deutschen Standpunkt“, der sowohl von historischen Akteurinnen und Akteuren propagiert als auch in der Forschungsliteratur teilweise zugrunde gelegt wurde.147 Vielmehr entstanden interne Interessenkonflikte, die nicht zuletzt damit zusammenhingen, dass sich die deutsche Siedlerbevölkerung unter den neuen politischen Rahmenbedingungen mit ihrem zukünftigen gesellschaftlichen Status auseinandersetzen musste. Sie sei von ‚Herrschenden‘ zu ‚Beherrschten‘ geworden, konstatiert Walther. 148 Dem lässt sich insofern zustimmen, als sie nicht mehr die Regierungsmacht inne hatte und die neue Mandatsverwaltung zudem weitere Maßnahmen zu ihrer Entmachtung durchführte. Im Jahr 1920 wurden beispielsweise der Landesrat und die Bezirksräte aufgelöst und das deutsche durch das römisch-holländische Rechtssystem ersetzt.149 Allerdings ist ebenfalls zu berücksichtigen, dass zum einen diese Art von ‚Beherrschtsein‘ nicht mit der Kolonisierung der lokalen afrikanischen Bevölkerung gleichzusetzen ist und eine hierarchische Trennung zwischen ‚weißer‘ und ‚schwarzer‘ Bevölkerung nach wie vor aufrechterhalten werden sollte. Zum anderen ließen Interessengruppen der deutschen Siedlerbevölkerung, u.a. die Schulvereine, ihren Machtverlust von Beginn an nicht unwidersprochen. Sie strebten nach Autonomie und Selbstbehauptung, indem sie den Erhalt ihrer „Sprache, Schulen und Traditionen“ forderten,150 und wollten mit allen Mitteln eine mögliche zukünftige Annexion Südwestafrikas durch die Südafrikanische Union verhindern. Als mittelbares Ziel verfolgten sie die Wiederinbesitznahme des Landes als zum deutschen Reich gehörendes Territorium. Ihre Handlungen bewegten sich in einem Spannungsfeld der Abwehr jeglicher Kooperation und des eher pragmatischen Umgangs mit der Mandatsverwaltung. Auseinandersetzungen um ihre politischen Partizipationsmöglichkeiten berührten Fragen der Staatsangehörigkeit und der kulturellen Autonomie. 145 Vgl. ebd., S. 71. Die von Eberhardt benutzte männliche Schreibweise wird hier übernommen. 146 Vgl. ebd., S. 23. 147 Ebd., S. 25. 148 Vgl. Walther 2002, S. 3. 149 Vgl. Eberhardt 2007, S. 60f. 150 Ebd., S. 64.
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Am 12. Oktober 1920 setzte Premierminister Jan Christiaan Smuts die nach ihrem Vorsitzenden benannte De-Wet-Kommission ein, um zu klären, wie sich die Verwaltung Südwestafrikas nach den im Versailler Vertrag zugrunde gelegten Auflagen gestalten und inwiefern die politische Partizipation der deutschen Siedlerbevölkerung umgesetzt werden sollte. Auf Empfehlung der Kommission wurde einige Zeit später das Advisory Council (Landesbeirat) gebildet, das den amtierenden Administrator Hofmeyr in wichtigen Angelegenheiten beriet und dem auch drei Deutsche angehörten.151 Die Frage nach Bürgerrechten und der zukünftigen Staatsangehörigkeit der deutschen Siedlerbevölkerung war ein von Konflikten durchzogenes Feld, das ihre heterogenen und konträren Positionen besonders zum Ausdruck brachte. Während Angehörige der deutschen Siedlerbevölkerung ein ‚Mandatsbürgerrecht‘ zur Sicherung von Wahl- und Mitspracherechten vorschlugen, setzte die Südafrikanische Union für die Gewährung dieser Rechte die Naturalisation und damit die Verleihung der britisch-südwestafrikanischen Staatsangehörigkeit voraus. Eine Resolution des Advisory Council vom 11. Dezember 1922 schlug dies als kollektiven Akt vor und löste damit langwierige Auseinandersetzungen aus, an denen nunmehr auch die Regierung in Deutschland beteiligt war. Sie kreisten vor allem darum, wie die deutsche Siedlerbevölkerung möglichst selbstständig bleiben und sich von südafrikanischen Einflüssen abgrenzen könne. Schließlich schlossen am 23. Oktober 1923 Smuts und zwei Vertreter der deutschen Regierung, de Haas vom Auswärtigen Amt und Geheimrat Julius Ruppel vom Reichsministerium für Wiederaufbau, das so bezeichnete Londoner Abkommen ab.152 Es enthielt u.a. die Verpflichtung der Regierung in Deutschland, der deutschen Siedlerbevölkerung in Südwestafrika die Einbürgerung zu empfehlen, und ein Memorandum der südafrikanischen Regierung mit der Zusage, sie „mit den vollen Bürgerrechten auszustatten, das südafrikanische Einwanderungsgesetz im Mandatsgebiet einzuführen und deutschen Einwanderern keine Schwierigkeiten zu machen, den Gebrauch der deutschen Sprache im Umgang mit der Verwaltung zuzulassen und vom Amtsblatt deutschsprachige Ausgaben herstellen zu lassen, die deutschen Realschulen in Windhuk und Swakopmund zwei Jahre lang finanziell zu unterstützen, die Arbeit der deutschen Kirchen und Missionsgesellschaften zu fördern, die Pensionsansprüche aus der deutschen Kolonialzeit zu übernehmen, Deutsche für dreißig Jahre nicht zum Wehrdienst heranzuziehen, deutsche Vertreter an der Verwaltung von Landamt und Landwirtschaftsbank zu beteiligen, den deutschen landwirtschaftlichen Genossenschaften unter die Arme zu greifen und die südafrikanische Arbeiterunfallversicherung auf das Mandatsgebiet auszudehnen.“ 153 151 Vgl. ebd., S. 69f. 152 Zu den Details über die Auseinandersetzungen bis zur Unterzeichnung des Abkommens vgl. ebd., S. 99-105. 153 Ebd., S. 106
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Mit diesen Zugeständnissen war, so resümiert Eberhardt, die „kulturelle Eigenständigkeit“ der deutschen Siedlerbevölkerung gestärkt und das „politische Mitspracherecht“ gesichert, welches allerdings an die Annahme der britisch-südwestafrikanischen Staatsangehörigkeit gekoppelt war und so der Südafrikanischen Union ihre politische Kontrolle sicherte.154 Die Reaktion einer 13-köpfigen Delegation der deutschen Siedlerbevölkerung – darunter Generalkonsul Haug und Dr. Franz als deutscher Vertreter in Windhoek –, die Smuts erst im Januar 1924 in Pretoria über das Abkommen informierte, war reserviert und von einer Billigung weit entfernt. Dies hing vor allem mit der Nichtanerkennung von Deutsch als offizieller Amtssprache und der vorgeschlagenen kollektiven Einbürgerung zusammen. Trotzdem trat am 15. September 1924 der South West Africa Naturalization of Aliens Act in Kraft, nach dem diejenigen Bürger/innen eines ehemaligen ‚Feindstaates‘ automatisch eingebürgert wurden, deren Wohnsitz zwischen 1. Januar und 15. September 1924 in Südwestafrika lag und die bis zum 15. März 1925 keinen Widerspruch erhoben hatten. Dies führte innerhalb der deutschen Siedlerbevölkerung zu drei verschiedenen Positionen, die Eberhardt zufolge eng mit der jeweiligen wirtschaftlichen Lage zusammenhingen. Eine kategorische Ablehnung der Naturalisierung erfolgte überwiegend von Farmerfamilien, die seit Beginn der Mandatsverwaltung mit südafrikanischen Viehproduzenten konkurrieren mussten und in starke ökonomische Bedrängnis gerieten. Für eine Annahme traten vor allem das städtische Bürgertum und ein Teil der Kaufleute ein, vorbehaltlich weiterer Kompromisse bezüglich der Themen Einwanderung, Schulsituation und künftige Selbstverwaltung. Schließlich erklärte sich insbesondere ein anderer Teil der Kaufleute mit Verweis auf den daraus folgenden Nutzen zur Einbürgerung bereit. 155 Das Ergebnis war, dass sich dennoch etwas über 3200 Deutsche, also circa 92,5 Prozent der betroffenen Personen naturalisieren ließen.156 Sie erkannten, dass sie ihre politische Mitsprache, die sie zur Abwehr von Annexionsbestrebungen seitens der Südafrikanischen Union benötigten, nur auf diesem Wege sichern konnten. Die ablehnende Haltung gegenüber dem Londoner Abkommen blieb jedoch bestehen. Im Anschluss an den Naturalisierungsprozess wurde mit der Verabschiedung des South West Africa Constitution Act im August 1925 eine Verfassung eingeführt. Sie ermöglichte eine eingeschränkte Selbstverwaltung Südwestafrikas, beließ die entscheidenden Befugnisse allerdings bei der Mandatsverwaltung. Fortan gab es eine aus 18 Abgeordneten bestehende gesetzgebende Versammlung, von der deutschen Siedlerbevölkerung auch Landesrat genannt, von denen zwölf Personen nach 154 Ebd. sowie für die nachfolgenden Ausführungen ebd., S. 108-116. 155 Vgl. ebd., S. 113f. 156 Die Angaben zur exakten Anzahl der Naturalisierten divergieren. Während der Jahresbericht des Administrators 3228 von 3489 betroffenen Personen angibt, wird in der Official Gazette of South West Africa die Zahl 3211 genannt. Vgl. ebd., S. 115.
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Mehrheitswahlrecht gewählt, die weiteren sechs vom Administrator benannt wurden.157 Die ersten Landratswahlen im Mai 1926 konnten die deutschen Kandidaten für sich entscheiden, allerdings stellte der Administrator mit der Vergabe der weiteren sechs Plätze ein ausgeglichenes Verhältnis zwischen deutschen und südafrikanischen Abgeordneten her. Jeweils mit Niederlagen für die deutschen Repräsentanten endeten die zweite und die dritte Wahl in den Jahren 1929 und 1934, wobei 1934 ohnehin nur noch zwei deutsche Kandidaten angetreten waren.158 Der Naturalisierungsprozess brachte Abgrenzungsbestrebungen der deutschen Bevölkerungsgruppe gegenüber der südafrikanischen Mandatsverwaltung nicht zum Erliegen. Bereits am 3. September 1924 hatten in Windhoek verschiedene Vereine den Deutschen Bund gegründet, der sich mit der Verabschiedung seiner Satzung im April 1925 in Deutscher Bund für Südwestafrika umbenannte. Er verstand sich als „über allen Parteien stehende Vereinigung von deutschen Körperschaften und Einzelpersonen, welche sich die Pflege und Vertretung aller deutschen kulturellen Bestrebungen zum Ziel gesetzt hat.“159 Wie dieses Selbstverständnis zunächst nahelegt, entwickelte sich der Deutsche Bund, der ein heterogenes Spektrum wie Schulvereine, Turnvereine oder Repräsentanten der Farmer umfasste, in den Folgejahren nicht zum Sprachrohr für die gesamte deutsche Siedlerbevölkerung. Insbesondere sein erster Vorsitzender Fritz Brenner verfolgte eine kompromisslose Strategie und entfachte diverse Konflikte, die zur Aufkündigung der Zusammenarbeit von Einzelpersonen und Vereinen führten und Forderungen nach strukturellen Veränderungen seitens verschiedener Vereine mit sich brachten. In Brenners bis 1928 andauernder Ära hatte Eberhardt zufolge die Spaltung innerhalb der deutschen Siedlerbevölkerung einen Höhepunkt erreicht.160 Diese fand auch darin ihren Ausdruck, dass im April 1925 diejenigen, die sich gegen die Naturalisation entschieden hatten, den Verband der Reichsdeutschen gründeten. Mit Paul Barth als ehrenamtlichem Geschäftsführer wollten sie ihre Interessen unabhängig vom Deutschen Bund vertreten. Etwa zwei Jahre später verlor der Verband nicht zuletzt aus Geldmangel an Bedeutung, trat dem Deutschen Bund bei und löste sich auf.161 Unter dem seit Februar 1928 amtierenden Vorsitzenden Albert Voigts entspannten sich die Konflikte innerhalb der deutschen Siedlerbevölkerung wieder mehr. Über einige Jahre hielt der Deutsche Bund daran fest, eine Kulturorganisation zu sein, agierte aber immer stärker im politischen Feld. Er bereitete die jeweiligen 157 Vgl. Bertelsmann 1979, S. 40f. 158 Vgl. ebd., S. 43f. 159 Verhandlungen einer Zusammenkunft über die deutschen Vereine Südwestafrikas am 3.9.1924, zit. nach Eberhardt 2007, S. 155. 160 Vgl. ebd., S. 162. Ausführlich zur Geschichte und den Konflikten des Deutschen Bundes vgl. ebd., S. 153-190 und Walther 2002, S. 158-164. 161 Vgl. Walther 2002, S. 123 und S. 159.
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Landratswahlen vor und führte mit der Mandatsverwaltung Verhandlungen in der Sprach- und Bürgerrechtsfrage.162 Eberhardt konstatiert, dass er sich zu einer Partei entwickelte, ohne aber bis 1933 die notwendigen Parteistrukturen für eine erfolgreiche Zusammenarbeit mit der Basis geschaffen zu haben.163 Zudem kommt er zu dem Schluss, dass der Deutsche Bund maßgeblich die „völlige Ethnisierung der politischen Auseinandersetzung“ zu verantworten hatte, indem er sich einer engeren kooperativen Zusammenarbeit mit südafrikanischen Repräsentanten weitgehend verweigerte.164 Am 27. Juni 1937 löste er sich auf.165 Neben dem Kampf um politische Teilhabe und der Forderung nach weiterreichenden Rechten im Mandatsgebiet strebten deutsche Siedler/innen nach kultureller Autonomie. Deutschland diente ihnen als mentaler und materieller Referenzrahmen. Von dort erhielten sie finanzielle Unterstützung,166 lehnten aber die neu entstandene Weimarer Demokratie und daraus resultierende Veränderungsprozesse tendenziell ab.167 Sie entwickelten ein reges Vereinsleben168 und veranstalteten regelmäßig Feste und Gedenkfeiern – beispielsweise zu Hindenburgs Geburtstag –, die in der Regel von militärischen Ritualen und Zeremoniellen begleitet waren. Im Zuge ihrer kulturellen Autonomiebestrebungen legten sie ein besonderes Augenmerk auf die Sozialisation der heranwachsenden Generation, betrachteten sie diese doch als zukünftige deutsche ‚Kulturträger/innen‘ für Südwestafrika. Gemeinsam mit Kolonialverbänden aus Deutschland setzten sie sich für den Erhalt der deutschen Schulen im Mandatsgebiet und die Durchführung von Bildungsaufenthalten für Siedlernachkommen in Deutschland ein. Mittels der Analyse dieser grenzüberschreitenden Zusammenarbeit wird die Studie die bestehenden Verbindungen zwischen ehemaliger Kolonie und Metropole konkretisieren sowie die unterschiedlichen Interessenlagen innerhalb der deutschen Siedlerbevölkerung, die sich bereits hinsichtlich des Naturalisierungsprozesses und der Ausrichtung des Deutschen Bundes offenbarten, in weiteren Facetten verdeutlichen. Die folgenden Kapitel widmen sich zunächst der Jugendarbeit von Kolonialverbänden sowie den propagandistischen Aktivitäten und kollektiven Selbstentwürfen kolonialbewegter Jugendgruppen.
162 Vgl. ebd., S. 159f. 163 Vgl. Eberhardt 2007, S. 235f. 164 Ebd., S. 190. 165 Vgl. Bertelsmann 1979, S. 63. 166 Vgl. Eberhardt 2007, S. 127. 167 Einschränkend bemerkt Eberhardt, dass es rückblickend schwer sei, genaue Aussagen über die Einstellung der deutschen Siedlerbevölkerung zur Weimarer Republik zu treffen. Vgl. ebd., S. 121. 168 Vgl. Rüdiger 1993, S. 11.
2. Die junge Generation als Zielgruppe der Kolonialbewegung
Um ihre Forderung nach kolonialer Revision zu untermauern, verfolgte die Kolonialbewegung seit 1919 beharrlich das Ziel, die deutsche Bevölkerung von der Notwendigkeit deutschen Kolonialbesitzes zu überzeugen. Als eine ihrer wichtigsten Zielgruppen betrachtete sie in diesem Prozess zunehmend die junge Generation, die die Kontinuität kolonialer Forderungen gewährleisten sollte.1 Mit der beabsichtigten Gewinnung Jugendlicher und junger Erwachsener im Alter von etwa zehn bis 25 Jahren für die eigenen Interessen stand die Kolonialbewegung nicht allein. Sie konkurrierte mit Parteien, Kirchen und Gewerkschaften ebenso wie mit Sportverbänden, Wehrvereinen und Frauenorganisationen, die sich auch mit der ‚Jugendfrage‘ beschäftigten und Heranwachsende in Jugendverbänden zu organisieren versuchten.2 Das Kapitel analysiert, wie sich die Jugendarbeit der Kolonialbewegung entwickelte und welche Bedeutung sie für diese hatte. Es wird sich zeigen, dass ihre kolonialrevisionistischen Bestrebungen in der jungen Generation nur bedingt mobilisierungsfähig waren. Der erste Teil ist organisationsgeschichtlich ausgerichtet, skizziert die verschiedenen Phasen der kolonialen Jugendarbeit und stellt die jeweils beteiligten, auch miteinander konkurrierenden Akteursgruppen vor. Es folgt eine Analyse der kolonialen ‚Jugendfrage‘, die sich mit den Hoffnungen und Erwartungshorizonten der Kolonialverbände an die junge Generation beschäftigt. Der dritte Abschnitt beleuchtet die Einflussnahme auf die Institution Schule, die die Kolonialvereine als ein zentrales Handlungsfeld in ihrem Aufgabenspektrum betrachteten. 1
Gleichzeitig setzte sich die Kolonialbewegung mit der Integration der Arbeiterschaft auseinander. Dazu kam es jedoch nicht, denn „[d]as Ideal der Überparteilichkeit und das praktische Ziel der Masseneinbindung scheiterten an den Widerständen innerhalb der Kolonialgesellschaft und an gegenseitigem Mißtrauen von DKG-Klientel und Arbeiterschaft.“ Nöhre 1998, S. 78 und S. 66-78.
2
Vgl. ausführlicher Abschnitt 1.1.
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2.1 DIE ENTWICKLUNG UND STRUKTUR DER KOLONIALEN JUGENDARBEIT Bereits während des Kaiserreichs war eine koloniale Kinder- und Jugendkultur entstanden. Sie drückte sich durch koloniale Spielwaren und die Thematisierung der Kolonien im Schul-, insbesondere im Geografieunterricht aus, ebenso durch die Publikation zahlreicher Kolonial- und Abenteuergeschichten und die Gründung der Pfadfinder.3 Einer dauerhaften Auseinandersetzung über die Gestaltung kolonialer Jugendarbeit und dem daraus resultierenden Aufbau einer kolonialen Jugendbewegung nahm sich die Kolonialbewegung erst infolge der beendeten Kolonialherrschaft an.4 Seit den Anfangsmonaten des Jahres 1919 richtete sie ihre Jugendarbeit auf zwei sich ergänzende Arbeitsbereiche: die Einflussnahme auf die Institution Schule und die Gründung von (außer-)schulischen Jugendgruppen. Neben der DKG als einflussreichstem Verband beteiligten sich daran der Deutsche Kolonialkriegerbund, der Deutsche Kolonialverein, der Bund der Kolonialfreunde und der Frauenbund der DKG.5 Zudem bestand seit 1928 der in seiner Organisationsstruktur eigenständige Bund Deutscher Kolonialpfadfinder, der eng mit der DKG kooperierte. Die Entwicklung der kolonialen Jugendarbeit in der Weimarer Republik wird in drei Phasen, 1919-1924, 1924-1927 und 1928-1933 skizziert, die von diversen organisatorischen Umstrukturierungen gekennzeichnet waren. Insbesondere Konflikte um finanzielle Ressourcen, gegenseitige Abgrenzungsprozesse sowie Versuche des Zusammenschlusses aller kolonialen Jugendgruppierungen zu einem gemeinsamen Bund spielten dabei eine Rolle. Diese Phasen sind bis auf leichte Abweichungen zwischen der zweiten und dritten Phase zugleich ein Spiegel der klassischen dreiteiligen Periodisierung der Weimarer Republik, deren gesellschaftliche Veränderungsprozesse auf die koloniale Jugendarbeit zurückwirkten.6 3
Mit der kolonialen Kinder- und Jugendkultur im Kaiserreich beschäftigt sich die Untersuchung von Bowersox 2013.
4
Der Begriff ‚koloniale Jugendbewegung‘, den die Kolonialverbände auch selbst benutzten, wird in dieser Studie als Sammelbezeichnung für die Jugendgruppen der verschiedenen Kolonialvereine und die Kolonialpfadfinder verwendet. Gelegentlich nutzten Kolonialverbände diese Bezeichnung nur für ihre eigenen Jugendgruppen.
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Der Deutsche Kolonialkriegerbund und der Bund der Kolonialfreunde gründeten sich erst im Jahr 1922, sodass deren Jugendarbeit dementsprechend später einsetzte. Die Jugendarbeit des Frauenbundes wird in Abschnitt 3.3 thematisiert, da sie sich mit ihrem Fokus auf Mädchenarbeit weitgehend getrennt von der restlichen kolonialen Jugendarbeit entwickelte.
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In der klassischen dreiteiligen Periodisierung der Weimarer Republik dauert die zweite Phase bis zur Weltwirtschaftskrise 1929. Die schon 1928 beginnende dritte Phase der kolonialen Jugendarbeit hängt mit meiner organisationsgeschichtlich orientierten Einteilung
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Phase der Orientierung (1919-1924) Die erste, vor allem von der DKG geprägte Phase kolonialer Jugendarbeit dauerte bis 1924 und lässt sich als Orientierungsphase bezeichnen. In dieser Zeit musste sich die Weimarer Gesellschaft infolge von Kriegsniederlage, Inflation und Angriffen auf die Demokratie neu organisieren.7 Auch die gesamte Arbeit der DKG stand vor großen Herausforderungen. Während ihr mit dem Ende der deutschen Kolonialherrschaft zum einen die eigene Legitimationsbasis abhandengekommen war, die sie nicht zuletzt durch die Jugendarbeit neu zu füllen suchte, musste sie sich zum anderen um den Erhalt der eigenen Vereinsstrukturen sorgen. Rückläufige Mitgliederzahlen und Finanzprobleme, die aus der Zahlungsunfähigkeit verbleibender Mitglieder infolge der Kriegserschütterungen und mehr noch aus der Inflation von 1922/23 resultierten, prägten diese Jahre.8 So ist anzunehmen, dass die DKG ihre ersten schulischen und außerschulischen Aktivitäten nicht trotz, sondern gerade wegen dieser Zerfallstendenzen entwickelte, wollte sie doch die Kontinuität des ‚kolonialen Projekts‘ gewährleisten. Bemerkenswert war zunächst das intensive Engagement des 17-jährigen Helmuth Harries, Schüler einer Landwirtschaftsschule in Salzwedel. Mit Verweis auf die in der DKG-Satzung angestrebte koloniale Wissensvermittlung an die Jugend schlug er der Zentrale in Berlin im März 1919 – also noch vor der Unterzeichnung des Versailler Vertrages – die Bildung eines der DKG unterstellten Deutschen Kolonial-Jugendbundes in Salzwedel vor. Er argumentierte, dass auch Parteien und andere Vereine eigene Jugendorganisationen gegründet hätten.9 Als Herangewachsene könnten die Mitglieder des Bundes in die DKG eintreten, womit Harries die zusammen. Historiker/innen haben die dreiteilige Periodisierung über die letzten Jahre kritisiert, da diese in der Regel auf der Grundlage basierte, die Weimarer Republik von ihrem Ende, d.h. von ihrem Scheitern her zu analysieren und somit den Blick für eine prinzipielle Offenheit der Republik zu verstellen. Vgl. Rossol 2010, S. 393 und S. 397. 7 8
Zu diesen Prozessen vgl. Büttner 2010, S. 153-208. Vgl. Hartwig 1985, S. 739 und S. 741. Für den Zeitraum 1. Januar bis 30. November 1919 erwähnt er 3643 Austritte in Abteilungen in Deutschland. Vgl. ebd., S. 739. Mit den genannten Schwierigkeiten war aber nicht allein die DKG konfrontiert. In ihrer Studie über den Frauenbund der DKG beschreibt Venghiattis, dass auch dieser seine Arbeitsfelder, die Kolonialpropaganda in Deutschland und die Unterstützung von Siedlerfamilien in den ehemaligen Kolonien umfassten, überdenken musste. Vor allem infolge der Inflationszeit verlor er über die Hälfte seiner Mitglieder. Im Jahr 1925 war die Mitgliederzahl auf einen Tiefststand von 6500 im Unterschied zu 16.266 im Mai 1923 gesunken. Vgl. Venghiattis 2005, S. 316-323, zu den Mitgliederzahlen, S. 322.
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Vgl. BArch, R 8023/334, Bl. 228-232, Schreiben von Helmuth Harries an die DKG, eingegangen 24.3.1919, auch für die weiteren Ausführungen.
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später von den Kolonialverbänden selbst thematisierte Nachwuchsfrage bereits vorwegnahm. Erstaunlich sind seine konkreten Überlegungen zur Ausgestaltung des Jugendbundes, die nicht nur wöchentliche Treffen mit Singen und Vorträgen, Ausflüge, Beitragsregelungen und eine eigene Zeitung beinhalteten, sondern auch Geschlechterfragen, wie die Aufnahme von Mädchen, einschlossen: „Den Bund in zwei Abteilungen zu teilen wird sich in kleineren Städten wohl nicht empfehlen. In größeren ging [sic] es ja sehr gut. In dem richtigen Wandervogel werden ja auch Mädchen aufgenommen, und man kann im allgemeinen nicht über die Haltung der Mitglieder klagen. Würden nur Schüler höherer Lehranstalten aufgenommen, so könnte man es wohl wagen. Obwohl es auch da nicht sicher ist, daß das Verhalten der Mitglieder einwandfrei ist. Ich erinnere an die Deutsche Kolonialschule und die Kolonialfrauenschule.“ 10
Harries’ Plädoyer für die nicht notwendigerweise geschlechtersegregierte Aufnahme von Mädchen und die Kenntnis über den Umgang mit Geschlechterfragen in der Jugendbewegung sind hier weniger frappierend, als sein Wissen über die koloniale Infrastruktur. Offensichtlich hatte er sich auch mit Ereignissen aus der Kolonialvergangenheit beschäftigt, denn die Konflikte in der Kolonialschule in Witzenhausen hatten bereits um 1910 stattgefunden und damit zu einer Zeit, als er selbst noch ein Kind war.11 Er informierte die DKG des Weiteren über seine Sammlung von 500 Unterschriften für die Kundgebung „Wir fordern Kolonialbesitz“, die mithilfe eines organisierten Jugendbundes seiner Einschätzung nach weitaus höher gelegen hätten.12 Großes Interesse signalisierend bat DKG-Sekretär Winkler, die Entscheidung über den Umgang mit den deutschen Kolonien abzuwarten und wies Harries auf die Hürden, insbesondere aber die Notwendigkeit seiner Planungen hin: „Ist es schon jetzt ziemlich schwer, alle bisher für unsere Kolonien sich interessierenden Kreise zusammenzuhalten, so wird die Begründung eines Jugendbundes jedenfalls auf erhebliche Schwierigkeiten stossen. Trotzdem ist es dringend nötig, dass gerade die Jugend von der Notwendigkeit deutschen Kolonialbesitzes überzeugt wird und dass dieser Gedanke ihr in Fleisch und Blut übergeht. Denn die Zukunft Deutschlands ruht auf der Jugend, und wenn
10 Ebd., Bl. 230f. 11 Neben Konflikten auf der Leitungsebene der beiden Schulen hatte der Spaziergang einer Schülerin mit einem Mann ihren Schulverweis zur Folge. Anschließende Proteste von Schülerinnen und negative Presseartikel führten schließlich zur Schließung der 1907 gegründeten Kolonialfrauenschule im Jahr 1910. Vgl. Lerp 2009, S. 32-36. 12 BArch, R 8023/334, Bl. 230, Schreiben von Harries an die DKG, eingegangen 24.3.1919.
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diese später auch in kolonialer Hinsicht versagt, wird Deutschland nie seine alte Höhe erreichen können.“13
Trotz der Bedeutung, die Winkler der Jugend für Deutschlands kolonialrevisionistische Bestrebungen beimaß, passierte nach der Unterzeichnung des Versailler Vertrages zunächst nichts. Harries kontaktierte die DKG im August erneut und bat dringlich um Unterstützung bei der Gründung des Jugendbundes, sei dieser doch durch den Verlust der Kolonien umso notwendiger geworden.14 Unverzüglich forderte Vizepräsident Franz Strauch am 15. August 1919 die DKG-Abteilungen zur Stellungnahme auf.15 Sie äußerten sich, wie befürchtet, mehrheitlich ablehnend.16 Ohne die Antworten abzuwarten, erteilte Winkler an Harries bereits die Zustimmung zur Gründung des Jugendbundes.17 Er bestand seit September als erster kolonialer Jugendbund in Deutschland aus einer Jungengruppe mit 58 und einer Mädchengruppe mit etwa 50 Mitgliedern.18 Vor dem Hintergrund der nur mäßigen Unterstützung aus den DKG-Abteilungen erbat Winkler von Harries „mit allen Mitteln dahin [zu, S.H.] wirken, dass die Begründung des […] Bundes von der Jugend selbst ausgeht“, nannte ihm Adressen kolonialinteressierter Jugendlicher aus verschiedenen Städten und bot seine weitere Unterstützung an.19 Er hielt in Salzwedel einen Kolonialvortrag, sagte eine Sammlung von Kolonialprodukten und -publikationen zu und bekräftigte gegenüber Harries noch einmal die Bedeutsamkeit seines Engagements und dessen nationale Relevanz: „Ich vertraue überhaupt sehr auf Sie und setze grosse Hoffnungen auf Ihre Arbeit. Wenn von Ihnen aus die koloniale Jugendbewegung über das ganze deutsche Reich ausgebreitet werden kann, so würden Sie sich den Dank des Vaterlandes 13 BArch, R 8023/334, Bl. 227, Schreiben von Winkler an Harries, 24.3.1919. Für den als ungünstig betrachteten Zeitpunkt seiner Anfrage zeigte Harries in seiner Antwort Verständnis. Vgl. BArch, R 8023/334, Bl. 226, Schreiben von Harries an die DKG, 28.3.1919. 14 Vgl. BArch, R 8023/334, Bl. 219-220, Schreiben von Harries an die DKG, 14.8.1919. Er hatte eine ausgearbeitete Satzung beigefügt. Vgl. BArch, R 8023/334, Bl. 221. Siehe auch BArch, R 8023/334, Bl. 1-2, Satzung des Deutschen Kolonial-Jugendbundes (Salzwedel). 15 Vgl. BArch, R 8023/334, Bl. 216, Schreiben des geschäftsführenden Vizepräsidenten der DKG, Strauch, an die Vorstände der Abteilungen der DKG, 15.8.1919. 16 Vgl. zu den sortierten Antwortschreiben BArch, R 8023/334, Bl. 18-63. Während 13 Abteilungen zustimmten, äußerten sich neun unentschieden und 22 lehnten ab. Die unsortierten Antwortschreiben in der Akte signalisierten ebenso überwiegend Ablehnung. Vgl. dazu auch Schmidt 2008, S. 63, FN 263. 17 Vgl. BArch, R 8023/334, Bl. 218, Schreiben von Winkler an Harries, 15.8.1919. 18 Vgl. BArch, R 8023/334, Bl. 212, Schreiben von Harries an die DKG, 28.9.1919. 19 BArch, R 8023/334, Bl. 208, Schreiben von Winkler an Harries, 6.10.1919.
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verdienen.“20 Inwieweit sich Harries über Salzwedel hinaus für die Gründung von Jugendgruppen engagierte, ließ sich anhand des vorliegenden Materials nicht ermitteln. Allerdings organisierte er vor Ort mehrere Kolonialvorträge und es ging insbesondere auf sein Engagement zurück, dass sich die DKG-Zentrale der Gründung kolonialer Jugendgruppen so früh annahm. Ansonsten verhielt sie sich in dieser Angelegenheit recht defensiv und lehnte im Juni 1920 die Anfrage der Abteilung Esslingen, in der Kolonialzeitung zur Gründung von Lokalgruppen des Kolonialen Jugendbundes aufzurufen, eindeutig ab: „[Wir] […] haben doch recht viele Absagen erhalten, sodass wir öffentlich nicht mit einer weiteren Aufforderung auftreten möchten. Wir sind aber selbstverständlich gern bereit, in aller Stille für den Deutsch-Kolonialen Jugendbund mitzuwirken.“ 21 So gründeten sich nach Entstehen des Deutschen Kolonial-Jugendbundes in Salzwedel verteilt über das Reichsgebiet vereinzelt weitere Lokalgruppen, u.a. in Weimar, Esslingen, Ulm, Tübingen und Leipzig, die sich zunächst auf die Organisation von Vorträgen konzentrierten. 22 In einem Rundschreiben wandte sich die Zentrale der DKG erneut im Juni 1921 und dann nochmals im Oktober 1921 an alle Abteilungen. Einem Beschluss der Hauptversammlung vom Mai zufolge galt es „alle Maßnahmen zu ergreifen, um in gemeinsamer Arbeit mit Jugendorganisationen das Verständnis für koloniale und überseeische Interessen für die Bedeutung des Auslandsdeutschtums und für die Fragen der Weltwirtschaft zu wecken und zu fördern. Wo geeignete Jugendorganisationen nicht bestehen, sollen sie an Schulen aller Art und an den Hochschulen ins Leben gerufen werden. Dabei soll die Deutsche Kolonialgesellschaft bestrebt sein, mit anderen Vereinen und Verbänden, die diese Bestrebungen pflegen, zusammen zu wirken.“23
Die Mitglieder der DKG-Abteilungen sollten anderen bestehenden Jugendorganisationen koloniale Vorträge o.ä. zur Integration in ihr Arbeitsprogramm anbieten. Zugleich rief die Zentrale alle Mitglieder dazu auf, bei den eigenen Kindern koloniale 20 BArch, R 8023/334, Bl. 194, Schreiben von Winkler an Harries, 11.11.1919. 21 BArch, R 8023/334, Bl. 167, Schreiben der DKG an den Deutschen Kolonial-Jugendbund, OG Esslingen, 3.6.1920. 22 Vgl. BArch, R 8023/334, Bl. 151, Schreiben der DKG an F. Fiebig, 11.10.1920; BArch, R 8023/334, Bl. 128, Schreiben des Deutschen Kolonial-Jugendbundes, OG Esslingen an die DKG Berlin, 22.1.21; BArch, R 8023/334, Bl. 129, Schreiben an den Vorstand der Abteilung Leipzig, 27.1.1921. Über den Jugendbund in Leipzig, der nach einigen Jahren eine „vorbildliche koloniale Tätigkeit“ entwickelt habe, wurde im Kolonialdeutschen wiederholt berichtet. Vgl. u.a. Willy Thiele: Koloniale Jugendbewegung, in: Der Kolonialdeutsche, 3. Jg., 1923, Nr. 5, S. 68. 23 BArch, R 8023/334, Bl. 83, Schreiben der DKG an die Abteilungen der DKG, 12.10.1921.
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Interessen zu mobilisieren.24 Auch auf diesen Vorstoß gab es aus Sicht der Zentrale nur wenige zufriedenstellende Reaktionen. Außer dem Fortbildungsschullehrer und Vorsitzenden der Abteilung Radeberg, Rudolf Berger, hätten andere Abteilungen „nur ganz kurz und oberflächlich“ geantwortet und „sich absolut keine Mühe gegeben […], um die wirklichen Verhältnisse am Orte zu erkunden.“ 25 Dennoch entstanden weitere lokale Jugendbünde. Die Gruppe in Bonn verwies explizit auf die vermeintliche ‚Raumnot‘ Deutschlands, die die Jugend aufgrund „stark eingeengte[r] Aufstiegsmöglichkeiten“ und eines „bitterharten Daseinskampf[s]“ zu spüren bekommen werde.26 Sie nutzte damit schon früh ein Argument, dass in der kolonialen Jugendbewegung gegen Ende der 1920er Jahre zentral werden sollte. Manche Jugendgruppen existierten nur für ein bis zwei Jahre oder führten, wie es für den Jugendbund in Esslingen hieß, ein „kümmerliches Dasein“. 27 Denn die „Förderung des kolonialen Gedankens [sei, S.H.] an sich kein genügendes Programm […], um die Jugend zusammen zu halten“, 28 ein Aspekt, mit dem sich die Kolonialverbände auch zukünftig beschäftigen mussten. Beispielsweise löste sich die Gruppe in Lüchow auf, weil die „anfängliche Begeisterung“ der Mitglieder „Tanz, Kino und anderen Vergnügungen“ gewichen war, denen fast alle Mädchen durch ihren Beitritt im neu gegründeten Unterhaltungsverein nachgingen. 29 Parallel zu diesen ersten – nur bedingt erfolgreichen – Versuchen, einerseits Lokalgruppen eines Deutschen Kolonial-Jugendbundes zu gründen, andererseits bestehenden Jugendorganisationen Kooperationen anzubieten oder bei Bedarf entsprechende Jugendgruppen an Schulen oder Hochschulen zu initiieren, wandte sich die Zentrale der DKG auch direkt an diese beiden Institutionen. In einer Eingabe 24 Vgl. ebd. 25 BArch, R 8023/334, Bl. 103, Schreiben an den Vorsitzenden der DKG-Abteilung Radeberg, R. Berger, 16.6.1921. Siehe für weitere Antwortschreiben BArch, R 8023/334, Bl. 85-96, Bl. 100-102 und Bl. 113-118. 26 BArch, R 8023/334, Bl. 77, Aufruf „Jungdeutsche!“ des Gründungsvorstandes des Deutschen Kolonial-Jugendbundes. Dem Gründungsvorstand gehörten ein Mitglied der DKG und des Frauenbundes der DKG an. Siehe auch BArch, R 8023/334, Bl. 78-79, Satzung und Arbeitsprogramm des Deutschen Kolonial-Jugendbundes Bonn, Gründungsdatum 1.3.1922. 27 BArch, R 8023/334, Bl. 99, Schreiben der DKG, Abteilung Esslingen, an die DKG, 24.6.1921. 28 Ebd. 29 Vgl. BArch, R 8023/334, Bl. 73, Schreiben von Lücke an die DKG, 27.2.1922. Um den Fortbestand des Bundes zu sichern, schlug Lücke dem Vorstand des örtlichen Unterhaltungsvereins einen Anschluss an jenen vor und bat die DKG um Erlaubnis. Diese willigte ein, bat aber dringlich darauf zu achten, auch dort „den kolonialen Gedanken zu pflegen“. BArch, R 8023/334, Bl. 72, Schreiben der DKG an Lücke, 27.3.1922.
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vom 25. Juni 1920 forderte DKG-Präsident Seitz die Länderregierungen auf, ihre jeweiligen Schulleitungen zu veranlassen, „den Kolonialgedanken in der Schuljugend zu wecken“.30 Einige Wochen zuvor, am 4. Juni 1920, wurden die Kultusministerien der Länder darum gebeten, auf die „Einführung kolonialer Vorlesungen an sämtlichen Hochschulen“ hinzuarbeiten.31 Von durchschlagenden Erfolgen ist nichts bekannt. Zudem reagierten von 400 Direktoren und Rektoren gerade einmal zehn auf das im gleichen Jahr von Winkler, auch Mitglied der Werbekommission der DKG, an sie gerichtete Angebot, Lichtbildervorträge für die Schulen zu organisieren.32 Diese erste Phase der kolonialen Jugendarbeit lässt sich als zäher Anfang beschreiben. Die DKG versuchte, die Länderregierungen zu veranlassen, staatliche Rahmenbedingungen für die koloniale Werbetätigkeit an Schulen und Hochschulen zu schaffen.33 Zugleich wirkte sie ausgehend von dem intensiven Engagement des Jugendlichen Helmuth Harries auf die Gründung erster kolonialer Jugendgruppen hin, die das Interesse Jugendlicher an kolonialem Engagement in verschiedensten Landesregionen markierten. Dennoch waren die Kolonialakteurinnen und -akteure in dieser Zeit vor allem mit den Nachwirkungen des Ersten Weltkriegs konfrontiert, sodass von einer strukturierten kolonialen Jugendarbeit noch nicht die Rede sein konnte. Phase der Institutionalisierung (1924-1927) Der vierte Deutsche Kolonialkongress 1924 in Berlin markierte den Übergang in die zweite bis 1927 andauernde und auf Institutionalisierung gerichtete Phase der kolonialen Jugendarbeit. Der Kongress war zugleich Auftakt der nunmehr wieder erstarkenden Propaganda der Kolonialbewegung, die sich in den Folgejahren in hunderten von Veranstaltungen und Artikelveröffentlichungen ausdrückte. Insbesondere der wirtschaftliche Konjunkturaufschwung trug dazu bei, dass den Kolonialverbänden wieder mehr Geldmittel zur Verfügung standen, welche die Propaganda und die verstärkte koloniale Jugendarbeit erst möglich machten. Die Verbände erhielten auch von staatlicher Seite finanzielle Unterstützung. Die Teilnehmenden des Kolonialkongresses erklärten „die Pflege des kolonialen Gedankens in der Jugend für eine der wichtigsten Gegenwartsaufgaben“ und beauftragten die Korag, seit 1922 Dachorganisation der meisten Kolonialverbände, mit
30 Nöhre 1998, S. 80. 31 Ebd. 32 Vgl. ebd., S. 83. 33 Zur kolonialen Einflussnahme auf Schulen siehe ausführlicher Abschnitt 2.3.
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der Einsetzung eines Kolonialen Jugendausschusses.34 Die Leitung des am 19. September 1924 gegründeten und an das Präsidium angegliederten Jugendausschusses der Korag lag bei der DKG, Professor Eduard Moritz und Studienrat Fritz Maywald waren die Geschäftsführer.35 Ihre Aufgabe bestand hauptsächlich in der Organisation von Kolonialvorträgen in Schulen, der Bildung (außer-)schulischer Jugendgruppen sowie der Herausgabe und Verbreitung der 1924 erstmals erschienenen Jugendzeitschrift Jambo.36 Zwar sah Moritz den „Schwerpunkt der kolonialen Aufklärungsarbeit“ in der Schule, was wiederum „kolonialfreundliche Lehrer“ voraussetzte, er hatte aber auch die schulentlassene Jugend im Blick. 37 Das für das „körperliche und geistige Wohlergehen“ von Schulentlassenen zuständige Wohlfahrtsministerium sollte unter ihnen „den kolonialen Gedanken förder[n] und seine Pflege den Jugendämtern einschärf[en].“38 Regelmäßige staatliche Förderung für die Vortragsorganisation und die Herausgabe des Jambo erhielt der Koloniale Jugendausschuss von der Abteilung für koloniale Angelegenheiten des Auswärtigen Amtes. 39 Sie finanzierte gelegentlich schulische Materialien und unterstützte in Einzelfällen auch die Infrastruktur außerschulischer Jugendgruppen.40 Darüber hinaus konnte der Jugendausschuss nach der 1926 erfolgten Aufnahme in den Reichsausschuss der deutschen Jugendverbände 34 O.V.: Der deutsche Kolonialkongreß, in: Der Kolonialfreund, 2. Jg., 1924, Nr. 10, S. 68, Herv. i. Org. Vgl. auch o.V.: Die Koloniale Jugendbewegung, in: Jambo, 5. Jg., 1928, Nr. 8, S. 225. 35 Vgl. BArch, R 1001/6745, Bl. 14, Denkschrift über die koloniale Jugendwerbung im Verlaufe der Zeit vom 1. Oktober 1924 bis 1. Oktober 1925 und über die Aussichten der kolonialen Jugendbewegung. Eduard Moritz unterrichtete seit 1912 am Königstädtischen Realgymnasium in Berlin. Er reiste zwei Mal nach Deutsch-Südwestafrika, um „topographische und kartographische Arbeiten“ durchzuführen. Im Jahr 1914 veröffentlichte er das Buch Das Schulwesen in Deutsch-Südwestafrika. BArch, R 1001/6746, Bl. 80f., Schreiben des Präsidenten der DKG an das Auswärtige Amt, Abteilung III, 5.7.1929. Fritz Maywald unterrichtete von 1920 bis 1926 an einer Charlottenburger Schule in Berlin und war von 1927-1931 im Schuldienst in Südwestafrika tätig. Vgl. BArch, R 8023/960b, Bl. 146, Jahresbericht des Schulleiters über das Schuljahr 1927. 36 Vgl. o.V.: Koloniale Jugendbewegung, in: Kolonialkriegerdank e.V. (Hg.), Koloniales Hand- und Adreßbuch 1926-27, Berlin 1926, S. 137-138. 37 Eduard Moritz: Die Pflege des kolonialen Gedankens unter der Jugend, in: Kolonialkriegerdank e.V. (Hg.), Verhandlungen des Deutschen Kolonialkongresses 1924 zu Berlin am 17. und 18. September 1924, Berlin, S. 330. 38 Ebd., S. 333. 39 Vgl. dazu diverse Schriftwechsel in der Akte BArch, R 1001/6745. 40 Vgl. Abschnitt 2.3 und BArch, R 1001/6745, Bl. 74, Schreiben des Auswärtigen Amtes, Abteilung für koloniale Angelegenheiten an den Jugendausschuss der Korag, 20.2.1926.
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für seine außerschulischen Jugendgruppen Fahrpreisermäßigungen bei der Reichsbahn beantragen.41 Nach dem Kolonialkongress hatte sich die koloniale Jugendarbeit erweitert und erforderte nunmehr ein höheres Maß an Koordination, denn unabhängig vom Jugendausschuss organisierten auch Vertreter des Bundes der Kolonialfreunde42 und des Deutschen Kolonialvereins43 Kolonialvorträge in Schulen. Der Jugendausschuss wollte eine „zersplitternd wirkende Tätigkeit“ der Kolonialverbände durch seine zentrale Erfassung aller Vortragenden vermeiden.44 Auch das Auswärtige Amt bat darum, eine „gewisse[…] Einigung über die Vortragsgebiete und die Art der Vorträge“ unter den Kolonialverbänden zu erzielen.45 Eigenen Angaben zufolge veranstaltete der Jugendausschuss in Schulen in seinem ersten Arbeitsjahr 2500 Vorträge, zwischen Herbst 1926 und März 1927 etwa 1900 und erreichte damit bis 1928 rund zwei Millionen Zuhörende.46 41 Vgl. Jahresbericht der DKG 1926, Berlin, S. 13. Die Beitragszahlungen von jährlich 20 Reichsmark an den RddJ beantragte der Jugendausschuss beim Auswärtigen Amt. Vgl. BArch, R 1001/6745, Bl. 128, Schreiben des Jugendausschusses der Korag an das Auswärtige Amt, Abteilung für koloniale Angelegenheiten, 2.7.1926. 42 Der Bund der Kolonialfreunde gründete sich im 14. März 1922 und beabsichtigte, in sozialdemokratischen und kommunistischen Kreisen Kolonialpropaganda zu machen. Seine Mitglieder waren vor allem Kleingewerbetreibende, Beamte niederen Ranges, Angestellte und Arbeiter. Vgl. BArch, R 1001/6732, Bl. 24, Schreiben des Bundes der Kolonialfreunde, Vorsitzender Dumski, an den Reichskanzler, 9.10.1922; BArch, R 1001/6732, Bl. 18, Schreiben an den Bund der Kolonialfreunde, 9.11.1922. Im Januar 1926 hatte der Bund rund 12.600 Mitglieder, die sich bis Mai 1927 auf 14.860 erhöhten und auf 100 Ortsgruppen verteilt waren. Vgl. BArch, R 1001/6733, Bl. 152, Schreiben des Bundes der Kolonialfreunde an das Auswärtige Amt, Abteilung für koloniale Angelegenheiten, 21.5.1927. 43 Der Deutsche Kolonialverein stand in Konkurrenz zur DKG. In einer Gegenüberstellung wurde sie als „reinkolonialer Verband“, der Kolonialverein hingegen als „halbkolonialer Verein“ bezeichnet. BArch, R 1001/6748, Bl. 52, Deutsche Kolonialgesellschaft – Deutscher Kolonialverein. 44 Vgl. BArch, R 1001/6745, Bl. 24, Denkschrift über die koloniale Jugendwerbung im Verlaufe der Zeit vom 1. Oktober 1924 bis 1. Oktober 1925 und über die Aussichten der kolonialen Jugendbewegung. 45 BArch, R 1001/6732, Bl. 205, Schreiben des Auswärtigen Amts an den Bund der Kolonialfreunde, 19.8.1925. 46 Vgl. Jahresbericht der DKG 1926, Berlin, S. 12; Erich Duems: Die DKG seit Versailles (1919-1932), in: DKG (Hg.), Fünfzig Jahre DKG 1882-1932, Berlin 1932, S. 57-115, S. 105. Bis 1931 wurden Ernst Gerhard Jacob zufolge insgesamt 7000 Vorträge gehalten. Vgl. Jacob 1934, S. 71.
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Die Anzahl der Jugendgruppen hatte sich seit Einsetzung des Jugendausschusses von drei Gruppen in Leipzig, Elberfeld und Nürnberg auf fast 30 bis Oktober 1925 und auf 70 mit mindestens 3800 Mitgliedern bis Februar 1926 erhöht.47 Neben den in der Regel von kolonial engagierten Lehrkräften geleiteten Schulgruppen entstanden durch die Kolonialverbände außerschulische Jugendgruppen, die sich dem Jugendausschuss unterstellen sollten, um „ein Nebeneinanderarbeiten oder Gegeneinanderarbeiten“ auf lokaler Ebene zu verhindern. 48 Die sich als überparteilich verstehenden Gruppen waren satzungsgemäß für alle deutschen Jungen und Mädchen offen. Auf ihrer Agenda standen koloniale Erinnerungsarbeit und die Popularisierung der Forderung nach Rückgabe der ehemaligen Kolonien in einer breiten Öffentlichkeit.49 Bald zeigte sich, dass der Jugendausschuss in seiner Funktion als übergeordnete Instanz der kolonialen Jugendarbeit nicht von Dauer sein sollte. Nach der von ihm organisierten ersten kolonialen Jugendtagung, die 1926 in Bernburg stattfand, um die „Gemeinsamkeit aller Jugendgruppen öffentlich [zu] bekunde[n] und die Aufmerksamkeit weiterer Kreise auf sie“ zu ziehen,50 sei DKG- und Korag-Präsident Seitz zufolge die Organisation des Jugendausschusses in ein „kritisches Stadium“ geraten.51 Er teilte der Abteilung für koloniale Angelegenheiten im Auswärtigen Amt mit, dass insbesondere der Deutsche Kolonialverein und der Bund der Koloni-
47 Vgl. BArch, R 1001/6745, Bl. 16, Denkschrift über die koloniale Jugendwerbung im Verlaufe der Zeit vom 1. Oktober 1924 bis 1. Oktober 1925 und über die Aussichten der kolonialen Jugendbewegung; BArch, R 1001/6745, Bl. 78, Schreiben des Jugendausschusses der Korag an das Auswärtige Amt, Abteilung für koloniale Angelegenheiten, 24.2.1926. In einem anderen Beitrag von Februar 1926 werden nur 46 Gruppen genannt. Vgl. F.M.: Aus der kolonialen Jugendbewegung, in: Der Kolonialdeutsche, 6. Jg., 1926, Nr. 2, S. 28. 48 BArch, R 1001/6745, Bl. 119, Satzungen der Kolonialen Jugendgruppen, o.D. Der Kolonialkriegerbund stimmte dieser Regelung in seiner Hauptversammlung zu. Vgl. BArch, R 1001/6752, Bl. 10, Schreiben von Seitz an das Auswärtige Amt, Abteilung für koloniale Angelegenheiten, 23.10.1925. 49 Vgl. BArch, R 1001/6745, Bl. 119, Satzungen der Kolonialen Jugendgruppen, o.D. Den Satzungen wurde auf der Führer- und Haupttagung der kolonialen Jugendgruppen am 23. und 24. Mai 1926 in Bernburg zugestimmt. Vgl. BArch, R 1001/6745, Bl. 117, Protokoll der Haupttagung der kolonialen Jugendgruppen in Bernburg, 24.5.1926. 50 BArch, R 1001/6745, Bl. 17, Denkschrift über die koloniale Jugendwerbung im Verlaufe der Zeit vom 1. Oktober 1924 bis 1. Oktober 1925 und über die Aussichten der kolonialen Jugendbewegung. 51 BArch, R 1001/6745, Bl. 188, Schreiben von Seitz an das Auswärtige Amt, Abteilung für koloniale Angelegenheiten, Eltester, 17.1.1927.
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alfreunde im Jugendausschuss „bestimmenden Einfluss“ verlangten.52 So war in einem neuen Geschäftsordnungsentwurf der Jugendausschuss nicht länger als Organ des Korag-Präsidiums vorgesehen, sondern als unabhängige Instanz innerhalb der Korag.53 Dass der Präsident darin nur mit beratender Stimme beteiligt werden sollte, lehnte Seitz entschieden ab und unterstellte den beiden Verbänden, weniger an der Mitarbeit als an der „Verfügung über die Gelder des Jugendausschusses“ interessiert zu sein.54 Er sprach sich für eine Vertretung der Kolonialverbände im Jugendausschuss in „geeigneter Weise“ aus und plädierte weiterhin für eine „Geschäftsführung in wenigen Händen“.55 Diese Diskussion um eine neue Geschäftsordnung offenbarte, dass mit dem Einsetzen des Jugendausschusses nicht nur die Verteilung finanzieller Ressourcen ausgehandelt werden musste, sondern damit auch eine Auseinandersetzung um Machtpositionen einherging. Während Seitz als Präsident seine eigene Mitbestimmungsposition verteidigte, loteten die Kolonialverbände ihre Stellung innerhalb der kolonialen Jugendarbeit aus. Das Ziel des Jugendausschusses, die Organisation von Kolonialvorträgen und die Jugendgruppen unter seinem Dach zu zentralisieren, lässt sich keineswegs nur als Strategie der DKG deuten, nach außen hin Geschlossenheit zu repräsentieren, sondern auch als Machtanspruch, unter ihrer Federführung eine geeinte Jugendarbeit voranzutreiben. Diese sollte nicht zuletzt zu ihrer eigenen Legitimität beitragen. Zu einer Einigung der Kolonialverbände kam es nicht. In der Sitzung des Jugendausschusses am 8. April 1927 nahmen der Vertreter des Kolonialvereins, des Bundes der Kolonialfreunde und des Kolonialkriegerbundes56 die von Seitz vorge52 Ebd. 53 Vgl. BArch, R 1001/6745, Bl. 189, Schreiben von Seitz an den Jugendausschuss der Korag (Abschrift), 10.1.1927. Der Bund der Kolonialfreunde zeigte sich über Seitz’ Perspektive insofern verwundert, als „es sich doch bei der Neugestaltung des Jugendausschusses nur um die Auswirkung der Bernburger Beschlüsse handelt, die von der KoragTagung in Bochum sanktioniert worden sind.“ BArch, R 8023/342, Bl. 158, Schreiben des Bundes der Kolonialfreude an den Präsidenten der DKG, 11.2.1927. Seitz’ Antwort lautete, dass er in dem Geschäftsordnungsentwurf die Absicht lese, „aus dem Jugendausschuss ein unabhängiges Organ zu machen […].“ BArch, R 8023/342, Bl. 157, Schreiben von Seitz an den Bund der Kolonialfreunde, 12.2.1927. 54 BArch, R 1001/6745, Bl. 188, Schreiben von Seitz an das Auswärtige Amt, Abteilung für koloniale Angelegenheiten, Eltester, 17.1.1927. 55 BArch, R 1001/6745, Bl. 189, Schreiben von Seitz an den Jugendausschuss der Korag (Abschrift), 10.1.1927. 56 Der Deutsche Kolonialkriegerbund entstand am 11. Juni 1922 als Dachverband der kolonialen Veteranenverbände, die sich aus ehemaligen Angehörigen der kolonialen ‚Schutztruppen‘ zusammensetzten. Nach eigenem Verständnis war sein Zweck, „die in den Kolonialkriegern vorhandenen Kenntnisse, Fähigkeiten und Energien zur Sicherung unserer
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schlagene Auflösung des bisherigen Jugendausschusses und zukünftige Betreuung der Jugendgruppen durch die verschiedenen Verbände an.57 Dennoch bestand fortan eine „lose Verbindung“ zwischen den vier Bundesjugendwarten,58 „um gemeinsame Fragen auch weiterhin einheitlich behandeln zu können“59 und wirtschaftliche Vorteile, wie z.B. Fahrpreiserleichterungen, zu erreichen.60 Auf entschiedene Kritik stießen diese Entwicklungen beim Mitteldeutschen Bezirksverband der Kolonialen Jugend, der sich in der Zwischenzeit als selbstständiger Verband „ohne Rücksicht auf Zugehörigkeit zu Parteien und Verbänden“ gegründet hatte.61 Er sprach im Januar 1928 von einer „Spaltung der kol. Jugendbewegung in Berlin“, wollte sich aber seine so „mühsam hergestellte Einigkeit“ nicht durch die „Berliner Zentralstellen der großen kolonialen Verbände“ zerstören lassen.62 Dementsprechend lehnte er die Anfrage des Kolonialkriegerbundes, die Gruppen des Bezirkes den örtlichen Kolonialkriegervereinen anzuschließen, eindeutig ab.63 Dies zeigt einerseits, dass Entscheidungen der Zentralstellen auf der lokalen Ebene unterlaufen werden konnten. Andererseits wird deutlich, dass die Neuregelung der getrennten Jugendgruppen-Betreuung die Konkurrenz zwischen den einzelnen Kolonialverbänden beflügelte. Demnach ließ sich für die koloniale Jugendarbeit/-bewegung kaum eine einheitliche, von allen Kolonialverbänden akzeptierte Strategie finden. Dies sollte auch in den Folgejahren so bleiben. kolonialen Zukunft zusammenzufassen.“ BArch, R 1001/6752, Bl. 3, Schreiben des Präsidenten des DKB, Maercker, an das Wiederaufbauministerium, im Juni 1922. Vorsitzender war zu Beginn General Maercker, ab 1924 General von Epp, der im Nationalsozialismus das Reichskolonialamt leitete. Der Bund zählte 1925 etwa 7000 Mitglieder in 86 Einzelverbänden. Vgl. Nöhre 1998, S. 37. Für das Jahr 1927 wurden 10.000-12.000 Mitglieder angegeben. Vgl. BArch, R 1001/6752, Bl. 15, Schreiben des DKB, von Boemcken, an das Auswärtige Amt, Abt. 3a, 2.2.1927. Zum Kolonialkriegerbund und seinen Aktivitäten vgl. auch Maß 2006, S. 56-64. 57 Vgl. BArch, R 1001/6745, Bl. 211, Protokoll zur Sitzung des Jugendausschusses am 8.4.1927. Aus Sicht des Protokollanten glich die bestendende Zusammensetzung des Jugendausschusses „mehr einem Kampfplatz als einer Arbeitsgemeinschaft“. 58 BArch, R 1001/6745, Bl. 247, Aufzeichnung zur Neuorganisation der kolonialen Jugendverbände, 12.10.1927. 59 Aus unseren Jugendgruppen. Mitteilungen des Jugendwartes, in: Der Kolonialfreund, 5. Jg., 1927, Nr. 11/12, S. 14. 60 Vgl. o.V.: Deutscher Kolonialkriegerbund: Rundschreiben Nr. 7, in: Der Kolonialdeutsche, 7. Jg., 1927, Nr. 22, S. 371. 61 BArch, R 8023/1077, Bl. 416, Bericht über die erweiterte Vorstandssitzung des Mitteldeutschen Bezirksverbandes der Kolonialen Jugend, 9.1.1928. 62 Ebd. 63 Vgl. ebd., Bl. 417.
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Phase der Ausdifferenzierung (1928-1933) Die nunmehr getrennt verlaufende Betreuung der kolonialen Jugendgruppen leitete den Übergang in die um 1928 einsetzende dritte Phase ein. In dieser Zeit differenzierte sich die koloniale Jugendbewegung weiter aus und die Kolonialverbände begannen, das Verhältnis zwischen den Generationen intensiver zu reflektieren. Dies hing, wie Abschnitt 2.2 zeigen wird, sowohl mit dem Mitgliederzuwachs der NSDAP als auch mit dem Entstehen der Kolonialpfadfinder und ihrer bündischen Ausrichtung zusammen. Beide repräsentierten ihrem Selbstverständnis nach die junge Generation, während die Jugendarbeit der Kolonialbewegung von Personen gestaltet wurde, die bereits im Kaiserreich ihre Karrieren gemacht hatten. Diese Auseinandersetzung zum Generationenverhältnis führten allerdings nicht nur die Kolonialverbände, sondern auch Kirchen, Gewerkschaften und die bürgerlichen Parteien. Auch sie beabsichtigten, die (politische) Sozialisation Heranwachsender weiterhin zu beeinflussen. Mit dem Ziel, die Anziehungskraft der Kolonialjugend zu erhöhen, orientierte sich die koloniale Jugendarbeit fortan stärker an bündischen Prägungen. Während die Vortragstätigkeit in den Schulen tendenziell abnahm,64 entwickelten sich die kolonialen Schul- und Jugendgruppen weiter und die Kolonialverbände schufen nunmehr eigene Organisationsstrukturen für ihre Jugendgruppierungen. Die DKG transformierte 1931 ihre verschiedenen Gruppen in den Bund Deutscher Kolonialjugend. Der Kolonialkriegerbund bezeichnete spätestens 1929 seine Jugendformation als Koloniales Jugendkorps. Bereits 1926 hatte sich der neu entstandene Kolonialbund Deutscher Pfadfinder dem Kolonialverein als Jugendorganisation angeschlossen. Davon spaltete sich zwei Jahre später der Bund Deutscher Kolonialpfadfinder als in sich selbstständige Gruppierung mit einem jungen Bundesführer ab. Im Jahr 1931 fusionierten die beiden Pfadfinderbünde zum Deutschen Kolonial-Pfadfinderbund. Während die Pfadfinderbünde ausschließlich Jungen aufnahmen, betreuten die DKG, manche Veteranenvereine und der Bund der Kolonialfreunde vereinzelt auch Mädchengruppen. Vor allem machte sich der Frauenbund der DKG seit Mitte, verstärkt seit Ende der 1920er Jahre die Gründung von Mädchengruppen zur Aufgabe.65 Insgesamt dominierte eine geschlechtersegregierende koloniale Jugendarbeit. Bis zu ihrer endgültigen Zusammenführung im Jahr 1933 bewegten sich die koloni64 Für das Jahr 1929 berichtete die DKG, dass die Vortragstätigkeit „nur in beschränktem Umfange“ weitergeführt werden konnte. Die Arbeiten der DKG, Jahresbericht 1929, Berlin, S. 21. 65 Zum Selbstverständnis und den Aktivitäten des Frauenbundes nach 1919 vgl. Wildenthal 2003, S. 172-202, Venghiattis 2005, S. 296-376 sowie den knappen Überblick von Schilling 2009, S. 70-78.
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alen Jugendverbände in einem permanenten Spannungsfeld von Abgrenzung und Versuchen des Zusammenschlusses, den maßgeblich die DKG zu forcieren versuchte. Am Rande dieses Prozesses agierten die Mädchengruppen des Frauenbundes, die nur punktuell mit den anderen Gruppierungen kooperierten. Dies lässt sich wahrscheinlich auf zwei, sich wiederum gegenseitig bedingende Gründe zurückführen. Einerseits hatte sich der Frauenbund seit seiner Gründung 1907 als unabhängige Einheit innerhalb der Kolonialbewegung etabliert, so Claire Venghiattis,66 der seine Mädchengruppen vor allem in die eigenen, mehrheitlich weiblich konnotierten Arbeitsfelder einband. Andererseits war die Jugendarbeit der anderen Kolonialverbände in erster Linie auf Jungen ausgerichtet und damit für den Frauenbund kaum interessant. Trotz getrennter Organisationsstruktur bestanden zwischen den kolonialen Jugendverbänden Gemeinsamkeiten, die in späteren Kapiteln noch ausführlicher beleuchtet werden. Erstens stellten sie für die Heranwachsenden ein Erziehungsprogramm bereit, das neben Wissensvermittlung auf körperliche Disziplinierung und das Trainieren verschiedener Handfertigkeiten abzielte. Als Idealtyp galt die für Jungen vorgesehene Figur des auf ein Leben in den Kolonien vorbereiteten ‚Kolonialpioniers‘. Zweitens traten alle Gruppierungen für die Forderung nach ‚Lebensraum‘ ein. Drittens verstanden sie sich als überparteilich bzw. politisch neutral und konfessionslos67 und betrachteten ihre Arbeit als nationale Aufgabe. Wie sahen die Organisationsstrukturen und Wirkungsfelder der verschiedenen kolonialen Jugendverbände aus? Die DKG dominierte weiterhin die koloniale Jugendarbeit und begann Anfang 1928 mit dem „Neuaufbau ihrer Jugendorganisation“.68 Im neuen Jugendausschuss der DKG, dem ihr Präsident vorstand, setzte Moritz seine Arbeit als Leiter und Betreuer der Jugendgruppen fort.69 Im Jahr 1931 löste ihn der aus Südwestafrika zurückgekehrte Maywald ab und Moritz übernahm als stellvertretender Vorsitzender im Jugendausschuss andere Funktionen. 70 Die DKG 66 Vgl. Venghiattis 2005, S. 335. 67 Vgl. u.a. o.V.: Bund Deutscher Kolonialpfadfinder, in: Mitteilungen der DKG, 43. Jg., 1931, Nr. 7, S. 56. 68 O.V.: Koloniale Jugendbewegung, in: Mitteilungen der DKG, 40. Jg., 1928, Nr. 2, o.S., Herv. i. Org. 69 Vgl. o.V.: Koloniale Jugendbewegung. Neuordnung der Schul- und Jugendgruppen der DKG, in: Mitteilungen der DKG, 40. Jg., 1928, Nr. 3, o.S. In dem Artikel wurde auch auf den am 4. November und 10. Dezember 1927 getroffenen Beschluss der Korag hingewiesen, dass die Jugendgruppen, die bislang dem Jugendausschuss der Korag unterstanden, fortan zur DKG gehörten. 70 Vgl. BArch, R 8023/151, Bl. 390, Schreiben an Maywald, 1.9.1931. Für die Leitung und Betreuung der Kolonialjugend der DKG wurde 1931 die Bezeichnung Jugendamt eingeführt. Insgesamt war die Bezeichnungspraxis der DKG für ihre Jugendarbeit recht verwir-
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betreute drei verschiedene Gruppentypen, die sie zwischen „straffe[r] Vereinsorganisation“ und „lose[r] geistige[r] Gemeinschaft“ einordnete.71 Die Lesegemeinschaften als „zwanglose Vereinigungen kolonialinteressierter Schüler an deutschen Lehranstalten“ beschäftigten sich meist gemeinsam mit einer Lehrkraft mit dem Jambo und widmeten sich überwiegend kolonialer Erinnerungsarbeit.72 Daneben agierten die Schulgruppen im Sinne eines Schülervereins unter Anweisung einer von der Schulleitung anerkannten Lehrkraft. Die örtlichen Abteilungen der DKG betreuten an sie angeschlossene Jugendgruppen, die sich aus ihrem Kreis eine Leitung wählten, die vom Jugendausschuss akzeptiert werden musste. Schul- wie Jugendgruppen organisierten koloniale Werbe- und Unterhaltungsabende, trafen sich aber auch für gemeinsame Wanderungen und sportive Aktivitäten.73 Sukzessive erfolgte die Zusammenführung lokaler Gruppen in Gauen.74 Darüber hinaus war der seit 1928 bestehende Bund Deutscher Kolonialpfadfinder korporativ an die DKG angeschlossen. Von ihm erhoffte sie sich, „wertvolle Grundsätze der bündischen
rend. Im Jahr 1929 wurde der Jugendausschuss in Jugendrat umbenannt, diese Bezeichnung aber kaum benutzt. Vgl. Aus der Bewegung, in: Jambo, Beilage DKJ, 6. Jg., 1929, S. 49. In der Regel war weiterhin von Jugendausschuss die Rede, womit allerdings unterschiedliche Funktionen verbunden werden konnten. Dies führte sogar innerhalb der DKG-Strukturen zu Konfusionen: „Wenn vom Jugendausschuss die Rede ist, so ist wohl zu verstehen das unter der Leitung von Professor Moritz stehende Jugendamt, das seinerseits dem Jugendausschuss […], der ein besonderer Ausschuss unseres Hauptausschusses ist, unterstellt ist. Diesem eigentlichen Jugendausschuss untersteht auch der Bund der Kolonial-Pfadfinder, dem Jugendamt speziell die deutsche Kolonialjugend.“ BArch, R 8023/151, Bl. 401, Schreiben an Moritz, 29.8.1931. Siehe auch BArch, R 8023/151, Bl. 357, Protokoll der Sitzung des Jugendausschusses der DKG vom 3.11.1931. 71 O.V.: Der Aufbau der kolonialen Jugendbewegung, in: Mitteilungen der DKG, 42. Jg., 1930, Nr. 1, o.S., Herv. i. Org. 72 Ebd. 73 Vgl. ebd. In der Berichterstattung wurden die Gruppentypen nicht konsequent differenziert und Jugendgruppe wurde auch als allgemeiner Terminus benutzt. 74 Vgl. o.V.: Der Ausbau unserer Bewegung, in: Mitteilungen der DKG, 41. Jg., 1929, Nr. 12, o.S. Es entstanden die Gaue Groß-Berlin und Brandenburg, Schlesien, Preußen, Norden, Anhalt, Sachsen, Thüringen, Rheinland-Westfalen, Pfalz-Saar und Maingau. Vgl. Deutsche Kolonialjugend: Jugendausschuss der DKG, in: Mitteilungen der DKG, 41. Jg., 1929, Nr. 12, o.S. Vermutlich geschah dies entsprechend der sich umstrukturierenden DKG, die seit 1927 eine Zusammenfassung ihrer Abteilungen in Gauverbände auf Länderebene durchführte. Ziel war, die Zusammenarbeit zwischen Zentrale und Abteilungen zu optimieren sowie erstgenannte durch die dezentralisierte Struktur zu entlasten. Vgl. Nöhre 1998, S. 41.
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Organisation und nationalen wie ethischen Erziehung für die koloniale Jugendbewegung zu gewinnen.“75 Der Beschluss des Jugendausschusses vom 23. Juni 1931 zur Gründung eines Bundes Deutscher Kolonialjugend galt als Voraussetzung für den Zusammenschuss mit den anderen kolonialen Jugendformationen und veränderte die Organisationsstruktur der Jugendarbeit der DKG ein weiteres Mal.76 Die Ziele des seit Ende des Jahres bestehenden Bundes waren eine „straffe Organisation“77 und die Zusammenführung von Gruppen mit gleicher Wirkungs- und Arbeitsweise. Er unterteilte sich in drei Untergruppen mit eigenen Satzungen und Leitungspersonen, die wiederum dem Bundesführer unterstanden. In den Schulen gab es die Jambolesegemeinschaften und kolonialen Schulgruppen, außerhalb der Schule bestand der Kolonialsturm, in der Hedwig von Wissmann-Jugend sammelten sich die Mädchen. Die drei Untergruppen waren in eine Bundes-, Regional- und Lokalstruktur sowie in verschiedene Altersgruppen unterteilt. Mitgliederzahlen wurden zwar nicht regelmäßig erfasst, aber die Kolonialjugend der DKG vereinte die meisten Heranwachsenden. Sie vergrößerte sich 1928 von 110 auf 160 Gruppen mit 12.000 Mitgliedern, die sich zu 70 Prozent in Schulgruppen befanden78 und somit das schwerpunktmäßige Engagement der DKG in Schulen verdeutlichen.79 Allerdings verweisen die Umstrukturierungen auf ihren Versuch, die Gruppen stärker aus dem Ansatz der Jugendpflege zu lösen und an bündische Organisierungsformen mit den Kolonialpfadfindern als Vorbild anzupassen.80
75 O.V.: Der Aufbau der kolonialen Jugendbewegung, in: Mitteilungen der DKG, 42. Jg., 1930, Nr. 1, o.S. 76 Vgl. Deutsche Kolonialjugend: Jugendausschuss der DKG: Sitzung des Jugendausschusses der DKG, in: Mitteilungen der DKG, 43. Jg., 1931, Nr. 7, S. 56. 77 BArch, R 8023/151, Bl. 389, Schreiben von Duems an Schnee, 1.7.1931. 78 Vgl. Jugendausschuss der DKG: Die Jugend ist unsere Zukunft, in: Mitteilungen der DKG, 41. Jg., 1929, Nr. 1, o.S. 79 Zum prozentualen Verhältnis der drei Untergruppen äußerte sich die DKG nicht. Es ist anzunehmen, dass die Hedwig von Wissmann-Jugend die kleinste Gruppe bildete, da über ein bedeutsames Anwachsen von Mädchengruppen nichts berichtet wurde. Die Anzahl der Schulgruppen schien gegenüber den außerschulischen Gruppen weiterhin zu dominieren, zumindest laut Christian Vasterling vom Deutschen Pfadfinderbund, der von „einigen […] losen Jugendgruppen“ berichtet. BArch, R 8023/399, Bl. 380, Text von Christian Vasterling zu Jugend und Kolonialfrage. 80 Vgl. Erich Duems: Die DKG seit Versailles (1919-1932), in: DKG (Hg.), Fünfzig Jahre DKG 1882-1932, Berlin 1932, S. 57-115, S. 106.
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Im Unterschied zur DKG betreute der Deutsche Kolonialkriegerbund tendenziell außerschulische Jugendgruppen. Nach ersten Gründungen um 192581 stieg ihre Anzahl kontinuierlich. Waren es im April 1927 noch 36, davon fünf in der Entstehungsphase, gab es im Mai 1928 bereits 48 Gruppen, die sich bis Februar 1930 auf 70 mit etwa 3000 Mitgliedern vermehrten.82 Seit spätestens 1929 bezeichnete der Kolonialkriegerbund seine Jugendgruppen als Koloniales Jugendkorps, dem überwiegend „ältere Jungen und Berufler“ angehörten.83 Über die Mitgliederwerbung liegen kaum Informationen vor. Es wurde versucht, auch die eigenen Söhne in den Jugendgruppen zu organisieren.84 Die Zunahme der Jugendgruppen betrachtete von Boemcken, geschäftsführendes Präsidialmitglied des Bundes, vor allem als Verdienst des seit 1928 tätigen Bundesjugendwartes, Hauptmann Schmitt, den er als „in der Jugendpflege erfahrenen und organisatorisch erfahrenen, tatkräftigen Jugendführer“ charakterisierte.85 Über seine Person wurde außer seinem militärischen Rang und seiner Funktion als Leiter des Jugendkorps bis 1933 nichts weiter bekannt gegeben. Der Kolonialkriegerbund war von seiner besonderen Berufung und Pflicht für die koloniale Jugendarbeit überzeugt, da, so von Boemcken, „gerade der Soldat am ehesten den Weg zum Herzen der Jugend findet, und die Jugend sich am liebsten von dem Soldaten leiten lässt.“86 Mit dieser Selbststilisierung zielten die kolonialen 81 Dazu gehörte auch die 1925 entstandene „Jungmanngruppe“ des in Berlin ansässigen und recht aktiven Kolonialvereins der Südwestafrikaner. Die nachfolgend gegründete „Jungmädchengruppe“ bestand 1927 aus 50 Mitgliedern, die der Jungen aus 80. Vgl. BArch, R 8023/345, Bl. 13, 20. Geschäftsbericht des Kolonialvereins der Südwestafrikaner 1927. 82 Vgl. BArch, R 1001/6752, Bl. 24, Jugendgruppen des DKB, 1.4.1927; BArch, R 1001/6752, Bl. 49, Schreiben des DKB, von Boemcken, an das Auswärtige Amt, Kolonialabteilung, 26.5.1928; BArch, R 1001/6752, Bl. 74, Schreiben des DKB, von Boemcken, an das Auswärtige Amt, Kolonialabteilung, Eltester, 4.2.1930. 83 BArch, R 8023/398, Bl. 380, Bericht des Bundessekretärs des Bundes Deutscher Kolonialpfadfinder, betr. Beschwerdeschreiben der Kolonialkrieger vom 4.5.1931. Allerdings gab es neben Jugendkorps auch die Bezeichnung Jugendabteilungen. Wahrscheinlich spiegelte diese Unterscheidung eine Altersdifferenzierung wider, sodass die Älteren zum Jugendkorps, die Jüngeren zu den Jugendabteilungen gehörten. 84 Beispielsweise sammelten sich in der Jugendgruppe des Kolonialvereins der Südwestafrikaner in Berlin vor allem Söhne der Vereinsmitglieder, jedoch waren nicht alle Söhne organisiert. Vgl. o.V.: Die Entwicklung der Jugendgruppe, in: Festschrift zum 25. Stiftungsfest des Kolonialvereins der Südwestafrikaner zu Berlin, 1908-1933, S. 26f. 85 BArch, R 1001/6752, Bl. 51, Schreiben des DKB, von Boemcken, an das Auswärtige Amt, 27.7.1928. Identisches Schreiben siehe BArch, R 1001/6746, Bl. 41. 86 BArch, R 1001/6752, Bl. 74, Schreiben des DKB, von Boemcken, an das Auswärtige Amt, Kolonialabteilung, Eltester, 4.2.1930. Ähnlich argumentierte von Epp: „Unsere Ko-
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Veteranenverbände darauf, die Jugend in „Zucht, Ordnung und Religion“ zu erziehen.87 Auch im (Namen des) Jugendkorps fand sich die Betonung des Militärischen wieder. Zur Verbreitung kolonialer Forderungen bemühte es sich insbesondere um Kooperationen mit Jugendverbänden anderer Kriegervereine, lud diese zu seinen Veranstaltungen ein und nahm an deren Aktivitäten teil. Einen anderen Verlauf nahm die Jugendarbeit des Deutschen Kolonialvereins. Hervorgegangen aus dem Kurmarkgau Deutscher Pfadfinder entstand am 5. August 1926 der Kolonialbund Deutscher Pfadfinder und schloss sich dem Kolonialverein als Jugendorganisation an. Zum Bundesmeister wurde im Mai 1927 Rektor Döring aus dem Vorstand des Kolonialvereins gewählt. Präsident Föllmer zufolge sei es dadurch „gelungen, zwischen diesen beiden Gegensätzen [Jugendpflege und Jugendbewegung S.H.], den Ausgleich zu schaffen, indem unsere Jugendorganisation zwar sich selbst verwaltet, aber in ihren Vorstand auch Herren unseres eigenen Ausschusses hineingewählt hat und damit der Zusammenhang zwischen den lebenden und heranwachsenden Geschlechtern hergestellt ist.“88
Allerdings lehnte ein Großteil der jungen Mitglieder die von Föllmer favorisierte Zusammenarbeit zwischen alter und junger Generation innerhalb der Bundesleitung ab. Dementsprechend begründete der am 4. März 1928 mit 320 Mitgliedern entstandene Bund Deutscher Kolonialpfadfinder seine Abspaltung vom Kolonialbund maßgeblich mit der Personalie Döring. Diesem fehle „Verständnis für Jugendfrische und Jungentum, pfadfinderische Stilgerichtigkeit und Herausschälung der Führerpersönlichkeit“.89 Der neue Bund forderte mehr Zusammenarbeit mit den Pfadfinderbünden und den kolonialen Jugendgruppen.90 Er wuchs beständig, zählte An-
lonien bedeuteten für die Kolonialkrieger die weitere Heimat, in der sie durch ein wechselvolles, arbeitsfreudiges und kampferfülltes Leben zu umsichtigen und tatenfrohen Männern gereift seien. Die Kolonialerfahrungen auf die Jugend zu übertragen, erscheine ihnen hohe Plicht.“ O.V.: Tagung der Kolonialkriegerjugend. Hannover vom 23. bis 26. Mai 1929, in: Kolonialpost, 1929, Nr. 6, S. 69-70, S. 69. 87 O.V.: Vereinsmitteilungen, Abteilung Oppeln, in: Kolonialpost, 1930, Nr. 12, S. 156. 88 BArch, R 1001/6747a, Bl. 143, Schreiben des DKV, Präsident Föllmer, an das Auswärtige Amt, 23.5.1927. 89 BArch, R 8023/398, Bl. 439, Bund Deutscher Kolonialpfadfinder: Warum zwei Bünde?, S. 5; siehe auch Schmidt 2006, S. 85. 90 Vgl. BArch, R 8023/398, Bl. 439, Bund Deutscher Kolonialpfadfinder: Warum zwei Bünde?, S. 5. Innerhalb der bündischen Jugend erklärte der neue Bund seine Entstehung mit der „Lösung der jungen Pfadfinderbewegung von der Bevormundung älterer, sie
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fang 1929 in 46 Gruppen 960 Jungen, Ende 1929 in 90 Gruppen 1850 Jungen und 1930 in 143 Gruppen 2830 Jungen. 91 Demgegenüber war der Kolonialbund Deutscher Pfadfinder mit rund 600 bis 800 Mitgliedern im Jahr 1930 weitaus kleiner.92 Der neu entstandene Bund Deutscher Kolonialpfadfinder verfolgte das Ziel, „den kolonialen Gedanken in der deutschen Jugend zu wecken und lebendig zu halten, eine neue Generation kolonialbegeisterter und -befähigter Deutscher heranzubilden“.93 Dieses teilte er mit den Jugendorganisationen der Kolonialverbände, agierte aber als selbstständige Organisation. Er zählte sich zur bündischen Jugend und beabsichtigte, sich qua seiner pfadfinderischen Ausrichtung insbesondere in der deutschen Pfadfinderbewegung zu betätigen.94 Zudem arbeitete er mit deutschen Pfadfindergruppen im Ausland zusammen und hatte sich, um diese Aufgaben auf einheitlicher Grundlage durchzuführen, dem Auslandsamt der deutschen Pfadfinderbünde angeschlossen.95 Seinen Zugang zur Kolonialjugend suchte er über die DKG, die er als „Trägerin der deutschen kolonialen Traditionen und Wegbereiterin zu einer neuen kolonialen Zukunft Deutschlands“ betrachtete.96 Ihr schloss er sich noch im März 1928 korporativ an und unterstand daher nicht wie der Bund Deutscher Kolonialjugend dem Leiter des Jugendausschusses.97 Dennoch bestanden enge personelle und organisanicht verstehender Kreise und ‚Interessenten‘“. O.V.: Bund Deutscher Kolonialpfadfinder, in: Der Zwiespruch, 10. Jg., 1928, Nr. 36, o.S. 91 Vgl. Die Arbeiten der DKG. Jahresbericht 1929, Berlin, S. 22; BArch, R 8023/398, Bl. 387, Notizen zu den Jahresberichten 1929 und 1930. 92 Vgl. BArch, R 8023/398, Bl. 453, Der Deutsche Pfadfinderverband! – D.P.V. Im Jahresbericht des DKV von 1927 – also vor der Spaltung – hieß es, der Bund habe sich „[a]us kleinen Anfängen heraus […] über ganz Deutschland erstreckt“. Jahresbericht des DKV für das Jahr 1927, in: Brücke zur Heimat, 27. Jg., 1927, Nr. 10, S. 156. Im Jahr 1930 war er am stärksten in Sachsen und im Rheinland vertreten. Unmittelbar nach der Spaltung forderte der Kolonialbund wegen Verwechselungsgefahr eine Namensänderung des Bundes Deutscher Kolonialpfadfinder und war sogar zur Einleitung gerichtlicher Schritte bereit. Die Namensänderung konnte er letztlich nicht durchsetzen. Vgl. die Schriftwechsel BArch, R 1001/6746, Bl. 44-51. 93 O.V.: Bund Deutscher Kolonialpfadfinder, in: Mitteilungen der DKG, 40. Jg., 1928, Nr. 4, o.S. 94 Vgl. o.V.: Drei Jahre Bund Deutscher Kolonialpfadfinder, in: Mitteilungen der DKG, 43. Jg., 1931, Nr. 2, S. 16. 95 Vgl. Aus der Bewegung, in: Jambo, Beilage DKJ, 6. Jg., 1929, Nr. 3, S. 12. 96 O.V.: Bund Deutscher Kolonialpfadfinder, in: Mitteilungen der DKG, 40. Jg., 1928, Nr. 4, o.S. 97 BArch, R 1001/6746, Bl. 154, Schreiben des Generalsekretärs der DKG, Duems, an das Auswärtige Amt, Abteilung für koloniale Angelegenheiten, 16.7.1931.
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torische Verbindungen. Der Generalsekretär der DKG, Erich Duems, fungierte als Verbindungsperson zum Bund Deutscher Kolonialpfadfinder,98 dessen Sekretariat Ende 1929 auf eigenen Antrag in die Zentrale der DKG einzog. Der neue Bundessekretär Rudi Hartlieb fand Anstellung im Jugendausschuss und war zugleich für die Kolonialpfadfinder tätig. Der DKG konnte dieses Arrangement nur recht sein, erhoffte sie sich doch davon eine „noch engere Zusammenarbeit mit dem Bunde und damit eine starke Förderung desselben im kolonialen Sinne.“ 99 Sie unterstützte den Bund auch finanziell mit jährlich 2400 Reichsmark.100 Die Spaltung der Pfadfinderverbände änderte nichts daran, dass sich beide auf den kolonialen Entstehungskontext des Pfadfindertums, namentlich auf Maximilian Bayer beriefen. Als Kolonialoffizier hatte er am Kolonialkrieg in Deutsch-Südwestafrika teilgenommen, den im Januar 1911 in Berlin entstandenen Deutschen Pfadfinderbund mitbegründet und dessen Führung bis zu seinem Tod 1917 übernommen.101 Abgesehen von den gegensätzlichen Standpunkten zur Zusammensetzung der Bundesleitung, schienen die beiden Bünde keine unterschiedliche pfadfinderische Praxis entwickelt zu haben. Dafür spricht die Tatsache, dass die Ablösung Dörings als Bundesmeister den Weg für die Fusion der beiden Bünde bereitete. Sie orientierten sich an den Pfadfindergesetzen, die Werte und Eigenschaften wie Ehre, Vaterlandsliebe, Aufrichtigkeit, Hilfsbereitschaft, Kameradschaft, Gehorsam, Arbeitsfreudigkeit und Reinheit vorschrieben.102 Diese galt es, in einer Kombination von Heimabenden, Fahrten und Zeltlagern zu erlernen und in permanenter Wiederholung zu praktizieren.103 An der Spitze des Bundes stand die Bundesleitung, die sich aus dem Bundesführer, dem Bundeskanzler als Verwalter der Geschäftsstelle und dem Bundessekre-
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Seit 1931 hatte er in der Bundesleitung das Kolonialamt inne. Vgl. BArch, R 8023/398, Bl. 228, Bundesleitung des Deutschen Kolonialpfadfinderbunds, Erhard Pörschmann, an den Bund.
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BArch, R 8023/398, Bl. 499, Schreiben an Klingelhage, 2.11.1929. Für die Beschäftigung erhielt er 120 Mark von der DKG und 60 Mark vom Bund Deutscher Kolonialpfadfinder.
100 Vgl. BArch, R 8023/398, Bl. 353, Schreiben der DKG an das Auswärtige Amt, 16.7.1931. 101 Vgl. dazu ausführlicher Bowersox 2007, S. 240-245. In der Vorkriegszeit war der Deutsche Pfadfinderbund straff und hierarchisch organisiert. Die Leitungsebene setzte sich vor allem aus Militärangehörigen niederen Ranges, gymnasialen Oberlehrern und Beamten zusammen. Vgl. Seidelmann 1977, S. 36. 102 Vgl. für die zehn Pfadfindergesetze BArch, R 1001/6746, o.Bl.; o.V.: Kolonialbund Deutscher Pfadfinder, Berlin o.J., S. 15. 103 Dies wird in Abschnitt 3.2. ausführlicher beleuchtet.
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tär, zuständig für Verwaltung und Kasse, zusammensetzte.104 Das Organisationsprinzip sah in Entsprechung zur Pfadfinderbewegung Bund, Gau, Trupps/Stämme und Gruppen/Fähnlein vor. Das Alter der Mitglieder lag zwischen zehn und 25 Jahren.105 Der Fusion der beiden Pfadfinderbünde Ende 1931 zum Deutschen KolonialPfadfinderbund war die Übernahme der Bundesführung durch Erhard Pörschmann im Kolonialbund Deutscher Pfadfinder vorausgegangen.106 Die Ziele änderten sich dadurch nicht, auch fortan war die „‚Arbeit in der Jugend für den deutschen Kolonial-, Siedlungs- und Grenzlandgedanken und für die geistige und körperliche Jugendertüchtigung im Sinne des deutschen Pfadfindertums‘“ zentral. 107 Dies bedeutete, dass die Kolonialpfadfinder ihre Arbeit nicht nur auf die ehemaligen Überseeterritorien, sondern auch auf deutsche Grenzgebiete, vor allem im Osten, richteten. Mit seinen rund 5000 Mitgliedern war der neue Bund zum zweitstärksten Pfadfinderbund in Deutschland geworden.108 Seine genaue Zusammensetzung ist nicht bekannt, aber der Bund Deutscher Kolonialpfadfinder bestand Mitte 1931 aus 80 Prozent Schülern und 20 Prozent Berufstätigen.109
104 Neben diesen Funktionen gab es ein Bundesschrift- und ein Bundeslichtbildamt. Die Schaffung eines Kolonial- und Auslandsamtes beschloss der Bund Deutscher Kolonialpfadfinder erst im Juli 1931. Vgl. o.V.: Bund Deutscher Kolonialpfadfinder, in: Mitteilungen der DKG, 43. Jg., 1931, Nr. 7, S. 56. 105 Vgl. Schmidt 2006, S. 87. Siehe ebd. zur Alterseinteilung mit den entsprechenden Bezeichnungen und Prüfungen. 106 Dem Zusammenschluss hatten die Bundesführer auf den im Dezember 1931 in Leipzig und Braunschweig abgehaltenen Bundesversammlungen zugestimmt. Vgl. BArch, R 8023/398, Bl. 310, Deutscher Kolonial-Pfadfinderbund, o.D.; Deutscher KolonialPfadfinderbund: Zusammenschluß der kolonialen Pfadfinderbünde, in: Mitteilungen der DKG, 44. Jg., 1932, Nr. 1, S. 8. 107 Ebd., Herv. i. Org. Vor der Fusion hatte der Bund Deutscher Kolonialpfadfinder konstatiert: „Neben dem Kolonialgedanken finden auch der großdeutsche Gedanke und die Grenzlandarbeit reiches Betätigungsfeld im Bunde.“ Aus der Bewegung, in: Jambo, Beilage DKJ, 6. Jg., 1929, Nr. 3, S. 12. 108 Vgl. Schmidt 2006, S. 86; vgl. auch Erich Duems: Die DKG seit Versailles (19191932), in: DKG (Hg.), Fünfzig Jahre DKG 1882-1932, Berlin 1932, S. 57-115, S. 106. 109 Vgl. BArch, R 8023/398, Bl. 380, Bericht des Bundessekretärs des Bundes Deutscher Kolonialpfadfinder, betr. Beschwerdeschreiben der Kolonialkrieger vom 4.5.1931. Sich auf bündische Gruppen allgemein beziehend konstatiert Seidelmann, dass die jugendlichen Führer „nahezu ausnahmslos höhere Schüler, Studenten und unfertige Berufsanfänger [waren, S.H.], dagegen wenige Lehrlinge, hier und da Volksschüler.“ Seidelmann 1977, S. 54f.
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Die wenigsten Jugendgruppen betreute der Bund der Kolonialfreunde. Nach der Gründung seiner ersten beiden Gruppen 1925 in Berlin gehörten ihm bis Mai 1927 zehn Gruppen mit Jungen- und Mädchenabteilungen und rund 800 Jugendlichen an.110 Allerdings erteilte der Bund der Jugendarbeit Ende 1929 eine entschiedene Absage. Er sei „kein Erziehungsverein“ und wollte in seine Arbeit für die Rückgewinnung der ehemaligen Kolonien nur Erwachsene einbinden.111 Spätestens mit seinem Anschluss an die DKG 1931 waren auch die verbliebenen Jugendgruppen an diese gebunden.112 Mit der getrennt verlaufenden Jugendarbeit gab sich die DKG in den nachfolgenden Jahren nicht zufrieden. Insbesondere der recht aktive Gau Norden forderte den Zusammenschluss aller kolonialen Jugendverbände unter gemeinsamer Leitung.113 Ende 1929 versuchte der Jugendausschuss, der mit dem Bund Deutscher Kolonialpfadfinder bereits eng, aber keineswegs nur konfliktfrei, kooperierte und somit einen Großteil der Kolonialjugend um sich vereinte, auch die Kolonialkriegerjugend zu einem „Anschluss“ zu bewegen und so die Zusammenarbeit in Berlin auf eine reichsweite Grundlage zu stellen.114 Gegenüber der Öffentlichkeit sollten die drei Jugendformationen unter „straffe[r] Zentralisation“ als „organisches Ganzes“ erscheinen, in der internen Struktur aber die jeweilige „Eigenart“ beibehalten.115
110 Vgl. BArch, R 1001/6733, Bl. 152f., Schreiben des Bundes der Kolonialfreunde an das Auswärtige Amt, Abteilung für koloniale Angelegenheiten, 21.5.1927. 111 Wilhelm Mickausch: Die koloniale Jugendfrage, in: Der Kolonialfreund, 7. Jg., 1929, Nr. 10, S. 11. 112 Der Bund fusionierte 1929 mit der 1926 gegründeten Gesellschaft für koloniale Erneuerung zum Bund für koloniale Erneuerung, der mit seiner Auflösung 1931 zur DKG wechselte. Vgl. Jacob 1934, S. 66. 113 Eine entsprechende Entschließung richtete er an die von der Korag veranstaltete Kolonialtagung in Hannover. Vgl. Aus der Bewegung, in: Jambo, Beilage DKJ, 1929, 6. Jg., Nr. 7, S. 28. 114 BArch, R 8023/151, Bl. 495, Entwurf von Deeken betreffend der Herstellung einer engeren Arbeitsgemeinschaft zwischen den Jugendgruppen des Kolonial-Kriegerbundes und der DKG, 15.11.1929. 115 Ebd. Nach Angaben der DKG vereinten die drei Jugendformationen etwa 80-90% der gesamten Kolonialjugend, während die restlichen Jugendgruppen zum Bund der Kolonialfreunde und zum Deutschen Kolonialverein gehörten. Zudem betonte die DKG, dass weder zwischen ihr und dem Kolonialverein noch zwischen dem Bund Deutscher Kolonialpfadfinder und dem Kolonialbund Deutscher Pfadfinder Kooperationen bestünden. Vgl. o.V.: Der Aufbau der kolonialen Jugendbewegung, in: Mitteilungen der DKG, 42. Jg., 1930, Nr. 1, o.S.
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Vorerst verkündete die DKG im Dezember 1929 nur das Bestehen einer Arbeitsgemeinschaft zwischen ihrem Jugendausschuss, dem Jugendwart des Kolonialkriegerbundes und dem Bund Deutscher Kolonialpfadfinder,116 die die Durchführung gemeinsamer Kundgebungen und Veranstaltungen zum Ziel hatte. 117 So fanden die kolonialen Jugendtagungen 1930 in Naumburg und 1932 in Ballenstedt als gemeinsame öffentlichkeitswirksame Veranstaltungen der Reichsarbeitsgemeinschaft Deutscher Kolonialjugend statt, hatten aber auch Konflikte zur Folge. Sie brachten die Arbeitsgemeinschaft ins Stocken und sollten die Bildung eines gemeinsamen Bundes bis 1933 verzögern. Neben der bestehenden Konkurrenz zwischen DKG und Kolonialkriegerbund, die sich vor allem aus der sozialen Zusammensetzung118 und dem Gewinnen von jeweils eigenem Nachwuchs speiste, trugen dazu Auseinandersetzungen und Misstrauen zwischen den kolonialen Jugendorganisationen in verschiedenen Konstellationen auf Bundes- und Lokalebene bei. Sie entstanden aufgrund unterschiedlicher Organisierungs- und Ausdrucksformen, die insbesondere während der Naumburger Tagung virulent geworden waren. Der Bundessekretär der Kolonialpfadfinder, Hartlieb, betrachtete die bündische Auffassung, mit der sich die Kolonialpfadfinder zur Elite innerhalb der Kolonialjugend stilisierten, als unvereinbar mit der militärischen und vereinsmäßigen Ausrichtung des Jugendkorps.119 Das Resultat dieser Verschiedenheit waren Mitgliederab116 Vgl. Deutsche Kolonialjugend: Jugendausschuss der DKG, in: Mitteilungen der DKG, 41. Jg., 1929, Nr. 12, o.S. An anderer Stelle wird als Entstehungszeitpunkt für die Arbeitsgemeinschaft Januar 1930 angegeben. BArch, R 8023/151, Bl. 343, Richtlinien für die Zusammenarbeit der Abteilungen der DKG mit der Jugendorganisation der DKG und dem Jugendamt der DKG, o.D. [Ende 1931, S.H.]. 117 Vgl. Deutsche Kolonialjugend: Jugendausschuss der DKG, in: Mitteilungen der DKG, 42. Jg., 1930, Nr. 3, o.S. 118 Vgl. Jugend und Kolonien. Jahresbericht des Jugendausschusses der DKG, in: Mitteilungen der DKG, 43. Jg., 1931, Nr. 3, S. 20. Im Unterschied zur DKG, die u.a. aus Gouverneuren und Angehörigen des akademischen Bildungsbürgertums bestand, war beim Kolonialkriegerbund die Selbstdarstellung von „kämpferischer und soldatischer Männlichkeit“ geprägt und in seinen Reihen eine „gehörige[…] Portion Anti-Intellektualismus“ vorhanden. Maß 2006, S. 57. 119 Vgl. BArch, R 8023/398, Bl. 380, Bericht des Bundessekretärs des Bundes Deutscher Kolonialpfadfinder, betr. Beschwerdeschreiben der Kolonialkrieger vom 4.5.1931. Ausgangspunkt für die Auseinandersetzungen waren u.a. zwei teilweise polemische Artikel von Kolonialpfadfindern, die sich über das Auftreten des Jugendkorps belustigt hatten. Vgl. Peter Martin Lampel: Bericht eines Schlachtenbummlers, in: Kolonialspäher, 3. Jg., 1930, Nr. 7/8, S. 99-102; Simba-Dessau: Zwiesprache. Koloniale Jugendvereinigung?, in: Kolonialspäher, 4. Jg., 1931, Nr. 1, S. 22. Im dann folgenden Schlagabtausch zwischen Hartlieb und Schmitt standen gegenseitige Beschuldigungen über Res-
2. Die junge Generation als Zielgruppe der Kolonialbewegung | 93
werbungen zwischen den kolonialen Jugendorganisationen, um die jeweils eigene Gruppe zu stärken. Während sich Jugendkorps-Leiter Schmitt in der Sitzung der Reichsarbeitsgemeinschaft am 31. Mai 1931 über Werbeversuche seitens des Bundes Deutscher Kolonialpfadfinder beschwerte, erntete dieser zugleich Kritik von DKG-Vertreter Moritz wegen Abwerbungen von DKG-Jugendgruppen in Thüringen durch den dortigen Kolonialkriegerbund. Vor diesem Hintergrund forderte Moritz mit Verweis auf die „klaren Abmachungen der Arbeitsgemeinschaft“ dazu auf, „den Besitzstand der anderen [zu, S.H.] achten, andernfalls habe der Bund keinen Sinn.“120 Dennoch kamen Abwerbungen offensichtlich weiterhin vor. In der am 24. September 1931 zwischen dem Bund Deutscher Kolonialpfadfinder und dem Jugendamt der DKG gefassten Vereinbarung erklärten sie gegenseitige Werbeversuche als „unstatthaft“ und stimmten zu, ihre jeweiligen Gruppen zur Einhaltung zu verpflichten und insbesondere die Gruppenführer zur Verantwortung zu ziehen.121 Weitere Kritik richtete sich insbesondere auf das Verhalten des Bundes Deutscher Kolonialpfadfinder. Einige DKG-Repräsentanten warfen ihm die Kooperationsverweigerung bei Veranstaltungen, ein „Sonderleben“ und die „Absonderung […] innerhalb der Arbeitsgemeinschaft“ vor.122 Dennoch wurde an der Gründung eines gemeinsamen Bundes festgehalten, der allerdings „aus der Initiative der Jugend, vertreten durch ihre Führer, geschehen müsse, ohne Zutun der Mutterverbände.“ 123 pektlosigkeit und Irreführungen im Vordergrund. Vgl. BArch, R 8023/398, Bl. 382-383, Bericht des Bundesjugendwartes des Deutschen Kolonialkriegerbundes, Schmitt, 3.4.1931; BArch, R 8023/398, Bl. 379-380, Bericht des Bundessekretärs des Bundes Deutscher Kolonialpfadfinder, betr. Beschwerdeschreiben der Kolonialkrieger vom 4.5.1931. Mehr Bedeutsamkeit erlangte die Angelegenheit durch das Eingreifen der Erwachsenenverbände. Von Boemcken bat den Präsidenten der DKG um Aufklärung und betonte die Notwendigkeit des „friedliche[n] Zusammenarbeiten[s] der kolonialen Verbände.“ BArch, R 8023/398, Bl. 381, Schreiben des Deutschen Kolonialkriegerbundes an Schnee, 4.5.1931. 120 BArch, R 8023/151, Bl. 425, Sitzung der Reichsarbeitsgemeinschaft deutscher Kolonialjugend, 31. Mai, o.J. [1931, S.H.]. 121 BArch, R 8023/151, Bl. 370, Besprechung zwischen dem stellvertretenden Bundesführer des Bundes Deutscher Kolonialpfadfinder und dem Leiter des Jugendamtes in Gegenwart von Duems und Hartlieb, 24.9.1931. 122 BArch, R 8023/151, Bl. 425f., Sitzung der Reichsarbeitsgemeinschaft deutscher Kolonialjugend, 31. Mai, o.J. [1931, S.H.]. 123 Ebd., Bl. 426. Dass der Jugendausschuss der DKG beschloss, vor der Bildung eines Gesamtbundes zunächst einen eigenen Bund Deutscher Kolonialjugend zu gründen, kritisierte der Gau Norden vehement. Der folgende Antrag zeigt, dass es auch in der DKG Auseinandersetzungen um die Weiterentwicklung der Kolonialjugend gab: „Die südlichen Feldschaften des Gaues ‚Norden‘ haben mit Entrüstung davon Kenntnis genom-
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Die an ihnen geübte Kritik gaben die Kolonialpfadfinder teilweise zurück. In Leipzig seien weder zur Einweihung ihres Landheims noch zu einem Eltern- und Freundesabend Vertreter des Bundes Deutscher Kolonialjugend gekommen. 124 Inwieweit die Vorwürfe gegenüber den Kolonialpfadfindern berechtigt waren, lässt sich nicht eindeutig beantworten. Allerdings verzögerten sie im Vorbereitungsprozess zur vierten Jugendtagung in Ballenstedt die angestrebte Reaktivierung des Beschlusses zur Reichsarbeitsgemeinschaft und begründeten dies mit der notwendigen Abstimmung innerhalb des gesamten Bundes.125 Während sich Schmitt und Maywald über strittige Punkte bereits geeinigt hatten,126 warf Maywald den Kolonialpfadfindern Sabotage vor und betrachtete Hartliebs Agieren als „Gefahr“ für den „Frieden“ im Pfadfinderbund, in der DKG sowie im Verhältnis zwischen Pfadfinderbund und Bund Deutscher Kolonialjugend.127 Letztendlich nahmen alle men, dass die […] 1931 beschlossenen Einigkeitsbestrebungen nicht durchgeführt werden konnten. Sämtliche Feldscharen und Unterführer […] können sich des Eindrucks nicht erwehren, das bei der Mehrzahl der Führer die Interessen ihres Mutterverbandes den Interessen der zu einigenden Kolonial-Jugend vorangestellt werden. Der Gau ‚Norden‘ fordert die in seinen Reihen herrschende Einigkeit für die gesamte Deutsche Kolonial-Jugend. In einem grossen Teil der Kolonial-Jugend herrscht der feste Wille, ihre Angelegenheit selbst in die Hand zu nehmen, und sich geeignete Führer zu erwählen.“ BArch, R 8023/151, Bl. 394, Antrag der südlichen Feldschaften des Gaues „Norden“, 23.8.1931. Siehe auch Deutsche Kolonialjugend: Jugendausschuss der DKG, in: Mitteilungen der DKG, 43. Jg., 1931, Nr. 9, S. 71. 124 Vgl. BArch, R 8023/398, Bl. 196, Schreiben des Deutschen Kolonial-Pfadfinderbundes, Pörschmann, an Duems, 27.7.1932. 125 BArch, R 8023/398, Bl. 256, Schreiben von Klingelhage an Duems, 4.4.1932. Die drei beteiligten Jugendverbände sollten die Reichsarbeitsgemeinschaft auf der Basis des am 27. Januar 1930 gefassten Beschlusses „ungeachtet des Vergangenen in vollem Umfange“ wieder anerkennen. BArch, R 8023/151, Bl. 330, Reichsarbeitsgemeinschaft Deutscher Kolonial-Jugend, Rundschreiben Nr. 1/1932, 10.1.1932. 126 BArch, R 8023/151, Bl. 329, Abmachung zwischen Hauptmann a.D. als dem Korpschef des Deutschen Kolonial-Jugendkorps und Dr. Maywald als dem Bundesführer, 10.1.1932. Sie einigten sich auf folgende vier Punkte: „1.) Ballenstedt soll […] als gemeinsame Veranstaltung der Reichsarbeitsgemeinschaft behandelt werden. […] 2.) Den Vorsitz der Reichsarbeitsgemeinschaft übernimmt Dr. Maywald. 3.) Die Möglichkeit eines engeren, über den Rahmen der Reichsarbeitsgemeinschaft hinausgehenden Zusammenschlusses zwischen dem Deutschen Kolonialen Jugendkorps und dem Deutschen Kolonial-Pfadfinderbund und dem B.D.K.J. wird grundsätzlich anerkannt. 4.) Der Jambo wird als Organ auch vom Kolonialen Jugendkorps anerkannt.“ 127 BArch, R 8023/398, Bl. 293, Schreiben vom BDKJ, Bundesführer Maywald, an Duems, 26.2.1932.
2. Die junge Generation als Zielgruppe der Kolonialbewegung | 95
drei Gruppen an der Tagung teil. Die bereits bestehenden Konflikte setzten sich allerdings fort. Umso mehr setzte die DKG in der Darstellung der kolonialen Jugend auf militärische Begriffe. Der Zusammenschluss des Bundes Deutscher Kolonialjugend und des Deutschen Kolonial-Pfadfinderbundes im Jungkolonialen Ring sollte nach außen als „gemeinsame[…] koloniale[…] Front“ fungieren und zugleich untereinander „jegliche[…] Rivalität“ verhindern.128 Dies funktionierte nur eingeschränkt. Im Gau Westfalen und Rheinland lagen Konflikten auch Generationenauseinandersetzungen zugrunde, die der dortige Leiter der DKG-Jugend, Miksch, beschrieb. Seit der Tagung in Ballenstedt „fühlen sich […] die Pfadfinder stark genug, jede freundschaftliche Beratung durch die Erwachsenen, auch mich, abzulehnen. Dagegen bitten sie nicht mehr um geldliche Beihilfen, sondern fordern sie, weil sie doch die Propagandaträger seien. […] Bei aller Anerkennung einer gesunden Selbstbetätigung der Jugend ist entschieden zu fordern, daß sie wieder lernt, die Erfahrungen der Erwachsenen zu achten, andernfalls wird sie auf unsere Unterstützung verzichten müssen.“ 129
Mikschs Empörung verdeutlicht, dass er die elitäre Haltung der Pfadfinder nicht akzeptierte und nach Kontrolle strebte. Seine Ausführungen zeigen aber auch, dass sich die Kolonialpfadfinder gegenüber erwachsenen Leitern der DKG-Jugend durchaus zu behaupten wussten und für ihre Jugendarbeit eigene Forderungen stellten. Weitere strukturelle Veränderungen gab es im Jahr 1932 nicht mehr. Die endgültige Vereinigung des Bundes Deutscher Kolonialjugend, des Deutschen Kolonial-Pfadfinderbundes und des Deutschen Kolonial-Jugendkorps fiel schon in die Zeit des Nationalsozialismus und erfolgte letztlich als Reaktion auf den politischen Machtwechsel. Am 28. April 1933 fusionierten sie im Deutschen Kolonialsturm, der sich als „Kampftrupp für die koloniale Idee“ verstand. 130 Deutlich wird hier einmal mehr der Versuch, der realen Schwäche mit militaristischer Sprache zu begegnen. Darüber hinaus wurde mit Franz Ritter von Epp an der Spitze, der bereits seit 1928 Mitglied der NSDAP war, ein Zusammenschluss des Deutschen Koloni128 O.V.: Jungkolonialer Ring, in: Mitteilungen der DKG, 44. Jg., 1932, Nr. 7, S. 56. 129 BArch, R 8023/151, Bl. 292, Schreiben von Miksch an Lindequist, 26.6.1932, Herv. i. Org. 130 BArch, R 8023/151, Bl. 145, Deutscher Kolonial-Pfadfinderbund, Rudi Hartlieb, an den Präsidenten der DKG, Schnee, 3.3.1933. Erster Leiter war der Kolonialpfadfinder Rohr, zweiter Leiter der Kolonialjugend-Vertreter Sannemann und Schmitt vom Jugendkorps für das Wehrsportamt vorgesehen. BArch, R 8023/151, Bl. 146, Deutsches KolonialJugendkorps, Korps-Verfügung Nr. 22, 1.5.1933; vgl. auch Schmidt 2008, S. 59.
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alsturms mit den restlichen kolonialen Jugendorganisationen, d.h. allen Mädchengruppen und dem beim Kolonialkriegerbund verbliebenen Teil des Jugendkorps, in einem Kolonialen Ring angestrebt.131 Schmitt zufolge waren die beiden Formationen die „einzige Lösung zur Vertretung kolonialer Interessen innerhalb der deutschen Jugend“.132 Mit dieser Strategie versuchte die koloniale Jugendbewegung, ihr koloniales Betätigungsfeld zu wahren. Im Juli 1933 erfolgte schließlich ihre Integration in die Hitlerjugend als ‚Kolonialscharen‘.133 Dieser Überblick zu den drei Phasen der kolonialen Jugendarbeit hat gezeigt, dass die Kolonialverbände insbesondere in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre zahlreiche Kolonialvorträge an Schulen organisierten. Dennoch konnten sie in Schul- und Jugendgruppen nur rund 15.000 – daneben die Kolonialpfadfinder weitere 5000 Jugendliche – für koloniales Engagement mobilisieren. Diese Gruppen wiederum waren in unterschiedlicher Dichte im gesamten Reichsgebiet präsent. Konsolidierungsprozesse bestehender und Gründungen neuer Kolonialverbände in den ersten Nachkriegsjahren ließen die Jugendarbeit zunächst zögerlich beginnen, diese intensivierte sich mit dem 1924 eingerichteten Kolonialen Jugendausschuss. Allerdings rief dieser auch Konflikte um finanzielle Ressourcen und Einflussbereiche hervor, sodass die Kolonialverbände ihre Jugendgruppierungen seit 1928 getrennt organisierten. Diese waren vor allem mit sich selbst und miteinander, mit Spaltungen und Fusionen in unterschiedlichsten Konstellationen beschäftigt. Gründe dafür waren Machtkämpfe zwischen den Erwachsenenverbänden um die eigene Nachwuchssicherung und die Vergewisserung der eigenen Legitimität, aber auch Konflikte zwischen Vertretern verschiedener Generationen, in denen sich die Jüngeren durchaus zu behaupten wussten. Die Kolonialpfadfinder beharrten in ihrer Kooperation mit der DKG auf Autonomie und widersetzen sich Vereinbarungen. Dieses Verhalten kritisierten Vertreter aus verschiedenen Erwachsenenverbänden, allerdings hielten insbesondere Mitglieder der DKG an der Zusammenarbeit fest, wollten sie doch ihre Verbindung zum Spektrum der bündischen Jugend nicht verlieren. Schließlich konnte der endgültige Zusammenschluss der verschiedenen kolonialen Jugendorganisationen erst durch die beabsichtigte Selbstbehauptung innerhalb der Hitlerjugend erzielt werden. 131 Vgl. BArch, R 8023/151, Bl. 146, Deutsches Kolonial-Jugendkorps, Korps-Verfügung Nr. 22, 1.5.1933. Am 10. März 1933 hatte sich ein Teil des Jugendkorps vom Kolonialkriegerbund unabhängig erklärt, um „das unnatürliche Zwangsverhältnis zwischen Jung und Alt“ zu beenden. Fortan sollte eine „freiwillige Arbeitsgemeinschaft beider in echter Kameradschaft mit gemeinsamen kolonialen Zielen“ bestehen. BArch, R 8023/151, Bl. 158, Deutsches Kolonial-Jugendkorps, Korps-Verfügung Nr. 17, 10.3.1933. 132 BArch, R 8023/151, Bl. 146, Deutsches Kolonial-Jugendkorps, Korps-Verfügung Nr. 22, 1.5.1933. 133 Vgl. Schmidt 2008, S. 60.
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Der folgende Abschnitt zeigt, dass den organisationsgeschichtlichen Entwicklungen der kolonialen Jugendarbeit über die Jahre sich ausdifferenzierende Wahrnehmungen der jungen Generation zugrunde lagen. Diese diskutierten die Kolonialverbände insbesondere seit Ende der 1920er Jahre stärker im Zusammenhang mit dem Generationenverhältnis. Nicht zuletzt durch die Aktivitäten der Kolonialpfadfinder mit ihren eigenen (politischen) Vorstellungen, mussten die Kolonialverbände erkennen, dass ihre Jugendarbeit nicht mehr zeitgemäß war.
2.2 DIE ‚JUGENDFRAGE‘: KONTINUITÄTEN SCHAFFEN IN DER KOLONIALBEWEGUNG Die Bedeutung der jungen Generation für die eigene Arbeit konstatierten Männer und Frauen der Kolonialverbände seit 1919 in ihren Zeitschriften und internen Schriftwechseln. Ihre überwiegend adeligen und bürgerlichen Mitglieder waren durch das Kaiserreich geprägt, hatten in dieser Zeit eine höhere Schullaufbahn und Ausbildung absolviert134 und – was vor allem für die Männer zutrifft – eine berufliche Existenz aufgebaut. Bei dem Versuch, ihre kolonialen Vorstellungen und Forderungen an Heranwachsende weiterzugeben, standen sie einer jungen Generation gegenüber, deren Sozialisation maßgeblich vom Kriegsgeschehen, von Phasen wirtschaftlicher Not und sozialer Unsicherheit geprägt war. Wie die Kolonialakteurinnen und -akteure diese Jugend wahrnahmen, welche Hoffnungen und Erwartungen sie an diese knüpften und wie sie sich selbst zu ihr in Beziehung setzten, steht im Mittelpunkt dieses Abschnitts. Welche Rolle spielten dabei die Mythisierung von Jugend, koloniale Traditionspflege und Geschlechtervorstellungen?135 Welchen Einfluss hatte der um 1927/28 beginnende Zuwachs der NSDAP und des ‚völkischen‘ Spektrums auf die koloniale Jugendarbeit? Schon früh erklärten die Kolonialverbände Jugend zum Symbolträger und reihten sich in den zeitgenössischen Diskurs ein. Wie zahlreiche andere, mit Jugendarbeit beschäftigte Verbände und Institutionen machten sie sich den prominenten Slogan „Nur wer die Jugend hat, hat die Zukunft.“ zu eigen.136 Jugend wurde damit auch von den Kolonialakteurinnen und -akteuren mythisiert und zu einem Wert an sich stilisiert,137 mit dem Aufbruch und Veränderung einhergehen sollten. 134 Vgl. Maß 2006, S. 14. 135 In den Beiträgen von Schmidt 2008, Speitkamp 2006 und Nöhre 1998 wird die Kategorie Geschlecht nicht explizit berücksichtigt. 136 Fritz Maywald: Wie gewinnen wir die Jugend dem [sic] kolonialen Gedanken?, in: Der Kolonialdeutsche, 4. Jg., 1924, Nr. 6, S. 86. Der Slogan fand bereits während der Hauptversammlung der DKG im Jahr 1920 Erwähnung. Vgl. Nöhre 1998, S. 79. 137 Vgl. Stambolis 2003, S. 23.
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Für die Kolonialverbände bedeutete Veränderung vor allem die Wiederherstellung des Alten. Sie beobachteten andere politische Vereine und bewerteten das Werben um Nachwuchs als Machtfrage, wie 1925 der Leiter einer Jugendgruppe des Bundes der Kolonialfreunde: „Diese Verbände wissen wohl, daß wer die Jugend hinter sich hat, die Macht in Händen hat. Die Jugend ist ideal veranlagt und läßt sich leicht in die gewünschten Bahnen lenken. Später füllt sie als eifrig kämpfendes Mitglied die entstehenden Lücken aus.“ 138 Diese instrumentelle Sichtweise, die das nach 1919 in der jungen Generation wachsende Bedürfnis nach Selbstständigkeit ignorierte und sie lediglich als „Rekrutendepot“139 betrachtete, reflektierte die Kolonialbewegung erst in den späten 1920er Jahren, als ihre mäßigen Erfolge in der Jugendarbeit immer deutlicher wurden. Ein anderer Autor versuchte 1925 die Besonderheit von Jugend für die koloniale Zukunft durch einen Rekurs auf die koloniale Vergangenheit zu zementieren, indem er den Beginn des deutschen Kolonialreichs als Verdienst der Jugend, die er männlich dachte, darstellte: „Es waren nicht die erfahrenen Wirtschaftler und Staatslenker in erster Linie, die uns die ersten Kolonien erwarben. Hat doch selbst unser größter Staatsmann nur zögernd sich dieser neuen Bewegung angeschlossen, sondern das begeisterte Einsetzen der stürmenden und drängenden Jugend, von deren hauptsächlichsten Vertreter [sic] ich hier […] Lüderitz, Wissmann, Peters nennen will. Wollen wir also nicht, daß mit dem Aussterben unserer Generation und der alten Kolonialpioniere auch das Verstehen für ein größeres Deutschland ausstirbt, so müssen wir für geeigneten Nachwuchs sorgen.“140
Diese Sichtweise verdeutlicht einerseits, dass Jugend hier nicht auf ein biologisches Stadium oder eine bestimmte Altersphase reduziert wurde. Zwar könnten Hermann von Wissmann und Carl Peters, die 1853 und 1856 geboren wurden und ihre ersten Kolonialerfahrungen Anfang der 1880er Jahre machten, noch annähernd in einer (späten) Jugendphase verortet werden. Adolf Lüderitz allerdings war Jahrgang 1834 und zu Beginn der deutschen Kolonialherrschaft bereits 50 Jahre alt. Somit wird Jugend hier vielmehr durch die Zuschreibung von Verhaltensweisen wie ‚begeistert‘, ‚stürmend und drängend‘ markiert, die Zukunft symbolisieren sollten und an 138 Georg Gronefeld (Jugendgruppe Dorotheenstadt): Mahnung an die deutsche Jugend, in: Der Kolonialfreund, 3. Jg., 1925, Nr. 1, S. 12. 139 Krabbe 2001, S. 304. Er nutzt diesen Begriff u.a. für die Hindenburgjugend der DVP, die er als unselbstständige Partei-Jugendorganisation charakterisiert. 140 W.Z.: Mehr koloniale Jugendpropaganda, in: Der Kolonialfreund, 3. Jg., 1925, Nr. 15, S. 309. Die ersten beiden Sätze finden sich in fast identischem Wortlaut auch an folgender Stelle: o.V.: Mehr koloniale Jugend-Propaganda, in: Der Kolonialdeutsche, 5. Jg., 1925, Nr. 9, S. 190.
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Konstrukte von Männlichkeit geknüpft wurden. Andererseits passten diese Ausführungen in den Kontext des um 1925 entstandenen Generationenmodells als Methode soziologischer Gesellschaftsanalyse. Andreas Schulz und Gundula Grebner konstatieren, „[d]ie Jugendbewegung der Jahrhundertwende schien als ‚naturhaftes‘ gesellschaftliches Phänomen das wissenschaftliche Konzept unmittelbar zu bestätigen“ und die bündische Jugend der Nachkriegszeit habe mit ihrem „Auftreten, […] kulturelle[n] Habitus, […] literarische[n] Schriften und politischen Äußerungen“ das entsprechende Anschauungsmaterial für die Theorie geliefert. 141 „Jugendbewegungen, so die Rückprojektion in die Geschichte, waren seit jeher Träger ‚der künftigen Kultur‘, kulturelle Erneuerungen gingen immer schon aus dem ‚Gegensatz der Generationen‘ hervor“, so Schulz und Grebner weiter. 142 Diese Denkweise fand sich auch bei den Kolonialakteurinnen und -akteuren wieder, indem sie die imperialistischen Eroberungen der 1880er Jahre in heroische Erneuerungstaten der Jugend umdeuteten. Die Argumentation behielten sie über die Jahre bei und kommunizierten sie nicht nur untereinander, sondern auch gegenüber der jungen Generation. In einem insbesondere an die bündische Jugend gerichteten Artikel formulierte 1932 Erich Duems, DKG-Generalsekretär und Verbindungsperson für die Kolonialpfadfinder, den Slogan „Koloniales Pioniertum ist stets Sache der Jugend gewesen!“, und zwar nicht nur, wie er schrieb, weil es „stürmische Energie“ benötigt, „sondern auch weil es ein Sprung ins Dunkle ist aus der Geborgenheit der bürgerlichen Existenz, weil es daher Menschen verlangt, die sich nicht vom ruhigen Strom ihres Erfolges dahintragen lassen, sondern zum ersten Mal den Start ins blaue Leben wagen.“ 143 Das ‚koloniale Versprechen‘ knüpfte Duems demnach an die Bereitschaft zum Wagnis für das Unbekannte, welches Abenteuer, möglicherweise auch Geheimnisvolles, bereithielt. Er konstruierte es als Gegenentwurf zur mit Sicherheit und Geborgenheit assoziierten bürgerlichen Existenz. Dass jedoch Anfang der 1930er Jahre eine gesicherte Existenz für die Mehrheit der jungen Generation eher Wunschdenken war, veranschaulicht, wie wenig sich die Kolonialverbände mit den realen Lebensbedingungen auseinandersetzten und diese in ihrer Jugendarbeit berücksichtigten. Oberstes Ziel bei der Mobilisierung der jungen Generation war für die Kolonialbewegung, koloniale Kontinuität zu erzeugen. Im Blick hatte sie die kollektivpolitische Ebene, nämlich Heranwachsende an koloniale Revisionsforderungen heranzuführen, und die individuelle Ebene, d.h. die eigene Biografie in Vergangenheit und Zukunft zu verorten. Die junge Generation sollte sowohl die Erinnerung an die koloniale Vergangenheit wachhalten und diese im kollektiven Gedächtnis veran141 Schulz/Grebner 2003, S. 1-23, S. 8. 142 Ebd. 143 BArch, R 8023/399, Bl. 409, Erich Duems: Willen und Wissen. Die Kräfte der kolonialen Erneuerung, o.D. [1932, S.H.].
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kern als auch die deutsche Kolonisationstätigkeit fortführen. Die Jugendarbeit als sich neu entwickelndes Aufgabenfeld der Kolonialverbände nach 1919 hatte auch sinnstiftenden Charakter für die Erwachsenen, indem sie ihre eigenen Kolonialerfahrungen zu tradieren versuchten. Als eine entscheidende Maßnahme betrachteten sie Wissensvermittlung. Diese war nicht durch eine differenzierte Sichtweise auf die koloniale Vergangenheit und Gegenwart gekennzeichnet, sondern im Vordergrund standen Mythenbildungen und Heldenkonstruktionen.144 Den Zweck der Wissenstradierung definierten die Kolonialakteurinnen und -akteure wiederum unterschiedlich. Während einige dafür plädierten, Jugendlichen „den Wert des Entrissenen und die Notwendigkeit neuen Besitzes ein[zu]hämmern“145 und diese somit als Adressaten einer ideologischen Haltung betrachteten, erwarteten andere von ihnen, „sich voll einzusetzen für die Forderung deutscher Kolonien“ und konkreten politischen Aktivismus. 146 Die Vermittlung von Kolonialwissen erfolgte, wie im vorherigen Kapitel skizziert, durch Kolonialvorträge in Schulen und in den (außer-)schulischen Jugendgruppen. Darüber hinaus wurde die Familie als zentraler Ort kolonialer Wissenstradierung und Mobilisierung betont. Sollten einerseits „die früheren Angehörigen der deutschen Kolonien und Schutztruppler“ ihre Kinder von der Notwendigkeit kolonialer Revision überzeugen und möglichst für die Mitgliedschaft in einer Jugendgruppe motivieren,147 so wurden andererseits Frauen bzw. Mütter aufgefordert, das „Schicksal dieser Jugend in der Hand“ zu halten.148 Insbesondere der Frauenbund der DKG akzentuierte die Rolle von Müttern als bedeutsame und von den Jugendgruppen unabhängige Sozialisationsinstanz: „[A]uch ohne besondere Organisation [wirke, S.H.] der Einfluß der Mutter. Wenn wir nur selbst erfüllt sind von der Liebe zu unserem Kolonialbesitz, von dem zielbewußten Willen zu seiner Wiedererlangung, so werden wir unserer Jugend reiche Anregung bieten können. Es
144 Vgl. dazu Abschnitt 3.1. 145 Kaiser: München und die heutige koloniale Bewegung, in: Der Kolonialdeutsche, 5. Jg., 1925, Nr. 6, S. 110. 146 Bundesnachrichten: II. Besondere Berichte unserer Bezirke und Ortsgruppen, in: Der Kolonialfreund, 6. Jg., 1928, Nr. 1, S. 13. 147 O.V.: Fünf Jahre Ortsgruppe Hagen! Taufe und Bannerweihe der Jugendgruppe Hagen, in: Der Kolonialfreund, 7. Jg., 1929, Nr. 1, S. 9. 148 O.V.: Unser 5. Bundestag am 7., 8. und 9. Mai 1927 in Gera-Reuß, in: Der Kolonialfreund, 5. Jg., 1927, Nr. 6, S. 5. Die Aussage erfolgte durch einen Vertreter des Bundes der Kolonialfreunde.
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liegt in der Macht der Frau, es ist ihrem Einfluß zu danken, welcher Geist das Haus beherrscht.“149
Der Frauenbund knüpfte damit an das in der bürgerlichen Frauenbewegung zentrale Konzept der ‚geistigen Mütterlichkeit‘ an, das Frauen eine besondere moralische, sittliche und kulturelle Befähigung zuwies.150 Mit seiner Forderung, diese Befähigung für koloniale Zwecke einzusetzen, reklamierte er für sich einen spezifisch weiblichen Beitrag zur kolonialen Jugendarbeit und konnte durch dieses neu entstandene Aufgabenfeld seinen Platz in der Kolonialbewegung rechtfertigen und manifestieren.151 Noch im Kaiserreich hatte sich die Kolonialpropaganda des Frauenbundes weitgehend auf deutsche Siedlerfamilien in den Kolonialgebieten gerichtet und die Frau als „Kulturträgerin“ bzw. „Hüterin deutscher Art und Sitte“ definiert.152 Im Zuge kolonialrevisionistischer Bestrebungen rückten nunmehr auch Familien in Deutschland stärker in den Blick, insbesondere Familien binnendeutscher Kolonialakteurinnen und -akteure oder zurückgekehrte Siedlerfamilien. Durch die den Müttern zugewiesene Aufgabe, für ihre eigenen Kinder als Vermittlerin kolonialistischer Ideen zu fungieren, wurde die Familie zu einem politisierten Raum mit nationaler Bedeutung. Gleichzeitig fanden die in den ehemaligen Kolonien verbliebenen deutschen Siedlerfamilien in Südwestafrika und im Tanganyika Territory weiterhin die Unterstützung des Frauenbundes, der diese als „outposts of German culture“ betrachtete.153 Die Vorstellung von der Aufrechterhaltung des ‚Kolonialen‘ in den binnendeutschen Familien korrespondierte mit der Vorstellung von der Aufrechterhaltung von ‚Deutschtum‘ in den Siedlerfamilien.154 Mit der kolonialen Wissensvermittlung an die junge Generation verfolgte die Kolonialbewegung ein vornehmlich nationalistisches Ziel. Sie galt ihr als Grundlage und Motor für die erhoffte Rückkehr Deutschlands zu Weltmachtstatus. Dennoch lässt sich darin auch das persönliche Interesse der Beteiligten erkennen, die eigene ‚kolonialdeutsche‘ Lebensgeschichte nicht in Vergessenheit geraten zu lassen. Erreicht werden sollte dies durch eine ‚heldenhafte‘ Narration der Kolonialgeschichte, wie sie beispielsweise der Frauenbund der DKG einforderte: 149 Margarete von Hecker-Staff: Unsere gegenwärtigen Aufgaben, in: Frauenbund der DKG (Hg.), Koloniale Frauenarbeit, Berlin 1926, S. 19-22, S. 20. 150 Zum Konzept der ‚geistigen Mütterlichkeit‘ vgl. u.a. Walgenbach 2005a, S. 138ff. 151 Vgl. dazu auch Venghiattis 2005, S. 320. 152 Kundrus 2004, S. 219. 153 Wildenthal 2003, S. 177. 154 Für den französischen Kontext argumentiert Janet Horne hinsichtlich der Rolle von Frauen: „Motherhood and domesticity […] were considered to be women’s essential contribution to France’s national welfare, whether in the metropole or the colonies.“ Horne 1998, S. 37.
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„[U]nsere Jugend soll nicht nur um die Helden des Altertums und des Mittelalters kreisen. Wenn wir ihnen von unseren uns widerrechtlich abgenommenen Kolonien immer wieder und wieder sprechen, lenken wir ihren Blick auf die jüngste Vergangenheit, auf Helden unserer Tage und hüten so ein Erbe, das uns gehört und das uns niemand nehmen kann.“ 155
Die junge Generation mit kolonialem Wissen auszustatten, reichte den Kolonialverbänden keineswegs aus. Sie bemühten sich ebenso um die Rekrutierung von Nachwuchs für die eigenen Vereine, sahen sie sich doch regelmäßig mit dem (altersbedingten) Tod von Mitgliedern konfrontiert. In den kolonialen Jugendgruppen sollten Heranwachsende an die erforderlichen Aufgaben herangeführt und im entsprechenden Alter in die Erwachsenenverbände aufgenommen werden.156 Die ‚Kolonialdeutschen‘ hatten die Aufgabe, ihren „Schatz an Erfahrungen“ direkt an die junge Generation weitergeben und nicht erst in „ihren posthumen Papieren“. 157 All diese Planungen und die damit verbundene Erwartung an die Jugend, das ‚koloniale Projekt‘ der alten Generation fortzuführen, bewegten sich allerdings im imaginären Bereich, denn sie hatten keinerlei Rückkopplung an die konkreten Bedingungen in den Kolonialgebieten nach 1919. Die Kolonialverbände konstruierten ein Bild von den ehemaligen Kolonien als Möglichkeitsräume für eigenen Besitz und Schaffensreichtum und versuchten, dieses mit dem Verweis auf zurückkehrende ehemalige Siedler/innen zu untermauern. „Die Macht der Sehnsucht, Herr zu sein auf eigenem Grund und Boden, der Drang, für sich etwas zu schaffen, durch eigenen Fleiß und eigene Kraft […] trieb sie wieder hinaus, um Spaten und Winkelmaß erneut anzusetzen. Was im Herzen der Alten nicht untergehen kann, das ist unsere kolonialbegeisterte Jugend eines zukünftigen Deutschland berufen, erneut zur Tat reifen zu lassen.“158 155 Referat von Frau Rehnisch (Aachen): Jugendgruppen des Frauenbundes, in: Mitteilungen des Frauenbundes der DKG, 1930, Nr. 8, S. 90, Herv. i. Org. 156 Im Jahr 1930 forderte der Jugendausschuss der DKG alle Abteilungen einmal mehr dazu auf, sich intensiver als zuvor der Förderung von Jugendgruppen zu widmen, da „die Jugendgruppen das Material für die Heranbildung eines zahlreichen und tüchtigen Stammes von Kolonialfreunden bilden sollen, die nach dem Hinscheiden der gegenwärtigen Generation von Kolonialinteressenten die koloniale Sache in Deutschland – auch dann, wenn wir wieder Kolonien haben, und dann erst recht! – verfechten müssen.“ Deutsche Kolonialjugend: Jugendausschuss der DKG, in: Mitteilungen der DKG, 42. Jg., 1930, Nr. 10, o.S. 157 Wilhelm Bertram: Nachwuchs für die Kolonialbewegung!, in: Übersee- und Kolonialzeitung, 41. Jg., 1929, Nr. 2, S. 31. 158 C.K.: Kolonialfrage und deutsche Jugend, in: Übersee- und Kolonialzeitung, 41. Jg., 1929, Nr. 24, S. 500.
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In den späten 1920er Jahren schlug die Debatte zur ‚Jugendfrage‘ bzw. kolonialen Jugendarbeit eine andere Stoßrichtung ein. Das Verhältnis zwischen den Generationen bekam nun mehr Aufmerksamkeit. Ein Grund dafür war sicherlich, wie Joachim Nöhre argumentiert, der Zuwachs der NSDAP seit etwa 1927/28, die „gerade auf die junge Generation eine starke Anziehungskraft ausübte[…]“ und somit für die Kolonialbewegung eine Konkurrenz darstellte. 159 Daraufhin habe die DKG, auf die sich Nöhre in seiner Argumentation hauptsächlich konzentriert, erkannt, die „Bedürfnisse der Jugend“ bis dato vernachlässigt zu haben, und einen „Konflikt zwischen den alten Kolonialdeutschen und der Kriegs- und Nachkriegsgeneration“ festgestellt.160 Dennoch greift diese Argumentation zu kurz, da in jener Zeit auch interne Veränderungen die weitere koloniale Jugendarbeit beeinflussten. Erstens fanden durch die gleichzeitige Existenz verschiedener, den Kolonialverbänden zugeordneter Jugendformationen mehr Diskussionen statt. Zweitens beschäftigten sich die Kolonialvereine infolge des Anschlusses des Bundes Deutscher Kolonialpfadfinder an die DKG intensiver mit der bündischen Jugend, die sich als Repräsentantin der jungen Generation betrachtete. Während andere Kolonialverbände in den Folgejahren weiterhin über die Gestaltung der Jugendarbeit reflektierten, erteilten ihr Vertreter des Bundes der Kolonialfreunde 1929 eine entschiedene Absage. Zahlenmäßig hatte dieser Schritt für die koloniale Jugendbewegung nur geringe Bedeutung, denn der Bund betreute vergleichsweise wenige Jugendgruppen. Aber mit seiner Begründung stellte er die Arbeit der kolonialen Jugendgruppen infrage. „Spielerei“ sei die bisherige Jugendarbeit gewesen, die „den kolonialen Vereinen neben vielen Verärgerungen sehr viel Geld gekostet“ habe, wie Vizepräsident Wilhelm Mickausch schrieb161 und schließlich resümierte: „Unser Bund ist kein Erziehungsverein; wir können und wollen allgemein die Jugendlichen weder […] außen- und weltpolitisch schulen, noch sie zu tüchtigen Sportsleuten ausbilden. Unsere Aufgabe kann es aber auch andererseits nicht sein, Jugendliche beruflich auszubilden oder ihnen auch nur eine vielseitige Ausbildung zu vermitteln. Wir können weder den fehlenden kolonialen Unterricht in der Schule noch die Ausbildung auf einer Kolonialschule vollwertig ersetzen. Ganz abgesehen von den uns fehlenden technischen und sonstigen Hilfsmitteln, verkennen wir dabei unsere Aufgabe.“162
159 Nöhre 1998, S. 84. 160 Ebd. 161 Wilhelm Mickausch: Die koloniale Jugendfrage, in: Der Kolonialfreund, 7. Jg., 1929, Nr. 10, S. 11. Er gab die Position der Vereinsmitglieder Thorwirth und Lentz wieder. 162 Ebd., Herv. i. Org.
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Damit kennzeichnete Mickausch die Jugendarbeit mit ihren Bereichen Wissensvermittlung, körperliche Ertüchtigung und praktische Ausbildung als gänzlich verfehltes Aufgabengebiet der Kolonialverbände. Ohne weitere Erklärung ging er davon aus, dass die „Frage der Wiedergewinnung deutscher Kolonien […] eine der allernächsten Jahre, nicht Jahrzehnte [sei, S.H.]!“.163 Er betrachtete die Jugendarbeit als Zeitverschwendung und setzte vielmehr auf die Mobilisierung der „augenblicklichen Führer des deutschen Volkes und die hinter ihnen stehenden Massen“.164 Mit dem mäßigen Erfolg ihrer Jugendarbeit setzten sich auch andere Kolonialverbände intensiver auseinander – überwiegend die DKG mit ihrem Führungsanspruch –, gaben diese jedoch nicht auf, sondern suchten nach neuen Strategien. Grundlage hierfür war die Erkenntnis der weitgehenden Unvereinbarkeit der bisherigen Jugendarbeit mit den Vorstellungen aufseiten der Jugendlichen und jungen Erwachsenen, die entweder desinteressiert waren oder wie die Kolonialpfadfinder auf Selbstständigkeit beharrten. Die ‚Jugendfrage‘ wurde nun stärker als ‚Generationenfrage‘ diskutiert. Seit Ende der 1920er Jahre versuchten die Kolonialverbände, die „Kluft zwischen der alten und neuen Generation“, wie DKG-Präsident Seitz es 1929 formulierte, zu überbrücken.165 Ältere Kolonialakteure artikulierten eine mentale Verbundenheit zur jungen Generation, wie der rund 70-jährige Rochus Schmidt in seiner Rede auf der dritten kolonialen Jugendtagung 1930 in Naumburg. „Auch wir Alten starren nicht bloß immer stur in die Vergangenheit zurück. Das wäre unfruchtbar, macht mutlos und bringt uns nicht voran. Mit unserer Jugend zusammen gilt unsere Sorge und unser Sehnen einer besseren Zukunft. Und da wollen wir kolonialen Jungens – ich selbst bin ja schon ein etwas alter Junge geworden, aber ich verstehe die Jungen und fühle mit ihnen – also wir wollen mit dem frohen Sinn der Jugend […] vaterländische Arbeit betreiben […].“166
Mit seiner Kritik an Rückwärtsgewandtheit zugunsten einer zukunftsgerichteten Perspektive versuchte Schmidt das jugendliche Publikum davon zu überzeugen, dass sich auch die alte Generation für eine ‚bessere Zukunft‘ einsetzte und mit der jungen Generation ein gemeinsames Ziel teilte. Er konstruierte somit eine Einheit junger und alter Akteure. Warum sich Schmidt zugleich als ‚alter Junge‘ bezeichnete, lässt sich anhand der Ausführungen von Duems deutlicher nachvollziehen. Sie stehen vermutlich exemplarisch für die Vorstellungen der Kolonialverbände zum 163 Ebd., Herv. i. Org. 164 Ebd., Herv. i. Org. 165 O.V.: Der Ausbau unserer Bewegung, in: Mitteilungen der DKG, 41. Jg., 1929, Nr. 12, o.S., Herv. i. Org. 166 E[duard] M[oritz]: Die Naumburger Tagung Pfingsten 1930, in: Jambo, Beilage DKJ, 7. Jg., 1930, Nr. 6/7, S. 21-25, S. 23f.
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Generationenverhältnis, die vergleichbar der Konzeption von Jugend auf männlichen Biografien basierten. „Die Brücke aber, die von der alten zur jungen Generation des kolonialen Pioniertums hinüberführt, ist der ewige Geist der Jugend, der sich noch in den ältesten Vorkämpfern der kolonialen Idee dokumentiert. Wen der Drang der Freiheit hinausgetrieben hat in die koloniale Weite, wer das Glück und den Stolz des freien Mannes auf eigenem kolonialen Neuland so erlebt hat, dass es ihn immer wieder hinaus zieht aus der heimatlichen Enge, der bleibt bei aller Reife und Ruhe des Alters der Jugend innerlich verbunden und verwandt.“ 167
Durch seine Konstruktion ‚mentaler‘ Jugendlichkeit als ein Ergebnis kolonialer Erfahrung versuchte Duems die ‚Kolonialdeutschen‘ geradezu dafür zu prädestinieren, eine Verständigung zwischen jungen und alten Akteuren herzustellen.168 So lässt sich seine Darstellung von kolonialer Tätigkeit als das verbindende Element zwischen den jungen und den älteren Jahrgängen möglicherweise als Reaktion auf das wahrgenommene konfliktreiche Generationenverhältnis verstehen, das er an anderer Stelle thematisiert hatte: „Das besondere Merkmal dieser jungen Generation ist, daß sie den alten Parteien ‚dogmatische Erstarrung‘ vorwirft und das politische Leben mit ihren neuen Idealen durchsetzt sehen will.“169 Aus ihrer Ablehnung heraus, „den alten Parteien als Vorspann zu dienen“, gründe sie eigene politische Gruppen.170 Vor diesem Hintergrund sahen sich die Kolonialverbände, die bis auf wenige jüngere Mitglieder ebenfalls die alte Generation repräsentierten, nunmehr nicht allein mit einer kleinen Mitgliederzahl in der kolonialen Jugendbewegung konfrontiert, sondern auch damit, dass diese neuen Gruppen, „vielfach eine völlige Gleichgültigkeit ja eine direkte Ablehnung der kolonialen Idee gegenüber“ hegten.171 Gezielte Kolonialpropaganda in der bündischen Jugend und den Jugendorga167 BArch, R 8023/399, Bl. 411, Erich Duems: Willen und Wissen. Die Kräfte der kolonialen Erneuerung, o.D. [1932, S.H.]. 168 Dass der Jugendbegriff „vom biologischen Stadium der Jugendlichkeit entkoppelt werden“ konnte, zeigt auch Rüdiger Graf. Um Jugend als Symbolträger für die Zukunft in Dienst zu nehmen, konnten „[ä]ltere Menschen […] jugendlicher sein als junge, wenn sie zukunftsfähiger und zukunftsgestaltender waren.“ Graf 2008, S. 241. 169 Erich Duems: Deutsche Jugend und kolonialer Wille. Das Kernproblem der kolonialen Bewegung, in: Mitteilungen der DKG, 42. Jg., 1930, Nr. 4, o.S. Als Beispiele für das Streben nach politischer Mitbestimmung nannte er sowohl den Jungdeutschen Orden, der sich zur Partei Volksnationale Reichsvereinigung formierte, als auch die Jungdemokraten und die Reichsgemeinschaft junger Volksparteiler, die innerhalb der alten Parteien als „mehr oder minder selbständige Gruppen“ existierten. Ebd. 170 Ebd. 171 Ebd., Herv. i. Org.
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nisationen der Parteien sollte hier Abhilfe schaffen. Zudem plädierte Duems in Anerkennung der Forderungen dieser Gruppierungen für die (perspektivische) „Autonomie und Selbständigkeit“ der kolonialen Jugendbewegung, die bislang mit Ausnahme der Kolonialpfadfinder Jugendformationen der Erwachsenenverbände waren.172 Dieser Aspekt blieb umstritten,173 aber die Kolonialpfadfinder hatten Duems zufolge dazu beigetragen, dass das von ihnen „verfolgte Prinzip eines Bundes der Jungen für die Jungen, der die koloniale Idee selbständig aufnahm und im Geiste der neuen Jugend zu gestalten gedachte“, der Kolonialjugend insgesamt als Vorbild diente und dahingehende Veränderungen erzeugte. 174 Eine kolonialrevisionistische Überzeugung anderer Bünde und der Jugendorganisationen der Parteien gelang hingegen kaum. Als Erklärung gab Duems etwa zwei Jahre später die überwiegende Rückwärtsgewandtheit der Propaganda an, bei der die „Würdigung […] [der, S.H.] kolonialen Leistungen vor dem Kriege“ sowie der „außenpolitische[…] Kampf gegen die koloniale Aechtung und für Geltendmachung […] [der, S.H.] kolonialen Besitzrechte“ dominiert habe.175 Demzufolge habe insbesondere die junge Generation nicht erkennen können, dass deutscher Kolonialbesitz die „Grundvoraussetzung [sei, S.H.] für eine völlige und bleibende wirtschaftliche, soziale und sittliche Gesundung des 172 Ebd. Zudem verwies Duems auf die in Schulen praktizierte koloniale Jugendpflege als „unentbehrliche Vorstufe für die koloniale Durchdringung der sich in selbständigen Organisationen vereinigenden neuen Jugend“. Ebd. Darüber hinaus forderte Wilhelm Bertram, Vorsitzender des Akademischen Kolonialbundes an der Universität Berlin, mehr selbstständiges Agieren für die Jugend und demnach „pädagogisch neue Methoden. Die Jugend von heute ist von Aktivismus erfüllt, sie will mitarbeiten, will in der Praxis eingesetzt werden. An diesen Arbeitswillen muss man anknüpfen und der jungen Generation etwas zu tun geben, ihr Aufgaben zuweisen.“ Wilhelm Bertram: Nachwuchs für die Kolonialbewegung!, in: Übersee- und Kolonialzeitung, 41. Jg., 1929, Nr. 2, S. 31, Herv. i. Org. 173 Aus einem Schreiben von Duems geht hervor, dass insbesondere Maywald, Leiter des Bundes Deutscher Kolonialjugend, das ‚Bündische‘ mit Bedenken betrachtete: „Aus verschiedenen Wendungen entnehme ich, dass Sie in der rein bündischen Einstellung eine gewisse Gefahr für die kolonialen Aufgaben erblicken. Darin würde ich nicht mit Ihnen übereinstimmen. Das Bündische bestimmt die Form und den Geist der Jugendarbeit, nicht aber ihren Inhalt. Es ist sehr wohl möglich, dass eine rein bündische Jugendorganisation 100% kolonial eingestellt ist.“ BArch, R 8023/151, Bl. 247, Schreiben von Duems an Maywald, 12.9.1932. 174 Erich Duems: Die DKG seit Versailles (1919-1932), in: DKG (Hg.), Fünfzig Jahre DKG 1882-1932, Berlin 1932, S. 57-115, S. 106 175 Ders.: Koloniale Werbung, in: Übersee- und Kolonialzeitung, 44. Jg., 1932, Nr. 10, S. 241.
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deutschen Volkes, für seine wahre Freiheit und Gleichberechtigung.“ 176 Während Duems in seiner selbstkritischen Erklärung auf diese noch fehlende Erkenntnis in der (jungen) Bevölkerung verweist, hatte der Jungakademiker Ludwig bereits ein Jahr zuvor gerade den „Appell an den Verstand“ als das eigentliche Problem in der Jugendarbeit der Kolonialbewegung identifiziert.177 Er gehörte zu den jüngeren Mitgliedern der DKG, die 1930 in Berlin die Jungkoloniale Arbeitsgemeinschaft für deutsche Raumpolitik gegründet hatten und sich ihrem Namen entsprechend überwiegend mit Raumfragen beschäftigten.178 Die AG versuchte, dem Historiker Klaus Hildebrand zufolge vor allem die Aufmerksamkeit der Nationalsozialisten zu gewinnen. Er betrachtete sie als „Projekt, das DKG und NSDAP über die Jugend der Kolonialbewegung aneinander heranführen und die Nationalsozialisten für koloniale Ziele gewinnen sollte“.179 So verwundert es nicht, dass Ludwig die nationalsozialistische der kolonialen Propaganda als positives Beispiel gegenüberstellte. Seine Kritik fiel schärfer aus als die von Duems, der ebenfalls federführendes Mitglied in der AG war, aber möglicherweise in seiner Funktion als DKG-Generalsekretär einen moderaten Weg wählte. Ludwig hingegen kritisierte die Kolonialbewegung mit ihrer alten bürgerlichen und adeligen Führungsriege als „mit oder ohne Absicht zu exklusiv“ und die Propagandaformen als „sehr veraltet“, gar „primitiv“.180 Weder „Lichtbilder[…] und Erlebnisschilderungen“ noch der Appell an den „politischen und wirtschaftlichen Zwecksinn“ seien hier ausreichend.181 Erfolg versprächen vielmehr die Hinwendung zu „Gefühl“ und „Idealismus“, symbolisch repräsentiert durch ein „äußeres Zeichen“, wie sich in den Aktivitäten des Vereins für das Deutschtum im Ausland (VDA) und für den Nationalsozialismus gezeigt hätte.182 Letzterer mobilisiere die Jugend, „indem er sie u.a., wie früher die Romantik, in die deutsche Geschichte zurückführt, ihr das dritte Reich auf völkischer, antisemitischer Grundlage als Ziel hinstellt, durch Uniformen, militärische Disziplin usw. die Begeisterung weckt und ihr in dem Hakenkreuz das Symbol gibt.
176 Ebd., Herv. i. Org. 177 Ludwig: Jugend und Kolonialpropaganda, in: Übersee- und Kolonialzeitung, 43. Jg., 1931, Nr. 10, S. 227-228, S. 228. 178 Die AG formulierte ein eigenes Raumprogramm. Vgl. BArch, R 8023/400, Bl. 21, Jungkoloniale Arbeitsgemeinschaft für deutsche Raumpolitik. 179 Hildebrand 1969, S. 167. Zu den Bemühungen der Jungkolonialen Arbeitsgemeinschaft um die Teilnahme der Nationalsozialisten an ihren Aktivitäten vgl. ebd., S. 166-173. 180 Ludwig: Jugend und Kolonialpropaganda, in: Übersee- und Kolonialzeitung, 43. Jg., 1931, Nr. 10, S. 227-228, S. 228, Herv. i. Org. 181 Ebd. 182 Ebd., S. 227, Herv. i. Org.
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Dabei schadet das Unklare und Verschwommene, das in allem liegt, umsoweniger, je mehr es vom Gefühl getragen ist.“183
In der Tat setzte die NS-Propaganda, durch Reden, Bilder und Demonstrationen (medial) vermittelt und oftmals von Gewalt geprägt, auf die Emotionalisierung der Öffentlichkeit. „Ihr ging es nicht um politische Aufklärung […], als vielmehr um Emotionen und Unterwerfung.“184 George Mosse sprach 1976 von einer „neuen Politik“ bzw. einem „neuen politischen Stil“, der zu Beginn des 18. Jahrhunderts seinen Ausgangspunkt genommen hatte und „den der Nationalsozialismus perfektionierte“.185 Ebenso hatte die koloniale Jugendpropaganda wenig mit politischer Aufklärung zu tun. Allerdings überwog in der mythisierten und glorifizierten Darstellung von kolonialer Vergangenheit und Zukunft ein „individualistisches Bild von Kampf und Bewährung“,186 das letztlich nur einen kleinen Teil der jungen Generation zu mobilisieren vermochte. Die Kolonialverbände hatten ein weitgehend instrumentelles Verhältnis zur jungen Generation. Sie konnten sich nur bedingt von ihrem Ansatz der kolonialen Indoktrination lösen. Erst am Ende der 1920er Jahre begannen einige Kolonialakteure, die weitgehend auf Traditionspflege gerichtete Jugendarbeit zu problematisieren und die Forderung nach Selbstbestimmung von Teilen der jungen Generation anzuerkennen. Sie entwarfen das vergangene und zukünftige koloniale Projekt als ein Projekt der Jugend, die sie in diesem Zusammenhang als männliche Jugend konstruierten. In ihren wenig ausdifferenzierten Zukunftsvorstellungen, die die Kolonialverbände für die heranwachsende Generation bereithielten, zeigten sich nicht nur ihre Vorstellungen von Jugend, sondern auch ihre Vorstellungen von zukünftiger Gesellschaft. Jugend diente den Kolonialverbänden vor allem als Projektionsfläche für ihre eigene Forderung nach Kolonialrevision. Die Verbände hatten weniger ein Interesse daran, die Verhältnisse der Weimarer Republik mitzugestalten, sondern vielmehr daran, den deutschen Staat zu alter Kolonial- und Großmachtstellung zurückzuführen. Ihr Zukunftsentwurf bestand in einem Wiederauflebenlassen der Kolonialvergangenheit, oder anders gesagt: Das Neue sollte das Alte sein, nicht zuletzt, um sich als Kolonialverbände zu legitimieren. Mit dieser Perspektive vermochte sich die junge Generation nur bedingt zu identifizieren. Bündische Jugend, einige Jugendorganisationen der bürgerlichen Parteien und die NSDAP, auf die sich die Kolonialverbände in ihren Debatten be183 Ebd., Herv. i. Org. 184 Wildt 2008, S. 47. 185 Mosse 1976, S. 31. An anderer Stelle schrieb er: „Mittels der ‚neuen Politik‘ wurden viele Menschen zu einer organisierten Kraft geformt, die dann ihrem gemeinsamen Verlangen nach Ordnung, Glück und nationaler Einheit Ausdruck verlieh.“ Ebd., S. 243. 186 Speitkamp 2006, S. 80. Sein Fazit basiert auf der Analyse des Jambo.
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zogen, führten den Kolonialverbänden ihre wenig attraktive Jugendarbeit vor Augen. Wie sich in Abschnitt 3.2 noch zeigen wird, formulierten die Kolonialpfadfinder als Teil der kolonialen Jugendbewegung eigene Sozialisationsentwürfe und politische Visionen von ‚neuem Reich‘ und ‚neuem Menschen‘, die die Divergenzen zu den Tradierungskonzepten der Kolonialverbände offensichtlich werden ließen.
2.3 KOLONIALE EINFLUSSNAHME AUF DIE INSTITUTION SCHULE Ein großer Teil der kolonialen Jugendarbeit war auf die Institution Schule ausgerichtet. Im Frühjahr 1919 stand die DKG in Kontakt mit Berliner Schulen, die sich aus Protest gegen das Ende des deutschen Kolonialreichs an Unterschriftensammlungen beteiligten. Sie nahm dies zum Anlass, so Professor Eduard Moritz rückblickend, um mit ihrer Schulwerbung zu beginnen.187 Auch andere Kolonialverbände wirkten sukzessive daran mit. Im Allgemeinen führten die veränderten politischen Verhältnisse in der Weimarer Republik an Schulen zu zahlreichen gesellschaftlichen Auseinandersetzungen und Konflikten. Diese bewegten sich in einem Spannungsfeld von Reformbestrebungen und der Bewahrung vorheriger Strukturen. An den Debatten beteiligten sich nicht allein die Parteien, sondern auch die Kirchen, politische und wirtschaftliche Verbände sowie Eltern- und Lehrervertretungen, Schüler/innen- und Jugendvereine.188 Entscheidende Reformen versuchte vor allem die Sozialdemokratie als nunmehr regierungsverantwortliche Partei der neuen parlamentarischen Demokratie durchzusetzen. Die Abschaffung der alten, weltlich wie religiös geprägten obrigkeitlichen Bildungsinhalte stand ebenso auf ihrer Agenda wie der egalitäre Zugang zu Bildung, der insbesondere Kindern der Arbeiterklasse sozialen Aufstieg ermöglichen sollte.189 Allerdings stießen Sozialdemokratie und reformpädagogische Kräfte von Beginn an auf den Widerstand berufsständischer Organisationen, kirchlicher Vertreter und konservativer Parteien, sodass sich schulpolitische Reformen nur bedingt umsetzen ließen.190 Die geplante Verabschiedung eines umfassenden Reichsschulgesetzes, um die Kompetenzen der Länder fortan auf Reichsebene zu übertragen, misslang.191 Durch187 Vgl. Eduard Moritz: Die koloniale Schulpropaganda der DKG, in: Übersee- und Kolonialzeitung, 44. Jg., 1932, Nr. 10, S. 238-240, S. 238. 188 Vgl. Geißler 22011, S. 362. 189 Vgl. Speitkamp 1998, S. 195. 190 Vgl. Zymek 1989, S. 163. 191 Während der neuntägigen Reichsschulkonferenz, die am 11. Juni 1920 begann und an der über 700 Vertreter/innen aus pädagogischen Organisationen und Schulbehörden,
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setzungsfähig war lediglich ein Reichsgrundschulgesetz, welches insofern Bedeutung hatte, als es die vierjährige Grundschule für alle Kinder unabhängig von Herkunft und sozialer Stellung verpflichtend machte. Alle weiteren Bereiche des Bildungswesens hingegen blieben Ländersache,192 sodass sich Schulwesen und Unterrichtsgestaltung weiterhin regional unterschiedlich entwickelten. 193 Dies lässt sich auch im Hinblick auf koloniale Maßnahmen der Landesregierungen zeigen. Das Schulsystem wurde im Laufe der Weimarer Republik geringfügig durchlässiger, was sich insbesondere in der Mädchenbildung bemerkbar machte. Dennoch waren Jungen und mehr noch Mädchen aus der Arbeiterklasse im höheren Schulwesen weiterhin unterrepräsentiert.194 Die Unterrichtsinhalte blieben weitgehend einer Glorifizierung des Kaiserreichs verhaftet und die Mehrheit des Lehrpersonals stand der Republik distanziert gegenüber. Insbesondere ältere, an Gymnasien tätige Lehrer/innen akzeptierten die neue Demokratie kaum. Sie hielten geistig-emotional am Kaiserreich fest und besetzten das Thema Krieg und seine Folgen in revisionistischer Weise.195 Nur eine Minderheit der Lehrkräfte hätte sich, so der Erziehungswissenschaftler Gert Geißler, „über Absichtserklärungen hinaus für Völkerversöhnung, Friedenserziehung und eine ihr folgende Neubestimmung von Lehrinhalten engagier[t]“.196 Vor diesem Hintergrund ist die Schularbeit der Kolonialverbände zu betrachten. Einflussreichste Akteurin war die DKG, die Schule zu einem zentralen propagandistischen Handlungsfeld für die Kolonialbewegung erklärte. Mittels entsprechender Unterrichtsinhalte und durch die Gründung von Schulgruppen wollte sie unter den Heranwachsenden den Grundstein für eine koloniale Einstellung legen, um mit deren Unterstützung ihrem Ziel der Kolonialrevision näher zu kommen. Dieser Abschnitt beleuchtet die dafür notwendigen schulischen Rahmenbedingungen, welche die Kolonialverbände durch ihre Einflussnahme auf Regierungs- und Schulbehörden schufen, sowie die Mittel zur Gewinnung des Lehrpersonals, auf das sie zur Umsetzung der kolonialen Propaganda angewiesen waren. Zugleich werden die Politiker/innen und Wissenschaftler/innen teilnahmen, standen sich kontroverse und miteinander unvereinbare Positionen gegenüber. Vgl. Kluchert 1993, S. 263-364. 192 Vgl. Geißler 22011, S. 370. 193 Beispielsweise setzte sich eine weitgehende Trennung von Schule und Kirche, die sich in der Abschaffung oder Einschränkung des Religionsunterrichts ausdrückte, vor allem in Sachsen, den norddeutschen Stadtstaaten und den thüringischen Kleinstaaten. Vgl. ebd., S. 353. 194 Vgl. Speitkamp 1998, S. 202. Auch Geißler schlussfolgert: „Beim Übergang zum höheren Schulwesen erweisen sich die herkömmlichen materiellen Barrieren und sozialen Selektionsmechanismen als weithin unaufhebbar.“ Geißler 22011, S. 412. 195 Vgl. ebd., S. 492f. 196 Ebd., S. 495.
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Herausforderungen und Hindernisse berücksichtigt, mit denen die Kolonialakteurinnen und -akteure in ihrer Arbeit konfrontiert waren. Dazu gehörten nicht zuletzt die schulischen Aktivitäten des ebenfalls revisionistisch eingestellten VDA. Seine Schulgruppen, die sich überwiegend auf das ‚Grenzlanddeutschtum‘ und weniger auf das ‚Kolonialdeutschtum‘ konzentrierten, waren im Schulalltag zahlenmäßig weitaus präsenter als die der Kolonialverbände, sodass sie für die DKG bzw. den kolonialen Jugendausschusses in der Frage der Kolonialrevision eher Konkurrenz als Unterstützung bedeuteten. Die hier vorangestellte Skizze der Aktivitäten des VDA dient zur Kontextualisierung der zu analysierenden kolonialen Schularbeit. Im Juli 1880 als Deutscher Schulverein gegründet verfolgte der VDA das Ziel, die außerhalb der Reichsgrenzen lebenden Deutschen zu unterstützen, insbesondere durch die Gründung von Schulen, die Unterstützung von Lehrkräften und die Beschaffung von Lehrmitteln. Er verstand sich wie auch die Kolonialverbände als überparteilich und repräsentierte die Interessen des Großbürgertums.197 Nach dem Ersten Weltkrieg vereinten sich im VDA vor allem ehemalige Offiziere, Beamte im Staatsdienst, Akademiker und Vertreter aus der Wirtschaft. Sie setzten sich nun insbesondere für die deutschen Minderheiten in den Grenzterritorien ein, die seit der Unterzeichnung des Versailler Vertrags nicht mehr zum Reichsgebiet gehörten, und versuchten, dort Vereinsstrukturen zu schaffen.198 Über die 1920er Jahre gelang dem VDA ein beträchtlicher Zuwachs von 67.000 Mitgliedern im Jahr 1917 auf rund zwei Millionen im Jahr 1930. Gründe dafür waren die Fusion mit dem größeren Deutschen Schulverein Wien in 1921, vor allem aber die kontinuierliche Intensivierung der revisionistischen Werbetätigkeit im Inland beispielsweise mittels öffentlicher Vorträge und Filmvorführungen. Das eigene Ziel einer klassenübergreifenden Massenorganisation erreichte der VDA allerdings nicht. Mitglieder aus der Arbeiterschaft konnte er kaum gewinnen.199 Dennoch überragte er die ebenfalls aus Adel und Bürgertum kommende Kolonialbewegung mit ihren rund 80.000 Mitgliedern um ein Vielfaches. Er hatte dementsprechend auch größere personelle Ressourcen für seine Schularbeit, mittels derer er – wie die DKG – die junge Generation für seine revisionistischen Ziele zu gewinnen versuchte. Anfang 1919 begann der VDA Kontakte zu Schulbehörden und Lehrkräften aufzubauen, die ihn fortan unterstützten. Abgesehen von durch die Länder herausgegebenen Erlassen billigte der Reichsschulausschuss 1923 Leitsätze über die Pflege des Grenz- und Auslandsdeutschtums in der Schule, in denen beispielsweise
197 Vgl. Poßekel 1986, S. 285f. Zur Geschichte des Vereins während des Kaiserreichs vgl. Weidenfeller 1976. 198 Vgl. Poßekel 1986, S. 288f. Zur sozialen Zusammensetzung der Mitglieder in der Weimarer Republik vgl. auch ders. 1967, S. 131-135. 199 Vgl. ders. 1986, S. 282 und ders. 1967, S. 123-128.
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Vorträge, Schulfeiern und die Gründung von Schulgruppen begrüßt wurden. 200 Zudem standen dem VDA die großen deutschen Lehrervereine nahe, die ihm an Schulen großen Rückhalt boten.201 An der Gründung von VDA-Schulgruppen beteiligten sich insbesondere Studienräte, „deren Lebensweg mit den im Ergebnis des Krieges verlorenen Teilen des Reiches oder deutschen Auslandsschulen verknüpft war.“ 202 Sie hatten bereits 1920 ein Netzwerk von Schulgruppen aufgebaut, dem etwa 29.000 Schüler/innen angehörten. In den Folgejahren vervielfachte sich die Anzahl, sodass in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre rund ein Viertel bis ein Drittel der etwa 650.000 Schüler/innen an höheren Schulen (also zwischen 162.500 und 216.500) Mitglied im VDA war.203 Demgegenüber waren 1928 in den kolonialen Schulgruppen nur rund 8400 Schüler/innen vertreten.204 Diese ungleiche Entwicklung beobachtete auch die Abteilung für koloniale Angelegenheiten im Auswärtigen Amt, die die koloniale Jugendarbeit finanziell unterstütze. Sie legte dem Jugendausschuss im Februar 1926 einen Zusammenschluss mit den Schulgruppen des VDA ernsthaft nahe, da sie befürchtete, die „koloniale Jugendbewegung [werde, S.H.] sich gegenüber der größeren und zugkräftigeren Organisation des V.D.A auf die Dauer nicht […] durchsetzen können.“205 Daher sollten die beiden Vereine „die mancherlei gemeinsamen Ziele auch gemeinsam verfolgen.“206 Maywald bekundete daraufhin, eine Vereinigung bereits erwogen zu haben, die am Widerstand des Berliner Leiters des VDA gescheitert sei. Erfahrungen, auch von Kollegen, hätten gezeigt, dass der VDA bis auf lokale Ausnahmen „so gut wie nichts für die Pflege des kolonialen Gedankens getan ha[be].“ 207 Vorträge von Kolonialrednern seien zurückgewiesen und einer von Schülern geplanten kolonialen Schulgruppengründung sei mit der Androhung von Schulstrafen begegnet worden. Demzufolge plädierte Maywald mit Verweis auf das umfangreiche Arbeitsfeld des VDA, wodurch „in jedem Fall der koloniale Gedanke zu kurz kommen könnte“, lediglich für eine Interessengemeinschaft.208 Letztlich blieb es bei der ge200 Vgl. Geißler 2002, S. 230. 201 Vgl. Poßekel 1967, S. 102. 202 Geißler 2002, S. 233. Dies galt vor allem für die Anfangsphase. 203 Ebd., S. 231, FN 7 und S. 256. 204 Vgl. Abschnitt 2.1. 205 BArch, R 1001/6745, Bl. 74, Schreiben des Auswärtigen Amtes, Abteilung für koloniale Angelegenheiten, an den Jugendausschuss der Korag, 20.2.1926. 206 Ebd. 207 BArch, R 1001/6745, Bl. 78, Schreiben des Jugendausschusses der Korag, Maywald, an das Auswärtige Amt, Abteilung für koloniale Angelegenheiten, 24.2.1926. Leiter des VDA war der Steglitzer Studienrat Rumpf. 208 Ebd. Ähnliche Erfahrungen schilderte auch der Pfarrer Holstein, der im Auftrag des Jugendausschusses Kolonialpropaganda, u.a. durch die Verbreitung des Jambo, betrieb.
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trennten Jugendarbeit von VDA und Kolonialverbänden, hin und wieder fanden auf lokaler Ebene gemeinsame Aktivitäten statt. Wenngleich die Kolonialvereine nur einen kleinen Teil der jungen Generation in Schul- und darüber hinaus in außerschulischen Jugendgruppen organisatorisch zu erfassen vermochten, so ist doch unbestreitbar, dass sie den Arbeitsbereich Schule dauerhaft auf ihrer Agenda beließen und es ihnen gelang, koloniale Inhalte an Schulen zu verankern. Zu einer flächendeckenden kolonialen Schulerziehung in der Weimarer Republik ist es indes nicht gekommen. Von Beginn an war für die Schularbeit der DKG – und für die des VDA – der systematische Aufbau von Kooperationen mit den Landesregierungen und entsprechenden Kultusministerien sowie mit dem Lehrpersonal zentral; Aufgaben, die der koloniale Jugendausschuss ab 1924 weiterverfolgte. 209 Wichtiges Ziel für die DKG war das Erwirken kolonialer Erlasse. Den Ausgangspunkt bildete im August 1919 der Erlass des Reichsinnenministeriums an die Regierungen der Länder, „den kolonialen Gedanken in der heranwachsenden Jugend weiter zu pflegen und bei ihr das Verständnis für die Wichtigkeit überseeischen Besitzes zu wecken und zu vertiefen“.210 Daraufhin gaben neben dem größten Land Preußen mit seinem sozialdemokratischen Kultusminister Konrad Haenisch zunächst die Regierungen von Altenburg, Anhalt, Oldenburg und Hessen entsprechende Bekanntmachungen heraus. 211 An die verbliebenen Länderregierungen wandte sich die DKG nach einem auf ihrer Hauptversammlung im Mai 1920 einstimmig angenommenen Antrag und erhielt, wie Moritz erklärte, zustimmende Antworten.212 Allerdings gewährleisteten die Er-
Während sich der VDA an einigen Schulen bereit erklärt hätte, koloniale Werbearbeit zu leisten, lehnte er diese an vielen Schulen vehement ab oder zeigte sich gleichgültig bis skeptisch. Vgl. BArch, R 1001/6745, Bl. 165, 167-168, Anlage „Gedanken über die Bedeutung und über den zweckmäßigen Ausbau der bisher vom Kolonialen Jugendausschuss der Korag entfalteten Werbetätigkeit“ zum Schreiben von Pfarrer Sykora an Minister Stresemann, 11.10.1926. 209 Vgl. BArch, R 1001/6745, Bl. 14, Denkschrift über die koloniale Jugendwerbung im Verlaufe der Zeit vom 1. Oktober 1924 bis 1. Oktober 1925 und über die Aussichten der kolonialen Jugendbewegung. 210 Eduard Moritz: Die koloniale Schulpropaganda der DKG, in: Übersee- und Kolonialzeitung, 44. Jg., 1932, Nr. 10, S. 238-240, S. 238. 211 Vgl. o.V.: Die Pflege des kolonialen Gedankens in den Schulen, in: Deutsche Kolonialzeitung, 36. Jg., 1919, Nr. 10 o.S.; Eduard Moritz: Die koloniale Schulpropaganda der DKG, in: Übersee- und Kolonialzeitung, 44. Jg., 1932, Nr. 10, S. 238-240, S. 238. 212 Vgl. Hauptversammlung der DKG, in: Deutsche Kolonialzeitung, 37. Jg., 1920, Nr. 6, S. 63-65, S. 65; Eduard Moritz: Die koloniale Schulpropaganda der DKG, in: Überseeund Kolonialzeitung, 44. Jg., 1932, Nr. 10, S. 238-240, S. 239.
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lasse weder eine automatische Umsetzung im Unterricht, worauf Erneuerungen und Erinnerungen hinweisen, noch blieben diese dauerhaft ohne Widerspruch. Haenischs Nachfolger, Otto Boelitz von der DVP, erneuerte den preußischen Erlass im Februar 1923 und auf Anregung der DKG und der Kolonialabteilung des Auswärtigen Amtes nochmals Carl Heinrich Becker im Oktober 1929.213 Doch im Folgejahr kam es zu einem vorübergehenden Richtungswechsel. Während Thüringen auf das Einhalten zweier prokolonialer Bekanntmachungen aus dem Jahr 1925 hinwies und das bayerische Staatsministerium für Unterricht und Kultus in seinem Erlass die Schulen anwies, die Notwendigkeit von Kolonialbesitz im Unterricht zu betonen,214 erteilte der sozialdemokratische Minister Adolf Grimme in Preußen, dies auch im Unterschied zu seinem Parteigenossen Haenisch rund zehn Jahre zuvor, prokolonialer Unterrichtsgestaltung eine ausdrückliche Absage. Sein im Juni 1930 herausgegebener Erlass erklärte die „Beschäftigung mit dem allgemeinen Kolonialproblem und der besonderen Stellung Deutschlands zur Kolonialfrage“ als etwas Selbstverständliches, untersagte aber, das Thema zu einer „unmittelbaren oder mittelbaren Propaganda zu mißbrauchen.“215 Direkt zusammen hing dieser neue Erlass mit Protesten außerparlamentarischer Gruppen. Elf im Deutschen Friedenskartell zusammengeschlossene pazifistische Organisationen hatten Grimme im Februar 1930 mit einer Eingabe zur Rücknahme der alten Erlasse aufgefordert. Sie kritisierten, dass damit ausschließlich „eine Bewegung für Wiedergewinn von Kolonien unterstützt werden soll[e]“ und forderten demgegenüber Deutschlands „volle Unabhängigkeit in Kolonialfragen“ sowie den Verzicht auf Kolonien und Mandate.216 Bereits im Oktober 1927 hatte die antikolonial eingestellte Internationale Frauenliga für Frieden und Freiheit mit Verweis auf die Zunahme kolonialer Propaganda an Schulen den amtierenden preußischen Minister für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung aufgefordert, verantwortliche Stellen darüber zu informieren, dass „moderne Kolonialpolitik“ mit der Reichsverfassung unvereinbar sei und „alles zu unterbleiben habe, was auf Propagierung neuen deutschen Kolonialbesitzes hinzie-
213 Vgl. v. Ry.: Deutsche Jugend und Kolonien. Aufhebung des kolonialfeindlichen Schulerlasses, in: Übersee- und Kolonialzeitung, 43. Jg., 1931, Nr. 11, S. 243-244, S. 243. In den preußischen Richtlinien zur Aufstellung der Lehrpläne von 1925 war das Thema Kolonien für die mittleren und höheren Schulen vorgesehen. Vgl. Schultz 2006, S. 223f. 214 Die Erlasse sind abgedruckt in Jacob 1935, S. 113. Siehe auch o.V.: Kolonialer Schulerlaß Bayerns, in: Übersee- und Kolonialzeitung, 42. Jg., 1930, Nr. 16, S. 329. 215 Der Erlass ist abgedruckt in Jacob 1935, S. 112, Herv. i. Org. 216 O.V.: Das Kolonialproblem im Unterricht, in: Die Friedens-Warte, 32. Jg., 1930, Nr. 12, S. 376-377, S. 377.
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le.“217 Über entsprechende Reaktionen des Ministers ist nichts bekannt. Es ist davon auszugehen, dass er dem Anliegen nicht nachkam, denn seitens kolonialer Verbände folgten keine Beschwerden, wie dies dann 1930 der Fall war. Infolge von Eingaben der DKG an Reichsregierung, Reichstag und Landtag brachte die DVP im Landtag einen Antrag zur Überprüfung des Erlasses von Grimme durch das Staatsministerium ein, dem im Oktober 1931 mit Ausnahme von SPD und KPD alle Parteien zustimmten.218 Im September 1932 setzte Staatssekretär Lammers den Erlass von 1919 schließlich wieder in Kraft. Weitere prokoloniale Bekanntmachungen erschienen im gleichen Jahr in Anhalt, Oldenburg, Sachsen und Braunschweig.219 Über diese Erlasse hinaus versuchten die Kolonialverbände, zur Förderung ihrer revisionistischen Propaganda in der Schule auf die inhaltliche Gestaltung von Unterrichtsmaterialien einzuwirken. Um 1920 setzte sich die DKG bei den Unterrichtsbehörden der Länder dafür ein, dass „in den deutschen Schulatlanten, Karten und Lehrbüchern […] [die, S.H.] früheren Kolonien als solche kenntlich gemacht bzw. als unter Mandat gestellte Gebiete bezeichnet wurden.“220 Unterstützung fand sie dafür u.a. in Württemberg. Durch eine Zusammenarbeit mit der Gesellschaft für Erdkunde, die am 1. April 1924 zudem eine Erhöhung der Geografiestunden erreichen konnte, verlieh sie ihrem Anliegen zusätzlichen Nachdruck. 221 Mit der Hilfe des Verlegervereins in Leipzig und durch Presseartikel konnte die DKG schließlich durchsetzen, dass in Schul- und Lesebüchern, die in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre neu erschienen, koloniale Lesestücke vermehrt Aufnahme fanden. 222 Diese Texte waren in der Regel bereits vor 1914 verfasst worden, ein Hinweis auf das Ende der deutschen Kolonialherrschaft blieb eher die Ausnahme, wie die Historike-
217 O.V.: Die Tagung in Duisburg 1927, in: Völkerversöhnende Frauenarbeit, V. Teil, 1926-1928, S. 11-12, S. 11. 218 Vgl. v. Ry: Deutsche Jugend und Kolonien. Aufhebung des kolonialfeindlichen Schulerlasses, in: Übersee- und Kolonialzeitung, 43. Jg., 1931, Nr. 11, S. 243-244, S. 244. Siehe auch Erich Duems: Deutsche Jugend und Kolonien. Überprüfung des Preußischen Schulerlasses, in: Mitteilungen der DKG, 43. Jg., 1931, Nr. 11, S. 84. 219 Für die verschiedenen Bekanntmachungen siehe Jacob 1935, S. 113-115. 220 Eduard Moritz: Die koloniale Schulpropaganda der DKG, in: Übersee- und Kolonialzeitung, 44. Jg., 1932, Nr. 10, S. 238-240, S. 239. 221 Ebd. Moritz gab nicht an, für welche Schultypen und Länder dies galt. 222 Ebd. Auch Paul Hölscher vom Kolonialverein der Südwestafrikaner hatte 1921 im Kolonialdeutschen gefordert, bei der Neubearbeitung von Schulbüchern auf die Integration von Lesestücken mit „kolonialem Werte“ hinzuwirken. Er rief die Kolonialvereine auf, sich mit Petitionen an die Parlamente der Länder und die Kommissionen zur Bearbeitung der neuen Lesebücher zu wenden. Paul Hölscher: Der koloniale Geist in der Schule, in: Der Kolonialdeutsche, 1. Jg., 1921, Nr. 4, S. 53.
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rin Katharine Kennedy konstatiert.223 Darauf nahmen neu aufgelegte Geschichtsschulbücher zwar Bezug, so Kennedy weiter, sie basierten jedoch gleichfalls auf einer revisionistischen Perspektive, indem sie u.a. die nationale Bedeutung und den ungerechtfertigten Verlust der Kolonien hervorhoben. „They generally devoted several pages to the acquisition and loss of Germany’s colonies, emphasizing how small Germany’s overseas holdings had been in comparison with those of Great Britain and France, but how valuable, nonetheless, both economically and as destination for settlers. These circumstances made the loss of the colonies, according to these textbooks, particularly regrettable and unjustified.“224
Wie die Kontroversen in Preußen gezeigt haben, war die Behandlung kolonialer Themen in der Schule – zumindest vorübergehend – ein durchaus umkämpftes Terrain. Die Kolonialverbände waren mit Widerstand gegen ihre Aktivitäten konfrontiert. Tendenziell schienen die Landesregierungen, so haben die Beispiele ebenfalls verdeutlicht, die schulische Arbeit der Kolonialbewegung nicht zu behindern, wenngleich einschränkend anzumerken ist, dass sich nicht für alle Landesregierungen eine Positionierung zum Umgang mit der Kolonialfrage in der Schule finden ließ. Doch die Veröffentlichung ministerieller Erlasse, die die staatlichen Rahmenbedingungen für eine Beschäftigung mit kolonialen Themen in der Schule schufen, und (das Hinwirken auf) die Herausgabe kolonialer Unterrichtsmaterialien allein reichte nicht aus. Aus Sicht von Kolonialverbänden und kolonialem Jugendausschuss bedurfte es insbesondere der kolonialrevisionistischen Überzeugung des Lehrpersonals. Denn die Unterrichtsgestaltung lag letztlich in der Verantwortung von Lehrerinnen und Lehrern, ohne deren koloniales Interesse die beabsichtigte Propaganda nur eingeschränkt möglich war. Daher verwundert es kaum, dass verantwortliche Kolonialakteurinnen und -akteure auf verschiedenen Wegen versuchten, das Lehrpersonal für kolonialen Unterricht mit entsprechender revisionistischer Stoßrichtung zu interessieren. Rückblickend aus dem Jahr 1932 verwies Moritz vor allem auf Schwierigkeiten in den Anfangsjahren und beklagte unter Bezugnahme auf Preußen, dass „in den Kreisen der Schulmänner […] eine Beschäftigung mit kolonialen Dingen im Unterricht unzeitgemäß erschien. Nur allmählich gelang es, ihre Bedenken zu zerstreuen, durch ei-
223 Vgl. Kennedy 2002, S. 17. 224 Ebd., S. 16.
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ne unablässige Werbung durch Wort und Schrift ihre Aufmerksamkeit zu erregen und sie für Vorträge zu interessieren, zunächst in der Hauptstadt, dann in der Provinz.“ 225
Allerdings setzte sich diese Entwicklung weder in Preußen noch in den anderen Ländern flächendeckend durch, sodass das Werben um Lehrkräfte eine dauerhafte Aufgabe und Herausforderung für die Kolonialverbände blieb. Erste Ansprechpersonen waren Lehrkräfte, die selbst in den Kolonien tätig gewesen und nach 1919 in den Schuldienst nach Deutschland zurückgekehrt waren. Auf der Hauptversammlung der DKG im Juni 1922 forderte der Fortbildungslehrer Berger die Abteilungsvorsitzenden dazu auf, entsprechende Lehrer/innen für eine Zusammenarbeit zu kontaktieren.226 Das betraf allerdings höchstens 80 Personen, die einer amtlichen Statistik zufolge 1913 in den Kolonien Deutsch-Südwestafrika, Deutsch-Ostafrika, Kamerun, Togo, Neu-Guinea und Samoa als Lehrer/innen gearbeitet hatten.227 Wie viele von ihnen bereits während des Ersten Weltkriegs oder danach nach Deutschland zurückgekehrt waren, lässt sich nicht bestimmen. Angesichts dieser kleinen Gruppe war die DKG ohnehin darauf angewiesen, weitere Lehrkräfte als koloniale Vertrauenspersonen an Schulen zu gewinnen, die dann insbesondere die Gründung kolonialer Schulgruppen initiieren sollten. Im ersten Geschäftsjahr des kolonialen Jugendausschusses veröffentlichten Moritz und Maywald Artikel im Deutschen Philologenblatt und der Allgemeinen Deutschen Lehrerzeitung, verschickten Werbesendungen des Jambo, nahmen an mehreren pädagogischen und wissenschaftlichen Fachtagungen teil und konnten darüber Kontakte zu Lehrkräften aufbauen.228 Die vom Jugendausschuss koordinierten Kolonialvorträge hatten eine Doppelfunktion, durch die nicht nur Schüler/innen eine „koloniale Belehrung“ erhielten, sondern auch Lehrkräfte für schulisches Kolonialengagement aktiviert werden sollten.229 Neben der DKG beteiligten sich an dieser 225 Eduard Moritz: Die koloniale Schulpropaganda der DKG, in: Übersee- und Kolonialzeitung, 44. Jg., 1932, Nr. 10, S. 238-240, S. 239, Herv. i. Org. 226 Vgl. o.V.: Die Tagung der DKG am 13. und 14. Juni in Weimar, in: Deutsche Kolonialzeitung, 39. Jg., 1922, Nr. 5, S. 33-35, S. 35. Auch U. Lorenz wies auf die Bedeutung der „kolonialdeutschen Lehrer“ hin. U. Lorenz: Schule und Kolonien, in: Der Kolonialdeutsche, 4. Jg., 1924, Nr. 6, S. 88, Herv. i.Org. 227 Vgl. Adick/Mehnert 2001, S. 396. Tätig waren in Deutsch-Südwestafrika 14 Lehrerinnen und 23 Lehrer, in Deutsch-Ostafrika zwei Lehrerinnen und 18 Lehrer, in Samoa eine Lehrerin und vier Lehrer, in Kamerun acht, in Togo und in Neu-Guinea jeweils fünf Lehrer. 228 Vgl. BArch, R 1001/6745, Bl. 14, Denkschrift über die koloniale Jugendwerbung im Verlaufe der Zeit vom 1. Oktober 1924 bis 1. Oktober 1925 und über die Aussichten der kolonialen Jugendbewegung. 229 Jahresbericht der DKG, 1926, Berlin, S. 12.
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Vortragstätigkeit Vertreter/innen des Bundes der Kolonialfreunde, des Deutschen Kolonialvereins und des Frauenbundes der DKG. Die sich anschließende Werbearbeit des Kolonialen Jugendausschusses bestand darin, die Schulen mit verschiedenen kolonialen Materialien zu versorgen, insbesondere mit dem Jambo als zentralem Organ. Nicht selten nutzten Lehrkräfte das Material zunächst zur eigenen Wissensaneignung.230 Für diese Aktivitäten erhielt der Jugendausschuss staatliche Gelder von der Abteilung für koloniale Angelegenheiten des Auswärtigen Amtes. Sie stellte ihm regelmäßige Zahlungen in unterschiedlicher Höhe für die Vortragsorganisation und die Herausgabe des Jambo zur Verfügung.231 Zusätzliche Gelder beantragte er u.a. für die Bereitstellung von Kolonialliteratur für Schulbibliotheken232 und von Kolonialprodukten als Anschauungsobjekten im Schulunterricht.233 Zudem bot der Jugendausschuss koloniale Lichtbilderserien für Lehrkräfte und Schulgruppen an. Insgesamt blieb die Reichweite der Vortrags- und Werbetätigkeit des Jugendausschusses an Schulen begrenzt. Zwar waren die Redner, wie Moritz berichtet, im gesamten Reichsgebiet präsent, allerdings konzentrierte sich ihre Tätigkeit auf die Städte. Ländliche Gebiete konnten in der Regel nur über das Versenden von Wer-
230 Vgl. ebd. 231 Vgl. BArch, R 1001/6745, Bl. 83, Schreiben der Korag an das Auswärtige Amt, Abteilung für koloniale Angelegenheiten, 30.3.1926. Darin hieß es, dass für die Vortragstätigkeit im Winter 1925/26 eine Summe von 65.000 Reichsmark verfügbar war. Im März 1927 beantragte der Jugendausschuss mit dem Hinweis auf eingeschränkte Vortagstätigkeit insgesamt 70.000 Reichsmark, davon 30.000 für Vorträge, 24.000 für nachfolgende Werbemaßnahmen und den Rest für das Anschaffen von Publikationen, Lichtbildern, Filmen und die Unterstützung „bedürftiger“ Jugendgruppen. BArch, R 1001/6745, Bl. 203, Schreiben des Präsidiums der Korag an das Auswärtige Amt, Abteilung für koloniale Angelegenheiten, 23.3.1927. Im Juni 1926 bestätigte das Auswärtige Amt die Weiterzahlung der seit Januar des Jahres monatlich geleisteten Unterstützung für den Jambo mit 1500 Reichsmark ohne zeitliche Einschränkung. Vgl. BArch, R 1001/6745, Bl. 124, Schreiben des Auswärtigen Amtes an die DKG (Abschrift), 17.6.1926; siehe auch BArch, R 1001/6745, Bl. 81, Schreiben des Jugendausschusses der Korag an das Auswärtige Amt, Abteilung für koloniale Angelegenheiten, 26.3.1926. 232 Vgl. BArch, R 1001/6745, Bl. 64, Schreiben des Auswärtigen Amtes, Abteilung für koloniale Angelegenheiten an die Korag, 2.12.1925. Es bewilligte 1500 Reichsmark. 233 Vgl. BArch, R 1001/6745, Bl. 76, Schreiben des Jugendausschusses der Korag an das Auswärtige Amt, Abteilung für koloniale Angelegenheiten, 18.2.1926. Darin hieß es, dass das Kolonial-Wirtschaftliche Komitee solch eine Sammlung für 31 Reichsmark zusammengestellt habe und der Jugendausschuss 100 Stück zu erwerben beabsichtige.
2. Die junge Generation als Zielgruppe der Kolonialbewegung | 119
bematerial erreicht werden.234 Darüber hinaus führte seit etwa 1929/30 die verschlechterte Finanzsituation infolge der merklich reduzierten Unterstützung durch das Auswärtige Amt zu einer eingeschränkten Vortragstätigkeit.235 Ganz ähnliche Probleme hatte der VDA bei seiner Schulgruppenarbeit, die infolge der krisenhaften Wirtschaftslage ebenfalls stagnierte bzw. sich reduzierte.236 Allerdings war er an den Schulen trotz rückläufiger Mitgliederzahlen in den Schulgruppen immer noch weitaus präsenter als die Kolonialakteurinnen und -akteure mit ihren Aktivitäten. Doch nicht allein die städtische Konzentration und die geringen Finanzressourcen waren Ursache für die beschränkte Reichweite der kolonialen Werbetätigkeit, sondern insbesondere auch die Einstellungen des Lehrpersonals. Moritz konstatierte rückblickend für die Zeit ab 1929/30 eine veränderte Haltung in der Lehrerschaft, die „der kolonialen Sache nicht mehr die bisherige freudige Anteilnahme“ entgegenbrachte.237 Mögliche Gründe führte er nicht an, es ist aber zu vermuten, dass dieses Verhalten auch im Zusammenhang mit dem Erlass des preußischen Kultusministers Grimme von 1930 stand, der kolonialer Propaganda an Schulen eine vorübergehende Absage erteilt hatte. Allerdings darf Moritz’ Beurteilung generell nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich koloniales Engagement von Lehrkräften 234 Vgl. Eduard Moritz: Die koloniale Schulpropaganda der DKG, in: Übersee- und Kolonialzeitung, 44. Jg., 1932, Nr. 10, S. 238-240, S. 240. Einige Landschulen erbaten direkt beim Jugendausschuss den kostenlosen Versand von Kolonialprodukten als Arbeitsmaterial. Vgl. BArch, R 1001/6745, Bl. 76, Schreiben des Jugendausschusses der Korag an das Auswärtige Amt, Abteilung für koloniale Angelegenheiten, 18.2.1926. 235 Im Jahr 1930 konnte das Auswärtige Amt aufgrund der „geringen Mittel des Kolonialfonds“ insgesamt nur 6000 Reichsmark, gedacht für den Jambo und für Vorträge, bewilligen. BArch, R 1001/6746, Bl. 99, Schreiben des Auswärtigen Amtes an Eduard Moritz, 3.2.1930. Über das Jahr 1929 berichtete die DKG, dass die Vortragstätigkeit „nur in beschränktem Umfange“ weitergeführt werden konnte. Die Arbeiten der DKG, Jahresbericht 1929, Berlin, S. 21. 236 Vgl. Geißler 2002, S. 247. 237 Eduard Moritz: Die koloniale Schulpropaganda der DKG, in: Übersee- und Kolonialzeitung, 44. Jg., 1932, Nr. 10, S. 238-240, S. 240. Im Zuge dieser Entwicklungen plante der Jugendausschuss die Gründung einer kolonialen Lehrervereinigung mit der Aufgabe, „das Verständnis für die kolonialen Notwendigkeiten Deutschlands unter der deutschen Lehrerschaft zu vertiefen und dahin zu wirken, daß der koloniale Gedanke an allen deutschen Lehranstalten […] gleichmäßige und verstärkte Pflege findet.“ o.V.: Plan einer kolonialen Lehrervereinigung, in: Mitteilungen der DKG, 42. Jg., 1930, Nr. 1, o.S., Herv. i. Org. Die Rückmeldungen waren unzureichend, wie der Jugendausschuss nach fast einem Jahr mitteilte. Dennoch hielt er an dem Plan fest und lud erneut zur Beteiligung ein. Vgl. o.V.: Koloniale Lehrervereinigung, in: Mitteilungen der DKG, 42. Jg., 1930, Nr. 12, o.S.
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während der gesamten Weimarer Republik nur auf den kleineren Teil unter ihnen beschränkte. Dies lässt sich aus den Stellungnahmen verschiedener Akteurinnen und Akteure ableiten, die auf unterschiedliche Aspekte verweisen. Ein Autor im Kolonialfreund forderte 1925, dass vor allem Schulleiter von der Notwendigkeit kolonialer Propaganda überzeugt werden müssten, damit unter kolonial aufgeschlossenen Lehrern nicht doch ein „ängstliches Zurückweichen“ bezüglich der eigenen Aktivität aus Rücksicht auf die Schulleitung überwiege.238 Ein Mitglied der Kölner Abteilung des Frauenbundes der DKG kritisierte noch 1930 zum einen die geringe Repräsentanz von Lehrerinnen in den Vorstandsabteilungen und forderte dies zu ändern. Zum anderen verwies es auf den nicht zu unterschätzenden Einfluss von Eltern auf die Handlungen von Lehrkräften. Sie hätten in Gesprächen berichtet, dass „sie sich vielfach nach der parteipolitischen Einstellung der Elternschaft richten müßten. Viele Eltern stehen auf dem Standpunkt, daß wir keine Kolonien brauchen, und wenn eine Lehrerin Kolonialpropaganda treibt, kommt sie in Konflikt mit der Elternschaft. So bleibt aber nach dem Erlass des Ministers [Grimme, S.H.] den Lehrern freigestellt, im Unterricht von der Kolonialfrage rein sachlich in einem solchen Sinne zu sprechen, dass die jungen Menschen die Notwendigkeit kolonialer Betätigung von selber einsehen.“ 239
Dies setze, so das Kölner Mitglied weiter, die koloniale Überzeugung von Lehrkräften, die sie zukünftig stärker an sich binden müssten, voraus. 240 Abgesehen von der Rücksichtnahme gegenüber Schulleitungen und Eltern, mit denen sich Lehrer/innen konfrontiert sahen, ist bei der Mehrheit des Lehrpersonals von einem Desinteresse an der Kolonialfrage auszugehen. So forderte ebenfalls aus den Reihen des Frauenbundes ein Mitglied der Bremer Abteilung, im Schulbetrieb insbesondere „die Masse der Gleichgültigen aufzuwecken.“241 Damit spiegelten Lehrkräfte die auch beim Rest der Bevölkerung dominierende Einstellung wider. Hinweise auf das Engagement antikolonial eingestellter Personen an Schulen und damit auf eine Einflussnahme über die oben erwähnten Eingaben an das preußische Kultusministerium hinaus, ließen sich nur wenige ermitteln. Hinzu kommt, dass dieses teilweise von Kolonialakteurinnen und -akteuren beschrieben wurde. Vereinzelte antikoloniale Aktivitäten, die in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre stattfanden, sind dokumentiert. Oberstleutnant a.D. Leßner kritisierte 1927 im Ko238 W.Z.: Mehr koloniale Jugendpropaganda, in: Der Kolonialfreund, 3. Jg., 1925, Nr. 15, S. 309-310, S. 310. 239 BArch, R 1001/6693, Bl. 252, Protokoll der Vorstandssitzung des Frauenbundes der DKG in Aachen, 13.6.1930. 240 Vgl. ebd. 241 BArch, R 1001/6693, Bl. 279, Hauptversammlung des Frauenbundes der DKG in Aachen, 14.6.1930.
2. Die junge Generation als Zielgruppe der Kolonialbewegung | 121
lonialdeutschen die Appelle eines L. Persius aufs Schärfste. Dieser hatte in seinem Aufsatz Kampf gegen die Kolonialpropaganda in den Schulen in einer Dortmunder Zeitung dazu aufgefordert, und setzte dies auch selbst in die Tat um, von der DKG herausgegebene und an Schüler/innen weiterverbreitete Flugblätter zu vernichten. Er begründete seine Aufforderung damit, dass diese „imperialistisch verseucht“ seien.242 Zudem appellierte er an Eltern, koloniale Vorträge an Schulen zu verhindern. Es ist davon auszugehen, dass solche, auf direkte Konfrontation ausgerichtete Interventionen eher die Ausnahme blieben, sonst wäre darüber mehr berichtet worden. Ebenso schienen antikoloniale Versammlungen in Schulen nicht allzu häufig stattzufinden. Doch für den 15. Dezember 1926 hatte das Freiproletarische Jugendkartell ins Sophien-Lyceum eingeladen.243 Im Anschluss an Vorträge, u.a. von Paul Oestreich, Mitbegründer des Bundes Entschiedener Schulreformer, beschlossen die Teilnehmenden eine Resolution, die zum Widerstand gegen jegliche Kolonialbestrebungen aufrief: „Wir fordern das deutsche Volk auf, sich aller kolonialen Gier zu entschlagen, sich allen kolonialen Versuchungen oder Geschenken zu versagen! Die Epoche der kolonialen Expansion ist mit der restlosen Erschließung und Occupierung der Erdoberfläche beendet, die Epoche der kolonialen Auflösung, der Verselbständigung aller Rassen und Völker nach industriell organisierter Civilisierung naht im Sturmschritt […]. Wir rufen die deutsche Jugend auf, in der Unterstützung der Autonomiebestrebungen aller – auch der farbigen – Völker der gesamten Weltjugend mit gutem Beispiel voranzugehen!“244
Mit diesem Appell an die weltweite Solidarität im hier kämpferisch angekündigten Übergangsprozess hin zur Freiheit kolonisierter wie nicht kolonisierter Gesellschaften, zu der insbesondere die junge Generation einen vorbildhaften Beitrag leisten sollte, ließen das Freiproletarische Jugendkartell und seine Mitstreiter/innen die revisionistisch und nostalgisch geprägten Kolonialvorträge und Festveranstaltungen an Schulen nicht unwidersprochen, wenngleich diese insgesamt betrachtet weitaus häufiger stattfanden. Hinweise auf die Existenz von Schulgruppen, die sich im Gegensatz zu den Schulgruppen der Kolonialverbände aus antikolonialer Perspektive mit der Kolonialthematik beschäftigten, ließen sich nicht finden. Insgesamt betrachtet war die Thematisierung und Verankerung der Kolonialfrage in der Institution Schule durch DKG, Kolonialen Jugendausschuss und andere 242 Leßner: Kampf gegen die Kolonialpropaganda in den Schulen, in: Der Kolonialdeutsche, 7. Jg., 1927, Nr. 15, S. 240-241, S. 240. 243 Einen Hinweis auf die Stadt gab es nicht, das Sophien-Lyceum befand sich aber vermutlich in Berlin. 244 O.V.: Deutsche Kolonien?, in: Die Neue Erziehung, 9. Jg., 1927, Nr. 2, S. 159, Herv. i. Org.
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Kolonialverbände über die Jahre hinweg kein Selbstläufer, sondern erforderte dauerhaftes Engagement. Auf ihre Initiative hin gaben viele Landesregierungen koloniale Schulerlasse heraus, die die staatlichen Rahmenbedingungen für eine kolonialrevisionistische Unterrichtsgestaltung schufen. Zugleich war es möglich, durch ihre Vortragstätigkeit und die Beschaffung kolonialer Arbeitsmaterialien einen Teil der Schüler/innen mit der von ihnen propagierten Notwendigkeit deutschen Kolonialbesitzes vertraut zu machen. Die Unterstützung aufseiten der Lehrkräfte blieb begrenzt, da ihre Mehrheit der Kolonialfrage uninteressiert gegenüber stand. Dennoch fanden sich über das Reichsgebiet verteilt immer wieder Lehrkräfte, die koloniale Schulgruppen initiierten und sich so am Aufbau einer kolonialen Jugendbewegung beteiligten. Dazu gehörten auch die außerschulischen Jugendgruppen der Kolonialverbände und die Kolonialpfadfinder mit ihrem bündischen Selbstverständnis. Mit ihrer kolonialen Propaganda inner- und außerhalb von Schulen sowie den von den Kolonialpfadfindern formulierten politischen Sozialisationsentwürfen für eine koloniale Zukunft beschäftigt sich das nächste Kapitel.
3. Die koloniale Jugendbewegung zwischen Mythenbildungen und Zukunftsvisionen
Die in sich heterogene koloniale Jugendbewegung umfasste verschiedene Jugendgruppierungen. In diesen agierten die jungen Akteurinnen und Akteure im Spannungsfeld von der Anleitung durch Erwachsene und der Entwicklung eigener Vorstellungen und Handlungsweisen. Die (außer-)schulischen Jungen- und Mädchengruppen wurden in der Regel von Vereinsmitgliedern der Kolonialverbände oder kolonialüberzeugten Lehrkräften gegründet, hingegen entstanden die beiden Kolonialpfadfinderbünde aus jugendbewegter Initiative. Für Jungen und Mädchen bedeutete die weitgehend geschlechterhomogene Organisierung der Jugendgruppen, unterschiedliche Aufgabenbereiche zu erfüllen. Gleichzeitig bestand für alle Heranwachsenden die Aufgabe darin, koloniale Kontinuität zu gewährleisten und dies in zweifacher Hinsicht: durch die Übernahme kolonialer Propagandatätigkeit und durch die mentale wie körperliche Vorbereitung auf ein Leben in Kolonialgebieten. Bisherige Forschungen beleuchteten den Kolonialrevisionismus vor allem entlang von Kolonialverbänden und Parteien sowie den damit verbundenen kolonialrevisionistischen Aktivitäten und Diskursen. Im Folgenden richtet sich der Blick auf die Tradierung des ‚Kolonialen‘ und damit auf die Jugend selbst. Im Mittelpunkt stehen nicht ereignis- und organisationsgeschichtliche Aspekte, auf die sich die überschaubaren Forschungsbeiträge zu kolonialen Jugendgruppen überwiegend konzentrieren, sondern die Handlungsorientierungen, Selbstentwürfe und Zukunftsvisionen kolonial engagierter Heranwachsender. Aufgrund der Tatsache, dass die Publikationen der kolonialen Jugendgruppierungen nur teilweise von ihren jugendlichen Mitgliedern verfasst wurden, unterliegt die Analyse einigen Einschränkungen: Zentrales Organ der Schul- und Jugendgruppen der Kolonialverbände war die Jugendzeitschrift Jambo. In ihrer Doppelfunktion diente sie sowohl der kolonialen Erinnerungskultur und Wissensvermittlung als
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auch der Verständigung innerhalb der kolonialen Jugendbewegung.1 Jugendliche kamen darin aber kaum zu Wort, denn die Erzählungen ‚Kolonialdeutscher‘, die Abenteuergeschichten, Fabeln und Berichte aus den Jugendgruppen wurden fast ausschließlich von Erwachsenen verfasst. Dies galt auch für Mitteilungen aus den Jungen- und Mädchengruppen in den vereinseigenen Publikationen der Kolonialverbände. Für diese Gruppen können somit keine Selbstdarstellungen untersucht werden, jedoch lässt sich auf der Basis von Gruppenberichten beleuchten, welche Wissensangebote sie sich aneigneten und an welchen Vorbildern sie sich orientierten. Demgegenüber gaben die Kolonialpfadfinder mit dem Kolonialspäher, Kreuz und Lilie und Land vor uns eigene Zeitschriften heraus.2 Sie entwarfen darin politische Visionen, mit denen wiederum kollektive Selbstentwürfe bzw. spezifische Sozialisationsvorstellungen einhergingen. Es handelte sich also nicht um subjektive Lebensentwürfe, sondern um Visionen im Rahmen einer bündischen Lebensweise. Der Verfasserkreis umfasste vor allem Mitglieder der Bundesleitung sowie Gauund Gruppenleiter, die in der Regel zwischen 17 und 25 Jahre alt waren, und weniger einfache Gruppenmitglieder. Zudem publizierten die Kolonialpfadfinder Artikel von Angehörigen der Kolonialbewegung, was zeigt, dass sie auf deren koloniales Wissen angewiesen waren. Vor dem Hintergrund, dass die Kolonialverbände mit Ausnahme des Frauenbundes der DKG ihre Jugendarbeit überwiegend auf Jungen ausrichteten, stehen in den ersten beiden Abschnitten männliche Jugendliche im Vordergrund. Der erste Abschnitt widmet sich der Propaganda der Kolonialjugend, die sich zwischen kolonialen und kriegerisch-heroischen Vergangenheitskonstruktionen und in die Zukunft weisenden Kolonialforderungen bewegte. Der zweite Abschnitt beschäftigt sich mit dem kollektiven Selbstentwurf der Kolonialpfadfinder. Sie verknüpften ihre Zukunftsvisionen mit einer bündischen Vergemeinschaftungsform und setzten damit eigene Schwerpunkte und Orientierungsmaßstäbe in der kolonialen Jugendbewegung. Der dritte Abschnitt befasst sich mit den kolonialen Mädchengruppen, die vor allem in die Vereinsarbeit des Frauenbundes eingebunden waren und sich in ihren Aktivitäten an einem bürgerlich-konservativen Geschlechtermodell orientierten. 1
Vgl. BArch, R 8023/151, Bl. 469, Schreiben von Hörhold an Duems, 27.9.1930. Darin hieß es: „Der ‚Jambo‘ soll in Übereinstimmung mit dem Jugendausschuss a.) auf breitester Basis bei unserer Jugend im In- und Ausland die Erinnerung an unsere Kolonien wecken und pflegen und kolonialkundliches und weltwirtschaftliches Wissen verbreiten. b.) Der ‚Jambo‘ soll die Bildung kolonialer Jugendgruppen anregen und deren Unterhaltung pflegen.“ Ebd., Herv. i. Org.
2
Im Unterschied zu den anderen beiden Zeitschriften umfasste Land vor uns nur einige Hefte im Jahr 1931.
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3.1 KOLONIALE PROPAGANDA ZWISCHEN VERGANGENHEITSKONSTRUKTION UND ZUKUNFTSWEISENDEN RAUMFORDERUNGEN Die in der kolonialen Jugendbewegung organisierten Jugendlichen hatten eine doppelte Funktion. Sie rezipierten einerseits fantasiegeprägtes ‚weißes‘ Wissen über die koloniale Vergangenheit, das die Kolonialverbände in der Zeitschrift Jambo und im Rahmen von Vorträgen für sie bereitstellten. In dieser Studie wird in Anlehnung an Maisha Maureen Eggers davon ausgegangen, dass dadurch rassifizierende Differenzmarkierungen geschaffen wurden: „Indem ein weiß geprägtes und definiertes epistemisches Wissen über markierte ‚Andere‘ erzeugt und legitimiert wird, wird auch die Normalität und Normativität einer hierarchischen komplementär rassifizierten Ordnung verankert und tradiert. Für die normative Setzung dieser hierarchischen Komplementarität stellt sich die weiße Phantasie als zentral heraus.“3
Andererseits fungierten sie als Multiplikator dieses Wissens, da sie sich an der Durchführung von Kolonialveranstaltungen beteiligten und mit dieser Propaganda die weitere Öffentlichkeit, insbesondere die junge Generation für die Forderung nach Rückgabe der Kolonien mobilisieren wollten. Die Propagandatätigkeit der Jugendgruppen, durch die sich ihre Aneignung kolonialer Wissensangebote verdeutlichte, umfasste sowohl koloniale Erinnerungsarbeit als auch zukunftsweisende Kolonial- und Raumforderungen.4 Sie basierte auf von der Kolonialbewegung geschaffenen Mythen, durch die sie – rekurrierend auf überwiegend militärische Auseinandersetzungen – koloniale ‚Helden‘(-geschichten) als Symbol für die Idee deutscher Weltmacht konstruierte. Diese ‚Helden‘ sollten den Jugendlichen als Vorbilder dienen, an denen sie sich für ihre zukunftsweisenden Forderungen orientieren konnten. Allerdings blieb diese Identifikation Jungen vorbehalten, da insbesondere Männer mit militärischer Vergangenheit als Vorbilder fungierten.5 Dementsprechend war die koloniale Jugendarbeit an einem bürgerlichkonservativen Geschlechtermodell ausgerichtet, das Mädchen auf eine überwiegend fürsorgende Rolle vorbereiten sollte. Zugleich ging mit den Mythenadaptionen die Legitimation kolonialer Gewalt- und Herrschaftsausübung einher, die Jugendlichen
3
Eggers 2005, S. 62, Herv. i. Org.
4
Auf diese Doppelfunktion verweist auch Sandra Maß in Bezug auf die Aktivitäten der kolonialen Veteranenvereine. Vgl. Maß 2006, S. 60 und ausführlicher S. 56-70.
5
Im Zusammenhang mit kolonialen Mythenbildungen standen Mädchen keine weiblichen Vorbilder zur Verfügung. Sie orientierten sich vor allem an den Aufgabenfeldern des Frauenbundes. Vgl. Abschnitt 3.3.
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beider Geschlechter eine Selbsterhöhung gegenüber der kolonisierten Bevölkerung ermöglichte. In Anlehnung an Boris Barth werden Mythen, speziell „[p]olitisch wirkende Mythen“, hier verstanden als „sinntragende mentale Konstrukte, bei denen ein eindeutig feststellbarer Widerspruch zwischen einem historisch real definierbaren Vorgang und seiner ganz anderen Verarbeitung in der späteren kollektiven Erinnerung feststellbar ist.“6 Sie sind zugleich „konstitutiv für die Selbstwahrnehmung sozialer Gefüge“,7 d.h. in diesem Fall für die kolonialen Jugendgruppen. Zum Begriff ‚Helden‘ ist anzumerken, dass diese aus diskursiven Zuschreibungen hervorgehen und daher René Schilling zufolge, als „narrativ verfasste soziale Konstruktion“ zu betrachten sind.8 Im folgenden Abschnitt werden zunächst die in den Schul- und Jugendgruppen und von den Kolonialpfadfindern repräsentierten kolonialen Mythenbildungen herausgearbeitet. Im zweiten Teil geht es um die Argumentationen, mit denen die koloniale Jugendbewegung ihre Forderung nach Rückgabe der Kolonien begründete. Mythisierung der kolonialen Vergangenheit Ausgangspunkt des propagandistischen Engagements der lokalen Schul- und Jugendgruppen waren regelmäßige Treffen, die ein- bis viermal im Monat stattfanden und meist von Erwachsenen geleitet wurden. Währenddessen wurden die Aktivitäten der Gruppe und koloniale Themen besprochen. Die Basis dafür bildeten schriftlich erläuterte Lichtbilderreihen der DKG, 9 die Lektüre des Jambo10 oder anderer Kolonialpublikationen. Außerdem gab es Vorträge kolonialerfahrener Männer und Frauen.11 Die Kolonialpfadfinder trafen sich in der Regel wöchentlich. Auch sie er6
Barth 2003, S. 487.
7
Weinrich 2013, S. 18.
8
Schilling 2002, S. 23. Vgl. dazu ausführlicher ebd., S. 22-27.
9
Der Jambo publizierte Übersichten zu verfügbaren Lichtbilderreihen in verschiedenen Städten. Vgl. u.a. o.V.: Mitteilungen des Jugendausschusses der Korag, in: Jambo, 1. Jg., 1924, Nr. 4, S. 125-127, S. 127.
10 Seit 1930 erschien im Jambo eine Rubrik „10 Minuten koloniales Wissen“, die sich u.a. mit der Kolonialvergangenheit befasste. Ein Leser bezeichnete die Lektüre des Jambo explizit als politischen Akt: „Dadurch, dass wir den ‚Jambo‘ lesen, kämpfen wir auch für die Rückgewinnung unserer Kolonien. Kein Blatt erweckt in uns jugendlichen Lesern so sehr den Schmerz über die verlorenen Gebiete und erneuert immerfort die Sehnsucht nach ihnen, wie unser ‚Jambo‘.“ O.V.: Warum „Jambo“?, in: Jambo, Beilage DKJ, 7. Jg., 1930, Nr. 12, S. 46-47, S. 47. 11 Dazu gehörten Offiziere und Soldaten, die von ihren Kämpfen in den ehemaligen Kolonien berichteten. Einer von ihnen war Fritz Oberhoffer, der lange Jahre in Ostafrika gelebt hatte, und im März 1926 beim Kolonialen Jugendbund Leipzig von seinen Erlebnis-
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örterten koloniale Themen und eigneten sich zudem theoretische Kenntnisse der Pfadfinderkunde an.12 Sie nutzten die Lichtbildervorträge und nahmen bei Gelegenheit an den örtlichen Veranstaltungen der DKG teil. 13 Die Wissensangebote waren nicht ausschließlich, aber überwiegend auf die ehemaligen deutschen Kolonien konzentriert. Sie umfassten Berichte über landeskundliche Aspekte, über den Farm- und Berufsalltag14 und über die Kämpfe der deutschen ‚Schutztruppen‘,15 aber auch über Jagd- und Reiseabenteuer sowie Geschichten über das Tierleben.16 Die sich darin vermittelnde Lesart der Kolonialvergangenheit war eindeutig. Im Zentrum standen die von ‚Kolonialdeutschen‘ erbrachten Leistungen17 und die erfolgreiche Verteidigung der Kolonien. Zugleich wurden die Überseeterritorien als Abenteuerraum dargestellt. Nur wenige Beiträge waren gegenwartsbezogen und beschäftigten sich mit aktuellen politischen Aspekten wie dem Stand der Kolonialfrage in Deutschland oder ausländischen Stellungnahmen zu Deutschlands kolonialer Wiederbetätigung. 18 Manche befassten sich mit wirtschaftlichen Aspekten wie der kolonialen Rohstoffgewinnung und -verarbei-
sen als Offizier unter von Lettow-Vorbeck erzählte. Vgl. Aus der Bewegung, in: Jambo, 3. Jg., 1926, Nr. 4, S. 114. 12 Die Kolonialpfadfinder erklärten: „Die Sommermonate sind allgemein dazu bestimmt, die Jungen auf den Fahrten und Übungen praktisch durchzubilden, ihre Liebe zur Natur zu vertiefen und die Vaterlandsliebe bewusst zu erwecken. […] Außerdem findet in jeder Woche ein Heimabend statt, der theoretischen Unterweisungen dient. Das Volkslied wird gepflegt, angemessene Lektüre wird vorgelesen.“ Im Winter reduzierte sich die Anzahl der Fahrten. Bei den weiterhin wöchentlichen Heimabenden fand „der Kolonialgedanke in Vorträgen und Lektüre den Vorrang und wird immer wieder das Interesse unserer Jungen zu den Kolonien hingeleitet.“ BArch, R 1001/6746, Bl. 73, Bund Deutscher Kolonialpfadfinder an die DKG, Jugendausschuss, 12.1.1929, S. 3. 13 Vgl. AdJb, Nachlass Heinz König, Truppbuch 2: Bund Deutscher Kolonialpfadfinder e.V., Einträge u.a. vom 15./16. September 1928, 10. November 1928, 15. Januar 1929. 14 Vgl. u.a. Aus der Bewegung, in: Jambo, 3. Jg., 1926, Nr. 2, S. 58; Aus der Bewegung, in: Jambo, 3. Jg., 1926, Nr. 4, S. 113; Aus der Bewegung, in: Jambo, 4. Jg., 1927, Nr. 11, S. 309. 15 Vgl. u.a. Aus der Bewegung, in: Jambo, 3. Jg., 1926, Nr. 9, S. 254; Nachrichten über die Gruppen, in: Jambo, Beilage DKJ, 6. Jg., 1929, Nr. 1, S. 4 16 Vgl. u.a. Aus der Bewegung, in: Jambo, 4. Jg., 1927, Nr. 4, S. 114. 17 In einem Kommentar zu dem Lichtbildervortrag Deutsche Kolonialarbeit hieß es: „An Hand der Bilder konnte er allen einen Überblick geben über das, was jahrelange, zähe deutsche Arbeit zu leisten im Stande war.“ Aus der Bewegung, in: Jambo, 3. Jg., 1926, Nr. 4, S. 114. 18 Vgl. u.a. Aus der Bewegung, in: Jambo, Beilage DKJ, 5. Jg., 1928, Nr. 11, S. 315.
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tung sowie den Lebens- und Arbeitsmöglichkeiten in den ehemaligen Kolonien.19 Konkrete Planungen erfolgten daraus für die Jugendlichen nicht. Nur einige wenige verwirklichten eine Reise in die ehemaligen Kolonialgebiete.20 Der Handlungsraum der kolonialen Jugendbewegung lag somit in Deutschland. Mit einer regen Werbetätigkeit beabsichtigten die Heranwachsenden ihren Beitrag für die Rückgabe der Kolonien zu leisten. „Wir wollen mitarbeiten an dem großen Werk, welches von uns fordert, den kolonialen Gedanken in das deutsche Volk zu tragen. Denn nur, wenn die breite Masse des Volkes mit dem kolonialen Gedanken vertraut gemacht wird, können wir unsere Kolonien zurückerlangen. Wir wollen Vorkämpfer schaffen für ein neues Deutschland mit Kolonialbesitz.“ 21
Neben der Popularisierung kolonialer Forderungen hofften die Gruppen auch auf Mitgliederzuwachs. Sie luden zu öffentlichen Vorträgen, Werbeabenden für Elternund Freundeskreise ein oder veranstalteten als Höhepunkt ihrer Aktivitäten größere Kolonialfeste anlässlich des Jubiläums einer Jugendgruppe oder eines kolonialen Gedenktages.22 Zum Programm gehörte in der Regel ein Festvortrag und die Jugendlichen beteiligten sich mit Gedichten, Musik- und Theaterstücken oder sportlichen Übungen. Anhand der überwiegend im Jambo publizierten Berichte können die kolonialen Mythenbildungen und die damit einhergehenden Heldenkonstruktionen analysiert werden, die Jugendgruppen in ihren Darbietungen aufgriffen und weiterverbreiteten. Durch diese Inszenierungen – verstanden als performative Akte oder Performances – schufen die Jugendlichen zugleich kolonialistisch gerahmte Räume.23 Sie konnten sich vorübergehend in ‚heldenhaftes‘ Kolonialleben, wie es 19 Über Südwestafrika hieß es im Jahr 1926 allerdings, „die Aussichten [seien, S.H.] dort nicht ganz so rosig, wie es vielleicht den Anschein hätte.“ Aus der Bewegung, in: Jambo, 3. Jg., 1926, Nr. 5, S. 142. 20 In Bezug auf die Zeitschrift Jambo schlussfolgert Winfried Speitkamp: „Insofern weckte die Zeitschrift eher Träume von einem anderen Leben, als dass sie den Weg dahin wies.“ Speitkamp 2006, S. 80. Zu den wenigen nach Übersee Reisenden gehörte z.B. Walter Wrede vom Bund Deutscher Kolonialpfadfinder, der für eine Zeitlang in Südwestafrika lebte. Vgl. o.V.: Swakopmunder Pfadfinderschaft, in: Kolonialspäher, 4. Jg., 1931, Nr. 7/8, S. 92f. 21 Aus der Bewegung, in: Jambo, Beilage DKJ, 6. Jg., 1929, Nr. 2, S. 8. Diesen Grundsatz verfolgte die Kolonialpfadfindergruppe des Niederrheinischen Pädagogikums in Düsseldorf. 22 Vgl. zu den verschiedenen Formen der Öffentlichkeitsarbeit auch die Ausführungen bei Schmidt 2008, S. 67-74. 23 Erika Fischer-Lichte unterscheidet zwischen Performance, Inszenierung und Ritual: „Während der Begriff der Performance jede Art von Aufführung meint, intendiert der
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in der ‚weißen‘ Fantasie aussah, hineinversetzen und im Spiegel der Öffentlichkeit vermutlich eine besondere Emotionalität dazu herstellen. Der Aspekt der Aufführung spielte eine wichtige Rolle. Ihre „Materialität“ wird Erika Fischer-Lichte zufolge „geschaffen durch die Körper der Teilnehmer, die sich in spezifischer Weise durch den Raum bewegen, sprechen und / oder singen und Gegenstände manipulieren. Die Gegenstände, die Verwendung finden mögen, sind dabei nicht als fixierte Artefakte von Belang, sondern als Elemente in einem dynamischen Prozess. Das heißt, erst durch die Verwendung der jeweiligen Materialien in performativen Prozessen kann sich hier Räumlichkeit, Körperlichkeit, Lautlichkeit konstituieren und erfahrbar werden. […] Die Aufführung ist daher auch nicht als Werk – im Sinne eines Artefaktes – zu begreifen, sondern als ein Ereignis.“24
Die nachfolgend analysierten Aufführungen wurden mehrfach dargeboten. Inwieweit sie als repräsentativ für die kolonialen Jugendgruppierungen gelten, muss eine offene Frage bleiben, da nicht alle Gruppen regelmäßig von ihren Aktivitäten berichteten. Im Mittelpunkt stand die Präsentation soldatischer Männlichkeit, die mit unterschiedlichen Ausprägungen als ‚heldenhafte‘ Männlichkeit inszeniert wurde. Eine Darbietung stilisierte die in Kolonialgebieten getöteten deutschen Soldaten zu Märtyrern. Die Jugendgruppe habe „in plastischer Realistik […] drei lebende[…] Bilder aus dem Leben der kämpfenden Schutztruppe [inszeniert, S.H.]: Am Lagerfeuer – Ueberfall – Nach dem Gefecht –, die Gedenken, Kampf und Tod des Schutztrupplers im fernen Afrika darstellten. Ergreifend besonders das letzte Bild: Die Kameraden um den sterbenden Schutztruppler herumstehend, die Erschlagenen und Gefangenen in der Ruhe, während leise das Lied vom guten Kameraden erklingt.“25
Die hier fehlende zeitliche wie geografische Kontextualisierung der Kämpfe der ‚Schutztruppe‘ ermöglicht eine Perspektive auf verschiedene Kampfplätze während der deutschen Kolonialzeit. Vermittelt wird das Bild von Kolonisierten als hinterhältige Angreifer, die die deutschen Soldaten zwar nicht ohne Verluste, aber erfolgreich bezwingen können. Indem die toten und gefangenen Kolonisierten kaum Beachtung finden, wird der ‚sterbende Schutztruppler‘, dessen Tod im ‚VerteidiBegriff der Inszenierung den besonderen Modus der Herstellung von Aufführungen, und der Begriff des Rituals bezeichnet eine besondere Gattung von Aufführungen.“ FischerLichte 2003, S. 36. 24 Ebd., S. 38. 25 BArch, R 1001/6735, zw. Bl. 12 und 13, o.V.: Fünf Jahre Kolonialfreunde, in: Oschatzer Tageblatt, 52. Jg., 1929, Nr. 84, 11. April 1929. Die Aufführung erfolgte durch die Jugendgruppe Oschatz des Bundes der Kolonialfreunde im April 1929.
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gungskampf‘ unausweichlich scheint, als Märtyrer ins Zentrum gerückt. Ihm sollte das Publikum gedenken und er stand sicherlich stellvertretend für den Rest der in den Kolonien getöteten deutschen Soldaten. Neben namenlosen Soldaten standen in anderen Darbietungen noch lebende Persönlichkeiten im Vordergrund, beispielsweise Paul von Lettow-Vorbeck. Der Mythos um seine siegreichen Kämpfe als Kommandeur im Ersten Weltkrieg in Deutsch-Ostafrika stilisierte ihn zum zentralen kolonialen ‚Helden‘ der Weimarer Republik.26 Diese Legende griff eine Jugendgruppe in ihrem Singspiel Der SafariGeneral auf, über das es hieß, dass „aus allen Bildern und Sprüchen die Heldengestalt Lettow-Vorbecks“ leuchtete, „der ruhmreich auf sich selbst gestellt, mit zäher Energie bis zum letzten unbesiegt durchhielt.“27 Damit übernahm sie die Kriegserinnerung, in der das „Durchhalten der Kolonialarmee […] in einen militärischen und moralischen Sieg umgedeutet“ wurde, wie Sandra Maß u.a. am Beispiel des Einzugs von Lettow-Vorbecks durch das Brandenburger Tor im März 1919 zeigt. 28 Ebenso rekurrierten Jugendgruppen auf den untrennbar mit von Lettow-Vorbeck verknüpften Mythos der ‚treuen Askari‘, der auf die Loyalität der während des Ersten Weltkriegs mit ihm kämpfenden afrikanischen Soldaten verweisen sollte. 29 Unter Anwendung von Blackfacing präsentierten sich Heranwachsende wiederholt in Festumzügen als ‚schwarze‘ Soldaten oder Lastenträger. Im Mai 1927 beim Westdeutschen Kavalleristentag in Gießen folgte eine verkleidete Jugendgruppe einem mit Kolonialprodukten bestückten und mit der Aufschrift „Ohne Kolonien Volk in Not“ versehenen Wagen: „Ein echt afrikanisches Gepräge gaben die dicht hinter dem Wagen marschierenden Askaris. Durch diese wurde die Lettow-Vorbektruppe [sic] von Deutsch-Ostafrika versinnbildlicht, auch die Lastträger fehlten hierbei nicht. Die Zuschauer waren von den lichtecht gefärbten Schwarzen derart hingerissen, daß die so dahinziehenden mit wahren Beifallstürmen begrüßt wurden. […] Es war immerhin ein großes Opfer der Jugendgruppe Waterberg, daß sich fast ihre gesamten Mitglieder als Neger aufputzen ließen.“30
26 Vgl. dazu ausführlicher Maß 2006, S. 34-39. 27 O.V.: Die Naumburger Herbsttagung des Mitteldeutschen Bezirksverbandes der kolonialen Jugend, in: Jambo, Beilage DKJ, 5. Jg., 1928, Nr. 10, S. 285-286, S. 286. 28 Maß 2006, S. 50. 29 Zu dem Mythos vgl. Michels 2009, S. 124-128. 30 Bundesnachrichten: II. Besondere Berichte unserer Bezirke und Ortsgruppen, in: Der Kolonialfreund, 5. Jg., 1927, Nr. 6, S. 12. Begleitet wurde der Wagen auch von den Mädchen der Jugendgruppe und „2 Reiter[n] in der Uniform unserer Süd-Westafrikanischen Schutztruppe.“ Ebd. Für das dazugehörige Foto vgl. ebd., S. 6. Eine „Askari-Wachtparade“ inszenierte die koloniale Jugendgruppe Melsungen während des dortigen Hei-
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In dieser Beschreibung zeigt sich die ambivalente Funktion von Blackfacing, die auch Eric Lott, wenngleich für den US-amerikanischen Kontext und mit anderer Akzentuierung, beschreibt. Die sich Mitte des 19. Jahrhunderts in den USA etablierenden ‚Minstrelsy Shows‘, in denen sich in der Regel ‚weiße‘ Männer in einer Mischung aus Kostümierung, Dialekten, Musik und Tanz als ‚schwarze‘ Personen präsentierten, brachten unbestreitbar neue Artikulationsformen rassifizierender Differenzmarkierung hervor.31 Zugleich offenbarte sich in den Shows ein ambivalenter Prozess: „Einerseits sei minstrelsy aus einer Angst entstanden, die sich in rassistischem Spott manifestiert habe – Angst vor dem Verlust der eigenen sozialen Stellung […] –, und andererseits aus einer insupportable fascination an der Kultur der Schwarzen.“32 Die Blackfacing Performance der kolonialen Jugendgruppe zielte in erster Linie darauf, den Mythos der militärischen Kooperation der Askari auszudrücken, in dem ein hierarchisches Herrschaftsverhältnis angelegt war, durch das sich die Jugendlichen nicht zuletzt ihrer vermeintlich überlegenen ‚weißen‘ Position vergewissern konnten. Gleichzeitig artikulierte sich in der Reaktion der Zuschauenden die von Lott beschriebene Faszination gegenüber den ‚schwarzen‘ Beteiligten. 33 Darüber hinaus ist davon auszugehen, dass mit dem Blackfacing ein rassifizierender Lernprozess einherging, der ‚weißen‘ Jugendlichen vermittelte, den (abwesenden) ‚Anderen‘ jederzeit repräsentieren zu können. Auf Deutsch-Ostafrika im Ersten Weltkrieg bezog sich auch das mehrfach aufgeführte Bühnenstück Sultan Kahigi. Wie die beschriebene Festzugsdarbietung vermittelte es – wenngleich mit anderer Akzentuierung – den Aspekt der Loyalität. Über eine Aufführung war zu lesen: „Als nach harten Kämpfen die Engländer im Herbst 1916 Bukoba am Viktoriasee besetzten und den Sultan Kahigi zwingen wollten, ihnen mit seinen Eingeborenen Trägerdienste gegen die Deutschen zu leisten, da zog er, der 26 Jahre den Deutschen gedient hatte, den ehrenhaf-
matfestzuges im Juni 1928. Vgl. Aus der Bewegung, in: Jambo, Beilage DKJ, 5. Jg., 1928, Nr. 8, S. 227. 31 Vgl. Voss 2014, S. 100, die sich auf Lott 1995, S. 6 bezieht. 32 Ebd., Herv. i. Org. mit Bezug auf Lott 1995, S. 6 und S. 9. 33 Auf die ambivalente Funktion solcher Inszenierungen weist auch Sandra Maß hin. Mit Blick auf die Gedenkrituale des Kolonialkriegerbundes schlägt sie folgende Lesart vor: Diente der Verweis auf die militärische Kooperation der Askari einerseits zur Legitimation von Kolonialansprüchen, so artikulierte sich darin andererseits „das Bedürfnis der Veteranen, auf ihre ehemaligen schwarzen Kameraden zu verweisen.“ Maß 2006, S. 64.
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ten Tod vor; er nahm Gift, um sein den Deutschen gegebenes Versprechen, auch in der Not zu ihnen zu halten, nicht brechen zu müssen.“34
So dient der hier skizzierte selbstgewählte Tod Kahigis dazu, Deutschland gegenüber England als bessere Kolonialmacht darzustellen. Gleichzeitig ermöglicht er, Kahigi selbst zum ‚Helden‘ zu stilisieren, jedoch bleibt durch den Verweis auf seine ‚dienende‘ Position das hierarchische Kolonialverhältnis unangetastet. Zusammengenommen verdeutlichen diese Aufführungen, dass die Präsentation des ‚weißen‘ ‚heldenhaften‘ Soldaten, ob als Märtyrer oder siegreicher Lebender, für die Jugendgruppen zentral war. Er stand als Symbol für eine heroische Kolonialvergangenheit. Die Konstruktion seiner Überlegenheit erfolgte dadurch, dass kolonisierte Akteure entweder als letztlich besiegte Angreifer oder als loyale Mitkämpfer inszeniert wurden. Nicht allein durch die Identifikation mit dieser ‚weißen‘ ‚heldenhaften‘ soldatischen Männlichkeit, sondern auch mittels der Markierung rassifizierter Differenz durch Blackfacing konnten sich die Jugendlichen ihrer vermeintlichen Überlegenheit versichern. Über die lokalen Aktivitäten der Jugendgruppen hinaus nahmen Mythenerzählungen auch während der kolonialen Jugendtagungen, die seit 1926 zweijährlich stattfanden, einen wichtigen Platz ein. Dort verliehen die Mitglieder der Jugendgruppen ihren kolonialistischen Überzeugungen in größerem Rahmen Ausdruck. Unterstützung erhielten sie von führenden Männern der Kolonialbewegung, vielfach mit militärischer Biografie, die ihnen nunmehr in der direkten Begegnung eine Identifikationsmöglichkeit boten. Im Jahr 1930 hielt General Rochus Schmidt, der an der Seite von Carl Peters und Hermann von Wissmann in Deutsch-Ostafrika gekämpft und gearbeitet hatte, als „älteste[r] der noch lebenden ‚alten Afrikaner‘“ in Naumburg die zentrale Rede.35 Aufgrund „eigener Erfahrungen“ aus den ersten Jahren der deutschen Kolonialzeit sah genau er sich gegenüber den Teilnehmenden dazu berufen, „bewußt oder unbewußt wahrheitswidrige[…] Behauptungen“ über die Kolonialvergangenheit zu widerlegen. 36 So akzentuierte er in seiner Rückschau auf rund 30 Jahre deutsche Kolonialzeit den rechtmäßigen Erwerb der ehemaligen Kolonien und die Schutzbedürftigkeit eines Großteils der kolonisierten Bevölkerung als die ersten beiden mythischen Erzählungen:
34 Aus der Bewegung, in: Jambo, Beilage DKJ, 5. Jg., 1928, Nr. 9, S. 257. Diese Aufführung fand während des zweiten Stiftungsfests des Kolonialen Jugendbundes GroßHamburg statt. 35 Eduard Moritz: Die Naumburger Tagung Pfingsten 1930, in: Jambo, Beilage DKJ, 7. Jg., 1930, Nr. 6/7, S. 21-25, S. 24. 36 Ebd.
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„Ich muß bezeugen, daß eben dieses Kolonialreich nicht durch Gewalt und Raub, nicht durch Täuschung, Betrug und Ausbeutung an uns gekommen ist, […] sondern durch freiwillig, in beiderseitigem Interesse mit den rechtmäßigen Besitzern des Landes geschlossene Verträge. Freilich, wo Holz gehackt wird, fallen Späne, und auch nach – ich betone nach – Erwerbung der Kolonialbesitzungen mussten Späne fliegen. Es wurden Aufstände niedergeschlagen und – übrigens von unserer Seite reichlich spät – militärische Kraft entfaltet, aber – wohl gemerkt – nicht zur Beeinträchtigung, Unterdrückung und Ausnützung der friedfertigen Bevölkerung des Landes, sondern nur zum Schutze eben dieser sich nach Frieden sehnenden, farbigen Menschen.“37
Schmidt versucht hier mit dem Verweis auf ‚geschlossene Verträge‘ die Anfänge der deutschen Kolonialzeit auf eine legitime Grundlage zu stellen. Zudem bagatellisiert er die deutsche Kriegsführung und kann, indem er die kolonisierte Bevölkerung in einen ‚aufständischen‘ und ‚friedfertigen‘ Teil spaltet, die deutschen Kolonialisten zu Beschützern letztgenannter erklären. Damit schafft er die Basis für einen dritten Mythos – Deutschlands führende Rolle bei der Abschaffung des Sklavenhandels: „Sie erbaten von uns diesen Schutz gegen räuberische, meist bestialisch grausame Nachbarn und gegen Sklavenjäger und Sklavenhändler. Die Folge war die Beseitigung des Sklavereiunwesens. Im Kampf gegen die Sklaverei stand Deutschland an erster Stelle, nicht mit heuchlerischen Worten, sondern mit der Tat und dem Blut und Leben seiner Söhne.“38
Indem Schmidt seinen Fokus auf die Bedrohung durch ‚Sklavenjäger und Sklavenhändler‘ richtet und die deutschen Soldaten gar als Opfer darstellt, kann er gänzlich von den Gewalttaten und Morden durch deutsche Kolonisatoren ablenken und schließlich den Bogen zu seiner vierten Legende, dem bereits erwähnten Mythos der (anhaltenden) Treue der kolonisierten Bevölkerung spannen: „Den Eingeborenen wurde bei allen ihren vielen und häufigen Nöten und bei Katastrophen von unserer Seite wirksame Hilfe geleistet. Ihr Dank und ihr Vertrauen war unser Lohn. Daher gingen auch die Farbigen zusammen mit Lettow-Vorbeck und seiner tapferen deutschen Schar. Und heutigen Tages noch erhoffen allenthalben die Eingeborenen unsere Wiederkehr. Wir Kolonialen kämpfen für koloniale Wiedergutmachung.“39
Auf der Grundlage seiner präsentierten ‚Erfolgsgeschichte‘ bekräftigte Schmidt die Unrechtmäßigkeit des deutschen Kolonialverlusts und umso mehr die Bedeutsam37 Ebd. 38 Ebd. 39 Ebd.
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keit des Kolonialengagements der jugendlichen Tagungsteilnehmer/innen. Militärisch geprägte Mythen mit den hier skizzierten unterschiedlichen Akzentuierungen bildeten für die kolonialen Jugendgruppen einen wichtigen, wenn nicht sogar den wichtigsten Bezugspunkt, jedoch erschöpften sich ihre Identifikationsmöglichkeiten darin nicht. Das mehrfach aufgeführte Bühnenstück Unvergessene, ferne Heimat! thematisiert die fiktive Geschichte der Siedlerfamilie Neuland. Diese wird am Ende des Ersten Weltkriegs aus Deutsch-Ostafrika ausgewiesen, kehrt nach Deutschland zurück, führt dort einen beschwerlichen Alltag und erhält schließlich nach einigen Jahren die Möglichkeit, wieder nach Ostafrika einzureisen.40 Im Unterschied zu den bereits untersuchten Inszenierungen liegt ausschließlich für dieses Bühnenstück ein Manuskript vor, auf dem die folgende Analyse basiert. 41 Im Zentrum des Stücks steht die Konstruktion (zukünftiger) männlicher Siedleridentität auf ihrem Weg in die ehemalige Kolonie. Für die Handlung sind Konflikte zwischen der ‚kolonialdeutschen‘ Familie Neuland und der Berliner Familie Bumke zentral. Die Neulands sind Hans, nunmehr tätig als Büroangestellter, seine Ehefrau Marie und die beiden Kinder Grete und Fritz. Die Bumkes bestehen aus dem Hauswirt und Lebensmittelhändler Wilhelm, seiner Ehefrau und Sohn August, zugleich Mitschüler von Fritz. Die Neulands schildern ihre Erfahrungen in der Kolonie in romantisierender und heroisierender Weise. Während sie für die ‚Kultivierung‘ und ‚Zivilisierung‘ des kolonialen Territoriums und seiner Bevölkerung verantwortlich gewesen seien, hätten die ‚Schutztruppen‘ für die militärische ‚Verteidigung‘ gesorgt. Ihre Lebensverhältnisse in Deutschland nehmen sie dagegen als beengt wahr. Sie fühlen sich in ihrer Existenz bedroht und von den Bumkes in ihrer Zugehörigkeit zum ‚weißen nationalen Kollektiv‘ infrage gestellt.
40 Vgl. Heinz Lewark: Unvergessene, ferne Heimat!, Berlin 1926. Lewark hat das Bühnenstück als Studienrat an der Fontane-Realschule in Charlottenburg verfasst. Es wurde 1926 unter „reichstem Beifall“ von der kolonialen Jugendgruppe der Schule uraufgeführt. Aus der Bewegung, in: Jambo, 3. Jg., 1926, Nr. 3, S. 85f. Auch andere Städte, z.B. Weimar (vgl. Jambo, 3. Jg., 1926, Nr. 12, S. 354), Zwickau (vgl. Jambo, Beilage DKJ, 5. Jg., 1928, Nr. 12, S. 348) und Lützen (vgl. Jambo, Beilage DKJ, 6. Jg., 1929, Nr. 1, S. 4) berichteten über erfolgreiche Aufführungen. Der Koloniale Jugendbund Halle a.S. schrieb dazu Folgendes: „Der lebhafte Beifall nach Schluß eines jeden der drei Aufzüge bewies zur Genüge, welchen Anklang dieses koloniale Spiel fand, zumal hier die jungen Leutchen ihre Sache ganz famos gemacht haben. Ein jeder Mitwirkende wußte sich geschickt in die Sachlage hineinzufinden.“ Aus der Bewegung, in: Jambo, 3. Jg., 1926, Nr. 11, S. 311. 41 Für eine ausführlichere Analyse des Bühnenstücks vgl. Heyn 2008, S. 275-292.
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Exemplarisch zeigt sich dieser Konflikt zwischen den beiden jugendlichen Protagonisten Fritz und August, dem stereotype Sichtweisen auf ‚schwarze‘ Personen zugrunde liegen. Auf Augusts Frage, ob „einer der in Afrika geboren ist, eigentlich ein halber Neger sei“, verteidigt sich Fritz umgehend mit einer Ohrfeige.42 Es kommt zur Prügelei, aus der August als weinender Verlierer hervorgeht. Im späteren Gespräch mahnt die Mutter Fritz zur Vernunft. Dieser antwortet entrüstet, dass er sich solche Aussagen nicht gefallen lassen könne und bezeichnet August als „Kaffer“.43 Der Gebrauch dieser rassifizierenden Termini zeigt neben den gegenseitigen Diffamierungsabsichten, wie instabil Fritz seine ‚weiße‘ Identität empfindet. Seine körperliche Abwehr kann zum einen als individuell erfolgreiche Bestätigung der idealtypischen Konzeption des Kolonialjungen gelesen werden, zu der eine verlässliche körperliche Konstitution gehört. Zum anderen verdeutlicht sie, dass Fritz damit jedweden potenziellen Transformationsprozess hin zum kulturell ‚Anderen‘ von sich weist. Er knüpft sein ‚Deutschsein‘ an sein ‚Weißsein‘, d.h. an eine als „[…] gesellschaftlich akzeptierte Zugehörigkeit zu einem privilegierten Kollektiv, welches sich auf der Basis biologistischer bzw. ‚rassischer‘ Kriterien gründet“.44 Sein ‚Weißsein‘ muss sich zudem über einen kulturellen Identifikationsprozess herstellen, wie der Vater Fritz erklärt: „Aber wenn Du einmal mit Schwarzen umgehen willst, musst Du vor allem lernen, Dich zu beherrschen! […] Ja, mein Junge. Selbstzucht zu üben, ist schwer. […] Versuche einmal, bei Deinem jungen Gegner August die böse Gesinnung durch Freundlichkeit und Selbstbeherrschung zu überwinden, dann bist Du ein Junge, wie ich ihn mir wünsche!“45
Diese Belehrung zeigt, dass Selbstdisziplin der Aufrechterhaltung einer rassifizierten Ordnung dienen sollte, um sowohl kulturelle Grenzüberschreitungen zu verhindern als auch die eigene Machtposition gegenüber ‚schwarzen‘ Menschen abzusichern. Diesen für die Rolle eines zukünftigen Kolonisten erforderlichen kulturellen Wertekanon, der ihm bis dato noch fehlt, verkörpert Fritz bis zum Ende des Stücks. Gleichzeitig entwickelt sich August, ausgelöst durch einen in Afrika angesiedelten Traum, in dem er von einem ‚schwarzen‘ Menschen Hilfe erhielt, zu einem enga42 Lewark 1926, S. 7. 43 Ebd. In Kolonialdebatten des Kaiserreichs zur Aufrechterhaltung ‚weißer deutscher Kultur‘ in den Überseegebieten sollte mit dem Begriff des ‚Verkafferns‘ der „[…] drohende[…] Verlust einer Weißen Identität markiert werden. Dieser Verlust drückte sich in den Augen der Kritiker/innen sowohl in einer ‚kulturell verwahrlosten‘ Lebensführung als auch in sexuellen Beziehungen der Kolonisten mit afrikanischen Frauen aus.“ Walgenbach 2005a, S. 193. 44 Dies. 2005b, S. 378. 45 Lewark 1926, S. 13.
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gierten und lernbegierigen Kolonialjungen, der durch seinen Eintritt in die koloniale Jugendgruppe die Attraktivität des ‚Kolonialen‘ untermauert. Der letzte Teil des Stücks richtet sich auf die nach Ostafrika weisende Zukunftsperspektive für Familie Neuland. Gegenüber Tochter Grete beklagt der Vater sein Scheitern als Familienernährer, betont aber zugleich seine ungenutzten Potenziale: „Du hast gut reden, Kind. Du tust Deine Pflicht – und was sollten wir ohne Deine Beihilfe anfangen? (lacht bitter) Aber ich – ein kräftiger Mann, und unfähig, zu Eurem Unterhalt beizutragen! – Ich bin hier auch nicht recht am Platze. Mir fehlt mein Wirkungskreis; da könnte ich zeigen, was ich leisten kann! Zum Büromenschen tauge ich nun einmal nicht.“46
Die Kolonialerfahrungen der Familie haben zu Verschiebungen in den Sichtweisen auf ‚Heimat‘ und damit auf ‚Vertrautes‘ und ‚Fremdes‘ geführt. Deutschland hat seine Relevanz als Lebensmittelpunkt verloren, die Familie nimmt sich dort als nicht zugehörig, als ‚fremd‘ wahr. Ihre ‚binnendeutsche‘ Identität als vormals vertraute ist durch eine ‚kolonialdeutsche‘ Identität erweitert bzw. überlagert worden, in der nun die körperlichen Anstrengungen für die Bewirtschaftung von Land im Vordergrund stehen. Es ist zu vermuten, dass der fehlende ‚Wirkungskreis‘ auch ‚schwarze‘ Menschen einschließt, die es im Auftrag ‚deutscher Kulturmission‘ zu ‚erziehen‘ gilt. ‚Deutschtum‘ bleibt in der kolonialen Identität von Hans Neuland zwar als Bezugsgröße bestehen, es kann sich jedoch nur auf kolonialem Territorium entfalten. Schließlich übermittelt der ehemalige Nachbar Max Kämpfer die Nachricht von der Wiedereinreiseoption für Deutsche nach ehemals Deutsch-Ostafrika und hält zugleich um die Hand von Tochter Grete an, sodass dem Vater nur noch zu verkünden bleibt: „Und hinaus soll’s wieder gehen nach Afrika! Wir zwei Familien wollen zurück in jenes Land, an dem wir mit jeder Faser unseres Herzens hängen. – Wieder arbeiten dürfen und dem Deutschtum dienen! Welch’ eine schöne Aufgabe für einen alten Pflanzer!“47 Diese Szene fasst die propagandistische Absicht des Stückes pointiert zusammen: Zur Entfaltung des ‚Deutschtums‘ steht das ehemalige Kolonialgebiet für die Angehörigen der alten und insbesondere der jungen Generation bereit, die sich dort als Ehepaar oder Familienmitglieder wieder in den Dienst der ‚deutschen Nation‘ stellen können. An der Seite eines jedes ‚weißen‘ deutschen Kolonialisten soll eine ‚weiße‘ „kulturelle, wirtschaftliche und politische Partnerin“ agieren,48 um so ‚deutsche Kultur‘ zu etablieren und rassifizierende Grenzziehungen zu garantieren. Tochter Grete hat sich im Verlauf des Stücks bereits als fähig 46 Ebd., S. 26. 47 Ebd., S. 30. 48 Wildenthal 2003, S. 206.
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erwiesen, diesen Auftrag als zukünftige Ehefrau in der Kolonie zu erfüllen. Hingegen scheint die Identität von Fritz, der zunächst seine Schulzeit in Deutschland beenden soll, noch nicht ausreichend gefestigt zu sein, um schon als Jugendlicher in Übersee als ‚deutscher Kulturträger‘ fungieren zu können. Das Stück endet damit, dass die beiden erwachsenen Männer – in Anlehnung an die Vorstellung über die alten ‚Kolonialpioniere‘ als ‚Entdecker‘ und ‚Eroberer‘ – die Aufgabe übernehmen, die Lage im Kolonialgebiet zu sondieren, um den restlichen Familienmitgliedern und vor allem der Jugend ihren zukünftigen Weg zu ebnen. Der Bezug auf ‚schwarze‘ Menschen ist im Stück auf stereotype Sichtweisen reduziert, durch die die hierarchische Machtverteilung unangetastet bleibt: Die ‚weißen‘ Charaktere weisen den ‚schwarzen‘ Personen die Rolle von ‚treuen Dienern‘ und ‚willigen Helfern‘ zu. Im Unterschied zu den kolonialen Schul- und Jugendgruppen hatten die Kolonialpfadfinder als Teil der bündischen Jugend nicht nur koloniale Vorbilder. Sie rekurrierten auch auf jugendbewegte Mythenerzählungen, deren Grundlage ebenfalls Kriegshandlungen waren. Vor dem Hintergrund des kolonialen Ursprungs der im Kaiserreich erfolgten Gründung der deutschen Pfadfinderbewegung betrachteten sie z.B. Maximilian Bayer als Vorbild. Dieser hatte am Kolonialkrieg in Deutsch-Südwestafrika teilgenommen, war Mitbegründer des im Januar 1911 in Berlin entstandenen Deutschen Pfadfinderbundes und leitete diesen bis zu seinem Tod im Jahr 1917.49 Die Kolonialpfadfinder charakterisierten ihn als „Offizier von hoher Befähigung und edealer [sic] Denkart“ 50 und beabsichtigten in seinem Geist zu wirken.51 Gleichermaßen rankten sie eine mythische Erzählung um Hermann von Wissmann. Anlässlich seines Todestages am 15. Juni 1905 bezeichnete ihn ein Kolonialpfadfinder im Kolonialspäher als „Deutschlands größte[n] Afrikaner“ und stellte ihn als erfolgreichen Forschungsreisenden, Militärangehörigen und Gouverneur von Deutsch-Ostafrika dar, dessen Arbeit nach der Bekämpfung des „Araberaufstandes“ zu „Aufbau[…] und Fortschritt[…]“ geführt habe.52 Diese Männer wie auch die „alten Kolonialpioniere“ insgesamt galten ihnen als Vorbilder und als Mahnung zugleich, die deutsche Kolonisationstätigkeit fortzuführen und somit Deutschland wieder in den Status einer europäischen Großmacht zu versetzen.53
49 Zum kolonialen Ursprung der Pfadfinderbewegung vgl. Bowersox 2007, S. 240-245. 50 O.V.: Kolonialbund Deutscher Pfadfinder, Berlin o.J., S. 3. 51 O.V.: Maximilian Bayer, in: Kolonialspäher, 1. Jg., 1928, Nr. 4, S. 30-31. 52 Karl Bauer: Hermann von Wißmann, in: Kolonialspäher, 3. Jg., 1930, Nr. 7/8, S. 105106. 53 Aus der Bewegung, in: Jambo, Beilage DKJ, 6. Jg., 1929, Nr. 3, S. 12. Sie betrachteten die „Kolonialpioniere“ als Männer, die sich ihren „Weg in eiserner Energie und mit festen Vorsätzen bahnen mussten.“ Ebd.
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Darüber hinaus erklärten die Kolonialpfadfinder im Kolonialspäher, allerdings erst 1932, die Mythen zweier Kriegsschauplätze des Ersten Weltkrieges – das belgische Langemarck und das ostafrikanische Tanga – als handlungsleitend für die von ihnen geforderte (koloniale) Kampfbereitschaft. Wie bereits bezüglich der Kämpfe unter von Lettow-Vorbeck herausgearbeitet, ist auch Langemarck ein Beispiel dafür, „militärische Niederlagen in moralische Siege umzudeuten.“ 54 Dort kamen im November 1914 überwiegend schlecht ausgebildete Kriegsfreiwillige, darunter viele Studenten und Wandervögel, in einer verlustreichen Schlacht ums Leben. Daraus entwickelte sich in den 1920er Jahren, so Arndt Weinrich, der „populärste Schlachtenmythos“ in Deutschland, der sich vor allem in der bündischen Jugend und in studentischen Gruppen zum „Kernbestand ihrer bildungsbürgerlichen Identitätspflege“ entfaltete.55 Auf die drei Elemente Jugend, Opfer und ‚Nation‘, die der Mythos Uwe Ketelsen zufolge ausschließlich vereinte,56 bezogen sich auch die Kolonialpfadfinder, indem sie die Kriegsbegeisterung junger Soldaten wie folgt erklärten: „Es war, daß ihr Leben plötzlich einen heiligen Zweck erhalten hatte, der sie hoch hinaushob über sie selbst und ihren kleinen Daseinskreis, der sie weihte zu der höchsten Ehre, deren ein Mann für sein Volk, dessen winziger Teil er ist, je habhaft werden kann, und daß sie diesen Zweck ihres Lebens erfüllen konnten in einer einfachen und einzigen Tat: sich einzureihen als unsichtbares Glied in die graue Kette der Männer, die den rettenden Wall bildeten vor der Sturmflut, die das deutsche Volk vernichten wollte. In Langemarck offenbarte sich hoch und rein jene Kraft des Herzen und Willens, die das Grauen des Krieges überwindet und das Opfer des Lebens nicht als Zwang, sondern als höchstes Glück empfindet […].“57
Die hier artikulierte bedingungslose Opferbereitschaft für die ‚deutsche Nation‘ bzw. das ‚deutsche Volk‘ zu Beginn des Ersten Weltkrieges galt den Kolonialpfadfindern als „ernste Mahnung“ für die eigenen kolonialrevisionistischen Aktivitäten.58 Tanga hingegen führten sie weniger als Symbol der Opferbereitschaft, sondern als Symbol für das „kriegerische“ und „kolonisatorische[…] Genie“ der Deutschen ein.59 In der Küstenstadt, die während der Kolonialzeit Ausgangspunkt der 54 Hüppauf 1993, S. 47. 55 Weinrich 2013, S. 54f. Zu Langemarck vgl. auch Krumeich 2001, S. 292-309. 56 Ketelsen 1985, S. 75 und S. 79. Er weist zudem darauf hin, dass das Langemarck-Motiv „keinerlei eigene produktive Dynamik“ entfaltete, sondern „ausschließlich repetitiv“ gewesen sei. Ebd., S. 79. 57 Erich Duems: Langemarck – Tanga, in: Kreuz und Lilie, 2. Jg., 1932, Nr. 9/10, S. 4-6, S. 4, Herv. i. Org. 58 Ebd., S. 5, Herv. i. Org. 59 Ebd., S. 6, Herv. i. Org. Zudem bewerteten sie Tanga als Symbol für einen der „höchsten Triumphe deutscher Mannestat“. Ebd., S. 5, Herv. i. Org.
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Eisenbahn zum Kilimandscharo gewesen war, konnte das deutsche Militär an der Seite von Lettow-Vorbecks ebenfalls im November 1914 einen Landungsversuch der Briten verhindern.60 Bei diesem Erfolg habe er sich, so die Kolonialpfadfinder, auf die Loyalität afrikanischer Soldaten verlassen können. Daraus leiteten erstere schließlich eine weitere Aufforderung ab: „Und wie von dem flandrischen Schlachtfeld her dringt auch von Tanga eine Mahnung an uns, an die deutsche Jugend: überall, wo deutscher Fleiß Früchte trug und deutsche Liebe die Dinge des Lebens umhegt, überall wo deutsches Blut floß um den Bodens willens, ist deutsches Land.“61
Mit diesen beiden Mythenerzählungen erklärten die Kolonialpfadfinder einerseits das ‚deutsche Volk‘ zur zentralen Kategorie ihres politischen Handelns.62 Sie beriefen sich andererseits auf das Konstrukt des durch Blut und geschaffene Werte markierten Territoriums, um den Anspruch auf die ehemaligen Kolonien zu rechtfertigen. Allerdings erschöpfte er sich nicht in dieser Argumentation. Zukunftsweisende Raumforderungen In ihrer Forderung nach Rückgabe der ehemaligen Kolonien übernahmen die Jugendgruppierungen zentrale Argumentationen der Kolonialbewegung: 63 das Anrecht auf Kolonien und die Notwendigkeit von Kolonialbesitz. Diesen Argumentationen lag Christian Rogowski zufolge ein „doppelt empfundene[r] Prestige- und Statusverlust“ zugrunde, weder politisch Weltmacht zu sein noch symbolisch zur
60 Vgl. Michels 2009, S. 128. 61 Erich Duems: Langemarck – Tanga, in: Kreuz und Lilie, 2. Jg., 1932, Nr. 9/10, S. 4-6, S. 6, Herv. i. Org. 62 Dieser Aspekt wird in Abschnitt 3.2 wieder aufgegriffen. Auch im Rahmen der in der Weimarer Republik erstarkenden „Volkstumsarbeit“ wurde Dirk van Laak zufolge diese Argumentation bedient: „Mit der Definition des Volkes als maßgeblicher Kategorie des Politischen konnten bestehende Staatsgrenzen in Frage gestellt und erneut Ansprüche formuliert werden.“ van Laak 2005, S. 117. 63 Auch der eigenständig organisierte Bund Deutscher Kolonialpfadfinder äußerte seine Angewiesenheit auf die DKG. Durch seine „autonome Leitung“ sei es für die „Führer[…] und Unterführer[…] […] eine besonders schwierige Aufgabe, […] daß sie den Kolonialgedanken unter ihren Jungmannen und den verwandten Bünden selbständig pflegen.“ Zur „kolonialen Ausbildung“ hätten sie daher an den „kolonialen Führerkursen“ der DKG teilgenommen. O.V.: Drei Jahre „Bund Deutscher Kolonialpfadfinder“, in: Mitteilungen der DKG, 43. Jg., 1931, Nr. 2, S. 16, Herv. i. Org.
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„Gruppe der westlichen ‚Kulturnationen‘“ zu gehören.64 Das Argument für Siedlungsraum entfaltete in der kolonialen Jugendbewegung die größte Wirksamkeit und wurde vor allem Ende der 1920er Jahre dominant. Allerdings räumten insbesondere die Kolonialpfadfinder den Kolonialgebieten nicht durchgängig Priorität gegenüber Territorien im Osten Europas ein. Die Artikulation eines Anrechts auf die ehemaligen Kolonien stand symbolisch für die Nichtanerkennung der Bedingungen des Versailler Vertrages. Im Rahmen von Kolonialfesten der Jugendgruppen wiesen Redner darauf hin, dass Deutschland die Kolonien zu „Unrecht“ abgesprochen worden waren, sprachen auch vom „Raub“ der Kolonien.65 Dieser Logik folgend forderten die drei kolonialen Jugendgruppierungen während der vierten Jugendtagung 1932 in Ballenstedt die „Führer[…] der heutigen Generation“ dazu auf, die durch „Verrat und Lüge entrissenen deutschen Lande“ zurückzugewinnen.66 Anlass dieser ‚Unrechts‘-Deutung war die im Versailler Vertrag festgeschriebene Erklärung, Deutschland sei zur Kolonisation nicht fähig gewesen.67 Deren Widerlegung unter dem Schlagwort der ‚Kolonialschuldlüge‘ wurde zum wichtigen Bestandteil kolonialrevisionistischer Propaganda, auf die sich einige Jugendgruppen explizit bezogen: „Alle sind deutsche Jungens, die gewillt sind, ihre ganze Kraft einzusetzen, um die koloniale Schuldlüge der Gegner zu vernichten.“68 Das koloniale Anspruchsdenken lässt sich nicht allein als Reaktion auf die Bedingungen des Versailler Vertrages verstehen, sondern speiste sich auch aus einem nationalistischen Überlegenheitsdenken, wie eine Entschließung der Führer der Kolonialjugend von 1931 offenlegt: „[D]ie Erwägung, daß wir Deutsche als das größte Kulturvolk Europas in erster Linie dazu berufen sind, an den kulturellen Erschließungen Afrikas mitzuarbeiten, […] [gibt, S.H.] uns das Recht zu fordern: ‚Wir wollen unsere Kolonien wiederhaben!‘“69 Diese Artikulation eines weltpolitischen Mitspracherechts auf der Grundlage beanspruchter kulturmissionarischer Befähigung fand sich neben Betrachtungen, die Deutschlands deprivilegierte Position gegenüber England und Frankreich fokussierten. So empörte sich einer der wenigen jugendlichen Autoren im Jambo über die ihm versagten kolonialen Erfahrungsmöglichkeiten:
64 Rogowski 2003, S. 246. 65 Aus der Bewegung, in: Jambo, Beilage DKJ, 5. Jg., 1928, Nr. 12, S. 348; Nachrichten über die Gruppen, in: Jambo, Beilage DKJ, 6. Jg., 1929, Nr. 1, S. 4. 66 O.V.: Wir fordern!, in: Kreuz und Lilie, 2. Jg., 1932, Nr. 5/6, S. 5, Herv. i. Org. 67 Vgl. ausführlicher u.a. Michels 2009, S. 121-125. 68 Aus der Bewegung, in: Jambo, Beilage DKJ, 6. Jg., 1929, Nr. 4, S. 18. 69 O.V.: Die Forderung der deutschen Kolonialjugend, in: Übersee- und Kolonialzeitung, 43. Jg., 1931, Nr. 7, S. 160.
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„[…] [W]ir sind verurteilt dazu, daheim zu bleiben, nichts sehen zu dürfen von den Schönheiten, die es dort gibt! […] Und erst die Erfahrungen, die jene Jungen so frühzeitig bei ihrem Aufenthalt übersee [sic] sammeln! Woher ihr Nationalstolz und ihr Selbstbewusstsein? Weil sie sich in Übersee bilden und ihren Horizont erweitern können. Und Du, deutscher Junge, mußt im Lande bleiben, aufwachsen ohne die Kenntnis und Erfahrung, welche das Leben Dir da draußen einprägt. Du wirst durch den Vertrag von Versailles absichtlich klein gehalten und darfst nur von den Kolonien lesen. Deutsche Jungen, wollt ihr denn das immer ertragen?“70
Ohne weiter auf die Art der Bildung und Horizonterweiterung in Übersee einzugehen, stellt der junge Autor hier eine Verbindung zwischen kolonial-räumlichen Erfahrungen und national- und selbstbewusster Identitätsbildung her, die ihm selbst verwehrt bleibt. Demnach reklamierten Mitglieder der kolonialen Jugendbewegung für sich Entwicklungsmöglichkeiten in über die Staatsgrenzen hinausweisenden (kolonialen) Räumen. Das formulierte Anrecht auf die Kolonien richtete sich also auf das Wiederherstellen nationalen ‚Ehrgefühls‘ und internationaler Großmachtstellung. Um zugleich die Notwendigkeit deutscher Kolonialterritorien in der Diskussion mit anderen Heranwachsenden zu begründen, präsentierte der Kolonialspäher den Kolonialpfadfindern als „notwendige[s] geistige[s] Rüstzeug“ fünf Gründe: Kolonien seien als Rohstofflieferanten, Absatzmärkte und Siedlungsräume relevant, ferner auch als Flottenstützpunkte und für die Weiterentwicklung der Wissenschaft.71 Wenngleich diese fünf Argumente gleichbedeutend nebeneinander standen, zeigte sich in den Pub70 O.V.: Warum „Jambo“?, in: Jambo, Beilage DKJ, 7. Jg., 1930, Nr. 12, S. 46-47, S. 47. 71 Die fünf Argumente begründete er wie folgt: Rohstoffe seien für Deutschland als Industriestaat notwendig, müssten aber nunmehr aus Übersee gekauft werden. Wirtschaftliche Bedeutsamkeit habe auch die Warenausfuhr, die durch „hohe Zollmauern“ erschwert sei. Kolonien als Siedlungsgebiete würden verhindern, dass diejenigen, die aufgrund der Enge in Deutschland „irgendwo in der Welt eine neue Heimat“ suchten, „anderen Völkern als Kulturdünger“ dienten bzw. dass „wertvolles deutsches Blut“ verloren gehe. Darüber hinaus benötige Deutschland eigene Flottenstützpunkte, damit die nach dem Weltkrieg wieder fahrenden „neue[n], stolze[n] Schiffe, die Zeugnis ablegen, daß sich deutscher Unternehmensgeist nicht bezwingen läßt“, auf ihren Wegen nicht auf „fremde Hilfe“ angewiesen seien. Schließlich habe die Wissenschaft „ausgezeichnete Leistungen, namentlich auf tropenmedizinischem Gebiete“ erbracht, die Ärzte aufgrund schwieriger Einreisebedingungen in die ehemaligen deutschen Kolonien nur erschwert weiterführen könnten. Simba-Dessau: Deutschland braucht heute Kolonien!, in: Kolonialspäher, 4. Jg., 1931, Nr. 9/10, S. 103-104. Die ersten drei Argumente wurden auch in einem früheren Beitrag angeführt. Vgl. Fritz Noblé: Brauchen wir Kolonien?, in: Kolonialspäher, 2. Jg., 1929, Nr. 3, S. 44-46. Bereits im 19. Jahrhundert waren sie für die Kolonialpropaganda zentral. Vgl. Nöhre 1998, S. 93.
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likationen der kolonialen Jugendbewegung vor allem in den letzten Jahren der Weimarer Republik eine starke Tendenz zur Priorisierung der Forderung von (Siedlungs-)Raum. Worauf lässt sich dies zurückführen? Zum einen kann die Priorisierung als Abbild der sich verschiebenden Forderungen in der Kolonialbewegung gedeutet werden. Wie Joachim Nöhre herausgearbeitet hat, gewann das Siedlungsargument in der Presse der DKG gegenüber anderen Argumenten seit Ende der 1920er Jahre vermehrt an Bedeutung. Als Grund vermutet er die wachsende Bedeutsamkeit ‚völkischer‘ Gruppierungen, vor allem der Nationalsozialisten.72 Zum anderen kam die Forderung nach Siedlungsraum aus der jungen Generation nachweislich vom Bund Deutscher Kolonialpfadfinder. Im Unterschied zur Kolonialbewegung, deren Abgrenzung gegenüber der ‚Ostraumfrage‘ mit dem zunehmenden politischen Erstarken der NSDAP tendenziell nachließ,73 schlossen die Kolonialpfadfinder diese von Beginn ihres Bestehens in ihre Argumentation ein und setzten damit eigene Akzente im Kolonialdiskurs. Schließlich zeichnete sich im Verlauf der Weimarer Republik – u.a. nach der Konferenz von Locarno 1925 und den Verhandlungen zum Young-Plan 1929 – der Rückerhalt der ehemaligen deutschen Kolonien als immer unwahrscheinlicher ab,74 was die Forderung nach Siedlungsraum vermutlich ebenfalls begünstigte. „Gebt uns Raum, gebt uns unsere Kolonien wieder!“, hieß es 1928 im Grußwort der Erstausgabe des Kolonialspähers.75 „Deutschen Raum für deutsche Jugend!“, verkündete ein Leiter zum dreijährigen Bestehen der Jugendgruppe. 76 Appelle dieser Art entwickelten sich zum festen rhetorischen Bestandteil der kolonialen Jugendbewegung und zeigen die metaphorische Bedeutung des Raumes auf, wie sie der Kommunikationswissenschaftler Werner Köster beschreibt. Der Raum fungiere mitunter weniger als „konkrete geographische Realität, sondern […] als imaginäre Entfaltungsmöglichkeit für die Wünsche eines ebenso imaginären Subjektes, genannt ‚Volk‘“.77 Dies zeigte sich auch an der Auffassung der Kolonialpfadfinder, welche die Forderung nach Raum als „entscheidend […] für Deutschlands Zukunft“ betrachteten und „Kolonialarbeit [definierten als, S.H.] etwas Umfassendes, die Frage der Gewinnung und Besiedlung von Raum, die Lösung des Problems ‚Volk ohne Raum‘“.78 Sie rekurrierten damit auf Hans Grimms 1926 erschienenen, 72 Vgl. ebd., S. 102. 73 Vgl. ebd., S. 104-107. 74 Vgl. dazu ausführlicher Abschnitt 1.2. 75 Ernst Klingelhage: Zum Gruß, in: Kolonialspäher, 1. Jg., 1928, Nr. 1, S. 2. 76 Aus der Bewegung, in: Jambo, Beilage DKJ, 6. Jg., 1929, Nr. 9, S. 37. 77 Köster 2002, S. 12. 78 Erhard Pörschmann: Auf neuem Weg, in: Land vor uns, 1. Jg., 1931, Nr. 1, S. 2-6, S. 5f. An anderer Stelle hieß es, die Kolonialpfadfinder wollten sich auf die „neue koloniale Zukunft“ Deutschlands vorbereiten und zu gegebener Zeit „in freudiger Bereitschaft ans
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gleichnamigen Roman, der mit seinem Fokus auf Süd- und Südwestafrika zwar ein koloniales Setting hatte, das Schlagwort entwickelte sich aber schnell zum Allgemeinplatz für eine „territoriale Revisions- und Revanchepolitik der Zwischenkriegszeit“.79 Ihre Forderung nach Siedlungsraum versuchten die Kolonialpfadfinder durch Krisendeutungen, die im Konstrukt der ‚Raumnot‘ ihren Ausgangspunkt hatten, zu legitimieren.80 Sie sprachen vor allem von „Überbevölkerung“, die für sie das „Hauptübel der sozialen und wirtschaftlichen Not“ Deutschlands darstellte. 81 Dabei handelte es sich Susanne Heim zufolge um einen „‚Passepartout-Begriff‘, mit dem vermeintliche oder tatsächliche Mißstände benannt werden, die sich jeweils auch anders definieren ließen“.82 Gleichzeitig griffen sie das Konstrukt der ‚Unterbevölkerung‘ auf. Während ein Kolonialpfadfinder in deutschen Kolonialgebieten eine Aufnahmemöglichkeit für den Bevölkerungszuwachs sah,83 wies ein anderer auf einen Geburtenrückgang zwischen 1900 und 1928 hin,84 der wiederum durch neue Siedlungsräume abgeschwächt werden könne.85 Mit diesen Vorstellungen zur Bevölkerung bewegten sich die Kolonialpfadfinder mitten im bevölkerungstheoretischen Diskurs der Weimarer Republik, der, wie Christiane Reinecke skizziert, zwischen eben diesen „konkurrierenden Szenarien eines ‚Zuviel‘ oder ‚Zuwenig‘ an Bevölkerung“ oszillierte.86 Während ersteres vor allem auf „soziale und wirtschaftliche Probleme rekurrierte, verbanden sich mit dem Verweis auf die sinkende Geburtenrate, die als Indiz eines in Zukunft zu erwartenden Rückgangs der Bevölkerungszahl insgesamt gedeutet wurde, eher nationalistische Befürchtungen.“ 87 Beide Werk gehen, neu zu schaffen und im Geiste der alten deutschen Kulturpioniere zu wirken.“ Aus der Bewegung, in: Jambo, Beilage DKJ, 6. Jg., 1929, Nr. 3, S. 12. 79 van Laak 2005, S. 120. 80 Auf der im Jahr 1928 veranstalteten zweiten kolonialen Jugendtagung in Coburg verwies der Präsident der DKG in seiner Festrede auf das „zu eng gewordene[…] Vaterland“. O.V.: Die zweite Reichstagung der Deutschen Kolonialjugend in Coburg, in: Jambo, 5. Jg., 1928, Nr. 6, o.S. 81 Ernst Klingelhage: Zum Gruß, in: Kolonialspäher, 1. Jg., 1928, Nr. 1, S. 2. 82 Heim/Schaz 1996, S. 10. Zudem argumentieren sie: „Letztlich läßt sich jede politische oder ökonomische Krise in ein Bevölkerungsproblem umdefinieren.“ Ebd. 83 Vgl. Simba-Dessau: Afrikanische Kolonien und die deutsche Ostfrage, in: Kolonialspäher, 3. Jg., 1930, Nr. 10, S. 152. 84 Vgl. Christian Vasterling: Afrikanische Kolonien und die Ostfrage, in: Kolonialspäher, 3. Jg., 1930, Nr. 12, S. 197-198, S. 198. 85 Vgl. o.V.: Ostsiedlung und Kolonialsiedlung, in: Kolonialspäher, 4. Jg., 1931, Nr. 3/4, S. 54-58, S. 58. 86 Reinecke 2005, S. 210. 87 Ebd., S. 213.
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dienten, wie Reinecke zudem konstatiert, der „Legitimation politischer Maßnahmen unterschiedlicher Art“ und als „gesellschaftspolitische Schlagworte“.88 Die Umdeutung (vermeintlicher) gesellschaftlicher Missstände in ein Bevölkerungsproblem wurde zudem mit Rassekonstruktionen verbunden, um Raumforderungen zu legitimieren. Raum und ‚Rasse‘ beeinflussten sich für die Kolonialpfadfinder gegenseitig. Mit Bezug auf Don Mitchell lässt sich dieses Verhältnis wie folgt beschreiben: „Race, like gender und sexuality, is a geographical project. Race is constructed in and through space, just as space is often constructed through race. As a geographical project the coproduction of race and space is never uncontested […].“89 Dieses Umkämpftsein offenbarte sich auch in den Vorstellungen der Kolonialpfadfinder, die zugleich zukünftige Generationen im Blick hatten: „[W]ir wollen kolonisieren, um den nachfolgenden Generationen Platz zu machen, daß sie als echte Deutsche leben können, und deutsche Kultur reinhalten und verbreiten können. Unsere Hauptnot ist der Platzmangel, weil der nordische Mensch, und besonders der Deutsche Platz braucht, um sich voll zu entfalten.“90
Die hier konstatierte gegenseitige Bedingtheit von (ausreichend) physischem Raum und der kulturellen Entwicklung des ‚nordischen Menschen‘ lässt sich im Umkehrschluss als Bedrohung für die ‚Reinhaltung deutscher Kultur‘ betrachten, die es für die Kolonialpfadfinder abzuwenden galt. Damit waren dieser Rassekonstruktion auch Aspekte von ‚Kulturerhalt‘ und ferner von ‚Kulturmission‘ eingeschrieben. Diese Vorstellungen durchzogen den Raumdiskurs der Kolonialpfadfinder, der sich aber nicht allein auf die Rückgabe der deutschen Kolonien, sondern auch auf die der deutschen Grenzgebiete im Osten Europas richtete und von kolonialrassistischen und antislawischen Argumentationen geprägt war. 91 Mit ihrer Bezugnahme auf den Osten Europas griffen die Kolonialpfadfinder zugleich einen Diskurs auf, den die radikale Rechte bereits vor dem Ersten Weltkrieg propagiert hatte. 92 88 Ebd., S. 210. 89 Mitchell 2000, S. 230, zit. nach Pott 2007, S. 32. Pott erweitert die drei genannten Identitätskategorien durch Ethnizität und nationale Identität. 90 Christian Vasterling: Afrikanische Kolonien und die Ostfrage, in: Kolonialspäher, 3. Jg., 1930, Nr. 12, S. 197-198, S. 198. 91 Darüber hinaus plädierten manche Kolonialpfadfinder für eine innerstaatliche Ostsiedlung. Vgl. Erhard Pörschmann: Wir brauchen Raum, in: Land vor uns, 1. Jg., 1931, Nr. 2, S. 19-22, S. 20f. Zur Forderung der Rückgabe von östlichen Grenz- und Überseegebieten vgl. auch Erich Duems: Unter dem Zeichen von Kreuz und Lilie, in: Kreuz und Lilie, 2. Jg., 1932, Nr. 5/6, S. 3-4, S. 3. 92 Vgl. Bley 2003, S. 56-70. Er weist darauf hin, dass die Pläne zur „Neuordnung des osteuropäischen Raums“ im Ersten Weltkrieg ihren Höhepunkt fanden und verbunden waren
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In der Siedlungsfrage räumten die Kolonialpfadfinder den Überseeterritorien in der Regel Priorität ein und begründeten dies mit unterschiedlichen Akzentuierungen. Im Jahr 1928 verglich der Bundesführer Ernst Klingelhage den „Siedlungsraum“ in Kolonien, wo „bereits wertvolle kulturelle Vorarbeit geleistet worden“ sei, mit der „Siedlungsmöglichkeit“ im Osten, die nur im „zähen Kampf“ und in „ferner Zeit“ erreicht werden könne.93 Diese Gegenüberstellung des vermeintlich verfügbaren kolonialen und noch zu erkämpfenden osteuropäischen Raums griffen die Kolonialpfadfinder zu einem späteren Zeitpunkt wieder auf. Während es sich bei einer territorialen Expansion im Osten Europas um eine Machtfrage handele, die sich ausschließlich durch Krieg lösen ließe, sei die Forderung von Kolonialgebieten eine Rechtsfrage,94 die, ein „wirklich[es]“ Wollen vorausgesetzt, „ohne Blutvergießen“ umsetzbar wäre.95 Sie stellten der „Überbevölkerung Europas“ mit 46,5 Menschen pro Quadratkilometer den „gewaltige[n] europäische[n] Reserveraum Afrika“ mit 4,8 Menschen pro Quadratkilometer gegenüber 96 und betrachteten somit den afrikanischen Kontinent als erweitertes Europa. Ein weiteres Mal verknüpften sie Raum und ‚Rasse‘ miteinander, indem sie bemerkten, der „deutsche Typus“ verändere sich in europäischen Ostgebieten durch „die unvermeidbare Vermischung des deutschen mit dem slawischen Element“, während er sich „in kolonialen Räumen bei der strengen Abschließung vor dem Eingeborenen-Element in seiner Eigenart rein bewahren [könne, S.H].“97 Diesen Argumentationen wurde in den Publikationen der Kolonialpfadfinder nicht widersprochen, dennoch gab es Mitglieder, die die Siedlungsfrage auf den Osten Europas fokussiert wissen wollten. Mit Verweis auf das nach Osten weisende Baltenkreuz des Ritterordens, welches das Selbstverständnis der Kolonialpfadfinder prägte und ihnen als Bundesschild diente, artikulierte ein Kolonialpfadfinder, warum Auswanderer nicht „in den deutschen Osten geleitet“ würden, warum das für die afrikanischen Kolonien benötigte Geld nicht Bauern und Siedler im Osten erhielten, warum nicht der Osten dem deutschen „Volkstum erhalten“ bleiben könmit der „Metapher des Kampfes zwischen Germanen und Slawen, die auf eine aggressiv rassistische Dimension des Konzeptes von Großmacht verwies.“ Ebd., S. 59f. 93 Ernst Klingelhage: Ostmark und unsere Aufgabe, in: Kolonialspäher, 1. Jg., 1928, Nr. 5, S. 43-44, S. 43, Herv. i. Org. 94 Vgl. Rudi Hartlieb: Kampf um kolonialen Lebensraum, in: Kreuz und Lilie, 3. Jg., 1933, Nr. 5, S. 16-18, S. 17. 95 O.V.: Ostsiedlung und Kolonialsiedlung, in: Kreuz und Lilie, 1. Jg., 1931, Nr. 3/4, S. 54-58, S. 58, Herv. i. Org. Dieser Vergleich sollte auch dazu beitragen, die antikolonialen Positionen der NSDAP zu entkräften. Vgl. ebd., S. 54. 96 O.V.: Das deutsche Raumproblem, in: Kreuz und Lilie, 1. Jg., 1931, Nr. 3/4, S. 52-54, S. 53. 97 Ebd.
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ne.98 Erst wenn es dort keine Siedlungskapazitäten mehr gebe, solle Siedlung in Afrika erfolgen. Um diesen Forderungen Geltung zu verleihen, entwarf er ein auf wirtschaftliche Aspekte rekurrierendes, antislawisches Bedrohungsszenario: „Blühende Provinzen hat uns das Slawentum, der Pole entrissen. Die Slawen drängen westwärts. Der deutsche Bauer und Siedler dort an der Grenze wandert aus, wandert in die Städte. Und warum? Weil ihn die Not der Landwirtschaft dazu zwingt. Er hält es nicht mehr aus, er verhungert auf dem Boden, der seiner Väter Schweiß trank.“99
Bezugnehmend auf den Artikel mahnte ein anderer Kolonialpfadfinder, diese viel diskutierte Frage nicht als Entweder-oder-Thematik zu behandeln. Ausgehend davon, dass sich Überseegebiete zur Siedlung nicht eigneten, sei es „aus machtpolitischen Gründen erstrebenswert […], möglichst alle Deutschen in einem großen starken Reich im Herzen Europas zusammenzufassen. Dies ist nur möglich, wenn für die zunehmende Bevölkerung immer wieder neuer Lebensraum geschaffen wird, und dieser liegt ewig nur im Osten.“100
Trotz seiner Priorisierung deutscher Siedlungsbestrebungen im europäischen Osten, die zugleich nationalsozialistischen Forderungen ähnelte, betonte der Kolonialpfadfinder die Bedeutung von Kolonialbesitz als Rohstofflieferant und Absatzmarkt. Daher forderte er, osteuropäische Gebiete und Überseeterritorien nicht als konkurrierende, sondern als sich ergänzende Räume mit unterschiedlicher Funktion, aber gleichbedeutender Relevanz zu betrachten.101 Die zunehmende Aufmerksamkeit für die Forderung nach Raum lässt sich auch daran erkennen, dass aus den jüngeren Kreisen der DKG 1930 in Berlin die Jungko98
Fritz Berg: Afrikanische Kolonien und die deutsche Ostfrage, in: Kolonialspäher, 3. Jg., 1930, Nr. 9, S. 135.
99
Ebd.
100 Simba-Dessau: Afrikanische Kolonien und die deutsche Ostfrage, in: Kolonialspäher, 3. Jg., 1930, Nr. 10, S. 152, Herv. i. Org. Die Nichteignung von Kolonien als Siedlungsgebiete begründete er so: „[K]oloniale Erwerbungen [würden, S.H.] in Gegenden gemacht, deren Klima eine Besiedlung größeren Umfangs nicht zuläßt.“ Dem widersprach ein anderer Kolonialpfadfinder mit dem Argument, dass sich Südwestafrika, das „jährlich Tausende von Auswanderern“ aufnehme, Ostafrika in „seinen hochgelegenen Gegenden“ und auch Kamerun als Siedlungsgebiete erwiesen hätten. Christian Vasterling: Afrikanische Kolonien und die Ostfrage, in: Kolonialspäher, 3. Jg., 1930, Nr. 12, S. 197-198, S. 198. 101 Dieses und ähnliche Argumente vertraten zunehmend ab 1930 auch Mitglieder der DKG. Vgl. Nöhre 1998, S. 107f.
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loniale Arbeitsgemeinschaft für deutsche Raumpolitik entstand. Sie beschäftigte sich überwiegend mit Raumfragen, erstellte ein eigenes Raumprogramm und veranstaltete regelmäßige Vortragsabende, um, wie es hieß, gemeinsam mit den „geistigen Bewegungen und Tatgemeinschaften der jungen Generation“, also u.a. der bündischen Jugend, der Parteijugend und der Studierendenschaft über „die raumpolitische Idee“ zu diskutieren. 102 Vornehmliches Ziel der Gruppe war es, die Nationalsozialisten für koloniale Ziele zu gewinnen.103 Im Hinblick auf die Propagandatätigkeit der kolonialen Jugendbewegung lässt sich abschließend festhalten, dass sie sich einerseits an der fantasiegeprägten Heroisierung der kolonialen Vergangenheit beteiligte, andererseits Forderungen nach territorialer Expansion stellte. In den von Schul- und Jugendgruppen inszenierten Bühnenstücken nahm die Präsentation ‚weißer‘ soldatischer Männlichkeit zentrale Bedeutung ein. Diese stand auch bei den Kolonialpfadfindern im Vordergrund. Allerdings orientierten sie sich nicht allein an kolonialen Vorbildern mit militärischer Biografie. Sie setzten ebenso jugendbewegte Akzente, indem sie sich auf den in der bündischen Jugend zentralen Mythos der Schlacht von Langemarck bezogen, der die nationale Opferbereitschaft Jugendlicher und junger Männer im Ersten Weltkrieg symbolisierte. Dennoch erschöpften sich die Identifikationsmöglichkeiten der Heranwachsenden nicht im Soldatischen. Die Inszenierung kolonialer Siedleridentität basierte auf einem romantisierten Lebensentwurf in der Kolonie, der ausgerichtet auf ein bürgerlich-konservatives Geschlechtermodell auch Mädchen den entsprechenden Platz zuwies. ‚Schwarze‘ Personen kamen in all diesen Konstruktionen ausschließlich in der besiegten, dienenden oder helfenden Rolle vor, sodass Vorstellungen kolonialer Hierarchien unangetastet blieben. Dadurch konnten ‚weiße‘ Jugendliche eine Position vermeintlicher Überlegenheit verinnerlichen. Heroisierung und Romantisierung der kolonialen Vergangenheit dienten der Kolonialjugend zugleich dazu, die Forderung nach Rückgabe der Kolonien zu legitimieren und so den Blick in die Zukunft zu richten. Damit verknüpften sie vor allem das Argument für Siedlungsraum, das spätestens Ende der 1920er Jahre durch den Einfluss der Kolonialpfadfinder in der kolonialen Jugendbewegung zentrale Bedeutung erlangte. Inwieweit diese Entwicklung ihre Inszenierungen ‚heldenhafter‘ Kolonialleistungen sukzessive verringerte, lässt sich nicht eindeutig beantworten. Offensichtlich ist allerdings, dass die Forderung nach Siedlungsraum in der kolonialen Jugendbewegung nunmehr dauerhaft präsent war. Wie sich anhand der Publikationen der Kolonialpfadfinder ermitteln ließ, ging damit nicht zuletzt die Vorstellung von Erhalt und Entfaltung des als überlegen angenommenen ‚Deutschtums‘ einher. Ein Teil der Kolonialpfadfinder setzte sich nicht nur für die Siedlung 102 BArch, R 8023/400, Bl. 21, Jungkoloniale Arbeitsgemeinschaft für deutsche Raumpolitik. 103 Siehe auch Abschnitt 2.2.
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in Überseegebieten, sondern auch in deutschen Grenzgebieten im Osten Europas ein. Er markierte damit eine eigene Position in der kolonialen Jugendbewegung, die für nationalsozialistische Vorstellungen anschlussfähig war. Die Kolonialpfadfinder blieben der alten Kolonialgeneration verbunden, aber sie relativierten den Kolonialrevisionismus. Mit ihrem Blick auf den Osten Europas trugen sie zu einer Bedeutungsverschiebung hin zu einer geografischen Enträumlichung des ‚Kolonialen‘ bei. Sie entwarfen eigene politische Visionen und ein bündisches Selbstbild, an dem sich die anderen kolonialen Jugendgruppierungen zunehmend orientierten.
3.2 POLITISCHE VISIONEN UND SOZIALISATION FÜR EINE KOLONIALE ZUKUNFT: DIE KOLONIALPFADFINDER In ihren Publikationen schufen die seit 1926 agierenden Kolonialpfadfinder einen kollektiven Selbstentwurf, mit dem sie sich in einem kolonialrevisionistischen Kontext positionierten. Als Teil der bündischen Jugend verbanden sie ihr kolonialpropagandistisches Engagement von Beginn an mit einer spezifischen Vergemeinschaftungsform: dem bündischen Leben bzw. dem Bund. So betrachteten sie die Forderung nach Rückgabe der ehemaligen deutschen Kolonien, in der sich ihr Großmachtstreben ausdrückte, weder losgelöst von der Überwindung der Weimarer Demokratie noch von ihren eigenen (politischen) Sozialisationsansichten. Vor diesem Hintergrund beleuchtet der Abschnitt zunächst die politischen Visionen der Kolonialpfadfinder. Im zweiten Schritt werden ihre damit verbundenen Sozialisationsvorstellungen und -praktiken analysiert. Zum Schluss wird herausgearbeitet, wie Kolonialpfadfinder und koloniale Jugendgruppen als Teil ihrer Sozialisationsbestrebungen temporäre Räume in der Natur schufen, um koloniale Imaginationen anzuregen. Die Kolonialpfadfinder hatten sich 1928 aufgrund eines Disputs in der Leitungsfrage in den Kolonialbund Deutscher Pfadfinder und den Bund Deutscher Kolonialpfadfinder aufgespalten, fusionierten aber Ende 1931 erneut zum Deutschen Kolonial-Pfadfinderbund. Unterschiedliche politische Ideen entwickelten sie während dieser Trennung nicht, weshalb sie im Folgenden zusammen betrachtet werden. Die Analyse basiert maßgeblich auf den Publikationen der Kolonialpfadfinder, in denen vor allem die in der Regel 17- bis 25-jährigen Führungspersonen zu Wort
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kamen. Die kollektive Selbstkonstruktion speiste sich somit aus den Vorstellungen älterer Jugendlicher und vor allem junger Erwachsener. 104 Antidemokratische politische Visionen: ‚Volksgemeinschaft‘ – ‚neues Reich‘ – ‚neuer Mensch‘ „Wenn ein Volk in Not ist, muss es nach Wegen suchen, wie aus dieser Not herauszukommen ist. Eine gesunde Jugend muß bei diesem Streben in erster Linie stehen. Denn sie hat die Last letztlich zu tragen – oder kann frei von ihr ihr Leben gestalten.“105 Mit dieser Aufforderung, Verantwortung für die (eigene) Zukunft zu übernehmen und sich am gesellschaftspolitischen Leben zu beteiligen, richtete sich Erhard Pörschmann, Bundesführer des Kolonialbundes Deutscher Pfadfinder, 1931 an alle Mitglieder. Zwar gehörte der Aspekt der ‚Not des Volkes‘, der zumeist unspezifisch auf die wirtschaftlichen und sozialen Umstände gerichtet war, bereits vorher zum semantischen Repertoire der Kolonialpfadfinder, dennoch fällt Pörschmanns Appell in eine Zeit, in der sich auch für die junge Generation des bürgerlichen Milieus die Lebensbedingungen massiv verschlechterten. Von hoher Arbeitslosigkeit im Zuge der Weltwirtschaftskrise waren am stärksten die 21- bis unter 25-jährigen betroffen, die die existenzielle Not nun konkret erlebten.106 Eine Lösung dieser Probleme sahen die Kolonialpfadfinder allerdings nicht in Veränderungen innerhalb des Weimarer Staates, sondern vielmehr in dessen Überwindung. Demzufolge richtete sich ihr politisches Ziel auf gesellschaftliche Erneuerung durch das Schaffen von ‚Volksgemeinschaft‘, ‚neuem Reich‘ und ‚neuem Menschen‘. Für die Kolonialpfadfinder waren Erster Weltkrieg und Versailler Vertrag zentrale Referenzpunkte für ihre ‚völkisch‘-nationalistischen Positionierungen und daraus abgeleiteten Handlungsabsichten. Sie bezeichneten ihn als „Schmachfrieden“, der in Deutschland zu wirtschaftlicher Not und „schwere[n] Sklavenjahre[n]“ geführt habe.107 Als Ursachen nannten sie die „Tributlasten“, vor allem aber den „Landraub, insbesondere de[n] Kolonialraub“, wie sie die Gebietsabtretungen in den Grenzterritorien Deutschlands und in Übersee bezeichneten.108 Ihnen – der jun-
104 Die Mitglieder der beiden Bünde waren in drei Altersgruppen unterteilt: die 10- bis 15jährigen, die 16- bis 18-jährigen und die bis 25-jährigen. Für sie galten in der pfadfinderischen Praxis unterschiedliche Anforderungen. 105 Erhard Pörschmann: Wir brauchen Raum! Unser kolonial-politisches Wollen, in: Land vor uns, 1. Jg., 1931, Nr. 2, S. 19-22, S. 19. 106 Vgl. u.a. Reulecke 1989, S. 91. 107 O.V.: Flamme Empor, in: Kolonialspäher, 2. Jg., 1929, Nr. 6, S. 82. 108 O.V.: Kolonialpfadfinder – ihre Ziele und ihr Wollen, in: Übersee- und Kolonialzeitung, 43. Jg., 1931, S. 160, Herv. i. Org.
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gen Generation – sei dadurch „Lebens- und Arbeitsraum“ genommen worden.109 Die Kolonialpfadfinder entwarfen ein Szenario des Eingeengtseins und wollten sich demnach zu „Kämpfer[n] des Rechts und der Freiheit“ entwickeln.110 Den Begriff der Freiheit belegte ein Autor mit einer Doppelfunktion, die expansive Großmachtbestrebungen und die Umsetzung eines ‚völkischen‘ Menschenbildes beinhaltete: „Wenn wir für die Freiheit des deutschen Menschen eintreten, für seine Freiheit nach außen von den Fesseln, die uns die Gewalt der Feinde auferlegte, für seine Freiheit vor allem auch in seiner räumlichen Entfaltung, für seine Freiheit nach innen, um einzig den Gesetzen leben zu können, die ihm sein Idealbild deutschen Menschen- und Volkstums vorschreibt, – so treiben wir keine Politik, aber wir säen die Saat, aus der der politische Mensch unseres Ideals heranreifen wird.“111
Dass der Kolonialpfadfinder ‚das Politische‘ hier in die Zukunft verlagerte, erklärt sich vor allem dadurch, dass er darunter die „Verwirklichung eines Idealbildes völkischer Gemeinschaft“ verstand.112 Die damit verbundene „aktive Politik“, sei eine „Kunst, die weites Wissen und praktische Erfahrung in ihren Methoden voraussetz[e]“, sie sei daher „nicht Sache des Jungentums, sondern des Mannestums.“ 113 Als Vorbereitung darauf sollte das Leben im Bund dienen. Die Weimarer Demokratie und Parteipolitik114 erhofften sie durch das Schaffen einer ‚Volksgemeinschaft‘ und eines ‚deutschen Reiches‘ zu überwinden: „Wir Kolonialpfadfinder wollen aus der Kraft unseres Volkstums eigenwüchsige Menschen werden, sehnen unter Überwindung der äußeren Gegensätze eine wahrhafte Volksgemein109 Ebd., Herv. i. Org. 110 O.V.: Die Jungenschaft im Bunde, in: Kolonialspäher, 2. Jg., 1929 Nr. 7/8, S. 110-112, S. 111, Herv. i. Org. 111 O.V.: Treiben wir Politik?, in: Kreuz und Lilie, 1. Jg., 1931, Nr. 1, S. 9, Herv. i. Org. 112 Ebd., Herv. i. Org. 113 Ebd., Herv. i. Org. Hinsichtlich seines Verständnisses von ‚aktiver Politik‘ erklärte er zudem, die „geistige[…] Gemeinschaft“ des Bundes sei etwas anderes als „dieses Idealbild aufzustellen, im eigenen Kreise ihm nachzuleben, etwas anderes, [als, S.H.] für seine Verwirklichung im großen Ganzen der Nation in die politische Kampfarena zu steigen und im Widerstreit mit den politischen Gegnern oder als Bundesgenosse politisch Gleichgesinnter die Daseinsformen nationalen Lebens so umzugestalten, daß es Ausdruck und Träger unseres Ideals wird.“ Ebd., Herv. i. Org. 114 Ihre Ablehnung von Parteipolitik zeigte sich u.a. in der folgenden Aussage: Politische Arbeit sei „die verantwortungsbewusste Mitarbeit am Wohl des Volksganzen, nicht die Mitarbeit in einer bestimmten Partei.“ O.V.: Staat und Bund, in: Kolonialspäher, 3. Jg., 1930, Nr. 3/4, S. 38-39, S. 38.
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schaft aller Deutschen herbei und wollen ein deutsches Reich als Grundlage und Gestalt unseres deutschen Schaffens aufbauen helfen.“115
Ihre Bezugnahme auf die Idee der ‚Volksgemeinschaft‘ war durchaus nichts Ungewöhnliches, gehörte sie doch, wie Forschungen der letzten Jahre gezeigt haben, zum gängigen Repertoire der Parteien von rechts bis links. 116 Hans-Ulrich Thamer erklärte sie gar zur „beherrschenden politischen Deutungsformel“ während der Weimarer Republik.117 Für die bündische Jugend fungierte der Begriff ‚Volksgemeinschaft‘ als zukünftiges Gesellschaftsmodell, den sie ebenso wie die Parteien verschieden interpretierte. Wolfgang Krabbe konstatiert: „Die gemäßigten verbanden damit eine Utopie, in der die Klassengesellschaft aufgehoben ist. Die völkischen Bünde hingegen verschoben den Begriff auf die semantische Ebene des Biologisch-Ethnischen. Sie sahen in der Wiederherstellung der Rassereinheit, vor allem in dem Ausschluss der Juden, die Voraussetzung, eine Volksgemeinschaft entstehen zu lassen.“ 118
Allerdings ist diese stark vereinfachende Gegenüberstellung so nicht haltbar, denn auch ‚völkische‘ Bünde orientierten sich an ‚Klassenharmonie‘. Die Kolonialpfadfinder beriefen sich auf beide Deutungen. Mit ihrer Forderung nach ‚Überwindung der äußeren Gegensätze‘ sprachen sie Inklusionsverheißungen an. Gleichzeitig bedienten sie sich biologistisch-kulturalistischer Termini: Der ‚Volksgemeinschaft‘ liege „nicht ein äußerer Zwang, sondern ein freiwilliges Band bluts- und sprachverwandter Menschen“ zugrunde.119 Antisemitische Äußerungen fanden sich bei den Kolonialpfadfindern zwar weniger, allerdings erklärte ein Mitglied, dass sich ihre Einstellung zur „Rassenhygiene“ mit der der „Hitlerbewegung“ decke. 120 Das ‚neue Reich‘ imaginierten sie als „größeres Deutschland […], welches Raum für alle hat, welches jedem Volksgenossen Arbeit und Brot gibt, welches stark und einig,
115 Hans Dittges: Nationalismus und geistige Haltung, in: Land vor uns, 1. Jg., 1931, Nr. 3, S. 41-42, S. 41. Bereits einige Jahre zuvor erklärte Erhard Pörschmann, zu der Zeit Mitglied im Jugendbund Leipzig, die „Volksgemeinschaft“ zum „Endziel und Streben aller Bünde“. Aus der Bewegung, in: Jambo, 3. Jg., 1926, Nr. 12, S. 354. 116 Vgl. u.a. Wildt 2009, S. 24-40. 117 Thamer 1998, S. 367, zit. nach Wildt 2011, S. 2. 118 Krabbe 2010, S. 22. Zu den verschiedenen Auslegungen des Begriffs ‚Volksgemeinschaft‘ in einzelnen Bünden vgl. auch Treziak 1986, S. 25-28. 119 O.V.: Staat und Bund, in: Kolonialspäher, 3. Jg., 1930, Nr. 3/4, S. 38-39, S. 39. 120 Willy Schmitz: Kolonialpfadfinder und Nationalsozialismus, in: Kolonialspäher, 4. Jg., 1931, Nr. 1, S. 10-13, S. 11.
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frei und würdig dasteht.“121 Daraus lässt sich ableiten, dass sie dem Weimarer Staat das jeweils korrespondierende Gegenteil zuschrieben. Ihre Vorstellungen von ‚Volksgemeinschaft‘ und ‚Reich‘ verbanden die Kolonialpfadfinder auf der individuellen Ebene mit dem Idealbild des ‚neuen Menschen‘. Auch diese rhetorische Figur beschäftigte in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg rechte wie linke Strömungen, vor allem „intellektuelle[…], kulturelle[…] und politische[…] Eliten“, die daran vielfältige „Utopien, Leitbilder und Reformkonzepte“ knüpften.122 Im rechten Spektrum fanden sich vor allem Deutungen, die den „[n]euen Menschen als Reinkarnation einer glorifizierten Vergangenheit wieder erstehen lassen wollten.“123 Dies lässt sich auch bei den Kolonialpfadfindern erkennen, allerdings entwickelten sie keine ausdifferenzierte Vorstellung vom ‚neuen Menschen‘. Sie konstatierten lediglich, er solle „[f]rei von jeder undeutschen, wesensfremden Art“ sein, als Ideal galt ihnen hierfür eine „Siegfriedgestalt“. 124 Sie strebten danach, dass sich aus dem „lebhaften, lachenden Buben in seinem Jungenland“ der „starke, führende deutsche Mann“ entwickele. 125 Offensichtlich ist demnach, dass sich hinter dem ‚neuen Menschen‘ ein ausschließlich männliches Ideal verbarg. Eine Analogie dazu findet sich in der Analyse von Christina Benninghaus zum Verhältnis von Generationalität und Männlichkeit um 1930. Sie schlussfolgert, dass dieser Generationendiskurs eine „hierarchische Geschlechterordnung“ implizierte.126 Männer galten zum einen als „Repräsentanten des Allgemeinmenschlichen“, eine Strategie, die auch die Kolonialpfadfinder nutzten.127 Zum anderen gingen die zeitgenössischen Autoren laut Benninghaus von einer „bipolaren Geschlechterordnung“ aus: „Indem Generation als Kollektivsubjekt mit männlichen Eigenschaften wie Zukunftsorientierung, Tatendrang und innerem Antrieb ausgestattet wird, fungierte sie als Gegenpol zur zeitgenössisch weiblich konnotierten ‚Masse‘.“128 Auch die Kolonialpfadfinder rekurrierten auf den Begriff der Masse, verwendeten diesen aber vordergründig zur Konstruktion einer elitären Männlichkeit, die sie weniger in Relation zu Weiblichkeit, sondern zu anderen Formen von Männlichkeit bzw. männlicher Jugendlichkeit setzten. „Uns kommt es nicht auf Massen an – wir zählen nicht die Menschen – wir werten den Einzelnen“, gab ein Kolonialpfadfinder
121 Gustav Müller: Wir marschieren, in: Land vor uns, 1. Jg., 1931, Nr. 1, S. 7. 122 Könczöl et al. 2006, S. VII. 123 Ebd., S. VIII. 124 Gustav Müller: Wir marschieren, in: Land vor uns, 1. Jg., 1931, Nr. 1, S. 7. 125 Erhard Pörschmann: Auf neuem Weg, in: Land vor uns, 1. Jg., 1931, Nr. 1, S. 2-6, S. 5. 126 Benninghaus 2005, S. 149. 127 Ebd. 128 Ebd., S. 150.
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an.129 Sie beabsichtigten „Einzelpersönlichkeiten zu schaffen, die in ihrer Art – im Beruf und in der Lebensform – bahnbrechende Pioniere eines neuen kulturellen und nationalpolitischen Lebens werden.“130 Die Kolonialpfadfinder grenzten sich ab von einer marschierenden Masse, „die sich nur zeigen will.“131 Es ist davon auszugehen, dass sie sich damit auf Aufmärsche von Nationalsozialisten und Kommunisten bezogen, die seit 1930 vermehrt stattfanden.132 Mit ihren politischen Visionen zielten die Kolonialpfadfinder auf eine antidemokratische und männerzentrierte Erneuerung von Gesellschaft und rekurrierten auf die Idealfigur des nationalistisch eingestellten ‚Freiheitskämpfers‘. Sie betrachteten die Sozialisation in einer bündischen Gemeinschaft als grundlegend für die Umsetzung dieser Visionen und für die Vorbereitung auf die geforderte koloniale Zukunft. Beides verstanden sie als notwendigen Dienst an der ‚Nation‘. Die Bedeutung und Gestaltung dieses Gemeinschaftslebens, das die Vermittlung und Aneignung pfadfinderischer Techniken sowie körperliche und ethische Disziplinierung beinhaltete, untersucht der nächste Abschnitt. Sozialisierung im Dienst der ‚Nation‘ Die Sozialisationsvorstellungen der Kolonialpfadfinder waren eng mit ihrer Deutung gesellschaftlicher Entwicklungen der Weimarer Republik verbunden und zeigten sich in kulturpessimistischen Äußerungen. Ihrer Ansicht nach gab es eine „um sich greifende Verflachung, Ichsucht und […] damit verbundenen Materialismus“.133 Dafür machten sie diejenigen verantwortlich, die „Betäubung […] such[t]en im Wirbel des Großstadtlebens, was von so vielen, ach so vielen Menschen, jungen Menschen, für Freude gehalten wird. Bleiben es nicht ewig suchende, ewig ringende Menschen, die mit ihrer letzten Kraft nach dem Becher des Genusses greifen, um 129 Gustav Müller: Klarschiff, in: Land vor uns, 1. Jg., 1931, Nr. 3, S. 36. An anderer Stelle hieß es, dass Jungen, die sich „Mannesehre und Selbstbewusstsein“ angeeignet hätten, nicht in „der Masse untertauchen“ würden. Willy Schmitz: Lagerwache, in: Kolonialspäher, 1. Jg., 1928, Nr. 4, S. 33. 130 O.V.: Die Jungenschaft im Bunde, in: Kolonialspäher, 2. Jg., 1929 Nr. 7/8, S. 110-112, S. 110. 131 kaba: Gaulager, in: Kreuz und Lilie, 2. Jg., 1932, Nr. 9/10, S. 18-19, S. 18. 132 Vgl. dazu Reichardt 2007, S. 377-402, der sich insbesondere mit dem Verhältnis von kommunistischer und nationalsozialistischer Gewalt beschäftigt. 133 AdJb, A2-163/1, Bundeslosung des Bundes Deutscher Kolonialpfadfinder 1929. Ein anderer Kolonialpfadfinder sprach von „Kulturzersetzung“ durch „brutale[n] Wirtschaftsegoismus“ und „Massenvergötzung“. Hans Dittges: Nationalismus und geistige Haltung, in: Land vor uns, 1. Jg., 1931, Nr. 3, S. 41-42, S. 41.
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später ernüchtert und erschüttert feststellen zu müssen, daß alles nur Schein, alles nur Lug und Trug gewesen ist?“134
Demnach konnten die Kolonialpfadfinder hinter großstädtischem Vergnügen nur Selbsttäuschung und als ihr Resultat Verantwortungslosigkeit gegenüber der ‚deutschen Nation‘ sehen. Mit solch einer Sichtweise wurde auch an die Mitglieder der anderen kolonialen Jugendgruppierungen appelliert. Ausgehend von der krisenhaft wahrgenommenen Gegenwart prangerte der Gau Norden der DKG-Kolonialjugend an: „Es ist unverständlich, daß bei der Riesennot unseres Volkes soviel Geld für Alkohol, Kino und Vergnügen ausgegeben wird. Der furchtbare Geburtenrückgang in den vergangenen Jahren, der sich besonders auf die besser gestellten Kreise erstreckt, die zunehmenden Geschlechtskrankheiten, die ganze Generationen vergiften und die unzähligen Ehe- und Familienzerrüttungen zeigen die größte Not.“135
Vor dem Hintergrund des hier prognostizierten demografischen Niedergangs sowie des gesellschaftlichen und familiären Werteverfalls forderte er die Jugendlichen auf, „dieser Not den schärfsten Kampf an[zu]sagen“.136 Diese mutmaßlichen Krisenszenarien wollten die Kolonialpfadfinder durch einen bündischen Selbsterziehungsprozess überwinden, der durch eine „bestimmte Lebens- und Geisteshaltung“ gekennzeichnet war.137 Gemeinschaftserlebnisse wie Heimabende, Fahrten und Zeltlager, die eine Abgrenzung zum alltäglichen Familien-, Schul- und Berufsleben darstellten, sollten diese Gesinnung fördern. Zentrales Sozialisationsmoment war die lokale Gruppe, in der monatlich mehrere Aktivitäten stattfanden. Seltener kamen die Gaue als überregionale Struktur zusammen. Der gesamte Bundeszusammenhang traf sich in der Regel einmal pro Jahr. Kennzeichen für bündisches Leben auf all diesen Ebenen waren „Bindung, Disziplin und Führung“, so Winfried Speitkamp.138 Auch die Kolonialpfadfinder forderten von jedem einzelnen Gehorsam: „Wir brauchen Unterordnung, gerade weil sie an und für sich keine Tugend der Jugend mehr ist. Sie ist eine Seltenheit geworden, und hier liegt die tiefste Ursache unserer Einflußlosigkeit
134 Heinz Rüsser: Frohe Fahrt, in: Land vor uns, 1. Jg., 1931, Nr. 1, S. 10-13, S. 12. 135 O.V.: Volksnot und Jugend, in: Kumbuke!, 3. Jg., 1930, Nr. 10, o.S., Herv. i. Org. 136 Ebd. 137 Raabe 1961, S. 57. 138 Speitkamp 1998, S. 184.
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und Machtlosigkeit. […] Unser Dasein hat heldische Hingabe und keiner ist nutz, der an sich denkt. Der Bund steht über uns wie eine Pflicht und ein Kampfruf: er heiligt unser Tun.“ 139
Diese Geisteshaltung verkörperte der Bund und galt dadurch als höchster Wert. Er funktionierte nicht nur bei den Kolonialpfadfindern, sondern in der bündischen Jugend insgesamt nach dem ‚Führer-Gefolgschaftsprinzip‘, wobei die Bundes-, Gauund Gruppenführer nicht gewählt, sondern auf der Basis von Charisma bestimmt wurden.140 Ihre prioritäre Aufgabe war es, das Zusammengehörigkeitsgefühl der eigenen Gruppe zu stärken, wie im Kolonialspäher angemahnt wurde: „Jeder Führer hat darauf streng zu achten, und ist der Bundesleitung dafür voll verantwortlich, daß die organische Entwicklung eines jeden Trupps im gesunden Verhältnis zu einer inhaltsvollen, rechtem Jungengeiste entsprossenen Gruppenarbeit steht. Wer versäumt, den seelischen Kontakt zu seinen Kameraden aufrecht zu erhalten, bezw. zu festigen, kann nicht einer der Unsrigen genannt werden.“141
Dieses exklusive Prinzip führte dazu, dass Führer immer wieder wechselten oder gesamte Gruppen aus dem Bund ausschieden, gleichzeitig konnten auch neue hinzukommen. Die Geisteshaltung der Kolonialpfadfinder basierte auf dem „Pfadfindergelöbnis“, als dessen zentrale Elemente sie „Treue zu Gott und dem Vaterlande, stete Hilfsbereitschaft und Gefolgschaft dem Führer“ nannten.142 Einhergehend mit diesem Bekenntnis zu Christentum und ‚Nation‘ konturierten sie ihre Deutung von ‚Deutschsein‘. Sie stellten das Nationale über das Persönliche und forderten die Bereitschaft zum Handeln: „Wer unter uns glaubt, heute, in dieser ernstesten Zeit, nur für sich leben zu können, sich amüsieren zu können, während wir ein Volk in Not, ein Volk in großer Not sind, der ist kein deutscher Junge. Wer heute glaubt, es komme nicht auf ihn an, er könne im alten Trott weiterleben, der ist kein ganzer Kerl. Halbheiten, Zaghaftigkeit, Schwäche und Schlappheit taugen nicht in solcher Zeit. Nur Du kannst zu uns gehören, der Du mit uns arbeiten und kämpfen
139 O.V.: Vom Bunde, in: Kolonialspäher, 2. Jg., 1929 Nr. 7, S. 102. Die Bedeutung des Bundes zeigte sich auch in der Aufforderung des Bundesführers, nämlich daran zu denken, „daß neben freiem und ungebundenem Leben das eine uns alle verbindet: die Gemeinschaft“. Ernst Klingelhage: An den Bund, in: Kolonialspäher, 2. Jg., 1929, Nr. 12, S. 189-190, S. 189, Herv. i. Org. 140 Vgl. Reulecke 2001b, S. 81. 141 Walter Gättke: Aus dem Bunde, in: Kolonialspäher, 3. Jg., 1930, Nr. 2, S. 32. 142 AdJb, A2-163/1, Bundeslosung des Bundes Deutscher Kolonialpfadfinder 1929.
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willst, der Du bereit bist, Deine kleinen persönlichen Belange zurückzustellen und in erster Linie ans große Ganze zu denken.“143
Der Aufnahme in den Bund ging persönliches Kennenlernen voraus, abgeschlossen wurde sie durch das feierlich gestaltete Gelöbnis „Treue zu Bund und Gesetz“.144 Vor dem Hintergrund dieses elitären Selbstverständnisses betrachteten sich die Kolonialpfadfinder innerhalb der kolonialen Jugendbewegung als wegweisend. Dafür nutzten sie sogar den Begriff des Kolonisierens, der für sie bedeutete, „neue Wege bei der Jugend zu bahnen, und bei ihr Neuland für unsere Ideen zu schaffen.“ 145 Diese Ansicht wurde von Erwachsenen durchaus geteilt, vor allem von Erich Duems, Generalsekretär der DKG und Verbindungsperson zum Bund Deutscher Kolonialpfadfinder. Die koloniale Jugendbewegung insgesamt könne von dem Bund „wertvolle Grundsätze der bündischen Organisation und nationalen wie ethischen Erziehung“ übernehmen, so Duems.146 In der Tat schien dies nicht ohne Wirkung zu bleiben, denn eine ehemalige Jugendgruppe erklärte die Transformation in einen Jugendbund so: „Endlich bestimmte uns zu der Umbildung der praktische Gedanke, uns für etwaige Arbeit in Übersee vorbereiten zu müssen, wie sie die Kolonialpioniere sonst erst draußen sich mühsam aneignen müssen. Aus diesen Erwägungen heraus schien uns die Pfadfinderei am zweckmäßigsten zu sein, um das zu leisten, was dem Kolonialoffizier Bayer vorschwebte: Koloniale Arbeit in der Heimat.“147
Die benannte ‚Koloniale Arbeit in der Heimat‘ umfasste einen praktischen, körperlichen und ethischen Sozialisationsprozess, den die Kolonialpfadfinder überwiegend in der Natur umsetzten. Das Erleben der Natur betrachteten sie als eine Mischung aus „Romantik, ernste[r] Arbeit und vaterländische[n] Pflichten“, 148 die einen Gegenentwurf zur städtischen, konsumorientierten Freizeitkultur darstellte. Für die praktische Pfadfinderei galt ihnen als Grundsatz, „mit wenigen Mitteln viel zu
143 Kolonialbund Deutscher Pfadfinder: Worte am Sonnenwendfeuer, in: Brücke zur Heimat, 30. Jg., 1930, Nr. 8, S. 123-124, S. 124, Herv. i. Org. 144 O.V.: Nach dem Gelöbnis, in: Kolonialspäher, 3. Jg., 1930, Nr. 1, S. 6-7, S. 6. 145 Gerhard: Koloniales Pfadfindertum (Aus einem Briefe), in: Kolonialspäher, 2. Jg., 1929, Nr. 6, S. 83-86, S. 85. 146 O.V.: Der Aufbau der kolonialen Jugendbewegung, in: Mitteilungen der DKG, 42. Jg., 1930, Nr. 1, o.S. 147 Aus der Bewegung, in: Jambo, Beilage DKJ, 6. Jg., 1929, Nr. 2, S. 9. 148 Kolonialbund Deutscher Pfadfinder: Wir Kolonialpfadfinder, in: Brücke zur Heimat, 27. Jg., 1927, Nr. 5, S. 79.
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schaffen, wie es die kolonialen Vorkämpfer unseres Volkes getan haben.“149 Orientiert an Bedürfnislosigkeit führten die Kolonialpfadfinder regelmäßig sogenannte Fahrten durch, die eine Form des Wanderns mit intensivem Kontakt zur Natur waren.150 Sie boten den Raum, um die zur Orientierung in der Natur dienenden pfadfinderischen Techniken, wie Spurenlesen, Sternenkunde, Geländekenntnis und Zeltaufbau, zu erproben und sich anzueignen. Gleichzeitig wollten die Kolonialpfadfinder während der Aufenthalte Körper und Geist stärken. Dies taten sie durch „körperliche Arbeit, […] Enthaltsamkeit und Entbehrung“,151 wozu u.a. der Verzicht auf Alkohol und Nikotin,152 aber auch das Trainieren verschiedener Sportarten gehörte. Doch die Aufenthalte in der Natur beschränkten sich nicht auf körperliche, geistige und ethische Disziplinierung, sie sollten die Mitglieder auch emotional bewegen. Eine Identifikation mit der regionalen Umgebung galt als ebenso bedeutsam153 wie die Liebe zur Natur im Allgemeinen, die ein Kolonialpfadfinder in einem Plädoyer für Naturschutz als notwendige Facette von ‚Deutschsein‘ bewertete: „Es ist eine alte Tatsache, dass ein jeder wahrhaft deutscher Junge eine große Vorliebe für die Natur und ihre Geschöpfe hat, sicher besteht zwischen Naturliebe und Deutschsein ein notwendiger Zusammenhang, derart, daß ohne Naturliebe kein Deutscher leben kann und ohne sie keiner im deutschen Lande wurzeln kann. […] Es handelt deshalb im besten Sinne vaterländisch, wer den Sinn für die Natur in unserem Volke aufrecht erhält und unsere urwüchsige Naturschönheit zu erhalten versucht.“154
Ohne dies weiter zu explizieren, bewerteten die Kolonialpfadfinder den Aspekt des ‚im deutschen Lande wurzeln‘ auch als notwendige Voraussetzung für eine Auswanderung, um zu verhindern, wie es an anderer Stelle hieß, dass Auswandernde zu „Kultur- und Völkerdünger“ wurden.155 Die hier konstatierte territoriale Prägung
149 O.V.: Kolonialbund Deutscher Pfadfinder, Berlin o.J., S. 12. 150 Vgl. Raabe 1961, S. 90. Während Fahrten für die Kolonialpfadfinder zum festen Bestandteil ihres bündischen Lebens gehörten, schien dies bei den anderen kolonialen Jugendgruppierungen von der Leitung abhängig und in eingeschränkterem Maße der Fall gewesen zu sein. 151 O.V.: Kolonialbund Deutscher Pfadfinder, Berlin o.J., S. 8, Herv. i. Org. 152 In einem Eintrag vom 2./3. August 1930 im Truppbuch von Bernburger Kolonialpfadfindern war beispielsweise zu lesen: „Jetzt hieß es scheiden von der trauten Stätte, die uns einen vergnügten Sonntag, ohne Bier und Zigaretten, bereitet hatte.“ AdJb, Nachlass Heinz König, Truppbuch 2: Bund Deutscher Kolonialpfadfinder e.V. 153 Im Kolonialspäher gab es regelmäßig Berichte von Gruppen über ihre lokalen Fahrten. 154 August Reinicke: Naturschutz, in: Kolonialspäher, 1. Jg., 1928, Nr. 4, S. 36. 155 O.V.: Kolonialbund Deutscher Pfadfinder, Berlin, o.J., S. 7.
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von Identität spielte auch in der Debatte über die Deutschlandaufenthalte von Siedlernachkommen eine wichtige Rolle. Für die Kolonialpfadfinder war also die Erziehung an sich selbst zentral. Nur die Arbeit an einem gesunden Körper und klaren Geist gepaart mit ‚Heimatgefühlen‘ und einer tiefen Verbundenheit zur Natur betrachteten sie als verantwortungsbzw. nationalbewusstes Handeln.156 Vor dem Hintergrund dieses Selbstverständnisses grenzte sich ein Kolonialpfadfinder dezidiert gegenüber dem Bund Deutscher Kolonialjugend der DKG und dem Kolonialen Jugendkorps des Kolonialkriegerbundes ab. Er stilisierte den Bund Deutscher Kolonialpfadfinder zur Elite innerhalb der Kolonialjugend und schrieb in polemischem Duktus, „daß eine koloniale Gestaltung der Zukunft nicht bei denen liegt, die alle 4 Wochen eine Mitgliederversammlung abhalten […], die im Sommer 2-3 Ausflüge in die Umgebung machen (natürlich nur bei schönem Wetter), auch nicht bei denen, die ab und zu Soldaten spielen und mit lautem Tschingderabumbum glänzende Truppenrevuen abhalten (Kamerad soundso nimmt hoch zu Roß die Parade ab). Eine neue Generation von Kolonialpionieren wird vielmehr aus unseren Gefolgschaften erstehen, die allsonntäglich auf Fahrt hinausziehen und sich in pfadfinderischen Fertigkeiten üben, bei denen kein Kasernenhofton herrscht, sondern nur freiwilliges Unterordnen und freudiges Mitarbeiten, einer für den andern, alle für die Bundesidee.“157
Neben diesen Unterschieden teilten die kolonialen Jugendgruppierungen miteinander die christliche, nationalistische und überparteiliche Einstellung sowie das Ideal eines starken, gesunden Körpers und Geistes. 158 Der Bund Deutscher Kolonialjugend orientierte sich zunächst überwiegend an einer pfadfinderischen Praxis, gab aber im Jahr 1933 seiner Untergruppierung Kolonialsturm eine eindeutig militärische Ausrichtung, indem er sich als „koloniale[r] Wehrsportverband der deutschen Jugendbewegung“ bezeichnete.159 Demgegenüber praktizierte das Koloniale Ju156 In ihrer Analyse zur ‚völkischen‘ Jugendbewegung zu Beginn der Weimarer Republik weist Antje Harms darauf hin, dass die Umsetzung der ‚Volksgemeinschaft‘ die Arbeit an sich selbst voraussetzte. Vgl. Harms 2008, S. 243-260. 157 Simba-Dessau: Zwiesprache. Koloniale Jugendvereinigung?, in: Kolonialspäher, 4. Jg., 1931, Nr. 1, S. 22, Herv. i. Org. Perspektiven der jugendlichen Mitglieder des Bundes Deutscher Kolonialjugend und des Kolonialen Jugendkorps ließen sich aufgrund fehlenden Materials nicht rekonstruieren. 158 Vgl. zum Kolonialen Jugendkorps den Artikel o.V.: Deutscher Tag des deutschen Kolonial-Jugend-Korps, in: Kolonialpost, 1931, Nr. 9, S. 114. 159 Gauführer Westmark: Das Wort „bündisch“, in: Der Führer, 1. Jg., 1933, Nr. 2/3, S. 7-8, S. 8, Herv. i. Org. An anderer Stelle hieß es: „Entweder bündische oder militärische Jugend, entweder also Kolonial-Pfadfinder oder Kolonial-Sturm; aber unter keinen
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gendkorps von Beginn an soldatische Rituale und gab pfadfinderischen Praktiken einen militärischen Anstrich. Die Mitglieder des Jugendkorps mussten ihr Gelöbnis auf das Korpsgesetz ablegen.160 Zudem forderte Generalleutnant von Epp, Vorsitzender des Kolonialkriegerbundes, in Bezug auf einen Aufenthalt in der Natur, diese zu beherrschen und auf jegliche Romantik zu verzichten. Deutlich wurde dies in seiner Rede während der vierten Tagung der Kolonialjugend im Jahr 1932: „Deutsche Jugend muß Kämpferjugend sein, erfüllt von soldatischem Geiste. Nicht der Spielerei wegen habt Ihr Euer Lager hier im Freien errichtet, sondern um zu lernen, mit der Natur fertig zu werden, damit Ihr auch mit der Menschheit fertig werdet. […] Ihr […] schlaft auf der Erde im Zelt bei gutem und schlechtem Wetter. Erst wenn die Jugend mit der Natur kämpft, ist sie mit ihr verbunden und findet sich [sic] in diesem Kampfe zu sich selbst zurück. Die Natur soll Euch frisch und fähig machen, für Euch und Euer Volkstum zu kämpfen.“ 161
Im Gegensatz zu von Epp vertraten die Kolonialpfadfinder, wie oben ausgeführt, ein harmonisierendes Naturkonzept, das nicht auf Kampf, sondern auf die Einheit von Mensch und Natur gerichtet war. Dennoch schloss diese unterschiedliche Naturdeutung eine Faszination der Kolonialpfadfinder für das Soldatische nicht aus. In Bezug auf von Epp erklärte ein Teilnehmer der Tagung: „Schon durch seine Erscheinung wirkte der General. Und erst als er sprach, als er in seiner hinreissenden Art uns unser Ziel zeigte, da mussten wir uns beherrschen, um nicht während der Rede in Begeisterungsrufe auszubrechen.“162 Zwar rekurrierten die Pfadfinder auf soldatische Vorbilder, sie gaben ihrem Selbsterziehungsprozess jedoch den Vorrang gegenüber einer soldatischen Disziplinierung. Die Natur erfüllte für alle kolonialen Jugendgruppierungen eine weitere wichtige Funktion. Sie wurde von ihnen zur Imagination der nicht verfügbaren realen kolonialen Räume genutzt. Umständen einen bündischen Kolonial-Sturm! Wenn wir den Namen Kolonial-Sturm führen, dann sollen wir ihn auch zu Recht führen, d.h. dass jeder KS-Mann im alten Soldatengeiste erzogen und ausgebildet sein muss, sonst wirkt der Name ‚Sturm‘ lächerlich. Man kann noch so sehr auf den preussischen Drill schimpfen, er muss die Grundlage der Gruppenausbildung sein.“ Der OF der 10. Feldschaft: Nochmals. „Bündisch…“, in: Der Führer, 1. Jg., 1933, Nr. 4, S. 7, Herv. i. Org. 160 Vgl. o.V.: Deutscher Tag des deutschen Kolonial-Jugend-Korps, in: Kolonialpost, 1931, Nr. 9, S. 114. Das Korpsgesetz beinhaltete „Vaterlandsliebe und Kolonialwille, Opferfreudigkeit und Treue, unbedingter Gehorsam im Dienst und Zuverlässigkeit, Korpsgemeinschaft und Kameradschaft, aufrechte Haltung in allen Lebenslagen, Ritterlichkeit und Sparsamkeit.“ Ebd. 161 O.V.: Deutsches Kolonial-Jugendkorps des Deutschen Kolonialkriegerbundes, in: Kolonialpost, 1932, Nr. 6, S. 61-64, S. 62, Herv. i. Org. 162 O.V.: Brief über Ballenstedt, in: Kreuz und Lilie, 2. Jg., 1932, Nr. 5/6, S. 7-8, S. 8.
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Kolonialistische Räume in der Natur Die kolonialen Jugendformationen schufen sich durch ihr gemeinschaftliches Handeln in der Natur temporäre kolonialistische Räume. Dies geschah in Form von Zeltlagern, Sonnenwendfeiern und Geländespielen, die im Folgenden als raumproduzierende Szenarien und Aktivitäten betrachtet werden. 163 Sie sollten bei den Teilnehmenden koloniale Imaginationen anregen. Auf welche Weise Jugendliche diese temporären Räume kolonial (um-)deuteten oder nutzten, um eine mentale Beziehung zu den Kolonien und kolonialen Vorbildern herzustellen, zeigt dieser Abschnitt. Zeltlager hatten das Ziel, die lokale, überregionale oder bundesweite Gruppe an einem spezifischen Ort zu versammeln. Sie dauerten in der Regel zwei oder drei Tage, konnten aber auch über einige Wochen bestehen. Das Errichten der Zelte hatte nach einer gleichmäßigen Ordnung zu erfolgen und sollte nicht zuletzt auf das „innere Leben der Gemeinschaft“ ausstrahlen.164 Innerhalb dieses temporär geschaffenen Raums erzeugten die Gruppen vor allem durch Lagerfeuer eine besondere Stimmung, die zu kolonialen Fantasien führen sollte bzw führte. In der Lüneburger Heide fand 1932 unter der Leitung Walter Dacherts, Soldat unter von LettowVorbeck, das Schulungslager Simba Uranga des Gaus Norden der DKG-Kolonialjugend statt, über das im Jambo zu lesen war: „Die Abende am Lagerfeuer von ‚Simba Uranga‘, – wer von der Besatzung wird diese jemals vergessen? Wenn aus den Niederungen die Nebel aufstiegen und sich über uns der klare Sternenhimmel spannte. – Ringsum vom Feuer matt beleuchtet die Zelte, dahinter schweigend und finster der Wald. – Da spürten wir alle den Hauch freien Afrikanertums […].“165
Damit erfuhr der Raum in der Lüneburger Heide in mehrerer Hinsicht eine koloniale Umdeutung. Simba Uranga verweist auf einen Kampfort in Deutsch-Ostafrika 163 Raum wird hier in Anlehnung an Henri Lefebvre und Pierre Bourdieu verstanden als durch handelnde Akteurinnen und Akteure angeeignet bzw. als sozial hervorgebracht. Vgl. dazu die Einleitung und siehe darüber hinaus zum spatial turn u.a. den Sammelband von Döring/Thielmann 2009. 164 Raabe 1961, S. 91. Beispielsweise wurde das Zeltlager des Kolonialen Jugendkorps im Jahr 1932 „militärisch-fachmännisch angelegt“. O.V.: Deutsches Kolonial-Jugendkorps, in: Kolonialpost, 1932, Nr. 6, S. 61-63, S. 61. 165 O.V.: Simba Uranga, in: Jambo, 9. Jg., 1932, Nr. 10, S. 297-298, S. 298. Die Beschreibung setzt sich mit den Worten von Hans Anton Aschenborn fort: „Und saßen wir am Feuer / Des Nachts wohl vor dem Zelt, / Lag wie in stiller Feier / Um uns die nächt’ge Welt. / Und über dunkle Hänge / Tönt es wie ferne Klänge / Von Trägern und Askari: Heia, heia, Safari!“ Ebd.
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während des Erstens Weltkriegs, der an „Zeiten deutschen Mannesmutes“, den es nachzueifern galt, erinnern sollte.166 Neben diese Figur des unbesiegten Soldaten trat zugleich die Vorstellung ‚freien Afrikanertums‘, die sich nicht auf die ‚afrikanische‘ Bevölkerung bezog – wie semantisch naheliegend –, sondern auf die ehemaligen ‚Kolonialdeutschen‘. Diese Vorstellung konstruierte zum einen ‚Afrika‘ als verfügbaren Raum, fungierte zum anderen als komplementärer Gegenpart zum imaginierten beengten Deutschland. Solch eine Umdeutung der Landschaft praktizierte nicht nur die koloniale Jugendbewegung. Moshe Zimmermann zeigt für die jüdische Jugendbewegung, wie während Wanderungen „Die Wacht am Rhein“ zur „Wacht am Jordan“ werden konnte und bemerkt dazu: „Diese Landschaften konnten sich paradoxerweise auch in jüdische Landschaften verwandeln.“167 Ein mit großer emotionaler Bedeutung aufgeladenes Ereignis waren Sommerund Wintersonnenwendfeiern. Erhard Pörschmann vom Kolonialbund Deutscher Pfadfinder bezeichnete sie als „das höchste und wesenhafteste Fest der Jugendbewegung“.168 Solche jugendbewegten Lebensformen waren zunächst „bloße Leerformen, die sich mit unterschiedlichen ideologischen Inhalt [sic] füllen ließen: die Sonnwendfeier etwa konnte ebenso völkisches Ritual wie anarchistisches Credo sein.“169 Der Ablauf war in der Regel so, dass sich an einem bestimmten Ort eine oder mehrere Gruppen versammelten, um bei Einbruch der Dunkelheit ein großes Feuer zu entzünden und während des Niederbrennens verschiedene Rituale wie Ansprachen oder Gesänge durchzuführen. Ziel war es, das Gemeinschaftsgefühl zu stärken sowie sich individuell und als Gruppe auf die zukünftigen Aufgaben vorzubereiten. Die Kolonialpfadfinder sprachen von „Rückblick und Ausschau, Bekenntnis und Erstarkung.“170 Inhaltliche Bedeutung verliehen die Teilnehmenden der Feier durch Sprüche, Gedichte und Lieder, die zwar nicht ausschließlich koloniale Bezüge hatten, aber durchweg auf ‚deutsches Heldentum‘ und Großmachtdenken verwiesen. So mahnte ein Kolonialpfadfinderführer die um das Feuer Versammelten: „‚Was wir verloren haben, darf nicht verloren sein!‘ Wir denken an jene stillen Helden, die ihr Leben für das unsere gaben – wir denken an den Tag von Langemarck, wo deutsche Jugend mit dem Deutschlandlied in den Kampf zog – und fiel …… ‚Kämpfen und Sterben, was ist dabei, wenn nur das Vaterland – wenn Deutschland frei!‘“171
166 Ebd. 167 Zimmermann 2009, S. 55. 168 Kolonialbund Deutscher Pfadfinder: Worte am Sonnenwendfeuer, in: Brücke zur Heimat, 30. Jg., 1930, Nr. 8, S. 123-124, S. 123. 169 Linse 1978, S. 29, zit. nach Köster 2005, S. 208. 170 O.V.: Flamme empor!, in: Kolonialspäher, 2. Jg., 1929, Nr. 6, S. 82. 171 O.V.: Sonnenwende, in: Kolonialspäher, 1. Jg., 1928, Nr. 1, S. 3.
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Mit dem Verweis auf die Gebietsabtretungen nach dem Ersten Weltkrieg rekurrierte er generell auf die in diesen Territorien getöteten Deutschen, explizit aber auf die jungen Kriegstoten. Sie galten den Kolonialpfadfindern als Mahnung, mit ihren Aktivitäten zur Überwindung der Weimarer Demokratie beizutragen, notfalls auch durch einen erneuten Krieg. Im Unterschied dazu stellte eine Jugendgruppe des Kolonialkriegerbundes allein das Gedenken an die ehemaligen Kolonien ins Zentrum ihrer Sonnenwendfeier. Das gemeinsame Feuererlebnis sollte die Jugendlichen zu kolonialem Engagement verpflichten, wie der folgende Bericht suggeriert: „Gleich den zum Himmel lodernden Flammen des Johannisfeuers sollen auch die Herzen der Jugend für Wiedererwerb deutscher Kolonien aufflammen. Vors[i]t[zender] Kaiser ermahnte gleichfalls die Anwesenden der J[ugend]-Gr[uppe] an dem Kolonialgedanken festzuhalten und wie bisher in ihrem Streben fortzufahren. […] Die Feier machte auf die Anwesenden einen ergreifenden Eindruck und wird allen Beteiligten stets in Erinnerung bleiben.“ 172
Zu den raumproduzierenden Aktivitäten mit kolonialen Bezügen gehörten auch Geländespiele, die körperlich-kämpferische Bewegungen im Raum beinhalteten. Es traten zwei Gruppen, z.B. die ‚Schutztruppe‘ und die ‚Hereros‘, gegeneinander an, um eine bestimmte Aufgabe, wie das Besetzen einer Wasserstelle, zu lösen. 173 Die Kolonialpfadfinder legten dafür folgende Regeln fest: „Frohsinn und Kameradschaft müssen herrschen. Roheit [sic] wird ausgeschaltet. Im Spiel zeigt sich die Disziplin und der Gemeinschaftsgeist eines Trupps.“174 Dieser erneute Rekurs der Kolonialpfadfinder auf Krieg – in diesem Fall auf den Kolonialkrieg in DeutschSüdwestafrika zwischen 1904 und 1907 – lässt sich als weiterer Beleg für ihre Akzeptanz von Krieg möglichweise sogar Sehnsucht nach Krieg lesen. Die Vorstellungen, die diese Gemeinschaftserlebnisse erzeugten, beinhalteten bei manchen Teilnehmenden auch eine mögliche Zukunft in den Kolonien. Berichte im Kolonialspäher skizzierten das Ende einer mehrtätigen Fahrt in der Regel als einen traurigen Abschied, bedeutete er doch die Rückkehr in den Schul- oder Berufsalltag und – was entscheidender war – die Trennung von den anderen Jungen. Dies veranlasste einige Kolonialpfadfinder dazu, wie der folgende Bericht zeigt, die Kolonien als Ort für ein alltägliches bündisches Leben zu imaginieren:
172 Vereinsmitteilungen: Freiburg, in: Kolonialpost, 1931, Nr. 7, S. 96. Zu einer ähnlichen inhaltlichen Ausrichtung der Sonnenwendfeier vgl. Willi Elbeshausen: Sonnenwendfeier, in: Kumbuke!, 4. Jg., 1931, Nr. 15, o.S. 173 Vgl. o.V.: Zum Bundestag, in: Kolonialspäher, 2. Jg., 1929, Nr. 6, S. 98-100. 174 M.: Grenzkampf. Ein Fahrtenspiel, in: Kolonialspäher, 1. Jg., 1928, Nr. 4, S. 34-35, S. 34f.
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„Da flammt ein trutziges Lied auf und tötet die traurigen Gedanken. Und einer erzählt von dem Bund, von seiner Arbeit, seiner Zukunft und unsrer aller Pflicht, vom Vaterlande und den entrissenen Kolonien. – Und ein Jungwolf sagt: Wenn wir einmal zusammen in den Kolonien sind, dann brauchen wir nie mehr auseinander.“175
In dieser jungenhaften Fantasie stand somit ein zukünftiges Gemeinschaftsleben im Vordergrund und nicht mehr so sehr die von den Kolonialverbänden in Umlauf gebrachte Figur des einzelnen ‚Kolonialpioniers‘. Insgesamt betrachtet lehnten die Kolonialpfadfinder wie auch die überwiegende Mehrheit der bündischen Jugend die demokratische Staatsform der Weimarer Republik ab. Diese repräsentierte ihrer Ansicht nach außenpolitische Schwäche, parteipolitische Zersplitterung, kulturellen Wertverlust oder anders formuliert das ‚Undeutsche‘. Dagegen setzten sie die Vision einer auf biologistisch-kulturalistischen Kriterien basierenden ‚Volksgemeinschaft‘, die Deutschland zu territorialer Expansion, d.h. zu einem die ehemaligen Kolonien einschließenden ‚neuen großen Reich‘ verhelfen sollte. Diese Vorstellungen wurden mehrheitlich von älteren Jugendlichen und jungen Erwachsenen geprägt. Um sie umzusetzen, war für die Kolonialpfadfinder ein Selbsterziehungsprozess grundlegend, der sich durch ein exklusives Gemeinschaftsleben in einem Bund erfüllte. Aus diesem Bund heraus sollte der männlich gedachte ‚neue Mensch‘ geschaffen werden. Basierend auf ihren kulturpessimistischen Ansichten ging damit ihre Ablehnung moderner städtischer Freizeitkultur einher, die sie als Gefahr für die ‚deutsche Nation‘ betrachteten. Stattdessen zogen sich die Kolonialpfadfinder und auch andere koloniale Jugendgruppen regelmäßig in die Natur zurück. Einerseits wollten sie damit ihre Körper und ihren Geist disziplinieren und so zu wehrhaften Männern heranwachsen. Andererseits dienten die Aufenthalte in der Natur dazu, koloniale Imaginationen anzuregen. Dass sich koloniale Jugendgruppen zunehmend an den Praktiken des bündischen Gemeinschaftslebens der Kolonialpfadfinder orientierten, verdeutlicht, dass die an der Vergangenheit ausgerichteten Ansichten der Kolonialverbände ausgedient hatten. Im Unterschied zur alten Kolonialgeneration ging es den Kolonialpfadfindern in ihrer angestrebten Überwindung der bestehenden (demokratischen) Gesellschaftsordnung um eine nationalistische Erneuerung von Gesellschaft. Weitgehend abseits von diesen Prozessen entwickelte sich die koloniale Mädchenarbeit, die im Mittelpunkt des nächsten Abschnitts steht.
175 Georg Hornung, Trupp Darmstadt: Winterfahrt, in: Kolonialspäher, 2. Jg., 1929, Nr. 1, S. 10-12, S. 11.
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3.3 BÜRGERLICH-KONSERVATIVES GESCHLECHTERMODELL: DIE KOLONIALEN MÄDCHENGRUPPEN Die koloniale Jugendbewegung war überwiegend in geschlechterhomogene Gruppen unterteilt. Die Jungengruppen überwogen. Neben den Pfadfinderbünden, die ohnehin nur männliche Mitglieder aufnahmen, war auch die Jugendarbeit der Kolonialverbände hauptsächlich auf Jungen fokussiert. Dies hing nicht zuletzt damit zusammen, dass den Vereinen fast ausschließlich Männer angehörten, die in der Regel die Gründung von Jungen-, kaum aber von Mädchengruppen initiierten. Dennoch waren seit Mitte der 1920er Jahre dem Kolonialkriegerbund und dem Bund der Kolonialfreunde eine geringe, der DKG eine größere Anzahl kolonialer Mädchengruppen angeschlossen. Der Frauenbund konzentrierte sich fast ausschließlich auf Mädchenarbeit176 und gestaltete diese weitgehend unabhängig von den anderen Kolonialverbänden. Wichtiges Ziel für ihn war es, die Mädchengruppen in die eigene Vereinsarbeit einzubinden. Der Kolonialkriegerbund und der Bund der Kolonialfreunde informierten nur wenig über ihre Mädchengruppen.177 Frauenbund und DKG berichteten ausführlicher über die Ausgestaltung ihrer Mädchenarbeit, sodass diese im Mittelpunkt der folgenden Betrachtung steht. Im Unterschied zu den Kolonialpfadfindern im vorherigen Abschnitt können die Sichtweisen der Mädchen nur in sehr begrenztem Umfang untersucht werden, da entsprechende Selbstzeugnisse von Gruppen oder Personen kaum existieren. Demzufolge wird zunächst die Entwicklung der kolonialen Mädchenarbeit skizziert, dann auf die Ziele und Aktivitäten der Mädchengruppen
176 Nur in Einzelfällen gründete der Frauenbund Jungengruppen, so in Duisburg, wo Hauptmann Wolfram, ein „Afrikakrieger“, die Betreuung übernahm. Aus den Abteilungen, in: Mitteilungen des Frauenbundes der DKG, 1928, Nr. 8, S. 67. Als weitere Frauenorganisation betreute der Frauenverein vom Roten Kreuz für Deutsche über See einige koloniale Mädchengruppen, über die allerdings kaum berichtet wurde. Erwähnt wird die 1926 am Lyzeum in Bernburg gegründete Mädchengruppe, die 201 Mitglieder zählte. Vgl. o.V.: Frauenverein vom Roten Kreuz für Deutsche über See, in: Der Kolonialdeutsche, 6. Jg., 1926, Nr. 4, S. 62. 177 Es gab u.a. folgende Ausnahmen: Das dem Kolonialkriegerbund zugehörige KolonialJugend-Korps in Lyck hatte eine Jungmädchenabteilung, die während einer Veranstaltung gymnastische Tänze vorführte. Vgl. o.V.: Deutscher Tag des deutschen KolonialJugend-Korps, Abteilung Nr. 147 in Lötzen, Ostpreußen, in: Kolonialpost, 1931, Nr. 9, S. 114-115. Der Bund der Kolonialfreunde erwähnte im Jahr 1926 die Gründung einer Mädchengruppe in Gießen. Vgl. Bundesnachrichten: Aus unseren Ortsgruppen, in: Der Kolonialfreund, 4. Jg., 1926, Nr. 11, S. 298.
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eingegangen und schließlich erörtert, inwieweit die Kolonialverbände ein weibliches Pendant zum ‚Kolonialpionier‘ konstruierten. Zur Mädchenarbeit im bürgerlich-konservativen Vereins- und Parteienspektrum liegen bislang kaum Forschungsbeiträge vor. Dennoch waren die Kolonialverbände mit dem Ziel, Mädchen für ihre (politischen) Interessen zu mobilisieren und zu organisieren, nicht allein. Beispielsweise gehörten der Bismarckjugend der DNVP Mädchengruppen an, die sich mit karitativen Aufgaben in der Kranken- und Armenpflege sowie mit Ballspielen und Turnen beschäftigen sollten.178 Parallel dazu bemühte sich die bürgerliche Frauenbewegung in eher verhaltener Weise darum, die Mädchenbünde der Jugendbewegung für ihre Ziele zu gewinnen. Der Historikerin Kerstin Wolff zufolge war diese Annäherung schwierig, denn es „standen sich in Form der beiden Bewegungen zwei sehr unterschiedliche Ideenkreise gegenüber, die lediglich das ‚Frau-Sein‘ in der Gesellschaft miteinander teilten. Allein diese Tatsache aber wurde so unterschiedlich bewertet, dass bereits das Sprechen miteinander und übereinander mehr als schwierig war.“179
Wie nun gestalteten Frauenbund und DKG die Mädchenarbeit? Der Gründung von Mädchengruppen widmeten sich die Kolonialverbände erst seit Mitte der 1920er Jahre systematisch und intensiver. 180 Schon früher identifizierte neben der DKG auch der Frauenbund die junge Generation als wichtige Zielgruppe der Kolonialpropaganda, ohne zunächst nach Geschlecht zu differenzieren. Seine Mitglieder sollten den eigenen Kindern von den „Heldentaten unserer Kolonialkämpfer“ erzählen,181 sodass sie auf diese Weise schon früh an die Kolonialfrage herangeführt wurden. Zudem hatte der Frauenbund die gesamte Jugend im Blick und verkündete auf seiner Hauptversammlung am 27. Mai 1923: „Ist nicht die ganze Jugend da, die mithelfen kann, ihr Erbe sich wieder zu erkämpfen? Meine Damen, es geht ein frischer Wind durch unsere heutige Jugend. Die Zeiten, daß man sich 178 Vgl. Krabbe 1995, S. 180. 179 Wolff 2011, S. 164. Zu den Mädchenbünden schreibt sie: „Ihnen ging es vielmehr um Freundschaftsbünde, Mädchenreiche, persönliche Kontakte – durchaus in gemischtgeschlechtlichen Vergesellschaftungsformen. Hier überwogen Vorstellungen, die in der Innerlichkeit und in individuellen Lebens-Reformwegen eine Verbesserung des Menschen sahen. So bestand eine massive Skepsis der freien (Mädchen-)Gruppen gegenüber ‚Frauenrechtlerei‘ einerseits und dem Schreckgespenst des städtischen ‚Vamp‘ andererseits.“ Ebd., S. 157. 180 Die erste Mädchengruppe entstand allerdings schon im Jahr 1919. Vgl. Abschnitt 2.1. 181 Hedwig von Bredow: Zum Jahreswechsel an unsere Mitglieder, Abteilungen und Gauverbände, in: Der Kolonialdeutsche, 2. Jg., 1922, Nr. 1, S. 9. Siehe auch Abschnitt 2.2.
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fürchten mußte, vaterländische Lieder zu singen – ja, nur vaterländisch zu denken, sind Gott sei Dank dahin! Nutzen wir das aus!“182
Der Frauenbund bezog sich hier höchst wahrscheinlich auf die revolutionären Umbrüche der unmittelbaren Nachkriegszeit. Der Historikerin Andrea Süchting-Hänger zufolge stellte diese Zeit für die „wilhelminischen Frauenvereine konservativer Prägung“, zu denen auch der Frauenbund gehörte, „nicht nur das Weltbild, sondern auch die Vereinsstrukturen, zum Teil sogar den Vereinszweck infrage. Dennoch gelang es ihnen, die Zäsur von 1918 zu überbrücken.“183 In diesem Prozess hatte der Frauenbund allerdings auch Hindernisse zu bewältigen, vor allem ökonomische, sodass sich die auf der Hauptversammlung emphatisch vorgebrachten Worte zunächst nicht in eine praktische Jugend- bzw. Mädchenarbeit umsetzten. Vielmehr war der Frauenbund seit jenem Jahr mit der größten Krise seiner Geschichte konfrontiert. Infolge der Inflation hatte er nur noch mehrere Tausend (zahlende) Mitglieder, kaum Vermögen für koloniale Projekte und kein eigenes Büro mehr. 184 Erst nach sukzessiver Überwindung dieser Krise in den beiden Folgejahren begann er mit der Gründung kolonialer Mädchengruppen.185 Mitte 1926 war in Berlin die erste Gruppe entstanden, zu deren Aktivitäten Sport, Gymnastik und gemeinsame Wanderungen gehören sollten. Fortan forderte er all seine Abteilungen zu Gruppengründungen auf, da, so argumentierte er, „nichts besser geeignet ist, den kolonialen Gedanken in unserer heranwachsenden Jugend, die unsere Hoffnung auf die Zukunft ist, groß zu ziehen und zu stärken.“ 186 Die Anzahl der Gruppen stieg erst Ende der 1920er Jahre deutlich an und erhöhte sich dann beständig weiter. Dieser späte Prozess hing vermutlich vor allem damit zusammen, dass der Frauenbund erst zwischen 1927 und 1930 wieder neue Mitglieder gewinnen, deren Anzahl dann aber recht schnell von 12.000 auf 20.560 er-
182 O.V.: Mitteilungen des Frauenbundes der DKG, in: Der Kolonialdeutsche, 3. Jg., 1923, Nr. 8, S. 120. 183 Süchting-Hänger 2002, S. 149. 184 Vgl. Venghiattis 2005, S. 322f. 185 Im Jahr 1925 bat zudem die DKG den Frauenbund, die Initiierung von Jugendgruppen zu unterstützen. Vgl. o.V.: Mehr koloniale Jugend-Propaganda, in: Der Kolonialdeutsche, 5. Jg., 1925, Nr. 9, S. 190. 186 O.V.: Gründet koloniale Jugendgruppen, in: Der Kolonialdeutsche, 6. Jg., 1926, Nr. 8, S. 134. Rund zwei Jahre später wurden die Abteilungen auf der Hauptversammlung des Frauenbundes, die am 1. Juni 1928 im Rahmen der Kolonialtagung in Stuttgart stattfand, erneut dazu aufgefordert, auch Jugendliche als neue Mitglieder zu gewinnen, um „auf der Höhe bleiben“ zu können. O.V.: Anträge des Ausschusses zur Hauptversammlung, in: Mitteilungen des Frauenbundes der DKG, 1928, Nr. 4, S. 31.
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höhen konnte.187 Für das Jahr 1930 berichtete er von vielen neu gegründeten Mädchengruppen und einer Gesamtzahl von 22 Gruppen. Im Jahr 1932 waren es 32, von denen sich eine Gruppe in „Afrika“ befand.188 Im September 1933 gehörten den Mädchengruppen des Frauenbundes schließlich 2500 Mitglieder an.189 Die Gruppengrößen variierten immens von Gruppen mit nur rund zehn Mitgliedern bis hin zu solchen, die über 100 zählten. Die Mitglieder waren zwischen 14 und 24 Jahre alt190 und sowohl Schülerinnen der obersten Klassen als auch junge Frauen, die eine Berufsausbildung absolvierten bzw. bereits berufstätig waren. Die Gründung der Mädchengruppen wurde überwiegend von den Abteilungen des Frauenbundes initiiert. Erste Ansprechpartnerinnen schienen die Töchter von Mitgliedern zu sein. So nahmen in Aachen an der geplanten Gründungsfeier einer Mädchengruppe alle 50 eingeladenen Töchter zusammen mit einigen Freundinnen teil, die dann allesamt der Gruppe beitraten.191 Dennoch betonte der Frauenbund, dass der Eintritt in eine Mädchengruppe nicht die Mitgliedschaft der Mutter im Frauenbund voraussetze.192 Manchenorts ergriffen auch Jugendliche die Initiative. In Hildesheim überzeugte ein junges Mädchen auf der Generalversammlung des Frauenbundes die Vorsitzende von der Gründung einer Mädchengruppe. 193 Parallel dazu gründete die DKG seit Mitte der 1920er Jahre an sie angeschlossene koloniale Mädchengruppen. Es ist davon auszugehen, dass sie mit Jugendgruppe in der Regel Jungengruppe meinte. Mädchengruppen trugen die Geschlechterbezeichnung explizit im Namen und schienen oft in solchen Städten zu entstehen, wo bereits mindestens eine (männliche) Jugendgruppe existierte. In manchen Fällen ging von dieser auch die Gründung einer Mädchengruppe aus, wie 1926 in Zweibrücken, zugleich verbunden mit der Aufforderung an andere Mädchengruppen, 187 Vgl. Venghiattis 2005, S. 334. 188 Nora von Steinmeister: Jahresbericht 1931-32, in: Frauenbund der DKG (Hg.), 25 Jahre Koloniale Frauenarbeit, Berlin 1932, S. 10-24, S. 10. Anfang 1933 bestanden 49 Gruppen. 189 Vgl. o.V.: Jugendgruppen des Frauenbundes der DKG, in: Die Frau und die Kolonien, 2. Jg., 1933, Nr. 10, S. 135. 190 Vgl. o.V.: Richtlinien für die Jugendgruppe Aachen des Frauenbundes der DKG, in: Mitteilungen des Frauenbundes der DKG, 1930, Nr. 8, S. 97-98, S. 97. 191 Vgl. o.V.: Jugendgruppen-Neubildung, in: Mitteilungen des Frauenbundes der DKG, 1929, Nr. 1, S. 5-6. Ebenso rief die Abteilung Flensburg ihre Mitglieder dazu auf, die Teilnahme ihrer Kinder an den Treffen der Jugendgruppe zu fördern. Vgl. Aus den Abteilungen, in: Mitteilungen des Frauenbundes der DKG, 1929, Nr. 1, S. 11. 192 Vgl. Frauenbund der DKG: Aus den Abteilungen, in: Der Kolonialdeutsche, 6. Jg., 1926, Nr. 9, S. 151. 193 Vgl. Referat von Frau von Förster (Hildesheim) über Jugendgruppen am 30.6.1930, in: Mitteilungen des Frauenbundes der DKG, 1930, Nr. 8, S. 91-92, S. 91.
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diese schriftlich zu kontaktieren.194 In Eckernförde wurde 1929 während der Feier des zweijährigen Bestehens der Jugendgruppe die neu gegründete Mädchenabteilung in den „Kreis der Stammgruppe“ eingeführt.195 Nicht zuletzt diese Bezeichnungspraxis weist auf eine Hierarchisierung hinsichtlich der Bedeutung von Jungen- und Mädchengruppen in der kolonialen Jugendbewegung hin, bei der den Jungengruppen die zentrale Position zugesprochen wurde. Dennoch schuf die DKG mit der Gründung des Bundes Deutscher Kolonialjugend Ende 1931 als einziger Kolonialverband eine reichsweite Organisationsstruktur für seine schulischen und außerschulischen Mädchengruppen: die Hedwig von Wissmann-Jugend.196 Schon ab zehn Jahren konnte „jedes unbescholtene deutsche Mädchen“ mit Einverständnis des Vaters oder eines gesetzlichen Vertreters Mitglied werden.197 Im Zuge dieser Umstrukturierung gab es Diskussionen zur Zusammenführung der Hedwig von Wissmann-Jugend mit den Mädchengruppen des Frauenbundes. Diese erfolgte erst nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten.198 Am 17. September 1933 fand die „feierliche Ueberführung der Jugendgruppen des Frauenbundes und der Wißmannjugend als Kolonialscharen in den B.D.M. [Bund Deutscher Mädel, S.H.] statt“.199 Folglich waren sie nicht mehr den beiden Kolonialverbänden unterstellt, jedoch versicherten die Jugendwartinnen, „auch im B.D.M. ihre wertvolle, schöne Arbeit weiter zu fördern.“ 200 Damit stellt sich die Frage, wie sich diese Arbeit vor 1933 gestaltet hatte. In welchem Verhältnis standen die Mädchengruppen jeweils zum Frauenbund und zur DKG, welche Ziele verfolgten sie und worin bestanden ihre Aktivitäten? Der Frauenbund nahm großen Einfluss auf die Gestaltung, Ziele und Aktivitäten der Mädchengruppen. Er begründete diesen mit der Unkenntnis der jungen Generation bezüglich kolonialer Fragen und betrachtete die Jugendlichen aus einer pater194 Vgl. Aus der Bewegung, in: Jambo, 3. Jg., 1926, Nr. 10, 1926, o.S. 195 Aus der Bewegung, in: Jambo, Beilage DKJ, 6. Jg., 1929, Nr. 3, S. 12-14, S. 13. 196 Vgl. o.V.: Der neue Aufbau der Jugendorganisation der DKG, in: Mitteilungen der DKG, 43. Jg., 1931, Nr. 11, S. 87. 197 BArch, R 1001/6746, Bl. 190, Ordnung für die Hedwig von Wissmann-Jugend, S. 3. 198 Punkte der Auseinandersetzung waren die Namensgebung und der Umgang mit der Jugendzeitschrift Jambo. Während der Frauenbund bis zur Findung eines eigenen Namens die Übernahme des Namens Hedwig von Wissmann-Jugend zunächst befürwortete, wollte er einer Abonnementverpflichtung des Jambo nicht zustimmen. Er betrachtete die Zeitschrift zwar als „hübsch“, sie erschien ihm aber zu teuer und für Mädchen weniger ansprechend zu sein. BArch, R 1001/6694, Bl. 236, Protokoll der Ausschusssitzung des Frauenbundes der DKG am 15.3.1932 in Berlin, S. 2. 199 O.V.: Jugendgruppen des Frauenbundes der DKG, in: Die Frau und die Kolonien, 2. Jg., 1933, Nr. 10, S. 135. 200 Ebd.
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nalistischen Perspektive. Zwar registrierte er die (jugendbewegten) Zeichen der Zeit, indem er konstatierte, dass Jugendliche „heute ihre Führer mehr oder weniger aus ihrer Gruppe selbst wählen“ wollen, betonte aber zugleich, dass letzteren in den meisten Fällen die notwendige Erfahrung fehle.201 Vor dem Hintergrund, dass der „koloniale Gedanke“ für die „Jugend noch so neu“ sei und sie „den Verlust der Kolonien auch nicht bewußt miterlebt“ habe, könnten die Mädchen zwar für organisatorische Dinge, wie das Kassieren von Beiträgen oder das Verteilen von Publikationen verantwortlich sein, jedoch müsse „Ideenträgerin […] die Abteilung sein und bleiben.“202 Dennoch hoffte der Frauenbund für die Zukunft, dass auf dieser Grundlage ein „fester eigener Wille“ in den Mädchengruppen wächst.203 Einige Abteilungen gestanden ihren Mädchengruppen die Wahl einer Gruppenführerin zu, der allerdings die Abteilungsvorsitzende oder ein anderes Vorstandsmitglied zustimmen sollte.204 In anderen Abteilungen leitete ein Vorstandsmitglied des Frauenbundes die Mädchengruppe. Als Begründung wurde angeführt, dass eine erwachsene Person aus der Erfahrung heraus Meinungsverschiedenheiten besser schlichten und die Jugendlichen bei an sie von außen herangetragenen Angelegenheiten beraten könne. Zudem genieße sie unter den Eltern größeres Vertrauen.205 Letztlich unterlagen alle Mädchengruppen der Kontrolle der Abteilungsvorstände des Frauenbundes, denn ihre Gruppentreffen fanden allesamt in Anwesenheit von mindestens einem Vorstandsmitglied statt. Diese Art der Gruppenbildung wiederum resultierte aus den Zielen der Mädchengruppen, die nicht die Jugendlichen selbst, sondern der Frauenbund formuliert hatte. Den Richtlinien der Gruppen Aachen und Werden zufolge sollten die Mädchen für den „kolonialen Gedanken geweckt und geschult werden“, als Nachwuchs für die Abteilung fungieren, koloniales Wissen weiterverbreiten und neue Mitglieder werben.206 Diese Ziele lagen auch der Jugendarbeit der anderen Kolonialverbände zugrunde. Allerdings forcierte der Frauenbund eine sehr enge Zusammenarbeit zwischen Abteilungen und Mädchengruppen, sodass die Mädchen in die konkrete Arbeit des Frauenbundes eingebunden waren. Dazu gehörten koloniale Propa201 Referat von Frau Rehnisch (Aachen) über Jugendgruppen des Frauenbundes am 14.6.1930, in: Mitteilungen des Frauenbundes der DKG, 1930, Nr. 8, S. 89-90, S. 90. 202 Ebd., Herv. i. Org. 203 Ebd. 204 Vgl. ebd. 205 Vgl. Referat von Frau von Förster (Hildesheim) über Jugendgruppen am 30.6.1930, in: Mitteilungen des Frauenbundes der DKG, 1930, Nr. 8, S. 91-92, S. 92. 206 O.V.: Richtlinien für die Jugendgruppe Aachen des Frauenbundes der DKG, in: Mitteilungen des Frauenbundes der DKG, 1930, Nr. 8, S. 97-98, S. 97; o.V.: Richtlinien für die Jugendgruppe des Frauenbundes der DKG in Werden, in: Mitteilungen des Frauenbundes der DKG, 1930, Nr. 8, S. 98.
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gandaaktivitäten, der Wiederaufbau deutscher Schulen in den ehemaligen Kolonien Südwest- und Ostafrika sowie die materielle und ideelle Unterstützung dort verbliebener deutscher Siedlerfamilien.207 Demgegenüber standen die (außer-)schulischen Mädchengruppen der DKG stärker unter dem Einfluss der kolonialen Jungenarbeit. Mit der Gründung der Hedwig von Wissmann-Jugend erhielten sie spezifische Richtlinien. Diesen zufolge wurden die außerschulischen Gruppen von einer mindestens 18-jährigen Jugendlichen geleitet und agierten unabhängiger von Erwachsenen als die schulischen Gruppen, deren Leiterinnen mindestens 14 Jahre alt sein mussten und einer Lehrerin oder einem Lehrer unterstanden.208 Mit den Mädchengruppen des Frauenbundes teilten sie das Ziel kolonialer Wissensaneignung und -verbreitung sowie das Werben von Mitgliedern, zugleich orientierte sich ihre Satzung deutlich an den Richtlinien der Jungengruppen der DKG. So gehörte auch die Forderung nach ‚Lebensraum‘, die sich Ende der 1920er Jahre in der kolonialen Jugendbewegung zunehmend verankerte, explizit zu den Zielsetzungen der Hedwig von Wissmann-Jugend. Es hieß, sie will „dem deutschen Volk und der deutschen Jugend Lebensraum erwirken und erhalten, der ihr den Existenzkampf ermöglicht und erleichtert und sie befähigt zur Uebernahme kultureller Aufgaben, wie sie der Frauenwelt einer grossen Nation würdig sind.“209 Über das, was die ‚Übernahme kultureller Aufgaben‘ beinhaltete, gab die Satzung zwar keine Auskunft. Es ist aber davon auszugehen, dass Mädchen und junge Frauen, wie schon während der deutschen Kolonialherrschaft, darauf vorbereitet werden sollten, nach der beabsichtigten Rückgewinnung der Kolonien dort ‚deutsche Kultur‘ zu erhalten und neu zu etablieren. Neben Familiengründung und Kindererziehung in deutscher Sprache gehörte dazu die Beteiligung an der Imitation ‚heimischer Kultur‘, die von Gemüseanbau und der Durchführung von Kulturveranstaltungen über die Errichtung von Denkmälern und Bibliotheken bis hin zum kolonialen Vereinswesen reichte.210 207 Vgl. Referat von Frau Rehnisch (Aachen) über Jugendgruppen des Frauenbundes am 14.6.1930, in: Mitteilungen des Frauenbundes der DKG, 1930, Nr. 8, S. 89-90, S. 89. Die Unterstützung deutscher Siedlerfamilien hatte im Frauenbund einen wichtigen Stellenwert. Er forderte die Mitarbeit der jungen Generation, „um die großen Aufgaben erfüllen zu können, die immer wieder von Seiten der Deutschen in Afrika an uns gestellt werden.“ O.V.: Die Rheinische Kolonialtagung, Aachen 12. bis 15. Juni, in: Mitteilungen des Frauenbundes der DKG, 1930, Nr. 7, S. 77-79, S. 78. 208 Vgl. BArch, R 1001/6746, Bl. 190, Ordnung für die Hedwig von Wissmann-Jugend, S. 3. 209 Ebd., Bl. 188, S. 1. 210 Vgl. Walgenbach 2005a, S. 120 und S. 232. Der Frauenbund stellte sich in der Weimarer Republik zudem als „caring und providing mother of colonial Germans“ dar. Wildenthal 2001, S. 189. Allerdings blieb die Forderung nach Teilhabe an kulturellen Auf-
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Neben diesen Gemeinsamkeiten der Hedwig von Wissmann-Jugend mit den Mädchengruppen des Frauenbundes einerseits, den Jungengruppen der DKG andererseits lässt sich vor allem zu den Jungengruppen ein zentraler Unterschied feststellen. Während diese den Richtlinien zufolge bereitstehen sollten, „als Kolonialpionier das unvergessene und mit dem Herzblut unserer Besten erworbene Erbe unserer Väter anzutreten, sobald der Ruf an sie ergeht“,211 galt diese Zielsetzung für die Hedwig von Wissmann-Jugend nicht. Zwar waren auch die Mädchen aufgerufen, sich „durch praktische und sportliche Betätigung […] die Eigenschaften eines Kolonialpioniers anzueignen“,212 allerdings schienen sie den jungen Männern erst später nach Übersee folgen zu sollen. Mit der Durchführung von Wanderfahrten und Gymnastik, dem Erlernen von Sanitäts-, Schneider- und Handarbeiten sowie der Teilnahme an Näh- und Kochunterricht standen in diesem praktischen Aneignungsprozess überwiegend weiblich konnotierte Tätigkeiten im Vordergrund. Somit basierte die auf Jungen und Mädchen gerichtete koloniale Jugendarbeit der DKG auf einem komplementär angelegten Geschlechtermodell. In dieser Konstruktion sollten erneut junge Männer in die Kolonien aufbrechen, um dort das koloniale Erbe anzutreten und den Weg für den Nachzug der jungen Frauen zu bereiten. Auf der Grundlage der skizzierten Zielsetzungen entfalteten sich die Aktivitäten der kolonialen Mädchengruppen. Die des Frauenbundes kamen in der Regel monatlich zusammen,213 um sich zur Weiterverbreitung koloniales Wissen anzueignen. ‚Kolonialdeutsche‘ Frauen oder Männer berichteten von ihren Erfahrungen, es wurden Publikationen des Frauenbundes vorgelesen oder Filme vorgeführt. Zudem waren die Mädchen, wie bereits erwähnt, in die Vereinsarbeit des Frauenbundes eingaben nicht auf die Mädchengruppen beschränkt, sondern war auch in den Richtlinien der Jungengruppen verankert. Vgl. BArch, R 1001/6746, Bl. 172, Ordnung für die Jambo-Lesegemeinschaften und Kolonialen Schulgruppen im Bund Deutscher Kolonialjugend, S. 1; BArch, R 1001/6746, Bl. 179, Ordnung für den Kolonial-Sturm im Bund Deutscher Kolonialjugend, S. 1. Spezifizierungen fehlten auch hier. Es ist aber wahrscheinlich, dass sich dahinter die von der Kolonialbewegung propagierte Vorstellung verbarg, Deutschland als ‚Kulturnation‘ habe gegenüber kolonisierten Ländern auch weiterhin einen ‚Erziehungs- und Zivilisierungsauftrag‘ zu erfüllen. Vgl. dazu Nöhre 1998, S. 21-25. 211 BArch, R 1001/6746, Bl. 172, Ordnung für die Jambo-Lesegemeinschaften und Kolonialen Schulgruppen im Bund Deutscher Kolonialjugend, S. 1; BArch, R 1001/6746, Bl. 179, Ordnung für den Kolonial-Sturm im Bund Deutscher Kolonialjugend, S. 1. 212 BArch, R 1001/6746, Bl. 188, Ordnung für die Hedwig von Wissmann-Jugend, S. 1. 213 Manche Gruppen plädierten für ein vierteljährliches Treffen, um dieses als etwas Besonderes gestalten zu können. Vgl. Referat von Frau von Förster (Hildesheim) über Jugendgruppen am 30.6.1930, in: Mitteilungen des Frauenbundes der DKG, 1930, Nr. 8, S. 91-92, S. 92.
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bezogen.214 Sie sollten die Strukturen des Frauenbundes kennenlernen, indem sie u.a. an dessen Generalversammlungen teilnahmen. Dort erhielten sie zugleich die Möglichkeit, selbstständig über ihre geleistete Arbeit zu berichten.215 Außerdem verrichteten die Mädchengruppen einen Teil der praktischen Arbeiten, die insbesondere der materiellen und ideellen Unterstützung von Siedlerfamilien in den ehemaligen Kolonien dienten. Dazu gehörte das Erstellen von handgearbeiteter Babyund Kinderkleidung216 und das Bestücken von Bücherkisten ebenso wie die Übernahme von Patenschaften für Ortsgruppen des Frauenbundes oder deutsche Schulen in Übersee, an welche die Mädchengruppen beispielsweise den Erlös aus Veranstaltungen spendeten.217 Sie unterhielten auch Briefkontakte mit Siedlernachkommen.218 Für diese Tätigkeiten ernteten die Mädchengruppen nicht nur große Anerkennung von Mitgliedern des Frauenbundes und den Beschenkten, sie ermöglichten ihnen auch, einen realen und konkreten Bezug zu den ehemaligen Kolonien bzw. zur deutschen Siedlerbevölkerung herzustellen. Wie die kolonialen Jungengruppen führten die Mädchengruppen darüber hinaus kleinere gesellige Kolonialveranstaltungen und größere Wohltätigkeitsfeste mit den jeweiligen Ortsgruppen des Frauenbundes durch. In diesem Rahmen trugen die Mädchen nationalistische und kolonialistische Lieder vor und führten Tänze oder schlichte koloniale Bühnenstücke auf, mit denen sie kolonialrevisionistische Argumentationsmuster vermittelten.219 Sie nutzten die Veranstaltungen auch für Spen214 Beispielsweise berichtete die Mädchengruppe Ludwigshafen, „bei angeregter Unterhaltung, musikalischen und literarischen Vorträgen nützliche Handarbeiten zu machen und die Interessen des Bundes zu pflegen.“ O.V.: Mitteilungen der Zentrale des Frauenbundes, in: Mitteilungen des Frauenbundes der DKG, 1930, Nr. 1, S. 11. 215 Vgl. Aus den Abteilungen, in: Die Frau und die Kolonien, 1. Jg., 1932, Nr. 6, S. 69-71, S. 71. 216 Vgl. o.V.: Jugendgruppen des Frauenbundes der DKG, in: Die Frau und die Kolonien, 1. Jg., 1932, Nr. 12, S. 163. Mitunter wurden die Handarbeiten auf Kolonialfesten präsentiert. 217 Zu den Spenden von Mädchengruppen vgl. o.V.: Bundesnachrichten, in: Die Frau und die Kolonien, 1. Jg., 1932, Nr. 12, S. 160-161, S. 161. 218 Vgl. Margarete Schnitzker: Bericht des Frauenbundes der DKG für das Halbjahr 1932/33, in: Die Frau und die Kolonien, 2. Jg., 1933, Nr. 6, S. 67-70, S. 67. 219 Zu den Vorführungen gehörte z.B. das Bühnenstück s’Bärbele in Südwest, das u.a. die Jugendgruppe Ludwigsburg inszenierte und das, wie es im Bericht hieß, „uns von einer Spinnstube in Markgröningen auf eine schwäbische Farm in Südwest und von da aus zurück zu einer schwäbischen Kirchweih führte und von den jungen Darstellern frisch und flott gespielt wurde. Das Bärbele eignet sich für Aufführungen in Kolonialvereinen deshalb so besonders gut, weil es die Aufgaben, die sich der Frbd. [Frauenbund, S.H.] gestellt hat, in sehr netter und klarer Weise berührt und dadurch eine grosse Werbekraft
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densammlungen und die Werbung von Mitgliedern. 220 Kaum präsent waren die Mädchengruppen des Frauenbundes bei den Tagungen der kolonialen Jugendbewegung, die zwischen 1926 und 1932 zweijährlich stattfanden. Nur sechs Mädchen aus Hildesheim hatten 1932 in Ballenstedt teilgenommen; sie warben im Anschluss jedoch für eine zahlreichere Teilnahme an der nächsten Tagung. 221 Während der Frauenbund in seinen Publikationen regelmäßig über die Aktivitäten seiner Mädchengruppen berichtete, blieben solche Informationen für die Mädchengruppen der DKG rar, denn in der Jugendzeitschrift Jambo standen Jungen im Vordergrund. Nachrichten über die Mädchengruppen beschränkten sich überwiegend auf Hinweise zu Gründungen, Treffpunkten und entsprechenden Kontaktadressen.222 Konkrete Aktivitäten wurden selten geschildert und wenn, dann meistens im Zusammenhang mit gemeinsamen Veranstaltungen von Jungen- und Mädchengruppen. Diese fanden in mehreren Städten statt, so ein kolonialer Werbeabend 1929 in Eckernförde, wo beide Gruppen Lobreden für ihre bisherige engagierte Arbeit erhielten. An jenem Abend sorgten die Jungen für die musikalische Rahmung, die Mädchen führten einen Matrosentanz und ein Traumbild auf.223 Schilderungen über größere, von Mädchen und Jungen besuchte koloniale Jugendtreffen bezogen sich meistens auf die Tätigkeiten der Jungen. Allerdings erhielten auch Mädchen Prämierungen für besonders verdienstvolle Arbeit in der kolonialen Jugendbewegung.224 Abgesehen von der spärlichen Berichterstattung über die Aktivitäten der Mädchengruppen der DKG ist anhand der Richtlinien der Hedwig von Wissmann-Jubesitzt.“ Aus den Abteilungen, in: Mitteilungen des Frauenbundes der DKG, 1930, Nr. 7, S. 87-88, S. 88. Für weitere Informationen zum Inhalt des Stücks siehe Hintrager: Das schwäbische Bärbele in Deutsch-Südwestafrika, in: Mitteilungen des Frauenbundes der DKG, 1928, Nr. 5, S. 34. 220 Vgl. u.a. o.V.: Jugendgruppen des Frauenbundes der DKG, in: Mitteilungen des Frauenbundes der DKG, 1930, Nr. 10. S. 122f. 221 Vgl. o.V.: Jugendgruppen des Frauenbundes der DKG, in: Die Frau und die Kolonien, 1. Jg., 1932, Nr. 9, S. 108. Nach der Jugendtagung 1930 in Naumburg hatte der Frauenbund die Hoffnung geäußert, dass an der nächsten Tagung auch einige seiner Mädchengruppen teilnehmen würden. Vgl. Deutsches Kolonial-Jugend-Korps des Deutschen Kolonialkriegerbundes: Verlauf der Pfingsttagung 1930 der deutschen Kolonialjugend in Naumburg/Saale, in: Mitteilungen des Frauenbundes der DKG, 1930, Nr. 7, S. 85. 222 Vgl. u.a. Aus der Bewegung, in: Jambo, Beilage DKJ, 6. Jg., 1929, Nr. 11, S. 46 für die Mädchengruppe in Gera; Aus der Bewegung, in: Jambo, Beilage DKJ, 6. Jg., 1929, Nr. 3, S. 13 für die Mädchengruppe in Flensburg. 223 Vgl. Aus der Bewegung, in: Jambo, Beilage DKJ, 6. Jg., 1929, Nr. 6, S. 25. 224 Vgl. o.V.: Die Naumburger Herbsttagung des Mitteldeutschen Bezirksverbandes der kolonialen Jugend, in: Jambo, 5. Jg., 1928, Nr. 10, S. 285-287, S. 287.
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gend ersichtlich, dass ihre Aufgabenfelder denen der Mädchengruppen des Frauenbundes glichen. Koloniale Wissensaneignung und -verbreitung gehörten während der regelmäßigen Treffen ebenso dazu wie das Erlernen verschiedener Handarbeiten.225 Gerade diese praktischen Tätigkeiten wurden möglicherweise bei ihnen weniger forciert, da sie nicht in die Vereinsstrukturen der männlich geprägten DKG eingebunden waren, wie dies beim Frauenbund der Fall gewesen ist. Vermutlich hatte für die Mädchen der Hedwig von Wissmann-Jugend eher sportliche Betätigung eine höhere Priorität, weil diese in der kolonialen Jugendbewegung, in die sie stärker eingebunden waren, eine wichtige Rolle spielte. Diese ausgeprägtere Verbindung zu Jungengruppen schien weitere Handlungsräume zu eröffnen und eine Auseinandersetzung mit ihrer Rolle als Mädchen bzw. mit dem Geschlechterverhältnis zu fördern. Nach einem Bericht der Naumburger Mädchengruppe über ihren Überraschungsbesuch im Ferienlager der örtlichen Jungengruppe hatten die zwölf Teilnehmerinnen auf die wegen schlechter Wetterprognosen besorgten Eltern entschlossen reagiert: „Das ist unnützes Überlegen! Wir sind gewohnt, was wir beschließen, auch auszuführen. Warum sollten wir auch zurückschrecken.“226 Dieses selbstbewusste Verhalten intensivierte sich im Ferienlager, nachdem sich die Jungen von den im strömenden Regen angekommenen Mädchen beeindruckt gezeigt hatten. Im Bericht hieß es: „Stolz waren wir, dies zu hören und sagen zu können, wir wollen doch den Anspruch auf Gleichberechtigung in der Bewegung haben, damit es nicht immer heißt: ‚Ach, die Mädchengruppen brauchen wir nicht, sie können doch nichts leisten.‘“227 Spätestens nach dem Verzehr des mitgebrachten Kuchens schien sich diese Abwehrhaltung bei den Jungen verflüchtigt zu haben, denn sie verkündeten: „Eine Mädchengruppe am Ort hat was für sich!“228 Danach übten sich die Mädchen im Zeltaufbau, Weit- und Speerwurf, allerdings nicht ohne die Jungen als „Lehrmeister“ an ihrer Seite. 229 Solch eine das Geschlechterverhältnis reflektierende Schilderung blieb in der Berichterstattung über die kolonialen Mädchengruppen zwar eine Ausnahme, sie veranschaulicht aber mehrere Aspekte zum Stellenwert und zur Selbstwahrnehmung der Mädchengruppen in der kolonialen Jugendbewegung. Sie konnten erstens ihre Akzeptanz nicht voraussetzen, sondern mussten sich diese durch diverse Aktivitäten erarbeiten. Sie rekurrierten dafür zweitens auf Tätigkeitsbereiche der reproduktiven Sphäre, die bereits der Frauenbund im Kaiserreich genutzt hatte, um seine Teilhabe an der Kolonialbewegung zu legitimieren. Diese Ausführung weiblich konnotierter Tätigkeiten 225 Vgl. BArch, R 1001/6746, Bl. 188-189, Ordnung für die Hedwig von WissmannJugend, S. 1-2. 226 WJ-Gruppe Naumburg: Besuch, in: Jambo, 9. Jg., 1932, Nr. 12, S. 355-358, S. 356. 227 Ebd. 228 Ebd., S. 357. 229 Ebd., S. 358.
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ermöglichte den Mädchen schließlich drittens einen (beschränkten) Zugang zu von Jungen dominierten Aktionsräumen. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die von Frauenbund und DKG initiierten kolonialen Mädchengruppen erst in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre entstanden, aber ihre Anzahl gegen Ende der Dekade zunahm. Dies hing zum einen mit der vorübergehenden Krise des Frauenbundes nach 1923 zusammen, zum anderen mit der auf Jungen fokussierten Jugendarbeit der DKG. Die Mädchengruppen beider Vereine entwickelten sich zwar unabhängig voneinander, verfolgten aber prinzipiell die gleichen Ziele und Aufgaben. Kolonialrevisionistische Wissensaneignung, Propagandaarbeit und Mobilisierung in Mädchenkreisen wechselten sich mit einer Praxis ab, die neben sportlicher Ertüchtigung auch das Erlernen weiblich konnotierter Tätigkeiten des häuslichen Bereichs umfasste. Allerdings ließ sich durch die Zusammenschau der Mädchengruppen von DKG und Frauenbund feststellen, dass es bei ihren Aktivitäten in der Tendenz unterschiedliche Schwerpunkte gab. Der Frauenbund integrierte seine Mädchengruppen vor allem in die eigene Vereinsarbeit, wodurch sie stärker in einem geschlechtersegregierten Handlungsrahmen agierten. Diese Mädchen beteiligten sich insbesondere an der materiellen und ideellen Unterstützung von in Übersee lebenden deutschen Siedlerfamilien. Demgegenüber hatten die Mädchengruppen der DKG meist im Rahmen gemeinsamer Veranstaltungen häufiger Verbindungen zu Jungengruppen und waren enger in die koloniale Jugendbewegung eingebunden. Durch das Zusammentreffen mit Jungengruppen mussten sie mit der Infragestellung ihrer Relevanz als Mädchengruppe rechnen. Dennoch bekamen sie die Möglichkeit, nachdem sie sich auf der Basis weiblich konnotierter Tätigkeiten Akzeptanz geschaffen hatten, an dem von Jungen dominierten Aktionsraum des Ferienlagers zu partizipieren. So finden sich hier durchaus Parallelen zur Geschichte des Frauenbundes, der sich in der Kolonialbewegung über das Ausüben weiblicher Tätigkeitsfelder eine wichtige Stellung erarbeitete und für den sich dadurch (politische) Entscheidungs- und Handlungsräume eröffneten.230 In der Figur der ‚Kolonialpionierin‘, die Teil eines bürgerlichkonservativen Geschlechtermodells war, schrieb sich schließlich die im Kaiserreich entstandene Vorstellung von kolonialer Weiblichkeit fort. Für die Mädchengruppen wie auch für den allergrößten Teil der kolonialen Jugendbewegung insgesamt entwickelte sich im Rahmen der kolonialen Jugendarbeit kein konkreter Zukunftsentwurf für ein Leben in den Überseegebieten.231 Hingegen
230 Vgl. Kundrus 2004, S. 226-232. 231 Allerdings kümmerte sich der Frauenbund auch nach 1919 weiterhin um die Ausreise junger Frauen in die ehemaligen Kolonien, die dort entweder mit Familienmitgliedern zusammentrafen oder ein Beschäftigungsverhältnis begannen. Vgl. ausführlicher Venghiattis 2005, S. 340-348. Diese Tätigkeit des Frauenbundes verlief getrennt von seiner
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eröffneten sich für Siedlernachkommen im Mandatsgebiet Südwestafrika Möglichkeiten der grenzüberschreitenden Mobilität nach Deutschland. Diese stehen im Mittelpunkt der nachfolgenden Kapitel.
kolonialen Mädchenarbeit, zumindest ließen sich im Rahmen der vorliegenden Studie keine Hinweise auf Verbindungen zwischen den beiden Arbeitsfeldern finden.
4. Deutsche Siedlernachkommen als zukünftige ‚Kulturträger‘ 1 für Südwestafrika
Die Unterzeichnung des Versailler Vertrages transformierte die Kolonie DeutschSüdwestafrika in ein von der Südafrikanischen Union verwaltetes Mandatsgebiet des Völkerbundes. Für die dort verbliebene heterogene deutsche Siedlerbevölkerung bedeutete diese politische Zäsur, von jetzt an unter fremder Verwaltung zu leben. Damit wollten sich insbesondere verschiedene Interessengruppen des bürgerlichen Milieus nicht abfinden und strebten stattdessen nach nationaler und kultureller Autonomie. Während des Kaiserreichs hatten adelige und bürgerliche Kolonialakteurinnen und -akteure das Ziel verfolgt, ‚deutsche Kultur‘ in die Kolonie zu transferieren, dort zu etablieren und letztere zu einem „Neudeutschland“ und einer „zweiten Heimat“ zu machen.2 Dieser Prozess war begleitet von verschiedenen Distinktionsbemühungen, die gerichtet waren, so Birthe Kundrus, „auf Distinktion nach außen – gegenüber den Afrikanern wie anderen Kolonialmächten –, aber auch nach unten – gegenüber unterbürgerlichen Schichten – sowie nach innen – auf eine Versicherung der eigenen Stärke.“3 Unter den neuen politischen Rahmenbedingungen blieb das Streben nach Distinktion von besonderer Relevanz, denn die Interessengruppen der deutschen Siedlerbevölkerung, zu denen u.a. Mitglieder von Schulund anderen Vereinen, Lehrkräfte, Angehörige der ehemaligen Kolonialverwaltung sowie Missionsfamilien gehörten, setzten nunmehr alles daran, ‚deutsche Kultur‘ aufrechtzuerhalten. Sie hielten an der Vorstellung der eigenen Überlegenheit im Mandatsgebiet fest und beabsichtigten auf dieser Grundlage, in die Position der Kolonialmacht zurückzukehren.
1
Der Begriff wurde in der Regel nur in der männlichen Form benutzt, bezog sich aber nicht ausschließlich auf Jungen, sondern auch auf Mädchen.
2
Walgenbach 2005a, S. 160 und siehe auch Kundrus 2003b, S. 174f.
3
Kundrus 2003b, S. 175.
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Im Rahmen dieser Bestrebungen maßen die deutschen Siedler/innen den Sozialisationsbedingungen der jungen Generation eine wichtige Bedeutung zu, 4 sollten doch die Heranwachsenden als zukünftige ‚Kulturträger/innen‘ fungieren.5 Als wichtige Voraussetzung erachteten sie in dieser Hinsicht die Abgrenzung gegenüber burischen Jugendlichen.6 Unterstützt durch verschiedene Kolonialakteurinnen und -akteure in Deutschland versuchten sie deshalb, die vor 1919 entstandenen deutschen Privatschulen als zentrale Instanzen ‚deutscher Kultur‘ zu erhalten. Gleichzeitig diskutierten sie gemeinsam über Schul- und/oder Ausbildungsaufenthalte für Siedlernachkommen in Deutschland, die ihnen neben dem Erwerb von Qualifikationen vor allem zur Aneignung ‚deutscher Kultur‘ und zur Vergewisserung der eigenen kulturellen Identität dienen sollten. Für diese Siedlernachkommen wurde ein finanzielles und soziales Unterstützungsnetzwerk geschaffen.7 Bislang liegen nur wenige Forschungen vor, die sich mit der heranwachsenden Generation der deutschen Siedlerbevölkerung im Mandatsgebiet Südwestafrika beschäftigen. Sowohl Daniel Joseph Walther als auch Martin Eberhardt konzentrieren sich auf die Entwicklung des Schul- und Bildungswesens und der außerschulischen Jugendarbeit, Venghiattis beleuchtet das Engagement des Frauenbundes für die deutschen Schulen.8 Walther geht zwar kurz auf die kontrovers geführte Debatte über Bildungsaufenthalte in Deutschland ein, skizziert aber lediglich einige Pro4
Auseinandersetzungen um die Sozialisationsbedingungen von Siedlernachkommen waren durchaus nicht neu, wurden aber in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg unter anderen politischen Voraussetzungen geführt. Vgl. u.a. Kundrus 2003b, S. 209f. Im Februar 1914 gründete sich in Marburg an der Lahn die Gesellschaft für die Erziehung Deutscher Auslandsjugend im Deutschen Reich mit Else von Blanckensee als Geschäftsleiterin, um die „Verbindung der Auslandsdeutschen mit der Heimat noch inniger zu pflegen“. BArch, R 8023/991, Bl. 172, Schreiben der Gesellschaft für die Erziehung Deutscher Auslandsjugend im Deutschen Reich, Februar 1914.
5
Gleichzeitig hatten Mitglieder der kolonialen Jugendbewegung in Deutschland die Aufgabe, wie in den vorherigen Kapiteln erörtert, eine ‚koloniale Kultur‘ weiterzuführen und sich als zukünftige ‚Kolonialpionierinnen und -pioniere‘ zu qualifizieren.
6
Eine Abgrenzung gegenüber Heranwachsenden afrikanischer Bevölkerungsgruppen wurde hingegen kaum thematisiert.
7
In diese Prozesse waren Akteurinnen und Akteure in Südwestafrika und Deutschland auf unterschiedliche Weise involviert. Während die Siedlerbevölkerung mit den Sozialisationsbedingungen der jungen Generation direkt konfrontiert und Eltern unmittelbar betroffen waren, leisteten die Kolonialrevisionistinnen und -revisionisten finanzielle und ideelle Unterstützung. Sie nutzten dies zugleich, um die Notwendigkeit ihres verbandlichen Weiterbestehens in der Öffentlichkeit zu legitimieren.
8
Vgl. Walther 2002, S. 130-152; Eberhardt 2007, S. 64-73 und S. 125-127; Venghiattis 2005, S. 348-357.
4. Deutsche Siedlernachkommen als zukünftige ‚Kulturträger‘ | 179
und-Kontra-Stimmen.9 Daran anknüpfend analysiert dieses Kapitel die Debatte über und die Voraussetzungen von Mobilität, war sie doch Ausdruck für die anhaltenden sozialen und kulturellen Verbindungen zwischen ehemaliger Kolonie und ehemaliger Metropole. In den Auseinandersetzungen um (geografische und soziale) Mobilität traten zum einen zwei Spannungsfelder zutage: Erstens kursierten vielschichtige, sich teilweise widersprechende Vorstellungen von ehemaliger Kolonie und Metropole. Zweitens stellte sich in der Diskussion über ‚deutsche Kultur‘ heraus, dass das Setzen eines ‚natürlichen Deutschtums‘ in grundsätzlichem Widerspruch stand zu der Forderung, sich dieses anzueignen. 10 Zum anderen kamen in den Diskussionen Klassen- und Geschlechtervorstellungen zum Tragen, die die Mobilitätsmöglichkeiten der Heranwachsenden beeinflussten. Die Analyse basiert in Anlehnung an Birthe Kundrus auf einem Kulturbegriff, der „als System von Selbst-/Fremd-Deutungen gedacht – den Konstruktions- und Inszenierungscharakter von Differenzen wie Rasse, Klasse und Geschlecht […] markier[t] und gleichzeitig – verstanden als ‚set of practices‘ – die strukturellen und sozialen Hervorbringungen dieser Vorstellungswelten […] berücksichtig[t].“ 11 Es geht also darum, die „Wissens-, Bedeutungs- und Sinnsysteme“ zu beleuchten,12 die sich in den Auseinandersetzungen um die Mobilität der Siedlernachkommen zeigten. Der erste Abschnitt skizziert die Umgestaltung des deutschen Schulwesens und das Entstehen außerschulischer Jugendarbeit mit Blick auf ihre Bedeutung für die Sozialisation der Siedlernachkommen. Im zweiten Abschnitt steht die Diskussion zur geforderten Mobilität der Siedlernachkommen im Mittelpunkt. Es werden die verschiedenen Begründungen herausgearbeitet, warum Siedler/innen ebenso wie Kolonialrevisionistinnen und -revisionisten diese Aufenthalte für notwendig hielten, sowie die Erwartungen, die sie an die Aufenthalte und an die Siedlernachkommen knüpften. Der dritte Abschnitt untersucht die Sichtweisen von Eltern, die zwar Argumente aus der Debatte aufgriffen, die für sie aber nicht allein handlungsleitend waren. Der abschließende vierte Abschnitt analysiert die Aushandlungsprozesse um die entstehende Infrastruktur der Mobilität. Die Anzahl der Siedlernachkommen, die zwischen 1919 und 1933 für Bildungsaufenthalte nach Deutschland kamen, lässt sich aufgrund fehlender Statistiken 9
Vgl. Walther 2002, S. 143f. Auch Venghiattis beschäftigt sich mit den Bildungsaufenthalten der Siedlernachkommen, konzentriert sich aber auf die Rolle der Frauenbundes. Vgl. Venghiattis 2005, S. 369-374.
10 Für die Zeit vor 1919 hat Birthe Kundrus die Vorstellungen deutscher Kolonialakteurinnen und -akteure über „das kulturelle Arrangement in der kolonialen Fremde“ analysiert und den „grundsätzlichen Widerspruch[…] zwischen einem ‚natürlichen‘ Deutschtum und seiner angreifbaren Repräsentation“ erörtert. Kundrus 2003b, S. 174 und S. 176. 11 Ebd., S. 17. 12 Ebd.
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nicht komplett beziffern. Dennoch sind auf der Basis unterschiedlicher Quellen folgende Angaben möglich: Zwischen 1919 und 1922 sank die Zahl deutscher Schüler/innen an Privat- und Regierungsschulen in Südwestafrika fast um die Hälfte von 1542 auf 803.13 Es ist davon auszugehen, dass die Mehrheit nach Deutschland ging. Unter ihnen waren Kinder von ausgewiesenen Eltern, von freiwilligen Remigrantinnen und Remigranten und solche, deren Eltern weiterhin in Südwestafrika lebten. Die jeweilige Gruppengröße ist jedoch unklar.14 Laut einem Bericht von 1926 nutzten Eltern insbesondere die Inflationsjahre 1922/23, um für ihre Kinder Bildungsaufenthalte in Deutschland zu organisieren: „Eltern, die während der Inflation ihre Kinder mit Leichtigkeit heimischen Erziehungsanstalten übergeben konnten, sind nun durch die Verhältnisse gezwungen, sie nach Südwestafrika zurückzunehmen oder dort zu lassen.“15 Doch auch nach 1926 fanden grenzüberschreitende Schulwechsel statt, die ebenso die Mobilität binnendeutscher Heranwachsender nach Südwestafrika einschlossen, wie Berichte einzelner Schulen zeigen. Zwischen Januar 1927 und März 1928 gingen aus Lüderitzbucht 20 Schüler/innen nach Deutschland, 18 kamen nach Südwestafrika; dies entsprach jeweils 13 Prozent und 11 Prozent der Gesamtzahl der jeweiligen Schulen.16 Insgesamt 26 Schüler/innen verließen im Zeitraum 1929-1930 die Oberrealschule in Windhoek nach Deutschland und sie nahm von dort 34 auf, sodass der Wechsel mit Schulen in Deutschland 25 Prozent betrug.17 Um 1933, also nach den wirtschaftlichen Krisenjahren, hielt sich schließlich die Hälfte der vormals in Südwestafrika wohnhaften Jugendlichen entweder in Deutschland oder in vermehrter Anzahl auch in der Südafrikanischen
13 Vgl. Walther 2002, S. 151. 14 In seinen Erinnerungen berichtet der Missionar Brockmann, dass auf dem Schiff, mit dem seine Familie im Mai 1921 nach Deutschland reiste, 115 Kinder und Jugendliche unter den etwa 400 Passagierinnen und Passagieren waren. Einige von ihnen kamen aus der Südafrikanischen Union. Vgl. Brockmann 1992, S. 242. Für das Manuskript der Veröffentlichung siehe NAN, A.497. Wie viele dieser Heranwachsenden längere Bildungsaufenthalte in Deutschland absolvierten, ist nicht bekannt. 15 Lotz: Die deutschen Schulen in Südwestafrika, in: Frauenbund der DKG (Hg.), Koloniale Frauenarbeit, Berlin 1926, S. 14-18, S. 14f. Vgl. auch Vorstandssitzung des Frauenbundes der DKG in Stuttgart am 31. Juni 1928 (technische Hochschule), in: Mitteilungen des Frauenbundes der DKG, 1928, Nr. 7, S. 54-56, S. 55. 16 Vgl. BArch, R 8023/960b, Bl. 144, Jahresbericht des Schulleiters über das Schuljahr 1927. 17 Vgl. E. Wallberg: Aufbau und Ausbau der Deutschen Oberrealschule und des Reformrealgymnasiums in Windhuk, S.W.A., in: Mitteilungen des Frauenbundes der DKG, 1930, Nr. 6, S. 67-68, S. 68.
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Union auf.18 Für das Jahr 1935 geht Rolf Kock von rund 600 in Deutschland lebenden Siedlernachkommen aus.19 Namentlich erfassen konnte ich für diese Studie rund 150 Siedlernachkommen, die zwischen 1919 und 1933 Bildungsaufenthalte in Deutschland absolvierten. Allerdings ist nach obigen Angaben davon auszugehen, dass es sich um insgesamt mehrere Hundert gehandelt hat. Sie wurden mehrheitlich zwischen 1905 und 1920 geboren, manche auch wenige Jahre früher oder später. Das Alter, in dem sie nach Deutschland kamen, variierte stark und lag zwischen sechs und bis zu 25 Jahren bei Studierenden.
4.1 SCHULWESEN UND JUGENDARBEIT ALS INSTANZEN ‚DEUTSCHER KULTUR‘ In ihrem Streben nach kultureller Selbstbehauptung erklärten Angehörige der Siedlerbevölkerung den Erhalt der deutschen Schulen zu einem zentralen Ziel. Zudem forderten sie gegenüber der südafrikanischen Mandatsverwaltung politische Teilhabe.20 Die Schulen stellten für sie einen Ort dar, an dem die junge Generation nach eigenen Vorstellungen geformt und indoktriniert werden sollte, um so die Aufrechterhaltung ‚deutscher Kultur‘ zu gewährleisten. Getragen wurde die Debatte um die politischen Rahmenbedingungen des Bildungsbereichs bzw. die Gestaltung des deutschen Schulwesens von Mitgliedern der Schulvereine, Lehrkräften, Angehörigen der ehemaligen Kolonialverwaltung und weiteren Funktionstragenden. Sie versuchten, dessen Kontrolle durch die deutsche Siedlerbevölkerung weiterhin abzusichern und wurden dabei von Kolonialakteurinnen und -akteuren aus Deutschland unterstützt. Allerdings entwickelten sie in diesem Prozess unterschiedliche Strategien, die einmal mehr auf die Heterogenität der deutschen Siedlerbevölkerung verweisen. Während einige auf Kooperation mit der Mandatsverwaltung setzten, ließen sich andere nur aufgrund von Ausweglosigkeit darauf ein, ohne ihr generelles Misstrauen aufzugeben. Die folgenden Ausführungen basieren hauptsächlich auf der zentralen Studie von Daniel Joseph Walther. Er hat die Auseinandersetzungen zwischen Angehörigen der deutschen Siedlerbevölkerung und der Mandatsregierung um das Schulund Bildungswesen in Südwestafrika sowie dessen Entwicklung erörtert. 21 Der Fokus dieses Abschnitts liegt auf den divergierenden Einstellungen, die die deutschen 18 Vgl. NAN, A.221/107-82/62, Erläuterungen für den Zweck der Jugendhilfe. Das Zahlenverhältnis von Siedlernachkommen in Deutschland und in der Südafrikanischen Union wird nicht erwähnt. 19 Vgl. Kock 2002 (1. Aufl. 1976), S. 30. 20 Vgl. dazu Abschnitt 1.3. 21 Vgl. Walther 2002, S. 130-152.
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Akteurinnen und Akteure zu dieser Entwicklung hatten und die sich auch in der Diskussion um die Deutschlandaufenthalte von Siedlernachkommen (als Teil der schulpolitischen Debatte insgesamt) entfalten sollten. Zudem wird die Bedeutung der außerschulischen Jugendarbeit skizziert. Ausgangspunkt der schulpolitischen Verhandlungen waren die bis März 1913 entstandenen beiden Realschulen in Windhoek und Swakopmund, 17 Volksschulen und eine allen Konfessionen zugängliche katholische höhere Mädchenschule in Windhoek.22 Um eine Überführung dieser Privatschulen in Regierungsschulen durch die Mandatsverwaltung zu verhindern, schlossen sich am 14. Januar 1920 alle bis dato bestehenden lokalen Schulvereine, die seit 1919 Träger der bestehenden Schulen waren, zum Landesverband der deutschen Schulvereine zusammen. Er plädierte für Deutsch als Unterrichtssprache in allen Klassen, für die prioritäre Einstellung deutscher Lehrer/innen und in älteren Klassen für die Integration der Fächer Englisch und Niederländisch in das Curriculum. Dies sollte den Schülerinnen und Schülern eine weiterführende Schulausbildung in Deutschland, aber auch einen zukünftigen Weg in der Südafrikanischen Union ermöglichen. 23 Dazu urteilt Walther zutreffend: „[T]hey wanted the advantages of both the German and the South African educational systems.“24 Demzufolge war die Frage der Mobilität, die über Verbindungen zwischen Südwestafrika und Deutschland hinausging, von Beginn an Teil der schulpolitischen Überlegungen. In den fast zwei Jahre andauernden Verhandlungen war letztlich die Finanzierungsfrage ausschlaggebend für den Kompromiss, den Administrator Hofmeyr und der Landesverband der deutschen Schulvereine im September 1921 vereinbarten. Demnach konnten die lokalen Schulvereine entscheiden, ihre Schule entweder als deutsche Abteilung in eine Regierungsschule zu übergeben, die von der Mandatsregierung komplett finanziert wurde, oder sie als Privatschule selbstständig weiterzuführen, was eine Mitfinanzierung durch die Elternschaft bedeutete.25 Daraufhin blieben sieben Privatschulen erhalten: die beiden Realschulen in Windhoek und Swakopmund, vier Volkschulen in Karibib, Lüderitzbucht, Swakopmund und Tsumeb sowie die katholische höhere Mädchenschule in Windhoek. Dies waren somit Orte, an denen es finanzkräftige Gruppen von Deutschen gab. Die restlichen 13 Volksschulen übernahm die Mandatsverwaltung. 26 Die Entscheidung für eine
22 Vgl. Kundrus 2003b, S. 207. Die Unterstützung der Schulen hatte der Frauenbund der DKG nach seiner Gründung im Jahr 1907 zu einem wichtigen Arbeitsfeld erklärt. 23 Vgl. Bertelsmann 1979, S. 18. 24 Walther 2002, S. 132. 25 Vgl. ebd., S. 135. 26 Diese existierten in Gobabis, Grootfontein, Keetmanshoop, Klein-Windhoek, Okahandja, Windhoek, Aus, Gibeon, Maltahöhe, Otjiwarongo, Outjo, Usakos und Omaruru. Vgl.
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Privatschule erwies sich für die lokalen Träger dennoch als Bürde, konnten sie doch die Kosten bei weitem nicht decken. So blieb die Finanzierung der Privatschulen, die letztlich nur durch externe Unterstützung gewährleistet werden konnte, über Jahre hinweg ein Dauerthema. Einen Teil der Kosten übernahm den Vereinbarungen im Londoner Abkommen zufolge die südafrikanische Unionsregierung. Der weitaus größere Teil kam aus Deutschland. Noch im Jahr 1929 übernahm das Auswärtige Amt etwa 86 Prozent des Etats der deutschen Schulen, was zeigt, dass die deutsche Siedlerbevölkerung auch von staatlicher Seite weiterhin finanzielle Hilfen erhielt und somit auf dieser Ebene ebenfalls Verbindungen bestehen blieben. 27 Zugleich stellten Frauenbund, DKG und wiederholt auch koloniale Jugendgruppen ihren Möglichkeiten entsprechend Spendengelder und andere materielle Unterstützung bereit.28 Mit der Aufteilung in Privatschulen und Regierungsschulen mit deutschen Abteilungen waren die Auseinandersetzungen um den Schultyp nicht beigelegt. Schule sollte einen zentralen Beitrag zur Erziehung der jungen Generation zu produktiven und loyalen deutschen Bürgerinnen und Bürgern leisten, 29 sodass vor allem die Regierungsschulen kritisch beäugt und sehr unterschiedlich bewertet wurden. Im Jahr 1924 zeigte sich Karl Frey, deutscher Regierungsschulinspektor für Südwestafrika und früherer Lehrer an der Realschule in Windhoek, mit der Entwicklung der Regierungsschulen insgesamt sehr zufrieden. Ebenso bewertete er die Möglichkeit zum Erwerb des südafrikanischen matriculation exam für deutsche Schüler/innen positiv, eröffnete es ihnen doch weitere Berufsmöglichkeiten und den Zugang zur Universität. Daneben verteidigte die an einer Regierungsschule tätige Margarethe von Eckenbrecher sich und ihr Kollegium gegenüber Vorwürfen aus Deutschland, die ihnen Verrat vorwarfen und die deutschen Abteilungen als ‚verburt‘ bewerteten. Sie betonte, ihre Schüler/innen im Sinne des ‚Deutschtums‘ zu erziehen. 30 Dennoch blieben Walther zufolge viele deutsche Siedler/innen und ihre kolonialrevisionistischen Unterstützer/innen in Deutschland, auf die er vor allem rekurriert, misstrauebd. Bis 1928 waren zudem drei weitere Privatschulen in Charlottental, Kolmanskuppe und Elisabethbucht entstanden. Vgl. ebd., S. 139. 27 Vgl. Eberhardt 2007, S. 127. Im Jahr 1929 betrugen die Zuschüsse 125.500 Reichsmark für die deutschen Schulvereine und den Landesverband sowie zusätzlich 10.000 Reichsmark für den Schulverein Windhoek und 18.000 Reichsmark für den Schulverein Swakopmund. Darüber hinaus unterstützte das Reichsfinanzministerium deutschen Landerwerb und den Rückkauf von Ländereien in den ehemaligen Kolonien. Vgl. van Laak 2005, S. 112. 28 Zur Finanzierung der Privatschulen und zur Rolle der südafrikanischen Unionsregierung vgl. ausführlicher Walther 2002, S. 141f. 29 Vgl. ebd., S. 131. 30 Vgl. ebd., S. 135-137.
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isch gegenüber der südafrikanischen Schulpolitik. Der ehemalige Gouverneur in Togo, Edmund Brückner, witterte dahinter Versuche, die deutschen Schulkinder zu assimilieren. Das darin im Umkehrschluss aufscheinende Bestreben nach kultureller Distinktion dominierte auch bei Theodor Seitz, Präsident der DKG, und bei Vertretern des Auswärtigen Amtes. Sie waren davon überzeugt, dass allein die Privatschulen zukünftig ‚deutsche Kultur‘ aufrechterhalten könnten.31 Auch der Vorsitzende des Deutschen Bundes in Südwestafrika, Brenner, teilte diese Meinung, versuchte aber gleichzeitig, die Finanzierungsmöglichkeiten der Privatschulen realistisch einzuschätzen. Mit dem Vermerk ‚vertraulich‘ schrieb er 1926 an die DKG: „Wir haben gerade aus Rücksicht auf die wirtschaftlich schwächsten deutschen Kreise unsere Volkschule schweren Herzens dem Gouvernement überlassen, weil wir diesen Kreisen die Lasten nicht aufladen konnten, die die Erhaltung der Volksschule als deutsche Privatschule erfordert hätte.“32
Umso erschütterter zeigte er sich darüber, dass auch wohlhabende Siedler/innen ihre Kinder auf Regierungsschulen schickten: „Wir haben geglaubt, dass die wirtschaftlich stärkeren Kreise es als selbstverständliche Ehrenpflicht ansehen würden, um der deutschen Sache willen ihre Kinder in die deutschen Privatschulen zu schicken. Und nun müssen wir sehen, dass es zum Teil die wirtschaftlich stärksten unter den Deutschen sind, die ihre Kinder in die Regierungsschulen schicken. Und wir müssen es erleben, dass man den Privatschulen Abbruch tut, indem man erklärt, die Regierungsschule, eine Volksschule, sei eine High School! So wird von Deutschen hier im Lande selbst gegen unsere Schulen gearbeitet!“33
Brenners Schreiben offenbart, dass sich die Siedlerbevölkerung nicht nur durch Vermögens- und Klassenunterschiede, sondern auch innerhalb des finanzstarken Milieus ausdifferenzierte. Zudem zeigt es, dass Eltern aus Eigeninteresse Entscheidungen trafen und sich nicht automatisch der ‚deutschen Sache‘ verpflichtet sahen, wie es die Genannten, die sich als Repräsentanten der deutschen Siedlerbevölkerung betrachteten, von ihnen erwarteten. Allerdings dürften Personen wie Brückner, Seitz und Brenner zumindest die Zahlenverhältnisse erfreut haben. Nicht für alle Jahre liegen Zahlen vor, aber in den Jahren 1919, 1922, 1928 und 1929 überwog die Anzahl der in Privatschulen unter31 Vgl. ebd., S. 137-139. 32 BArch, R 8023/960a, Bl. 88, Deutscher Bund S.W.A., Protokoll der Sitzung der Schulabteilung des Deutschen Bundes am 4.4.1926, mit handschriftlichem Vermerk „vertraulich Kolonialgesellschaft“. 33 Ebd.
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richteten Schüler/innen deutlich. Dies änderte sich erst ab 1930, als nur noch 731 deutsche Kinder und Jugendliche die Privatschulen besuchten, während in den Regierungsschulen 895 eingeschrieben waren. Diese in den Folgejahren anhaltende Umkehrung hing mit mehreren Faktoren zusammen. Im Jahr 1930 wurde die Realschule in Swakopmund aufgrund finanzieller Probleme der Mandatsverwaltung überlassen, 1931 unternahm die Schule in Tsumeb den gleichen Schritt. Überdies mussten einige Schulen in Diamantenregionen schließen, was manche Eltern dadurch zu kompensieren versuchten, ihre Kinder in Farmschulen mit deutschem Lehrpersonal erziehen und unterrichten zu lassen.34 In seiner abschließenden Bewertung der schulpolitischen Auseinandersetzungen betont Walther das kontinuierliche Entgegenkommen der Mandatsregierung gegenüber der deutschen Siedlerbevölkerung. Erstere habe u.a. ihr Einverständnis zum Erhalt der Privatschulen erklärt und diese sogar finanziell unterstützt sowie die restlichen Schulen als deutsche Abteilungen in Regierungsschulen übernommen. 35 Auch Eberhardt argumentiert, dass die Mandatsregierung über viele deutsche Schüler/innen letztendlich keine direkte Kontrolle hatte.36 Zu einer Akzeptanz führte diese Kompromissbereitschaft bei einem Großteil der an der Debatte beteiligten Siedler/innen dennoch nicht. Walther unterscheidet zwischen Personen mit pragmatischer Einstellung und solchen, die radikal nationalistisch dachten. Letztere beschreibt er wie folgt: „Their intense dislike of the South Africans, their strong attachment to Deutschtum, and their innate paranoia caused them to see ulterior motives and subversion in all the administration’s activities and offers.“37 Diese Haltung habe letztlich dazu geführt, so Walther weiter, dass ihre Vorstellungen und Wahrnehmungen der Realität den Blick für die tatsächlichen Gegebenheiten überlagerten. Im Unterschied zu dieser im Diskurs dominierenden Position, die vor allem kolonialrevisionistische Stimmen aus Deutschland untermauerten, setzten die pragmatisch Denkenden, unter ihnen der erwähnte Karl Frey, darauf, ihre ebenfalls auf die Erhaltung ‚deutscher Kultur‘ gerichteten Ziele durch Kooperation mit der südafrikanischen Mandatsverwaltung zu erreichen.38 Über den Erhalt einer deutschen Schulbildung hinaus setzen sich Siedler/innen für den Aufbau beruflicher Fortbildungsinstitutionen ein. Für Jungen entstand mithilfe des in Deutschland ansässigen Studentencorps Kösener S.C. und lokaler Firmen am 14. März 1931 in Windhoek eine deutsche Werkschule mit den Bereichen 34 Für den Absatz vgl. Walther 2002, S. 150f. Für einen zeitgenössischen Bericht zum deutschen Schulwesen in Südwestafrika siehe u.a. Körner: Vom deutschen Schulwesen in Südwest, in: Frauenbund der DKG (Hg.), Koloniale Frauenarbeit, Berlin 1930, S. 13-16. 35 Vgl. Walther 2002, S. 151. 36 Vgl. Eberhardt 2007, S. 73. 37 Walther 2002, S. 152. 38 Vgl. ebd.
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Papier-, Holz- und Eisenverarbeitung. Solch ein Angebot hatte es bis dato nur in der Regierungsschule in Windhoek gegeben. Etwa zwei Jahre später, am 1. April 1933, eröffnete ebenfalls in Windhoek die bis 1943 bestehende Hedwig-Heyl-Haushaltungsschule, die auf Initiative von Lotte Ebers, Ehefrau des deutschen Pfarrers in Windhoek, und diverser Organisationen in Deutschland entstanden war. Dort konnten 14- bis 16-jährige Mädchen eine einjährige theoretische und praktische Ausbildung im Haushaltswesen absolvieren. 39 Somit waren in Südwestafrika berufliche Weiterqualifizierungsmöglichkeiten – mit Ausnahme der Mitarbeit in elterlichen oder verwandtschaftlichen Betrieben – bis Anfang der 1930er Jahre kaum und auch danach nur in begrenztem Maße vorhanden. Demgegenüber bot die angrenzende Südafrikanische Union weitaus mehr Optionen, deren Inanspruchnahme, wie der nächste Abschnitt zeigen wird, aber nur Teile der Siedlerbevölkerung befürworteten. Die kulturelle Einflussnahme auf die junge Generation erschöpfte sich nicht in der Frage der Schul- und Berufsbildung. Auch gemeinsame Freizeitangebote für deutsche Jugendliche gehörten dazu. Lokale Turnvereine waren ein Ort, an dem sie sich in einem entsprechenden Umfeld treffen konnten. Darüber hinaus entstanden im Jahr 1926 in Windhoek unter Leitung des evangelischen Pastors Schünemann und in Swakopmund unter Leitung des Lehrers Hermann Hoffmann erste Pfadfindergruppen für Jungen sowie in Swakopmund als Pendant ein Maidenbund für Mädchen.40 Spätere Planungen für die Gründung eines landesweiten Pfadfinderbunds verliefen konfliktreich. Schünemann wollte seinen kirchlichen Pfadfinderbund weiterführen, hingegen plädierte Brenner, Vorsitzender des Deutschen Bundes, für einen deutschnational ausgerichteten Bund und setzte sich damit am Ende durch.41 An Ostern 1928 trafen sich bereits bestehende Gruppen in Omaruru und gründeten den Deutschen Pfadfinderbund für Südwestafrika, dem sich die einzelnen Gruppen anschlossen und dessen Leitung der ehemalige Hauptmann Erich von Schauroth übernahm. Mit dieser landesweiten Jugendorganisation beabsichtigte Brenner, die „Erziehung der deutschen Jugendlichen im Sinne deutschnationaler und militärischer Wertvorstellungen und Traditionen“ zu garantieren, so Martin Eberhardt, und einen Kontakt mit südafrikanischen Gleichaltrigen bzw. ihren Jugendorganisationen weitgehend zu verhindern. 42 Um das in den Richtlinien für Pfadfindergruppen formulierte Ziel der „Ausbildung des Herzens und Charakters“ umzusetzen, sollten die Gruppen folgende fünf Aspekte berücksichtigen: „Erweckung aller deutschen Volksideale“, „Heimatliebe“, „Pflege der Musik“, „Erziehung zu Gehorsam, Disziplin, Ordnung“ und „Erziehung zu Selbständigkeit, Ge39 Für den Absatz vgl. ebd., S. 145f. 40 Vgl. o.V.: Zeittafel 1987, S. 10-12, S. 10. 41 Vgl. Bertelsmann 1979, S. 163. 42 Eberhardt 2007, S. 126f.
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wandheit [sic], Frische, Entschluss“.43 Als weiteres Ziel wurde die „Ausbildung des Körpers“ erwähnt, die es vor allem durch Geländeübungen zu erreichen galt.44 Demnach verfolgten sie ähnliche Ziele wie die Kolonialpfadfinder in Deutschland, mit denen sie Kontakt hatten und sich persönlich austauschten.45 Zwischen 1926 und 1939 gab es in Südwestafrika an zwölf verschiedenen Orten deutsche Pfadfindergruppen. In den schulpolitischen Auseinandersetzungen dominierten die Angehörigen der Siedlerbevölkerung, die eine möglichst weitgehende Autonomie der deutschen Schulen forderten und dafür von Kolonialrevisionistinnen und -revisionisten aus Deutschland unterstützt wurden. Aus finanziellen Gründen mussten sie sich notgedrungen auf Kompromisse mit der Mandatsverwaltung einlassen, ihre innere Einstellung, eine kulturelle Abschottung der heranwachsenden Generation zu erreichen, veränderte dies kaum. Dies zeigte sich auch an ihrem Unverständnis gegenüber Eltern, die ihre Kinder trotz finanzieller Möglichkeiten nicht in eine deutsche Privatschule schickten. Die weiterführenden Berufsmöglichkeiten, die sich aus den veränderten Schulbedingungen für die Schüler/innen ergaben, hob nur ein kleiner Teil der deutschen Siedlerbevölkerung hervor. Außerhalb des Schulalltags wurde versucht, die Sozialisation der Kinder und Jugendlichen im Rahmen von Vereinen und neu gegründeten Pfadfindergruppen zu kontrollieren und nach ‚deutschen Wertvorstellungen‘ zu beeinflussen. Dies beschränkte sich allerdings auf die Orte, an denen es entsprechende Strukturen gab. Die außerschulische Jugendarbeit war somit eine weitere Maßnahme kultureller Distinktionsbemühungen. Ausgehend von diesen Rahmenbedingungen sollten zudem Bildungsaufenthalte in Deutschland den angestrebten Erhalt ‚deutscher Kultur‘ gewährleisten.
43 NAN, A.221-173/91-9, Allgemeine Richtlinien für die Pfadfindergruppen, Windhoek, Juni 1927. 44 Ebd. 45 Walter Wrede vom Bund Deutscher Kolonialpfadfinder in Braunschweig lebte vorübergehend in Südwestafrika und konnte dort die Swakopmunder Pfadfinderschaft zum Anschluss an den Bund bewegen. Im Kolonialspäher hieß es dazu: „Wir freuen uns endlich durch diesen Schritt engere Fühlungnahme zu unseren deutschen Brüdern in Afrika zu erhalten.“ O.V.: Swakopmunder Pfadfinderschaft, in: Kolonialspäher, 4. Jg., 1931, Nr. 7/8, S. 92-93, S. 92. Siehe auch Kurt Wellenberg: Deutsch-Afrikanische Pfadfinder und ihr Land, in: Jambo, Beilage DKJ, 7. Jg., 1930, Nr. 8, S. 30-31.
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4.2 MOBILITÄT VORBEREITEN: ANGST VOR KULTURELLER ‚DEGENERATION‘ In der Debatte über Deutschlandaufenthalte für Siedlernachkommen stand ihre (kulturelle) Entwicklung und damit auch die des imaginierten deutschen Siedlerkollektivs auf dem Prüfstand. Seit Beginn der Kolonialherrschaft hatten Diskussionen darüber stattgefunden, ob der koloniale Überseeraum die Identität der Kolonisierenden verändere und ob sie als Kollektiv fähig seien, „ihren rassen- und nationalspezifischen Sozialtypus und Habitus“, so Birthe Kundrus, an die nachfolgenden Generationen weiterzugeben.46 Zeitgleich zum Übergang von der Kolonie in das Mandatsgebiet Südwestafrika wuchsen deutsche Siedlernachkommen heran, die überwiegend in der Kolonie geboren worden waren, sodass die Frage nach der Entwicklung ihrer (kulturellen) Identität unter den veränderten politischen Rahmenbedingungen umso brisanter wurde. Der Erhalt ‚deutscher Kultur‘ ließ sich für viele Akteurinnen und Akteure, wie die Annahme eines ‚natürlichen Deutschtums‘ nahelegt, nicht allein auf Abstammung begründen. Vielmehr sollten die Deutschlandaufenthalte dazu einen wichtigen Beitrag leisten. Vor diesem Hintergrund beleuchtet der Abschnitt, auf welche Faktoren sich Siedler/innen sowie Kolonialakteurinnen und -akteure aus Deutschland in ihren Vorstellungen über die Siedlernachkommen bezogen, um entweder die Notwendigkeit der Aufenthalte zu begründen, diese in Frage zu stellen oder sogar abzulehnen. Des Weiteren werden die Erwartungen analysiert, die die Diskutierenden mit den Aufenthalten verbanden und die sie an die Siedlernachkommen richteten. Dabei geht es um folgende Fragen: Welche Bedeutungskonstruktionen von ehemaliger Kolonie und ehemaliger Metropole traten zutage und welche Rolle spielten Klasse und Geschlecht bei der Betrachtung der Siedlernachkommen? Sozialisationsbedingungen auf dem Prüfstand In den Augen der Diskutierenden waren die Siedlernachkommen in ihrem Sozialisationsprozess vor allem zwei Gefahren ausgesetzt: dem Klima und der sogenannten ‚Verburung‘. Beides identifizierten sie als Bedrohung für den zukünftigen Erhalt ‚deutscher Kultur‘. Mit dem Komplex Klima hatten sich hauptsächlich medizinische und geografische Fachkräfte bereits seit der kolonialen Inbesitznahme beschäftigt, geleitet von der „Idee, dass Menschen individuell, aber auch als nationales oder rassisches Kollektiv, angepaßt an die klimatischen Bedingungen eines geographischen Raumes lebten.“47 Ihre Einschätzungen, inwieweit sich deutsche Kolo-
46 Kundrus 2003b, S. 165. 47 Ebd., S. 164.
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nisatoren und Kolonisatorinnen ohne kulturelle ‚Degeneration‘ akklimatisieren könnten, fielen letztlich nicht eindeutig aus. Sie empfahlen zur Regeneration regelmäßige Aufenthalte in Deutschland oder Europa, insbesondere für die Kinder. 48 Diese Vorstellung vom Einfluss des Klimas auf die persönliche Entwicklung vertraten nach 1919 auch Siedler/innen mit Blick auf die in Südwestafrika heranwachsende Generation. Bereits „in den hauptsächlichsten Entwicklungsjahren“ sollten Siedlernachkommen nach Deutschland geschickt werden, so plädierte 1920 der Vorstand des Landesverbandes der deutschen Schulvereine, „weil ja bekanntlich das hiesige Klima auf die Dauer recht erhebliche Einwirkungen auf die körperliche und geistige Tüchtigkeit hat. Es wirkt im Laufe der Zeit recht erschlaffend […]. Je früher die Kinder nach Deutschland kommen, desto besser für die Erhaltung des Deutschtums und auch für die Ausbildung der Kinder selbst.“49
Seine Bestätigung der klimatisch bedingten geistigen und körperlichen Schwächung bedeutete im Umkehrschluss eine negative (kulturelle) Entwicklungsprognose für alle immobilen Siedlernachkommen und in dieser Logik weitergedacht auch für die (kulturelle) Zukunft der deutschen Siedlerbevölkerung insgesamt. Ebenso wies Rechnungsrat a.D. Richter einige Jahre später auf die Folgen des „heissen Klimas“ hin, in dem „sich ein junger Mensch infolge der allgemeinen Erschlaffung […] niemals so tatkraeftig und geistig rege wie in der Heimat entwickeln [könne, S.H.].“50 Während diese beiden Statements Südwestafrika per se als entwicklungshemmenden Raum für Siedlernachkommen beschrieben, insbesondere im Vergleich zu Deutschland, nahmen andere regionale Differenzierungen vor. In einem Vergleich der beiden zentralen Schulstandorte erhielt Swakopmund als Küstenort den Vorzug gegenüber Windhoek. Der Vorsitzende des Deutschen Bundes, Albert Voigts, berief sich auf die Erfahrung, „dass Farmerkinder sich unten an der See wohler, [sic] als in Windhuk fühlen und frischer bei der Arbeit sind.“51 Der Direktor der Deutschen Schule in Swakopmund konstatierte 1927, viele Farmerfamilien würden ihre Kinder nach Deutschland schicken, da der Besuch höherer Klassen in Swakopmund noch nicht möglich war und „ihnen das Windhuker Klima zu ungüns-
48 Vgl. ausführlicher ebd., S. 162-173. Zur Akklimatisationsfrage siehe auch Grosse 2000, S. 53-95, der sich insbesondere mit den Positionen Rudolf Virchows auseinandersetzt. 49 BArch, R 8023/957, Bl. 235f., Schreiben des Vorstandes des Landesverbandes der deutschen Schulvereine in S.W.A. an den Präsidenten der DKG, 20.10.1920. 50 BArch, R 8023/960a, Bl. 60, Abschrift eines Schreibens von H. Richter an den Geheimen Oberregierungsrat Hintrager in Berlin, 18.10.1926. 51 BArch, R 8023/960b, Bl. 197, Schreiben von Voigts an Seitz, 9.8.1928.
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tig erscheint.“52 Damit relativierten sie die klimatisch begründeten Negativprognosen in begrenztem Umfang. Neben den Einflüssen durch das Klima beklagten die Diskutierenden die sich entwickelnde ‚Verburung‘ oder ‚Verengländerung‘, wie Oberstabsarzt a.D. der Schutztruppe für Deutsch-Ostafrika Philipps es 1921 nannte. Er betonte, dass davor die „tapferen Südwester […] mit ungeheuern Opfern ihre Kinder […] zu schützen“ versuchten, und erklärte den Erhalt der deutschen Schulen zur Notwendigkeit. 53 Die damit benannte Angst vor kultureller ‚Degeneration‘ war ebenfalls nicht neu, allerdings stand nunmehr das Abgrenzen gegenüber Burinnen und Buren und weniger gegenüber afrikanischen Bevölkerungsgruppen im Vordergrund. Während der Kolonialherrschaft war der Blick auf die Figur des ‚verkafferten Kolonisators‘ gerichtet gewesen, die den „drohenden Verlust einer Weißen Identität“ symbolisierte und eine „‚kulturell verwahrloste[…]‘ Lebensführung“ und sexuelle Beziehungen mit afrikanischen Frauen implizierte.54 Auch bei Kindern und Jugendlichen wurde befürchtet, dass sie Konventionen missachteten. Dies galt es durch die Distanzierung gegenüber der kolonisierten Bevölkerung in öffentlichen und auch privaten Räumen zu verhindern.55 Dass Siedler/innen nach 1919 an solchen Vorstellungen festhielten, haben bereits die Auseinandersetzungen um die Entwicklung des Schulwesens und die Bedeutung der außerschulischen Jugendarbeit gezeigt. Vor allem die deutschen Abteilungen in den Regierungsschulen standen im Verdacht, die geforderte Segregation entlang von ‚Rasse‘ und ‚Kultur‘ nicht einhalten zu können. Dort ließe sich trotz der Betreuung durch deutsche Lehrer, so hieß es 1927 aus Lüderitzbucht, „die burische Einwirkung nicht vermeiden, und […] [es, S.H.] zeigt [sich, S.H.], dass das Zusammensein mit den Burenkindern ausserhalb des Unterrichts, beim Spiel und in den Pensionsräumen die Angleichung unserer Kinder an das Burentum mit sich bringt, weil unsere Kinder im allgemeinen leichter fassen und lernen und der Deutsche sich so leicht fremdem Volkstum angleicht.“56
In diesem Statement fallen kulturelle Grenzziehungen und -überschreitungen bemerkenswerterweise zusammen. Die konstatierte bessere Lernfähigkeit deutscher Schüler/innen markierte sie als höherwertig gegenüber burischen Heranwachsenden. Gleichzeitig führte ihre angenommene Höherwertigkeit zu einer unvermeidba52 BArch, R 8023/960b, Bl. 306, Schreiben des Direktors der Deutschen Schule in Swakopmund, Wunderlich, an Reichsminister Külz, 23.3.1927. 53 BArch, R 8023/991, Bl. 113, Flugblatt von Philipps: Jungafrika im Weilburg, Juni 1921. 54 Walgenbach 2005a, S. 193. 55 Vgl. ebd., S. 205-208. 56 BArch, R 8023/960b, Bl. 106, Abschrift eines kurzen Berichts über die Lüderitzbuchter Schule im Jahr 1927, 3.1.1927.
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ren Assimilation an das ‚Burentum‘, konnte doch eine Segregation der Kinder und Jugendlichen außerhalb des Unterrichts nicht gewährleistet werden. Des Weiteren lassen diese Ausführungen vermuten, dass ein ‚natürliches Deutschtum‘, das Siedler/innen während der Kolonialherrschaft propagiert und zugleich infrage gestellt hatten,57 in Bezug auf die nunmehr unter Mandatsherrschaft aufwachsenden Siedlernachkommen mehr in den Hintergrund trat. Indem sie betonten, dass ‚Deutschtum‘ in Deutschland erlernt werden müsse, konnten sie die dortigen Aufenthalte der Heranwachsenden legitimieren. Auch Rechnungsrat a.D. Richter aus Windhoek sorgte sich um die Entwicklung der Siedlernachkommen in den Regierungsschulen, indem er ein Jahr zuvor festgestellt hatte, „dass in allen diesen Orten, wo ‚gemixt‘ ist, die Erziehung unserer Kinder sehr gelitten hat“, obwohl die deutschen Lehrer „wohl alle nach bestem Können ihre Pflicht tun.“58 Allerdings betrachtete er das Problem vor allem als ein klassenspezifisches: „Es ist weiter eine alte Tatsache, dass unsere Kinder der Regierungsschulen, die ueberwiegend jetzt meist einfacher Herkunft sind, leicht zum burisch sprechen neigen, wenn sie in den Pensionaten mit den Burenkindern zusammen sind, und ein frueherer deutscher Keetmannhooper [sic] Lehrer hat vor einiger Zeit bitter sein Leid geklagt, dass seine cirka 30 deutschen Schulkinder ausserhalb der Schulstunden meist nur noch burisch sprechen und das Deutsche ganz vernachlaessigen.“59
Demnach identifizierte Richter vor allem bei Siedlernachkommen der unteren Schichten einen kulturellen ‚Degenerationsprozess‘, für den er die gemeinsame Unterbringung in den Schulpensionaten verantwortlich machte und den er mit dem drohenden Verlust der deutschen Sprache begründete. Damit rief er ein durchaus brisantes Thema auf, symbolisierte doch insbesondere der Erhalt der deutschen
57 Dazu führt Birthe Kundrus Folgendes aus: „Der fremden Natur, dem fremden Klima, den fremden Bewohnern, dem fremden Erdteil wurde die Macht zugesprochen, die Deutschen (ver-)formen zu können. Insofern ruhte der Kolonialrassismus, der versuchte, eine historisch-strukturell erzeugte Ungleichheit als natürliches Ergebnis körperlicher Dispositionen darzustellen und damit Macht zu legitimieren, auf tönernen Füßen. Denn seine Vertreter stellten die ihm zugrunde liegende Essenzialisierung immer wieder in Frage.“ Kundrus 2004, S. 221. 58 BArch, R 8023/960a, Bl. 58f., Abschrift eines Schreibens von H. Richter an den Geheimen Oberregierungsrat Hintrager in Berlin, 18.10.1926. 59 Ebd., Bl. 59. Zu Klassenunterschieden im Kolonialgebiet vor dem Ersten Weltkrieg vgl. Walgenbach 2005a, S. 235-260.
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Sprache den Erhalt ‚deutscher Kultur‘.60 Seine Besorgnis über die Sozialisationsbedingungen beschränkte sich jedoch nicht auf den Schulalltag. Er problematisierte die Lebensumstände von Siedlernachkommen auch im Allgemeinen, und zwar erneut entlang einer Klassendifferenzierung. Notwendig sei, so Richter, „die hiesigen Kinder immer und immer wieder anzuregen, damit sie einigermassen geistig reger werden und nicht vertrotteln, was leider durch die Hitze, durch die Einfoermigkeit des Lebens, durch den beschraenkten Gesichtskreis usw. usw. hier vielfach der Fall ist […].“61 Eine Beeinträchtigung der geistigen Fähigkeiten sah er also nicht allein durch das Klima gegeben, wovor andere Diskutierende insbesondere warnten, sondern auch durch die Monotonie des Alltags und das eingeschränkte soziale Umfeld. So hätten Farmerkinder „meist nur Gedanken fuer ihre Ochsen und Bockies […], allenfalls noch fuer Reiten und Jagd“, wofür er auch die Eltern verantwortlich machte, die sich „leider viel zu wenig mit ihren Kindern geistig beschaeftigen.“62 Ebenso stellten die beiden Gründer der Südwester Handwerker- und Studentenstiftung, Schünemann und Sigwart, bei dauerhaftem Aufenthalt in Südwestafrika eine „gewisse Enge des geistigen Horizontes“ von Siedlernachkommen fest. Im Unterschied zu Richter mahnten sie nicht geistigen Phlegmatismus an, sondern die daraus resultierende Überheblichkeit, die sich durch „falsche und übertriebene Einschätzung der eigenen Tüchtigkeit kundtut.“63 Richter hingegen setzte seine Ausführungen mit einer negativen, teils polemischen Prognose für die Zukunft der deutschen Siedlerbevölkerung fort. Als Folge des bei Siedlernachkommen drohenden oder schon eingetretenen Intelligenzverlustes und ihrer intensiven Beschäftigung mit Tieren warnte er vor einer Regression in tierähnliche Zustände, die er durch die gesunkene Anzahl bürgerlicher Berufskreise infolge ihrer Ausweisungen in den Jahren 1918/19 noch verstärkt sah: „Unser frueherer Realschuldirektor Dr. Zedlitz hat leider bitter recht gehabt, als er schon vor dem Kriege gesagt hat, dass die uebernaechste Generation wahrscheinlich wieder wie die Affen auf den Baeumen hocken und Gras fressen wuerde. Und wenn man nicht immer und immer wieder dahinter ist, das Interesse der Kinder dauernd anzuregen, dann wird es dereinst mal wirklich so, nachdem durch die Repatriierung der frueheren deutschen Beamten und ihrer 60 Die Frage der zukünftigen Amtssprache war in den Verhandlungen mit der Mandatsverwaltung zu Beginn der 1920er Jahre ein wichtiges Thema. Vgl. Bertelsmann 1979, S. 21-23. 61 BArch, R 8023/960a, Bl. 10, Schreiben von H. Richter an den Geheimen Regierungsund Baurat A. Schubert, Arbeitsgemeinschaft der Kolonialen Auslandstechnik in Berlin, 27.10.1926. 62 Ebd. 63 O.V.: Südwester Handwerker- und Studenten-Stiftung, in: Mitteilungen des Frauenbundes der DKG, 1929, Nr. 6, S. 71.
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Familien, sowie dadurch, dass die meisten Farmer hoeherer Herkunft ueberwiegend in richtiger Erkenntnis der hiesigen Verhaeltnisse ihre Kinder in Deutschland erziehen lassen, die Lage heute so im Lande ist, dass die heutigen deutschen Kinder des Landes nur ganz vereinzelt etwas hoeher gehende Interessen haben.“64
Auf zwei Aspekte weisen Richters Einschätzungen aus dem Jahr 1926 hin. Erstens waren es vor allem adelige und bürgerliche Siedlernachkommen, die Bildungsaufenthalte in Deutschland verbrachten und somit die Erfahrung grenzüberschreitender Mobilität machten. Im Umkehrschluss bedeutete dies, dass vor allem Siedlernachkommen aus unteren Schichten in Südwestafrika verblieben, denn ihnen mangelte es in der Regel an der Finanzierung der Aufenthalte.65 Daraus resultierte zweitens, dass Richter vor allem Heranwachsende aus unteren Schichten als Gefahr für das imaginierte deutsche Siedlerkollektiv identifizierte. Sie hatten kulturelle Grenzen überschritten, indem sie die burische Sprache übernahmen. Zudem unterstellte er ihnen die Ermangelung eines bestimmten Bildungsniveaus, geistige Verflachung und einen gewissen Phlegmatismus. Es ist anzunehmen, dass ihm diese Klassendifferenzierung zugleich als Vergewisserung der eigenen bürgerlichen Position diente. Indem er die Gefahr kultureller ‚Degenerationsprozesse‘ insbesondere auf Kinder aus einfachen Familien projizierte, konnte sich Richter als Garant für den Erhalt ‚deutscher Kultur‘ betrachten. Dies war ihm vermutlich wichtiger, als ein homogenes Siedlerkollektiv zu konstruieren. Über diese interne Differenzierung hinaus, die, wie auffällt, vor allem auf Klasse und nicht auf Geschlecht gerichtet war, wurden die Siedlernachkommen hinsichtlich ihrer Sozialisationsbedingungen auch mit binnendeutschen Heranwachsenden verglichen. Dies schien aber zumindest in der öffentlichen Diskussion eher die Ausnahme gewesen zu sein und mag nicht zuletzt daran gelegen haben, dass die in diesem Zusammenhang oft gestellte Frage der „Gleichwertigkeit“ bedeutete, ein „Wespennest von Schwierigkeiten aufstöbern“, wie der Lüderitzbuchter Schulleiter Fritz Maywald 1927 bemerkte. 66 Dennoch wagte er einen Vergleich, dem er die Kriterien Moral und Veranlagung zugrunde legte. Unter Einbeziehung der Erfahrungen von Kollegen betonte er insbesondere die Vorteile und weniger, wie es obige Diskutierende getan hatten, die Probleme einer Sozialisation in Südwestafrika. Verderblich für die Moral erachtete er in seiner binären Konstruktion von ehemali64 BArch, R 8023/960a, Bl. 10, Schreiben von H. Richter an den Geheimen Regierungsund Baurat A. Schubert, Arbeitsgemeinschaft der Kolonialen Auslandstechnik in Berlin, 27.10.1926. 65 Zur Infrastruktur der Mobilität vgl. Abschnitt 4.4. 66 BArch, R 8023/960b, Bl. 144, Jahresbericht des Schulleiters über das Schuljahr 1927. Seine Tätigkeit als Schulleiter begann Fritz Maywald im Februar 1927. Vgl. Eduard Moritz: Ein Abschiedsgruß!, in: Jambo, 4. Jg., 1927, Nr. 1, o.S.
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ger Kolonie und Metropole vor allem deutsche Großstädte und sprach von der „entartete[n] Grossstadt“.67 Ausgehend von seiner Berlinkenntnis ist es wahrscheinlich, dass er hier auf Diskurse in Deutschland rekurrierte, die auf ein Wechselverhältnis von Urbanität und Verfalls- oder ‚Degenerationstendenzen‘ verwiesen.68 Deshalb betonte er, dass „[d]er Kreis, in dem die Kinder hier [in Südwestafrika, S.H.] aufwachsen, […] kleiner, geordneter, ruhiger und freier von den ablenkenden und demoralisierenden Einwirkungen der Reklame grossstädtischer Litfasssäulen, Kinos, Schaufenster [ist, S.H.], frei vor allem von den Verführungen, mit denen die entartete Grossstadt die Schulkinder beiderlei Geschlechts verfolgt. Die Aufsicht, die Elternhaus und Schule hier ausüben, ist weit schärfer als in der Grossstadt. – Aus Müssiggang und mangelnder Beaufsichtigung hervorgegangene Verfehlungen zwischen ganz jugendlichen Schulkindern, wie ich sie in Berlin zu beobachten Gelegenheit hatte, dürften hier wohl ziemlich ausgeschlossen sein.“69
Maywalds Vorstellungen zufolge mussten Heranwachsende in Deutschland vor den durch Konsum- und Freizeitangebote hervorgebrachten Ablenkungen und Verführungen geschützt werden. Demgegenüber stellte Südwestafrika einen ruhigen, geordneten und somit zugleich gut kontrollierbaren Sozialisationsraum für die dortige junge Generation dar. Er schätzte die Siedlernachkommen als „moralisch durchaus gesund“ ein und betrachtete ferner „Selbstmorde von Schülern, weil sie ihr Klassenziel nicht erreicht haben und nicht versetzt worden sind, […] geradezu als ausserhalb der Denkmöglichkeit liegend.“70 Es ist davon auszugehen, dass er hier auf Beispiele aus Berlin rekurrierte, die in ihrer Drastik nicht stärker hätten sein können und die er zugleich nutzte, um deutsche Siedler/innen in Südwestafrika zu idealen Vorbildern zu stilisieren. So hätten „Kinder in unzähligen Fällen an Eltern, Verwandten oder Bekannten gesehen […], dass Misserfolge im Leben durch erneutes Zupacken und durch Arbeit überwunden werden“ und daher der „kleine Misserfolg des Sitzenbleibens lange nicht die entmutigende Rolle wie in Deutschland [spiele, S.H.].“71 Dieses Bild der Stärke und Schaffenskraft von Siedler/innen vermittelten auch Kolonialverbände in der kolonialen Jugendbewegung, um die Jugendlichen für ein zukünftiges Leben in Südwestafrika zu begeistern. Indem Schulleiter Maywald die vermeintlichen Gefahren der Großstadt betonte, konstruierte er ein überspitztes Bild der Lebenswelt in Deutschland, das auf Vorbehalten gegenüber der Weimarer
67 BArch, R 8023/960b, Bl. 145, Jahresbericht des Schulleiters über das Schuljahr 1927. 68 Vgl. dazu beispielhaft Krämer 2013, S. 22-25. 69 BArch, R 8023/960b, Bl. 145, Jahresbericht des Schulleiters über das Schuljahr 1927. 70 Ebd., Bl. 145f. 71 Ebd., Bl. 146.
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Republik beruhte und wiederum Südwestafrika als beanspruchte ‚Heimat‘ eine wichtige Bedeutung gab. Doch nicht allein hinsichtlich der Moral betrachtete Maywald die Siedlernachkommen ihren binnendeutschen Altersgenossen als gleichwertig oder sogar überlegen. Auch im Hinblick auf ihre „Charakteranlagen“ und „natürliche Befähigung“, wie er es nannte, würden sie einer Prüfung standhalten.72 Sie gingen gern zur Schule, seien fröhlich, willig, artig und es gebe kaum „Ungezogenheiten, Trotz oder passive Resistenz“, sie hätten zudem eine gute Beobachtungsgabe und ein befriedigendes Erkenntnisvermögen.73 Dass er hier ein verklärendes Bild skizzierte, ist offensichtlich.74 Lediglich in puncto Aufnahmefähigkeit wies er den Siedlernachkommen gewisse Schwachpunkte zu, die er in der natürlichen Umwelt und im Klima begründet sah und damit bereits bekannte Diskurselemente aufgriff. So führten die „wüstenhafte[…] Natur, das ewige Gleichmass der fast immer besonnten Tage […] [sowie, S.H.] das Fehlen des Wechsels der aufblühenden und vergehenden Natur“ dazu, dass sie trotz Wiederholung insbesondere geschichtliche, geografische und naturkundliche Aspekte vergessen würden und in Mathematik, teilweise auch in der Rechtschreibung Probleme hätten.75 Dass diese Defizite, die in der Regel die Grundlagen einer soliden Schulbildung ausmachen, für Maywald offensichtlich unproblematischer waren als mögliche Schwächen in Moral oder Charakter, verdeutlicht den hohen Stellenwert letztgenannter Aspekte in der Sozialisationsdebatte. Die komplementäre Darstellung von ehemaliger Kolonie und Metropole führte Schulleiter Maywald fort, indem er seiner Bewertung von klimatischer und landschaftlicher Einförmigkeit in Südwestafrika nun die geschichtsträchtigen und kulturellen Gegebenheiten in Deutschland gegenüberstellte. Damit wies er auf eine sich von der ‚entarteten Großstadt‘ stark unterscheidende Repräsentation von Lebenswelt hin. In Anlehnung an die Geografin Julia Lossau lässt sich das Territorium Deutschland zugleich als ‚Raum von Bedeutung‘ betrachten, dessen Symbolhaftigkeit nicht allein von seiner „physischen Materialität“ geprägt, sondern auch ein „Produkt[…] kultureller Zuschreibungen“ ist.76 Maywald zufolge verfügten Heran-
72 Ebd. 73 Ebd. 74 Manche Siedlernachkommen berichteten von widerwilligen Schulbesuchen und Gewalterfahrungen. In seiner Autobiografie schrieb Wilfried Kiel über die Zeit in der Regierungsschule: „Aber meine erste Lehrerin in Windhoek hatte ich sehr gefürchtet, weil sie mit dem Stöckchen auf die Hände schlug.“ Kiel 2008, S. 65. Auch die Interviewpartnerin Hilde erzählte vom gewaltvollen Verhalten eines Lehrers in der Oberrealschule in Windhoek. Interview mit Hilde am 10.10.2010. 75 BArch, R 8023/960b, Bl. 147, Jahresbericht des Schulleiters über das Schuljahr 1927. 76 Lossau 2009, S. 43.
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wachsende in Deutschland im Unterschied zu gleichaltrigen Siedlernachkommen in Südwestafrika über „lebendigen Anschauungsunterricht, den das Kulturland der Heimat mit seinen Feldern, Wäldern, Wiesen und Gärten, mit seinen Schlössern und Burgen, Domen und Klöstern, Museen und Theatern, mit seinen Verkehrseinrichtungen und Industrieanlagen, mit schneebedecktem Hochgebirge und eingedeichtem, dem Meere abgerungenem Weidelande bietet.“77
Daran wird ersichtlich, dass sein Deutschlandbild auch wechselnde Landschaftsformationen, historische Gebäude, industrielle Infrastruktur und ein vielfältiges Kulturangebot enthielt, welches er den Siedlernachkommen durch reichhaltiges Anschauungsmaterial zu vermitteln beabsichtigte. Wenngleich er sich nicht explizit gegen Bildungsaufenthalte aussprach, so richtete sich seine Argumentation doch vor allem darauf, die Siedlernachkommen in Südwestafrika durch Wissensvermittlung kulturell und mental an Deutschland zu binden. Alle an der Debatte Beteiligten betrachteten die Siedlernachkommen als anfällige und gefährdete Subjekte, und zwar unabhängig davon, ob sie die Notwendigkeit von Deutschlandaufenthalten betonten oder die Vorteile eines Verbleibs in Südwestafrika hervorhoben. Diese Gefährdungsszenarien symbolisierten zugleich ihre Ängste vor kultureller ‚Degeneration‘, mit denen ihre Sorge um den zukünftigen Erhalt ‚deutscher Kultur‘ in Südwestafrika einherging. Die verschiedenen Akteurinnen und Akteure sprachen den klimatischen Bedingungen die Kraft zu, Körper und Geist der Siedlernachkommen zu schwächen, womit sie an den kolonialen Klimadiskurs der Vorkriegszeit anknüpften. Zudem imaginierten sie den Verlust einer ‚weißen‘ deutschen Identität der Heranwachsenden, sodass sich die Debatte von der Figur des ‚verkafferten Kolonisators‘ aus der Zeit der Kolonialherrschaft nunmehr auf die Figur der ‚verburten Siedlernachkommen‘ verlagerte. Die vornehmlich bürgerlichen Stimmen versuchten sich selbst als Garanten ‚deutscher Kultur‘ zu präsentieren, indem sie sich von den unteren Schichten der Siedlerbevölkerung abgrenzten. Heranwachsende aus diesem Milieu sahen sie als größere Gefahr für das imaginierte deutsche Siedlerkollektiv, weil diese ihrer Ansicht nach durch den Kontakt zu burischen Gleichaltrigen und das eingeschränkte soziale Umfeld am stärksten von einer ‚Degenerationsgefährdung‘ betroffen waren. Im Unterschied zur explizit eingeführten Klassenperspektive bezog sich die Debatte nicht auf die Kategorie Geschlecht. Des Weiteren ging mit dem Vergleich von Siedlernachkommen und binnendeutschen Heranwachsenden eine Gegenüberstellung von ehemaliger Kolonie und Metropole einher. Die Bestrebungen, Südwestafrika auch als positiven Sozialisationsraum zu entwerfen, kamen nicht ohne die Bezugnahme auf Deutschland aus und 77 BArch, R 8023/960b, Bl. 147, Jahresbericht des Schulleiters über das Schuljahr 1927.
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erwiesen sich durch die kontingenten Bedeutungskonstruktionen der ehemaligen Metropole letztlich als ambivalent. Es gab die ‚entartete Großstadt‘ als Gefahr einerseits, das Industrie- und Kulturland als Ausdruck von u.a. Leistung, Wertarbeit und Sinnhaftigkeit andererseits, welches Siedlernachkommen bei Verbleib in Südwestafrika vorenthalten bliebe. Im Mittelpunkt der Debatte stand, die Siedlernachkommen vor den angenommenen Gefährdungsszenarien in Südwestafrika zu schützen und ihnen in Deutschland bessere Bildungsmöglichkeiten zu eröffnen. Die damit verbundenen Vorstellungen beleuchtet der nächste Teil. Vorstellungen über die zukünftigen Repräsentantinnen und Repräsentanten ‚deutscher Kultur‘ Die Siedlernachkommen kulturell und mental an Deutschland als exklusive ‚Volksgemeinschaft‘, ehemalige Großmacht und elterliche ‚Heimat‘ zu binden, erklärten die an der Debatte Beteiligten wiederholt zu ihrem zentralen Ziel. 78 Dazu sollten die Bildungsaufenthalte einen entscheidenden Beitrag leisten. Allerdings entwarfen Kolonialverbände und Siedlerbevölkerung nicht nur spezifische Sozialisationsvorstellungen. Sie plädierten auch für eine solide schulische und berufliche Qualifizierung, um den Siedlernachkommen nach ihrer Rückkehr eine existenzsichernde Perspektive zu ermöglichen. Beides wurde als Vorrausetzung für ihre zukünftige Funktion als Repräsentantinnen und Repräsentanten ‚deutscher Kultur‘ in Südwestafrika betrachtet. Das Nachdenken über ‚Kultur‘ hatte um 1900 einen diskursiven Aufschwung erfahren, den Birthe Kundrus zufolge „führende Kreise des Bildungsbürgertums“ mitprägten. Sie „versuchten, mit dem Deutungsmuster ‚Kultur‘ Zustand und Ziel der Nation neu zu formulieren, und das Beschwören einer deutschen Kultur in Afrika war eine von mehreren Reaktionen auf den breit diskutierten ‚Kulturverfall‘ im Reich. Die Kolonien sollten diesen Niedergang aufhalten, sie boten in den Augen vieler Diskutanten eine Möglichkeit zum ‚wahren Deutschtum‘ zurückzufinden.“79
78 Im Juni 1921 bekräftigte z.B. DKG-Präsident Seitz die Notwendigkeit der Deutschlandaufenthalte, um den Siedlernachkommen die „Heimat ihrer Eltern zugänglich zu machen“ und sie „in deutschem Geiste“ erziehen zu können. „Nur so wird sich auf die Dauer das geistige Band zwischen uns und unseren Landsleuten in den Kolonien erhalten und verhindern lassen, daß die Nachkommen der Deutschen in unseren Schutzgebieten dem Deutschtum verloren gehen.“ BArch, R 8023/991, Bl. 118, Schreiben von Seitz, 30.6.1921. 79 Kundrus 2003b, S. 175.
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Rund 20 Jahre später hatte sich die Perspektive verändert. Nun begannen Siedler/innen und Kolonialverbände mit Bezug auf die unter Mandatsherrschaft heranwachsende Generation über den ‚Kulturverfall‘ innerhalb der deutschen Siedlerbevölkerung zu diskutieren und entwickelten Ideen, wie dieser durch Deutschlandaufenthalte von Siedlernachkommen aufzuhalten sei. Sie konstruierten Deutschland als Sozialisationsraum mit (insbesondere) kulturellen Bedeutungen, blieben aber in ihren Vorstellungen, wie dieser die Siedlernachkommen zu prägen habe, in der Regel vage. Allerdings entwickelte der ehemalige Oberstabsarzt der Schutztruppe für Deutsch-Ostafrika Philipps, der zugleich DKG-Mitglied war, einen konkreteren Plan zur Umsetzung der Aufenthalte. Nach der Rückkehr von seinen Reisen, die er im Winter 1920/21 als Schiffsarzt der Woermann-Linie nach Südwestafrika und in die Südafrikanische Union unternommen hatte, plädierte er für eine Sammelunterbringung der Siedlernachkommen in Weilburg an der Lahn, um sie als ihr vom dortigen Vormundschaftsgericht ernannter Pfleger umfassend betreuen zu können.80 Wie Schulleiter Maywald aus Lüderitzbucht wandte sich auch Philipps explizit gegen die Erziehung und Ausbildung der Siedlernachkommen in einer Großstadt, aber auch im ländlichen Raum und sah demzufolge in der Stadt Weilburg einen idealen Ort. Dort gebe es „neben geeigneten geographischen, hygienischen und wirtschaftlichen Verhältnissen gute Schulen [und, S.H.] eine hochgesinnte Bürgerschaft“ und der „Geist aller Lehranstalten“ sei „‚Deutsch bis in die Knochen!‘“81 Es liegt auf der Hand, dass die Siedlernachkommen nach ihrer Rückkehr in Südwestafrika diese Haltung repräsentieren sollten. Unter diesen Rahmenbedingungen wollte Philipps mehrere Aspekte umsetzen. Er beabsichtigte, die Heranwachsenden an Konkurrenz zu gewöhnen, indem sie eine gemeinsame Erziehung mit „Kindern aus anderen Kreisen“ erhielten und „mit ihnen wetteifer[te]n“.82 Vermutlich sollte sie dieser Erziehungsaspekt auch auf die kapitalistische Produktionsweise vorbereiten.83 Zudem war gewollt, dass sie die „ihnen so fremde Kultur des alten Vaterlandes in sich aufnehmen“. 84 Eine prägende Wirkung wies er ähnlich wie Maywald der deutschen Kulturlandschaft mit ihren Bauten, Denkmälern und industriellen Produktionsstätten zu. Philipps entwirft eine Symbolik des Raumes, die sich nach dem Geografen Frank Meyer meist an „öffentlich zu80 Vgl. BArch, R 8023/991, Bl. 112, Schreiben von Philipps an die DKG, 30.6.1921. Im Unterschied dazu schlug der Mannheimer Studienprofessor Schramm der DKG die Gründung eines Landerziehungsheims in der Pfalz vor. Vgl. BArch, R 8023/991, Bl. 41-42, Schreiben von Schramm an die DKG, 23.5.1922. 81 BArch, R 8023/991, Bl. 113, Flugblatt von Philipps: Jungafrika im Weilburg, Juni 1921. 82 Ebd. 83 Darauf verweist Katharina Walgenbach in ihrer Analyse der Erziehungsvorstellungen für Siedlernachkommen in Deutsch-Südwestafrika. Vgl. Walgenbach 2005a, S. 208. 84 BArch, R 8023/991, Bl. 113, Flugblatt von Philipps: Jungafrika im Weilburg, Juni 1921.
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gänglichen Orten, in Form spezifischer Materialität“ zeigt.85 Durch den „Umgang mit der materiellen Welt“, so Meyer weiter, „werden zur Umwelt emotionale Zugänge hergestellt, Bedeutungen zugeschrieben und Vorstellungen von Räumen herausgebildet. Diese soziale Praxis ist wiederum für die Konstruktion von personalen und kollektiven Identitäten relevant; räumliche Aspekte bilden also einen mehr oder weniger stark ausgeprägten konstitutiven Bestandteil von Identität.“ 86
Gleichzeitig sollten sich die Siedlernachkommen durch Musik und Theater unterhalten und bilden lassen und sich damit an einem bürgerlichen Lebensstil orientieren bzw. diesen verinnerlichen. Davon ausgehend erwartete Philipps von den Lehrkräften, „unsere Söhne und Töchter zu vollwertigen deutschen Männern und Frauen heran zu bilden; Körper und Geist, vor allem aber im Charakter zu pflegen und zu stählen, damit unsere Kinder ins Leben treten mit frohem Mut und dem stolzen Bewußtsein: ‚Wir sind berufen, Deutschland zu neuer Größe zu führen; wir wollen es, wir können es und wir werden es tun!‘“87
Demnach zielten Philipps’ Pläne einzig und allein darauf, die Siedlernachkommen auf ihre Rolle als Träger/innen zukünftiger Großmachtbestrebungen Deutschlands vorzubereiten; eine Rolle, die auch den Mitgliedern der kolonialen Jugendbewegung zugewiesen wurde. Die von Philipps hervorgehobene Formung von Körper, Geist und Charakter war für beide Gruppen zentral und wurde auch in der Debatte um die Sozialisationsbedingungen in Südwestafrika für die Siedlernachkommen als notwendig erklärt. In dieser auf Kultur basierenden Bedeutungskonstruktion von Raum erschöpfte sich Philipps’ Darstellung allerdings nicht. Er ging auch von der Prägekraft des Raums als territorialem Gebilde aus. Wenig überraschend war deshalb sein Plädoyer für eine frühzeitige Erziehung in Deutschland, das sich nicht nur aus seinen Reisebeobachtungen von Siedlernachkommen, sondern auch aus Gesprächen mit Eltern speiste. Nicht die „beste Schule einer Kolonie“, so Philipps, könne „die in Deutschland verlebten Schuljahre“ ersetzen, die für die Erinnerung so prägend seien.88 Weitergedacht bedeutete dies eine Schmälerung der hohen Bedeutung, die die meisten Akteurinnen und Akteure dem Erhalt deutscher Schulen in Südwestafrika beimaßen. Allein „durch lebendigen Anschauungsunterricht und durch Schulkame85 Meyer 2005, S. 23. 86 Ebd., S. 24. 87 BArch, R 8023/991, Bl. 113, Flugblatt von Philipps: Jungafrika im Weilburg, Juni 1921. 88 BArch, R 8023/991, Bl. 104, Schreiben von Philipps an die DKG, 14.9.1921.
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radschaft“ über mehrere Jahre zur „aufnahmefähigsten Lebenszeit, dem schulpflichtigen Alter“ blieben die „Auslandskinder dem Deutschtum erhalten“, so Philipps weiter,89 und markierte damit die nationalistische und insbesondere kolonialrevisionistische Funktion der Institution Schule. Der Erziehungswissenschaftler Gerhard Kluchert konstatiert, dass nicht nur im Kaiserreich und verstärkt während des Ersten Weltkrieges Unterricht und Schulleben weit über die „gesinnungsbildenden“ Fächer Deutsch, Geschichte und Religion hinaus „von einem nationalistischen und militaristischen Geist ergriffen worden“ waren.90 Auch unter der neuen Weimarer Regierungskoalition mit erstmals sozialdemokratischer Beteiligung stand bei den Verfassungsberatungen außer Frage, dass Schule neben der Vermittlung von Kenntnissen die Aufgabe von „sittlicher Ertüchtigung“ und „Charakterbildung“ hatte.91 Daneben sollte Schule für die Erziehung zu Staat und Gemeinschaft verantwortlich sein. Es sei nicht erkennbar gewesen, so Kluchert weiter, dass die Mehrheitssozialistinnen und -sozialisten in dieser Diskussion von bürgerlichen Parteisichtweisen abgewichen wären und unter staatsbürgerlicher Erziehung etwa „die Befähigung zur Teilnahme an demokratischen Willensbildungs- und Entscheidungsprozessen“ verstanden hätten.92 Dass die Kolonialakteurinnen und -akteure zudem versuchten, die Siedlernachkommen in Schulen unterzubringen, die ihren eigenen Vorstellungen entsprachen, z.B. ehemaligen Kadettenschulen, wird Kapitel 5 näher beleuchten. Neben weiteren Lehrkräften vertrat Dr. Nierth, Oberlehrer an der Windhoeker Realschule, eine ähnliche Sichtweise und argumentierte zudem „‚[n]ur im heimischen Boden wurzelt unser Volkstum stark und fest.‘“93 In seiner Annahme, das Territorium präge die Identitätsbildung, war für ihn grundlegend, dass dies nur innerhalb der Grenzen des Deutschen Reiches geschehen könne. Somit schien das (vorübergehende) ‚Wurzeln‘ dort die Voraussetzung für eine spätere Rückkehr nach Südwestafrika zu sein. Diese Pläne veranlassten DKG und Frauenbund zu ersten Aktivitäten. Die DKG bat beim Magistrat der Stadt Weilburg um Unterstützung für Philipps’ Vorhaben, erhielt ein positives Signal und beabsichtigte daher, in ihrer Ausschusssitzung An-
89 Ebd. Auch Margarethe von Zastrow vom Frauenbund betrachtete Kindheitserfahrungen für die Erinnerung als maßgeblich. Vgl. M. von Zastrow: Erziehung auslandsdeutscher Kinder in Deutschland, in: Deutsche Kolonialzeitung, 38. Jg., 1921, Nr. 5, S. 56. 90 Kluchert 1993, S. 232. 91 Ebd., S. 237. 92 Ebd., S. 241. 93 BArch, R 8023/991, Bl. 104, Schreiben von Philipps an die DKG, 14.9.1921. Anna Bramwell weist darauf hin, dass das Schlagwort „Blut und Boden“ seit Mitte der 1920er Jahre Teil der politischen Debatte in Deutschland war. Bramwell 2003, S. 383.
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fang Oktober 1921 einen Beschluss zu fassen.94 Der Frauenbund, der das Thema zuvor auf seiner Tagung in Stettin behandelt hatte, richtete auf von Bredows Vorschlag den Grundstock für einen Fonds zur „Erziehung von Kolonialkindern“ ein. 95 Letztlich scheiterte Philipps’ Vorhaben eigenen Angaben zufolge an den finanziellen Schwierigkeiten der Eltern.96 Die an die Siedlernachkommen gerichtete Forderung, sich ‚deutsche Kultur‘ anzueignen und in Südwestafrika zu deren Bewahrung beizutragen, wurde auch mit Blick auf ihnen nachfolgende Generationen untermauert. In einem anonymen Schreiben aus Südwestafrika argumentierte der oder die Schreibende, dass „[e]in Kind, das nur hier auf der Farm seine Eindrücke empfängt, […] nicht in der Lage sein [wird, S.H.], wertvolles Kulturgut an die nächste Generation weiterzugeben, wenn es nicht in einem möglichst umfassenden Unterricht auch noch Gelegenheit bekommt, das Land seiner Väter kennenzulernen, oder deutsches Wesen an der Quelle und aus eigenem Erleben in sich aufnehmen kann.“97
In dieser Vorstellung, in der die Siedlernachkommen bereits in ihrer Rolle als zukünftige Repräsentantinnen und Repräsentanten der Siedlerbevölkerung imaginiert wurden, wiederholte sich die binäre Gegenüberstellung von Natur und Kultur aus der Debatte um die Sozialisationsbedingungen in Südwestafrika. Dass dieser Argumentation der fortlaufenden Generationenweitergabe nicht zuletzt ein politisches Ziel zugrunde lag, verdeutlichen Voigts’ Bestrebungen, bei der Woermann-Linie Fahrpreisermäßigungen für Handwerkslehrlinge zu erwirken. Ohne Aufenthalt in Deutschland, so prophezeite er, könne ein Junge „nicht mehr deutsch denken, jedenfalls in den kommenden Generationen nicht mehr politisch deutsch. Damit wird 94 Vgl. BArch, R 8023/991, Bl. 111, Schreiben von Seitz an den Magistrat der Stadt Weilburg, 8.7.1921; BArch, R 8023/991, Bl. 110, Schreiben des Magistrats der Stadt Weilburg an Seitz, 19.7.1921; BArch, R 8023/991, Bl. 109, Schreiben von Winkler an Philipps, 10.9.1921. 95 O.V.: Mitteilungen des Frauenbundes der DKG, in: Der Kolonialdeutsche, 1. Jg., 1921, Nr. 10, S. 164. 96 Vgl. BArch, R 8023/991, Bl. 49, Schreiben von Philipps über die Erziehung deutscher Auslandskinder in Deutschland, 20.4.1922. 97 O.V.: Erziehungs- und Kulturfragen, in: Mitteilungen des Frauenbundes der DKG, 1930, Nr. 3, S. 30. Positive Auswirkungen der Deutschlandaufenthalte prophezeite auch die Geschäftsführerin des Frauenbundes: „Durch diese Lehrjahre in Deutschland wird den jungen Afrikanern die alte Heimat – die sie großenteils noch gar nicht kannten – ganz anders nahgebracht. So ist man sicher, daß sie später in Afrika das Deutschtum würdig vertreten und weiter fördern werden.“ Nora von Steinmeister: Jahresbericht 1931-32, in: Frauenbund der DKG (Hg.), 25 Jahre Koloniale Frauenarbeit, Berlin 1932, S. 10-24, S. 17.
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er für das Volkstum wertlos.“98 Konsequent weitergedacht bedeutete diese zugespitzte Position, dass letztlich alle nicht zeitweise einmal in Deutschland lebenden Siedlernachkommen eine Gefahr für das imaginierte deutsche Siedlerkollektiv darstellten. Wie Katharina Walgenbach für die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg anhand des Frauenbundes analysiert hat, nutzte dieser den „Rekurs auf ein ‚deutsches Volk‘“, das er im ‚völkischen‘ Sinne als „imaginierte ‚Blutsgemeinschaft‘“ verstand und das ein „Instrumentarium der Exklusion“ darstellte, zur Distinktion.99 „Im Gegensatz zur Kategorie der ‚Nation‘, [sic] birgt der Begriff ‚Volk‘ kein Potenzial an Integration von Buren/Burinnen, Engländern/Engländerinnen oder Afrikanern/Afrikanerinnen mehr.“100 An diesem exklusiven Verständnis des ‚deutschen Volkes‘ hielt auch Voigts fest, betonte aber zudem die politische Dimension der Aufenthalte. Es ist davon auszugehen, dass er dabei die Großmachtstellung des Deutschen Kaiserreichs im Sinn hatte und vermutlich erhoffte, dass sich bei den Siedlernachkommen u.a. durch das Kennenlernen der kolonialrevisionistischen Bewegung in Deutschland auch eine Haltung für die Rückgewinnung der ehemaligen Kolonien einstellte. Dies verdeutlicht zugleich seine Ignoranz und Ablehnung gegenüber der Weimarer Republik als demokratischer Staatsform. Doch mit seiner Forderung der Deutschlandaufenthalte beabsichtigte Voigts nicht nur, den „völkischen Zusammenhalt“ und ein „unverfälschtes Deutschtum“ in kommenden Generationen sicherzustellen, sondern auch die „Sonderstellung im Mandatslande den übrigen ‚Auslandsdeutschen‘ gegenüber [zu, S.H.] wahren.“101 Somit versuchte er, die ‚Kolonialdeutschen‘ vor dem Hintergrund ihres Status als ehemals staatlich legitimierte Kolonisatoren und Kolonisatorinnen von den ‚Auslandsdeutschen‘ abzugrenzen und erstere mit Bezug auf ein vermeintliches ‚unverfälschtes Deutschtum‘ gegenüber den anderen Gruppen zu überhöhen. Darin bildete sich nicht zuletzt ein Konkurrenzverhältnis um staatliche Anerkennung und öffentliche Wahrnehmung ab, das auch in der in Abschnitt 2.3 skizzierten Auseinandersetzung mit dem VDA relevant war. Neben denjenigen, die die Deutschlandaufenthalte befürworteten, gab es auch Stimmen aus Südwestafrika, die sich dezidiert dagegen aussprachen. Sie ließen sich allerdings nur vermittelt in Dokumenten Dritter finden und kamen unter Verwendung eines ähnlichen Vokabulars zu konträren Schlussfolgerungen. Im Mai 1922 wies beispielsweise Winkler von der DKG daraufhin hin, es sei auch deshalb nur 98
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Walgenbach 2005a, S. 166. Zu weiteren Deutungen der Begriffe ‚Volk‘ und ‚Volksgemeinschaft‘ vgl. u.a. Wildt 2009, S. 24-40.
100 Walgenbach 2005a, S. 166. 101 BArch, R 8023/992, Bl. 62, Schreiben des Vorsitzenden des Deutschen Bundes für Südwestafrika, Voigts, an den Direktor der Woermann-Linie, Feeling, 5.1.1930.
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eine geringe Anzahl von Siedlernachkommen zu erwarten, weil in Südwestafrika dagegen „Stimmung gemacht [werde], damit die koloniale Jugend nicht der Kolonie entfremdet wird.“102 Zwar wird der Begriff der ‚Entfremdung‘ hier nicht definiert, das Argument weist aber auf die sich von Deutschland unterscheidende Lebenswelt der Heranwachsenden in Südwestafrika hin, die auch der Lüderitzbuchter Schulleiter Maywald hervorgehoben hatte. Den Einwand wiederum versuchte der Frauenbund damit auszuhebeln, dass die Siedlernachkommen zu Beginn ihres Deutschlandaufenthaltes bereits ein gewisses Alter erreicht haben sollten. Allerdings war diese Argumentation insofern ambivalent, als er zugleich für ein möglichst frühes und lernfähiges Alter der Siedlernachkommen plädierte. 103 Des Weiteren hielten die Gegner/innen die Aufenthalte für „unzweckmäßig“, da sie die Siedlernachkommen als „Rückhalt für das Deutschtum“ betrachteten.104 Somit stand diese Begründung im Widerspruch zu den Positionen der Befürworter/innen, die den in Südwestafrika verbleibenden Jugendlichen keine oder nur geringe Repräsentationsfähigkeit ‚deutscher Kultur‘ zusprachen. Dies weist auf die unterschiedlichen Interessen der Diskutierenden hin, von denen einige offensichtlich nicht bereit waren, die Erziehung der und die Kontrolle über die Heranwachsenden nach Deutschland zu verlagern. Insgesamt betrachtet, schienen solche Kritikpunkte in der Minderheit gewesen zu sein. Sollte es sie dennoch vermehrt gegeben haben, dann waren sie nicht bis in die Debattenöffentlichkeit vorgedrungen. Tatsache ist, dass sich die Diskussion trotz der Gegenpositionen fortsetzte und sich nicht in der bislang skizzierten Sichtweise auf Deutschland als identitätsstiftende Sozialisationsagentur und insbesondere kulturelle Ressource erschöpfte. Das Älterwerden der Siedlernachkommen brachte die Frage nach ihrer eigenen Existenzsicherung in Südwestafrika mit sich. In diesem Zusammenhang wurde Deutschland zunehmend auch als unentbehrliche Ressource für berufliche Qualifizierung betrachtet.105 In der Debatte spielten sowohl die Konkurrenzfähigkeit gegenüber der Südafrikanischen Union als auch die Konstruktion von Geschlechterarrangements eine wichtige Rolle. Ausgehend davon, dass insbesondere in „kinderreichen Familien nicht alle Söhne und Töchter auf der väterlichen Farm ihren Le102 BArch, R 8023/991, Bl. 47, Schreiben von Winkler an Philipps, 6.5.1922. 103 In Bezug auf Mädchen hieß es, sie sollten in einem Alter nach Deutschland kommen, in dem die „jugendliche Anpassungsfähigkeit“ noch gewährleistet sei. Margarethe von Zastrow: Südwestafrikanische Erziehungsfragen, in: Frauenbund der DKG (Hg.), Koloniale Frauenarbeit, Berlin 1926, S. 9-13, S. 13. 104 BArch, R 8023/991, Bl. 40, Schreiben von Winkler an Studienprofessor E. Schramm, 26.5.1922. 105 Im zeitgenössischen Duktus war von der „Sicherung für ihr eigenes Fortkommen“ die Rede. Margarete von Hecker-Staff: Unsere gegenwärtigen Aufgaben, in: Frauenbund der DKG (Hg.), Koloniale Frauenarbeit, Berlin 1926, S. 19-22, S. 21.
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bensunterhalt finden könn[t]en“, sei für diejenigen mit anderen Berufsperspektiven „Studium und Fachausbildung in Deutschland notwendig“, so argumentierte Nora von Steinmeister, Geschäftsführerin des Frauenbundes, pragmatisch.106 Albert Voigts stellte klar, dass der Nachwuchs „[f]ast ausnahmslos […] sein Brot […] im Lande suchen [wolle, S.H.], welches ihnen die Heimat geworden ist.“107 Allerdings wies er hinsichtlich der Qualifizierungsmöglichkeiten, bei denen er ausschließlich die männliche Jugend berücksichtigte, auf Schwierigkeiten hin, die wiederum nicht alle männlichen Siedlernachkommen gleichermaßen betrafen. Während es für Farmerkinder in der Regel möglich sei, auf elterlichen (Teil-)Farmen, neu erworbenem Land oder beispielsweise in der Administration von Banken zu arbeiten, hätten Söhne von Handwerkern als großer Berufsgruppe keine so leichten Perspektiven. Bislang seien Handwerker, die ihre Qualifikation noch in Deutschland erlangt hatten, ihren südafrikanischen Konkurrenten fachlich überlegen gewesen. Der heranwachsenden Generation aber fehle es vor Ort an Fortbildungsschulen, an Lehr- und Meisterkursen und für Berufe wie Maschinenschlosser, Mechaniker oder Elektriker seien kaum und gar keine Ausbildungsstellen verfügbar. Dies hinge nicht zuletzt damit zusammen, dass erstens die hohen Löhne der Gesellen ein zeitintensives Anlernen eines Lehrlings nicht ermöglichten. Zweitens leisteten für einfache Aufgaben, „gut angelernte Eingeborene bessere und billigere Dienste“ als ein „unerfahrene[r] Anfänger“.108 Daneben liefen aufgrund fehlender Fortbildungsmöglichkeiten die neu ausgebildeten Handwerker schließlich Gefahr, gut qualifizierten Handwerkern aus der Südafrikanischen Union an „Erfahrung und Können“ zu unterliegen. 109 Eine mögliche Weiterbildung in der Union würde dazu führen, dass „der grösste Teil von ihnen dem Deutschtum verloren“ geht. 110 Deutlich werden hier erneut Distinktionsbemühungen, insbesondere gegenüber Buren. Während afrikanische Arbeiter zwar für weniger Geld tätig waren, für angehende deutsche Handwerker aber letztlich keine prinzipielle Konkurrenz darstellten, da sie lediglich einfache Aufgaben ausübten, wurde die prognostizierte qualitative Überlegenheit von Buren als 106 Nora von Steinmeister: Jahresbericht 1931-32, in: Frauenbund der DKG (Hg.), 25 Jahre Koloniale Frauenarbeit, Berlin 1932, S. 10-24, S. 17. 107 BArch, R 8023/992, Bl. 61, Schreiben des Vorsitzenden des Deutschen Bundes für Südwestafrika, Voigts, an den Direktor der Woermann-Linie, Feeling, 5.1.1930. 108 Ebd. Auf die Problematik der unzureichenden Qualifizierungsmöglichkeiten in Südwestafrika verwies der Deutsche Bund auch an anderer Stelle. Vgl. o.V.: Deutschtumspflege in den Kolonien, in: Übersee- und Kolonial-Zeitung, 42. Jg., 1930, Nr. 11, S. 222. Fortbildungsmöglichkeiten sah Voigts lediglich auf den Diamantfeldern und in den Tsumebminen gegeben. 109 BArch, R 8023/992, Bl. 61, Schreiben des Vorsitzenden des Deutschen Bundes für Südwestafrika, Voigts, an den Direktor der Woermann-Linie, Feeling, 5.1.1930. 110 Ebd.
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Bedrohung skizziert. So versuchte Voigts in seiner ‚völkischen‘ Logik und die prägende Wirkung des Territoriums auf Identität voraussetzend, eine Weiterbildung deutscher Handwerker in der Südafrikanischen Union zu verhindern und zugleich Unterstützung für die Deutschlandaufenthalte zu fordern, „nicht allein im persönlichen Interesse der Lehrlinge“, sondern auch zum Erhalt der „führenden Stellung in Südwest“, wie er abschließend ausführte.111 Auf die zukünftige Sicherung einer Dominanzposition der deutschen Siedlerbevölkerung verwies in ähnlicher Weise die stellvertretende Vorsitzende des Frauenbundes, Agnes von Boemcken, die die Vergabe von Ausbildungsstipendien als „gut angewandtes Kapital“ betrachtete und konstatierte, dass „eine Berufsausbildung in Deutschland […] immer noch in ganz Südafrika hoch im Kurs [stehe, S.H.]. Ein junger Mensch, der sich sachgemäß in Deutschland hat ausbilden können, wird ganz anders drüben vorwärts kommen als derjenige, der nur drüben in eine Lehre ging, oder eine der südafrikanischen Universitäten bezog.“ 112
Hinsichtlich ihrer Zukunftssicherung schienen nach dieser Logik Siedlernachkommen, die sich in Deutschland qualifizierten, gegenüber zwei anderen Gruppen von Gleichaltrigen im Vorteil zu sein: erstens gegenüber denjenigen, die entweder ausschließlich in Südwestafrika blieben oder auf die Möglichkeiten in der Südafrikanischen Union zurückgriffen; zweitens gegenüber binnendeutschen Heranwachsenden, die Anfang der 1930er Jahre kaum die Chance hatten, eine Handwerksausbildung zu beginnen, während diese für manche Siedlernachkommen aufgrund der Vermittlung durch Siedler/innen sowie Kolonialakteurinnen und -akteure möglich schien.113 Voigts’ Ausführungen haben zudem gezeigt, dass Differenzierungen innerhalb der Gruppe der Siedlernachkommen nach Geschlecht und Schicht bzw. Berufsstand der Eltern nicht nur bezüglich der Gefährdungsszenarien, sondern auch in der Diskussion um die Qualifizierungsbedingungen relevant waren. Während er sich auf männliche Jugendliche und insbesondere auf diejenigen konzentrierte, die Handwerksberufe anstrebten, blickte Margarethe von Zastrow als Vertreterin des Frauenbundes auch auf die Zukunftsperspektiven von Mädchen bzw. speziell von Töch111 Ebd., Bl. 62. 112 BArch, R 1001/6693, Bl. 250, Vorstandssitzung des Frauenbundes der DKG, 13.6.1930. 113 Auf diese Situation wies von Schauroth den Siedler Albert Maraun hin. Er riet ihm eindringlich, die Reisekosten für seinen Sohn zu beschaffen, um diesem die wohl nicht wiederkehrende Gelegenheit zu ermöglichen, in Deutschland in einem sehr guten Betrieb eine Ausbildung als Autoschlosser zu beginnen. Vgl. NAN, A.221/163-90/40, Schreiben des Deutschen Bundes, von Schauroth, an Albert Maraun, 3.1.1931.
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tern aus Farmerfamilien. Insgesamt ließ sich feststellen, dass eine ausführlichere Erörterung der unterschiedlichen Berufsmöglichkeiten für Siedlernachkommen und damit verknüpfter Zukunftsaussichten in Südwestafrika im Rahmen der Debatte kaum stattfand. Männliche Heranwachsende hatten von Zastrow zufolge vielseitigere Qualifizierungsmöglichkeiten, zu denen diverse Handwerksausbildungen, aber auch unterschiedliche Studienmöglichkeiten an Hochschulen oder Universitäten gehörten. In der für sie vom Frauenbund organisierten Berufsberatung sollten „Veranlagung und Lebensziel“ den Weg weisen.114 Somit diskutierte er die Zukunft von Jungen und jungen Männern vor allem im Hinblick auf Berufswahl und Existenzsicherung, nicht jedoch bezüglich ihrer Rolle als Ehemänner oder Väter. Umso expliziter beleuchtete er diese familiale Perspektive für Mädchen und junge Frauen, ohne dabei ihre Qualifizierung aus dem Blick zu verlieren. Dies war nicht neu, denn bereits vor dem Ersten Weltkrieg fand im Zuge der gezielt betriebenen Frauenauswanderung nach Deutsch-Südwestafrika eine Diskussion statt, wie die Auswandernden am besten auf die ihnen zugedachten Rollen als Ehefrauen und Mütter vorbereitet werden könnten.115 Rund 20 Jahre später erörterte nun der Frauenbund mit dem Fokus auf Farmerfamilien, wie diese Rollenübernahme u.a. für die Töchter jener ausgewanderten Frauen zu gewährleisten sei. In Bezug auf die Qualifizierung der Mädchen fungierte vor Ort auf der Farm zunächst die Mutter als Lehrerin. Sie führte die Töchter in verschiedene, weiblich besetzte Tätigkeitsfelder des Farmlebens ein, wozu vor allem Haus-, Garten- und Milchwirtschaft sowie Hühnerzucht gehörten. Da das Lernpotenzial auf der Farm an Grenzen stieß, sollten die Mädchen und jungen Frauen ihre Kenntnisse während eines Aufenthaltes in Deutschland vertiefen und erweitern.116 Neben dem Besuch der Kolonialen Frauenschule in Rendsburg117 schlug von Zastrow als weitere potenzielle Ausbildungsfelder auch Krankenpflege,
114 Margarethe von Zastrow: Fortbildung afrikanischer Jugend in Deutschland, in: Frauenbund der DKG (Hg.), Koloniale Frauenarbeit, Berlin 1930, S. 31-34, S. 34. 115 Diese Rollen eröffneten in den Kolonien durchaus neue Handlungsspielräume, die aber, so Walgenbach, nicht auf „geschlechtliche Emanzipation, sondern auf einen rassistischen Machtzuwachs zurückzuführen sind.“ Walgenbach 2005a, S. 157. 116 Margarethe von Zastrow argumentierte: „Das Mädchen soll die zu Hause erworbenen Kenntnisse vertiefen, soll auch sehen, wie andere wirtschaften, wie sachgemäß Buch geführt wird; sie soll von Krankenpflege das Wichtigste verstehen. Das lernt sie nicht zu Hause, dazu muß sie, wenn irgend möglich, in die Heimat der Eltern.“ Margarethe von Zastrow: Südwestafrikanische Erziehungsfragen, in: Frauenbund der DKG (Hg.), Koloniale Frauenarbeit, Berlin 1926, S. 9-13, S. 12. 117 Ein kurzer Abriss zur Geschichte der Kolonialen Frauenschule findet sich bei Linne 2007a, S. 131-136.
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Schneiderei oder Buchführung vor.118 Gleichzeitig sollte der Aufenthalt die Mädchen auf ihre Mutterrolle vorbereiten und in der Zukunft dazu befähigen, durch eine entsprechende Erziehung der eigenen Kinder ‚deutsche Kultur‘ in Südwestafrika aufrechtzuerhalten. Dafür brauche die junge Frau, so von Zastrow, „auch einen inneren Zusammenhang mit der Heimat, denn aus ihrem Gemüt heraus wird sie die Liebe zur deutschen Heimat in ihren Kindern wecken und hüten.“119 Aus diesen Ausführungen lässt sich lesen, dass für Mädchen und junge Frauen weniger existenzsichernde Berufstätigkeiten geplant wurden, sondern sie vielmehr ihren Beitrag zu einem zukünftigen Familienleben leisten sollten.120 Unabhängig von diesen Qualifizierungsbedingungen und -forderungen waren die Aufenthalte für beide Geschlechter von Beginn an auf eine begrenzte Dauer ausgerichtet. Entweder nach Abschluss ihrer Qualifizierung oder, wie es der Frauenbund forderte, idealerweise nach etwa zwei Jahren sollten die Siedlernachkommen nach Südwestafrika zurückkehren. In diesem Sinne widersprach Hedwig von Bredow im Juli 1925 einer Mutter aus Südwestafrika, die beim Frauenbund um Unterstützung ihres Sohnes gebeten hatte, und begründete ihre Sichtweise gegenüber dem Auswärtigen Amt wie folgt: „Frau Burzynski schreibt, sie will den Sohn nach Deutschland geben: ‚weil sich hier doch schwer eine Zukunftsmöglichkeit für einen Knaben bietet.‘ Nun ist meiner Ansicht nach dieser Standpunkt der Frau ein vollkommen verfehlter. Die Zukunftsmöglichkeiten für junge Leute sind unseres Erachtens nach hier in Deutschland so schwierig, dass es wohl verkehrt wäre, die Jugend aus Südwest nach hier zu ziehen, um sie hier zu behalten.“ 121
Seit Mitte der 1920er Jahre verschlechterten sich die Arbeitsmöglichkeiten für die junge Generation in Deutschland, wovon insbesondere männliche Jugendliche betroffen waren. Mit der im Jahr 1929 einsetzenden Weltwirtschaftskrise spitzte sich die Situation noch einmal dramatisch zu. Deshalb versuchte von Bredow, die Siedlernachkommen vor diesen Bedingungen zu bewahren und implizit jegliche Kon118 Vgl. Margarethe von Zastrow: Fortbildung afrikanischer Jugend in Deutschland, in: Frauenbund der DKG (Hg.), Koloniale Frauenarbeit, Berlin 1930, S. 31-34, S. 32f. 119 Ebd., S. 12. 120 Eine ähnliche Sichtweise beschreibt Elizabeth Buettner für britische Familien, die zwischen Ende des 19. und Mitte des 20. Jahrhunderts in Indien lebten: „[E]ducation in Britain […] was especially crucial for boys as their stepping stone into professions that brought a higher socio-economic (and racial) status both in Britain and overseas in adulthood. Girls’ experiences, meanwhile, could differ greatly, because few families prioritized preparing them for future careers.“ Buettner 2004, S. 110. 121 BArch, R 1001/1953a, Bl. 138, Schreiben des Frauenbundes der DKG, von Bredow, an das Auswärtige Amt, 22.7.1925.
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kurrenz zwischen ihnen und Gleichaltrigen in Deutschland zu vermeiden. 122 Diese für temporäre Aufenthalte sprechenden Aspekte der schwierigen Existenzbedingungen und der Konkurrenz untermauerte der Frauenbund mit dem Argument des „schon so überbevölkerten Deutschland[s]“123 und hob in diesem Zusammenhang die zukünftige Rolle der Siedlernachkommen hervor. „Führer und Stütze des Deutschtums“ sollten sie werden und als „Bindeglied zwischen den Menschen der alten und der neuen Heimat“ fungieren, „die sonst zu sehr einander entfremden, und sich gegenseitig nicht mehr verstehen.“124 Neben der verlangten zukünftigen Führungsrolle verweisen diese Ausführungen zugleich auf einen erweiterten Verantwortungsrahmen der Siedlernachkommen. Standen bislang vor allem die ihnen folgenden Generationen im Fokus, denen sie ‚deutsche Kultur‘ weitergeben sollten, so galt es nun, auch die Generationen vor ihnen vor einer ‚Entfremdung‘ von Deutschland zu bewahren. Offensichtlich wird hier die Nutzung ähnlicher Argumente in verschiedenen Diskussionen. Auf den Topos vermeintlicher ‚Überbevölkerung‘ rekurrierten die Kolonialverbände auch in ihrer revisionistischen Forderung nach Rückgabe der ehemaligen Kolonien, den die koloniale Jugendbewegung aufgriff. Sie argumentierten mit der Notwendigkeit ‚deutschen Lebensraums‘, den sie, ‚Degenerationsszenarien‘ prophezeiend, insbesondere zur Entfaltung der jungen Generation forderten.125 Um der Forderung nach Rückkehr Nachdruck zu verleihen, ließ der Frauenbund die (Eltern der) Stipendiatinnen und Stipendiaten einen Verpflichtungsschein ausfüllen, wobei er die Zweijahresregelung als „nicht so streng aufzufassen“ betrachtete.126 Da die Qualifizierungen meist länger dauerten, wollte er mit dieser allgemeinen Regel vielmehr verhindern, dass sich die Siedlernachkommen in Deutschland „fest niederlassen.“127 Grundsätzlich war die Debatte von den Interessengegensätzen der Akteurinnen und Akteure geprägt. Eine Minderheit kritischer Stimmen lehnte die Deutschlandaufenthalte aus Angst vor einer ‚Entfremdung‘ der Siedlernachkommen von Südwestafrika ab. Die Befürworter/innen hingegen beabsichtigten der ‚Entfremdung‘ 122 Auch das Deutsche Auslandsinstitut in Stuttgart verlangte von Studierenden und Auszubildenden, denen es Freistellen gewährte, eine Rückkehr nach Übersee, um „in Deutschland jede Konkurrenz auszuschließen“. Otto Meyer: Die deutschen Schulen in Südwestafrika, in: Mitteilungen des Frauenbundes der DKG, 1929, Nr. 4, S. 38. Zur Arbeitssituation der jungen Generation in der Weimarer Republik vgl. Abschnitt 1.1. 123 Vorstandssitzung des Frauenbundes der DKG in Stuttgart am 31.6.1928 (technische Hochschule), in: Mitteilungen des Frauenbundes der DKG, 1928, Nr. 7, S. 54-56, S. 55. 124 Ebd. 125 Vgl. dazu Abschnitt 3.1. 126 NAN, A.221/163-90/40, Schreiben von Agnes von Boemcken an von Schauroth, 28.11.1930. 127 Ebd.
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von (der elterlichen ‚Heimat‘) Deutschland entgegenzuwirken und konzentrierten sich in ihren Erwartungen an die Siedlernachkommen weitgehend auf zwei Aspekte: die Verinnerlichung ‚deutscher Kultur‘ mittels schulischer Disziplinierung und Indoktrination sowie die berufliche Qualifizierung als Voraussetzung für ihre spätere Existenzsicherung. Beides zeigte den Wunsch der Diskutierenden, die verlorene politische Herrschaft in Südwestafrika durch eine Dominanzposition auf kultureller und ökonomischer Ebene abzufedern. Diese wiederum sollten die Siedlernachkommen in der geforderten Rolle als ‚deutsche Kulturträger/innen‘ zukünftig repräsentieren. Die Diskutierenden knüpften ihre Vorstellungen von ‚deutscher Kultur‘ an Bedeutungskonstruktionen von Deutschland, die sich auf Bauwerke, industrielle Produktionsstätten, wechselnde Landschaftsformationen und sinnstiftende Aktivitäten fokussierten. Der Interaktion der Heranwachsenden mit dieser Materialität schrieben sie eine identitätsbildende Prägekraft zu, ebenso wie Deutschland als territorialem Gebilde, wo es vorübergehend ‚Wurzeln‘ zu schlagen galt. Eine ausführliche Auseinandersetzung über die Qualifizierung der Heranwachsenden gab es kaum, weder im Hinblick auf verschiedene Berufsmöglichkeiten noch daraus resultierende Zukunftsaussichten in Südwestafrika. Daran wird deutlich, dass die diskursiv geprägten Wahrnehmungsmuster und Wertvorstellungen der Diskutierenden die realen Handlungsmöglichkeiten für Siedlernachkommen in den Hintergrund treten ließen. Allerdings unterschieden die Beteiligten nach Berufsgruppen der Eltern und Geschlecht und hatten vor allem die männliche Jugend im Blick. Sie verwiesen auf die vielseitigeren Qualifizierungsmöglichkeiten für männliche Heranwachsende. Zudem forderten einige Akteurinnen und Akteure, Deutschlandaufenthalte vor allem für Söhne von Handwerkern als großer Berufsgruppe zu ermöglichen, um deren Weiterbildung in der Südafrikanischen Union aus zwei Gründen unbedingt zu verhindern: aus Angst vor dem Verlust angenommener fachlicher Überlegenheit gegenüber südafrikanischen Konkurrenten und ausgehend von der prägenden Wirkung des Territoriums auf Identität vor dem Verlust ‚deutscher Kultur‘. Bei den Mädchen standen Töchter aus Farmerfamilien im Mittelpunkt. Sie sollten sich entweder auf das Erlernen weiblich konnotierter Tätigkeitsfelder des Farmlebens konzentrieren und dies in der Kolonialen Frauenschule in Rendsburg fortsetzen oder eine Ausbildung in der Krankenpflege, Schneiderei oder Buchführung absolvieren. Gleichzeitig war eine familiale Perspektive auf sie gerichtet. Wie schon während der Frauenauswanderung in die Kolonien seit Beginn der 20. Jahrhunderts wurden auch sie als zukünftige Ehefrauen und Mütter betrachtet, die nach ihrem Deutschlandaufenthalt zur Weitergabe ‚deutscher Kultur‘ an die nächste Generation in der Lage sein sollten. Inwiefern Siedlereltern solche Perspektiven teilten, beleuchtet der nächste Abschnitt.
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4.3 ZWISCHEN PREKÄREN LEBENSLAGEN UND DISKURSIVEN PRÄGUNGEN: PERSPEKTIVEN VON ELTERN Im Mittelpunkt dieses Abschnitts stehen die unterschiedlichen Perspektiven von Siedlereltern. Wenn sie sich entschieden hatten, ihr Kind bzw. ihre Kinder für eine bestimmte Zeit nach Deutschland zu schicken, baten sie entweder die verbandlichinstitutionellen Vertreter/innen um Unterstützung oder sie kümmerten sich eigenverantwortlich um die Organisation der Aufenthalte. Ziel des Abschnitts ist es, die elterlichen Motivationen, die sich zwischen prekären Lebenslagen und diskursiven Prägungen bewegten, in ihrer Unterschiedlichkeit und Vielfalt zu beleuchten. In der nur spärlich vorhandenen Forschungsliteratur wurden sie bislang nicht berücksichtigt. Das vorliegende, teilweise retrospektive Material ist allerdings zu disparat und von zu geringer Anzahl, um die Motivationen von Eltern gewichten zu können. Daher dient es vor allem zur Kontrastierung mit den zuvor erörterten verbandlichinstitutionellen Vorstellungen und Erwartungen, sodass sich zeigen wird, dass die Lebenslagen der Familien die Fiktion eines Erhalts ‚deutscher Kultur‘ meist überlagerten. Ein Grund für die Entscheidung eines Deutschlandaufenthalts der eigenen Kinder war die problematische Finanzierbarkeit von Schulbesuchen in Südwestafrika. Im Unterschied zu den Regierungsschulen waren die sieben noch vorhandenen deutschen Privatschulen kostenpflichtig. Aufgrund ihrer prekären Finanzlage konnten nicht alle Familien das erforderliche Schulgeld zahlen, so auch der in Swakopmund lebende gelernte Fotograf Karl Schulte. Im Juli 1923 teilte er der DKG mit, dass er die zum Erhalt der Schule ansteigenden Kosten für seine vier Kinder nicht mehr aufbringen könne, aber auch der Besuch der „Englische[n] Regierungsschule“ für ihn nicht infrage komme.128 Da seine älteste Tochter zur weiteren Ausbildung bereits nach Deutschland zu seinem Bruder gereist war, bat Schulte die DKG nunmehr darum, beim in Thüringen gelegenen Töchterheim Neudietendorf darauf hinzuwirken, aufgrund seiner Wirtschaftslage die geforderten Pensionskosten für seine
128 BArch, R 8023/991, Bl. 28, Brief von Karl Schulte an die DKG, 13.7.1923. Im August 1921 hatten auch Johannes und Anna Hälbich das zu teure Schulgeld beklagt, konnten ihren Sohn allerdings erst einige Jahre später nach Deutschland reisen lassen. Vgl. NAN, A.596, Brief von Anna Hälbich an Clara von Goldammer, Karibib, 8.8.1921 und zum Kontext Abschnitt 6.1.
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Tochter zu senken.129 Darauf ließ sich dieses allerdings nicht ein, sondern bestand auf „deutschen Zahlungsbedingungen“.130 Für den Farmer Kries war die Lage offensichtlich so dramatisch, dass er 1921 zwei seiner Söhne aus „pekuniären Gründen“ von der Schule genommen hatte, die ihre Mutter fortan zu Hause unterrichtete. 131 Einen Ausweg sahen die Eltern in der Reise ihrer Kinder zu Verwandten nach Görlitz im März 1924. Auch in späteren Jahren blieben finanzielle Probleme von Siedlerfamilien bestehen, was vor dem Hintergrund von Weltwirtschaftskrise und spezifischer Schwierigkeiten vor Ort wenig verwundert. Den Ende 1931 für ihren Sohn gestellten Antrag auf freie Überfahrt nach Deutschland begründete Margarete Brandt aus Usakos so: „Wie ich in meinem Gesuch schon erwähnte, ist mein Mann erwerbslos und ohne Mittel. Mein Mann und ich haben kein Heim, das wir unserem Sohn bieten können. Auch ist mein Verdienst zu gering, dass ich ihn irgendwo anders unterbringen könnte. Da sich für meinen Sohn bei meinen Eltern in Dortmund freie Unterkunft und freier Schulbesuch bietet, wäre es bedauerlich, wenn diese Gelegenheit nicht benutzt würde.“132
Dieses Beispiel und die späteren Ausführungen in Kapitel 5 verdeutlichen, dass Eltern zur Versorgung ihrer Kinder die Möglichkeit eines kostenfreien Schulbesuchs in Deutschland zu nutzen versuchten und nicht wenige von verwandtschaftlicher Unterstützung profitieren konnten.133 Manchmal blieb es bei einem Wunsch, da Eltern das notwendige Geld für die Überfahrt und die zusätzlichen Kosten in Deutschland nicht bezahlen oder anderweitig auftreiben konnten.134 Neben diese finanziell begründete Motivation trat die große Skepsis von Eltern gegenüber einer Schulbildung der eigenen Kinder zusammen mit burischen Gleichaltrigen. Die damit verbundene Angst vor einer ‚kulturellen Verformung‘ ihrer Kinder teilten sie mit der Mehrheit der verbandlich-institutionellen Akteurinnen 129 Vgl. BArch, R 8023/991, Bl. 28f., Brief von Karl Schulte an die DKG, 13.7.1923. 130 BArch, R 8023/991, Bl. 26, Schreiben des Töchterheims Neudietendorf an die DKG, 16.8.1923, Herv. i. Org. 131 AA-PA, Paket 45 D II b2, Schreiben an das Deutsche Generalkonsulat in Pretoria, Windhoek, 16.11.1923. 132 NAN, A.221/159-90/31, Schreiben von Margarete Brandt an Dr. Lorenz, 28.1.1932. 133 Auch Angehörige der Familie Wehr, die Südwestafrika vorübergehend aus wirtschaftlichen Gründen verließen, konnten auf Verwandte zurückgreifen. Zusammen mit ihren Kindern reiste Rosemaria Wehr 1929 für ein bis zwei Jahre nach Deutschland, um bei Verwandten der beginnenden Depression in Südwestafrika zu entkommen. Vgl. Privatarchiv Bütow, Kurt-Wilhelm Bütow: A global journey by the descendants of Bütow, Pretoria 2002, S. 249. 134 Davon berichtete rückblickend Kurt Kleyenstüber. Vgl. Gretschel 2009, S. 211.
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und Akteure. Während der Fotograf Schulte den gemeinsamen Schulbesuch grundsätzlich ablehnte, gingen die Kinder des Farmers Sauber bereits auf eine Regierungsschule. Da er diesen Umstand allerdings beenden wollte, bat er die DKG im November 1921 um Reisekostenübernahme für eine Farmlehrkraft, deutete aber zugleich an, seine Kinder perspektivisch vielleicht in Deutschland weiterbilden zu lassen.135 Doch nicht alle Eltern stimmten in diese Meinungsmache ein. Sie nutzten die sich an Regierungsschulen bietenden Möglichkeiten, mussten jedoch mit scharfer Kritik rechnen, wie sie beispielsweise die Windhoekerin Louise Diener über Pastor Ebers im März 1926 formulierte: „Es ist ein Jammer, das [sic] wir so einen Pastor hier haben. Auch er hat seinen Sohn, etwa 15 Jahre alt, vor einiger Zeit herausgenommen aus dem Gymnasium, das er in Deutschland besuchte und ihn hier in die ‚englische‘ High-school [sic] geschickt, da er später doch nach England soll, kann er auch englisch erzogen werden! Und das will ein deutscher Pastor sein hier draussen!“136
Dieners Entsetzen macht deutlich, dass sie den Wechsel von einer Schule in Deutschland auf eine Regierungsschule in Südwestafrika und dazu noch die geplante Zukunftsperspektive in England als Verrat am deutschen Siedlerkollektiv bewertete. Hinzu kam, dass Ebers engen Kontakt zu Medizinalrat Dr. Schaumberg pflegte, den Diener als seinen „beste[n] Freund und Ratgeber“ bezeichnete und den sie ebenfalls als vermeintlichen ‚Abweichler‘ im Visier hatte.137 Schaumburgs Sohn hatte nach Abschluss der Deutschen Realschule in Windhoek in Kimberley (Südafrikanische Union) das Christian Brother College absolviert, um danach in Deutschland ein Studium aufzunehmen.138 Wenngleich die Mehrheit der Siedler/innen Dieners Position teilte, so gab es mit dem deutschen Regierungsschulinspektor für Südwestafrika Frey und der Lehrerin von Eckenbrecher auch Stimmen, die die Situation an den Regierungsschulen verteidigten. 139 Zudem weisen diese Beispiele darauf hin, dass einige Eltern ihre Kinder (zeitweise) in der Südafrikanischen Union qualifizieren ließen, ohne sich von dem viel diskutierten Argument der kulturellen Beeinflussung hindern zu lassen. Andere Eltern bestanden auf einer schulischen und/oder beruflichen Qualifizierung ihrer Kinder in Deutschland, die somit eine weitere Motivation markierte, und 135 Vgl. BArch, R 8023/959, Bl. 119, Schreiben von H. Sauber an die DKG, 3.11.1921. Ein Sohn reiste Ende der 1920er Jahre nach Deutschland. 136 BArch, R 8023/960a, Bl. 70, Abschrift eines Auszugs aus dem Brief von Louise Diener an ihren Cousin C. Kettler in Bremen, 26.3.1926. 137 Ebd. 138 Vgl. BAB, o.V.: Die ersten Studenten, in: Der Reiter von Südwest, 1928, Nr. 4, S. 5. 139 Vgl. Abschnitt 4.1.
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begründeten dies unterschiedlich. Rückblickend erklärte der Siedler Meisel im Juli 1929, er habe vor acht Jahren seine vier Söhne für eine „gute deutsche Erziehung und Berufsausbildung“ nach Deutschland reisen lassen.140 Diese Ansicht teilten nicht wenige Missionsfamilien, die zudem in Form entsprechender Bildungsstätten an verschiedenen Orten auf eine vorhandene Infrastruktur zurückgreifen konnten. 141 Während zwei Kinder der Familie Detering bereits seit 1913 in Deutschland zur Schule gingen, reisten die restlichen Kinder 1921 gemeinsam mit ihren Eltern nach.142 Seit diesem Jahr lebte auch Missionsfamilie Brockmann in Deutschland. Die Heranwachsenden beendeten dort ihre Schulbildung und erlernten verschiedene Berufe,143 ebenso wie die Kinder einer anderen Missionsfamilie, die in den 1920er Jahren zu unterschiedlichen Zeiten nach Deutschland kamen. 144 Nach einigen Jahren kehrten die Eltern Detering und Brockmann ohne ihre Kinder nach Südwestafrika zurück, die ihnen später folgten, allerdings nicht alle dort blieben. Hinzu kamen spezifische Ansprüche an die Qualifizierung, wie sie beispielsweise der Swakopmunder Pfarrer Heyse hatte, aber aus Zeitgründen nicht selbst zu leisten vermochte. Sein Sohn, der seit 1923 die Staatliche Bildungsanstalt in Potsdam besuchte, sollte eine „sehr moderne Schulbildung“ erhalten und die gesamte Schulzeit hindurch Latein lernen.145 Daneben versuchten Eltern, den Berufswünschen ihrer Kinder nachzukommen, die allerdings mit den Möglichkeiten in Südwestafrika mitunter nicht vereinbar waren. So beabsichtigte die Tochter des Farmers Karl Quentin „Lehrerin zu werden, um später einmal in einer deutschen Schule in S.W.A. [Südwestafrika, S.H.] unterrichtlich tätig sein zu können. Zu diesem Zweck muss sie nach Deutschland, um hier in […] einer Mädchen-Vollanstalt […] das Abiturexa-
140 BArch, R 8023/992, Bl. 75, Schreiben von B. Meisel an Linke, 21.10.1929. 141 Dazu gehörte das Johanneum der Rheinischen Mission in Gütersloh. Vgl. o.V.: 50 Jahre Johanneum Gütersloh. Zur Jubelfeier eines kolonial- und auslandsdeutschen Jugendheimes am 7. September 1930, in: Mitteilungen des Frauenbundes der DKG, 1930, Nr. 9, S. 110-111. Ferner weist Karen Smidt darauf hin, dass auch während der Kolonialherrschaft Missionsfamilien ihre Kinder in der Regel zur Schulbildung nach Deutschland schickten. Vgl. Smidt 1997, S. 105. 142 Vgl. NAN, A.699, Lebenserinnerungen von Friedrich Wilhelm Detering, 1. Teil, S. 15. 143 Vgl. Brockmann 1992, S. 246-255, S. 260-261, S. 266, S. 273-276, S. 281-283. 144 Davon berichtete die Interviewpartnerin Anna im Interview am 30.10.2010. In fortgeschrittenem Alter der Siedlernachkommen konnte ein Bildungsaufenthalt auch zur Eheschließung führen. Ein etwa 25-jähriger Student heiratete eine Frau aus Deutschland und kehrte nach seinem Studium mit ihr nach Südwestafrika zurück. Davon erzählten Gerda und Karl im Interview am 17.10.2010. 145 AA-PA, 74 D II h2, Schreiben des Pfarrers Heyse an den Geheimen Regierungsrat Franz, 15.4.1925.
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men zu machen.“146 Der Mangel an Ausbildungsstellen oder Fortbildungsmöglichkeiten konnte zusätzlich mit der unglücklichen oder aussichtslosen Lebenssituation der Siedlernachkommen verknüpft sein. Mit Verweis auf eine freudlose Schulzeit, die er mit der Obersekunda beendete und der ein Jahr auf der väterlichen Farm folgte, erklärte Adolf Bernhard rückblickend: „Mein Vater konnte mit mir nichts anfangen, in Windhoek gab es keine Lehrstellen, dann hat er mich nach Deutschland geschickt. Ich bin in die Reichswehr eingetreten. Ich mußte mich zwölf Jahre verpflichten.“147 Die Unterbringung in Deutschland sollte allerdings nicht irgendwo stattfinden. Wie es Vertreter/innen von Schulen, Vereinen und Verbänden in ihren Erwartungen an die Aufenthalte formulierten,148 beabsichtigten auch Eltern, dass ihre Kinder die Herkunftsregion der Familie kennenlernten, im Idealfall dort lebten, was sich im Rahmen einer Unterbringung bei Verwandten wahrscheinlich leichter umsetzen ließ. Der ehemalige Soldat Kaiser, der im Anschluss Farmer geworden war, ließ seinen Sohn in den 1920er Jahren „in Verbundenheit zum fernen Ostpreussen auf das Realgymnasium nach Königsberg“ gehen, wie es retrospektiv hieß.149 Über diese Motivationen hinaus begründeten besondere Ereignisse wie Todesfälle oder Krankheiten in der Familie die Entscheidung für einen Deutschlandaufenthalt und erforderten finanzielle Unterstützung. Als letzten Wunsch hatte die verstorbene Ehefrau des Farmers Deckert geäußert, die Kinder bei ihrem in Stettin lebenden Bruder erziehen zu lassen. Da dieser sich nach der im Versailler Vertrag festgelegten Zugehörigkeit der preußischen Provinz Posen zu Polen selbst in einer
146 BArch, R 8023/157, Bl. 34, Schreiben des VDA an die DKG, 26.4.1927, Herv. i. Org. 147 NWG Zeitungsarchiv, Das älteste Mitglied des DHPS-Altschülerverbandes. Interview mit Herrn Adolf Berhard [sic] im Susanne Grau Heim am 19. März 2003, in: Plus, 7.5.2004, S. 6. Ähnliches erzählte Wilhelm Stritter im Rückblick auf seine Swakopmunder Schulzeit: „Ich war sehr unglücklich dort. Das war sicher ein Grund, weshalb meine Eltern meine Schwester und mich zu meinen Verwandten nach Deutschland an den Rhein schickten.“ NWG Zeitungsarchiv, Elvira Riegel: Wem gehört die Christuskirche? – Onkel Stritter zum 85. Geburtstag eines Pioniers, in: Allgemeine Zeitung, 18.8.1995, o.S. 148 Beispielsweise hielt Winkler von der DKG die Einrichtung einer zentralen Ausbildungsstätte für Siedlernachkommen für unzweckmäßig, „weil die Eltern der betreffenden Kinder naturgemäss es wünschen würden, sie in ihrer eigenen Heimat erziehen zu lassen.“ BArch, R 8023/991, Bl. 40, Schreiben von Winkler an Studienprofessor E. Schramm in Mannheim, 26.5.1922. 149 Kuntze 1982, S. 98.
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Notlage befand, plädierte die DKG für eine Unterstützung der Reisekosten. 150 Daneben ließ der Rechtsagent und Farminhaber Hans Schenck, dessen Frau Anna 1919 nach Deutschland zurückgekehrt und dort zweieinhalb Jahre später an Malaria verstorben war, seine beiden Kinder zunächst in der Farmschule des Ehepaars von Prittwitz erziehen und sie 1923 zu Verwandten nach Deutschland reisen.151 In einer anderen Familie war es der Gesundheitszustand der Ehefrau und die Einschätzung einen „sehr gut begabten Sohn“ zu haben, für den der weitere Schulbesuch in Deutschland von „großem Nutzen“ sei, die den Lüderitzbuchter Schlosser Otto Zwiesler im Januar 1922 veranlassten, bei der DKG die Zahlung der Reisekosten zu beantragen.152 Bereits diese wenigen Beispiele verdeutlichen, dass, von einigen Ausnahmen abgesehen, Eltern von der Angst vor der viel diskutierten ‚Verburung‘ der Siedlernachkommen geprägt waren. Übereinstimmend mit Vertreterinnen und Vertretern von Vereinen und Institutionen betonten sie zudem die Bedeutung einer ‚guten deutschen‘, mitunter modernen schulischen und beruflichen Qualifizierung, sodass auch bei ihnen die Frage um den zukünftigen Erhalt ‚deutscher Kultur‘ mehr oder weniger präsent war. Gleichzeitig wird aber deutlich, dass diese Argumente nicht allein handlungsleitend für sie waren, formulierten sie ihre Anliegen doch auch auf der Grundlage ihrer konkreten Lebensbedingungen. Ihre Entscheidungen für einen Deutschlandaufenthalt waren von finanziellen Notlagen und spezifischen familiären Lebenssituationen beeinflusst, die unabhängig von den diskursiv überformten Sichtweisen bestanden. Es ist davon auszugehen, dass sich manche Eltern eher aus strategischen Gründen auf dominante Diskursstränge beriefen, um beispielsweise finanzielle Unterstützung zu erhalten, ihre Beweggründe aber eigentlich andere waren. Die in der Öffentlichkeit dominierenden Diskurse über Zustand und zukünftige Repräsentationsfunktionen der Siedlernachkommen stimmten somit nicht unbedingt mit den Interessen und Handlungsweisen von Eltern überein. So fällt bezüglich des in der Sozialisationsdebatte präsenten Gefährdungsdiskurses auf, dass sich Eltern – zumindest in den vorliegenden Dokumenten – nicht mit der Wirkung der klimatischen Bedingungen auseinandersetzten. Dies hing vermutlich mit der eigenen Be-
150 Vgl. dazu den Briefwechsel in BArch, R 8023/991, Bl. 43-46, der zwischen Frauenbund, DKG und dem Geheimen Regierungsrat von Zastrow im Zeitraum 10.5.1922 bis 12.6.1922 stattfand. 151 Vgl. BAB, Abdruck des in der Allgemeinen Zeitung erschienenen Nachrufs für Ursula Massmann, in: Gesellschaft für wissenschaftliche Entwicklung Swakopmund – Nachrichten, 17. Jg., 1985, Nr. 3, S. 28-30. Siehe auch Gretschel 2009, S. 11. 152 Vgl. BArch, R 8023/991, Bl. 69, Schreiben von Otto Zwiesler an die DKG, Lüderitzbucht, 12.1.1922.
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troffenheit zusammen, lebten doch auch die Erwachsenen in dieser klimatischen Umwelt und wollten eine Reflexion darüber möglicherweise vermeiden.153 Beeinflusst durch die Wünsche von Eltern nach (überwiegend) finanzieller Unterstützung schufen Repräsentantinnen und Repräsentanten der Siedlerbevölkerung zusammen mit Kolonialverbänden eine Infrastruktur zur Umsetzung von Schul- und Ausbildungsaufenthalten. Dies sollte sich allerdings als mühsamer Prozess erweisen.
4.4 DIE INFRASTRUKTUR DER MOBILITÄT Die Organisation von Deutschlandaufenthalten für Siedlernachkommen übernahmen in erster Linie die DKG und der Frauenbund. Ihre Arbeit bestand darin, Reisebeihilfen, Schul- oder Ausbildungsstipendien zu beschaffen und zu vermitteln, geeignete Bildungsinstitutionen und Unterkünfte zu finden, bei Bedarf eine Unterbringung während der Ferienzeiten zu organisieren,154 ferner auch Berufsberatung durchzuführen.155 Dabei kooperierten sie zum einen mit verschiedenen Verbänden und Institutionen in Deutschland. Der Verein für das Deutschtum im Ausland stellte Stipendien zur Verfügung, das Deutsche Auslandsinstitut in Stuttgart und der Stahlhelm waren bei der Vermittlung von Ausbildungsstellen behilflich, das Auswärtige Amt beteiligte sich an der Finanzierung von Stipendien.156 Zum anderen gab es einen engen Austausch mit deutschen Interessengruppen in Südwestafrika. 153 Solch eine Dethematisierung hat Elizabeth Buettner für britische Familien herausgearbeitet, die über ihre Familiengeschichten in Indien reflektierten: „No one describing their own family experiences even hinted that childhood years in India could result in long-term or irreversible physical damage unless children actually died. Hereditarily transmitted tropical debilities, permanent deterioration or degeneration, or possible sterility never featured in either contemporary or retrospective accounts of personal life. Indeed, as many parents had been born in India and presumably preferred to see themselves as free from the stigmas of degeneration, they might easily take heart from their own und wider family experiences when deciding how to raise their children.“ Buettner 2004, S. 51. 154 Margarete Schnitzker: Zwei Jahrzehnte Koloniale Frauenarbeit, in: Frauenbund der DKG (Hg.), Koloniale Frauenarbeit, Berlin 1928, S. 14-21, S. 20. 155 Dem Frauenbund zufolge erforderte diese Beratungsfunktion viel Engagement, um den Wünschen, Neigungen und Fähigkeiten der Siedlernachkommen gerecht zu werden. Vgl. Nora von Steinmeister: Bericht über unsere Arbeit 1927-28, in: Mitteilungen des Frauenbundes der DKG, 1928, Nr. 6, S. 48. 156 Vgl. u.a. Nora von Steinmeister: Jahresübersicht 1930-31, in: Frauenbund der DKG (Hg.), Jahresbericht 1930-31, Berlin, S. 1-12, S. 6 und S. 12.
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Diese bemühten sich nicht nur um Finanzierungsmöglichkeiten der Aufenthalte, sondern schickten auch Empfehlungen nach Deutschland und beeinflussten dementsprechend die Auswahl der Siedlernachkommen. Der Landesverband der deutschen Schulvereine kümmerte sich um Reisestipendien, die Farmwirtschaftsgesellschaft für Südwestafrika157 begutachtete Anfragen von Siedlerfamilien, ebenso wie der Deutsche Bund, der sich darüber hinaus an der Umsetzung der Deutschlandaufenthalte beteiligte. Schließlich berieten die Ortsgruppen des Frauenbundes ihre Zentrale in Deutschland bei der Auswahl von Stipendiatinnen und Stipendiaten. 158 Diese verschiedenen Vereine wiederum standen nicht allein mit DKG und Frauenbund in Kontakt, sondern hatten auch direkte Verbindungen zu anderen Verbänden in Deutschland. Unterstützungsbedarf ergab sich aus zeitgenössischer Perspektive vor allem für Siedlernachkommen aus unteren und mittleren Schichten. Wie Margarethe von Zastrow 1921 ausgehend von ihren Erfahrungen in Südwestafrika verallgemeinerte, gab es einerseits Heranwachsende, deren Elternhaus in Südwestafrika „heimischen Verhältnissen ziemlich ähnlich“ sei.159 Die Eltern verfügten über höhere Bildung, seien mit Verwandten in Deutschland in Verbindung und die Kinder selbst hätten bereits Urlaube in Deutschland verbracht. Im Unterschied zu diesen Familien, die kaum nach Unterstützung für ihre Kinder verlangten, berichtete von Zastrow andererseits von Eltern mit nur geringen Beziehungen nach Deutschland. Sie hätten sich in Übersee eine solide Lebensgrundlage geschaffen und wollten nun für ihre Kinder einen besseren Bildungsweg als den eigenen erreichen. „Der Vater ist als Handwerker, Soldat oder Angestellter hinausgegangen, hat sich durch eigenen Fleiß und Tüchtigkeit eine Existenz geschaffen, ist durch Arbeiten an seiner Weiterbildung über seine bisherige Lebensatmosphäre hinausgewachsen. Er erkannte: Bildung ist
157 Die im Jahr 1917 gegründete Farmwirtschaftsgesellschaft für Südwestafrika fungierte als landwirtschaftliche Genossenschaft. Sie konnte ihren bevorstehenden Konkurs in der Nachkriegszeit nur durch geringe Mitgliedsbeiträge sowie durch die Unterstützung von DKG und Auswärtigem Amt abwenden. In dieser Zeit war sie unter ihrem Geschäftsführer Paul Barth für die Beratung deutscher Einwanderer nach Südwestafrika und die Vermittlung von Stellen zuständig. Zu ihrer Geschichte bis zur endgültigen Auflösung im April 1935 vgl. Eberhardt 2007, S. 147-149. 158 Die Zentrale betrachtete ihre Ortsgruppen in Südwest- und Ostafrika als Vermittlerinnen zwischen Übersee und Deutschland. Im Jahr 1932 gab es insgesamt 24 Ortsgruppen. Vgl. Agnes von Boemcken: Aus der Geschichte des Frauenbundes der DKG, in: Frauenbund der DKG (Hg.), 25 Jahre Koloniale Frauenarbeit, Berlin 1932, S. 3-9, S. 7. 159 M. von Zastrow: Erziehung auslandsdeutscher Kinder in Deutschland, in: Deutsche Kolonialzeitung, 38. Jg., 1921, Nr. 5, S. 56-57, S. 56.
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Macht und will seinen Kindern mehr ins Leben an Bildung mitgeben, als seine Eltern ihm geben konnten.“160
Kinder dieser Eltern hätten infolge des eher einsamen Farmlebens einen beschränkteren Horizont und seien bei ihrem ersten Schulbesuch recht „weltfremd“, so von Zastrow weiter.161 Da weder die ersten Schuljahre noch weiterführende Schulen in Südwestafrika ausreichend ertragreich seien, äußerten Eltern den Wunsch, „ihr Kind in die Heimat [zu, S.H.] schicken, damit in ihm die Beziehungen zur Heimat wieder aufleben, damit das Kind ganz heimatlichen Geist kennenlerne.“ 162 Die angemessene Gestaltung ihres weiteren Bildungswegs stellte die Unterstützenden in Deutschland allerdings vor Herausforderungen, denn die Kinder und Jugendlichen seien zwar ausreichend begabt, für ihr Alter aber zurückgeblieben, so von Zastrow abschließend. Dies verdeutlicht, dass der in Südwestafrika über die Siedlernachkommen geführte Gefährdungsdiskurs in Deutschland weitergetragen wurde und die Wahrnehmungshorizonte der beteiligten Akteurinnen und Akteure mitprägte. Ausgehend von der unterschiedlichen Unterstützungsbedürftigkeit der Siedlernachkommen beleuchtet der Abschnitt den Aufbau einer Infrastruktur zur Umsetzung der Deutschlandaufenthalte, der in der Regel von kleinschrittigen Aushandlungsprozessen geprägt war. Es wird der Frage nachgegangen, inwieweit die Mobilität an Bedingungen geknüpft wurde, denn Unterstützung sollten vor allem diejenigen Bedürftigen erhalten, die für die zukünftige Repräsentation ‚deutscher Kultur‘ geeignet schienen. Im September 1920 stellte die DKG für das Folgejahr in Aussicht, dass sie sich an den Unterhaltskosten für die weiterführende Ausbildung von Siedlernachkommen in Deutschland beteiligen werde.163 Dies unterstützte der Vorstand des Landesverbandes der deutschen Schulvereine in Südwestafrika nachdrücklich.164 Allerdings ließen sich erste Anfragen zur geeigneten Schulunterbringung, mit denen sich die DKG und der Frauenbund ab November 1920 beschäftigten, nur schwierig umsetzen.165 Mit der Begründung ungenügender Vorbildung wurde die Aufnahme von 160 Ebd. 161 Ebd. 162 Ebd. 163 BArch, R 8023/957, Bl. 405, Schreiben von Seitz an Voigts, 4.9.1920. Er bat Voigts, diese Information „unter der Hand in […] [seinen, S.H.] Bekanntenkreisen zu verbreiten“. Dies deutet darauf hin, dass sich die DKG vor zu vielen Anfragen fürchtete, und lässt vermuten, dass sie ein selektives Verfahren anstrebte. 164 Vgl. BArch, R 8023/957, Bl. 235, Schreiben des Vorstandes des Landesverbandes der deutschen Schulvereine in Südwestafrika an Seitz, 20.10.1920. 165 Vgl. BArch, R 8023/991, Bl. 128, Schreiben der [DKG] an [Margarethe von Zastrow], 3.11.1920.
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zwei Geschwistern im „Deutschen Haus, Erziehungsanstalt und Studienhaus“ in Halle, das den dortigen Franckeschen Stiftungen angegliedert war und insbesondere die Unterbringung ‚auslandsdeutscher‘ und ‚kolonialdeutscher‘ Heranwachsender vorsah, (zunächst) abgelehnt.166 Dennoch versuchte die DKG, mit Verweis auf fehlgeschlagene Bemühungen andernorts Direktor Krusius im März 1921 umzustimmen. Präsident Seitz zufolge waren es die ersten beiden Siedlernachkommen, die nach dem Krieg zur Schulbildung nach Deutschland kamen, sodass er zum einen die negative Signalwirkung zu bedenken gab, die eine Ablehnung auf andere Siedlerfamilien in Südwestafrika haben würde. Gerade unter den neuen Verhältnissen müsse „die Verbindung zwischen der deutschen Bevölkerung in Südwestafrika und der alten Heimat in jeder Beziehung aufrecht erhalten“ werden.167 Zum anderen argumentierte er, es sei nicht so entscheidend, „in welche Klasse sie aufgenommen werden“, sondern es komme darauf an, „daß sie wieder einmal mit deutschen Kindern zusammen kommen und dadurch das Band zwischen den Kindern unserer Südwestafrikaner und der Heimat enger geknüpft wird.“168 Dies lässt erkennen, dass es Seitz weniger um die Berücksichtigung individueller Erfordernisse ging, nämlich den Siedlernachkommen einen ihrem Entwicklungsgrad angemessenen Schulunterricht zu ermöglichen. Vielmehr lud er die geforderte Aufnahme der Heranwachsenden mit nationaler Bedeutung auf, indem er ihre zukünftige Identifikation mit ‚deutscher Kultur‘ erhoffte. Der Ausgang des Schriftwechsels ließ sich nicht ermitteln, aber in der Folgezeit begann eine strukturierte Unterstützungsarbeit für Siedlernachkommen. Am 6. Oktober 1921 gründeten DKG und Frauenbund die Koloniale Jugendhilfe. Sie war eine aus acht Mitgliedern bestehende gemeinsame Kommission 169 und beim Frauenbund angesiedelt.170 Unter Leitung von Hedwig von Bredow und Pfarrer Thießen zielte sie darauf, „Kinder deutscher Farmer in Südwest in der Heimat zu erziehen, damit sie deren Kultur und Sitte in sich aufnehmen und zielbewußte 166 Ebd. Es handelte sich um die beiden Kinder des Farmers Hörnig. 167 BArch, R 8023/991, Bl. 124f., Schreiben der DKG an das Deutsche Heim, Direktor Dr. Krusius, 16.3.1921. 168 Ebd., Bl. 124. 169 BArch, R 8023/991, Bl. 89, Schreiben von Winkler an Moritz, 1.12.1921. Zu den Delegierten der DKG gehörten Prof. Moritz, Chr. von Bornhaupt, Pfarrer Thießen und Pater Sonnenschein als Geschäftsführer des Reichsverbandes für die katholischen Auslandsdeutschen. Vgl. BArch, R 8023/991, Bl. 88, Schreiben der DKG Berlin an Pfarrer Thießen, 5.12.1921. Für den Frauenbund waren die Vorsitzende Frau von Bredow, Frau Professor Boetticher und Frau Hörlein vertreten. Vgl. BArch, R 8023/991, Bl. 90, Schreiben von Winkler an Chr. von Bornhaupt, 1.12.1921. 170 Vgl. BArch, R 8023/991, Bl. 36, Schreiben von Winkler an C. Kettler, Bremen, 14.7.1922.
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Deutsche werden.“171 Die Begriffe ‚Kultur‘ und ‚Sitte‘ blieben ohne nähere Bestimmung. Aufgabe der Kommission war es, über eine geeignete Unterbringung zu beraten, entsprechende Pensionen zu finden und darüber hinaus „vielleicht [zu, S.H.] versuchen, durch Mitglieder der beiderseitigen Abteilungen im Reiche eine gewisse Aufsicht über die Erziehung der einzelnen Kinder zu erreichen.“ 172 Demnach sollte über eine materielle Unterstützung hinaus auch ein gewisses Maß an sozialer Kontrolle über die Siedlernachkommen entstehen. Die Koloniale Jugendhilfe übernahm fortan die zentrale Koordination von Anfragen und diente der Kolonialen Arbeitsgemeinschaft in Berlin als Organ für Erziehungsfragen.173 Deren Vereine und Verbände waren im April 1922 dazu aufgerufen, die Koloniale Jugendhilfe über alle Unterstützungsgesuche zu informieren.174 Ihre ersten und zugleich recht verschiedenen Fälle sollten schnell zeigen, dass für die Realisierung von Aufenthalten nicht allein organisatorische Dinge, sondern vor allem finanzielle Ressourcen notwendig waren. Der Pfarrer Heyse aus Karibib bat um die Suche und Teilfinanzierung einer geeigneten Bildungsanstalt mit angeschlossenem Internat für den 13-jährigen Herbert Posnansky. Das „uneheliche Kind“ sei „nicht übermässig begabt“, aber „beste[r] Schüler in Omaruru“ und es sei lohnend, ihm „durch Ausbildung in Deutschland den Lebensweg zu bahnen“, nämlich einen weiterführenden Schulbesuch mit anschließender „Ausbildung auf einem Technikum“.175 Die Gastwirtin Helene Bütow wiederum war mit drei Kindern bereits nach Deutschland gereist und beantragte die „Gewährung von Erziehungsbei-
171 O.V.: Koloniale Jugendhilfe, in: Der Kolonialdeutsche, 2. Jg., 1922, Nr. 1, S. 10. Den Ausgangspunkt zur Gründung der Kolonialen Jugendhilfe skizzierte Seitz später wie folgt: „Daß der Unterricht der deutschen Kinder in Südwestafrika zur Zeit äußerst mangelhaft ist, ja daß eine große Anzahl von deutschen Kindern überhaupt keinen Schulunterricht genießt, ist uns bekannt. Es war das mit ein Grund für die Schulvereine, sich den Bedingungen des Administrators zu unterwerfen. Dieser Zustand hat uns auch Veranlassung gegeben, hier in Verbindung mit dem Frauenbund der Deutschen Kolonialgesellschaft einen Ausschuss (koloniale Jugendhilfe) zu bilden […].“ BArch, R 8023/991, Bl. 63, Schreiben von Seitz an C. Kettler, Hamburg-Bremer Afrika-Linie, 10.3.1922. 172 BArch, R 8023/991, Bl. 102, Schreiben von Winkler an den Frauenbund der DKG, 10.10.1921. 173 Vgl. BArch, R 8023/991, Bl. 55, Schreiben des Frauenbundes der DKG an die DKG, 17.3.1922. In der am 26. Januar 1922 gegründeten Kolonialen Arbeitsgemeinschaft bzw. Deutschen Kolonialarbeitsgemeinschaft waren die kolonialinteressierten Vereine in Berlin zusammengeschlossen. Vgl. Weißbecker 1985, S. 269. 174 Vgl. BArch, R 8023/991, Bl. 51, Schreiben im Auftrag von Winkler, 29.4.1922. 175 BArch, R 8023/991, Bl. 108, Schreiben von Winkler an die Abteilung der Volksschule des Evangelischen Johannesstifts in Spandau, 10.9.1921
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hilfen“.176 Solche finanziellen Mittel konnten die Kolonialverbände aber insbesondere bis Mitte der 1920er Jahre kaum selber zur Verfügung stellen. Die Beschaffung von Geldern, die vor allem für die Finanzierung der Überfahrten und Unterkünfte benötigt wurden, blieb über die gesamte Zeit der Weimarer Republik eine der größten Herausforderungen und unterlag konjunkturellen Schwankungen. Der Frauenbund begann sich erst um 1925 langsam von seinen stark gesunkenen Mitgliederzahlen zu erholen und zu konsolidieren. Die DKG beklagte noch 1926 ihre fehlenden finanziellen Mittel, da sie in den Jahren 1919 und 1920 die Rückreisen ‚kolonialdeutscher‘ Familien nach Südwestafrika mit ihrem gesamten Vermögen von 1,5 Millionen Mark unterstützt habe.177 Über diese eigenen Finanznöte hinaus konnten die Kolonialverbände in den ersten Nachkriegsjahren kaum Ermäßigungen bei Pensionskosten erreichen.178 Dies zeigen beispielsweise Anfragen bei der Hoffbauer-Stiftung,179 beim Evangelischen Johannesstift,180 bei Schülerheimen für Pfarrerssöhne181 oder beim Töchterheim Neudietendorf.182 Al-
176 BArch, R 8023/991, Bl. 102, Schreiben von Winkler an den Frauenbund der DKG, 10.10.1921. Auch der Reichsminister für Wiederaufbau (Kolonialzentralverwaltung) erhielt Anfragen aus Südwestafrika und leitete sie an die DKG weiter, um sie von der Kolonialen Jugendhilfe entscheiden zu lassen. Vgl. BArch, R 8023/991, Bl. 84, Schreiben der DKG an den Frauenbund der DKG, 7.12.1921. 177 Vgl. BArch, R 8023/1068a, Bl. 8, Schreiben von Seitz an Josef Lluffgen, Firma Steinhandel-Rauen AG, Werk Oberzissen, 12.5.1926. Auch in den Jahren zuvor erklärte die DKG, dass weder sie noch das Reichsministerium für Wiederaufbau (Kolonialzentralverwaltung) und das Reichswanderungsamt Fonds für die Übernahme von Reisekosten nach Deutschland hätten. Vgl. BArch, R 8023/991, Bl. 68, Schreiben der DKG an Otto Zwiesler in Lüderitzbucht, 16.2.1922. 178 Vgl. BArch, R 8023/991, Bl. 91, Schreiben von Winkler an Rittmeister a.D. F.K. von Tresckow, 21.11.1921. 179 Vgl. BArch, R 8023/991, Bl. 121, Schreiben der Hoffbauer-Stiftung an die DKG, 7.5.1921. 180 Vgl. BArch R 8023/991, Bl. 103, Schreiben des Evangelischen Johannesstifts an die DKG, 15.9.1921. 181 Vgl. BArch, R 8023/991, Bl. 95, Schreiben von Winkler an das Schülerheim für Pfarrerssöhne, Luckau N.L., 7.11.1921; BArch, R 8023/991, Bl. 94, Schreiben von Winkler an das Schülerheim für Pfarrerssöhne, Wittstock (Dosse), 7.11.1921. 182 Vgl. BArch, R 8023/991, Bl. 26, Schreiben des Töchterheims Neudietendorf an die DKG, 16.8.1923.
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lerdings war es der DKG möglich, beim VDA183 und beim Institut für Grenz- und Auslandsdeutschtum in Marburg Stipendien für Studierende zu beantragen.184 Seit Mitte der 1920er Jahre beteiligte sich auch das Auswärtige Amt an der Finanzierung von Aufenthalten.185 Infolge dringlicher Anfragen aus der Siedlerbevölkerung in Südwestafrika beauftragte es den Frauenbund mit der Unterbringung dieser Siedlernachkommen, der im Oktober 1925 die DKG davon unterrichtete.186 Zwischen den beiden Vereinen führte die Forderung des Auswärtigen Amtes, für die Unterbringung auch Eigenmittel bereitzustellen, zunächst zu Meinungsverschiedenheiten. Die Frage, aus welchem Topf und in welcher Höhe das Geld fließen sollte, stand für die DKG ebenso zur Debatte wie ihr Anspruch, für die Verwendung der Finanzmittel eine weitere Kommission zu bilden.187 Beides ließ sich klä183 Dort beantragte sie im Jahr 1921 ein Stipendium für Albert Ponsold. Vgl. BArch, R 8023/991, Bl. 97, Schreiben des VDA an den Präsidenten der DKG, 3.11.1921. 184 An diesem Institut gründete Professor Dr. André diverse Stiftungen, um außerhalb der Reichsgrenzen lebenden Deutschen ein Studium in Deutschland zu ermöglichen. Das Stipendium sollte, wie Seitz im Mai 1923 erklärte, „auch an einen Deutschen aus Südafrika, in erster Linie natürlich aus Südwestafrika vergeben werden.“ BArch, R 8023/553b, Bl. 32, Schreiben von Seitz an den Vorstand des Landesschulverbandes für Südwestafrika, 30.5.1923. Darüber hinaus schlug C. Kettler von der Hamburg-Bremer Afrika-Linie der DKG im Juni 1922 vor, bei Berliner Großbanken um finanzielle Unterstützung zu bitten und dabei auf die Nutzung zur „Erhaltung des Deutschtums in Südwest“ zu verweisen. BArch, R 8023/991, Bl. 37, Schreiben von C. Kettler, Hamburg-Bremer Afrika-Linie, an die DKG, 20.6.1922. Er riet, „zunächst […] an die Deutsche Bank privatim und vertraulich heran[zu]treten und mit den massgebenden Persönlichkeiten Fühlung zu nehmen. Hat die Deutsche Bank einen Betrag gezeichnet, werden auch andere Banken folgen.“ Ebd. Aus bereits erfahrener Ablehnung bei anderen Angelegenheiten war Winkler von der DKG jedoch skeptisch und auch Kettler leugnete letztlich nicht, dass die Beschaffung größerer Geldsummen aufgrund der krisenhaften Wirtschaftslage in Deutschland und der vielfach stattfindenden Anfragen für Gelder schwierig sei. Vgl. BArch, R 8023/991, Bl. 36, Schreiben von Winkler an C. Kettler, 14.7.1922; BArch, R 8023/991, Bl. 35, Schreiben von C. Kettler an die DKG, 1.8.1922. 185 Zum genauen Umfang seiner Unterstützung ließen sich keine Angaben finden. Es richtete seine Arbeit nicht auf eine aktive Förderung der Mobilität von Siedlernachkommen, stellte aber insgesamt in verschiedenen Bereichen Gelder für deutsche Siedler/innen zur Verfügung, u.a. für deutsche Schulen in Südwestafrika. 186 Vgl. BArch, R 8023/991, Bl. 17, Schreiben der Vorsitzenden des Frauenbundes der DKG, von Bredow, an die DKG, 2.10.1925. 187 Das Auswärtige Amt hatte vorschlagen, die bis zu einem Drittel beizusteuernden Gelder aus dem von der Wohlfahrtskommission verwalteten Lotterie-Fonds zu entnehmen, der der DKG bewilligt worden war. Vgl. BArch, R 8023/991, Bl. 17, Schreiben der Vorsit-
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ren. Die Teilnahme von DKG-Delegierten an den Ausschusssitzungen des Frauenbundes sollte eine gemeinsame Entscheidung über die Nutzung des Geldes gewährleisten,188 das die DKG schließlich mit einer Einmalzahlung von 1000 Mark an den Frauenbund bereitstellte.189 In der Folgezeit intensivierte sich die Kooperation zwischen Frauenbund und Auswärtigem Amt. Dies sollte explizit vertraulich und nicht öffentlich behandelt werden, um andere europäische Staaten aufgrund dieser Unterstützungsleistungen des Auswärtigen Amtes nicht misstrauisch werden zu lassen.190 An der Vergabe von Stipendien für verschiedene Ausbildungsarten beteiligten sich weitere Verbände. Um Unterstützungsanfragen zu bündeln und dadurch Doppelarbeit zu vermeiden, gründeten die DKG, ihre Berliner Abteilung, der Frauenbund und die durch Herrn von Ramsay vertretene Deutsche Studentenschaft am 16. Mai 1930 die Vereinigte Stipendien-Fürsorge. Unter Federführung des Frauenbundes sollte diese über „alle von Kolonialdeutschen nachgesuchte[n] Stipendien und Freistellen“ entscheiden.191 Die beteiligten Vereine baten den Stahlhelm und den Luisenbund um ihren Beitritt, da sie ebenfalls Stipendien für ‚kolonialdeutsche‘ Heranwachsende vergaben. Zudem forderten sie alle Gauverbände und Abteilungen der DKG auf, Gesuche an diese Zentralstelle weiterzuleiten und bereits erteilte oder zukünftige Bewilligungen bekannt zu geben, umso eine „planmäßige und gerechte Behandlung aller Gesuche“ sicherstellen zu können.192 Der Kreis erweiterte sich, denn an der Sitzung vom 4. März 1932 nahmen neben dem Frauenbund, der DKG und ihrer Berliner Abteilung auch der Kolonialkriegerdank, der Stahlhelm und das Studentencorps Kösener S.C. teil. Über die Zeit hatten die Anforderungen an ihre Arbeit zugenommen. Gründe dafür sahen die Verbände nicht allein in der zunehzenden des Frauenbundes der DKG, von Bredow, an die DKG, 2.10.1925. Die Bitte des Frauenbundes auf Gewährung von mindestens 5000 Reichsmark aus diesem Fonds lehnte die DKG ab, da sie die Lotterie-Gelder für notleidende ‚Kolonialdeutsche‘ und deren Hinterbliebene zu nutzen beabsichtigte. Sie schlug aber vor, den Ausschuss der DKG um eine gewisse Summe aus seinem kommenden Etat zu bitten. Vgl. BArch, R 8023/991, Bl. 15-16, Schreiben der DKG an den Frauenbund der DKG, 3.10.1925. Zu dem Fonds gibt es eine eigene Akte, siehe BArch, R 8023/1044a. 188 Vgl. BArch, R 8023/991, Bl. 11, Schreiben des Frauenbundes der DKG an die DKG, 16.10.1925; BArch, R 8023/991, Bl. 13, Schreiben des Frauenbundes der DKG an Seitz, 28.10.1925. 189 Vgl. BArch, R 8023/991, Bl. 10, Schreiben von Seitz an den Frauenbund der DKG, 24.10.1925; BArch, R 8023/991, Bl. 8, Schreiben an den Frauenbund der DKG, 30.10.1925. 190 Vgl. Venghiattis 2005, S. 349f. 191 O.V.: Vereinigte Stipendien-Fürsorge, in: Mitteilungen der DKG, 42. Jg., 1930, Nr. 6, o.S. 192 Ebd.
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menden Not von Farmern und Kaufleuten, ihren Kindern den Besuch „rein deutsche[r]“ Schulen in Südwestafrika und eine komplette Ausbildung in Deutschland zu finanzieren, sondern auch in den gesunkenen Mitteln für Stipendienzwecke aufgrund der schlechten Wirtschaftslage.193 Trotzdem vereinbarten sie, auch im Jahr 1932 „bedürftigen und würdigen kolonialgebürtigen Deutschen Beihilfen für ihre akademische Ausbildung oder die Erlernung eines Handwerks in Deutschland sowie Reisebeihilfen [zu] gewähr[en]“.194 Dem Frauenbund zufolge erhielten 1929 insgesamt 23 junge Männer, die studierten oder einem praktischen Beruf nachgingen, Vollstipendien. Diese bekamen auch fünf junge Frauen für ihre Ausbildung in der Kolonialen Frauenschule in Rendsburg. Zudem vergab der Frauenbund für die Kolonialschule zwölf Teilstipendien. Im Sommer- und Wintersemester 1930/31 belief sich die Zahl der Stipendien auf 35, von denen zehn auf junge Frauen in der Kolonialen Frauenschule entfielen. Im folgenden Berichtsjahr 1931/32 erhielten schließlich 31 junge Männer und sechs junge Frauen diese Form der Unterstützung.195 Akteurinnen und Akteure in Südwestafrika schufen ebenfalls Finanzierungsmöglichkeiten für die Bildungsaufenthalte. Im Jahr 1928 gründeten Pastor Schünemann und Regierungsrat Dr. Sigwart in Windhoek die Südwester Handwerker- und Studenten-Stiftung. Sie zielte auf die Unterstützung von Berufsausbildungen in Deutschland und richtete sich insbesondere, wenn nicht ausschließlich an männliche Jugendliche.196 Um bei der Auswahl der Siedlernachkommen eine „einseitige Einstellung, die oft unbewußt ist“ zu verhindern, sollten dem Verwaltungsrat der Stiftung weder im Dienst stehende Lehrkräfte noch Leiter von Jugendbünden angehören.197 Möglicherweise resultierte diese Regelung aus Erfahrungswerten, denn 193 O.V.: Vereinigte Stipendien-Fürsorge, in: Mitteilungen der DKG, 44. Jg., 1932, Nr. 3, S. 19. 194 Ebd., Herv. i. Org. 195 Vgl. BArch, R 1001/6693, Bl. 250, Vorstandssitzung des Frauenbundes der DKG, 13.6.1930; Nora von Steinmeister: Jahresübersicht 1930-31, in: Frauenbund der DKG (Hg.), Jahresbericht 1930-31, Berlin, S. 1-12, S. 6; Nora von Steinmeister: Jahresbericht 1931-32, in: Frauenbund der DKG (Hg.), 25 Jahre Koloniale Frauenarbeit, Berlin 1932, S. 10-24, S. 18. 196 Um die Stiftungsidee andernorts bekannt zu machen, nahm Sigwart Kontakt nach Lüderitzbucht auf, wo Ende 1928 zunächst kein Bedarf für die Inanspruchnahme eines Stipendiums bestand. Die antwortende Person wies aber darauf hin, dass sich Wallberg vom Landesverband der deutschen Schulvereine in Windhoek mit der Vergabe von Stipendien beschäftige, und empfahl eine Kontaktaufnahme. Vgl. NAN, A.221-107/82-61, Schreiben an Sigwart in Keetmannshoop, 3.12.1928. 197 O.V.: Südwester Handwerker- und Studenten-Stiftung, in: Mitteilungen des Frauenbundes der DKG, 1929, Nr. 6, S. 72.
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Vergabeentscheidungen für Stipendien oder andere Unterstützungsgelder konnten, wie sich noch zeigen wird, stark von Einzelpersonen beeinflusst werden. Die potenziellen Stipendiaten der Stiftung hatten folgende Kriterien zu erfüllen: Sie mussten mindestens bis zum 14. Lebensjahr eine Privat- oder Regierungsschule in Südwestafrika besucht haben, zudem „die ernste Absicht hegen, in Deutschland sich für ihren künftigen Beruf weiter auszubilden“ und sich schließlich verpflichten, nach Abschluss der Ausbildung nach Südwestafrika zurückzukehren.198 Dass geförderte Stipendiaten weder anderweitige Ziele verfolgten noch in Deutschland verblieben, forderten neben den Stiftungsgründern auch der Frauenbund und das Deutsche Auslandsinstitut in Stuttgart. Gelder wurden auch über Spendenaufrufe eingeworben. In einer Denkschrift über deutsche Schulen in Südwestafrika appellierte der Lüderitzbuchter Otto Meyer an „deutsche kolonialfreundliche Kreise“, für Reise- und Unterkunftskosten an einen Fond, wahrscheinlich die Südwester Handwerker- und Studenten-Stiftung, zu spenden oder Patenstellen für Siedlernachkommen zu übernehmen. 199 Des Weiteren stellte der Landesverband der deutschen Schulvereine in Ausnahmefällen Reisestipendien zur Verfügung. Hatten im Jahr 1927 noch private Spender aus Deutschland drei solcher Stipendien finanziert, blieben diese Mittel zwei Jahre später aus. Der Verband übernahm die Zahlung für drei Reisestipendien selbst, da ihm einige der vielen Anträge dringlich schienen und er den entsprechenden Betrag entbehren konnte.200 Diese Ausführungen zeigen deutlich, dass sowohl Vereine und Einzelpersonen in Deutschland als auch in Südwestafrika kontinuierlich gefordert waren, die für die Deutschlandaufenthalte notwendigen Finanzmittel zu beschaffen. Aufgrund der begrenzten Gelder mussten sich die Beteiligten zugleich mit der Frage beschäftigen, welche Siedlernachkommen auf welcher Entscheidungsgrundlage Unterstützungsleistungen erhalten sollten.
198 Ebd. Inwiefern trotz der (sprachlich) auf Jungen ausgerichteten Stiftung auch Mädchen gefördert wurden, ließ sich nicht feststellen. 199 Otto Meyer: Die deutschen Schulen in Südwestafrika, in: Mitteilungen des Frauenbundes der DKG, 1929, Nr. 4, S. 38. Zum Artikel gab es eine Redaktionsnotiz, in welcher der Frauenbund seine eigene Arbeit lobte: „Die gesamte Arbeit des Frauenbundes erstreckt sich auf diese Gebiete und man sieht aus diesem Bericht, wie dringend notwendig sie ist.“ 200 Vgl. NAN, A.221/107-82/61, Rundschreiben des stellvertretenden Geschäftsführers des Landesverbandes der deutschen Schulvereine, Wallberg, Windhoek 8.4.1929.
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Zur Durchlässigkeit von Auswahlkriterien Für die Festlegung von Auswahlkriterien gab es kein gemeinsames Verständigungsprocedere aller beteiligten Akteurinnen und Akteure. Grundsätzlich ging es um die Eignung der Heranwachsenden, eine nähere Definition des Terminus blieb aus. So forderte DKG-Präsident Seitz im November 1925 gegenüber dem Frauenbund, zunächst festzustellen, ob der Sohn des Farmers Lodes „so gut veranlagt ist, dass seine Uebersiedlung nach Deutschland und seine Unterbringung in eine Schule hier gerechtfertigt werden kann.“201 Denn, so Seitz weiter, „[w]ir können nicht wahllos Kinder nach Deutschland kommen lassen, sondern doch wohl nur diejenigen, die durch einen Lehrer draussen als geeignet bezeichnet werden.“ 202 Doch es ging nicht nur um eine generelle Eignung der Siedlernachkommen, sondern auch in Abhängigkeit von der Berufswahl um den Zeitpunkt ihrer Unterstützung. Margarethe von Zastrow beabsichtigte, nur denen eine höhere Schulausbildung zu ermöglichen, die sich auf einen wissenschaftlichen oder Büroberuf vorbereiteten. Hingegen sollten jene mit ausschließlich praktischer Befähigung in Südwestafrika die Volksschule absolvieren und im Anschluss ihre Handwerksausbildung in Deutschland beginnen.203 Doch solche idealtypischen Vorstellungen hielten der Praxis nicht immer stand. Anhand konkreter Fälle und insbesondere der Verhandlungen über die Finanzierung von Schiffsreisen lässt sich nachvollziehen, welche Aspekte neben der Frage der Eignung bedeutsam waren, wie Entscheidungen zustande kamen und wer neben Lehrkräften daran beteiligt war. Die Finanzierung der Schiffsreisen schien Ende der 1920er Jahre zu einem wachsenden Problem zu werden, denn eine Überfahrt kostete zu dieser Zeit etwa 25 Pfund bzw. 500 Mark. Diesbezügliche Verhandlungen erwiesen sich als zäher und kleinteiliger Prozess. Im Juli 1928 bat die DKG die Schifffahrtslinie Woermann um Fahrpreisermäßigungen „für bedürftige und würdige Schüler, bezw. Lehrlinge“, ohne diese Kriterien näher zu spezifizieren.204 Sie begründete dies mit zunehmenden Anfragen für Deutschlandaufenthalte, begleitet von dem Umstand, dass Eltern die Reisekosten kaum oder gar nicht zahlen könnten. Um „guten Willen zu zeigen“, erklärte sich die Woermann-Linie zu einem zehnprozentigen Fahrpreisnachlass „für bedürftige und 201 BArch, R 8023/991, Bl. 7, Schreiben von Seitz an den Frauenbund der DKG, 3.11.1925. 202 Ebd. Offensichtlich funktionierte die Kommunikation nicht immer gut, denn Seitz schien nicht zu wissen, dass der Sohn des Farmers Lodes bereits seit einigen Jahren bei seinen Großeltern in Deutschland lebte. BArch, R 8023/991, Bl. 14, Schreiben des Frauenbundes der DKG, von Boemcken, an Seitz, 13.11.1925. 203 Vgl. Margarethe von Zastrow: Südwestafrikanische Erziehungsfragen, in: Frauenbund der DKG (Hg.), Koloniale Frauenarbeit, Berlin 1926, S. 9-13, S. 9f. 204 BArch R 8023/992, Bl. 111, Schreiben der DKG an die Woermann-Linie, 10.7.1928.
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würdige Studenten und Schüler aus Südwestafrika“ – also nicht für Lehrlinge – bereit und stellte folgende Bedingung: „Da es aber für uns sehr schwer ist zu entscheiden, ob in welchem Falle die vorgesehene Ermässigung zu gewähren ist, legen wir Wert darauf, dass ein entsprechender Antrag auf Gewährung der Ermässigung uns jeweils durch die Deutsche Kolonialgesellschaft zugeht, zutreffendenfalls unter entsprechender Befürwortung und Beibringung eines Nachweises, dass die Aufnahme der Studenten und Schüler in den in Frage kommenden Bildungsanstalten in Deutschland gewährleistet ist. Wir hören gern von Ihnen, ob der von uns vorgesehene Modus für Sie gangbar ist […].“ 205
Da eine Bestätigung der DKG über das vorgeschlagene Antragsprocedere ausblieb, hatte die Woermann-Linie den Antrag für ein Brüderpaar zunächst abgelehnt.206 Die Zustimmung kam, als die DKG in einem klärenden Briefwechsel ihr Einverständnis zum Procedere erteilt und Paul Barth als ihren Vertreter in Südwestafrika benannt hatte.207 Sie informierte ihn über das Verfahren mit dem Hinweis, dass er die Verhältnisse besser kenne als sie in Deutschland und mit der Hoffnung, dass er nichts gegen eine Benachrichtigung des Deutschen Bundes über die Vereinbarungen mit der Woermann-Linie einzuwenden habe.208 Barth willigte mit großer Bereitschaft ein, forderte die DKG aber zugleich auf, sich für eine Übertragung des Nachlasses auf Lehrlinge einzusetzen und diesbezüglich auch den Deutschen Bund zu kontaktieren. Für „nicht gerade schlecht situierte Leute“ sei es zwar ein Vorteil, auch ihre Kinder für Schulaufenthalte günstiger nach Deutschland reisen lassen zu können,
205 BArch R 8023/992, Bl. 110, Schreiben von Arnold Amsinck, Woermann-Linie, Passage-Abteilung an die DKG, 14.7.1928. 206 Dabei handelte es sich um einen von Pfarrer Schünemann befürworteten Antrag für die Geschwister Gerd und Hans-Günther Lenssen. Vgl. BArch, R 8023/992, Bl. 84, Schreiben der DKG an die Woermann-Linie, 2.10.1929. Der Farmer Hans Emil Lenssen war ein besonders engagierter Vater, der über mehrere Jahre mit verschiedenen Institutionen vor Ort und in Deutschland korrespondierte, um für seine beiden Söhne geeignete Ausbildungsorte zu finden und die Finanzierung zu regeln. Vgl. diverse Schreiben im Privatarchiv Schonecke und Abschnitt 5.3. 207 Vgl. BArch, R 8023/992, Bl. 82-83, Schreiben von Arnold Amsinck, Woermann-Linie, Passage-Abteilung an die DKG, 7.10.1929; BArch, R 8023/992, Bl. 81, Schreiben der DKG an die Woermann-Linie, Passage-Abteilung, 8.10.1929. 208 Vgl. BArch, R 8023/992, Bl. 79, Schreiben der DKG an Barth, 9.10.1929. Noch am gleichen Tag informierte die DKG den Deutschen Bund in Windhoek. Vgl. BArch, R 8023/992, Bl. 78, Schreiben der DKG an von Schauroth, Deutscher Bund, 9.10.1929.
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letztlich verfügten diese Eltern aber über das notwendige Geld. 209 Anders sei die Situation, so Barth weiter, bei „Handwerkern und kleinen Leuten, die ihren Kindern hier wohl eine Anfangslehrlingsausbildung zuteil werden lassen koennen, sie aber doch bestimmt nicht zu brauchbaren Handwerkern erziehen lassen koennen. Wenn man die Ermaessigungen auf solche Kinder ausdehnen koennte, wuerde das einen wesentlichen hoeheren Wert haben, als wenn man die Ermaesssigung auf Schueler und Studenten bezieht, die ja schliesslich auch in den hiesigen Schulen ihre Ausbildung bis zum Abitur erhalten koennen.“210
Mit dieser Hierarchisierung von Bedürftigkeit, die Barth insbesondere Handwerkern und ähnlichen Verdienstgruppen zuweist, führte er die Kategorie Klasse in die Debatte ein. Erstens müssten Kinder von Handwerkern ohne Deutschlandaufenthalt auf eine solide Handwerksausbildung gänzlich verzichten, da es diese im Unterschied zu einer bis zum Abitur führenden Schullaufbahn in Südwestafrika nicht gebe. Zweitens seien sie unbedingt auf Reisekostenunterstützung angewiesen. Damit hatte Barth einen umkämpften Aspekt benannt, denn eine prinzipielle Ausweitung der Ermäßigung auf die Gruppe der Lehrlinge verwehrte die Woermann-Linie zunächst. Bereits zu Beginn des Jahres 1929 hatte sie, um einen Präzedenzfall zu verhindern, den Antrag eines Handwerkslehrlings abgelehnt und alternativ eine nachträgliche Erstattung angeboten.211 Als sich die DKG im Dezember 1929 auf Barths Wunsch hin den Geltungsbereich für Lehrlinge bestätigen lassen wollte, 212 antwortete die Woermann-Linie, zu dieser Erweiterung bedauerlicherweise „nicht in der Lage“ zu sein,213 da es sich „um bindende Abmachungen zwischen den Schiffsge-
209 BArch, R 8023/992, Bl. 66, Schreiben von Barth an Seitz, 5.11.1929. 210 Ebd. 211 Es handelte sich um Jochen Sauber, Sohn des Farmers Hermann Sauber, der in Coburg eine Schlosserausbildung absolvieren sollte. Die DKG erklärte sich mit der nachträglichen Erstattung der von ihr vorfinanzierten Reisebeihilfe einverstanden. Vgl. BArch, R 8023/992, Bl. 105, Schreiben von Seitz an die Woermann-Linie, 16.1.1929; BArch, R 8023/992, Bl. 104, Schreiben von Arnold Amsinck, Woermann-Linie, Passage-Abteilung an Seitz, 18.1.1929; BArch, R 8023/992, Bl. 103, Schreiben von Seitz an die Woermann-Linie, 21.1.1929. Seitz erwähnte gegenüber der Woermann-Linie, dass ihm Hermann Sauber „persönlich als tüchtiger Mann bekannt“ sei. BArch, R 8023/992, Bl. 105, Schreiben von Seitz an die Woermann-Linie, 16.1.1929. 212 Vgl. BArch, R 8023/992, Bl. 65, Schreiben der DKG an die Woermann-Linie, 12.12.1929. 213 BArch, R 8023/992, Bl. 64, Schreiben der Woermann-Linie, Passage-Abteilung an die DKG, 14.12.1929.
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sellschaften“ handele.214 Auf Drängen von Seitz, der damit dem Wunsch des Deutschen Bundes nachkam,215 gewährte die Woermann-Linie unter Voraussetzung der Bedürftigkeit der Adressaten schließlich eine zehnprozentige Ermäßigung für Fahrten außerhalb der Reisezeit (Juli-Februar).216 Auch diese Beschränkung versuchte Albert Voigts einige Monate später noch auszuhebeln. Er bat Amsinck von der Woermann-Linie, die bisherige zehnprozentige Ermäßigung auf das gesamte Jahr auszuweiten, da der Ausbildungsbeginn in der Regel in die Reisezeit fiele und in den anderen Monaten gar eine Ermäßigung von 50 Prozent zu gewähren. Sein Anliegen untermauerte er, indem er Angebote der Südafrikanischen Union als bedrohliche Konkurrenz für die deutsche Siedlerbevölkerung insgesamt skizzierte. Die Union Castle Line gestatte nicht wenige Freifahrten und die Administration der Südafrikanischen Union gewähre „[a]lle möglichen Erleichterungen“, so Voigts weiter, „um die jungen Leute zu vereinnahmen, – um sie letzten Endes zu Afrikanern zu machen. Der Deutsch-Afrikaner, der seine Abschluss-, Schul- und Lehrzeit in Deutschland erhält, ist dem Lande weit mehr wert, als der, der hier seine Ausbildung erhält, die den Verhältnissen entsprechend nicht ausreichend sein kann.“217
Damit entwarf Voigts erneut ein Bedrohungsszenario, mit dem er die Siedlernachkommen vor südafrikanischem (kulturellem) Einfluss zu schützen beabsichtige. Er versuchte, ihr Abwandern in die Südafrikanische Union zu verhindern und ihnen zugleich eine qualitativ hochwertige Ausbildung zu ermöglichen, die wiederum die Konkurrenten aus der Südafrikanischen Union abwehren sollte. Des Weiteren versicherte Voigts, dass als Vertretung der DKG entweder er persönlich oder von Schauroth die Bedürftigkeit der Antragsteller/innen von Fall zu Fall prüfen und er ein „Entgegenkommen“ der Woermann-Linie nicht öffentlich kommunizieren wür-
214 BArch, R 8023/992, Bl. 63, Schreiben der DKG an Barth, 18.12.1929. 215 Der Generalsekretär des Deutschen Bundes, von Schauroth, bat Seitz bei der Woermann-Linie nochmals auf Fahrpreisermäßigungen für Lehrlinge hinzuwirken. Vgl. BArch, R 8023/992, Bl. 60, Schreiben des von Schauroth an Seitz, 6.1.1930. 216 Vgl. BArch, R 8023/992, Bl. 59, Schreiben von Seitz an die Woermann-Linie, 31.1.1930; BArch, R 8023/992, Bl. 55, Schreiben der Woermann-Linie, Deutsche OstAfrika-Linie an Seitz, 5.2.1930. 217 BArch, R 8023/992, Bl. 40, Abschrift des Schreibens von Voigts an Amsinck, 30.6.1930. In diesem Schreiben drückte Voigts auch seine Freude über schon gewährte Fahrpreisvergünstigungen aus und erklärte, dass der Deutsche Bund bei der Unterbringung der Lehrlinge vom Deutschen Auslandsinstitut in Stuttgart, der Kolonialschule in Witzenhausen und dem Präsidenten der DKG unterstützt werde.
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de.218 Erneut ließ sich Amsinck auf Zugeständnisse ein, gewährte allerdings nur eine zehnprozentige ganzjährige Ermäßigung, denn er habe sich „nach den Abmachungen mit der Konferenz zu richten“.219 Damit betrachtete er nunmehr alle Wünsche als erfüllt und auch Seitz kam zu dem Schluss, „dass mit diesem Entgegenkommen die Südwestafrikaner zufrieden sein können.“220 Folglich war dieser zähe Aushandlungsprozess zu einem Abschluss gekommen. Er verdeutlicht einmal mehr, wie intensiv die Beteiligten um jede mögliche finanzielle Unterstützung rangen, um Siedlernachkommen, insbesondere auch aus unteren Schichten, Deutschlandaufenthalte zu ermöglichen. Seit Anfang 1929 versuchte der Deutsche Bund ebenfalls beim Reichsverband der Deutschen Industrie auf Reisestipendien für die Überfahrten hinzuwirken. Im Auftrag von Geheimrat Kastl bat der Reichsverband Geheimrat von Zastrow, sich bei der Korag für zehn Freikarten (Hin- und gegebenenfalls Rückfahrt) einzusetzen und gab an, sich selbst um die Einstellung von Siedlernachkommen in den favorisierten Industriezweigen zu kümmern.221 Von Zastrow willigte ein, ohne einen so hohen Betrag garantieren zu können. Zugleich plädierte er dafür, die Hinreise durch die Eltern finanzieren zu lassen und nur die Rückreise finanziell zu unterstützen, um so zu verhindern, dass „manche von diesen jungen Leuten sich in Deutschland heimisch machen und den Rückweg nach Afrika nicht finden“. 222 Mit Blick auf Konfliktvermeidung und Klärung von Zuständigkeiten verwies von Zastrow schließlich darauf, dass der Deutsche Bund sich in dieser Angelegenheit bereits an das Deutsche Auslandsinstitut gewandt habe.223 Ob und zu welchen Bedingungen
218 Ebd., Bl. 41. 219 BArch, R 8023/992, Bl. 37, Schreiben von Amsinck an Voigts, 5.8.1930. 220 BArch, R 8023/992, Bl. 35, Schreiben von Seitz an Amsinck, 16.8.1930. 221 Vgl. BArch, R 8023/992, Bl. 89-91, Abschrift eines Schreibens der Geschäftsführung des Reichsverbandes der Deutschen Industrie an von Zastrow, 30.4.1929. In diesem Schreiben wurde auch auf den vom Deutschen Bund auf seiner Hauptausschusssitzung am 14. und 15.4.1928 geäußerten Wunsch verwiesen, für Jugendliche mehr Möglichkeiten der Aus- und Weiterbildung in Betrieben in Deutschland zu schaffen. Die gewünschte Anzahl der Freikarten nannte der Reichsverband in einem Nachtrag. Vgl. BArch, R 8023/992, Bl. 88, Abschrift eines Schreibens des Reichsverbandes der Deutschen Industrie an von Zastrow, 3.7.1929. 222 BArch, R 8023/992, Bl. 87, Schreiben des von Zastrow an den Reichsverband der Deutschen Industrie, von Düring, 13.7.1929. Bezüglich der favorisierten Finanzierung der Rückreise nach Südwestafrika wollte Seitz den Deutschen Bund kontaktieren. Vgl. BArch, R 8023/992, Bl. 86, Schreiben von Seitz an von Zastrow, 16.7.1929. 223 Ebd. Dem Reichsverband war bekannt, dass das Deutsche Auslandsinstitut dem Deutschen Bund einige Freistellen (Kost und Logis) für Lehrlinge zugesagt hatte. Vgl.
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die Freifahrten bewilligt wurden, ließ sich anhand des vorliegenden Materials nicht klären. Allerdings zeigt dieser Schriftwechsel zum einen, dass sich der Deutsche Bund in seinen Aktivitäten nicht auf die Kolonialverbände als Kooperationspartner beschränkte, sondern weitere Verbände um (finanzielle) Unterstützung anfragte. Zum anderen legt er nahe, dass die Verbände doppelte Unterstützungsleistungen und damit potenziell einhergehende Konflikte zu vermeiden versuchten. Im Hinblick auf die skizzierten langwierigen Verhandlungsprozesse, in denen die Inanspruchnahme von Unterstützungsleistungen für Siedlernachkommen differenziert festgelegt wurde, fällt auf, dass sich die Kriterien in der Praxis auch als durchlässig erweisen konnten. Zwar betrachteten die verschiedenen Akteurinnen und Akteure die Kriterien ‚bedürftig‘ und ‚würdig‘ als zentral, die aber, so lässt sich hier abschließend beispielhaft zeigen, nicht unbedingt berücksichtigt wurden, wenn andere Kriterien relevanter erschienen. Bei seiner Empfehlung für Fahrpreisermäßigungen durch die Woermann-Linie signalisierte Barth bezüglich des Kriteriums Bedürftigkeit Diskussionsbedarf, denn er befürwortete zwei recht unterschiedliche Gesuche: das eine für die Tochter des als bedürftig bezeichneten Ingenieurs Dr. Schmidt, das andere für ein Kind von Johannes Hälbich, den, so erläuterte er gegenüber Seitz, „man nun mit dem besten Willen nicht als bedürftig ansprechen kann, den abzuweisen aber erst recht nicht geht angesichts der grossen Verdienste, die sich die Haelbichs um Suedwest und um das Deutschtum im Lande erworben haben. Aber auf der einen Seite ein fast mittelloser Mann, der von seinen täglichen Einnahmen leben muss, auf der anderen Seite der angehoerige [sic] einer der aeltesten Firmen im Lande, die neben ihrem staedtischen Besitz und neben den gut gehenden Handelsgesellschaften eine ganze Reihe von Farmen ihr eigen nennen, wozu noch eine ausgedehnte Verwandtschaft kommt, die auch im allgemeinen – wie die Redeckers etc. – mit irdischen Guetern reich gesegnet sind. Wo soll also die Unterstuetzung anfangen und wo soll sie aufhoeren?“224
Diese Frage hatte sich Barth bereits selbst beantwortet. Indem er nicht nur nach ökonomischer Bedürftigkeit, sondern auch mit Blick auf die gesellschaftliche Bedeutung und Leistung der Familie Hälbich innerhalb der deutschen Siedlerbevölkerung entschieden hatte, galt es offensichtlich auch dieses Kriterium zu berücksichtigen. Dennoch argumentierte Seitz aufgrund der nicht vorhandenen Bedürftigkeit gegen eine Ermäßigung für das Kind von Johannes Hälbich. 225 Auf ein MissverBArch, R 8023/992, Bl. 90, Abschrift eines Schreibens der Geschäftsführung des Reichsverbandes der Deutschen Industrie an von Zastrow, 30.4.1929. 224 BArch, R 8023/992, Bl. 58, Schreiben von Barth an Seitz, 13.1.1929 [Es müsste 1930 heißen, S.H.]. 225 Vgl. BArch, R 8023/992, Bl. 57, Schreiben von Seitz an Barth, 10.2.1930.
232 | Kolonial bewegte Jugend
ständnis verweisend, dass es sich bei diesen Siedlernachkommen nicht um Lehrlinge, sondern um Studentinnen handele, erkundigte sich Barth schließlich, ob auch „nichtbedürftige Eltern“ von Studierenden für eine Unterstützung infrage kämen.226 Dies wiederum bejahte die DKG mit der Begründung, die Woermann-Linie habe für beide Studentinnen die Ermäßigungen gezahlt. 227 Dieser konkrete Fall ist insofern paradox, als sich die Woermann-Linie in ihren Entscheidungen nach den Empfehlungen der DKG-Vertreter in Südwestafrika richtete, also in diesem Fall wohl schlichtweg Barths Befürwortungen gefolgt war. Da die DKG wusste, dass die Woermann-Linie auch bei Studierenden Bedürftigkeit voraussetzte, ist irritierend, dass sie Barth darüber nicht informierte, sondern ihre Antwort wiederum von der Entscheidung der Woermann-Linie abhängig machte. Demnach bleibt hier zu fragen, wodurch und ob überhaupt das Kriterium der Bedürftigkeit nachzuweisen war und inwieweit die DKG die Richtlinien der Woermann-Linie zu unterlaufen versuchte, um möglichst viele Ermäßigungen zu erhalten. Die soziale Differenzierung der deutschen Siedlerbevölkerung beeinflusste die Bildungsmobilität der Siedlernachkommen dahingehend, dass nicht allen die Möglichkeit eines Bildungsaufenthaltes offenstand. Da dieser insbesondere von der Finanzierung abhängig war, konnten vor allem Kinder aus reicheren adeligen und bürgerlichen Familien nach Deutschland reisen. Die für die Umsetzung der Deutschlandaufenthalte zudem geschaffene kolonialverbandlich-institutionelle Infrastruktur erwies sich als fragiles und begrenztes Gebilde. Der angemeldete Unterstützungsbedarf für Reisebeihilfen, Unterkunftskosten, Stipendien o.ä. konnte von den beschafften Finanzmitteln nur in beschränktem Maße abgedeckt werden. Den dadurch notwendigen Auswahlprozessen von Siedlernachkommen wurden die nicht näher spezifizierten Kriterien Eignung, Würde und Bedürftigkeit zugrunde gelegt.228 Des Weiteren war in den Verhandlungen über Fahrpreisermäßigungen von Schiffsreisen die Kategorie Klasse relevant, denn neben Studierenden, Schülerinnen und Schülern fanden Lehrlinge erst durch intensive Nachverhandlungen Berücksichtigung. Geschlecht wurde hinsichtlich dieser Unterstützungsleistung nicht explizit thematisiert. In der Tendenz überwogen insgesamt die Unterstützungsleistungen für männliche Heranwachsende. Dies hing sicherlich auch damit zusammen, dass für Mädchen und junge Frauen weniger existenzsichernde Berufstätigkeiten vorgesehen waren. 226 BArch, R 8023/992, Bl. 52, Schreiben von Barth an Seitz, 17.3.1930. 227 Vgl. BArch, R 8023/992, Bl. 48, Schreiben der DKG an Barth, 24.4.1930. 228 Diese Auswahlprozesse weisen Ähnlichkeiten zu den selektiven Verfahren auf, die während des Kaiserreichs bezüglich der Auswanderung in die Kolonien angestrebt wurden. Katharina Walgenbach skizziert, dass „nur die ‚besten Kräfte‘ aus Deutschland in die Kolonien auswandern sollten. Angestrebt wurde folglich eine interne Selektion innerhalb des Weißen Kollektivs.“ Walgenbach 2005a, S. 161, Herv. i. Org.
4. Deutsche Siedlernachkommen als zukünftige ‚Kulturträger‘ | 233
Die Auswahlkriterien erwiesen sich allerdings als durchlässig und verhinderten eine gewisse Willkür in den Entscheidungsprozessen nicht, denn empfehlungsberechtigte Personen nutzten die Entscheidungsspielräume durchaus nach ihren eigenen Vorstellungen. Für sie entstanden machtvolle Handlungsspielräume, indem sie beispielsweise das Kriterium der Bedürftigkeit gegenüber dem Kriterium der gesellschaftlichen Bedeutsamkeit einer Familie für die deutsche Siedlerbevölkerung als nachrangig bewerteten. Damit konnten sie punktuell einen nicht unerheblichen Einfluss auf die Zukunft von Siedlernachkommen nehmen. Schließlich verdeutlicht sich an der begrenzten Infrastruktur erneut die Diskrepanz zwischen formulierten Zielen und realen Umsetzungsmöglichkeiten. Denn bei der (finanziellen) Unterstützung für die beabsichtigte ‚Deutschwerdung‘ von Siedlernachkommen blieben Schulen, Schifffahrtslinien und andere Adressierte sehr zögerlich. Neben der Beschaffung von Finanzmitteln mussten die Akteurinnen und Akteure auch geeignete Schul-, Ausbildungs- und Studienplätze sowie Unterbringungsmöglichkeiten in Deutschland finden. Allerdings fanden die Bildungsaufenthalte nicht nur im Rahmen der kolonialverbandlich-institutionellen Infrastruktur statt. Wenn vorhanden, nutzten Siedlerfamilien verwandtschaftliche Netzwerke, um ihre Kinder in Deutschland qualifizieren zu lassen. Damit beschäftigt sich das nächste Kapitel.
5. Bildungsaufenthalte von Siedlernachkommen in Deutschland
In der Zeit der Weimarer Republik kamen einige hundert Siedlernachkommen vorübergehend für Schul- und Ausbildungsaufenthalte nach Deutschland. Diese wurden zum einen im Rahmen der kolonialverbandlich-institutionellen Infrastruktur organisiert, durch die aufgrund begrenzter Finanzmittel allerdings nur eine kleinere Anzahl Heranwachsender unterstützt werden konnte. Zum anderen gelangten Siedlernachkommen in größerem Umfang auf private Initiative innerhalb transnationaler Familienbeziehungen nach Deutschland. So blieben durch diese Bildungsaufenthalte auch in der Weimarer Republik enge Verbindungen zwischen ehemaliger Kolonie und Metropole bestehen, an denen Familiennetzwerke ihren eigenen und nicht unerheblichen Anteil hatten. Für den deutschen Kontext sind solche Bildungsaufenthalte bislang nicht im Blickfeld der Forschung gewesen.1 Die Siedlernachkommen reisten in der Regel mit der Woermann-Linie von Walvis Bay aus nach Deutschland, begleitet von Eltern, Geschwistern oder Verwandten, manche auch zusammen mit Bekannten als Bezugspersonen. 2 Hatten sie nach einer etwa vierwöchigen Überfahrt ihr Ziel erreicht, nahmen sich entweder 1
Für den britischen Kontext hat Elizabeth Buettner untersucht, wie British Indians zwischen Ende des 19. und Mitte des 20. Jahrhunderts für ihre Kinder Schul- und Ausbildungsaufenthalte in Großbritannien organisierten. Vgl. Buettner 2004.
2
Im Jahr 1921 reisten u.a. einige Kinder der Missionsfamilien Kuhlmann und Diehl in Begleitung der Familie Detering nach Deutschland. Vgl. NAN, A.699, nicht paginiert, Detering diaries. Zwei Jahre später fuhr Irmgard Kuhlmann zusammen mit Familie Glöditsch nach Deutschland. Vgl. AA-PA, 77 B II, Schreiben von A. Kuhlmann an den Sekretär für Südwestafrika, 27.1.1923. Die vorgeschriebene Beaufsichtigung jüngerer Kinder nutzten manche Erwachsene als zusätzliche Verdienstmöglichkeit. Eine Frau aus Swakopmund, die in Hamburg-Eppendorf als Lehrschwester tätig werden wollte, erklärte sich gegen eine finanzielle Entschädigung bereit, während der Schiffsreise mehrere Kinder in ihre Obhut zu nehmen. Vgl. NAN, A.221/159-90/31, Brief von Kübe an Voigts, 1.6.1931.
236 | Kolonial bewegte Jugend
Mitglieder von Frauenbund und DKG oder aber Verwandte ihrer an. 3 Vor dem Hintergrund der im vorherigen Kapitel analysierten Debatte über die geforderten Deutschlandaufenthalte von Siedlernachkommen rückt dieses Kapitel die Aufenthalte aus der Perspektive der beteiligten Akteursgruppen in den Mittelpunkt. Der erste Abschnitt beleuchtet die von den Kolonialverbänden organisierten Aufenthalte. Im Fokus stehen die favorisierten Bildungseinrichtungen und die damit verbundenen Sozialisationsabsichten für die Siedlernachkommen. Im Kontrast dazu thematisiert der zweite Abschnitt Deutschlandaufenthalte, die innerhalb von Familienbeziehungen stattfanden, und zeigt, dass sich die Perspektiven von Eltern und Verwandten in der Schwerpunktsetzung von denen der Kolonialverbände unterscheiden konnten. Der dritte Abschnitt analysiert, wie die Siedlernachkommen ihre Bildungsaufenthalte betrachteten und wie sie sich vor dem Hintergrund ihrer Mobilitätserfahrungen sowohl im zeitgenössischen Kontext als auch retrospektiv zwischen Zugehörigkeit und Abgrenzung verorteten. Der vierte Abschnitt widmet sich den Faktoren, die eine Rückkehr nach Südwestafrika beeinflussten, und den Bewertungen der Bildungsaufenthalte durch Eltern und Verbandsvertreter/innen. Das Kapitel dient auch zur Kontextualisierung des letzten Kapitels 6, das exemplarisch die Bildungsaufenthalte der Großfamilie Hälbich untersucht. Die Materialgrundlage für die Perspektiven der verschiedenen Akteursgruppen ist ungleich. Im Forschungsprozess hat sich gezeigt, dass für die kolonialverbandlich-institutionellen Strukturen vergleichsweise ausführlicheres Material vorliegt als für die familiär-verwandtschaftlichen Konstellationen. Die umfangreichere, auch für propagandistische Zwecke genutzte Berichterstattung der Kolonialverbände über die Bildungsaufenthalte hat zwar einen diskursmächtigen Korpus an Publikationen hervorgebracht, tatsächlich aber organisierten die Verbände nur einen kleinen Teil der Aufenthalte. Hingegen liegt über die privat organisierten Bildungsaufenthalte, die zahlenmäßig eine größere Bedeutung hatten, weniger und überwiegend fragmentarisches Material vor. Dennoch ermöglichen insbesondere aus Privatarchiven zusammengetragene zeitgenössische Briefe, retrospektive Chroniken und Memoiren Einblicke in die Wahrnehmungen und Wünsche von Eltern und Verwandten sowie die Selbstpositionierungen von Siedlernachkommen. Die Analyse letzterer wird erweitert durch Ausschnitte aus den von mir geführten Interviews mit ‚weißen‘ deutschen Siedlernachkommen, die auf ihre Aufenthalte in der Weimarer Republik zurückblickten.4 3
Ungewöhnlich war die Handlung Hermann Bütows. Der Familienchronik zufolge blieb er nach seiner Ankunft in Deutschland nicht dort, sondern floh mit einem Schiff in die USA und ließ sich zum Kapitän ausbilden. Vgl. Privatarchiv Bütow, Kurt-Wilhelm Bütow: A global journey by the descendants of Bütow, Pretoria 2002, S. 174.
4
Zu den Interviews siehe Abschnitt „Materialkorpus und Aufbau der Studie“ in der Einleitung. Insgesamt betrachtet ist in den Erzählungen der Interviewpartner/innen in der Regel
5. Bildungsaufenthalte von Siedlernachkommen in Deutschland | 237
5.1 KOLONIALVERBANDLICH-INSTITUTIONELL ORGANISIERTE AUFENTHALTE Die Kolonialverbände kümmerten sich je nach individuellem Bedarf nicht nur um einen geeigneten Schul-, Ausbildungs- oder Studienplatz für die Siedlernachkommen, sondern auch um eine entsprechende Unterkunft. Abschnitt 2.3 hat gezeigt, dass sich das Schulsystem in der Weimarer Republik in einem Spannungsfeld von Reformbestrebungen und der Bewahrung von Strukturen des Kaiserreichs entwickelte. Das neu geschaffene Reichsgrundschulgesetz führte für alle Kinder unabhängig von Herkunft und sozialer Stellung die vierjährige Grundschule als verpflichtend ein, während die anderen Bereiche des Bildungswesens Ländersache blieben. Insgesamt betrachtet wurde das Schulsystem geringfügig durchlässiger, insbesondere in der Mädchenbildung. Allerdings waren Jungen und mehr noch Mädchen aus Familien unterhalb der bürgerlichen Mittelschichten im höheren Schulwesen auch weiterhin unterrepräsentiert. Das Lehrpersonal – insbesondere ältere Jahrgänge an höheren Schulen – distanzierte sich mehrheitlich von den demokratischen Werten der Republik. Die Unterrichtsinhalte blieben weitgehend einer Glorifizierung des Kaiserreichs verhaftet. Diese Entwicklungen kamen dem Frauenbund und der DKG entgegen. Der Abschnitt analysiert die von den Kolonialverbänden als geeignet erachteten Bildungseinrichtungen und Sozialisationsbedingungen, durch die den Siedlernachkommen bestimmte Wertorientierungen vermittelt werden sollten. Indem die Verbände vor allem mit nationalistisch-konservativen Bildungsinstitutionen kooperierten und die Heranwachsenden zudem in ihre eigenen kolonialrevisionistischen Veranstaltungen einbanden, versuchten sie diese von den demokratischen Veränderungen in der Weimarer Republik möglichst fernzuhalten. Sozialisationsvorstellungen zwischen Institution und Familie Bei der Unterbringung der Siedlernachkommen differenzierten die Kolonialverbände nach Geschlecht und Klasse. Die nationalistisch-konservativ geprägten Internate und Wohnheime, mit denen sie zusammenarbeiteten, waren mehrheitlich mit der Aufnahme ‚auslandsdeutscher‘ Heranwachsender vertraut. Für die schulische Ausbildung gehörten dazu die Staatlichen Bildungsanstalten, die infolge des 1920 aufgelösten Preußischen Kadettenkorps aus den Kadettenanstalten hervorgegangen waren und vor allem für Jungen, die eine höhere Schullaufbahn anstrebten, infrage kamen. Neben anderen Internaten dienten sie der Nachwuchsrekrutierung für ge-
alles gut ausgegangen. Soziale Konflikte und finanzielle Probleme spielten nur eine geringe Rolle.
238 | Kolonial bewegte Jugend
sellschaftlich führende Positionen.5 Am häufigsten frequentierten Siedlernachkommen die Bildungsanstalten in Berlin-Lichterfelde und Naumburg, einige von ihnen lebten auch in Köslin, Potsdam, Wahlstatt oder Plön. Den Aufnahmebedingungen zufolge sollten die Internate vorrangig „Söhne von Gefallenen oder schwerbeschädigten Kriegsteilnehmern“ beherbergen, daneben „Söhne von Auslandsdeutschen“ und von Deutschen aus „den abgetretenen Gebieten“ sowie ferner bei noch verfügbaren Plätzen „Söhne von Minderbemittelten.“6 Trotz dieser Öffnung gegenüber Heranwachsenden aus unteren Schichten kamen die Schüler in den Staatlichen Bildungsanstalten weiterhin überwiegend aus dem national-konservativen Bürgertum.7 Sie sollten dort, wie es 1923 für Berlin-Lichterfelde hieß, zum „Führernachwuchs“ für Handel, Industrie, Verwaltung oder Wissenschaft ausgebildet werden und als Voraussetzungen „Charakter, Begabung und Fleiß“ mitbringen, 8 Kriterien also, die auch bei der Auswahl der Siedlernachkommen für die Deutschlandaufenthalte eine Rolle spielten.9 Die Vorbereitung der Siedlernachkommen auf die Staatlichen Bildungsanstalten vollzog sich, zumindest für Naumburg, in enger Kooperation mit Direktor Körner von der deutschen Schule in Windhoek.10 In Naumburg lebten 1927 rund 20 ‚kolonialdeutsche‘ Jugendliche, in deren Alltag sich laut Zeitungsbericht Schul- mit Erholungsstunden sowie Arbeit mit Sport und Spiel gelungen abwechselten.11 Sie hatten zudem Kontakt zum Frauenbund und der DKG, die sich insbesondere im Rah-
5 6
Vgl. Zymek 1989, S. 182 BArch, R 8023/1068a, Bl. 204, Vorläufige Aufnahmebedingungen für die Staatlichen Bildungsanstalten, 15.9.1923. Sie blieben in den Folgejahren gültig. Um finanzschwache Eltern zu unterstützen, kontaktierte der neue Berliner Direktor Hans Richert im Februar 1923 die DKG, die „bei dringenden Notständen der betr. Schülergruppe“ eine Ansprechperson haben sollte. BArch, R 8023/991, Bl. 31, Schreiben von Richert, Oberstudiendirektor der Staatlichen Bildungsanstalt Berlin-Lichterfelde an die DKG, 12.2.1923.
7
Vgl. Schmitz 1997, S. 242 und als Überblick zu den Staatlichen Bildungsanstalten ebd., S. 225-245.
8
Heinz Marbitz: Eine staatliche Bildungsanstalt für Söhne von Kolonial- und Auslandsdeutschen, in: Der Kolonialdeutsche, 3. Jg., 1923, Nr. 3, S. 85-86, S. 85. Etwa ein Jahr später warb er erneut für die Anstalt. Vgl. ders.: Die Staatliche Bildungsanstalt in BerlinLichterfelde, in: Der Kolonialdeutsche, 4. Jg., 1924, Nr. 2, S. 14-15. Bereits im Jahr 1921 war auf die Staatlichen Bildungsanstalten verwiesen worden. Vgl. o.V.: Für Kolonialkrieger, in: Der Kolonialdeutsche, 1. Jg., 1921, Nr. 3, S. 40.
9
Vgl. Abschnitt 4.4.
10 Vgl. o.V.: Südwester in der staatlichen Bildungsanstalt zu Naumburg, in: Der Kolonialdeutsche, 7. Jg., 1927, Nr. 20, S. 328. 11 Vgl. ebd.
5. Bildungsaufenthalte von Siedlernachkommen in Deutschland | 239
men von Besuchen direkt um sie kümmerten.12 Aus Sicht der Kolonialverbände waren die Staatlichen Bildungsanstalten dazu geeignet, für die Schüler Werte und Haltungen erlebbar zu machen, die an die Zeit des Kaiserreichs anknüpften. Dazu gehörte das Soldatische in Form der „alte[n] Kameradschaft“, die das Heer ausgezeichnet habe, und das Heranwachsen in einer Gemeinschaft, die „Freundschaften fürs Leben“ ermögliche.13 Als Erwachsene sollten sie sich dann in Südwestafrika miteinander eine Existenz aufbauen und für die Aufrechterhaltung ‚deutscher Kultur‘ sorgen. Dafür wurde auch ihre Prägung durch wechselnde Landschaftsformationen, Städte und Bauten sowie die Aneignung von „[d]eutsche[m] Geistesgut“ und Wissen als wichtig erachtet.14 Solche Vorstellungen deckten sich mit den Argumentationen aus der Debatte über die Notwendigkeit der Deutschlandaufenthalte. In recht ähnlicher Weise präsentierte sich zu seinem 50-jährigen Bestehen das Johanneum der Rheinischen Mission, das vor allem Siedlernachkommen aus Missionsfamilien offenstand und als „wichtige Stätte kolonialer und auslandsdeutscher Art“ betrachtet wurde.15 Das Grußwort verwies auf die Dankbarkeit ehemaliger Schüler über das Erleben „feine[r] jungenhafte[r] Heimgemeinschaft“, in der der einzelne „den Drang, als tüchtiger Deutscher wieder hinaus in die Welt zu ziehen, nicht verloren“ hätte.16 Solch eine Gemeinschaft von „Kameraden gleicher Herkunft“ zu erfahren, sollte demnach nicht zuletzt Großmachtbestrebungen beför12 Zu Besuch kamen z.B. der stellvertretende Vorsitzende der DKG, Friedrich von Lindequist, und der Bielefelder Geheimrat Junker, der in seinem bilderreichen Vortrag nicht nur ‚kolonialdeutsche‘ Schüler für die Idee des Farmens in Südwestafrika habe begeistern können. Vgl. ebd. 13 Ebd. Auch in anderen Schulen gab es positive Bezugnahmen auf das Kaiserreich. Wie Adolph Woermann in seiner Autobiografie berichtet, lehnten er und seine Schulfreunde die Weimarer Republik ab: „Verwarnungen der Lehrer nahmen wir nicht ernst, die Meinung der Eltern wog schwerer. Und für diese galt nur der Reichspräsident, Generalfeldmarschall von Hindenburg […]. Dieses ehrwürdige Relikt der Kaiserzeit war die Symbolfigur der konservativen, nationalen Politik. Es geschah bei der Verfassungsfeier. Zum ersten Male wurde, wie es in den staatlichen Schulen üblich war, nun auch bei uns der Schaffung der republikanischen Reichsverfassung gedacht und aus diesem Anlaß das Bildnis Hindenburgs mit einem schwarz-rot-goldenen Band geschmückt. Wir vier Freunde saßen nahe beieinander, und schon fielen spöttische Bemerkungen über die widersprüchliche Dekoration des Reichspräsidenten.“ Woermann 1990, S. 99f. 14 O.V.: Südwester in der staatlichen Bildungsanstalt zu Naumburg, in: Der Kolonialdeutsche, 7. Jg., 1927, Nr. 20, S. 328. 15 O.V.: 50 Jahre Johanneum Gütersloh. Zur Jubelfeier eines kolonial- und auslandsdeutschen Jugendheimes am 7. September 1930, in: Mitteilungen des Frauenbundes der DKG, 1930, Nr. 9, S. 110-111, S. 111. 16 Ebd.
240 | Kolonial bewegte Jugend
dern.17 Als weniger geeignet galt hingegen die alleinige Unterbringung bei Verwandten, wo ein einzelner möglicherweise, wie es hieß, „allzu sehr bemuttert“ worden wäre.18 Die sich darin ausdrückende Angst vor Verweichlichung oder sogar Verweiblichung in einem verwandtschaftlichen Umfeld fungierte somit als Gegensatz zum Wert des ‚Kameradschaftlichen‘ in der Jungengemeinschaft. Kooperationen bestanden auch mit den Kriegswaisenhäusern des Kyffhäuserverbandes in Römhild (Thüringen) und in Canth (Schlesien), die sich in der Regel an Schüler/innen der Volksschule und mittleren Klassen richteten.19 Wie die Pflegemutter eines Siedlerkindes aus Südwestafrika im Jahr 1927 über die Glücksburg in Römhild berichtete, sei diese mit den ehemaligen Kadettenkorpseinrichtungen vergleichbar, jedoch nicht zuletzt aufgrund der Aufnahme von Mädchen mehr auf das Familiäre ausgerichtet. Sie lobte die qualifizierten Lehrkräfte und kompetenten Hauseltern, die ausschließlich auf das Wohlergehen der Heranwachsenden und auf einen individuellen Umgang mit ihnen bedacht seien.20 Diese positive Einschätzung setzte sich einige Jahre später in einem anonymen Brief an den Frauenbund fort, in dem sowohl die Freude über die „fröhlichen, wohlgepflegten Kinder“ zum Ausdruck kam als auch die Einschätzung, dass in den „behaglichen, sauberen Räumen“ der Glücksburg „Hände walten, die tatsächlich den Kindern das Elternhaus ersetzen wollen.“21 So könne die vom „fürsorglichen Personal“ weitergegebene „Kraft und Liebe […] dem neuen Deutschland zum Aufstieg […] dienen.“22 Neben diesen Schuleinrichtungen mit dezidiert ‚auslandsdeutschem‘ Bezug, die es nur in wenigen Städten gab, arbeiteten die Abteilungen von Frauenbund und DKG auch mit anderen bürgerlich geprägten Internaten und Pensionaten vor Ort zusammen. In manchen Fällen gelang es den Kolonialverbänden, eine kostenfreie
17 Ebd. 18 Ebd. 19 Vgl. Vorstandssitzung des Frauenbundes der DKG in Stuttgart am 31. Juni 1928 (technische Hochschule), in: Mitteilungen des Frauenbundes der DKG, 1928, Nr. 7, S. 54-56, S. 56. 20 Vgl. o.V.: Briefe aus Südwest, in: Der Kolonialdeutsche, 7. Jg., 1927, Nr. 14, S. 232. Sie schrieb der Mutter nach Südwestafrika, dass ihr Sohn einen „vergnügten befriedigenden Eindruck“ mache, bereits an Größe und Gewicht gewonnen habe und vom Hausvater „besondere Aufmerksamkeit und Sorgfalt“ erhalte. Dieser habe als Weiterbildung und Vorbereitung des Sohnes zum Ingenieur die frühere Kolonialschule in Hamburg vorgeschlagen. Ebd. Vermutlich diente diese positive Berichterstattung auch dazu, die in Südwestafrika zurückgebliebenen Eltern zu beruhigen. 21 O.V.: Im Erziehungsheim Glücksburg, in: Mitteilungen des Frauenbundes der DKG, 1930, Nr. 1, S. 7-8, S. 8. 22 Ebd.
5. Bildungsaufenthalte von Siedlernachkommen in Deutschland | 241
Unterbringung für Siedlernachkommen zu erwirken. 23 In einer Privatschule mit Pensionat in Oldenburg kam es sogar vor, dass die Direktorin selbst um die Vermittlung von Siedlernachkommen bat. Daraufhin erwähnte die lokale DKGAbteilung in ihrem Empfehlungsschreiben an die DKG in Berlin nicht nur das „grosse[…] und schöne[…] Haus[…]“, sondern betonte auch die „geistige Förderung wie leibliche Verpflegung“, die Heranwachsende dort vorfinden würden.24 Im Hinblick auf ausgewogene Sozialisationsbedingungen favorisierte insbesondere der Frauenbund ein Wechselverhältnis zwischen Internatsunterbringung und Familienerlebnissen. Neben der „ungebundene[n] Fröhlichkeit der Kameradschaft“25 in der Bildungseinrichtung sollten die Jungen in Familien vor Ort einen „Ersatz für das Elternhaus“ finden.26 Für die konkrete Umsetzung bedeutete dies, den Siedlernachkommen an einigen Sonntagen während der Schulzeit und zur Schließung der Internate in den Ferienzeiten den „Verkehr mit Aelteren, mit verschiedenartigen Kindern, mit einer Familie und ihrem ganz persönlichen Gefüge“ zu ermöglichen.27 Hinter diesem Anliegen verbarg sich allerdings nicht nur der Anspruch von Fürsorglichkeit, sondern auch oder sogar vor allem eine Idealisierung der Familie als Grundpfeiler ‚deutscher Kultur‘. Margarethe von Zastrow argumentierte, dass „der Kern des deutschen Lebens, der Anschauungen […] nur in einer Familie zu finden [ist, S.H.].“28 Durch solche Erfahrungen werde ein Heranwachsender nach seiner Rückkehr in seine ‚Heimat‘ „mehr Verständnis […] haben für deutsche Art, für deutsche Arbeit, für deutsche Innerlichkeit“, so von Zastrow weiter, ging es doch ferner auch darum, Jungen an die eigene Familiengründung heranzuführen.29 Damit setzte sich die Diskussion aus der Zeit der Kolonialherrschaft
23 Im Jahr 1926 konnte die Vorsitzende der Abteilung Schwarzburg-Rudolstadt des Frauenbundes zwei Freistellen in „ausgezeichneten Schwarzburger Schulinternaten“ vermitteln. O.V.: Frauenbund der DKG, in: Der Kolonialdeutsche, 7. Jg., 1927, Nr. 23, S. 388. 24 BArch, R 8023/1077, Bl. 7, Schreiben der Oldenburger Abteilung der DKG, Ahlborn, an die Berliner Abteilung der DKG, 2.8.1931. Letztere hatte die Anfrage an den Frauenbund weitergeleitet. Vgl. BArch, R 8023/1077, Bl. 5, Schreiben der Berliner Abteilung der DKG an Bezirksamtmann a.D. Ahlborn, 5.8.1931. 25 Margarethe von Zastrow: Südwestafrikanische Erziehungsfragen, in: Frauenbund der DKG (Hg.), Koloniale Frauenarbeit, Berlin 1926, S. 9-13, S. 11. 26 Dies.: Ein „Zuhause“ für die hier lernende afrikanische Jugend, in: Frauenbund der DKG (Hg.), Koloniale Frauenarbeit, Berlin 1927, S. 21-23, S. 21f. 27 Ebd., S. 22. 28 Dies.: Fortbildung afrikanischer Jugend in Deutschland, in: Frauenbund der DKG (Hg.), Koloniale Frauenarbeit, Berlin 1930, S. 31-34, S. 34. 29 Ebd.
242 | Kolonial bewegte Jugend
fort, als insbesondere das Entstehen deutscher Siedlerfamilien ‚deutsche Kultur‘ in der Kolonie manifestieren sollte.30 Die durchaus naheliegende Vorstellung, Siedlernachkommen während ihres Aufenthaltes ausschließlich bei Verwandten unterzubringen, betrachtete von Zastrow hingegen mit großer Skepsis. Diese könnten möglicherweise keinen Rat für die zweckmäßigste Ausbildung geben31 oder wohnten zu weit von der Bildungsstätte entfernt. Zudem sah sie die Gefahr, dass „die Beziehungen zwischen den Verwandten hier und draußen sich so gelockert haben, dadurch, daß die Einstellung der Afrikaner viel großzügiger, mit anderen Interessen wurde, als sie die Verwandten der Heimat haben“.32 Aufgrund dieser Diskrepanz würde der Schüler bei letzteren voraussichtlich nicht das notwendige „Verständnis für seine Lebensziele finden.“33 Sinnvoll erschienen ihr punktuelle Besuche bei Verwandten, deren Organisation sie in der Verantwortung der Abteilungen des Frauenbundes sah. Solche Äußerungen offenbaren von Zastrows Vorstellung, dass Siedler/innen in Südwestafrika andere Haltungen entwickelt hätten und demnach eine langsame Annäherung zwischen Siedlernachkommen und ihren Verwandten in Deutschland notwendig sei.34 Ausgehend von dieser Annahme präsentierte sich der Frauenbund als fürsorglicher Vermittler, der die Notwendigkeiten für die Siedlernachkommen am besten einzuschät30 Im Jahr 1930 beschrieb dies der Direktor der Reichsstelle für das Auswanderungswesen, Oskar Hintrager, wie folgt: „Erst mit der Gründung deutscher Familien faßten deutsches Leben und deutsche Sitte in unserem schönen Südwest feste Wurzel. Deutsches Kindergeschrei war Deutsch-Südwests schönste Zukunftsmusik, die deutsche Kindtaufe dort stets das größte Familienfest.“ Oskar Hintrager: Unsere Frauenauswanderung, in: Frauenbund der DKG (Hg.), Koloniale Frauenarbeit, Berlin 1930, S. 23-30, S. 29. 31 Vgl. Margarethe von Zastrow: Fortbildung afrikanischer Jugend in Deutschland, in: Frauenbund der DKG (Hg.), Koloniale Frauenarbeit, Berlin 1930, S. 31-34, S. 32. 32 Dies.: Südwestafrikanische Erziehungsfragen, in: Frauenbund der DKG (Hg.), Koloniale Frauenarbeit, Berlin 1926, S. 9-13, S. 11. 33 Ebd. 34 Differenzierungen gab es auch in Bezug auf Heranwachsende aus Deutschland und Südwestafrika: „Schüler, die aus Deutschland nach Südwest übersiedeln, leben in einem völlig anderen Gedanken- und Anschauungskreis als die Südwester Kinder, und es fällt ihnen oftmals schwer, sich gerade in den Hauptfächern in den neuen Lehrstoff einzuarbeiten; man muss ihnen vielfach eine lange Frist zubilligen, ehe sie sich den Verhältnissen notdürftig angepasst haben. Diese Schüler können auch im zweiten und dritten Jahre (nach den hiesigen Vergleichsmassstäben) noch nicht dasselbe leisten wie Kinder, die hier von Anfang an die Schule besucht haben.“ NAN, A.221/107-82/61, Schreiben des Sekretärs des „Arbeitsausschusses“ des Deutschen Bundes für die Deutschen Privatschulen (früher Landesverband der deutschen Schulvereine) an den Direktor des Erziehungswesens, 3.1.1930.
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zen wisse. Er beanspruchte damit zugleich eine enorme Kontrollfunktion, indem er sich in die Verwandtschaftsbeziehungen einmischte und sie zu einem öffentlichen Thema machte. Nicht nur in der Schulphase, auch während der Berufsausbildung oder eines Studiums unterstützten die Kolonialverbände bei der Berufswahl und Unterkunftssuche. Männliche Siedlernachkommen entschieden sich überwiegend für technische Berufsqualifizierungen, vor allem für Schlosserei, Maschinenbau, Elektrotechnik und demnach laut Frauenbund für solche Berufe, „für die in Afrika am meisten Verwendung“ sei.35 Manche qualifizierten sich als Tischler oder im landwirtschaftlichen Bereich,36 einige bereiteten sich mit einem Studium auf den Beruf des Arztes, Lehrers oder Rechtsanwaltes vor.37 Jedoch waren in dem beruflichen Findungsprozess die Wünsche von Siedlernachkommen und die tatsächliche Umsetzbarkeit nicht automatisch in Einklang zu bringen, wie das Beispiel von Erich Laszig, Schüler der Staatlichen Bildungsanstalt in Naumburg, verdeutlicht. Um dessen Wunsch nach einer Pilotenausbildung zu unterstützen, fragte DKG-Präsident Schnee Ende 1931 bei der Junkers-Flugzeugwerk A.G. in Dessau wegen einer kostenfreien Ausbildungsmöglichkeit an.38 Aufgrund der schlechten Wirtschaftslage konnte sie diesem Anliegen nicht nachkommen und riet auch generell von der Ausbildung ab, da sich die Aussichten für Berufsanfänger wegen erforderlicher „langjähriger Verkehrserfahrung und Auslandspraxis“ als ungünstig abzeichneten.39 Demnach wünschten sich manche (männliche) Siedlernachkommen auch Berufe, die eine Zukunftssicherung in Südwestafrika von vornherein fraglich erscheinen ließen oder zumindest erschwerten. 35 Nora von Steinmeister: Jahresbericht 1931-32, in: Frauenbund der DKG (Hg.), 25 Jahre Koloniale Frauenarbeit, Berlin 1932, S. 10-24, S. 17. 36 Vgl. BArch, R 1001/1197, Bl. 109, Protokoll der Ausschusssitzung des Frauenbundes der DKG, 5.2.1929. 37 Vgl. Nora von Steinmeister: Jahresbericht 1931-32, in: Frauenbund der DKG (Hg.), 25 Jahre Koloniale Frauenarbeit, Berlin 1932, S. 10-24, S. 17. 38 Vgl. BArch, R 8023/1077, Bl. 257, Schreiben von Schnee an die Junkerswerke, 6.11.1931. Zuvor hatte Erich Laszig bereits über den Bielefelder Gemeinrat Junker um Unterstützung für seine Ausbildung gebeten. Dies lehnte die DKG aus Geldmangel ab. Vgl. BArch, R 8023/1077, Bl. 259, Schreiben von Geheimrat Junker an die DKG, 28.10.1931; BArch, R 8023/1077, Bl. 258, Schreiben der DKG an Geheimrat Junker, 6.11.1931. 39 BArch, R 8023/1077, Bl. 255, Schreiben der Junkers-Flugzeugwerk A.-G. Dessau an Schnee, 21.11.1931. Daran hatte auch Schnees Verweis auf die Empfehlung von Erich Laszig durch den „alten angesehenen und verdienten Südwestafrikaner“ Junker sowie auf den Vater als „strebsamer und zuverlässiger Farmer in Omaruru“ nichts ändern können. BArch, R 8023/1077, Bl. 257, Schreiben von Schnee an die Junkerswerke, 6.11.1931.
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Die Unterkunftsart der männlichen Auszubildenden und Studierenden variierte wie bei den Schülerinnen und Schülern zwischen Wohnheimen und Privathaushalten. Seit seiner offiziellen Eröffnung am 14. Mai 1927 wohnten im Deutschen Heim im Schloss Köpenick mehrere in Südwestafrika geborene junge Männer, die im Raum Berlin an Hoch- und Fachschulen ein Studium aufgenommen hatten. 40 Ein vergleichbares Heim gab es für Studierende in Leipzig. Dieses stiftungsgetragene Deutsche Heim41 richtete sich explizit an „Auslandsdeutsche“ im Alter von etwa 17 bis 24 Jahren.42 Es sollte nicht nur als möglichst kostengünstige Unterbringung mit „gediegener Gemuetlichkeit und behaglicher Zweckmäßigkeit“ dienen, sondern unter den Bewohnern vor allem eine „feste[…] Lebensgemeinschaft“ schaffen. 43 Der Name war Programm, würde doch diese Lebensgemeinschaft „durch die Erkenntnis gemeinsamer Interessen und gemeinsamer Pflichten [entstehen, S.H.], die aus der Einfuehrung in deutsche Kultur und deutsches Land Achtung und Liebe zu Werken und Werten des Mutterlandes und Stolz auf die Zughörigkeit zum Deutschtum gewinnt“.44 Dies würde den Willen stärken, ‚deutsche Kultur‘ der ‚Auslandsund Kolonialdeutschen‘ vor Ort zu erhalten.45 Als gemeinschaftsbildende Maßnah40 Zur Eröffnungsfeier vgl. GStA PK, I. HA Rep. 76 Kultusministerium, Va Sekt. 1 Tit. XI Nr. 89 Bd. 1, o.V.: Hochschulwesen. Auslandsheim Schloß Köpenick, in: Schlesische Volkszeitung, Nr. 225, 16.5.1927. Die Anzahl der Bewohner, die aus neun europäischen Ländern und aus Südwestafrika kamen, betrug im April 1927 zwischen 40 und 50 und sollte sich bis Ende des Jahres auf 90 steigern. Vgl. ebd., Schreiben des Deutschen Heims Schloß Köpenick, Lindeiner-Wildau, M.d.R., an das Preußische Unterrichtsministerium, Ministerialrat Richter, 22.4.1927. Zwischen 1927 und 1933 lebten dort u.a. folgende Siedlernachkommen aus Südwestafrika: Fritz Böttcher, Kurt-Werner Iben, Albert Juhnke, Adolf Koenig, Fritz Krieß, Frank Weimann, Gerhard Brockmann, Heinz Detering, Werner Bensch, Otto Günther, Gerhard Kulenkampff. Vgl. ebd., Listen der Heiminsassen für die Sommer- und Wintersemester. 41 Der gleichnamigen Stiftung gehörten Vertreter des Auswärtigen Amts, des Reichsministeriums des Innern und der Deutschen Stiftung an, die zusammen die „fünf grossen Parteien“ repräsentierten. GStA PK, I. HA Rep. 76 Kultusministerium, Va Sekt. 1 Tit. XI Nr. 89 Bd. 1, Verwaltungsordnung für das Deutsche Heim Schloss Cöpenick und ebd., Schreiben des Deutschen Heims Schloß Köpenick, Lindeiner-Wildau, M.d.R., an das Preußische Unterrichtsministerium, Ministerialrat Richter, 22.4.1927. 42 GStA PK, I. HA Rep. 76 Kultusministerium, Va Sekt. 1 Tit. XI Nr. 89 Bd. 1, Das „Deutsche Heim“ Schloss Cöpenick, o.D. 43 GStA PK, I. HA Rep. 76 Kultusministerium, Va Sekt. 1 Tit. XI Nr. 89 Bd. 1, Gedanken ueber Aufgabe und Arbeit des im Schloss in Koepenick fuer deutsche Auslandsjugend geplanten Deutschen Heims, Januar 1925, S. 6-7. 44 Ebd., S. 4. 45 Vgl. ebd., S. 12.
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men galten gesellige Abendveranstaltungen, Sport und Spiel sowie Reisen an verschiedene „denkwürdige Stätten deutscher Kultur“. 46 Mit der hier propagierten Notwendigkeit von Gemeinschaftserfahrungen und einer damit verbundenen Wertebildung zeigen sich deutliche Gemeinsamkeiten zwischen den Deutschen Heimen und den Staatlichen Bildungsanstalten. Für diejenigen Siedlernachkommen, die nicht studierten oder an anderen Orten ihre berufliche Qualifizierung durchliefen, dürfte eine – in Ausnahmefällen auch kostenfreie – Unterbringung in Privathaushalten oder Pensionen die Regel gewesen sein.47 Einige wenige Siedlernachkommen besuchten die seit Ende des 19. Jahrhunderts bestehende Deutsche Kolonialschule in Witzenhausen, um dort den Lehrgang zum Kolonialwirt zu absolvierten oder sich in einem Handwerk ausbilden zu lassen. Folglich gab es unter den männlichen Siedlernachkommen nur eine kleine Minderheit, deren Lebensalltag von einem dezidiert kolonialbezogenen Umfeld geprägt war.48 Im Unterschied zu ihren männlichen Weggefährten gestaltete sich die Qualifizierung für weibliche Siedlernachkommen weitaus einseitiger. Die Mehrheit ließ sich tendenziell im hauswirtschaftlichen Bereich ausbilden. Dies hing nicht zuletzt damit zusammen, dass ihre Ausbildungen weniger dazu dienen sollten, den Lebensunterhalt zukünftig eigenständig zu sichern, sondern in Südwestafrika kompetente 46 GStA PK, I. HA Rep. 76 Kultusministerium, Va Sekt. 1 Tit. XI Nr. 89 Bd. 1, Schreiben des Deutschen Heims Schloß Köpenick, Krahe, an das Kultusministerium, Ministerialrat Richter, 28.6.1927. Was zu diesen Stätten gehörte und dort zu sehen war, verdeutlicht eine Reiseplanung für etwa 30 Bewohner: „Von Berlin nach Dortmund. Besuch einer Zechenanlage des Ruhrkohlengebiets. Weiterfahrt nach Duisburg. Besuch des grössten europäischen Binnenhafens. Cöln (Dom und Sehenswürdigkeiten), Dampferfahrt bis Coblenz, unterbrochen in Königswinter zum Besuch des Drachenfels, in Andernach zum Besuch des Klosters Maria Laach. Dampferfahrt Coblenz bis Rüdesheim. NiederwaldDenkmal. Bahnfahrt nach Frankfurt a.M. (Goethehaus, Römer usw.). Bahnfahrt bis Eisenach (Wartburg), Wanderung durch den Thüringerwald, abschliessend in Weimar.“ Ebd. Ferner weist Horst Gies darauf hin, dass die Staatliche Bildungsanstalt Köslin zur „Stärkung des Deutschtums“ jährliche Studienfahrten nach Ostpreußen, Danzig und Oberschlesien veranstaltete. Gies 2001, S. 199. 47 Beispielsweise erhielt Berthold Gladis während seiner Handwerksausbildung in Coburg kostenfreie Unterkunft bei einer Gastfamilie und berichtete retrospektiv: „Ich wurde bei einer Familie Kupfer untergebracht, die mich für die nächsten drei Jahre aufnahm. […] Ich kam in die Maschinenfabrik von Gemmer & Co. in die Lehre als Maschinenschlosser. Zweimal wöchentlich mußten wir Lehrlinge, einmal vor- und einmal nachmittags, zur theoretischen Ausbildung in die Gewerbeschule gehen.“ Gladis 1987, S. 23f. 48 Zur Deutschen Kolonialschule in der Weimarer Republik vgl. Djomo 2011, S. 127-147. Zur Geschichte der Schule siehe auch Linne 2007b, Baum 1997, Böhlke 1995.
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Ehefrauen und Mütter zu werden. Darauf war insbesondere die vom Frauenbund initiierte und seit 1926 bestehende Koloniale Frauenschule in Rendsburg ausgerichtet, die somit auch einer kleinen Anzahl von Mädchen und jungen Frauen dezidiert kolonialbezogene Sozialisationsbedingungen bereitstellte. Neben binnendeutschen, bürgerlichen jungen Frauen besuchten die Schule vor allem ‚kolonialdeutsche‘ Töchter aus Farmerfamilien, um sich gezielt auf ein späteres (Familien-)Leben auf einer Farm vorzubereiten. In den 1920er und 1930er Jahren kam es zu einem Ausbau von Frauenschulen, die vor allem auf weiblich konnotierte Berufsfelder ausgerichtet waren.49 Die Koloniale Frauenschule lässt sich dem Bereich der Professionalisierung von Hausarbeit zuordnen, die bereits im Kaiserreich begonnen hatte und im kolonialen Kontext die „Vision kolonialer Häuslichkeit“ mit dem „Glaube an die Bedeutung effizienter und hygienischer Hauswirtschaft“ verband.50 Die Ausbildung zielte auf die Verinnerlichung ‚deutscher Kultur‘ und die Vermittlung von ‚Kolonialwissen‘. Zugleich galt es, die Schülerinnen im Putzen, Kochen und in den Grundlagen medizinischer Versorgung zu unterrichten, aber auch in Viehzucht und im Schießen zu schulen, um den von einer Farmerin erwarteten Anforderungen gerecht werden zu können.51 Allerdings besuchten bei weitem nicht alle weiblichen Siedlernachkommen die Koloniale Frauenschule. Manche Mädchen und junge Frauen gingen in andere Hauswirtschaftsschulen oder wählten eine Berufsausbildung zur Krankenpflegerin, Schneiderin oder Kindergärtnerin.52 Wieder andere durchliefen ein zur Lehrerin qualifizierendes Studium.53 Die Mädchen und jungen Frauen, die solchen Ausbildungen nachgingen, wohnten in der Regel in Privathaushalten. Als „vorbildlich[…]“, „großzügig[…]“ und daher „nachahmenswert“ bewertete der Frauenbund das Engagement eines Mitglieds seiner Hamburger Abteilung.54 Dieses hatte einem Mädchen im dortigen Fröbel-Institut eine Ausbildungsstelle zur Kindergärtnerin besorgt, die Reisekosten von Südwestafrika nach Deutschland gezahlt und es schließlich in seiner Familie aufgenommen.55 Solch eine umfassende und kostenintensive Unterstützung blieb jedoch eher die Ausnahme. 49 Vgl. Zymek 1989, S. 174. 50 Spindler 2008, S. 280. 51 Vgl. Wildenthal 2001, S. 192, siehe auch Spindler 2008, S. 269-310, Siegle 2002, Rommel/Rautenberg 1983. 52 Vgl. Nora von Steinmeister: Jahresbericht 1931-32, in: Frauenbund der DKG (Hg.), 25 Jahre Koloniale Frauenarbeit, Berlin 1932, S. 10-24, S. 17f. 53 Dazu gehörten u.a. die beiden Schwestern Hildegard und Elisabeth Brockmann, deren Vater Missionar war. Vgl. Abschnitt 5.2. 54 O.V.: Frauenbund der DKG, in: Der Kolonialdeutsche, 7. Jg., 1927, Nr. 23, S. 388. 55 Ebd. Im gleichen Bericht bat der Frauenbund seine Mitglieder um Hilfe bei der Unterbringung einer jungen Frau und hatte dazu bereits konkrete Vorstellungen: „Dieselbe
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Schließlich lebten weitere weibliche Siedlernachkommen nicht nur in Privathaushalten, sondern arbeiteten auch dort, um sich in Haushaltsführung zu qualifizieren. Folgenden Ausbildungsweg einer Heranwachsenden erachtete Frida Voigts, Vorsitzende des Frauenbundes in Südwestafrika, für alle Mädchen als wünschenswert: „Sie kam zuerst zu einer älteren Klosterdame, die sich ein ‚Kolonialkind‘ vom Frauenbund erbeten hatte, half ihr in ihrem kleinen Haushalt, und lernte es so leicht, sich in die deutschen Verhältnisse finden. Sie bekam dann eine Stellung als Haustochter in einer ehemaligen südwester Beamtenfamilie, wo sie mit der Hausfrau alle Arbeit tut, und mit den Kindern alles Gute geniesst, was die Mutter ihnen bieten kann.“ 56
Neben den hier gepriesenen Prägungen in einem christlichen und ‚kolonialdeutschen‘ bürgerlichen Umfeld hatte das Mädchen schließlich Aussicht auf ein Stipendium in der Kolonialen Frauenschule, um im Anschluss daran als „in jeder Beziehung tüchtiger Mensch“ nach Südwestafrika zurückkehren zu können. 57 Kolonialrevisionistische Aktivitäten Neben der Organisation der schulischen und beruflichen Qualifizierung wirkten die Kolonialverbände auf die Freizeitgestaltung der Siedlernachkommen ein. Im Mittelpunkt stand die Teilnahme an kolonialpropagandistischen Veranstaltungen, die eine Doppelfunktion erfüllten: Einerseits sollten Siedlernachkommen dadurch eine mentale Verbundenheit mit Deutschland verinnerlichen. Andererseits war beabsichtigt, dass sie als ‚kolonialdeutsche‘ Repräsentantinnen und Repräsentanten an der Rückgewinnung der ehemaligen Kolonien mitarbeiteten und in dieser vermittelnden Position einen gestaltenden Part einnahmen. In den Staatlichen Bildungsanstalten war eine größere Anzahl von Siedlernachkommen untergebracht, sodass Abteilungen des Frauenbundes vor Ort sie zu geselligen Nachmittagen einluden. Diese waren als eine Mischung aus heroisch geprägter Geschichtsvermittlung sowie Spiel- und Essensmöglichkeiten gestaltet mit dem Ziel, sich in die Erinnerung der Siedlernachkommen einzuprägen. Sie sollten die „Liebe zur deutschen Heimat […] vertiefen, damit die Jungen als echte deutsche
müsste sich unter der Leitung einer tüchtigen Hausfrau im Hause betätigen und nur Gelegenheit zu einigen Stunden der Fortbildungsschule haben.“ 56 BArch, R 1001/1197, Bl. 321, Bericht von Frau Voigts, handschriftlich ergänzt: anlässlich der Frauenbund-Tagung in Windhuk, 17.-18.10.1929. 57 Ebd.
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Männer draußen ihren Platz ausfüllen.“58 Aber es ging nicht nur darum, die Heranwachsenden mittels dieser gewünschten mentalen Bindung für ihre zukünftige Rolle als Repräsentanten ‚deutscher Kultur‘ zu festigen, sondern sie wurden auch als Vermittler zwischen ehemaliger Kolonie und Metropole betrachtet. Dies zeigte sich insbesondere in einem Bericht zum 75. Geburtstag der Vorsitzenden des Frauenbundes Hedwig von Bredow. Mit „verehrender Dankbarkeit“, so hieß es, hätten ‚kolonialdeutsche‘ „Schützlinge des Frauenbundes“ – unter ihnen im Deutschen Heim lebende Studierende und Schüler der Staatlichen Bildungsanstalt Lichterfelde – an der Feier in Berlin teilgenommen.59 Währenddessen hätte ein „Südwester“ seine „Kommilitonen mitgerissen, um Mutterland und Tochterland zu verbinden, auf deutsch durch liebe Worte, auf afrikanisch durch sprechende Gesten, die in Tanzrhythmen Huldigung ausdrückten.“60 In ihr Engagement für die Siedlernachkommen versuchten die Kolonialverbände auch staatliche Vertreter/innen einzubinden. Sie planten eine an den Reichspräsidenten gerichtete Kundgebung, auf der die Heranwachsenden nicht nur seinen Empfang erleben, sondern ihm auch den „innigen Wunsch unterbreiten [sollten, S.H.], er möge ihre koloniale Heimat nicht vergessen und alles tun, daß sie dem deutschen Vaterlande wiedergewonnen werde.“61 Ähnlich wie es sich in der kolonialen Jugendarbeit zeigte, verweisen auch diese Aktivitäten auf eine eher instrumentelle und funktionalisierende Haltung gegenüber den Siedlernachkommen. Auffällig ist, dass sich nur wenige von ihnen in den kolonialen Schul- und Jugendgruppen organisierten, zumindest ließen sich dazu kaum Hinweise finden. 62 Besonders kolonialpropagandistisch aktiv zeigte sich Hugo Bütow als Feldmeister beim Kolonial-Sturm Gau Norden. Er hielt bei anderen kolonialen Jugendgruppen Vorträge über die Pfadfinder in Südwestafrika und sprach sogar den Festprolog bei einem größeren Kolonialfest. Dies kommentierte die Windhoeker Allgemeine Zei58 O.V.: Mitteilungen der Zentrale des Frauenbundes, in: Mitteilungen des Frauenbundes der DKG, 1929, Nr. 10, S. 124. Eine Veranstaltung in Naumburg wurde dem ‚Sedantag‘ gewidmet, der auf die Kapitulation des französischen Militärs am 2. September 1870 im Deutsch-Französischen Krieg verweist. Ebd. 59 Clara Sommerfeldt: Das Hedwig von Bredow-Fest, in: Mitteilungen des Frauenbundes der DKG, 1929, Nr. 1, S. 3-5, S. 3. 60 Ebd. 61 O.V.: Kundgebung der kolonialgebürtigen Jugend vor dem Reichspräsidenten, in: Der Kolonialdeutsche, 8. Jg., 1928, Nr. 16, S. 279. 62 Dazu gehörten einige Siedlernachkommen, die die Staatliche Bildungsanstalt in Naumburg besuchten. Sie erhielten während eines Kolonialfestes von Oberstleutnant von Boemcken „mit mahnenden und erhebenden Worten das Abzeichnen des Jugendbundes, dessen stärkste Stütze die Stabila“ sei. O.V.: Südwester in der staatlichen Bildungsanstalt zu Naumburg, in: Der Kolonialdeutsche, 7. Jg., 1927, Nr. 20, S. 328.
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tung mit lobenden Worten: „Wir freuen uns immer, wenn Südwester Jugend auch in der alten Heimat den kolonialen Gedanken weiter pflegt und Südwest lieb behält.“63 Einige Siedlernachkommen ergriffen die Gelegenheit, ihre in Südwestafrika begonnenen pfadfinderischen Aktivitäten in Deutschland fortzusetzen. Um das vor Ort Gelernte später in die Pfadfindergruppen in Übersee zurückzutragen, schlossen sich Jochen Sauber und Berthold Gladis mit Beginn ihrer Handwerksausbildung in Coburg im Jahr 1928 den dortigen Pfadfindern an. Unterstützung hatten sie von Pfarrer Schünemann aus Südwestafrika und dem Coburger Pfadfinderbund erhalten,64 was auf deren kooperative Strukturen hinweist. Letzterer war in der kolonialen Jugendbewegung verankert, hatte doch in Coburg 1928 auch die zweite koloniale Jugendtagung stattgefunden.65 Seinem Engagement als Pfadfinder gab Gladis einen wichtigen Stellenwert. Er berichtete rückblickend, seine Pfadfindertracht über drei Jahre lang nicht mehr ausgezogen, sie in der Freizeit und in der Schule getragen zu haben.66 Zudem habe er neben den täglichen Pfadfindertreffen an einigen mehrwöchigen Fahrten teilgenommen und in diesem Zusammenhang Erfahrungen gesammelt, die nicht allen von den Kolonialverbänden betreuten Siedlernachkommen verfügbar waren. Aufschlussreich ist zudem Erich Laszigs Sichtweise, Mitglied der Naumburger Kolonialpfadfinder: „Deutschland war uns fremd, und lange Zeit fühlten wir uns hier nicht wohl. Nun ist uns die verlassene Heimat wenigstens zum Teil durch den Bund ersetzt. Hier fanden wir Kameraden, die uns mithalfen, den kolonialen Gedanken im deutschen Volk wach zu halten. Auch sie haben unsere Heimat lieb und kämpfen mit uns für das gemeinsame Ziel.“67
63 Sam Cohen Library, Box 968.8-X History, Mitteilungen aus dem Deutschen Bund für S.W.A., in: Allgemeine Zeitung, 23.8.1930. Auch Martin Kühhirt war außerordentlich aktiv und hielt an mehreren Orten Vorträge über Südwestafrika. Vgl. Mitteilungen der DKG, 1930, Nr. 12, o.S.; 1931, Nr. 3, o.S.; 1931, Nr. 5, o.S. 64 Vgl. BArch, R 8023/992, Bl. 94-95, Schreiben des Reichsfeldmeisters des Deutschen Pfadfinderbundes an Oberstleutnant a.D. Knecht, Abteilung Freiburg der DKG, 19.2.1929. 65 Vgl. u.a. o.V.: Die zweite Reichstagung der Deutschen Kolonialjugend in Coburg, in: Jambo, 5. Jg., 1928, Nr. 6, o.S. 66 Vgl. Gladis 1987, S. 24. Zudem berichtete er, dass der Leiter des Coburger Pfadfinderbundes fortan sein „Vormund, Vorbild und bester Kamerad“ gewesen sei. Dieser sei als Freiwilliger in einer Minenwerfer-Kompagnie im Ersten Weltkrieg mehrmals verwundet gewesen und schließlich als Lehrer an einer Coburger Volksschule tätig geworden. Vgl. ebd., S. 23. 67 Erich Laszig: Warum wir Afrikaner Kolonialpfadfinder sind, in: Kolonialspäher, 1. Jg., 1928, Nr. 6, S. 59.
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Damit wies er seiner Identifikation als Kolonialpfadfinder die Funktion zu, die entstandene Irritation seiner Zugehörigkeitsgefühle und damit einhergehende emotionale Belastungen zu kompensieren, die das noch unbekannte soziale Umfeld in Deutschland zunächst hervorgerufen hatte. Gleichzeitig fand er in dem Bund Gleichaltrige, die sich mit ihm für Kolonialrevision einsetzten. Die Kolonialverbände hingegen inszenierten eher ein Bild der gelungenen und reibungslosen Qualifikationsphase und (emotionalen) Einbindung von Siedlernachkommen in die kolonialrevisionistische Arbeit. Diese Bild versuchte der Frauenbund durch die Veröffentlichung von Rückmeldungen zufriedener Eltern zu verstärken. Im Jahr 1926 bedankte sich eine Mutter für die „große materielle Hilfe“ und für „so viel Liebes und Gutes“, das ihrem in der Staatlichen Bildungsanstalt in Naumburg untergebrachten Sohn gegeben werde. 68 Ein Jahr später ließ eine Siedlerfamilie über Margarethe von Zastrow ihren Dank an die Abteilung Königsberg für die Betreuung ihres Kindes übermitteln, welches „froh […] immer seinen Eltern […] über seinen Aufenthalt in Deutschland“ schreibe.69 Nur selten verwies der Frauenbund auf, wie er es nannte, „vereinzelte Fehlschläge“.70 Vielmehr lobte die Zentrale die lokalen Abteilungen, die sich um finanzielle und fürsorgliche Unterstützung bemühten, und forderte sie regelmäßig zur weiteren Mithilfe auf. Als sich Anfang der 1930er Jahre die ökonomische Lage in Südwestafrika zuspitzte, schien dieses positive Image ins Wanken zu geraten. In einem als streng vertraulich markierten Bericht über ihre mehrwöchige Urlaubsreise in Südwestafrika schilderte Nora von Steinmeister, Geschäftsführerin des Frauenbundes, die verdrießliche Lage vor Ort: „Vielfach waren die Eltern vor 3 Jahren in guter Lage, konnten und wollten auch alle Kosten selbst tragen. Ich habe mich selbst davon aus den Abrechnungen überzeugt, das [sic] etliche
68 O.V.: Frauenbund der DKG, in: Der Kolonialdeutsche, 6. Jg., 1926, Nr. 7, S. 117. 69 Frauenbund der DKG: Bericht über die Hauptversammlung des Frauenbundes der DKG (Schluß), in: Der Kolonialdeutsche, 7. Jg., 1927, Nr. 16, S. 263-264, S. 264. Ähnliches beschrieb im Jahr 1928 auch eine in Ostafrika lebende Farmerin: „Eine Wohltat ist es für mich zu wissen, zu Hause sind treue gute Menschen, die sich der Kinder annehmen. […] Wie oft und immer wieder bin ich froh, die Kinder in der Heimat zu haben. Sie sollen im deutschen Heimatland aufwachsen, im Vaterlande wurzeln, dann können sie später hinausziehen in die Ferne, werden aber immer deutsch bleiben im Herzen und in ihrem ganzen Denken. Das ist es, was ich anstrebe.“ O.V.: Schul- und Erziehungsfragen. Brief einer Farmersfrau aus Ostafrika an die Zentrale des Frauenbundes der DKG, in: Mitteilungen des Frauenbundes der DKG, 1928, Nr. 3, S. 22. 70 Nora von Steinmeister: Jahresübersicht 1930-31, in: Frauenbund der DKG (Hg.), Jahresbericht 1930-31, Berlin 1931, S. 1-12, S. 6.
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Farmer 1928 monatlich so viel Einkünfte hatten, wie heute im ganzen Jahr, also heute nur noch 1/12 der Einnahmen von 1928 haben!“ 71
Diese drastischen finanziellen Veränderungen hatten direkte Konsequenzen für die in Deutschland lebenden Kinder, wie von Steinmeister weiter ausführte: „Die Kinder sitzen nun teilweise in Deutschland einfach fest, die Eltern haben so viele Schulden, das [sic] ihnen niemand mehr etwas borgt, und sie können den Kindern auch nicht die kleinste Summe mehr nach Deutschland schicken. Ich habe zahlreiche derartige Fälle sofort nach Berlin gemeldet. Wenn wir hier nicht helfen, durch Geld, wie durch Betreuung seitens unserer Abteilungen in Deutschland, bewirkt das Nach-Deutschland-Kommen dieser Kinder das Gegenteil des Erhofften: Sie werden aus Elend und Verlassenheit zu Deutschfeinden und Kommunisten und schaden uns später drüben in Afrika, und auch die Eltern werden aus Angst und Sorge zu Deutschlandfeinden.“72
Diese Schilderung ist in mehreren Aspekten aufschlussreich. Sie deutet zum einen darauf hin, dass den Kolonialverbänden die konkrete Lebenssituation von Siedlernachkommen durchaus nicht immer bekannt war. In der Befürchtung, diese und ihre Eltern könnten ‚aus Elend und Verlassenheit zu Deutschfeinden und Kommunisten‘ werden, zeigt sich zum anderen die Interdependenz von Klasse und ‚Deutsch71 BArch, R 1001/6695, Bl. 11, Nora von Steinmeister: Südwest Afrika 1932, Herv. i. Org. 72 Ebd. Hinsichtlich der eigenen finanziellen Lage hatte der Frauenbund bereits im August 1931 angekündigt, dass er „neuere[…] Bitten aus Afrika um Gewährung von Stipendien“ ablehne, da er „allein in Ostafrika an den verschiedenen Schulen einen Jahresbeitrag von 16.200 Reichsmark für Stipendien-Beihilfen zahle[…] und keine weiteren Verpflichtungen übernehmen könne[…].“ BArch, R 1001/6694, Bl. 160, Protokoll der AusschußSitzung des Frauenbundes der DKG, 25.8.1931, S. 3. Auch im Januar 1933 konnte er einer Anfrage des Farmers Hans Emil Lenssen aus Südwestfrika nicht nachkommen: „[B]ei der momentanen katastrophalen Lage drüben sowohl wie hier können wir jetzt nicht verantworten, noch wieder einen neuen Stipendiaten aus Afrika anzunehmen. Es tut mir wirklich sehr leid, lieber Herr Lenssen, gerade Ihnen und Ihrem Sohn hätten wir besonders gern geholfen, aber wie die Verhältnisse im Augenblick liegen, können wir Ihnen auch nur dringend abraten, jetzt Ihren Sohn herauszuschicken. […] Wir können […] die, die wir bisher die Jahre betreut haben und die z.Z. fast ausschließlich auf unsere Hilfe angewiesen sind, da gerade die Zuschüsse der Eltern aus Afrika, besonders aus Südwest, fast restlos ausbleiben […] nicht einfach vor Beendigung des Studiums oder der Ausbildung im Stich lassen. Es sind eben gerade so viele, die zur selben Zeit hier angefangen haben und von denen, wie gesagt, in anderthalb Jahren ein ganzes Teil fertig sind.“ Privatarchiv Schonecke, Schreiben des Frauenbundes der DKG, von Boemcken, an Lenssen, 29.1.1933.
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tum‘. Ein möglicher aus ökonomischer Not resultierender sozialer Abstieg wird hier als Bedrohung des individuellen ‚Deutschseins‘ betrachtet und somit unteren Schichten, insbesondere kommunistisch gesinnten Personen, die Repräsentanz von ‚Deutschtum‘ eher abgesprochen als höheren Schichten. Die im kolonialverbandlich-institutionellen Rahmen organisierten Bildungsaufenthalte waren insgesamt auf eine nationalistische Sozialisation der Siedlernachkommen ausgerichtet. Die ausgewählten national-konservativen Einrichtungen, Internate und Wohnheime sollten die Heranwachsenden mit Großmachtvorstellungen und ‚deutscher Kultur‘ vertraut machen insbesondere durch die Erfahrung der ‚kameradschaftlichen Gemeinschaft‘. Zudem wiesen die Kolonialverbände, allen voran der Frauenbund, dem Familienleben als konstruiertem Grundpfeiler ‚deutscher Kultur‘ einen hohen Stellenwert zu. Bei den Mädchen und jungen Frauen waren Ausbildungsfelder und Unterbringungsarten den kolonialen Geschlechtervorstellungen entsprechend überwiegend auf das Häuslich-Familiäre ausgerichtet. Für die männlichen Siedlernachkommen wurde eine Mischung aus institutioneller Unterbringung und zeitweise erlebbarem Familienalltag favorisiert. Die in diesem Zusammenhang dezidiert eingeforderte Kontrolle der Kolonialverbände über diese Prozesse zeigt, dass sie zu den Heranwachsenden ein überwiegend instrumentelles Verhältnis hatten. Deren individuelle Bedürfnisse und Vorstellungen waren für die Kolonialverbände weniger ein Thema. Sie fokussierten vielmehr ihre eigenen kolonialrevisionistischen Ziele, welche die Siedlernachkommen durch die Beteiligung an propagandistischen Aktivitäten unterstützen sollten. Wie sich im weiteren Verlauf zeigen wird, standen die kolonialverbandlich-institutionellen Zielsetzungen mitunter im Spannungsverhältnis zu den familiär-verwandtschaftlichen Rahmenbedingungen und den eigenen Plänen der Siedlernachkommen.
5.2 FAMILIÄR-VERWANDTSCHAFTLICH ORGANISIERTE AUFENTHALTE Grenzüberschreitende Mobilität war für wohlhabendere Siedlerfamilien eher die Regel als die Ausnahme, da sich einzelne oder mehrere Familienmitglieder regelmäßig zwischen Südwestafrika und Deutschland bewegten. Anlässe waren Urlaubsreisen, Verwandtenbesuche, gesundheitliche Probleme oder berufliche Notwendigkeiten und nicht zuletzt die hier im Mittelpunkt stehenden Bildungsaufenthalte der eigenen Kinder.73 Sie bedeuteten für die Siedlernachkommen in den meisten Fällen 73 Dazu gehörte u.a. Familie Bergemann. In der von ihr verfassten Familienchronik schildert Luise Maria Visser, geb. Bergemann, dass ihre Eltern und einige der Kinder zwischen 1919 und 1933 mehrfach für Urlaube oder zur Familienzusammenführung nach Deutschland reisten. Während einer Reise nahmen die Eltern den in Deutschland aufge-
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eine Trennung von ihren Eltern und Geschwistern. Diese Trennungserfahrung war durchaus nichts Ungewohntes, denn einige Schüler/innen lebten auch in Südwestafrika nicht zu Hause, sondern in Schülerheimen. Allerdings hatten die Deutschlandaufenthalte eine andere Dimension, waren doch die Entfernungen enorm weiter und dadurch die Trennungszeiten in der Regel weitaus länger. Ausgehend von diesen Umständen sind die Umgangsweisen von Eltern und Verwandten mit den Bildungsaufenthalten zu betrachten, die im Mittelpunkt des Abschnitts stehen. Wie gingen Familienangehörige mit der Trennungssituation um? Welche Hoffnungen, aber auch Befürchtungen verknüpften sie mit den Bildungsaufenthalten? Die Familie nahm in der deutschen Siedlerbevölkerung einen wichtigen Stellenwert ein. Noch für die Zeit nach der Unabhängigkeit Namibias hat Brigitta Schmidt-Lauber die zentrale Bedeutung des Familienverbandes unter deutschen Namibier/innen herausgearbeitet und vor allem auf die Funktion der Kontrolle verwiesen. „Die Familie übt Einfluß und Macht auf den einzelnen aus. Der moralische Druck familiärer Interessen gegenüber individuellen Belangen wird über die weitgehend autoritären Familienstrukturen vermittelt, in denen Widerrede gegen die Erziehenden untersagt ist. Die Sozialisation von Kindern innerhalb der Kernfamilie lehrt diese, sich unterzuordnen und die Normen zu akzeptieren.“74
Die hier beschriebenen engen und autoritären Familienstrukturen gehen auf die Zeit der deutschen Kolonialherrschaft zurück. Die damalige Gründung deutscher Familien, die durch die Heirat zwischen dort bereits lebenden Siedlern und aus Deutschland zugezogenen Frauen entstanden, sollte eine von anderen Bevölkerungsgruppen segregierte deutsche Siedlerbevölkerung schaffen und zukünftig erhalten.75 Im Hinblick auf die Deutschlandaufhalte ihrer Kinder versuchten Siedlerfamilien, diese Einstellungen während der Weimarer Republik auf die transnationalen Familienstrukturen zu übertragen. Dies zeigen die nachfolgenden Beispiele und die Briefwechsel der Großfamilie Hälbich im letzten Kapitel. Solch enge Familienstrukturen wirkten sich auf die elterlichen, vor allem emotional geprägten Umgangsweisen mit der Trennung von ihren Kindern aus. Einige Eltern versuchten in ihrer Religion Trost zu finden, wie z.B. das Missionsehepaar Brockmann. Nach einer längeren gemeinsamen Zeit mit allen Kindern in Deutschwachsenen Sohn Paul mit nach Südwestafrika. Ein anderes Mal holte der Vater seine Tochter Johanna nach dem Tod ihres Mannes aus Deutschland zurück. Vgl. Privatarchiv Visser, Familienleben und Erinnerungen, o.O o.J. 74 Schmidt-Lauber 1998, S. 346. 75 Zu der in diesem Zusammenhang diskutierten sogenannten ‚kolonialen Frauenfrage‘ vgl. Kundrus 2003b, S. 77-96.
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land kehrten die Brockmanns 1925 allein nach Südwestafrika zurück. Über den Abschied schrieb der Vater rückblickend: „Nur ein Trost bleibt uns: Wir wissen sie in Gottes Händen, das muß uns genügen. Und die Trennung muß sein im Dienst am Werk des Herrn.“76 Um den Trennungsschmerz zu lindern, reisten manche Elternteile vorübergehend nach Deutschland77 oder Siedlernachkommen kehrten für einen Ferienaufenthalt nach Südwestafrika zurück.78 Auch als wichtig angesehene Ereignisse in der Biografie der Siedlernachkommen konnten der Anlass sein. Zu seiner Konfirmation erhielt der in Berlin lebende Armin Redecker 1930 nach fünfjähriger Trennung Besuch von seiner Mutter, ältesten Schwester und Cousine, während der zurückgebliebene Vater ihm schrieb: „Wie groß wird auch bei dir die Freude sein […]. Wie gern ich auch mitgereist wäre; so war dies unter den jetzigen Verhältnissen nicht möglich. Wir wissen überhaupt nicht, was das noch werden soll. Von Woche zu Woche warten wir auf Regen.“79 Das Bedauern seines Zurückbleibens zeigt, dass unter den Familienangehörigen eine entsprechende Aufteilung getroffen werden musste. Neben dem direkten Zusammentreffen von Familienangehörigen blieben in der Regel nur Briefe zum Aufrechterhalten der Beziehungen untereinander.80 76 Brockmann 1992, S. 261. Schon während der Kolonialherrschaft hatten insbesondere Missionsfamilien ihre Kinder in Deutschland Schulen besuchen und Ausbildungen absolvieren lassen, was nicht zuletzt mit der möglichen Finanzierbarkeit zusammenhing. Vgl. Smidt 1997, S. 105. 77 Beispielhaft seien Auguste Detering und Lydia Vedder aus Missionsfamilien genannt, die 1926 beide ihre Kinder in Deutschland besuchten. Vgl. NAN, A.699, Lebenserinnerungen von Friedrich Wilhelm Detering, 1. Teil, S. 22. 78 Dies war bei Familie Richter der Fall. Die beiden Söhne lebten seit 1921 und 1924 in Deutschland. Auf Wunsch der Mutter reiste der älteste Sohn Heinz 1926 vorübergehend nach Südwestafrika und erhielt dafür von der DKG eine Reisebeihilfe in Höhe von 100 Reichsmark. Vgl. BArch, R 8023/1069, Bl. 130f., Schreiben der DKG an den Geheimen Regierungsrat Kastl, 19.6.1926. 79 Privatarchiv Redecker, Brief des Vaters an Armin Redecker, 4.3.1930. 80 Die zentrale Bedeutung von Briefen betonten auch andere. Eine Farmerin in Ostafrika schrieb: „Ja schön ist es hier, wenn nur das Heimweh nach den Kindern und die Sorge um sie nicht zu arg wären. Ein immerwährendes Bangen, bis der nächste Brief kommt, ist in mir und dann ein Aufatmen, wenn die Briefe gute Nachrichten enthalten, obwohl die Zeilen ja schon 4-5 Wochen alt sind. Aber so wird es wohl allen Müttern ergehen, die ihre Kinder fern von sich wissen.“ Frauenbund der DKG: Aus dem Briefe einer deutschen Frau in Ostafrika (März 1927), in: Der Kolonialdeutsche, 7. Jg., 1927, Nr. 10, S. 160. Der Missionar Heinrich Brockmann verwies auf die „lebhafte Korrespondenz“ mit seinen beiden jüngsten, sich in Kaiserwerth befindlichen Töchtern. Brockmann 1992, S. 282. Der Farmer Hans Emil Lenssen berichtete über seine Kinder: „Alle Drei haben getreu ihrem Versprechen und schon aus eigenem Pflichtgefühl heraus den wartenden Eltern re-
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Verbundenheit zu ihren Kindern stellten Eltern durch das Formulieren von Ängsten und Wünschen her, die bei Armin Redeckers Vater zugleich auf die eigene Gottgläubigkeit verwiesen: „Wie sehr wünsche ich es auch, daß der Herr den rechten Weg weisen wolle, bezüglich Deiner ferneren Zukunft. Es ist so viel Gottlosigkeit in der Welt + leider auch unter der heutigen Jugend; da wirst du es verstehen, wenn Deine Zukunft uns […] in dieser Hinsicht Sorgen bereitet. Für welchen Beruf Du Dich später wirst entschließen können, wissen wir auch nicht. […] Er wolle für Dich, für uns & alle unsere Lieben sorgen in jeder Beziehung!“ 81
Über diese sorgenvollen Bekundungen hinaus versuchte der Vater die Erziehung seines Sohnes zu beeinflussen, der während des Besuchs der Mutter und in ihrem Beisein in die Staatliche Bildungsanstalt aufgenommen worden war. Der Vater forderte nicht nur regelmäßige Briefe, sondern gab seinem Sohn zugleich konkrete Verhaltensanweisungen: „Wie angenehm muß es für Dich gewesen sein, daß Mutter Dich selbst nach dort brachte u. für alles sorgte. […] Du bist also an den Urlaubssonntagen (alle 14 Tage) bei Onkel Gottlieb und Tante Marie eingeladen. […] Ich denke Du wirst Onkel Gottlieb u. Tante Marie Recht lieb gewinnen. Erweise Dich ihnen dankbar & sei ihnen ein aufmerksamer lieber Neffe, der auch ihre Ermahnungen (sich) zu Herzen nimmt. Wenn triftige Gründe Dich mal abhalten sie zu besuchen, dann teile ihnen dies per Postkarte mit. […] Du wirst mir ja auch ausführlich berichten, ob Du in allen Fächern gut mitkommst & welche Fächer Dir am meisten Freude bereiten.“82
Demnach vergewisserte sich der Vater zunächst davon, dass es seinem Sohn gut geht. Im Weiteren versuchte er dessen Alltag durch an ihn gerichtete Erwartungshaltungen wie Gehorsam, Dankbarkeit und Disziplin zu beeinflussen und in diesem Sinne die Weiterentwicklung seines Kindes zu prägen. Eine kontrollierende Funktion übernahm dabei das familiäre Netzwerk, in diesem Fall Onkel und Tante.83 Den Rahmen der Aufenthalte gestalteten die Siedlerfamilien unterschiedlich. Einige Siedlernachkommen wie Armin Redecker besuchten die Staatliche Bildungsanstalt mit zugehörigem Internat in Berlin, andere kamen in Pensionen ungelmässig ausführliche briefliche Berichte geschickt, über die viel Freude entstand, denn sie fühlten das Geniessen der Kinder mit.“ Privatarchiv Lenssen, Hans Emil Lenssen: Lebens-Geschichte unseres zweiten Sohnes Gerd Joachim Lenssen, Farm Ombona, o.J. 81 Privatarchiv Redecker, Brief des Vaters an Armin Redecker, 4.3.1930. 82 Ebd., 21.6.1931. 83 Ähnliche Versuche der Einflussnahme werden sich auch bei Angehörigen der Großfamilie Hälbich zeigen. Vgl. Abschnitt 6.1.
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ter.84 Verwandte sahen sie in der Regel an Wochenenden oder in ihren Ferien. Diese Umsetzung traf sich mit den idealtypischen Vorstellungen des Frauenbundes, die ein Wechselverhältnis zwischen Internatsunterbringung und Familienerlebnissen vorsahen. Nicht wenige Siedlernachkommen wohnten direkt im Haushalt von Verwandten und gingen von dort aus zur Schule oder einer Berufsausbildung nach. 85 Demnach lebten die Siedlernachkommen nicht nur in recht verschiedenen Regionen des Deutschen Reiches, sondern ihre Wohnorte unterschieden sich auch durch ein städtisches oder ländliches Umfeld. Neben den direkten Verwandten wie Großeltern, Tanten und Onkeln gehörten auch Bekannte sowie Freundinnen und Freunde zum sozialen Netzwerk, innerhalb dessen sich die Siedlernachkommen bewegten. Die Aufnahme und Versorgung in verwandtschaftlichen Haushalten war teilweise von verschiedenartigen Herausforderungen begleitet, zu denen u.a. finanzielle und gesundheitliche Belastungen gehörten. Die Geschwister Gertrud und Walter Kellner lebten seit 1925 bei ihren Großeltern in einem kleinen pfälzischen Dorf und besuchten seit dem schulpflichtigen Alter die Dorfschule. Dort war der Großvater bis zu seiner Pensionierung im März 1929 als Lehrer tätig gewesen und schrieb zwei Monate später an seine Tochter in Südwestafrika: „Wenn du […] Geld übrig hast für ein paar Schuhe für die Kleinen, habe ich nichts dagegen, alle anderen Sendungen unterlasse.“86 Deutet dies auf eine gewisse Geldknappheit hin, die vermutlich aus der Pensionierung resultierte, so berichtete die Großmutter vor allem vom gesundheitlichen Zustand: „Bei uns Alten dürfte es besser gehen. Vater ist ein armer lahmer Mann […].“87 Zudem wies sie auf ihr eigenes Kranksein und damit verbundene Sorgen hin: „Neun Kinder groß gezogen und im Alter gar keinen Nutzen. […] Wenn ich doch wieder ganz gesund werde, daß ich Vater und die Kinder versorgen kann. Nun noch einmal ein Umzug, mir graut vor der Zukunft.“88 Enttäuscht über die fehlende Hilfsbereitschaft der eigenen Kinder und die schwierige Situation insgesamt war sie zur Versorgung der beiden Enkelkinder dennoch weiterhin bereit. Ihr Mann bestand sogar darauf, wie er gegenüber seiner Tochter erklärte:
84 Dazu gehörte York von Schütz. Vgl. NWG, Sig. 923.9 SCH, York von Schütz: Mein Leben. Autobiographie, Windhoek 1990, S. 4. 85 Beispielsweise wohnte Max von Dewitz während seiner Schlosser- und Automechanikerlehre bei Tante und Onkel. Vgl. Privatarchiv von Dewitz, Die Dewitz Familie in Namibia (Süd West Afrika), in: Verband der Familie von Dewitz e.V. (Hg.), Mitteilungen des Jahres 1998, Winsen 1999, S. 29-33, S. 30. 86 Privatarchiv Krüger, Brief des Vaters an Tochter Klara, 16.5.1929. 87 Privatarchiv Krüger, Brief der Mutter an Tochter Klara, 16.5.1929. 88 Ebd.
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„So lange wir leben, sind sie bei uns gut aufgehoben. In der Schule stellen sie sich gut an. Walter geht in die 1. Klasse; […] Trudel bleibt bei der Mutter, sie geht nicht mehr nach Südwest. Walter hätte Lust, nach meinen Willen bleibt er aber noch mindestens 3-4 Jahre bei uns, damit er eine gute Grundlage für die deutsche Schule bekommt. Was dann wird, wollen wir der Zukunft überlassen.“89
Demnach begründete er den gewünschten Verbleib seines Enkels mit dem Aspekt einer soliden schulischen Grundlage, der auch für Siedlerfamilien in Südwestafrika, u.a. die Hälbichs, eine wichtige Rolle spielte. Sich als Teil eines Familiennetzwerkes verstehend, nahmen Verwandte, in diesem Fall die Großeltern, nicht unerhebliche Belastungen auf sich, um den nachfolgenden Generationen, hier den Enkeln, Zukunftsmöglichkeiten zu eröffnen. Hinsichtlich der beruflichen Qualifizierung waren Eltern insbesondere darauf bedacht, in Deutschland die Ressourcen zu nutzen, die ihren Kindern in Südwestafrika nicht zur Verfügung standen. Im Jahr 1932 wandte sich der Farmer Hans Emil Lenssen an die Vereinigte Stipendienfürsorge in Deutschland, um seinen Sohn Hans-Günther nach dreijährigem dortigen Aufenthalt dabei zu unterstützen, „noch einige Zeit in Deutschland zu bleiben, nicht allein wegen der Arbeitslosigkeit hier im Lande, sondern auch deswegen, weil er in Deutschland unvergleichlich mehr Möglichkeiten wahrnehmen kann zu der für seinen Beruf unbedingt nötigen praktischen Ausbildung.“90 Die alltägliche Versorgung der Siedlernachkommen war somit auch mit individuellen Kraftanstrengungen der Verwandten verbunden und die Weiterführung der Aufenthalte von fortwährenden Klärungsprozessen begleitet. Gleichzeitig verdeutlicht sich an der Freizeitgestaltung, dass sich untereinander bekannte Siedlernachkommen durch verwandtschaftliche und freundschaftliche Netzwerke gegenseitig unterstützten. So besuchte der gemeinsam mit Hans-Günter Lenssen in Oldenburg 89 Privatarchiv Krüger, Brief des Vaters an Tochter Klara, 16.5.1929. Für andere Siedlernachkommen schien sich der Schulalltag schwieriger zu gestalten. Einige Kinder aus den Familien Brockmann, Detering und Schatz hatte Probleme, die entsprechenden Schulleistungen zu erbringen. Vgl. Brockmann 1992, S. 245; NAN, A.699, Lebenserinnerungen von Friedrich Wilhelm Detering, 1. Teil, S. 22; Privatarchiv Schatz, Ilse Schatz: Wolfgang Schatz, 2. Teil, S. 153. 90 Privatarchiv Schonecke, Schreiben von Lenssen an die Vereinigte Stipendienfürsorge, Wallberg, 20.7.1932. Zudem hatte der ihm bekannte ehemalige Direktor der Windhoeker Schule Körner, der danach in der Kolonialen Frauenschule in Rendsburg arbeitete, Unterstützung für den Sohn zugesagt. Vgl. Privatarchiv Schonecke, Schreiben von Körner, Koloniale Frauenschule Rendsburg an Lenssen, 14.4.1932. Der Sohn blieb tatsächlich noch länger in Deutschland, war zunächst beim Freiwilligen Arbeitsdienst und später beim Militär tätig.
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studierende Farmersohn Franz Rusch dessen Verwandte, was ihm „sehr gefallen“ habe.91 Zudem verbrachte er einen dreiwöchigen Ferienaufenthalt bei seinem eigenen Onkel im Riesengebirge, wo er ebenfalls „eine sehr schöne Zeit […] verlebt“ habe.92 In einem anderen Fall lud der Polizei-Distriktkommissar von Lülsdorf die bei Pflegeeltern lebenden Kinder des Farmers Paul Hoppe zu sich sein, auf dessen Farm wiederum sein eigener Sohn arbeitete.93 Die Perspektiven von Siedlereltern und Verwandten haben gezeigt, dass transnationale Familienbeziehungen eine materielle Ressource darstellten, um dem Nachwuchs Bildungsaufenthalte in Deutschland zu ermöglichen. Sie legten großen Wert auf eine gute Schul- und Berufsausbildung ihrer Kinder, stand doch deren ökonomischer und sozialer Status durch das Ende der Kolonialherrschaft auf dem Prüfstand. Als Folge der Aufenthalte waren die Familien in der Regel mit längeren Trennungserfahrungen konfrontiert. Diese lösten nicht nur Sehnsuchtsgefühle, sondern auch Kontrollwünsche aus, d.h. Eltern versuchten über die Entfernung hinweg den Lebensweg ihrer Kinder weiterhin zu beeinflussen. In dem Wunsch nach Kontrolle konnte sich die Sorge um das Wohlbefinden der eigenen Kinder ausdrücken, er konnte aber auch an sie gerichtete Erwartungen von Gehorsam und Disziplin enthalten. Die Unterbringung im verwandtschaftlichen Umfeld eröffnete Eltern entsprechende Einflussmöglichkeiten. Es ist anzunehmen, dass Eltern vor allem auf die zukünftige Existenzsicherung ihrer Kinder bedacht waren. Die von den Kolonialverbänden formulierten nationalistischen Sozialisationsvorstellungen und kolonialrevisionistischen Zielsetzungen fanden sich bei ihnen jedenfalls nicht wieder. Mit diesen an sie gerichteten Erwartungshaltungen von Kolonialverbänden und Familienangehörigen waren die Siedlernachkommen konfrontiert.
5.3 ‚KOLONIALDEUTSCHE‘ IDENTITÄT VEREINDEUTIGEN: SELBSTPOSITIONIERUNGEN VON SIEDLERNACHKOMMEN Die Deutschlandaufenthalte stellten für Siedlernachkommen eine (wichtige) Ressource für die Gestaltung ihrer beruflichen Zukunft dar. Sie lösten bei ihnen aber auch zwiespältige Gefühle aus, wenn es um die Frage nach der eigenen Verortung und Zugehörigkeit ging. Der Abschnitt beleuchtet, wie sie ehemalige Kolonie und
91 Privatarchiv Schonecke, Brief von Franz Rusch an Familie Lenssen, 15.6.1929. 92 Ebd., 8.9.1929. 93 Vgl. BArch, R 8023/1077, Bl. 273, Schreiben von Paul Hoppe an von Lülsdorf, 1.6.1927.
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Metropole als ‚Räume von Bedeutung‘ konstruierten und welche Identifikationsweisen und Distinktionsbemühungen daraus resultierten. In der Regel artikulierten Siedlernachkommen eine fast ausschließlich positive Verbundenheit mit ihrem Geburtsland Südwestafrika.94 Dagegen luden sie die ehemalige Metropole mit negativer Bedeutung auf, um sich von ihr abzugrenzen. Manche begründeten damit ihren Wunsch nach einer Rückkehr, den sie oft in emotionalen und verklärenden Worten ausdrückten. Der Student Franz Rusch schrieb im April 1930 an die befreundete Familie Lenssen in Südwestafrika: „Ich glaube es hat sich noch nie einer so gefreut wie ich es tun werde, wenn es heisst das Schiff in Hamburg besteigen, welches nach Afrika fährt oder wenn gar Walfischbay in Sicht ist. Hier giebt [sic] es ja auch herrliche Sachen zu sehen, aber so ganz heimisch kann man sich doch niemals fühlen.“95
Solch eine entschiedene Überzeugung, in Deutschland ‚niemals‘ ein Zuhause finden zu können, erklärte der Geografieprofessor Erich Obst vier Jahre später nach einer längeren Reise in Südwestafrika wie folgt: „Wer in dieser Landschaft der Weite und des Schweigens aufwächst, gerät in ihren Bann. Er liebt die Unendlichkeit der Steppe, die Wuchtigkeit der kahlen, steilen Felsberge, den krassen Rhythmus der Natur in Trocken- und Regenzeit, er empfindet dieses herbe Land trotz aller Kargheit als seine Heimat.“96
Während Obsts fast mystisch anmutende Vorstellung des ‚Sich-im-Bann-Befindens‘ hier nicht zuletzt auf die räumliche Prägung von Identität verweist, nutzten andere Akteurinnen und Akteure gebräuchlichere Begriffe wie Sehnsucht und Heimweh, um Rückkehrwünsche nach Südwestafrika zu erklären. Im Jahr 1935 94 Eine ähnliche Perspektive fand sich bei einer interviewten Britin, die sich an ihre Kindheit in Indien erinnerte: „[T]he amount of freedom that one had; the warmth with which one – I don’t mean climatic warmth, but the warmth with which one was surrounded really by – by servants, one’s family, everyone that one met … the colour, the quality of light, the space.“ Buettner 2004, S. 63f. Daraus schlussfolgert Elizabeth Buettner, dass sich Großbritannien als Antithese gegenüber all diesen erfreulichen Eigenschaften erwies. Vgl. ebd., S. 64. 95 Privatarchiv Schonecke, Brief von Franz Rusch an Familie Lenssen, 7.4.1930. In einem anderen Brief berichtete er von einer Exkursion nach Bremen zur Besichtigung von Hochöfen und dazugehörigem Zementwerk, die er „interessant und lehrreich“ fand. Privatarchiv Schonecke, Brief von Franz Rusch an Sigrid Lenssen, 11.12.1929. 96 Sam Cohen Library, Box 968.8-X History, Erich Obst: Das Deutschtum in Süd-Afrika, in: Sonderabdruck der Geographischen Zeitschrift, 40. Jg., 1934, Nr. 5/6, S. 212.
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fragte der Missionar Heinrich Vedder danach, warum ein Siedlerkind auch nach mehrjährigem Aufenthalt in Deutschland „immer von einer Art Heimweh gepackt wird, sobald die Rede auf Afrika kommt[.] Selten trifft man einen Jungen, ein Mädchen, das nicht mit heißer Sehnsucht an das dürre Sonnenland zurückdenkt, und das die Gelegenheit, wieder nach Afrika zu kommen, verschmäht.“ 97 Auch in der Retrospektive rekurrierten Siedlernachkommen auf solche Vorstellungen, wie beispielsweise Wilhelm Stritter, den sein Vater nach zweijährigem Deutschlandaufenthalt aufgrund großen Heimwehs nach Südwestafrika zurückkommen ließ. 98 Wie dominant solche imaginierten oder real erlebten Emotionen sein konnten, verdeutlicht die in der folgenden Trauerzeige gegebene Erklärung für einen Todesfall – zumindest bei wörtlicher Interpretation. Der Kolonial-Sturm Gau Norden, bei dem der seit Beginn der 1920er Jahre in Deutschland lebende und bereits erwähnte Hugo Bütow Feldmeister gewesen war, fand in einem Nachruf für seinen Selbstmord 1932 folgende Erklärung: „Wir wissen, daß seine unbezwingbare Sehnsucht nach seinem Sonnenlande Deutsch-Südwest-Afrika und seinen lieben Angehörigen […] seiner Seele und seinem Gemüt zu einem verzehrenden Feuer wurde. Nun befindet sich seine Asche auf der Heimreise.“ 99 Sicherlich war dieses drastische Beispiel eine absolute Ausnahme, dennoch deutet es darauf hin, dass Siedlernachkommen sich selbst und auch andere ihnen eine starke emotionale Bindung zu Südwestafrika zuwiesen.100 Die Konstruktion der Verbundenheit mit ihrem Geburtsland sollte ihren Wunsch nach Rückkehr nachvollziehbar machen. 101 Aber warum grenzten sich vie97
BAB, Heinrich Vedder: Kinderfreuden in Afrika, in: Afrikanischer Heimatkalender 1935, S. 73-76, S. 73.
98
Vgl. NWG Zeitungsarchiv, Elvira Riegel: Wem gehört die Christuskirche? – Onkel Stritter zum 85. Geburtstag eines Pioniers, in: Allgemeine Zeitung, 18.8.1995, o.S.
99
Privatarchiv Bütow, Kurt-Wilhelm Bütow: A global journey by the descendants of Bütow, Pretoria 2002, S. 180.
100 Wie eine Interviewpartnerin erzählte, lässt sich solch eine Perspektive immer noch unter Deutsch-Namibierinnen und -Namibiern finden: „Südwester Kinder passen sich schwer woanders an, ein Südwester will immer wieder zurückkommen. […] Man hat immer Heimweh nach Südwest gehabt. Alle! Es gibt ganz wenige, die kein Heimweh haben, wenn sie im Ausland sind. […] Das Klima und das Land auch […]. Ich kann das auch nicht beschreiben.“ Interview mit Frieda am 8.10.2010. 101 Allerdings gab es einer Interviewpartnerin zufolge auch andere Einstellungen von Siedlernachkommen: „Wie ich nachher nach Hause fuhr wieder mit dem Dampfer, da hab ich eine Frau Schiklowski getroffen. ‚Meine liebe Zeit, wie schön, dich wieder zu sehen. Ach, ich will euch gar nicht sehen, ich muss jetzt wieder nach Hause fahren und ich will nicht.‘ [lacht] […] So verschieden waren sie.“ Interview mit Ilse am 11.10.2010.
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le Siedlernachkommen von den gesellschaftlichen Umständen und Entwicklungen in Deutschland ab und bewerteten diese negativ? Nach rund einem Jahr in Deutschland schrieb der bereits erwähnte Franz Rusch im November 1929 an Familie Lenssen in Südwestafrika das Folgende zum sozialen Umgang: „Wie manches mal [sic] habe ich schon zurückgedacht an die wunderschöne Zeit, welche man doch in Afrika verlebt hat. Es ist ja auch hier schön, sehr schön sogar, was Natur anbelangt, aber etwas fehlt uns Afrikanern doch und dass [sic] ist das Ungezwungene im Verkehr. Drüben sorgt sich ein Mensch um den anderen und kommt ihm liebevoll entgegen und hier muss man froh sein, wenn man nur misstrauisch von der Seite angeguckt wird.“102
Dieses verallgemeinernde Bild eines solidarischen und fürsorglichen Zusammenhalts in Südwestafrika einerseits und eines von Misstrauen geprägten und deshalb abzulehnenden Umgangs in Deutschland andererseits103 nutzte Rusch zur eindeutigen Identifikation mit seinem Geburtsland in Übersee. Abgesehen von seiner Bewunderung für die Natur in Deutschland, die er mit den von Schnee- und Walderlebnissen berichtenden Interviewpartnerinnen teilte,104 setzte Rusch seinen Brief mit einer harschen Kritik an der Vergnügungskultur in Deutschland fort:
102 Privatarchiv Schonecke, Brief von Franz Rusch an Familie Lenssen, 24.11.1929, Herv. i. Org. Ähnliches beschreibt Adolph Woermann in seiner Autobiografie über seine Ankunft in Hamburg Mitte der 1920er Jahre und beklagt das zwischenmenschliche Desinteresse: „Wollten die Menschen nichts voneinander wissen? Auch die wenigen Fußgänger auf der Straße gingen, anders als in Afrika, grußlos aneinander vorbei.“ Woermann 1990, S. 81. An anderer Stelle betont er den fürsorglichen Umgang in Südwestafrika: „Ich war mit Gefahren vertraut gewesen, kannte die Bedrohung durch Hunger, Durst, wilde Tiere oder Naturgewalten. Aber dort, in der Wildnis war der Mensch immer Helfer, zumindest ein Leidensgenosse gewesen.“ Ebd., S. 83. 103 Gleichzeitig berichtete er gegenüber seinem Vater positiv von seinem direkten sozialen Umfeld: „Von Franz haben wir gute Nachricht, er kommt mit seinem Studium gut vorwärts u. hat auch eine gute Pension gefunden, wo er wie Kind im Hause ist.“ Privatarchiv Schonecke, Brief von Ernst Rusch an Hans Emil Lenssen, 5.3.1929. 104 „Der erste Schnee. Schwester hat sich reingeworfen. Mir war so kalt“, erzählte Hilde im Interview am 10.10.2010. „Wie dann der erste Schnee fiel, wie ich dann aufgeregt war. Ich war nun sieben Jahre, sieben Jahre hatte ich nun keinen Schnee gesehen und wie der erste Schnee fiel, wie ich draußen rumgesprungen bin, hätt ihn am liebsten gegessen“, berichtete Else im Interview am 2.11.2010 Zudem erwähnte sie den „wunderschöne[…] Wald“ im Interview am 31.10.2010. Ilse drückte dies im Interview am 11.10.2010 so aus: „Landschaftlich war das für mich wunderbar, vor allen Dingen der Wald mit den vielen Bäumen.“
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„Ich bin zwar selbst etwas reichlich zurückhaltend, es wird Sie wohl nicht gross wundern wenn ich aufzähle, dass ich: zweimal im Theater, einmal auf dem Kramermarkt und [bei, S.H.] eine[r] Zaubervorstellung und sonst nirgends zu einem Vergnügen gewesen bin und dass ich tatsächlich schon zwei Glas Bier getrunken habe, solange ich hier in Deutschland bin. So bin ich, es ist mir direkt eine Scheu angeboren gegen alles was mit übertriebenem Vergnügen zusammenhängt. Und leider sind hier alle Vergnügungen übertrieben, wo giebt [sic] es noch reine Feste? Vielleicht fühle ich mit dieser Scheu, dass hier der Ursprung so vielen Elends und Kummers liegt? Hier ist aus Vergnügen Vergnügungssucht geworden und das setzt den Menschen hinab zum Tier, zu dem schlimmsten Tier sogar.“ 105
Hier wird Ruschs ambivalentes Verhältnis zur Stadt sichtbar. Er nahm die sich ihm bietenden Kulturangebote durchaus in Anspruch, lehnte allerdings die seiner Ansicht nach damit verbundene ‚übertriebene‘ Ausgestaltung entschieden ab. Diese kulturpessimistische Sichtweise, die vermutlich auch eine Kritik an den sich modernisierenden Verhältnissen der Weimarer Republik beinhaltete, teilte er mit den Kolonialpfadfindern, die ihre Fahrten in die Natur als Gegenentwurf zur konsumorientierten Freizeitkultur präsentierten. Des Weiteren ist aufschlussreich, dass Rusch seine Ausführungen zur Selbstinszenierung nutzte, indem er sich als resistent gegenüber vermeintlich schädlichen Einflüssen und somit als ‚rein‘ geblieben darstellte. Diese Selbstidealisierung untermauerte sein Vater etwa ein Jahr später. Er hatte Franz und dessen Freund Hans-Günter Lenssen während seiner Geschäftsreise in Hamburg getroffen und schrieb an Familie Lenssen, dass Franz sein Studium „sehr ernst“ nehme, sich „kaum freie Zeit“ gönne und dementsprechend in allen Fächern „sehr gut“ sei.106 Des Weiteren berichtete der Vater von den beiden: „[Sie, S.H.] […] sind noch die netten, unverderblichen Jungen, die sie hier waren, was bei der heutigen Zeit viel sagen will. Die Verhältnisse in unserer Heimat sind überaus traurig.“107 In seiner Beschreibung des disziplinierten Studenten lässt sich einerseits eine Analogie zum Bild des hart arbeitenden Siedlers in Südwestafrika erkennen.108 Andererseits markiert sein Verweis auf die ‚unverderblichen Jungen‘ eine Grenzziehung zwischen ‚Wir‘, also die ‚Kolonialdeutschen‘, und die ‚Anderen‘, nämlich die Binnendeutschen, sowie eine Gefährdung, die die Jungen ‚verderben‘ könnte. In Anlehnung an den Historiker Martin Dinges lassen sich diese Distinktionsbemühungen von Vater und Sohn als eine „Abgrenzung als Auszeichnung“ lesen, d.h. die Akteure „wollen sich nicht nur anders, sondern besser darstellen“. 109 Es ist anzu105 Privatarchiv Schonecke, Brief von Franz Rusch an Familie Lenssen, 24.11.1929. 106 Privatarchiv Schonecke, Brief von Ernst Rusch an Familie Lenssen, 12.9.1930. 107 Ebd. 108 Zu den geforderten Eigenschaften des idealen Siedlers vgl. Kundrus 2003b, S. 59. 109 Dinges 1992, S. 50. In seiner Analyse der Funktion von Kleidung in der Frühen Neuzeit rekurriert er auf Pierre Bourdieus Begriff der Distinktion.
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nehmen, dass dieses Bemühen, die eigene Identität als ‚Kolonialdeutsche‘ zu vereindeutigen und zu festigen, dazu diente, der infolge der Mobilität hervorgerufenen Konfusion der Zugehörigkeitsgefühle entgegenzuwirken. Dies verdeutlichte sich insbesondere an ihrer beschriebenen ‚Reinheit‘ und ‚Resistenz‘ den sich modernisierenden Verhältnissen gegenüber. Distinktionsbemühungen wurden auch durch eine Verunsicherung des eigenen sozialen Status ausgelöst. Der mit 26 Jahren bereits erwachsene Friedrich Mercker mietete sich 1927 während seines landwirtschaftlichen Studiums privat ein und bemerkte gegenüber seinen Eltern: „Es riecht nur etwas unangenehm im Hause. Vielleicht nach kleinen Leuten.“110 Eine ähnlich hierarchisierende und distanzierte Haltung drückte sich retrospektiv bei einer Interviewpartnerin aus, die 1935 ihre Unterbringung bei Verwandten zu verhindern versuchte: „Aber das war mir nicht geheuer. Die waren vom Lande.“111 Auf meine Nachfrage, ob sie sich als Stadtkind fühlte, antwortete sie: „Nicht Stadtkind, aber aufgeschlossener. Sie waren mir zu einfach da. Sie waren richtige Bauern.“112 Zudem fühlten sich Siedlernachkommen auf einer konkreten räumlichen Ebene in Deutschland oft begrenzter und schlechter gestellt, als sie es aus Südwestafrika gewohnt waren. Nach einem vergleichsweise kurzen einjährigen Deutschlandaufenthalt zur Schulzeit begründete eine Interviewpartnerin ihre Freude über die Rückkehr nach Südwestafrika 1931 so: „Man ist freier hier. Drüben alles so eng. Und wir haben ja auch den Leuten, Kindern Platz weggenommen, Mädels das Schlafzimmer. […] Ich weiß auch nicht. Wir haben uns wohler hier, Freiheit. Wir waren ja das erste Haus ziemlich in Windhoek. […] Und es war ja noch im Busch, war alles so frei […] Nee, Freiheit hier war doch viel schöner.“113
Die Interviewte konzentrierte sich hier auf den räumlichen Aspekt, indem sie den ‚freien‘ Raum in Südwestafrika mit Freiheit gleichsetzte und demgegenüber die durch ihre Anwesenheit in Deutschland hervorgerufene räumliche Beschneidung für andere Kinder betonte.114 In dieser Vorstellung findet sich durchaus eine Analo110 Privatarchiv Mercker, Brief von Fritz Mercker an seine Eltern, 15.11.1927. 111 Interview mit Ilse am 11.10.2010. 112 Ebd. Sie wohnte letztlich in Hildesheim bei einer ihr aus Südwestafrika bekannten Lehrerin, die ihre älteren Schwestern auf der elterlichen Farm unterrichtet hatte und 1918 ausgewiesen worden war. 113 Interview mit Hilde am 10.10.2010. 114 In ihrer Kurzbiografie über den Farmerssohn Ulli Kaiser, der seine Schulzeit in Deutschland verbrachte, assoziierte auch Lisa Kuntze Südwestafrika mit Freiheit: „Aber den freiheitsgewohnten Jungen trieb es […] doch wieder zurück […].“ Kuntze 1982, S. 98.
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gie zur Argumentation der Kolonialverbände, die vom ‚überfüllten‘ Deutschland sprachen, um die von ihnen geförderten Siedlernachkommen zur Rückkehr nach Südwestafrika zu verpflichten.115 Auch hatten Siedlernachkommen insbesondere auf den elterlichen Farmen einen größeren Bewegungsradius, als dies für sie unter der Kontrolle ihrer Betreuenden in Deutschland der Fall gewesen sein dürfte. Mit der ‚Freiheit‘ und der damit verbundenen großzügigeren räumlichen Ausstattung in Südwestafrika konnte weiterhin ein höherer sozialer Status verbunden werden, ein Herausragen aus der Masse. Eine andere Gesprächspartnerin nahm ihre Rückkehr 1937 nach zwei Jahren Aufenthalt in Deutschland auf diese Weise wahr: „[M]an kommt aus einer Masse und ist dann weg und ganz. Ich kann Ihnen das nicht sagen, es ist eine furchtbare Umstellung. Aber, wie gesagt, ich wollte ja nie in Deutschland bleiben. Das war mir zu voll, zu sehr. Ich bin froh, ich bin wieder zeitig hier angekommen.“116 Vermutlich speiste sich dieses Abgrenzungsbedürfnis auch aus der eigenen Statusunsicherheit, denn in Südwestafrika war qua ‚Weißsein‘ mit dem Leben in einer Farmerfamilie ein privilegierter Status verbunden. Dieser Status änderte sich auch unter der Mandatsverwaltung nicht, blieb die deutsche Siedlerbevölkerung doch gegenüber den afrikanischen Bevölkerungsgruppen in einer Dominanzposition. Demnach dienten diese zeitgenössischen und retrospektiven Distinktionsbemühungen mit ihren verschiedenen Akzentuierungen den Siedlernachkommen vor allem als Mittel, um sich ihrer ‚kolonialdeutschen‘ Identität und ihres sozialen Status zu vergewissern. Gerade letzterer dürfte in den oft beengteren und finanziell angespannten Verhältnissen in Deutschland infrage gestellt worden sein, wo sie nur (noch) ein Teil der ‚Masse‘ waren. Neben diesen Verunsicherungen gab es noch weitere Einflüsse, die Siedlernachkommen die Aufenthalte in Deutschland erschweren konnten. Unterschiede in den Sozialisationserfahrungen, gegenseitiges Verständnis oder auch große Altersunterschiede bestimmten mit darüber, wie gut die Unterbringung funktionierte. Heinz, der seinen Aufenthalt in Deutschland bei seiner Großmutter als keine besonders schöne Zeit erinnerte, begründete dies so: „Damals war erstensmal der Abstand von Großmutter zum Enkel […] viel größer als heute. Dann war meine Großmutter bei meiner Geburt hier in diesem Land [damals DeutschSüdwestafrika, S.H.], in Windhoek. Da niemand anders da war, wurde sie auch meine Paten115 Vgl. dazu Abschnitt 4.2. 116 Interview mit Ilse am 11.10.2010. Auch Adolph Woermann verweist bei seinen Eindrücken in Hamburg auf den Aspekt der Einengung: „Schon auf der Taxifahrt zum Hause von Onkel Kurt spürte ich, wie die Stadt mich einsog in ihr kompliziertes System rechtwinkliger Begrenzungen. Wie riesige Käfige erschienen mir die Wohnblocks. Zwischen ihnen, tief eingeklemmt, das Straßengewirr als Auslauf für viele, eilige Menschen.“ Woermann 1990, S. 80.
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tante. Das war etwas viel für alle Beteiligten [lacht]. Und Oma und Patentante sein in einem, das ist ja auch für die Frau etwas anstrengend. Naja, dann hab ich da ewig gewohnt während meiner ersten Zeit von sechs bis zehn und das war für die Oma auch schwer zu verkraften. Das drückte sich dann in unseren Beziehungen aus.“117
Zwar bleibt die konkrete Ausgestaltung der Beziehung zwischen den beiden unklar, deutlich wird allerdings, dass die Großmutter in ihren beiden Funktionen zu viel Kontrolle und Einfluss auf ihn ausüben konnte und dazu noch, wie er anderer Stelle erwähnte, „nicht verständlich für alles [war, S.H.], was ich machte.“118 So schlussfolgerte er über den mehrjährigen bei ihr verbrachten Aufenthalt: „Das war nicht die schönste Zeit meines Lebens, aber ich hab’s durchgestanden.“119 Dies verweist darauf, dass die Trennung von Eltern oder anderen engen Bezugspersonen gerade für Siedlernachkommen im Kindesalter nicht zu unterschätzende emotionale Belastungen mit sich brachte. In der zeitgenössischen und retrospektiven Bewertung ihrer Aufenthalte wiesen die Siedlernachkommen Südwestafrika und Deutschland spezifische Bedeutungen zu. Sie bezogen sich ausschließlich positiv auf ihr Geburtsland Südwestafrika, assoziierten es mit Freiheit, Solidarität und Fürsorge und sahen daraus folgernd dort ihren Lebensmittelpunkt. Ihre Einstellungen zu Deutschland waren hingegen ambivalent, da sie zwischen Nutzbarmachung und Abwehr wechselten. Sie schätzten die beruflichen und kulturellen Bildungsmöglichkeiten ebenso wie das Erleben der deutschen Naturlandschaft. Gleichzeitig verknüpften sie Deutschland mit Enge, gegenseitigem Misstrauen und Desinteresse, grenzten sich gegenüber gesellschaftlichen Entwicklungen und Teilen der binnendeutschen Bevölkerung ab. Die Abwertung Deutschlands in sozialer Hinsicht diente ihnen offenbar vor allem dazu, ihre Identifikation mit Südwestafrika zu vereindeutigen sowie ihre ‚kolonialdeutsche‘ Identität zu bestätigen und aufzuwerten, um ihrer aus der Mobilität resultierenden Verunsicherung der Identität und des sozialen Status entgegenzuwirken.
5.4 RÜCKKEHR NACH SÜDWESTAFRIKA Die Bildungsaufenthalte der Siedlernachkommen in Deutschland konnten zwischen einem Jahr und über zehn Jahren variieren. In Abhängigkeit von der Qualifizierungsabsicht kehrten manche bereits nach ihrem Schulabschluss, andere nach beendeter Berufsausbildung oder abgeschlossenem Studium, einige auch schon während 117 Interview mit Heinz am 12.10.2010. In den 1930er Jahren kam er noch zwei weitere Male nach Deutschland. 118 Ebd. 119 Ebd.
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der jeweiligen Phasen nach Südwestafrika zurück. Die Kolonialverbände verlangten insbesondere von den durch sie betreuten Siedlernachkommen mit Stipendium, nach vollendeter Ausbildung dorthin zurückkehren, sollten sie doch vor Ort als Repräsentantinnen und Repräsentanten ‚deutscher Kultur‘ fungieren. Dieser Abschnitt beleuchtet die Faktoren, die die Rückkehr beeinflussten, sowie die Umstände und Aussichten, die Siedlernachkommen in Südwestafrika erwarteten. Abschließend werden die durchaus konträren Bewertungen der Deutschlandaufenthalte herausgearbeitet, zeigen sie doch einmal mehr, dass nicht alle deutschen Siedler/innen in Südwestafrika einen solchen Aufenthalt befürworteten. Die Rückkehr war vor allem von ökonomischen oder von sozialen Faktoren beeinflusst. Bei den ökonomischen Faktoren spielten sowohl die allgemeine wirtschaftliche Lage als auch die Familienökonomie eine Rolle. Während einige Siedlerfamilien die Rückreise ihres Kindes/ihrer Kinder von sich aus organisierten, waren andere – vergleichbar mit den Aushandlungsprozessen um die Finanzierung der Hinreise – auf finanzielle Unterstützung angewiesen. Dies lässt sich beispielhaft am Fall der verwitweten Hertha von Dewitz skizzieren, die Hilfe durch die kolonialverbandlich-institutionelle Infrastruktur benötigte. Mit Verweis auf die geschwächte Wirtschaft und die „Nachwehen der beispiellosen Dürre“ des Vorjahres bat von Dewitz Ende 1931 die Woermann-Linie um freie oder ermäßigte Überfahrt für ihren Sohn Max.120 Er sollte nach abgeschlossener Schlosser- und Automechanikerausbildung zu ihr zurückkehren.121 Nach deren Absage wegen „schwieriger Gescheftslage [sic]“ fragte sie über ihren in Deutschland lebenden Bruder beim Frauenbund um Unterstützung an,122 der zugleich auf die Vielzahl solcher Anfragen und die begrenzten Bewilligungsmöglichkeiten verwies. 123 Allerdings wurde von Dewitz vor allem wegen ihrer „große[n] Tatkraft“, die sie infolge unverschuldeter Schicksalsschläge bewiesen hatte, als der Unterstützung „besonders würdig“ erachtet.124 Damit ähnelten die hier angeführten Entscheidungskriterien denjenigen, die 120 BArch, R 8023/992, Bl. 18, Schreiben von Hertha von Dewitz an Direktor Amsinck der Woermann-Linie, 12.11.1931. 121 Vgl. ebd. 122 BArch, R 8023/992, Bl. 14-15, Schreiben von Herrn von Kunowski an den Frauenbund der DKG, 14.1.1932. 123 Vgl. BArch, R 8023/992, Bl. 13, Schreiben des Frauenbundes der DKG, von Boemcken, an von Lindequist, 20.1.1932. Von Boemcken wandte sich daraufhin an von Lindequist, der dem Kolonialkriegerdank mit Verweis auf die „recht dringende[…] Befürwortung“ eine Kostenteilung vorschlagen sollte. Ebd. 124 BArch, R 8023/992, Bl. 12, Schreiben an den Kolonialkriegerdank e.V., 5.2.1932. Lindequists Begründung gegenüber dem Kolonialkriegerdank lautete wie folgt: „Sie wohnt auf der Farm Otjundu bei Okasise, die ihr verstorbener Mann glücklich über den seinerzeitigen Hereroaufstand hindurch gesteuert und hochgebracht hatte, als der Krieg aus-
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auch bei der Auswahl von Stipendiatinnen und Stipendiaten für einen Deutschlandaufenthalt relevant waren. Eine Bewilligung ließ sich letztlich nicht nachweisen, aber seit spätestens 1933 lebte ihr Sohn wieder in Südwestafrika und arbeitete dort, „wo es Arbeit gab“, wozu u.a. der Automobilbereich gehörte.125 Nach ihrer Rückkehr gestalteten sich die Zukunftsaussichten der Siedlernachkommen sehr unterschiedlich. Welches berufliche Spektrum ihnen insgesamt zur Verfügung stand, kann hier nicht beantwortet werden, denn eine sozialgeschichtliche Untersuchung für die deutsche Siedlerbevölkerung nach dem Ersten Weltkrieg liegt bislang nicht vor. Vor dem Hintergrund des nicht mehr bestehenden deutschen Kolonialregimes mit Verwaltung und Militär ist naheliegend, dass sich die Berufsmöglichkeiten unter Mandatsverwaltung verändert hatten. Sie bestanden vor allem im Farm- oder Handelsbereich, auf schulischem Gebiet, im Handwerk oder dem regional vorhandenen Bergbau. Junge Frauen konnten Martin Eberhardt zufolge als Stenotypistinnen, Köchinnen, Wirtschafterinnen, Lehrerinnen und Hauspersonal eine Anstellung finden.126 Einige Siedlernachkommen hatten eine klare Perspektive, indem sie in die Familienökonomie eingebunden wurden.127 Manche fanden auf der elterlichen Farm ihren Platz, wie Amanda Hoppe, die nach ihrer Schulausbildung und dem Besuch der Kolonialen Frauenschule um 1930 zurückkehrte.128 Andere arbeiteten im Familiengeschäft mit, wie die beiden Brüder Gerhard und Harald Voigts, die seit Anfang der 1920er Jahre ihren Vater in der Geschäftsführung von Wecke & Voigts unterstützten.129 brach. Im Frühjahr 1918 starb Herr von Dewitz an Bauchwassersucht […] unter Hinterlassung von 3 Söhnen und 1 Tochter. Die Witwe des sehr gut beleumundeten Herrn von Dewitz hat dann ihr Geschick mit grosser Tatkraft in ihre eigenen Hände genommen und sich unterstützt von ihrem ältesten Sohn bisher durch die schweren Zeiten durchgekämpft.“ Ebd. 125 Privatarchiv von Dewitz, Die Dewitz Familie in Namibia (Süd West Afrika), in: Verband der Familie v. Dewitz e.V. (Hg.), Mitteilungen des Jahres 1998, Winsen 1999, S. 29-33, S. 30. 126 Vgl. Eberhardt 2011, S. 144. Wie die jeweiligen Anstellungschancen für die Berufe waren, bleibt offen. 127 Dies traf auch für einige Hälbich-Nachkommen zu. Vgl. Abschnitt 6.2. 128 Vgl. AA-PA, 80 D III d2, Bl. 60-71, diverse Schreiben zur Organisation der Rückkehr von Amanda Hoppe. 129 Vgl. Privatarchiv von Schumann, o.V.: Gerhard Voigts 75, in: Allgemeine Zeitung, 22.8.1980. Hinsichtlich des Zeitpunktes von Haralds Rückkehr gibt es unterschiedliche Angaben. Einer Farm- und Familienchronik zufolge kehrte er erst 1934 nach dem Tod seines Vaters zurück, um gemeinsam mit dem Bruder Firma und Farm zu leiten. Vgl. NWG, 968.8/Voi, Voigtskirch 1897-1997, S. 27.
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Hingegen sahen weitere Siedlernachkommen einer eher ungewissen Zukunft entgegen, denn die in Deutschland erlangte Qualifikation mündete keineswegs automatisch in die vielfach von den Kolonialverbänden damit verknüpfte Existenzsicherung in Südwestafrika. Über die berufliche Perspektivlosigkeit eines ihrer Kinder berichtete Ende 1930 Else Weimann: „Wir selbst haben schwer zu kämpfen, mein Ältester 22 Jahre alt, ein braver Junge, gutes Äußeres, klug, war 8 Jahre in Deutschland, besuchte dort die höhere Maschinenbauanstalt Berlin, machte im Sept. 1929 sein Examen als Ingenieur und ist heute noch ohne Stellung hier. Im Mai dieses Jahr kam er mit unserem ältesten Mädel Ruth wieder nach hier zurück. Ruth hatte mehr Glück, ist als Stütze tätig […] und ist sehr zufrieden mit ihrem Posten.“130
Die Lebensbedingungen verschärften sich durch die sich um 1930 auswirkende Weltwirtschaftskrise. Sie führte Martin Eberhardt zufolge vor allem unter Männern zu Arbeitslosigkeit in ihren vorherigen Berufsfeldern und in der Folge zu sozialem Abstieg: „Hunderte arbeitslose Siedler arbeiteten bei ‚Notstandsarbeiten‘ im Straßen- und Dammbau, um finanziell über die Runden zu kommen. Sie schufteten bei brütender Hitze mit Schaufel und Pickel, manchmal unter ‚nichtweißen‘ Vorarbeitern […].“131 Einen Ausweg aus der Situation der Arbeitslosigkeit fanden manche Siedlernachkommen in der angrenzenden Südafrikanischen Union. Da der Missionarssohn Gerhard Brockmann für sein praktisches Jahr im Rahmen seines Nationalökonomiestudiums in Deutschland keine passende Stelle gefunden hatte, kehrte er Anfang der 1930er Jahre frühzeitig nach Südwestafrika zurück. Dort blieb er allerdings nicht lange, sondern zog zu seinem Bruder Friedrich nach Port Elizabeth, der dort bereits seit 1928 arbeitete. Auch der schon 1929 aus Deutschland zurückgekehrte Bruder Heinrich, der sich seitdem in Südwestafrika mit unterschiedlichsten kurzzeitigen Anstellungen über Wasser gehalten hatte, folgte den beiden auf bessere Perspektiven hoffend nach Port Elizabeth.132 Demnach bezogen sich Siedlerfamilien und -nachkommen hinsichtlich beruflicher Zukunftsperspektiven nicht allein auf die Achse Südwestafrika und Deutschland, sondern nutzten auch die angrenzende Südafrikanische Union als Ressource. Manche Siedlernachkommen bewegten sich sogar darüber hinaus und kehrten u.a. aus familienbedingten oder individuellen Gründen erst über den Weg anderer Kontinente nach Südwestafrika zurück. 133 130 NAN, A.221/159-90/31, Schreiben von Else Weimann, 31.10.1930, Herv. i. Org. 131 Eberhardt 2011, S. 219. 132 Vgl. Brockmann 1992, S. 266 und S. 276. 133 Dazu gehörte York von Schütz, der 1923 im Alter von zehn Jahren mit seiner Familie nach Deutschland zog. Fünf Jahre später reiste er mit seinem Vater nach Brasilien, wo er sich zum Kaufmann ausbilden ließ. Im Jahr 1932 gelangte er zurück nach Südwestaf-
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Die Rückkehr von Siedlernachkommen konnte neben ökonomischen Faktoren oder der abgeschlossenen Ausbildung auch mit sozialen Gründen zusammenhängen. Bei dem Ehepaar Anna und Gustav Schatz war der Wunsch nach Familienzusammenführung auschlaggebend. Es ließ ihre beiden Söhne aus Plön zurückreisen, damit sich die Familienmitglieder nicht zu sehr voneinander „entfremden“ und die beiden Geschwister den in ihrer Abwesenheit geborenen Bruder kennenlernten.134 Das hier genannte Argument der ‚Entfremdung‘ spielte auch in der kontrovers geführten Debatte über die Bildungsaufenthalte in Deutschland eine Rolle. Während das Ehepaar Schatz jedoch die Familienangehörigen untereinander im Blick hatte, richteten Kritiker/innen der Bildungsaufenthalte ihr Augenmerk auf eine ‚Entfremdung‘ der Heranwachsenden von ihrem Geburtsland Südwestafrika. Hinsichtlich der in dieser Debatte an die Siedlernachkommen gerichteten Erwartungen, die insbesondere die Verinnerlichung ‚deutscher Kultur‘ und die berufliche Qualifizierung umfassten, kamen verschiedene Akteurinnen und Akteure zu durchaus gegensätzlichen Bewertungen der Aufenthalte. Positive Eindrücke fanden sich vor allem in den Schilderungen von Eltern und des Frauenbundes. Neben den bereits erwähnten elterlichen Stellungnahmen während der Aufenthalte, in denen sie die ihren Kindern gewidmete Fürsorge hervorhoben, zeigte sich der Missionar Heinrich Brockmann in seinen Erinnerungen äußerst erfreut über seine beiden Töchter Hildegard und Elisabeth, die nach einem über zehnjährigen Deutschlandaufenthalt im Mai 1935 nach Südwestafrika zurückkehrten: „Was sind die beiden in den Jahren doch für prächtige Mädel geworden! So daß man sein helle Freude an ihnen hat, nun zum Schulberuf an den Kindern gerüstet!“ 135 Diese Zufriedenheit über die biografische Entwicklung und nützliche Berufsqualifizierung spielte teilweise auch in an den Frauenbund gerichteten Rückmeldungen von Eltern eine Rolle, deren Töchter die Koloniale Frauenschule besucht hatten: „[D]ie Eltern schreiben sehr zufrieden, wie gut die Mädels das in Rendsburg Gelernte auf der Farm anwenden können.“136 Solche Schilderungen dienten dem Frauenbund einmal mehr rika und arbeitete auf einer Farm. Vgl. NWG, 923.9 SCH, York von Schütz: Mein Leben. Autobiographie, Windhoek 1990. Der seit 1921 in Deutschland lebende Missionarssohn Karl Detering arbeitete nach seiner 1927 beim Rheinisch-Bornesischen Handelsverein abgeschlossenen Ausbildung zunächst für drei Jahre als Handlungsgehilfe auf der Insel Borneo und kehrte im Anschluss nach Südwestafrika zurück. Dort blieb er mit Ausnahme einiger Zwischenaufenthalte in der Südafrikanischen Union. Vgl. NWG, Zeitungsarchiv, o.V.: Karl Detering zum 90. Geburtstag, in: Allgemeine Zeitung, 25.7.1997, o.S. 134 Privatarchiv Schatz, Ilse Schatz: Wolfgang Schatz, 2. Teil, S. 157. 135 Brockmann 1992, S. 286. 136 Nora von Steinmeister: Jahresübersicht 1928-29, in: Frauenbund der DKG (Hg.), Jahresbericht 1928-29, Berlin, S. 3-16, S. 12.
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dazu, seine kolonialen Aktivitäten zur Notwendigkeit zu erklären und seine Arbeit in dieser postkolonialen Phase als unabdingbar zu legitimieren. Zur Umsetzung ihrer Projekte nutzten Angehörige der deutschen Siedlerbevölkerung in Südwestafrika eine vergleichbare Strategie. Allerdings rekurrierten sie auf negative Schilderungen von Deutschlandaufenthalten, insbesondere im Hinblick auf Mädchen und junge Frauen. Das Pfarrehepaar Winfried und Lotte-Sanita Ebers setzte sich für die Einrichtung einer Fortbildungsschule für junge Frauen in Südwestafrika ein und begründete dies gegenüber dem DKG-Präsidenten Seitz mit den aus ihrer Sicht höchst problematischen Auswirkungen der Deutschlandaufenthalte: „Abgesehen davon, dass nur wenige Eltern das Geld haben, ihre Kinder nach Deutschland zu schicken, ist man in Südwestafrika anscheinend mit den Erziehungsmethoden und Erziehungsergebnissen des modernen Deutschlands durchaus nicht ganz einverstanden. Es wurden mir einige drastische Fälle mitgeteilt. So z.B. hat eines der mit unserer neuzeitlichen Zivilisation durchtränkten Mädchen kurze Zeit nach ihrer Rückkehr erklärt, sie könne mit ihrem Vater nicht mehr verkehren, er sei ein zu grosser Spiessbürger. Dass derartige Pflänzchen in Südwestafrika, wo hart gearbeitet werden muss, nicht zu brauchen sind, liegt auf der Hand.“137
Die sich hier zeigende allgemeine Ablehnung gegenüber den modernen Entwicklungen in der Weimarer Republik findet ihre Konkretisierung in einer Kritik an den sich verändernden Geschlechterbeziehungen, die Frauen mehr politische und berufliche Rechte einräumte. Diese Veränderungen werden nicht nur als Bedrohung für die väterliche Autorität und somit für das gesamte Familiengefüge betrachtet, sondern auch für das propagierte Bild der hart arbeitenden Siedler/innen. An anderer Stelle untermauerte Lotte-Sanita Ebers die Notwendigkeit der Fortbildungsschule mit dem Argument, dass einige Heranwachsende die Wertschätzung der „südwester Heimat“ verlieren würden und „wie entwurzelt“ aus Deutschland zurückgekehrt seien, würden sie sich doch dort „auch das Ungünstige an[eignen, S.H.], was einen Teil der modernen Jugend so pietätlos und anmaszend [sic] macht. So griff man in einer ganzen Anzahl von Familien zu einem Notbehelf, indem man die Töchter in südafrikanische Institute schickte. Sie lernten dort Englisch, Stenographie und Buchführung. Das Wissen ist nach der Rückkehr nicht himmelstürmend, die bunte Collegejacke aber um so wichtiger!“138
137 BArch, R 8023/158, Bl. 21, Aufzeichnung Seitz, 12.7.1929. 138 BArch, R 8023/960c, Bl. 380, Lotte-Sanita Ebers: Warum brauchen wir eine Fortbildungsschule für deutsche Mädchen in Südwestafrika?, o.D., Herv. i. Org.
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Demnach betrachtete sie neben den Aufenthalten in Deutschland auch die Südafrikanische Union mit Blick auf unzureichende Qualifikationsergebnisse und die kulturelle Beeinflussung als Gefahr für die Entwicklung junger Frauen. Während diese Gefahr mit dem Argument der aufrechtzuerhaltenden Konkurrenzfähigkeit der jungen Generation auch in der Debatte über die Bildungsaufenthalte formuliert wurde und es somit weitgehende Übereinstimmungen gab, stand ihre Kritik der ‚Entwurzelung‘ im Gegensatz zur Mehrheit der an der Debatte beteiligten Akteurinnen und Akteure. Diese sahen das Aneignen ‚deutscher Kultur‘ und das ‚Wurzeln‘ im deutschen Territorium als notwendige Voraussetzung für die Aufrechterhaltung einer kulturellen Dominanzposition der deutschen Siedlerbevölkerung in Südwestafrika. Hingegen verwies Ebers mit ihrer Kritik gerade auf das Scheitern dieser Zielsetzung, die sich ihrer Ansicht nach unter den demokratischen Bedingungen der Weimarer Republik nicht (mehr) umsetzen ließ. Der sich in ihren Ausführungen zeigende, geschlechterspezifisch fokussierte Wunsch nach Kontrolle über die Entwicklung von Mädchen und jungen Frauen hing neben der angestrebten Gründung der Fortbildungsschule, so ist anzunehmen, auch damit zusammen, dass Frauen bei der Aufrechterhaltung und Weitergabe ‚deutscher Kultur‘ eine zentrale Rolle zugeschrieben wurde.139 Die Rückkehr von Siedlernachkommen nach Südwestafrika war insgesamt betrachtet keineswegs ein Selbstläufer und konnte sich ganz unterschiedlich gestalten. Dies zeigte sich bei der Frage der Finanzierung, die für manche von der kolonialverbandlich-institutionellen Infrastruktur abgedeckt werden musste, und insbesondere an den differenten Berufs- und Zukunftsaussichten. In welchem Rahmen sich die an die Bildungsaufenthalte gekoppelte Hoffnung der Existenzsicherung oder gar des sozialen Aufstiegs erfüllte, lässt sich materialbedingt nur vorläufig beantworten. Am ehesten der Fall zu sein schien dies für Siedlernachkommen, die innerhalb der Familienökonomie ihren Platz fanden oder im hauswirtschaftlichen Bereich tätig waren. In der Tendenz mag die in Deutschland erfolgte Qualifizierung ihre Chancen auf eine berufliche Zukunftssicherung erhöht haben, eine Garantie gab es dafür nicht. Möglicherweise führte ein Studium sogar zu einer Überqualifikation, war doch der Arbeitsmarkt für Akademiker/innen in Südwestafrika äußerst begrenzt.140 139 Vgl. u.a. Kundrus 2004, S. 218-226. Der Frauenbund formulierte diese Sichtweise so: „Niemand hat größeren Einfluß auf die Seele des werdenden Menschen als die Mutter. Wenn sie still und stetig in ihren Kindern die Liebe zum Deutschtum zu wecken sucht, wird diese auch in der Fremde in ihnen erwachsen.“ Else Frobenius: Frauen und Volkstum, in: Mitteilungen des Frauenbundes der DKG, 1928, Nr. 2, S. 9-10, S. 10. 140 Im Unterschied dazu hatten britische Jugendliche, die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Indien aufwuchsen, aussichtsreichere Möglichkeiten. Wenn sie eine schulische und weiterführende Ausbildung in Großbritannien absolvierten, resultierten daraus in der Regel Statusgewinn und bessere Berufschancen, sodass sich in britischen Sied-
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Insbesondere die Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise um 1930 erschwerten die Bedingungen für zurückkehrende Siedlernachkommen. Als Alternative nutzten manche zur eigenen Existenzsicherung die angrenzende Südafrikanische Union oder sogar andere Länder und trugen mit dieser zusätzlichen Orientierung dazu bei, dass sich über die Achse ehemalige Kolonie und Metropole weitere postkoloniale Beziehungen entwickelten. Somit brachte gerade das Ende der deutschen Kolonialherrschaft weitere Handlungsorientierungen hervor, die mit kolonialrevisionistischen Vorstellungen, also einer Konzentration auf den Rückgewinn der ehemaligen Kolonie, nicht im Einklang standen. Ebenso ließen einige Siedlernachkommen damit die Erwartung, in Südwestafrika ‚deutsche Kultur‘ zu repräsentieren, in den Hintergrund treten. Diese wiederum kam auch in den exemplarischen Bewertungen der Bildungsaufenthalte zum Tragen. Eltern, Kolonialverbände und Vertreter/innen der Siedlerbevölkerung sprachen in ihrem Sinne von ‚Erfolgen‘ oder ‚Misserfolgen‘, um die eigene Position zu untermauern oder die eigene Arbeit zu legitimieren. Ähnlich wie die Positionen in der Debatte über die Vorbereitung der Deutschlandaufenthalte blieben auch die Einstellungen zu deren Durchführung konträr. Die Großfamilie Hälbich ist ein Beispiel, wie Siedlerfamilien die Deutschlandaufenthalte ihrer Nachkommen familienintern organisierten. Ihre Denkmuster und Handlungsweisen stehen im Mittelpunkt des letzten Kapitels.
lerfamilien koloniale Karrieren über mehrere Generationen erstrecken konnten. Vgl. Buettner 2004, S. 146-187.
6. Nachkommen der Siedlerfamilie Hälbich in Deutschland
„[I]n dem Hause sammelt sich, was von den Hälbich-Buben und -Mädchen deutsche Schule in Deutschland und deutsche Lehre und deutsches Studium durchmachen soll.“1 So schrieb Hans Grimm, populärer Kolonialschriftsteller der 1920er und 1930er Jahre, in seinem 1929 erschienenen Deutschen Südwester-Buch. Er verweist damit auf ein Haus in Biebrich bei Wiesbaden, in dem seit 1913 Angehörige der in Südwestafrika ansässigen deutschen Siedlerfamilie Hälbich aus zweiter und dritter Generation lebten. Wie kam es dazu? Anfang 1864 migrierte der Schmied Eduard Hälbich von Deutschland aus nach Otjimbingue, gelegen im westlichen Teil des heutigen Namibias, um dort im Dienst der Rheinischen Mission die Missionswerkstatt zu führen. Nach Auflösung der Missionskolonie im Jahr 1873, beschloss er zu bleiben und sich als selbstständiger Handwerker und Kaufmann eine Existenz aufzubauen. Er gehörte somit zu den ersten deutschen Siedlern vor Ort. Aus seiner 1864 mit Amalie Bartel geschlossenen Ehe gingen eine Tochter und fünf Söhne hervor, die zwischen 1867 und 1878 geboren wurden (Christoph, Clara, Eduard, Wilhelm, August und Johannes). Die Kinder wurden zunächst von Missionarinnen und Missionaren vor Ort erzogen, erhielten aber den weiteren Teil ihrer Ausbildung in der Kapkolonie und in Deutschland. Nach dem Tod des Vaters im Jahr 1888 übernahm der zweitälteste Sohn Eduard die Leitung des Geschäftes, Wilhelm wurde für die Schmiede, August für die Stellmacherei zuständig. Im Jahr 1900 verlagerte sich der Hauptsitz des Geschäftes nach Karibib.2 Alle sechs Kinder gründeten eigene Familien, sodass nach der Jahrhundertwende eine dritte Hälbich-
1
Hans Grimm: Das Deutsche Südwester-Buch, München 1929, S. 187.
2
Zur Geschichte der Familie Hälbich bis zum Jahr 1904, allerdings aus zeitgenössischer, kolonialistischer Perspektive vgl. Grimm 1929, S. 145-187. Vgl. zudem NAN, A.455, Hälbich papers, introduction, nicht paginiert sowie Seybold 2005, S. 85.
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Generation heranwuchs, die insgesamt 31 Personen zählte. 3 Ein Teil von ihnen sollte die Schulbildung und berufliche Qualifizierung in Deutschland erhalten. Zur gemeinsamen Unterbringung dieser Heranwachsenden wurde das Haus in Biebrich erworben, für das Christoph Hälbich, seine Ehefrau Auguste und seine Schwester Clara fortan die Verantwortung übernahmen.4 Im Jahr 1913 verlagerten sie – begleitet von Claras Sohn Bernhard und einigen anderen Hälbich-Kindern – ihren Lebensmittelpunkt nach Deutschland. So entwickelte die aus sechs Zweigen bestehende Großfamilie Hälbich ihre transnationale Familienstruktur weiter, durch die sie die schulische und berufliche Ausbildung ihrer heranwachsenden Generation in Deutschland auf außergewöhnliche Weise organisieren konnte. Während andere Siedlernachkommen im Rahmen ihres Deutschlandaufenthaltes in den Wohnheimen ihrer Ausbildungsinstitutionen, in Pflegefamilien oder auch bei Verwandten lebten, sammelten sich die Hälbich-Nachkommen, wenngleich in wechselnder Zusammensetzung, an einem zentralem Ort: im eigenen Haus in Biebrich. Somit hatte die Großfamilie Hälbich im Unterschied zu vielen anderen Siedlerfamilien nicht nur den gesamten Zeitraum der deutschen Kolonialherrschaft miterlebt, sondern während dieser Zeit auch eine grenzüberschreitende Schul- und Berufsbildung für ihre Nachkommen organisiert. Auf kolonialverbandlich-institutionelle Unterstützung war sie kaum angewiesen.5 Dieses Kapitel adressiert die Frage, inwiefern die zuvor skizzierten kolonialrevisionistischen Vorstellungen über die Deutschlandaufenthalte von Siedlernachkommen für die Einstellungen und Handlungsweisen der Hälbichs eine Rolle spielten. Zudem wird erörtert, inwiefern Hälbich-Angehörige insbesondere aufgrund der großfamiliären Strukturen eigene Auffassungen und Verhaltensweisen entwickelten. Diese Kontrastierungen und über das vorherige Kapitel 5 hinausweisenden familiären ‚Innenansichten‘ auf die Bildungsaufenthalte sind möglich, da für die Familie Hälbich zwei Briefkonvolute vorliegen, die hinsichtlich des Themas Seltenheitswert haben und die durch die vergleichsweise dichte Überlieferung zur analytischen Vertiefung verwendet werden. Das eine Konvolut umfasst die an Clara von Goldammer (seit 1913 in Deutschland lebend) gerichtete Korrespondenz ihrer Brüder August und Johannes, deren Ehefrauen Helene und Anna sowie einiger ihrer Kinder in der Zeit von 1918 bis 1925. Das andere enthält an Eduards Sohn Otto adressierte Briefe von seinen Eltern, Geschwistern, anderen Verwandten sowie Freundinnen und Freunden, die er zwischen 1925 und 1935 zunächst noch in Deutschland, dann in Südwestafrika erhielt. Für die Familienbeziehungen hatten diese Briefe zentrale Bedeutung. Neben der seltenen Möglichkeit des direkten Kon3
Vgl. Jensen 2014.
4
Warum die Wahl auf den Ort Biebrich fiel, ließ sich nicht ermitteln.
5
Ein Kind von Johannes Hälbich erhielt für die Überfahrt nach Deutschland eine Fahrpreisermäßigung der Woermann-Linie. Vgl. Abschnitt 4.4.
6. Nachkommen der Siedlerfamilie Hälbich in Deutschland | 275
taktes durch eine Reise waren sie das einzige Kommunikationsmittel untereinander. Dies zeigte sich nicht zuletzt an den von mehreren Familienmitgliedern formulierten Beschwerden, lange nichts aus Südwestafrika oder Deutschland gehört zu haben.6 Wichtig für die akteurszentrierte Fragestellung dieser Studie ist insbesondere das zweite Konvolut, da viele der Briefschreibenden der jungen Siedlergeneration angehörten. Somit sind Einblicke in die Gedankenwelt der Heranwachsenden möglich, die für andere Siedlernachkommen aufgrund von fehlendem oder höchst fragmentarischem Material so nicht zugänglich sind. Einschränkend ist anzumerken, dass bei den Briefen die Resonanzen überwiegend unklar bleiben oder nur indirekt deutlich werden, denn Antwortschreiben von Clara und Otto liegen kaum vor. Ihre Meinungen, Stellungnahmen und Haltungen sind daher nur durch die Briefe anderer Familienmitglieder zu ermitteln. Anhand der Briefkonvolute lassen sich weniger die alltäglichen Handlungs- und Verhaltensweisen der Schreibenden herausarbeiten. Ihr besonderer Wert liegt, wie Götz et al. für andere Briefsammlungen nachvollzogen haben, „[n]icht auf der Faktenebene, sondern auf der subjektiv-gedanklichen, der Erfahrungs- und Beziehungsebene“.7 Auf der Grundlage der Briefkonvolute beleuchtet der erste Abschnitt, wie verschiedene Familienmitglieder Südwestafrika und Deutschland nach dem Ende des Ersten Weltkriegs bewerteten. Dazu werden die Überlegungen der Eltern hinsichtlich der Qualifizierung ihrer Kinder in Deutschland in Bezug gesetzt. Im zweiten Abschnitt stehen die Deutschlandaufenthalte einiger Hälbich-Nachkommen im Mittelpunkt. Welche sozialen und mentalen Bezugsräume hatten sie und welche Bedeutungen wiesen sie ihnen zu? Ein zentraler Bezugspunkt war das Haus in Biebrich als Ort des Zusammenlebens. Wichtig waren zudem berufliche Orientierungen und politische Aktivitäten. Im letzten Abschnitt geht es um die Frage, wie sich die erlebte Mobilität auf ihre Sichtweisen zu Selbstverortung und Zugehörigkeit auswirkte.
6.1 PERSPEKTIVEN AUF EHEMALIGE KOLONIE UND METROPOLE: ZUR FAMILIÄREN BEDEUTUNG DER BILDUNGSAUFENTHALTE Bildungsaufenthalte in Deutschland, die für die dritte Generation spätestens mit dem Erwerb des Hauses in Biebrich im Jahr 1913 begannen, waren in der Großfa-
6
Vgl. u.a. NAN, A.455-524, Walter Hälbich an Otto Hälbich [im Folgenden nur Otto, S.H.], Biebrich, 6.10.1925.
7
Götz et al. 1993, S. 172. Zum interpretativen Umgang mit den Briefen vgl. Abschnitt „Materialkorpus und Aufbau der Studie“ in der Einleitung.
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milie Hälbich eher die Regel als die Ausnahme. Allerdings fanden sie in den jeweiligen Familien zeitversetzt statt und kamen unter unterschiedlichen Bedingungen zustande. So freute sich in den ersten Jahren nach dem Ersten Weltkrieg ein Elternpaar bereits auf die Rückkehr seiner Kinder nach Südwestafrika, 8 während ein anderes sich auf den Abschied von den Kindern vorbereitete und ein weiteres, bevorstehende Deutschlandaufenthalte zu planen anfing. Im Zuge dieser Prozesse setzten sich die Familienmitglieder mit den gesellschaftspolitischen Veränderungen in Südwestafrika und in Deutschland auseinander. Damit waren Sorgen und Ängste, aber auch Hoffnungen verbunden, die sich wiederum auf ihre Sichtweisen zu den Bildungsaufenthalten auswirkten. Darum soll es in diesem Abschnitt gehen. Ein Thema, das insbesondere weibliche Familienangehörige in mehreren Briefen aus dem Jahr 1919 aufgriffen, waren bevorstehende Ausweisungen nach Deutschland. Sie sorgten sich um konkrete Personen und „viele liebe Menschen“ einerseits,9 um verschiedene Berufsgruppen wie Lehrer/innen und Missionsangehörige andererseits.10 An diese Veränderungen in der sozialen Zusammensetzung der deutschen Siedlerbevölkerung knüpften sie die Sorge um ihre persönliche Zukunft und das Schul- und Kirchenwesen.11 Diese Aspekte wiederum beeinflussten, wie noch näher auszuführen sein wird, ihre Überlegungen zur Sozialisation und Schulbildung ihrer Kinder. Weniger entmutigend betrachteten sie im Vergleich zu Deutschland ihre rechtliche Lage, wie Johannes’ Einschätzungen im Juni 1920 zeigen: „Trotzdem sind wir hier besser dran, als ihr Armen. Wir haben wenigstens noch ein geordnetes Staatswesen und nicht Revolutionierendes. Wenn auch die Art der Gesetzgebung nicht nach unserem Sinne ist und wir noch durch das Kriegsrecht im Öffentlichen Recht manchmal beeinflusst sind, so ist doch dem friedlichen Bürger es nicht schwer durchzukommen.“ 12
8
Dies waren Helene und August, deren Kinder Lisbeth, Maria, Friedel und Pauline die Zeit des Erstens Weltkrieges in Deutschland verbracht hatten. Zuerst kehrten Lisbeth und Maria 1920 nach Südwestafrika zurück, im Jahr 1922 folgten die beiden anderen Geschwister. Es ist davon auszugehen, dass gerade die Trennung während des Krieges die Eltern zu einer intensiven Auseinandersetzung mit den Zuständen in Deutschland veranlasste.
9
NAN, A.596, Helene Hälbich an Clara von Goldammer [im Folgenden nur Clara, S.H.], Karibib, 24.6.1919; Vgl. auch ebd., 12.10.1919.
10 Vgl. NAN, A.596, Helene Hälbich an Clara, Karibib, 12.10.1919; NAN, A.596, Anna Hälbich an Clara, Karibib, 16.1.1921. 11 Beispielsweise beklagten sie die Inbesitznahme der „schönen Schulgebäude“ durch die Mandatsregierung. NAN, A.596, Helene Hälbich an Clara, Otjimbingue, 11.9.1921. 12 NAN, A.596, Johannes Hälbich an Clara, Karibib, 18.6.1920.
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Demnach hatte sich die Gesetzgebung durch die Mandatsregierung zwar verändert, sie schien den Hälbichs und der deutschen Siedlerbevölkerung aber ausreichende Handlungsmöglichkeiten zu lassen. Sorge bereitete Johannes vielmehr das ‚revolutionierende Staatswesen‘ in Deutschland. Wenngleich er sich nicht weiterführend dazu äußerte, lässt sich aus seiner Wortwahl doch ableiten, dass er sich nicht mit der neuen demokratischen Staatsform bzw. den davon begleiteten Umbrüchen identifizierte. Andere Familienangehörige äußerten sogar ihre Angst vor einem Bürgerkrieg.13 Breiten Raum nahmen Anfang der 1920er Jahre insbesondere Verweise auf den von verschiedenen Hälbich-Angehörigen identifizierten Werteverfall in der Gesellschaft beider Länder ein. Dabei bezogen sie sich vor allem auf die Entwicklung des Christentums, was aufgrund ihrer engen Verbindungen zur Rheinischen Mission nicht weiter verwundert. Mit Blick auf die heranwachsende Generation mahnten die Eheleute Helene und August: „Die arme, arme Jugend wo soll das noch hinaus. Ist denn unser Volk ganz verstockt? Das Häuflein der Christen schmilzt wohl immer mehr zusammen. Hier in unserem Lande hat man auch leider für alles andere Sinn nur nicht für Gottes Wort. Armes Volk! Möchten ihm doch die Augen aufgehen werden.“14
Infolge der von ihnen beobachteten Abkehr vielen Siedler/innen vom Christentum hofften nicht nur sie eindringlich auf eine Besinnung der Menschen und erneute Hinwendung zu Gott, sondern auch die Schwägerin Anna, die zugleich expliziter auf Deutschland blickte: „Gott gebe doch unserm armen geknechteten Volk endlich, endlich sehende Augen, das sie den einzigen Weg zur Rettung erkennen, die Umkehr zu Gott. Oh wie oft wenn man so die deutschen Zeitungen liest, blutet einem das Herz über all der Schmach und all dem Elend u. man muß immer wieder seufzen. Wann, wann wird es anders?“15
Diese ‚Umkehr zu Gott‘ sollte nicht nur den weiteren Niedergang der Gesellschaft insgesamt aufhalten, sondern auch den einzelnen Menschen und insbesondere die Hälbich-Kinder schützen und ihnen Halt geben. Helene und August dankten den Verwandten in Deutschland für die Fürsorge und Liebe, die diese ihren eigenen 13 Vgl. u.a. NAN, A.596, Helene Hälbich an Clara, Otjimbingue, 11.9.1921; ebd., 16.7.1922. 14 NAN, A.596, August und Helene Hälbich an Clara, Otjimbingue, 29.6.1920. Zur Geschichte der deutschsprachigen evangelischen Gemeinden in Namibia vgl. Engel 2011, S. 245-254. 15 NAN, A.596, Anna Hälbich an Clara, Karibib, 19.9.1920.
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Kindern in der „schweren Zeit der Not und Entbehrung“ während und infolge des Krieges entgegengebracht hätten.16 Ausdrücklich betonte Helene die Wichtigkeit und Schutzfunktion des christlichen Glaubens, indem sie erstens Gott für das Geschenk solcher Kinder dankte und zweitens den Verwandten, „[…] die Ihr gewacht habt über unsere Kinder, daß sie keinen Schaden genommen haben an ihrer Seele, denn dieses ist uns doch das Größte und Wichtigste. Und was wünschten und erflehen wir mehr als das [sic] unsere Kinder ein Eigentum unseres Heilandes würden.“17 Weitergedacht bedeutete dies, dass sie ein Leben ohne christlichen Glauben als unvollständig und ungefestigt betrachtete und somit alles daran setzte, davon auch ihre Kinder zu überzeugen. Nicht bei allen schien dies zu fruchten, denn während Lisbeth ihrer Mutter zufolge gern ein „Gotteskind“ werden wollte, stand Maria „Gottes Wort eher gleichgültig gegenüber“. 18 Im Zusammenhang mit den sozialen Veränderungen in der Siedlerbevölkerung und der sich nach ihrer Ansicht vollziehenden Abwendung vom Christentum zeigte sich Helene äußerst besorgt über den zunehmenden Alkoholismus. Nicht nur in Südwestafrika, sondern auch in Deutschland sei es „zu traurig, wie die Leute jetzt alle ans Trinken geraten. Es sind nur wenig [sic] Ausnahmen. So ist der Teufel überall geschäftig Seelen zu verderben. […] Traurig, ganz traurig muß es ja in unserm armen Vaterland aussehen […].“19 Mit ihrem Verweis auf den Teufel bekräftigt sie hier einmal mehr, dass sie die Abkehr vom Christentum mit einem weiterreichenden Werteverfall der Gesellschaft – für den exemplarisch der Alkoholismus steht – in Beziehung setzte. Ängste und Sorgen verbanden Hälbich-Angehörige zudem mit der ökonomischen Entwicklung des Landes, denn an diese war die Sicherung ihrer eigenen Existenz unmittelbar gebunden. So beklagte der jüngste Hälbich-Bruder Johannes im Juni 1920 den „allgemeinen Niedergang des Geschäftslebens“, der es erschwere, das „notwendige Geld zu besorgen“.20 Rund zwei Jahre später sah er insbesondere die Zukunft der Farmwirtschaft gefährdet, die die Hälbich-Familien selbst betrieben.21 Verantwortlich machte er dafür zunächst die Unionsregierung: 16 NAN, A.596, August und Helene Hälbich an Clara und Auguste Hälbich, Otjimbingue, 11.7.1920; vgl. auch NAN, A.596, Helene Hälbich an Clara, Otjimbingue, 16.7.1919. 17 NAN, A.596, Helene Hälbich an Clara, Otjimbingue, 20.2.1921. 18 Ebd. 19 Ebd., 9.12.1923. 20 NAN, A.596, Johannes Hälbich an Clara, Karibib, 18.6.1920. 21 Zudem richteten Johannes’ Kinder aus Sorge um das Wohlbefinden der Angehörigen ihren Blick nach Deutschland und baten ihre Tante Clara, weniger Bücher an sie zu schicken, damit sie selbst nicht hungern müsse. Vgl. NAN, A.596, Harald, Alfred und Ruth Hälbich an Clara, Karibib, 4.11.1922. Seine Tochter Erika sammelte auf Initiative eines Missionars sogar Geld wegen „der Not der armen und verlassenen Kinder in Deutsch-
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„Der Ruin der Farmer würde natürlich alles andere mit sich ziehen und so das ganze Land entvölkern. Ob dies nun der Wunsch der neuen Regierung ist, wissen wir natürlich nicht. Sie bestreitet es ja entschieden. Aber doch ist sie an vielem Schuld, dass es so kam. Sie zieht damit nicht nur die Deutschen ins Elend sondern auch ihre Siedler, die sogar noch meist schlimmer daran [sic] sind.“ 22
Er verweist hier auf potenzielle Emigrationsprozesse von Farmerfamilien als Konsequenz ihres ökonomischen Ruins, von dem auch südafrikanische Farmer betroffen wären. Dieses Szenario spitzte er im Anschluss mit einer antijüdischen Argumentation zu, indem er sich über die Zunahme der jüdischen Bevölkerung beklagte und diese einzig und allein als Konkurrenz betrachtete: „Das Judentum breitet sich auch hier so aus, dass deren bald halbsoviel ist als die Deutschen, die noch im Lande sind. In jeder Stadt und jeder Siedlung und sogar auf den Farmen findest Du sie. In Südafrika wandern sie ja zu Hauf ein. Jedes Schiff bringt Nachschub.“ 23 Wenngleich nicht klar wird, aus welchem Land Jüdinnen und Juden nach Südwest- und Südafrika migrierten, so wird doch deutlich, dass er diejenigen aus Deutschland nicht zum konstruierten Kollektiv der deutschen Siedlerbevölkerung zählte, sondern sie vielmehr als Bedrohung für eben dieses darstellte.24 In den Folgejahren blieb die wirtschaftliche Situation Bestandteil der Briefwechsel. Im September 1924 schrieb Johannes, das Geschäft habe seit vier Jahren keinen Gewinn erzielt und durch die „wiederkehrende Entwertung von Land und Vieh“ seien Verluste entstanden. 25 Er ignorierte weitgehend, dass die krisenhaften Jahre nach 1919 nicht zuletzt mit dem Abzug der südafrikanischen Besatzungstruppen und der daraus resultierenden schrumpfenden Nachfrage nach Agrarerzeugnissen, dem Ausbleiben von finanzieller Unterstützung aus Deutschland sowie der zur deutschen Kolonialherrschaft entstandenen und nunmehr endenden Überbewertung der Farmwirtschaft zusammenhingen, und teilte diese Haltung mit vielen anderen Farmerfamilien. 26 Die Hauptlast der Finanzsorgen hatte unter den Hälbich-Geschwistern offensichtlich Eduard als Leiter des Geschäfts zu tragen. Sein anderer Bruder August land“. NAN, A.596, Erika Hälbich an Clara, Karibib, 4.11.1922. Umgekehrt rief der Frauenbund der DKG in Deutschland seine kolonialen Mädchengruppen dazu auf, materielle Spenden zur Unterstützung ‚weißer‘ deutscher Kinder in Südwestafrika zusammenzutragen oder solche selbst herzustellen. Dies fand allerdings erst gegen Ende der 1920er Jahre statt. Vgl. dazu Abschnitt 3.3. 22 NAN, A.596, Johannes Hälbich an Clara, Karibib, 11.3.1922. 23 Ebd. 24 Wie sich im nächsten Abschnitt noch zeigen wird, waren antijüdische Ressentiments auch bei anderen Familienangehörigen und Themen präsent. 25 NAN, A.596, Johannes Hälbich an Clara, Karibib, 20.9.1924. 26 Vgl. Eberhardt 2011, S. 219.
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verwies einige Jahre später im März 1928 nicht nur auf die seit 1907 bestehenden Extra-Ausgaben für Eduards und Christophs Kinder und deren vielfache Erhöhung seit 1913 durch das Haus in Biebrich, sondern auch auf die Geldwertverluste infolge des Ersten Weltkrieges. Für das Geschäft hätten zwar alle Brüder ihren Teil geleistet, aber Eduard doch den größten für alle.27 Daran anknüpfend erwartete August – auf strenge Geheimhaltung seines Appells verweisend – von Eduards Sohn Otto und den anderen Heranwachsenden eine umgehende Entlastung für Eduard: „Nun Ihr lieben Kinder fordere ich Euch auf, daß Ihr jetzt mal zeigt, […] ob Ihr das Werk welches Eure lieben Großeltern, und Eltern für Euch aufgebaut haben mit sehenden Augen zugrunde gehen lassen werdet. Ich weis [sic] das [sic] ein jeder von Euch seine Pflicht tut, aber jetzt verlangt die Pflicht noch mehr von Euch und zwar daß Ihr öfters wohl eine unverdiente Rüge […] auf Euch nimt [sic] […] das ist gewiß das schwerste, aber glaubt gewiß Gott wird Euch ganz gewiß die Kraft und Geduld dazu schenken, wenn er sieht das [sic] Ihr es ernst damit meint […].“28
Demnach wurde den Hälbich-Nachkommen spätestens 1928 eine explizite Verantwortung für die Weiterführung der elterlichen Geschäfte zugeschrieben. Sie wurden dazu aufgefordert, zum Wohlergehen der Großfamilie beizutragen und in diesem Prozess auch ungerechte Behandlung zu akzeptieren. Allerdings versuchten einige Hälbich-Nachkommen, wie sich an der Diskussion zu ihrer beruflichen Qualifizierung zeigen wird, auch ihre eigenen Wünsche und Vorstellungen durchzusetzen. Die skizzierten gesellschaftlichen Verhältnisse und ökonomischen Sorgen, welche die Familienzweige in Südwestafrika ins Verhältnis zu ihren unter den Kriegsfolgen leidenden Angehörigen in Deutschland setzten, beeinflussten wiederum die Überlegungen der Eltern, einen Teil der jungen Hälbich-Generation in Deutschland erziehen und ausbilden zu lassen. Anhand der vorliegenden Briefe lässt sich vor allem die Diskussion des Ehepaars Anna und Johannes nachvollziehen. Anfang der 1920er Jahre signalisierten sie gegenüber den Verwandten in Biebrich, sie würden ihre Kinder Harald und Erika gern dorthin reisen lassen, wenn „die Verhältnisse mal wieder geordnet sind. Denn nur hier aufwachsen, zumal wenn der südafrikanische Einfluß zunimmt, das ist doch nichts. Oh wie ganz besonders möchte man jetzt, dass sie einmal wahre Christen u. auch echte Deutsche werden; die auch für ihr Vaterland mal ihre beste Kraft einsetzen.“29 27 Vgl. NAN, A.455-524, August Hälbich an Otto, Otjimbingue, 8.3.1928. 28 Ebd. Etwa eineinhalb Jahre zuvor wurde Otto bereits von seinem Cousin Friedel darauf hingewiesen, dass alle Familienangehörigen sparen müssten, um seinen Vater Eduard zu entlasten. Vgl. NAN, A.455-524, Friedel Hälbich an Otto, Okomitundu, 24.10.1926. 29 NAN, A.596, Anna Hälbich an Clara, Karibib, 19.9.1920.
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Demzufolge wollten sie, wie in der Sozialisierungs- und Bildungsdebatte insgesamt vorherrschend, ihre Kinder vor dem ‚südafrikanischen Einfluß‘ bewahren. Während in der Debatte ansonsten vor allem der Aspekt des ‚Deutschwerdens‘ betont wurde,30 hoben Anna und Johannes gleichermaßen die Wichtigkeit des christlichen Glaubens hervor, sahen sie doch daran den gesellschaftlichen Werteerhalt gebunden. Ihr Statement zeigt einmal mehr die Konstruiertheit von ‚Deutschsein‘, indem sie es vor allem als Prozess begriffen und nicht allein auf Abstammung oder Staatsangehörigkeit reduzierten. Darüber hinaus verdeutlicht ihr Hinweis auf die desolate Lage in Deutschland, auf die sich auch Helene bezogen hatte, dass ein dortiger Aufenthalt nicht bedingungslos zu befürworten sei. Des Weiteren begründeten Johannes und Anna ihre Absichten mit dem Hinweis auf die in Südwestafrika nur eingeschränkt vorhandenen Ausbildungsmöglichkeiten und kritisierten das dortige Schulgeld als zu teuer, 31 ein Argument, das auch andere Siedlereltern anführten. Gleichzeitig waren sie aufgrund ihrer hier aufscheinenden prekären Finanzsituation nicht in der Lage, die Schiffsüberfahrt ihrer Kinder zu zahlen. Johannes’ Bruder Eduard lehnte eine Kostenbeteiligung ab, da er erst einige Monate zuvor vier seiner eigenen Kinder nach Deutschland hatte reisen lassen, was auf ungleich verteilte finanzielle Verhältnisse innerhalb der Großfamilie hindeutet.32 Dennoch konnte auch Harald im Februar 1925 seine Reise antreten. 33 Hingegen kam Erika erst im Frühjahr 1930 nach Deutschland,34 was vermuten lässt, dass bei begrenzten Möglichkeiten Jungen den Vorrang erhielten. Dieser Umstand wiederum löste bei seinem Vater Johannes Erinnerungen an den eigenen Deutschlandaufenthalt aus. Er schrieb Clara und Auguste, sie würden „manche [s]einer Untugend und Unart“35 in Harald wiedererkennen. In Sorge um dessen zukünftige Persönlichkeitsentwicklung und mögliche Sündhaftigkeit bat er die beiden um besondere Wachsamkeit: 30 Vgl. dazu Abschnitt 4.2. 31 Vgl. NAN, A.596, Anna Hälbich an Clara, Karibib, 8.8.1921. 32 Vgl. NAN, A.596, Johannes und Anna Hälbich an Clara, Karibib, 10.10.1922. 33 Der Weg dahin schien allerdings auch von Aussichtslosigkeit und Verzweiflung gekennzeichnet gewesen zu sein. Anna sprach davon, dass sich für Harald „wohl kaum ein anderer Ausweg finden“ werde und sie ihn „wohl oder übel dann hinüber gehen lassen“ müssen. NAN, A.596, Anna Hälbich an Clara, Karibib, 6.7.1923; NAN, A.596, Anna Hälbich an Christoph und Auguste Hälbich, Karibib, 6.7.1923. Zudem wurde in mehreren Briefen deutlich, dass weder Eltern noch Geschwistern die bevorstehende räumliche Trennung emotional leicht fiel. Vgl. NAN, A.596, Anna an Clara, Karibib, 10.3.1922; NAN, A.596, Erika Hälbich an Clara, Karibib, 4.1.1924. 34 Vgl. NAN, A.455-524, Robert Fischer an Otto, Wandsbek, 30.3.1930. Er schrieb, dass er zwei Wochen zuvor die „Empfangsfeierlichkeiten“ für Erika miterlebt habe. 35 NAN, A.596, Johannes Hälbich an Clara und Auguste Hälbich, Karibib, 15.3.1925.
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„Ernstlich warnte ich ihn [Harald, S.H.] vor Heimlichkeit und der damit verbundenen Sünden, die einem Knaben in seinem Alter sehr schaden. Ich darf es wohl offen Euch gegenüber aussprechen. Es ist die Gefahr der Jugendsünden u. Selbstbefleckung, die einen Knaben in diesem Alter sehr bedrohen. Bittet achtet da, ob die Knaben nicht zu großes Wohlgefallen an nackten Bildern zeigen oder an häßlichen Reden und Witzen. Ob sie nicht Müdigkeit und Verstörtheit zeigen. Dies sind leichte Winke, das Kind dann zeitig auf die Gefahr, die ihm droht hinzuweisen. In solchem Falle wird gewiss es der Pfarrer gern für euch übernehmen mit Klugheit und Liebe und doch auch mit Gebet und Ernst ihm den Weg der Rettung zuweisen. Sie liegt ja in der Hauptsache bei Jesu, doch auch darin, daß er (die stillen Orte) (Lokus Badezimmer) nur für das nötigste benutzt und sie sonst meidet.“36
Demzufolge versuchte Johannes darauf hinzuwirken, seinen Sohn Harald von frühen sexuellen Erfahrungen, insbesondere der Selbstbefriedigung, abzuhalten. Diese galt in seinem christlich geprägten Wertesystem als große Sünde, die möglicherweise weitere sündhafte Handlungen zur Folge haben könnte. Auch bevölkerungspolitische Gründe wären hier denkbar, dass nämlich Harald seinen Samen und somit seine Erzeugerkraft nicht vergeuden sollte. Den Brief setzte Johannes damit fort, dass er nichts dergleichen an Harald bemerkt habe, er aber aus der eigenen Zeit im Johanneum wisse, „daß diese Sünden die erste und ernsteste Gefahr für Knaben in Harald [sic], Albrechts, Joachims und Herberts Alter“ seien und zum Lügen (ver-)führen könnten.37 Entlarvend ist hier sein Bezug zur eigenen Biografie, legt er doch nahe, dass er selbst an eben diesen christlichen Normen gescheitert war und daher deren Einhaltung umso mehr von den eigenen Kindern erwartete. Über dieses erhoffte Verhindern frühzeitiger sexueller Aktivitäten hinaus forderte Johannes in Bezug auf Genussmittel weitgehende Enthaltsamkeit und mit Geld einen maßvollen Umgang: „Rauchen darf er vorläufig nicht und auf keinen Fall sich an Zigaretten gewöhnen. […] Auch in Getränken soll er nur mäßig sein und lieber auch sie meiden. […] Bekommt er Taschengeld mal, so soll er wohl überlegen, wofür er es verwendet. Es ist schwer verdient und nur für Nötiges oder für Wohltaten am Nächsten zu verwenden.“38
Mit diesem Kontrollbedürfnis stand Johannes nicht allein. Wie in Kapitel 5 beleuchtet, strebten auch andere Eltern aus der Ferne danach, die Entwicklung der eigenen Kinder weiterhin zu beeinflussen, wenngleich christliche Werte nicht bei allen eine solch zentrale Rolle einnahmen. Inwiefern sich solche Disziplinierungs-
36 Ebd. 37 Ebd. 38 Ebd., Herv. i. Org.
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wünsche explizit in Haralds Alltag niederschlugen, ließ sich aufgrund fehlenden Materials nicht nachvollziehen. Die Entscheidung, ihre Kinder zur schulischen und beruflichen Qualifizierung nach Deutschland zu schicken, war von verschiedenen Überlegungen der Eltern beeinflusst: von der Einschätzung eines gesellschaftlichen Werteverfalls und einem Festhalten an christlichen Wert- und Moralvorstellungen, von finanziellen Überlegungen und der Sorge, aus der Ferne nicht genügend Einfluss und Kontrolle ausüben zu können. In ihren Bewertungen der gesellschaftlichen Veränderungen in Südwestafrika und Deutschland konstruierten Familienangehörige ehemalige Kolonie und Metropole als gemeinsamen Beziehungsraum. Mitunter deuteten sie Deutschland in solch einer Weise, dass sie sich von der dortigen Lebenssituation abgrenzten, um die eigene aufzuwerten, oder sie entwarfen es als Hoffnungsträger, indem sie von dessen Lebensbedingungen und Ressourcen zu profitieren beabsichtigten. Im nächsten Abschnitt erfolgt ein Perspektivwechsel, denn im Mittelpunkt stehen die Hälbich-Nachkommen und die verschiedenen Betrachtungsweisen ihrer Lebenssituation in Deutschland.
6.2 JUNGE HÄLBICHS ZWISCHEN FAMILIE, QUALIFIZIERUNG UND POLITIK In Deutschland schufen sich Hälbich-Nachkommen gemeinsame sowie von ihren Interessen und Bedürfnissen geprägte unterschiedliche Bezugsräume, die sie mit Bedeutungen, Wünschen und Fantasien füllten. Zu diesen sozialen und mentalen Bezugsräumen gehörten u.a. die Verbindungen zwischen ehemaliger Kolonie und Metropole. Sie dienten ihnen zur Identifikation, aber auch zur Abgrenzung, wie sich in der folgenden Betrachtung von Eduards und Marias Kindern Edgar, Otto, Walter und Joachim zeigen wird. Diese lebten seit Juli 1922 in Deutschland. Während über die ersten Jahre kaum Briefe und somit nur wenige Informationen vorliegen, ist die Zeit ab Mai 1925, als Otto nach Südwestafrika zurückkehrte, durch seine Briefwechsel mit den Brüdern, anderen Verwandten und befreundeten Personen gut dokumentiert. Insbesondere seinen Brüdern schienen die Briefwechsel mit ihm als Rahmen zu dienen, um sich über ihre weitere Ausbildungs- und Zukunftsplanung sowie die daran eng gebundenen Familienstrukturen zu verständigen. Sie erachteten es als wertvoll, mit ihm Dinge besprechen zu können, die sie gegenüber den Eltern nicht thematisieren konnten oder wollten. Materialbedingt stehen in diesem Abschnitt die Sichtweisen von Jungen bzw. jungen Männern im Vordergrund. Wie nahmen sie das Haus in Biebrich wahr, das als zentraler Interaktionsraum der Familienmitglieder fungierte? Wie stellten sie sich ihre beruflichen Qualifizierungen vor und wie reflektierten sie schließlich über politische Aktivitäten und Einstellungen?
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Das Haus in Biebrich: Interaktionsraum der Familienmitglieder Seit 1913 lebten in dem Haus in Biebrich, welches die Familienzweige in Südwestafrika finanzierten,39 Christoph, Auguste und Clara mit verschiedenen HälbichNachkommen. Die Zusammensetzung wechselte in regelmäßigen Abständen dadurch bedingt, dass einige von ihnen zur weiteren Ausbildung oder zum Studium in andere deutsche Städte umzogen, nach Südwestafrika zurückreisten oder dass neue Personen hinzukamen. Manche der jungen Familienangehörigen lebten unter der Woche am Ausbildungs- oder Studienort und kehrten nur für die Wochenenden nach Biebrich zurück. In ihren Briefen bezogen sich die jungen Hälbichs in ambivalenter Weise auf das Haus in Biebrich. Es schien ihnen zu gelingen, sich dort zumindest vorübergehend einen Raum der Begegnung, Kommunikation und Unterstützung, auch über die Familie hinaus, zu schaffen. Edgar erwähnte Treffen mit anderen „Kolonialdeutschen“40 und wies auf „manche Erinnerungen und sehnsüchtige Gedanken“ hin, die zum Weihnachtsfest „hier und dort aufsteigen“ würden.41 Walter berichtete vom Austausch „afrikanischer Erinnerungen“.42 Solche mentalen Bezüge auf Südwestafrika dienten sicherlich auch dazu, ein Stück ‚Heimat‘ herzustellen und sich dieser zu vergewissern. Gleichzeitig entwickelten sich innerhalb der jungen Generation Unterstützungsformen, indem beispielsweise Edgar als Mentor von Herbert fungierte.43 Zu einem positiven Urteil kam nach ihrem Besuch im August 1927 auch Anita Rösemann, eine alte ‚kolonialdeutsche‘ Schulfreundin. Sie beglückwünschte die Geschwister zum Beisammensein in Biebrich, sie habe sich dort „recht heimisch“ gefühlt und bewertete es als deren „zweites zu Hause“.44 Kontrastiert wurden diese auf Harmonie und das Schaffen ‚kolonialdeutscher Heimat‘ gerichteten Bemühungen durch ein anderes Bild: finanzielle Sorgen, 45 zwischenmenschliches Desinteresse und familiäre Kontrolle.
39 Diesbezüglich zeigte sich Joachim sehr erstaunt über die Tatsache, dass der Haushalt über 14 Jahre lang bestehen konnte, sei er doch ein „[…] totes Glied, das nichts produziert und […] von dem Reingewinn der Firma erhalten werden [muß, S.H.].“ NAN, A.455-524, Joachim Hälbich an Otto, Biebrich, 18.4.1927. 40 NAN, A.455-524, Edgar Hälbich an Otto, Biebrich, 22.8.1925. 41 Ebd., Arnstadt, 27.11.1925. 42 NAN, A.455-524, Walter Hälbich an Otto, Biebrich, 8.11.1925. 43 Vgl. NAN, A.455-524, Irmgard Hälbich an Otto, Biebrich, 26.3.1925. 44 NAN, A.455-524, Anita Rösemann an Otto, Berlin-Friedenau, 15.8.1927. 45 Es ist anzunehmen, dass sich diese Sorgen dadurch verstärkten, dass Familienmitglieder aus Südwestafrika in ihren Briefen auf die finanziellen Probleme hinwiesen, die ihnen das Haus bereitete.
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Nach Christophs Tod und dem Weggang von Cousin Eduard wurde dem mittlerweile über 20-jährigen Edgar als Ältestem die Verantwortung für die „Amtsgeschäfte“ in Biebrich übertragen.46 Anfang 1925 hoffte er auf einen Ausweg aus der „ewige[n], unrationelle[n] Schuldenwirtschaft“.47 Diese machte ihm auch im Folgejahr zu schaffen, als er erklärte, dass ihn die Geldsorgen belasteten und er sich „[…] manchmal recht bedrückt [fühle, S.H.] durch die äußeren Verhältnisse, in denen ich und wir alle leben müssen.“48 Dies zeigt, dass die problematische Finanzierung des Hauses auf die Lebensumstände der jungen Hälbichs zurückwirkte, die ihre Sorgen formulierten und ihren Alltag mit recht begrenzten Mitteln bestreiten mussten. Diese Umstände brachten zudem soziale Spannungen mit sich. Walter war es leid, über das Haus zu debattieren. Über den Inhalt der Diskussionen äußerte er sich nicht. Er warnte Otto, sich nicht vom „Weiberklatsch“ beeinflussen zu lassen, gemeint waren wohl seine Tanten, und kritisierte vor allem Auguste, die von der Angst vor den Reaktionen ihrer „Freunde“ in der Familie und den „guten Bekannten“ außerhalb der Familie, insbesondere in Barmen, besetzt sei.49 Unverständlich sei ihm, warum die Leute auch nach dem Tod von Christoph, bei dem er sich wie ein eigenes Kind gefühlt habe, nicht zu lästern aufhörten.50 Demnach schien das Haus in Biebrich nicht von allen befürwortet zu werden und war somit zugleich ein umkämpfter Ort. Doch nicht allein die finanziellen Probleme erschwerten das Zusammenleben in Biebrich. Weder die eingangs erwähnte gemeinschaftliche Erinnerungsproduktion noch die Bemühungen, auch einen fürsorglichen sozialen Raum zu schaffen, schienen davor zu bewahren, dass dort, wie Edgar es im Januar 1925 formulierte, „eine ziemlich miese, langweilige Stimmung herrscht, z.T. begründet auf kleinere oder größere persönliche Sorgen der Einzelnen, z.T. aber auch einen fast allgemeinen Mangel an vielseitigem Interesse.“51 Individuelle Bürden, aber vor allem Desinteresse prägten demnach den gemeinsamen Alltag. Dieser Eindruck verhärtete sich bei Edgar im Laufe des Jahres. Er konstatierte, „bei allen Hälbichs [sei, S.H.] eine gewisse Verschlossenheit gegeneinander der Grund zu manchem gleichgültigen Ne-
46 NAN, A.455-524, Edgar Hälbich an Otto, Biebrich, 22.2.1925. 47 Ebd., 18.3.1925. Auch sein Bruder Walter unterrichtete Otto von den finanziellen Sorgen: „Du weißt ja ebenso gut wie ich, daß unser Haushalt unrentabel arbeitet. Gründe hierfür sind: zu geringe Kopfzahl im Verhältnis zu dem großen Haus, Bankschulden, die unnötige Zinsen fressen, Steuern (Kapital- und Einkommen!-Steuer), unpraktische Heizung usw.“ NAN, A.455-524, Walter Hälbich an Otto, Biebrich, 6.10.1925. 48 NAN, A.455-525, Edgar Hälbich an Otto, Darmstadt, 4.3.1926. 49 NAN, A.455-524, Walter Hälbich an Otto, Biebrich, 6.10.1925. 50 Vgl. ebd. 51 NAN, A.455-524, Edgar Hälbich an Otto, Biebrich, 27.1.1925.
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beneinanderleben“.52 Demzufolge führte der geteilte Wohnraum der Hälbich-Nachkommen nicht automatisch zu innigen Beziehungen, was hinsichtlich der für sie neuen Umgebung vielleicht zu erwarten gewesen wäre. Im Fall von Joachim löste er sogar das Bedürfnis nach Ausbrechen aus. So hatte der bei seiner Tante Auguste auf Widerstand gestoßene Wunsch, in Köln zu studieren für ihn nicht allein „Zweckmäßigkeitsgründe“, sondern resultierte vielmehr aus persönlichen Erwägungen: „Ehrlich gesagt, das Leben hier im Hause hängt mir zum Halse hinaus. Ich sehne mich einmal nach anderer Luft, nach Abwechslung. Unter andern Lebensumständen werde ich das Leben hier zu Hause sicher wieder lernen zu schätzen. Wie ich den Eltern schon öfters schrieb, freue ich mich unbändig darauf, einmal mich selbst zu erproben, zu erfahren, wie ich mich auf das sogenannte Leben einstelle.“53
Diese unverblümte Kritik offenbart, dass sich Joachim der Alltagsroutine und der Kontrolle durch die Erwachsenen entziehen wollte. Sie kennzeichnet zugleich seinen Übergang ins Erwachsenenleben, indem er den Wunsch nach Ausprobieren und Unabhängigkeit betonte. Auch bei seinem älteren Bruder Edgar zeigte sich ein Verlangen des Ausbrechens, allerdings wollte er die alltäglichen, sicherlich auch hausbedingten Sorgen hinter sich lassen. Dies geschah heimlich, indem er hin und wieder im „harmlosen Vergnügen“ in Wiesbaden abtauchte54 und darin offensichtlich eine Art Ventil für seine Sorgen fand. Insgesamt betrachtet zeigen die Beschreibungen der jungen Hälbichs ihre Ambivalenz in Bezug auf das Haus in Biebrich. Es bot die Möglichkeit eines vertrauten sozialen und zugleich mental auf Südwestafrika gerichteten Raumes, den sie allerdings selbst und immer wieder neu schaffen mussten. Dies gelang vor allem unter den Geschwistern, wenn auch nicht immer. Gegenüber den Erwachsenen vollzogen sie mitunter deutliche Abgrenzungsprozesse. Als belastend erwiesen sich für die Nachkommen die dauerhaften finanziellen Probleme, die von ihnen Verantwortungsbewusstsein und -übernahme verlangten. Die Probleme der Eltern wurden somit zu ihren eigenen.
52 Ebd., 22.8.1925. Ähnliche Umgangsweisen fanden sich offensichtlich auch unter Familienangehörigen in Südwestafrika. Edgars und Ottos Onkel August betrachtete es als ärgerlich, dass sich seine Brüder untereinander so wenig vertrauten. Vgl. NAN, A.455-524, August Hälbich an Otto, Otjimbingue, 24.4.1929. 53 NAN, A.455-524, Joachim Hälbich an Otto, Biebrich, 6.7.1927. 54 NAN, A.455-524, Edgar Hälbich an Otto, Darmstadt, 12.3.1928.
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Berufliche Qualifizierung Die eigene berufliche Qualifizierung spielte nicht nur für Joachim zunehmend eine Rolle, sondern beschäftigte auch seinen Bruder Walter. Wie sich zeigen wird, war diese Übergangsphase zum Erwachsenen von Selbstfindungsprozessen begleitet, in denen die beiden gegenüber Otto räumlich verortete Zukunftswünsche artikulierten und zugleich Familienstrukturen reflektierten. Im Jahr 1925 hatte der ältere Bruder Edgar mit seinem Ingenieurwissenschaftsstudium bereits eine berufliche Entscheidung getroffen, während sich die beiden Schüler Walter und Joachim noch in der Findungsphase befanden. Walter dachte über den Beruf des Bergmanns nach, merkte aber gleichzeitig an, dass ihm ein praktischer Beruf weniger gefallen würde als ein wissenschaftlicher.55 Zunächst hatte für ihn Priorität, die eigene Unsicherheit zu verlieren und eine gefestigte Persönlichkeit zu entwickeln: „Was mir fehlt, mir immer wieder schadet und mich manchmal zur Verzweiflung bringt, ist, daß ich nicht genug Selbstgefühl [sic] und keinen starken einheitlichen Willen besitze. Wenn ich mich darin erst selbst gefunden oder wiedergefunden (?) habe, dann … ja, dann soll die Sache schon etwas werden.“56 Und ‚die Sache‘ schien zu werden. Nach absolviertem Abitur Anfang 1926 arbeitete er für einige Monate im Bergwerk in Bergkamen und begann danach Bauingenieurwesen zu studieren.57 Wenngleich er von einem „öde[n] Tagesablauf“58 in Bergkamen berichtete und bedauerte ein „armseeliger [sic] Praktikant“59 zu sein, knüpfte er daran auch Gedanken an eine Rückkehr nach Südwestafrika: „Schöner als die praktische Arbeit wird wohl das Studium werden und noch schöner das Ziel, in meiner lieben Heimat meinen Beruf ausüben zu können. Zum Luftschloss erbauen will ich
55 Vgl. NAN, A.455-524, Walter Hälbich an Otto, Biebrich, 2.10.1925. 56 Ebd. 57 Während seiner Praxisphasen begegnete Walter regelmäßig anderen ‚Kolonialdeutschen‘, z.B. einem Mann, der 1908 auf den Otavi-Minen gearbeitet hatte. „Immerhin kannte er Land und Leute für die kurze Zeit gut, sodass wir uns oft und gern wie alte bekannte Landsleute aus Südwest erzählten. Seltsam, auf jeder Praxis habe ich bisher einen getroffen, der von eigenen Erlebnissen aus Südwest erzählen konnte; so auch in Neunkirchen (Kreis Siegen), wo ich den September über praktizierte.“ NAN, A.455-524, Walter Hälbich an Otto, Freiberg, 24.10.1927. Demnach schätzte Walter den Austausch über sein Herkunftsland und damit die ehemalige Kolonie und zwar vornehmlich mit Menschen, mit denen er auf einen gemeinsamen Erfahrungshintergrund rekurrieren konnte. 58 NAN, A.455-525, Walter Hälbich an Otto, Bergkamen, 2.4.1926. 59 Ebd., 18.5.1926.
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mich aber jetzt nicht verleiten lassen. Die Wirklichkeit entspricht doch fast nie den idealen Hoffnungen, die man an sie knüpft.“60
Für Walter blieb Südwestafrika ‚Heimat‘ und die Rückkehr dorthin sein Ziel. Trotz seiner Sorge, sich mit einer anderen als der gewünschten Zukunft zufrieden geben zu müssen, ging er seinen Gedanken einer beruflichen Perspektive weiter nach, die mit dem ‚heimatlichen Raum‘ verbunden waren. Konkret bezog er diese auf potenzielle Platinfunde in der Nähe von Karibib: „Ich stelle mir es gottvoll vor, als Fachmann und freier Herr da in der Gegend herumzustreifen, beschäftigt mit geologischen Untersuchungen. Doch vorläufig heisst’s, den Gaul der Hoffnungen im Zaume halten, damit er nicht ins Leere rennt!“ 61 Deutlich wird hier, dass für ihn die Vorstellung von Expertise und insbesondere von Freiheit, die auch für andere Siedlernachkommen zentral war, hohe Bedeutung hatte. Sie wurde allerdings nicht zum alles bestimmenden Zielpunkt, sondern er ordnete sie vielmehr seiner gegenwärtigen Lebenssituation unter. So betrachtete er seinen Berufswunsch im Spannungsfeld von Idealen und realen Bedingungen. Zwänge oder Kontrolle seitens der Eltern erwähnte er in diesem Zusammenhang nicht. Dieses Anliegen, nicht im Wunschdenken zu verharren, schien Walter ebenso wichtig zu sein wie finanzielle Unabhängigkeit, denn trotz seines geringen Verdienstes wollte er nicht um Unterstützung aus Biebrich bitten.62 Hing diese Entscheidung sicherlich nicht zuletzt mit der skizzierten problematischen Finanzsituation zusammen, so lässt sie sich zugleich als Wunsch nach Autonomie in seinem Übergang ins Erwachsenenalter deuten. Diese trieb auch den etwas jüngeren Bruder Joachim um, wie seine Kommentare über die eigene Berufswahl sowie die einiger Geschwister und Cousins offenbarten. Sein Vater ließ ihm die Wahl zwischen Ausbildung und Studium, riet ihm allerdings ebenso wie seine Brüder zu letzterem. Diese Ratschläge kamen Joachims Vorstellungen entgegen, denn er betrachtete Wissenserwerb als hohes Gut: „[D]er einzige Reichtum, den man ins Leben mitnehmen kann, ist Wissen. Zwar werde ich 1-2 Jahre länger von zu Hause fortbleiben müssen, aber je mehr man lernen kann, desto besser ist es.“63 Insbesondere Otto bestärkte ihn und verwies darauf, dass er praktische Erfahrungen später in Südwestafrika sammeln könne, nicht aber eine „gruendliche theoretische Ausbildung“ genießen.64 Allerdings ging es bei diesen Überlegungen nicht allein um den sinnvollsten Qualifizierungsweg, sondern auch um die Finanzierbarkeit. Auf Joachims Frage, inwiefern sein Vater neben Edgars und Walters Studium ein weiteres überhaupt bezahlen könne, signalisierte Otto, 60 Ebd., 2.4.1926. 61 Ebd. 62 Vgl. ebd.; NAN, A.455-525, Walter Hälbich an Otto, Bergkamen, 18.5.1926. 63 NAN, A.455-525, Joachim Hälbich an Otto, Biebrich, 22.8.1926. 64 NAN, A.455-525, Otto an Joachim Hälbich, Karibib, 21.2.1927.
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dass es nicht leicht werde, aber wenn er das Studium erst begonnen hätte, würde er es sicherlich auch beenden können.65 Einige Monate später schlug Joachim einen schärferen Ton an, der wohl damit zusammenhing, dass er sich nunmehr für einen kaufmännischen Beruf qualifizieren sollte, mit dem er sich jedoch nicht identifizieren konnte. Er formulierte eine vehemente Kritik an der familiären Einflussnahme auf den Lebensweg einiger junger Hälbichs, insbesondere auf Ottos, die mit seinem Verweis auf strikte Verschwiegenheit gegenüber den Eltern ihre Brisanz verdeutlicht. So klagte er darüber, dass nicht nur seine Cousins, sondern auch die beiden anderen Brüder „freie Berufe“ wählen konnten und nicht an die „Firma gebunden“ seien,66 während von Otto familiäre Verantwortung verlangt wurde: „Betrachte nun einmal deinen Ausbildungsgang! Du mußtest Dich sozusagen abhetzen, um hinüber zu kommen, um in unser Geschäft einzuspringen. Du mußtest persönliche Wünsche und Neigungen vor der Wahl der Allgemeinheit zurücktreten lassen. Du hast ein Stück von dir selbst für unser Werk geopfert. Laß unsere lieben Alten im Grabe liegen, meinst Du, daß jemand Deine Tat anerkennen wird? Das Kapital wird gewaltsam dem Geschäft entzogen werden und damit ist sein Zerfall besiegelt und Du sitzest auf der Straße. Bei Dir liegt der Fall besonders krass.“67
Inwiefern Otto diese vorwurfsvolle Kritik und darüber hinaus fatalistische Geschäftsprognose teilte, ließ sich nicht nachvollziehen. Unabhängig davon veranschaulicht sie, dass die Eltern einigen Kindern bei ihrer Berufsqualifizierung weniger Entscheidungsfreiheit ließen als anderen. Während Joachim also die von Otto erwarteten Versagungen – möglicherweise auch im Hinblick auf seine eigene Person – verurteilte und sogar mit Sorge in dessen Zukunft blickte, wurde er gegen Ende seiner Ausführungen wieder versöhnlicher, was eine ambivalente Einstellung gegenüber seinen Eltern nahelegt. Seiner späteren Zusammenarbeit mit dem Vater und Otto, was auf eine Mitarbeit im Familienbetrieb schließen lässt, sah er mit Freude entgegen und war ihnen schließlich dankbar dafür, dass er „schon so lange Zeit hier [in Deutschland, S.H.] verbringen durfte unter den großen Entbehrungen, die sie sich dort auferlegen.“68 Von seinem Entschluss, im Oktober 1927 ein Studium zu beginnen, wollte er sich aber keinesfalls mehr abbringen lassen.69 65 Vgl. NAN, A.455-525, Joachim Hälbich an Otto, Biebrich, 22.8.1926; NAN, A.455-525, Otto an Joachim Hälbich, Karibib, 21.2.1927. 66 NAN, A.455-524, Joachim Hälbich an Otto, Biebrich, 18.4.1927. 67 Ebd. 68 Ebd. 69 Vgl. NAN, A.455-524, Joachim Hälbich an Otto, Biebrich, 6.7.1927. Demnach entschieden sich alle drei Brüder für ein (technisches) Studium. Darüber hinaus ließ sich zur be-
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Über die Entwicklung ihrer Söhne reflektierte im nachfolgenden Jahr auch die Mutter Maria während ihrer Deutschlandreise und verwies auf die trennungsbedingten Veränderungen: „Wie grundverschiedene Entwicklung machte jeder von Euch durch, andere Wege u. Ziele verfolgt Ihr u. wart als Kinder so noch gemeinsam mein eigen. Es war gut, ich bin dankbar, daß ich hier wieder einmal eine kurze Strecke mit Edgar, Walter u. Joachim gehen durfte; ich hoffe es hat uns wieder fester verbunden, auch wenn sich die lange Trennung als eine Lücke, die sich nachträglich nicht mehr ausfüllen läßt, deutlich bemerkbar macht.“ 70
Die Bildungsaufenthalte prägten nicht nur den Lebensalltag der Kinder, sondern sie wirkten sich auch auf die Gefühlswelt der Mutter aus, die deren Entwicklung nur noch vermittelt über die Verwandten beeinflussen konnte. Sie musste sich damit abfinden, dass die räumliche Entfernung zu ‚Entfremdungsprozessen‘ führte, die sich auch durch die regelmäßige Korrespondenz nicht verhindern ließen. Während sie sich über den eigenen Weg der beiden älteren Söhne Edgar und Walter beruhigt zeigte, wäre sie gern länger bei dem noch jüngeren Joachim geblieben, um ihm mehr Zeit und Liebe zu geben, erwähnte aber umgehend, er würde seine Entwicklung auch ohne sie vollziehen.71 Von diesen ambivalenten Gefühlen geprägt stellte die Mutter somit ihre eigenen Wünsche gegenüber der bereits geplanten Rückkehr nach Südwestafrika zurück. Wie diese Betrachtungen gezeigt haben, nahm die Rückkehr nach Südwestafrika in den Überlegungen der Geschwister zur Berufswahl und darüber hinaus einen wichtigen Platz ein. Dies legt nahe, dass sie die Deutschlandaufenthalte von Beginn an als Interimsphase ihrer Biografie begriffen und sie an einem dauerhaften Verbleiben in Deutschland kein Interesse hatten. Aufgrund der Verknüpfung der Qualifizierung mit der Familienökonomie konnten nicht alle Geschwister in gleicher Weise über ihre Berufswahl frei entscheiden, vielmehr verlangten die Familienruflichen Qualifizierung und der Kategorie Geschlecht feststellen, dass sich die Ausbildung von Hälbich-Nachkommen weitgehend im Rahmen der geschlechterspezifischen Rollenvorstellungen der Zeit bewegte. Joachims Schwester Erna sollte bald eine Stelle als Haustochter beginnen. Vgl. NAN, A.455-524, Walter Hälbich an Otto, Biebrich, 22.2.1925. Die mit den Geschwistern befreundete Anita Rösemann beabsichtigte Kindergärtnerin zu werden und wollte ihrem Vater eine Stütze sein. Vgl. NAN, A.455-524, Anita Rösemann an Otto, Lauterberg im Harz, 15.4.1927. 70 NAN, A.455-524, Mutter an Otto, Biebrich, 9.9.1928. Nach der Abreise der Kinder im Jahr 1922 hatte die Schwägerin Helene darauf hingewiesen, dass im Haus von Eduard und Maria eine „große Lücke entstanden“ und letzterer der Abschiedsschmerz stark anzusehen sei. NAN, A.596, Helene Hälbich an Clara, Otjimbingue, 16.7.1922. 71 Vgl. NAN, A.455-524, Mutter an Otto, Biebrich, 22.4.1928.
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strukturen von ihnen unterschiedliche Verantwortung. Die jungen Hälbichs mussten sich in unterschiedlicher Weise zwischen ihren eigenen Wünschen und den Familienvorgaben arrangieren. Während Otto auf eine Mitarbeit im Familiengeschäft festgelegt (worden) war, gestalteten sich die beruflichen Lebensentwürfe seiner beiden Brüder Edgar und Walter offener. Darauf deuteten die Ausführungen von Walter, der sich als wissenschaftlicher Experte im Raum Südwestafrika imaginierte. Darüber hinaus weisen die Auseinandersetzungen um die Berufswahl auf ihr Verlangen nach Handlungsmöglichkeiten und Selbstständigkeit hin. Reflexionen über politische Aktivitäten und Einstellungen Über Fragen der beruflichen Qualifizierung und der damit verbundenen Zukunftswünsche hinaus zeigten die jungen Hälbichs Interesse an politischen Aktivitäten. Mit diesen kamen sie auf unterschiedliche Weise, nicht zuletzt aufgrund ihrer ‚kolonialdeutschen‘ Herkunft in Berührung. Im Rahmen ihres Ausbildungs- und Studienalltags hatten Walter und Joachim Kontakt zu korporierten Studentenverbindungen, die sie vor allem mit Skepsis betrachteten und andere Wege einschlugen. Walter studierte in Freiberg und wurde Ende 1926 von Helmut Steck, Mitglied im dortigen Corps Frankonia, zum Beitritt ermuntert. Er lehnte ab und wollte nur als Gast teilnehmen, denn für ihn hatte das Corps „zwei Götzen: Fechten und Saufen“.72 Konsequenterweise schloss sich Walter später der Vereinigung Deutscher Freistudenten an, wo er sich in der Studentenhilfe, besonders der Einzel- und Krankenfürsorge engagierte. Sein Ziel, auch die „wilden Studenten“, wie er sie nannte, für Studienbelange zu interessieren und diesen politischen Raum nicht den Korporierten zu überlassen,73 begründete er gegenüber seinem Bruder Otto wie folgt: „Da heisst es zu gegebenem Zeitpunkte auch von freistudentischer Seite aufzutreten und nicht die einmal organisierten und darum stärkeren alles über unsere Köpfe hinweg entscheiden zu lassen.“74 Diese Haltung verteidigte Walter schließlich auch gegenüber seinem anderen älteren Bruder Edgar, der „erhaben über derartige Ideale [lächelt S.H.]; ihm, als altem Sack, kann ich es auch nicht übel nehmen, dass er dafür kein Verständnis und Interesse aufbringen kann. Solange man aber noch jung an Semestern ist, sodass man noch einige Begeisterung für solche Dinge aufbrin-
72 NAN, A.455-524, Walter Hälbich an Otto, Freiberg, 9.11.1926. 73 Ebd., 20.5.1928. 74 Ebd. Zu den ‚Freistudenten‘ in der Weimarer Republik gibt es insgesamt wenig Forschungsliteratur, die vor allem Kurzbeiträge in lokalen Studien zur Studierendenschaft umfasst. Exemplarisch sei hier auf Heidelberg verwiesen. Giovannini 1990, S. 66-72. Zur Geschichte der Freistudenten-Bewegung für die Zeit bis 1918 vgl. Wipf 2004.
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gen kann, die einem später teilweise, lächerlich erscheinen, heisst es den Tatsachen Rechnung tragen.“75
Doch schien Edgars Standpunkt weniger eine Frage des Alters zu sein, sondern vielmehr damit zusammenzuhängen, dass er ein Verfechter rechter bzw. nationalsozialistischer Positionen war. Walter hingegen hielt an seiner Entscheidung für eine freier gestaltbare Interessenvertretung von Studierenden und damit verbundene sozial-fürsorgliche Tätigkeit fest. Demnach strebte er an, sein hochschulpolitisches Engagement außerhalb der dominierenden und etablierten, konservativ-männerbündischen Strukturen umzusetzen. Dies deutet darauf hin, dass eine ‚kolonialdeutsche‘ Herkunft nicht automatisch zu konservativen Positionierungen führen musste. Im Unterschied zu Walter war sein Bruder Joachim, der vor dem Beginn seines Studiums stand, unentschlossener. Bezüglich des Angebots von seinem jungen Chef, dessen Studentenverbindung beizutreten, stellte er folgende Überlegungen an: „Vom erzieherischen Standpunkt aus wäre ich nicht abgeneigt, einer Verbindung beizutreten; doch fallen wieder die erheblichen Zeit- und Geldverluste zu schwer ins Gewicht und nicht an letzter Stelle das viele Saufen. Auch ist man als Freistudent, wie der Name schon andeutet, sein eigner Herr.“76
So teilte er mit Walter den Vorbehalt gegenüber exzessivem Alkoholkonsum und die Vorteile eines Daseins als Freistudent. Zudem fällt auf, dass Joachim wie sein Bruder auf Autonomie Wert legte, indem er von ‚sein eigener Herr‘ sein schreibt. Dieses Bild vom „freiheitsliebenden Südwestafrikaner[…]“ wurde Katharina Walgenbach zufolge bereits in den Diskussionen des Frauenbundes zur Erziehung ‚weißer‘ deutscher Kinder während der Kolonialherrschaft bedient 77 und von einigen jungen Hälbichs einmal mehr bestätigt. Allerdings befürwortete Joachim insbesondere das erzieherische Moment, welches mit freiheitlichen Strukturen nicht in Einklang zu bringen war. Naheliegend scheint schließlich zu sein, dass die überwiegende Skepsis der beiden Brüder gegenüber korporierten Verbindungen nicht allein mit politischen Einstellungen zusammenhing, sondern auch damit, dass sie sich des begrenzten Zeitraums für ihre berufliche Qualifikation bewusst waren. Sie wollten sich nicht in Strukturen engagieren, die ihnen sinnentleert vorkamen und zudem Geld kosteten, welches sie letztlich nicht hatten. Die Ablehnung des maßlosen Al75 NAN, A.455-524, Walter Hälbich an Otto, Freiberg, 20.5.1928. 76 NAN, A.455-524, Joachim Hälbich an Otto, Wiesbaden, 4.10.1927. 77 Walgenbach 2005a, S. 207. Auch für die Zeit nach der Unabhängigkeit Namibias stellt Brigitta Schmidt-Lauber fest, dass unter Deutsch-Namibierinnen und -Namibiern Autonomie als „[w]ichtigstes und […] wiederkehrendes Moment“ im Bild des Farmers als „‚eigener Herr‘“ präsent ist. Schmidt-Lauber 1998, S. 238.
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koholkonsums lässt zudem eine gewisse Identifikation mit den elterlichen christlichen Werten vermuten. Während in diesen Anfragen und Überlegungen ihre Herkunft aus Südwestafrika kaum eine Rolle spielte, war sie bei anderen (im weiteren Sinn) politischen Begegnungen explizit und in durchaus ambivalenter Weise präsent. Joachim und Walter machten die Erfahrung, gerade wegen ihrer ‚kolonialdeutschen‘ Herkunft als Referenten und Experten angerufen zu werden, allerdings gefiel ihnen diese Rolle nicht besonders. Aufgefordert von seinem Lehrer sollte Joachim in der Schule einen Vortrag über Südwestafrika halten, wollte dies jedoch gern abwenden.78 Walter wurde bei seinem Besuch der Freiberger Schulgruppe des VDA für einen Bericht „gekapert“ und kommentierte dies gegenüber Otto ebenfalls zurückweisend: „Wie oft werde ich wohl noch über dies [sic] Thema ausgequetscht werden!“79 Insbesondere im Hinblick auf Walters Reaktion ist davon auszugehen, dass es die beiden Brüder ärgerte, immer wieder mit einem herkunftsbedingten Interesse an ihrer Person konfrontiert zu sein und darauf vielleicht reduziert zu werden. Gleichwohl war zumindest Walter aber auch daran gelegen, dass in Deutschland nicht irgendwelche Geschichten über die ehemaligen Kolonien verbreitet wurden. Im Zusammenhang mit kolonialrevisionistischen Aktivitäten – genauer gesagt in der Diskussion um die Herausgabe einer neuen Zeitschrift – beanspruchte er einen Expertenstatus, um auf deren weitere Entwicklung Einfluss zu nehmen. Es ist wahrscheinlich, dass es sich hierbei um die seit 1924 bestehende koloniale Jugendzeitschrift Jambo handelte. Mit folgenden Hinweisen erkundigte er sich bei Otto nach dessen Plänen, für Zeitungen „afrikanische Geschichten“ zu schreiben: „Man will nämlich eine Zeitschrift herausgeben, die unter der Schuljugend den Kolonialgedanken wecken und wachhalten soll. St. H. ist gebeten worden, sich darüber auszusprechen und darum zu bemühen. Er will mir das Blatt mal geben, um nachzuprüfen, ob die Erzählungen aus den Kolonien auch der Wahrheit entsprechen und nicht, wie es so oft der Fall ist, leere Phantastereien sind. Ich bin sehr gespannt auf die Sache. Wenn die Sache zustande kommen sollte, wäre für deinen Plan da vielleicht auch Aussicht.“ 80
Aufschlussreich ist hier Walters Unterscheidung zwischen ‚Wahrheit‘ und ‚Phantastereien‘. Indem er sich mit seiner ‚kolonialdeutschen‘ Herkunft als Kenner kolonialer Verhältnisse darstellte, sprach er diese Kompetenz indirekt all denjenigen ab, die nicht in den Kolonien gelebt hatten. Zugleich distanzierte er sich von Publikationen, die auf ‚leeren Phantastereien‘ basierten. Wenngleich sich aus dem vorlie78 Vgl. NAN, A.455-524, Joachim Hälbich an Otto, Biebrich, 8.2.1925. 79 NAN, A.455-524, Walter Hälbich an Otto, Freiberg, 29.1.1928. 80 Ebd., Biebrich, 1.2.1925. Es ließ sich nicht ermitteln, welche Person sich hinter den Initialen St. H. verbarg.
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genden Material nicht klären ließ, wie er die konkrete Politik der Kolonialverbände bewertete, so wird zumindest deutlich, dass er ihre Publikationen durchaus mit Misstrauen begutachtete. Schließlich veranlasste ihre ‚kolonialdeutsche‘ Herkunft die jungen Hälbichs dazu, in unterschiedlicher Intensität die gesellschaftlichen Entwicklungen in Südwestafrika und das politische Geschehen in Deutschland zu verfolgen und zu bewerten. Walter erkundigte sich bei Otto nach der Selbstverwaltung in Südwestafrika. Er bedauerte ihm gegenüber, kaum Zeit zu finden, sich in den Zeitungen über die politischen Vorgänge zu informieren, fand es allerdings auch uninteressant, lange nichtssagende Reden zu lesen.81 Im Unterschied zu dieser hier anklingenden Verdrossenheit gegenüber der Politik, formulierte Edgar anknüpfend an die schlechte Finanzlage des Hälbich-Geschäfts eine klare, auf antisemitischen Ressentiments basierende Position. Wie bereits sein Onkel Johannes einige Jahre zuvor machte er die jüdische Bevölkerung für politische und ökonomische Entwicklungen verantwortlich, bezog sich allerdings auf Südafrika: „Diese verdammten Juden in Südafrika, scheinen doch immer mehr die Oberhand zu bekommen. Das [sic] das die dummen Engländer und Buren nicht merken! Selbst der ‚DeutschAfrikaner‘, der doch sonst nicht so ohne ist, läßt nichts auf ‚unsere jüdischen Mitbürger‘ kommen, obwohl er dauernd von ihren Schandtaten in Politik und Wirtschaftsleben berichten muß. Ich muß sagen, daß sich bei mir der Haß gegen diese unreinen Wüstensöhne auf Grund meiner Erfahrungen immer mehr steigert. Und wenn es später mal in meiner Macht liegen sollte, dann will ich den Kerlen das Leben schwer machen, wo ich kann.“82
Edgars Beschäftigung mit Südafrika zeigt, dass die Hälbichs neben den Verbindungen zwischen Deutschland und Südwestafrika auch das Gebiet der Mandatsmacht im Blick hatten. Es lässt sich vermuten, dass Edgar seine antijüdische Hetze, die ein aktives Vorgehen gegen die jüdische Bevölkerung nicht ausschloss, insbesondere dazu nutzte, um sich gegenüber der Südafrikanischen Union abzugrenzen. Gleichzeitig machte er die jüdische Bevölkerung zum Sündenbock für die eigene, negativ bewertete Situation.83
81 Vgl. ebd., 8.11.1925. 82 NAN, A.455-524, Edgar Hälbich an Otto, Arnstadt, 27.11.1925. 83 Für die Zeit des Kaiserreichs weist Anette Dietrich darauf hin, dass die nostalgisch, antikapitalistisch ausgerichtete Vorstellung von der Kolonie als Gegenpart zur Industrialisierung und Modernisierung in den Großstädten der Metropole anschlussfähig war für „antisemitische Stereotype, in denen die negativen Auswirkungen des Kapitalismus und der Moderne im Juden personalisiert werden.“ Dietrich 2007, S. 264, FN 36.
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Bei solch einer Positionierung kann es kaum verwundern, dass er bei den Reichstagswahlen am 20. Mai 1928 seine Stimme der NSDAP geben wollte. 84 Es ist anzunehmen, dass er damit beabsichtigte, seiner antijüdischen Haltung auf (innen-)politischer Ebene Ausdruck zu verleihen. Edgars Tanten schlossen sich dieser Entscheidung an, doch nicht alle im Haushalt in Biebrich teilten diese Meinung. Sein Cousin Eduard wählte DVP und bewunderte zusammen mit seinen beiden Cousins Albrecht und Eitel den amtierenden Reichsaußenminister Stresemann. Wie „weise alte Männer“, so kommentierte Edgars Mutter während ihrer Deutschlandreise, hätten sie ihn als den „einzig rechte[n] Mann“ betrachtet und sich empört, als sie ihn als „Waschlappen“ bezeichnete.85 Die drei Cousins schienen mit Stresemanns Politik zufrieden zu sein und sich nicht darauf zu beziehen, dass er die Kolonialfrage nur nachrangig behandelte, was wiederum Kolonialverbände heftig kritisierten. Naheliegend ist somit, dass diese drei die Kolonialfrage als politisch nicht so zentral betrachteten und sich mit der postkolonialen Situation möglicherweise schon abgefunden hatten. Edgar hingegen, der sich selbst als „immer noch mit ziemlich radikalen Ansichten behaftet“ beschrieb,86 verurteilte Positionen, die sich beispielsweise basierend auf innenpolitischen oder finanziellen Argumenten nicht ausreichend für oder sogar gegen die Rückgabe der deutschen Kolonien aussprachen. Daher kritisierte er den 1928 amtierenden Reichskanzler scharf: „Unser neuer Reichskanzler Hermann Müller ließ neulich eine sehr unzweckmäßige, blöde Rede von [sic] Stapel, in der er behauptete, wir Deutschen könnten heute gar keine Kolonien gebrauchen, weil wir viel zu arm und innenpolitisch zu sehr beschäftigt seien, um Kapital in neue Unternehmungen zu stecken. Wenn der Mann wirklich mit Hilfe seines Verstandes (?) zu einer solchen Auffassung kam – meine ich – soll er sie als Staatsmann (!) für sich behalten und nicht noch unseren Feinden, die nur auf Mittel sinnen, wie sie ihren Raub weiter sichern sollen, Wasser auf ihre Mühlen liefern.“87
Diese Abwehrreaktion gegenüber demokratischen Politikern der Weimarer Republik teilte Edgar mit kolonialen Verbänden, die sowohl argumentative Schützenhilfe für die sogenannten ‚Feinde‘ verhindern wollten als auch propagandistische Formulierungen wie den ‚Raub‘ der Kolonien benutzten. Gegen Ende der 1920er Jahre ließ sich in der Kolonialbewegung eine Zunahme der Verdrießlichkeit gegenüber der Regierungspolitik beobachten.88 Allerdings schien Edgar mit seiner regierungskritischen Haltung gegenüber den anderen jungen Hälbichs eine Einzelposition ein84 Vgl. NAN, A.455-524, Mutter an Otto, Biebrich, 15.3.1928. 85 Ebd. 86 NAN, A.455-524, Edgar Hälbich an Otto, Darmstadt, 28.8.1928. 87 Ebd. 88 Vgl. dazu Abschnitt 1.2.
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zunehmen. Sie bildeten in politischen Fragen keine Einheit, denn der Grad ihres Interesses daran variierte ebenso wie die Parteien, die sie favorisierten. Die junge Hälbich-Generation stellte in ihrer Konstruktion von Bezugsräumen immer wieder Verbindungen zu Südwestafrika her. Ihre ‚kolonialdeutsche‘ Herkunft spielte dabei mal mehr, mal weniger eine Rolle und löste durchaus ambivalente Reaktionen aus. Einerseits lehnten sie die Rolle ab, aufgrund ihrer Herkunft als Referenten angerufen zu werden. Andererseits beriefen sie sich im Zusammenhang mit kolonialrevisionistischen Aktivitäten explizit darauf und versuchten mittels eines beanspruchten Expertenstatus eine gewisse Kontrolle über die Aktivitäten auszuüben. Auffällig bei allen Geschwistern war, dass ihre Bezugnahmen auf Südwestafrika durchweg positiv ausfielen. Dass dies so eindeutig nicht war, lässt sich ausgehend von der Frage der Rückkehr erörtern.
6.3 VERUNSICHERTE ZUGEHÖRIGKEIT DURCH ERLEBTE MOBILITÄT Aufgrund der in der Regel zeitlich begrenzten Deutschlandaufenthalte wurde zu gegebenem Zeitpunkt das Thema Rückkehr konkret, so auch für Otto, der 1925 nach Südwestafrika zurückging. Im Folgenden werden die Reaktionen verschiedener Familienmitglieder auf seine Rückkehr und seinen weiteren Lebensweg in Südwestafrika analysiert. Die grenzüberschreitende Mobilität löste Verunsicherung hinsichtlich seiner Zugehörigkeit aus, an die verschiedene Akteurinnen und Akteure ihre Vorstellungen von ‚Heimat‘ knüpften. In Anlehnung an Natalia Donig und Sarah Scholl-Schneider wird ‚Heimat‘ verstanden als „[…] soziale[s] Konzept, das aus der spezifischen Beziehung eines Individuums oder einer Gruppe zu bestimmten geografischen oder imaginären Räumen resultiert. Diese Beziehung ist aber nicht beständig, sondern einem historischen Wandel unterworfen […].“ 89 Solch eine Unbeständigkeit lässt sich auch am Beispiel der Hälbich-Nachkommen erkennen. Die in Deutschland lebenden Angehörigen bereiteten sich auf Ottos Abschied vor und ließen ihm unterschiedliche Botschaften zukommen. Sein Bruder Edgar reagierte im positiven Sinne neidisch, drückte aber auch seinen Verlustschmerz aus: „Es ist mir nicht leicht, nun ganz auf den näheren Verkehr mit dir verzichten zu müssen und dich in das Land auch meiner Wünsche ziehen zu sehen, ohne daß ich die Aussicht habe bald dorthin zu kommen.“ 90 Vorerst an Deutschland gebunden, 89 Donig/Scholl-Schneider 2009, S. 18. Darüber hinaus verweisen sie darauf, dass eine Beschäftigung mit ‚Heimat‘ „auch eine Annäherung an Symbole, Rituale, Ideen, diskursive und kulturelle Praktiken, die diesen Raum prägen und strukturieren“ bedeutet. Ebd., S. 19. 90 NAN, A.455-524, Edgar Hälbich an Otto, Darmstadt, 14.5.1925, Herv. i.Org.
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versuchte Edgar die bevorstehende räumliche Distanz zu akzeptieren, ließ aber seine Zukunftsperspektive auf Südwestafrika gerichtet. Demgegenüber konnte Ottos Großmutter solch eine Sehnsucht nach und Freude auf Südwestafrika, vor allem aus politischer Perspektive, nur schwer nachvollziehen. „An sich ist der 21. Geburtstag ja schon ein Markstein, wie viel mehr für dich, da mit ihm dein Leben in Deutschland zum Abschluß kommt u. du für ganz […] in die afrikanische Heimat zurückkehrst. Es nimmt mich doch etwas Wunder, daß du so gern nach Südwest gehst, wo du vor 3-4 Jahren als Mensch doch gesehen hast, wie schwer das Leben dort ist besonders unter der jetzigen Regierung. Aber weil Du mit klarem Bewußtsein des Lebens, das dich dort erwartet, gehst, läßt man dich viel getroster ziehen, als wenn Du nur mit den Kindheitserinnerungen hingingest.“91
Die Großmutter deutet hier zunächst auf ihre Sorge hin, Ottos Bild von Südwestafrika beziehe sich zu sehr auf seine Kindheit. Sie spricht ihm insbesondere durch die Benennung seiner juristischen Volljährigkeit das Vertrauen aus, als erwachsener Mann die Konsequenzen seiner Rückkehr zu kennen und auch unter Mandatsherrschaft seinen Weg zu gehen. Umso mehr stellte sie die bevorstehende Familienzusammenführung zufrieden. „Für deine l.[ieben, S.H.] Eltern freue ich mich unendlich, daß du bei ihnen wieder eine Heimat haben wirst.“92 Auffällig ist, dass die Großmutter ‚Heimat‘ mit dem Elternhaus gleichsetzt und zugleich ihr Verweis auf ‚wieder‘ andeutet, dass er diese in Deutschland wohl entbehrt hatte. 93 Dass sich ‚Heimat‘ oder ein Zuhause nicht zuletzt über emotionale Bindungen herstellte, hat auch die Ethnologin Jacqueline Knörr in ihrer Studie über die Erfahrungen heranwachsender deutscher Staatsangehöriger nachgewiesen, die geboren und aufgewachsen in verschiedenen afrikanischen Ländern nach Deutschland zurückkehrten. „To feel at home is not something that comes with being where one’s ethnic or national roots are according to one’s parents descent. It is something that comes with personal and emotional attachment.“94
91 NAN, A.455-524, Großmutter an Otto, Witten, 18.4.1925. 92 Ebd. 93 Vermutlich lag diese Sichtweise auch darin begründet, dass sie selber die Trennung von ihrer Tochter, die ihren Lebensmittelpunkt nach Südwestafrika verlagert hatte, erleben musste. Mit einer erneuten Rückkehr Ottos nach Deutschland rechnete die Großmutter nicht, denn wenige Monate später schrieb sie ihm: „Nun bist du wieder Afrikaner u. wirst’s wohl auch dein Leben lang bleiben.“ NAN, A.455-524, Großmutter an Otto, Witten, 7.9.1925. 94 Knörr 2005, S. 58.
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Große Freude signalisierte auch Ottos Mutter, die bereits fiktive Zwiegespräche mit ihm führe, wie sie ihm einige Monate vor seiner Rückkehr mitteilte.95 Allerdings informierte sie ihn zugleich über ihre Befürchtungen, um ihn vermutlich schon vorab auf mögliche Enttäuschungen vorzubereiten; eine Sorge, die auch bei der Großmutter angeklungen war. „[D]enn wenn Du erst selbst hier bei uns bist, wirst Du, woran ich schon mit Leid denke, wohl manches Enttäuschende sehen, das deinem kindlichen Gemüt vor 3 Jahren noch verborgen blieb. Aber das eine bleibt heute wie damals, mein lieber Otto, treusichere und warme Liebe, die deiner im Elternhause wartet.“96
Unklar bleibt, was genau die Mutter mit ‚manch Enttäuschendem‘ meinte. Offensichtlich war jedoch ihr Signal an Otto, dass sie seinen Erwachsenenstatus anerkannte und sich für ihn die Erfahrung von Unzufriedenheit nicht länger verhindern ließ. Als Angebot der Kompensation markierte sie, ähnlich wie die Großmutter, das Elternaus als einen Ort konstanter Liebe, was sich insbesondere im Hinblick auf den Zustand des Vaters allerdings als Illusion erweisen sollte. Ihre Befürchtungen bezogen sich nicht nur auf seine Wahrnehmung der familiären oder politischen Umstände in Südwestafrika, sondern auch darauf, mit welchen (politischen) Einstellungen er sich in den „neuen, einschneidenden Lebensabschnitt“ einfinden würde:97 „Etwas bangt mir um dich, aber wohl nur weil es so fremd ist, was du vornehmen willst. So oft, wenn ich hier jetzt junge Deutsche sehe, die von drüben herkommen suche ich auf dich sich beziehende Vergleiche anzustellen. Franz Rösemann entpuppte sich kürzlich als ‚Jungdeutscher‘ Hermann gegenüber, der auch einer ist u. gern hier für diesen Orden werben möchte. Hattest du dort mehr davon gehört u. etwa auch Lust bekommen dich anzuschließen?“98
Diese Schilderung der Mutter ist aus mehrfacher Hinsicht aufschlussreich. Sie zeigt zum einen, dass junge Erwachsene, unabhängig davon, ob neu eingewandert oder zurückkehrend, eigene Interessen und Vorstellungen mit nach Südwestafrika brachten, die wiederum der Elterngeneration aufgrund von Uneinschätzbarkeit oder auch Unbekanntheit suspekt erschienen. Der von Soldaten im März 1920 gegründete Jungdeutsche Orden, dem die beiden jungen Männer angehörten, war eine Reaktion auf den Ersten Weltkrieg, sodass die Eltern in Südwestafrika diesen gar nicht kennen konnten. Nationalistisch ausgerichtet und auf Ideen der deutschen Jugendbewe95 Vgl. NAN, A.455-524, Mutter an Otto, Karibib, 29.4.1925. 96 Ebd., 7.12.1924. 97 Ebd., 11.1.1925. 98 Ebd.
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gung rekurrierend sah er seine Aufgabe darin, den „Wiederaufbau des geliebten Vaterlandes zu schützen und für die sittliche Wiedergeburt des deutschen Volkes zu kämpfen.“99 Dass auch Otto Interesse an dem Orden entwickelte, ist durchaus möglich, stand er doch in Kontakt mit Anita Rösemann, der Schwester von Franz Rösemann. Zum anderen wird deutlich, dass Eltern zwar versuchen konnten, die Entwicklung ihrer Kinder in Deutschland zu beeinflussen, sie diese aber nicht gänzlich kontrollieren konnten. Es blieb ihnen nichts anderes übrig, als sich mit solch neuartigen Vorstellungen ihrer Kinder auseinanderzusetzen und einen Umgang damit zu finden, dass diese möglicherweise andere Perspektiven verfolgten, als sie selbst für diese vorgesehen hatten. Neben den Familienangehörigen wies rückblickend auch sein Freund Robert Fischer auf Ottos Wunsch hin, nach Südwestafrika zurückzukehren,100 wenngleich fraglich bleibt, inwiefern er diesen Schritt nur aus freier Entscheidung getan hatte. Denn wie schon weiter oben skizziert, hatte Otto, seinem Bruder Joachim zufolge, die eigenen Wünsche zurückstellen müssen, um in das Geschäft des Vaters einzusteigen. Fest steht, dass ihm Familienmitglieder nach seiner Rückkehr viel Anerkennung zuteilwerden ließen. Sein Bruder Edgar billigte ihm trotz des Trennungsschmerzes zu, „schon tüchtig im Geschäft [zu, S.H.] arbeiten, dem guten Papa eine starke Hilfe [zu, S.H.] sein und bald ein großer Baas [zu, S.H.] werden, auf den seine Brüder nur mit Ehrfurcht schauen können.“101 Seine Tante Auguste bezeichnete ihn als „tüchtige Hilfe“ des Vaters.102 Allerdings schien Ottos beruflicher Erfolg im Laufe der Zeit von psychischen Problemen begleitet gewesen zu sein, wenngleich diese nicht von permanenter Dauer sein sollten. Auf seine Klagen nach etwa zweijähriger Rückkehr reagierte sein Bruder Edgar zunächst mit großer Sensibilität: „Über diese geistige Einsamkeit, die Dich umgibt klagst Du besonders. Von Menschen, die ihr zum Opfer gefallen sind, oder dem langsam entgegengehen, erzählst Du und meinst, daß Du selbst nicht mehr die Kraft hast, Dich des drohendes Geschickes zu erwehren. Ich verstehe das alles sehr wohl und glaube Dir, daß es so ist, daß z.B. Papa, der sein ganzes Leben unter derartigen niederdrückenden, ewig wiederkehrenden, äußeren Eindrücken verbracht hat, dieser Vereinsamung zum Opfer gefallen ist.103
99
Gründungssatzung des Jungdeutschen Ordens, zitiert nach Werner/Ballerstedt, 1974, S. 976. Für einen kurzen Abriss zur Geschichte des Jungdeutschen Ordens vgl. ebd., S. 976-980.
100 Vgl. NAN, A.455-524, Robert Fischer an Otto, Wandsbek, 30.3.1927. 101 NAN, A.455-524, Edgar Hälbich an Otto, Darmstadt, 21.7.1925. 102 NAN, A.455-524, Auguste Hälbich an Otto, Biebrich, 14.12.1925. 103 NAN, A.455-524, Edgar Hälbich an Otto, Armdorf, 26.5.1927.
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Hatten Familienmitglieder bislang vor allem wirtschaftliche Aspekte als Grund für beschwerliche Lebensverhältnisse in Südwestafrika benannt, so wird nun eine psychische Dimension eingeführt, die innerhalb der Familie deutliche Auswirkungen zeigte. Durch die kontinuierliche Schwere des Alltags hatte der Vater die Gefahr der ‚geistigen Einsamkeit‘, wie Edgar es nennt, offensichtlich nicht abwenden können, eine Gefahr, von der sich nun auch Otto bedroht fühlte. Unklar bleibt, was mit dem Begriff genau gemeint war. Feststellen lässt sich jedoch, dass es eine Parallele zur Debatte über die Bildungsaufenthalte für Siedlernachkommen in Deutschland gab. Hier warnten Repräsentantinnen und Repräsentanten der deutschen Siedlerbevölkerung vor der Monotonie des Alltags und dem eingeschränkten sozialen Umfeld, leiteten daraus jedoch weniger die Angst vor psychischen Problemen als vor der Beeinträchtigung geistiger Fähigkeiten ab. Als wesentlichen Ausweg aus dieser Gefährdung betrachteten sie die Deutschlandaufenthalte. In seinen weiteren Ausführungen betonte Edgar, die problematische Entwicklung erkannt zu haben. Er versuchte, Otto mit einer in die Zukunft weisenden Perspektive Mut zuzusprechen: „Du meinst, daß ich das wahrscheinlich nicht so bemerkt hätte und warnst deshalb, nur ja nicht früher als nötig nach Afrika zu kommen. Ich kann aber sagen, daß ich das, als ich drüben war, wohl gesehen habe und mir seitdem klar ist, welches Maß an geistiger Aufnahmefähigkeit und welche Kraftreserven man besitzen muß, wenn man drüben nicht im zermürbten Stumpfsinn versinken will. Man muss aber bedenken, daß mit dem Fortschritt des Landes, der doch einmal kommen muß, neues Leben und frisches Blut dorthin kommen wird und damit die äußeren Voraussetzungen des heutigen Verfalls fehlen werden.“ 104
Signalisierte Edgar hier einerseits großes Verständnis für die Anstrengungen, die es zur Abwehr eines beginnenden ‚Stumpfsinns‘ benötigte,105 so war er andererseits hoffnungsvoll gegenüber Otto. Aus seinen etwas nebulösen Formulierungen lässt sich deuten, dass kommender Fortschritt das Land für Neueinwandernde attraktiv machen sollte, die dann dem stattfindenden ‚Verfall‘ ein Ende setzen würden. Darüber hinaus umriss seine Beschreibung vom Niedergang allerdings gerade das Gegenteil von dem, was den kolonialen Jugendgruppen in Deutschland vermittelt wurde. Sie sollten nämlich die erfolgreiche Arbeit der ‚Kolonialpioniere‘ fortsetzen. Über seine Probleme kommunizierte Otto weniger offen mit seiner Mutter. Dies belegen Briefe, die sie während ihrer Deutschlandreise zwischen März und Sep104 Ebd. 105 Auch andere Familienangehörige waren vom dortigen Leben ‚gezeichnet‘. Edgars Onkel Wilhelm sollte einen Winter lang zur Erholung in Deutschland bleiben, da er durch die Zeit in Südwestafrika „verbraucht“ erschien. NAN, A.455-524, Edgar Hälbich an Otto, Darmstadt, 28.8.1928.
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tember 1928, also in einer Zeit erneuter Trennung, an ihn schrieb. Als er sie vor ihrer Abreise einen „kurzen aber schmerzhaften Blick in [s]eine Kämpfe tun ließ[…]“, musste sie feststellen, dass er ihr nicht vertraute und sie nicht in seine Sorgen einweihte.106 Die Mutter erläuterte ‚seine Kämpfe‘ nicht näher, allerdings bestätigt der Umstand als solcher, dass ihm das Leben in Südwestafrika viel abverlangte. Möglicherweise hingen seine Probleme nicht zuletzt mit dem schwierigen Verhältnis zum Vater zusammen, in dem es Otto zumindest gelang, sich von dessen Handlungen nicht persönlich treffen und verbittern zu lassen.107 Wie aus Edgars Brief bereits hervorgegangen ist, warnte ihn Otto aufgrund der skizzierten niederdrückenden Umstände vor einer verfrühten Rückkehr nach Südwestafrika. Allerdings eröffnete sich in der nachfolgenden Zeit auch für Otto ein Ausweg. Während ihm die Mutter aus seiner Niedergeschlagenheit nicht hatte heraushelfen können, so schien vielmehr die Gründung einer eigenen Familie sein Schlüssel für neuen Lebensmut zu sein. Seine Verlobung mit Antonie Ufer Ende 1928 und die folgende Hochzeit hatten seine Gemütslage verändert. Im März 1930 verglich sein Hamburger Freund Robert Fischer, einer der zahlreichen Gratulanten, diese neue Lebensphase mit Ottos Vorstellungen fünf Jahre zuvor: „Eine schöne junge Frau, die Dich verwöhnt und die Du verwöhnen darfst, ein eigenes Haus und ein grosses Arbeitsfeld, das trotz aller Widrigkeiten der Zeit Zukunftsaussichten eröffnet, das alles scheint mir übergenug, um das Leben lebenswert zu machen. Ich kann auch sehr wohl verstehen, dass Dir Deine Ideale von 1925, als da sind: Einsiedlerdasein oben im Erongogebirge, verschönt durch einen guten Weinkeller und Wilhelm Busch’s gesammelte Werke, jetzt ein Lächeln entlocken. Womit im übrigen keineswegs gesagt werden soll, dass Du auf besagten Weinkeller verzichten musst. Im Gegenteil, sollte mich mein Weg eines Tages wirklich in Dein vielgelobtes Affenland führen, hoffe ich sehr, mit einem guten Tropfen erquickt zu werden.“108
In dieser plakativ-ironischen Kontrastierung von Ottos Idealen vor seiner Rückkehr mit dem jetzigen Eheleben pointierte Robert dessen veränderte Einstellung. Vermutlich wurden Ottos Wünsche, wie realistisch sie auch immer gewesen sein mögen, in Südwestafrika mit einer Realität konfrontiert, die großen Anteil daran hatte, dass er ein bürgerliches Familienideal letztlich für erstrebenswert hielt. Dement106 NAN, A.455-524, Mutter an Otto, o.O., 28.3.192[8, S.H.]. 107 Vgl. NAN, A.455-524, ohne Unterschrift [Mutter, S.H.] an Otto, Schwalbach, 10.5.1928. 108 NAN, A.455-524, Robert Fischer an Otto, Wandsbek, 30.3.1930. Auch Roberts Vater verwies an anderer Stelle darauf, dass Otto seine Grundsätze einer „gründlichen Revision“ unterzogen habe. NAN, A.455-524, Fischer und Lenz an Otto, Hamburg, 28.1.1929.
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sprechend inszenierte Robert das Bild einer wohlhabenden Siedlerfamilie, in der sich die Eheleute als Arbeitspaar ergänzen. Die große Bedeutung des neuen Lebensabschnitts signalisierte Otto fortan auch gegenüber anderen. Er mache „starke Propaganda fuer die Ehe“, wie er im März 1930 an den nach Deutschland zurückgekehrten Rudolf Orlich schrieb.109 Es ist naheliegend, dass die Entscheidung für das Ehe- und Familienleben auch dazu beitrug, dass er trotz der durchlebten beschwerlichen Lebensphase seine Verbundenheit mit Südwestafrika zunehmend intensivierte. Gegenüber Orlich begründete er dies einerseits mit dem Motiv der Sehnsucht, andererseits mit der politischen Entwicklung in Deutschland: „Sie haben also Ihre Afrikaner-Periode abgebroche [sic] und sind wieder in unser liebliches Deutschland zurueckgekehrt. Wenn sie auch augenblicklich nur zu gewissen Zeiten Sehnsucht nach Afrika haben, so bin ich doch ueberzeugt, dass diese Sehnsucht bald zu einem Dauerzustand werden wird. Ich für mein [Teil, S.H.] moechte jedenfalls unter keinen Umständen bei den wahnsinnigen Zuständen drüben laenger verweilen. Allerdings haben wir auch hier nichts zu lachen. […] Unser lieber Mandatar kuemmert sich natuerlich jetzt den Deubel um uns.“110
Das sich aufbauende Gefühl der Sehnsucht, das Otto hier benennt, hatte er während seines Deutschlandaufenthaltes wahrscheinlich selbst durchlebt. Wie es dazu kam und sich letztlich ausdrückte, erläutert er nicht. Bedeutsam ist daran, dass Otto nicht der einzige war, der sich auf das Motiv der Sehnsucht bezog. Es war zentraler Bestandteil in den Selbstverortungsprozessen von Siedlerfamilien und ihren Nachkommen. Im Vordergrund stand weniger, die eigenen Gefühlszustände auszudrücken, sondern es ging vielmehr darum, eine tiefe Verbundenheit mit Südwestafrika herzustellen und diesen Raum als identitätsstiftend zu kommunizieren. 111 In der einige Monate später folgenden Antwort untermauerte Orlich mit konkreten Beispielen Ottos Einschätzung über die gesellschaftlichen Entwicklungen in Deutschland. Über schlechte Arbeitschancen und schlechte Bezahlung klagend kam Orlich zu folgendem Schluss: „Solch eine Armut und solches Elend hatte ich mir tatsaechlich nicht vorgestellt, als ich seinerzeit nach Deutschland zurueckkehrte und Sie koennen froh sein, drueben zu sitzen, wenn Sie manchmal auch nichts zu lachen haben, aber dieser dauernde Parteiklamauk und das Mitansehen des langsam und stetig hinsiechenden Vaterlandes ist alles andere als schoen. Wenn man so mitten drin sitzt, dann koennte man sich manchmal richtig schaemen ein Deutscher zu 109 NAN, A.455-524, Otto an Rudolf Orlich, Karibib, 31.3.1930. 110 Ebd. 111 Vgl. dazu Abschnitt 5.3.
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sein. […] Ich bin ja fest davon überzeugt, dass es kurz ueber lang zu einem maechtigen Umschwung kommen wird, entweder Bolschewismus oder Diktatur, hoffen wir das Letztere und hoffen wir, dass dann ein MANN an der Spitze steht und kein Waschlappen.“ 112
In Orlichs Art der Argumentation wird deutlich, dass er die Weimarer Republik mit ihren demokratischen Strukturen für die Armut der Bevölkerung verantwortlich machte. Er verwies nicht, was in dieser Zeit naheliegend gewesen wäre, auf die Weltwirtschaftskrise, deren Auswirkungen Ende 1930 anhielten. Da ihm die Weimarer Republik, die für ihn vor allem ‚dauernden Parteiklamauk‘ und ein ‚hinsiechendes Vaterland‘ bedeutete, eine positive Identifikation als ‚Deutscher‘ nicht mehr möglich erscheinen ließ, hoffte er auf den Übergang in eine Diktatur und sprach sich damit für totalitäre Strukturen aus. Das hier entworfene negative Bild konterkarierte zudem die Debatte über die Bildungsaufenthalte der Siedlernachkommen. Wie sollten sie in solchen Verhältnissen zu ‚wahren Deutschen‘ erzogen werden? Dass dennoch Deutschlandaufenthalte für Siedlernachkommen gefordert und gefördert wurden, zeigt, dass die an der Debatte beteiligten Akteurinnen und Akteure auf die gesellschaftlichen Verhältnisse in Deutschland kaum Bezug nahmen. Ihre Argumentation bauten sie auf fiktiven Vorstellungen auf. Anknüpfend an Ottos durchlebte Krisenerfahrungen wird abschließend die Frage von Identifikation und Zugehörigkeit nochmals aufgegriffen. In dieser für ihn beschwerlichen Zeit reflektierte auch eine Freundin von ihm, Anita Rösemann, über die Auswirkungen ihrer Migrationserfahrungen. Der Geograf Andreas Pott weist darauf hin, dass Individuen oder Gruppen bei ihrer alltäglichen Identitätskonstruktion Raum- und Ortsbezüge herstellen (können), dass also „Orte bzw. Ortsbezüge als individuelle oder kollektive Identitätsanker fungieren können. Sie bedienen das Bedürfnis nach Sicherheit, Sinn und Kohärenz. Sie können Identitätsentwürfe und Identitätsexperimente erlauben, aber auch einschränken oder verhindern.“ 113 Weiterführend betont Pott, dass sich insbesondere Menschen, die sich grenzüberschreitend bewegen, „oftmals nicht mehr den als stabil vorgestellten (territorialisierten) Kulturen eines Dort und eines Hier“ fügen.114 Vielmehr beziehen sie sich in der Regel auf ein „Hier-wie-Dort, ein Sowohl-als-Auch“, sodass es mitunter zu einer „narrative[n] Deplatzierung und Neusituierung“ kommen kann, die allerdings nicht als Verlust empfunden werden muss.115 Solch eine Deplatzierung lässt sich auch bei Anita Rösemann beobachten, die im August 1928 Otto ihre ambivalente Gefühlslage von Deutschland aus wie folgt schilderte:
112 NAN, A.455-525, Rudolf Orlich an Otto, Berlin, 22.10.1930, Herv. i. Org. 113 Pott 2007, S. 30. 114 Ebd., S. 31. 115 Ebd.
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„[…] [N]och oft bekomme ich doch Heimweh nach drüben. Ich habe versucht dagegen anzukämpfen, aber es ist schwer. […] Ich weiß und glaube bestimmt, dass ich mich drüben auch nicht so ganz glücklich wieder fühlen werde. […] Aber Südwest ist meine Heimat, ich bin zu fest mit der Natur drüben verwachsen, als daß ich Dtschl. jemals vorziehen würde. Hier befällt mich das Heimweh und drüben das Verlangen nach Musik, Theater und dergleichen. Ich stehe jetzt dadurch, daß ich ein so völlig anderes Leben hier kennen gelernt habe, zwischen zwei Feuern und werde nirgends so richtig zufrieden sein. Glaubst du, daß du hier so ganz zufrieden sein könntest? Ist nicht bei Irmgard [Ottos Cousine, S.H.] schon diese Unzufriedenheit ein wenig davon? Wohl erst dann, wenn man sein eigenes Heim irgendwo aufgeschlagen hat, wird man zufriedener und ruhiger werden!“116
Zu diesem Zeitpunkt war für Anita ein dauerhaftes Leben in Deutschland keine Option. Allerdings wird deutlich, dass sie ihr Verlangen nach kultureller Unterhaltung ebenso wenig unterdrücken konnte wie die Sehnsucht nach dem Raum Südwestafrika, der für sie ‚Heimat‘ darstellte und mit dessen Natur sie sich vor allem verbunden fühlte. Demzufolge hatte ihr Aufenthalt in Deutschland zu dem Wunsch eines Sowohl-als-Auch geführt, verbunden mit einer inneren Zerrissenheit, die sie als ‚zwischen zwei Feuern‘ oszillierend beschrieb. Allerdings schien es aus dieser Gefühlslage einen Ausweg zu geben, der den Erfahrungen Irmgards zufolge in der Gründung eines ‚eigenen Heims‘ lag oder zumindest liegen konnte.117 Auffällig ist an dieser Beobachtung, dass Otto eine vergleichbare Erfahrung durchlebt hatte. Etwa ein Jahr später begann bei Anita das Argument der starken Naturverbundenheit mit Südwestafrika ins Wanken zu geraten: „Deinen Rat, die Schönheit Deutschlands in mir aufzunehmen, habe ich befolgt, und ich muß sagen, dass es mir hier jetzt ganz gut gefällt. Ich fürchte schon, dass es mir drüben, wenn ich noch gar lange bleibe, nicht mehr so recht gefallen wird.“118 Dennoch hielt sie, ohne ihre Gründe näher zu erläutern, an einer Rückkehr fest und hoffte mit ihrem Vater von Karibib nach Okangava ziehen zu können, denn „[i]n Karibib hat man ja schließlich auch nicht mehr, sondern ist ja doch nur immer Gegenstand zum Klatsch. […] Worüber sollte man sich denn drüben auch unterhalten? Da kommen 116 NAN, A.455-524, Anita Rösemann an Otto, Berlin-Friedenau, 15.8.1927. 117 Irmgard lebte seit spätestens 1929 mit ihrem Ehemann in Johannesburg, was zeigt, dass junge Hälbichs ebenso wie andere Siedlernachkommen die Südafrikanische Union für ihre Zukunftsgestaltung nutzten. Bei Irmgard ist allerdings davon auszugehen, dass sie ihrem Mann dorthin folgte, schrieb sie doch, dass es ihr dort als „Hausfrau“ gut ginge, sie also keinen Beruf ausübte. NAN, A.455-524, Irmgard an Otto, Johannesburg, 1.10.1929. In dieser Rolle bewegte sie sich zugleich im Rahmen des in der kolonialen Jugendarbeit propagierten bürgerlich-konservativen Geschlechtermodells. 118 NAN, A.455-524, Anita Rösemann an Otto, Bad Lauterberg, 11.7.1928.
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ja doch nur die lb. Nachbarn immer in Frage u. besonders jetzt die heutige ‚verdorbene‘ Jugend. ‚O, diese Jugend von heute‘, die bringt selbst hier die alten Damen noch in Aufregung.“119
Aus Anitas Kritik an dem Ort Karibib lassen sich zwei Aspekte ablesen, die zugleich mit ihrem Aufenthalt in Deutschland verknüpft sind. Im Unterschied zum dort verfügbaren kulturellen Angebot würde sie im südwestafrikanischen Karibib erstens ein uninspirierter, von ‚Klatsch‘ geprägter Alltag erwarten. Zweitens wäre sie als Heranwachsende ganz besonders im Visier, denn wie in Deutschland musste sich offensichtlich auch die junge Generation in Südwestafrika mit dem Vorwurf der Verdorbenheit auseinandersetzen. Zwar ging Anita auf die Lebensumstände in Okangava nicht weiter ein, für sie schien es aber von den beiden Orten die bessere Option zu sein. Eine Bewertung der jungen Generation in Südwestafrika nahm schließlich auch Ottos Mutter vor, die in einem Vergleich mit Heranwachsenden in Deutschland deutlich positiver ausfiel, als es aus Anitas Schilderung hervorgeht. Während Ottos krisenhafter Phase teilte sie ihm von ihrer Deutschlandreise folgende Beobachtungen mit: „Wenn ich […] in Hagen sah, wie Schüßlers Söhne ganz selbständig ihrem Vergnügen u. Einladungen nach gingen, auch sonst hier hörte, wie die jg. Leute meist ihren eigenen Weg gehen, ohne die Eltern zu fragen oder ihnen auch nur Bescheid zu geben, so ziehe ich natürlich Vergleiche mit uns drüben – du weißt, wie ichs meine – schlauer […] für die Eltern u. gewinnbringender für die Kinder scheint mir doch unsere Art; nur daß für uns es so viel schwerer ist der Jugend die nötige Freude u. Förderung zu bieten als hier: Vielleicht kommt uns Alten doch noch einmal eine etwas sorglosere Zeit, in der wir dich freieren Herzens nur noch begleiten auf deinem eigenen Weg.“120
Es ist offensichtlich, dass der Mutter das eigenständige und wenig kontrollierte Verhalten von Jugendlichen in Deutschland missfiel und sie demgegenüber die größere Einflussnahme von Eltern in Südwestafrika bevorzugte. Zugleich war ihr aber bewusst, dass dieser jungen Generation in nur unzureichendem Maße die ‚nötige Freude und Förderung‘ zur Verfügung stand, wodurch auch sie die Nachteile in Südwestafrika einsehen musste. Alles in allem dominierte bei der Mutter eine sorgenvolle Perspektive, die sie bislang daran gehindert hatte, Otto seinen eigenen Weg gehen zu lassen. Wie sich hier insbesondere am Beispiel von Otto, aber auch von Anita Rösemann gezeigt hat, führte die grenzüberschreitende Mobilität hinsichtlich der Frage 119 Ebd. 120 NAN, A.455-524, Mutter an Otto, Biebrich, 22.4.1928, Herv. i. Org.
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von Zugehörigkeit zu Unsicherheiten und Uneindeutigkeiten. Die Vergleichsmöglichkeiten beider Länder lösten ambivalente Gefühle aus. Gegenüber standen sich in Deutschland und Südwestafrika das kulturelle Angebot und die geistige Einsamkeit, die neuen Erfahrungen und die territoriale Verbundenheit. Einen Ausweg aus dieser Zerrissenheit, die insbesondere Otto durch seine psychischen Probleme durchlebt hatte, schien erst die eigene Familiengründung zu bieten. Mehrheitlich fühlten sich die Heranwachsenden so stark mit ihrem Geburtsland (Deutsch-)Südwestafrika verbunden, dass für sie ein dauerhaftes Verbleiben in Deutschland keine denkbare Option darstellte. In der Gesamtschau betrachtet waren die Bildungsaufenthalte der jungen Generation in Deutschland wiederkehrender Bestandteil der Familiengeschichte Hälbich, durch die sich in der Zeit der Weimarer Republik enge Verbindungen zwischen den beiden Ländern Südwestafrika und Deutschland etablierten. Wie nun setzten sich die Einstellungen von Elternteilen zu den verbandlich-institutionellen Kolonialvorstellungen ins Verhältnis? Erstere griffen Aspekte aus der Sozialisationsdebatte wie den Schutz vor südafrikanischer Einflussnahme zwar auf, diese waren für sie aber kaum handlungsweisend. Während bei ihnen die von den Kolonialverbänden prominent geforderte Verinnerlichung ‚deutscher Kultur‘ wenig Erwähnung fand, betonten sie eine Erziehung der Heranwachsenden zu guten Christen, einhergehend mit Enthaltsamkeit und Widerstand gegenüber Sündhaftigkeit. Vor allem betrachteten die Hälbich-Eltern Deutschland als Ressource für die schulische und berufliche Qualifizierung ihrer Kinder und versuchten, auf die Wahl und Gestaltung in Form von Zeitpunkt und Dauer entsprechenden Einfluss zu nehmen. Nicht allen Eltern standen die gleichen Finanzkapazitäten für die Aufenthalte zur Verfügung. Daraus resultierten ungleiche Mobilitätsmöglichkeiten der Familienzweige und unter Geschwistern, die sich allerdings eher in Zeitverzögerungen äußerten und nicht zu einer gänzlichen Verhinderung führten. Die Analyse der Bezugsräume, die sich auf die vier Hälbich-Brüder Edgar, Otto, Walter und Joachim fokussierte, hat verdeutlicht, dass für sie die im kolonialverbandlich-institutionellen Rahmen geforderte Rolle als zukünftige Repräsentanten ‚deutscher Kultur‘ keine Priorität hatte. Deren Aneignung spielte in ihrem Wahrnehmungshorizont kaum eine Rolle. Hingegen legten sie übereinstimmend mit diesen Vertreterinnen und Vertretern großen Wert auf eine gute Schul- und Berufsausbildung, mit deren Wahl sie sich sorgfältig auseinandersetzten und in die sie insgesamt viel Zeit investierten. Diese Schwerpunktsetzung und Handlungsorientierung verknüpften sie im Unterschied zur kolonialverbandlich-institutionellen Interessenlage nicht mit politischem Engagement für eine Rückkehr in den alten Kolonialstatus, auch wenn es diesen Wunsch gegeben haben mag. Vielmehr waren die Brüder
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von den Logiken der großfamiliären Zukunftsplanung geprägt,121 die manchen Nachkommen eine Mitarbeit im elterlichen Geschäfts- und Farmbetrieb zuwies. Von den Anforderungen der Eltern lösten sie sich nicht grundlegend ab, stellten sie allerdings punktuell infrage, was in den Handlungsweisen der Brüder nicht nur zu Gemeinsamkeiten führte. Sie teilten miteinander, dass sie Familienlogiken tendenziell akzeptierten und eigene entgegenstehende Wünsche eher im Verborgenen diskutierten oder verfolgten. So schien es offen ausgetragene Konflikte zwischen den Familienmitgliedern kaum zu geben und eher eine Atmosphäre des Misstrauens vorzuherrschen. Edgar musste als ältester Bruder die Verantwortung für das von Finanznöten geprägte Haus in Biebrich übernehmen, kompensierte diese Sorgen allerdings zeitweise mit heimlichem Vergnügen. Der jüngste Bruder Joachim versuchte Edgars und Walters freie Berufswahl auch für sich durchzusetzen, allerdings weniger im offenen Konflikt mit seinen Eltern, sondern mithilfe des zweitältesten Bruders Otto. Darin lassen sich Schritte der Brüder zur Abgrenzung gegenüber der Erwachsenengeneration und hin zu Autonomiebestrebungen erkennen, die sich mit dem geäußerten Wunsch nach finanzieller Unabhängigkeit verstärkten. Unterschiede wiederum zeigten sich in ihrem Engagement, das ihr Interesse für politische Themen kennzeichnete, in dem eine aktive Unterstützung für kolonialrevisionistische Bestrebungen allerdings keinen Platz fand. Walter äußerte eher Vorbehalte gegenüber seiner Meinung nach mehrheitlich fantasiegeprägten kolonialen Publikationen und unterstützte freistudentische Aktivitäten. Hingegen beabsichtigte Edgar seine Wahlstimme der NSDAP zu geben, die für die Kolonialverbände bekanntlich eine Konkurrenz darstellte. Aufschlussreich war darüber hinaus, dass für Edgar und seinen Onkel Johannes die jüdische Bevölkerung als Sündenbock für finanzielle Schwierigkeiten des Hälbich-Geschäfts fungierte, was auf die Externalisierung familieninterner Probleme verweist. Das Haus in Biebrich, das als familiärer und erweiterter ‚kolonialdeutscher‘ Interaktionsraum fungierte, nutzten verschiedene Hälbich-Nachkommen eher zur mentalen Bezugnahme auf ihr Herkunftsland Südwestafrika, worauf ihre Zukunftsvorstellungen mehrheitlich gerichtet blieben. Weniger erfüllte es die Funktion, innerfamiliäre Vertrautheit herzustellen. Ihre Mobilitätserfahrungen riefen (Gefühle von) Verunsicherung und Deplatzierung hervor, die eindeutige Zuordnungen von ehemaliger Kolonie und Metropole verschwimmen ließen. Daraus resultierte wiederum der Wunsch nach Auflösung dieser Zerrissenheit, was einige über die eigene Familiengründung realisierten. Neben diesen mobilitätsbedingten biografischen
121 Auf den hohen Stellenwert der Familie weist auch Brigitta Schmidt-Lauber bei Deutsch-Namibierinnen und -Namibiern hin: „Die ‚natürlichen‘, von Geburt an bestehenden Beziehungen verpflichten zu Solidarität und kritikloser Übernahme von Werten.“ Schmidt-Lauber 1998, S. 347.
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Veränderungsprozessen deutete die Mitnahme neuer politischer Ideen durch die junge Generation auf ihre Erneuerungsabsichten in Südwestafrika hin. Die Großfamilie Hälbich baute ihre transnationalen Familienstrukturen weitgehend unabhängig von der kolonialverbandlich-institutionellen Infrastruktur auf. Zwar distanzierte sie sich mehrheitlich von den neuen demokratischen Rahmenbedingungen in Deutschland und der Mandatsverwaltung in Südwestafrika, eine aktive Unterstützung für die Arbeit der Kolonialverbände resultierte daraus allerdings nicht. Die jungen Hälbichs bewegten sich in einem Spannungsfeld von Familieninteressen sowie eigenen Wünschen und Handlungsorientierungen. Ihre Zukunft planten sie ohne das Hochhalten der Kolonialvergangenheit bzw. der Forderung nach Kolonialrevision.
Schlussfolgerungen
Mit dem Kolonialrevisionismus setzte sich die deutsche Kolonialgeschichte in der Weimarer Republik fort. Dies zeigte sich insbesondere an den Aktivitäten von Kolonialverbänden und Parteien sowie an der kolonialen Infrastruktur. Auch die Alltagswelt der deutschen Gesellschaft blieb maßgeblich durch Filme, Literatur, Veranstaltungen und Völkerschauen von kolonialen Vorstellungen beeinflusst. Gleichzeitig rangen nach der Transformation der Kolonie Deutsch-Südwestafrika in das Mandatsgebiet Südwestafrika Angehörige der dort verbliebenen deutschen Siedlerbevölkerung um kulturelle und nationale Autonomie. Bislang richtete sich das Forschungsinteresse für diese erste postkoloniale Phase in beiden Kontexten weitgehend auf Akteursgruppen, die schon vor 1919 an der deutschen Kolonialherrschaft beteiligt gewesen waren. Weniger im Blick war die Gruppe, die für eine von Kolonialrevisionistinnen und -revisionisten beharrlich geforderte koloniale Zukunft bereitstehen sollte: die junge Generation. Bisherige Untersuchungen konzentrierten sich auf koloniale Akteursgruppen, Diskurse und Imaginationen in Deutschland oder auf die deutsche Siedlerbevölkerung in Südwestafrika. Die nicht zuletzt durch Bildungsaufenthalte geschaffenen anhaltenden Verbindungen zwischen ehemaliger Kolonie und ehemaliger Metropole sowie neu entstandene Infrastrukturen wurden kaum analysiert. Anders formuliert: Wie sich das Fortwirken des Kolonialismus als Beziehungsgeschichte zwischen Deutschland und Südwestafrika vollzog, fand bislang nur selten Berücksichtigung. Dieses Forschungsdesiderat hat die Studie aus einer akteurszentrierten Perspektive anhand der Diskurse und Praktiken der kolonialen Jugendbewegung sowie der Organisation temporärer Deutschlandaufenthalte für Siedlernachkommen bearbeitet. Das wahrgenommene Verhältnis zwischen den Generationen wurde anhand folgender Fragen untersucht: Wie sollten Jugendliche und junge Erwachsene in verbandlich-institutionellen und familiären Netzwerken für eine (post-)koloniale Zukunft geformt werden? Inwiefern grenzten diese sich ab und entwickelten eigene Positionen und Identifikationsweisen? Und inwieweit schufen sie sich in diesem Zusammenhang individuelle und kollektive Interaktionsräume sowie ‚Räume von
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Bedeutung‘? Um die Ausgestaltung der Beziehungen zwischen ehemaliger Kolonie und Metropole und die Konfigurationen dieses Beziehungsraumes herauszuarbeiten, standen folgende Fragen im Mittelpunkt: Wie gestalteten sich die Verbindungen zwischen Deutschland und Südwestafrika im Hinblick auf die Bildungsaufenthalte der Siedlernachkommen? Welche Entwürfe des jeweils ‚anderen‘ waren für die beiden Akteursgruppen relevant und inwieweit widersprachen sie sich? Ausgehend von der Doppelperspektive, dass Jugend sowohl durch gesellschaftliche Vorstellungen und Rahmenbedingungen geformt wird als auch selbst handelt und sich als Akteursgruppe hervorbringt, ließen sich die Differenzen und Widersprüche zwischen Kolonialverbänden und Heranwachsenden sowie zwischen Eltern und Kindern in den Siedlerfamilien aufzeigen. Ehemalige Kolonie und Metropole wurden in einem gemeinsamen Forschungsfeld betrachtet. Dieses bildete die Grundlage, um über die Aktivitäten der kolonialen Jugendbewegung hinaus und anhand der Mobilität von Siedlernachkommen die verbandlich-institutionelle Zusammenarbeit zwischen Kolonialverbänden und Teilen der Siedlerbevölkerung sowie die Umsetzung der Mobilität innerhalb transnationaler Familienstrukturen zu analysieren. Aus dieser Zusammenschau sind nicht nur die disparaten Zukunftsvorstellungen sowie die damit verbundenen und sich durchaus widersprechenden Interessen, Denkweisen und Handlungsorientierungen der beteiligten Akteurinnen und Akteure sichtbar geworden. Es hat sich ebenfalls gezeigt, dass transnationale Familienstrukturen ihren eigenen, nicht unerheblichen Anteil daran hatten, Verbindungen zwischen ehemaliger Kolonie und Metropole herzustellen. Mit der Analyse der mehrfach relationalen Kategorie Jugend ließ sich die Konstruktion von Geschlechter- und Klassenunterschieden in den Selbst- und Fremdentwürfen der Akteurinnen und Akteure herausarbeiten. Daran zeigte sich, dass die Bewahrung eines bürgerlich-konservativen Geschlechtermodells im Vordergrund stand und daraus unterschiedliche Mobilitäts- und Handlungsmöglichkeiten resultierten. Vor dem Hintergrund dieser Forschungsperspektiven führen die folgenden drei Abschnitte die zentralen Ergebnisse der Studie zusammen. Kolonialrevisionismus und intergenerationelle Beziehungen Der verlorene Erste Weltkrieg und der damit einhergehende Beginn der demokratischen Weimarer Republik bedingten eine gesellschaftliche Reorganisation. In der außerparlamentarischen politischen Rechten, zu der auch die Kolonialverbände gehörten, kursierten Diskurse von Verunsicherung und Bedrohung. Mit dem Wegbrechen der alten Gesellschaftsordnung einerseits und dem Verlust der deutschen Kolonien andererseits zeigte sich die Kolonialbewegung in doppelter Weise von dieser Reorganisation betroffen. Bekanntlich hat sich der Kolonialrevisionismus auf der politischen Ebene nicht durchgesetzt und war – so ein Ergebnis dieser Studie – auch
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im Hinblick auf die junge Generation nur bedingt mobilisierungsfähig, obwohl die Kolonialverbände vor allem in sie ihre Hoffnungen setzten. Die Forderung nach Rückgabe der ehemaligen Kolonien diente den Kolonialverbänden nicht zuletzt als Legitimation für ihr eigenes Weiterbestehen, während sich die Mehrheit der Bevölkerung im Verlauf der Weimarer Republik zunehmend desinteressiert zeigte. Als Teil der bürgerlichen politischen Rechten waren die kolonialen Vereine antidemokratische Akteure, die den Verlust der deutschen Kolonien nicht anerkannten. Vielmehr versuchten sie mental an der Großmachtstellung des Kaiserreichs festzuhalten, indem sie ein Phantasma aufbauten, als ob es die Kolonien noch gäbe, und warben für ihre kolonialrevisionistischen Forderungen um gesellschaftliche Unterstützung. Eine wichtige Zielgruppe war die junge Generation. Die Mobilisierung der Kolonialverbände basierte auf einem kolonialen Vergangenheitsdiskurs, mit dem sie Jugendliche an die bereits beendete Kolonialherrschaft der Vorkriegszeit rückbinden wollten. Die neuen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen der Weimarer Republik nahmen sie kaum in den Blick. Somit war die Jugendarbeit der Kolonialverbände von einem instrumentellen Verhältnis zu den Heranwachsenden geprägt. Als eine Art Erziehungsprogramm umfasste sie Wissensvermittlung, körperliche Disziplinierung und das Trainieren verschiedener Fertigkeiten in den lokalen Schulund Jugendgruppen. Eine Reflexion über diese überwiegend rückwärtsgewandte Jugendarbeit einerseits und das Verhältnis zwischen den Generationen andererseits setzte in den Kolonialverbänden erst gegen Ende der 1920er Jahre ein. Ausschlaggebend waren nicht nur der Mitgliederzuwachs der NSDAP, die für die Kolonialverbände zunehmend zur Konkurrenz wurde, sondern auch die Gründung und Aktivitäten der bündisch ausgerichteten Kolonialpfadfinder. Beide repräsentierten ihrem Selbstverständnis nach die junge Generation. Die von Heranwachsenden und jungen Erwachsenen zunehmend geforderte Selbstbestimmung erkannten zwar einige Mitglieder der DKG an, dies führte jedoch keineswegs dazu, dass sich die Kolonialverbände nun an den konkreten Lebenslagen der Heranwachsenden orientierten. Vielmehr beabsichtigten sie, (die Geschichten über) das eigene koloniale Erbe mittels der von ihnen indoktrinierten kolonialen Jugendgruppen auch zukünftig im öffentlichen Diskurs zu verankern. Der Zukunftsentwurf der Kolonialverbände bestand in einem Wiederauflebenlassen der Kolonialvergangenheit, in dem das Neue das Alte sein sollte. Jugend diente ihnen somit vor allem als Projektionsfläche für ihre eigene Forderung nach Kolonialrevision. Bei dieser auf Traditionspflege ausgerichteten Selbstzentrierung der Kolonialverbände verwundert es kaum, dass ihre Jugendarbeit nur von einem kleinen Teil der jungen Generation angenommen wurde. Zugleich stieß ihr von Indoktrination geprägter Politikstil beim Selbstverständnis der Kolonialpfadfinder, die eine Verjüngung des kolonialen Spektrums markierten, an Grenzen. Die an sie herangetra-
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genen kolonialrevisionistischen Vorstellungen veränderten die Kolonialpfadfinder auf ihre eigene Weise. Sie betrachteten koloniale Militärs als Vorbilder, knüpften aber mit der Bezugnahme auf die Schlacht von Langemarck ebenso an den zentralen Mythos der bündischen Jugend als Symbol nationaler Opferbereitschaft junger Männer im Ersten Weltkrieg an. Die Glorifizierung der Kolonialvergangenheit diente der kolonialen Jugendbewegung insgesamt zur Legitimation der zukunftsgerichteten Forderung nach Rückgabe der Kolonien und damit verbunden nach Siedlungsraum. Indem sich die Kolonialpfadfinder allerdings nicht nur auf die ehemaligen Überseegebiete beschränkten, sondern mit ihrer jugendbewegt motivierten Bezugnahme auf den Ritterorden auch Siedlungsraum im Osten Europas beanspruchten, vertraten sie in der kolonialen Jugendbewegung eine eigene Position, die an nationalsozialistische Vorstellungen anschlussfähig war. Mit dieser Sichtweise widersprachen die Kolonialpfadfinder dem Kolonialrevisionismus zwar nicht, sie relativierten aber mit ihrem Blick auf eine größere räumliche Dimension seine Bedeutung. In der Endphase der Weimarer Republik trugen sie zu einer diskursiven Verschiebung des ‚Kolonialen‘ hin zu einer geografischen Enträumlichung bei. Des Weiteren hat die Studie offengelegt, dass die Kolonialpfadfinder nicht beabsichtigten, die Geschichte der alten ‚Kolonialpioniere‘ zu wiederholen, sondern aus ihrem Selbstverständnis heraus Zukunftsvorstellungen entwickelten. Als Teil der bündischen Jugend verbanden sie ihr kolonialpropagandistisches Engagement nicht allein mit der Forderung nach Überwindung der Weimarer Demokratie als Repräsentation des ‚Undeutschen‘, sondern auch mit eigenen (politischen) Sozialisationsvorstellungen. Ihrer Vision einer klassenlosen, auf biologistisch-kulturalistischen Kriterien basierenden ‚Volksgemeinschaft‘, die Deutschland unter Einschluss der ehemaligen Kolonien zu einem großen ‚neuen Reich‘ verhelfen sollte, lag der Selbsterziehungsprozess in ihrem Bund zugrunde. In diesem exklusiven männlichen und bündischen Gemeinschaftsleben sollte weniger ein Abbild des alten ‚Kolonialpioniers‘ geschaffen werden, sondern vielmehr der in die Zukunft blickende ‚neue Mensch‘ in der Idealfigur des nationalistisch eingestellten ‚Freiheitskämpfers‘. Wie andere koloniale Jugendgruppen kritisierten die Kolonialpfadfinder mit kulturpessimistischer Stoßrichtung die moderne städtische Freizeitkultur als Gefahr für die ‚deutsche Nation‘, als deren zukünftige Repräsentantinnen und Repräsentanten sie sich selbst identifizierten. Ihre regelmäßigen Wanderungen und Zeltlager in der Natur betrachteten sie nicht nur als körperliche und geistige Disziplinierungsmaßnahmen. Sie schufen sich damit auch kollektive Interaktionsräume, um verklärende Imaginationen von Orten in den ehemaligen Kolonien anzuregen. Dass sich andere koloniale Jugendgruppen zunehmend an den Praktiken des bündischen Gemeinschaftslebens der Kolonialpfadfinder orientierten, zeigt einmal mehr, dass die an der Vergangenheit orientierten Ansichten der Kolonialverbände ausgedient hatten und für die junge Generation nicht zukunftsfähig waren. Die Entwicklung konkreter Zukunftsperspektiven für Mitglieder der kolonialen Jugendgruppen, die
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auf den real existierenden Bedingungen im Mandatsgebiet basierten, war offensichtlich jenseits ihrer Vorstellungen und letztlich nie beabsichtigt gewesen.1 Nur in wenigen Ausnahmefällen erfolgte ein Aufbruch kolonialbewegter Jugendlicher nach Südwestafrika. Die Kolonialverbände in Deutschland konnten ihre Großmachtbestrebungen nicht mehr in eigenen Kolonialterritorien ausleben und reagierten auf diesen Verlust vor allem mit kolonialen Mythenbildungen. Im Unterschied dazu war es einem Teil der Siedlerbevölkerung in Südwestafrika möglich, weiterhin auf Deutschland als Ressource für ihre Zukunftsgestaltung zu rekurrieren, wenngleich sich mit der Mandatsverwaltung auch für sie die politische Rahmung verändert hatte. Ehemalige Kolonie und Metropole als Interaktionsgeflecht Der Kolonialismus in der Weimarer Republik wirkte nicht allein durch kolonialverbandlich-institutionelle Strukturen weiter, sondern er war auch durch die temporären Bildungsaufenthalte von Siedlernachkommen aus Südwestafrika präsent. Die gemeinsame postkoloniale Rahmung führte allerdings nicht automatisch zu Verbindungen und Begegnungen der verschiedenen Akteurinnen und Akteure, so ein weiteres Ergebnis vorliegender Studie. Vielmehr prägten unterschiedliche Interessen, Orientierungen und Strategien das Geschehen. Die Kolonialverbände bauten zwar zusammen mit bürgerlichen Repräsentantinnen und Repräsentanten der Siedlerbevölkerung eine gemeinsame Infrastruktur für die Bildungsaufenthalte auf und konstruierten Idealbilder für die Siedlernachkommen. Gleichzeitig traten aber Brüche zwischen derartigen diskursiven Vorstellungen und den Handlungsorientierungen von Eltern und Heranwachsenden zutage, die sich an instrumentellen Haltungen bis hin zu unabhängigen Aktivitäten zeigten. Dies verdeutlichte sich exemplarisch in der Korrespondenz der Großfamilie Hälbich, die in der Weimarer Republik bereits auf eine langjährige transnationale Familienstruktur und Erfahrungen in grenzüberschreitender Schul- und Berufsqualifizierung zurückblicken konnte. Ihr Haus in Biebrich existierte weitgehend unabhängig von der verbandlich-institutionellen Infrastruktur und entsprach der von den Kolonialverbänden geforderten temporären Begrenzung der Bildungsaufenthalte kaum. Ausgehend von ihren auf Kolonialrevision gerichteten Zukunftserwartungen versuchten die Kolonialverbände den Umstand, dass die Kolonie zum von der Südafrikanischen Union verwalteten Mandatsgebiet geworden war, mehrheitlich zu ig1
Wie Irmtraud Götz von Olenhusen bezüglich der jungen Generation in der Weimarer Republik konstatiert, habe die „inflationäre[…] Verwendung des Generationenbegriffs“ und zugehöriger Schlagworte eine „[…] Analyse der Probleme der Heranwachsenden verhindert. Stattdessen wurde die junge Generation zum Adressaten verschiedenster Etikettierungen und Erwartungen.“ Götz von Olenhusen 1987a, S. 261.
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norieren und auf die Rücktransformation hinzuwirken. Sie orientierten sich in ihren Vorstellungen kaum an den realen Gegebenheiten vor Ort, sondern wie auch in ihrer Jugendarbeit an einem kolonialen Phantasma. Hingegen musste die dort verbliebene deutsche Siedlerbevölkerung, die ihre Zukunftsperspektiven nicht zuletzt mit Blick auf die junge Generation artikulierte, mit der Mandatsverwaltung ihr Auskommen finden. Zum Sprachrohr der deutschen Siedlerbevölkerung erklärten sich vor allem Vertreter/innen von Vereinen und Institutionen. In der Regel hatten sie einen bürgerlichen Hintergrund, waren aber keine homogene Gruppe. Überzeugt von der eigenen Überlegenheit und dem als ‚weiß‘ und deutsch imaginierten Siedlerkollektiv beabsichtigten auch sie, in die Position der Kolonialmacht zurückzukehren. Ihre daraus resultierenden Distinktionsbemühungen drückten das Streben nach Aufrechterhaltung ‚deutscher Kultur‘ aus und waren insbesondere mit der heranwachsenden Generation als zukünftigen ‚Kulturträgerinnen und Kulturträgern‘ verknüpft. Aus dieser Logik heraus setzten sie sich im Einklang mit Kolonialverbänden aus Deutschland für den Erhalt der vor 1919 entstandenen deutschen Privatschulen ein, die sie als zentrale Instanzen ‚deutscher Kultur‘ betrachteten. Wenngleich sie deren Transformation in Regierungsschulen nur teilweise verhindern konnten, änderte dies kaum etwas an der dominierenden Sichtweise, die kulturelle Abschottung der Heranwachsenden als prioritär zu betrachten. Im Gegenteil: Scharfer Kritik waren diejenigen Eltern ausgesetzt, die ihre Kinder trotz entsprechender Finanzkapazitäten nicht in eine deutsche Privatschule schickten, kam dies doch einem ‚Verrat‘ am Siedlerkollektiv gleich. Diejenigen, die den Besuch der Regierungsschulen weniger als kulturelles Übel identifizierten, sondern daraus für die Siedlernachkommen weiterführende Qualifizierungsoptionen erwachsen sahen, ließen einmal mehr die Illusion eines homogen agierenden deutschen Siedlerkollektivs offensichtlich werden. Diese strategischen Differenzen innerhalb des bürgerlichen Spektrums machten die zusätzlichen Handlungsorientierungen, die der ‚Kolonialverlust‘ hervorbrachte, besonders deutlich. In der Debatte über die Notwendigkeit von Deutschlandaufenthalten für Siedlernachkommen, in der die bürgerlichen Vertreter/innen die Zukunftsperspektiven der jungen Generation verhandelten, zeigten sich zudem ihre Distinktionsbemühungen gegenüber unteren Schichten. Sie wiesen Heranwachsenden die Rolle ‚deutscher Kulturträger/innen‘ zu, betrachteten sie aber gleichzeitig als gefährdete Subjekte: gefährdet durch das vermeintlich Körper und Geist schwächende Klima einerseits und eine mögliche ‚Verburung‘ andererseits. Diese aufscheinenden Ängste vor kultureller ‚Degeneration‘ gingen mit der Sorge um den zukünftigen Erhalt ‚deutscher Kultur‘ einher. Indem die bürgerlichen Diskutantinnen und Diskutanten Kindern aus unteren Schichten eine stärkere ‚Degenerationsgefährdung‘ unterstellten und sie damit als größere Gefahr für das imaginierte deutsche Siedlerkollektiv betrachteten, inszenierten sie sich selbst als Bewahrer/innen ‚deutscher Kultur‘. Konterkariert wurde diese auf der Kategorie Klasse basierende Distinktion aller-
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dings dadurch, dass aus finanzieller Not heraus überwiegend Kinder aus ärmeren Unterschichtfamilien in Südwestafrika blieben. Um die Siedlernachkommen vor den genannten Gefährdungspotenzialen zu schützen, befürwortete die Mehrheit der Diskutierenden mit Unterstützung der Kolonialverbände Bildungsaufenthalte in Deutschland. Sie zielten darauf, dass die Heranwachsenden ‚deutsche Kultur‘ verinnerlichten und sich beruflich qualifizierten, um damit später die eigene Existenz zu sichern. In diesen Vorstellungen spiegelte sich nicht zuletzt der Wunsch, die verlorene politische Herrschaft in Südwestafrika durch eine Dominanzposition auf kultureller und ökonomischer Ebene zukünftig abzufedern. Während also die Jugendarbeit der Kolonialverbände von einem rückwärtsgewandten Phantasma geprägt war, das die tatsächlichen politischen Rahmenbedingungen weitgehend unberücksichtigt ließ, nutzten Teile der Siedlerbevölkerung Deutschland als materielle Ressource zur Zukunftssicherung. Sie hörten allerdings nicht auf, sich gegenüber der Mandatsverwaltung zu distanzieren, und hielten an ihren Vorstellungen von einer Rückkehr zur Kolonialmacht fest. Die in der Debatte über die Bildungsaufenthalte hervorgebrachten Ansichten, die den Akteurinnen und Akteuren auch zur Selbstbestätigung dienten, waren wiederum für Siedlereltern nicht allein oder sogar kaum handlungsleitend. Erstens brachen sich ihre Motivationen und Argumentationen an den diskursiv überformten Sichtweisen. Zwar spielte auch für sie die Frage um den zukünftigen Erhalt ‚deutscher Kultur‘ eine Rolle. Sie teilten mit den Vertreterinnen und Vertretern von Vereinen und Institutionen die Angst vor der viel diskutierten ‚Verburung‘ der Siedlernachkommen und befürworteten eine solide schulische und berufliche Qualifizierung in Deutschland. Gleichzeitig trafen Siedlereltern ihre Entscheidungen aber aufgrund finanzieller Notlagen oder spezifischer familiärer Lebenssituationen. Demnach ist davon auszugehen, dass ihr Rekurs auf dominante Diskursstränge eher mit dem strategischen Wunsch nach finanzieller Unterstützung zusammenhing, aber nicht unbedingt ihre eigentlichen Beweggründe offenlegte. Die in der Öffentlichkeit dominierenden Diskurse über Zustand und zukünftige Repräsentationsfunktionen der Siedlernachkommen trafen sich also nicht immer mit den Denkweisen und Handlungsorientierungen von Eltern. Dies wurde insbesondere daran deutlich, dass sie ein zentrales Argument, nämlich das Argument klimatisch bedingter ‚Degenerationsprognosen‘ für Siedlernachkommen, nicht aufgriffen. Auch für Angehörige der Großfamilie Hälbich spielten andere Aspekte, z.B. eine christliche Erziehung der Heranwachsenden, eine bedeutendere Rolle. Sie beschäftigten sich vor allem mit der schulischen und beruflichen Qualifizierung ihrer Kinder, bei der sie überwiegend die Logiken der großfamiliären Zukunftsplanung zugrunde legten und sich weniger auf die Repräsentanz ‚deutscher Kultur‘ bezogen. Zweitens beschränkten sich manche Siedlereltern nicht allein auf die in der Sozialisationsdebatte dominierende Achse Südwestafrika-Deutschland, sondern bezogen in die Zukunftsplanungen für ihre Kinder auch die Südafrikanische Union mit
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ein. Einige Siedlernachkommen durchliefen dort nach ihrer Schulzeit berufliche Qualifizierungen, wieder andere ließen sich nach ihrer Rückkehr aus Deutschland dort (vorübergehend) nieder. Denn ein Bildungsaufenthalt in Deutschland war letztlich kein Garant für eine existenzsichernde Perspektive in Südwestafrika. In der Tendenz schienen diese Möglichkeiten eher junge Männer zu nutzen, dies auch vor dem Hintergrund, dass sie als zukünftige Familienernährer galten. Diese Nutzung der Südafrikanischen Union lehnten Repräsentantinnen und Repräsentanten der Siedlerbevölkerung im Einklang mit Kolonialverbänden in Deutschland vehement ab und begründeten mit dieser Sichtweise die Notwendigkeit von Deutschlandaufenthalten der Siedlernachkommen. Im Zuge solcher Abgrenzungsbestrebungen rekurrierten wiederum Angehörige der Familie Hälbich auf antisemitische Ressentiments. Sie machten die jüdische Bevölkerung in Südwestafrika und der Südafrikanischen Union zum Sündenbock für finanzielle Schwierigkeiten des HälbichGeschäfts, was ferner auf die Externalisierung familieninterner Probleme verweist. Anknüpfend an diese Erkenntnisse könnten biografiegeschichtliche Forschungen sowohl die Beziehungsgeflechte deutscher Siedler/innen zwischen Südwestafrika, Deutschland und der Südafrikanischen Union als auch ihre Netzwerke darüber hinaus analysieren und die vorliegenden Ergebnisse zu den disparaten Denkweisen und Handlungsorientierungen vertiefen. Die vorliegende Studie hat ehemalige Kolonie und Metropole auch als durch kulturelle Zuschreibungen produzierte ‚Räume von Bedeutung‘ betrachtet. In der Debatte über die Mobilität von Siedlernachkommen setzten die Diskutantinnen und Diskutanten beide Länder auf ambivalente Weise zueinander ins Verhältnis. Hinter diesen variierenden Sichtweisen verbargen sich vor allem verschiedene Argumentationsstrategien, sodass je nach Interessenlage unterschiedliche Facetten betont wurden. Die vereinzelten Kritiker/innen der Deutschlandaufenthalte entwarfen in einem Vergleich Südwestafrika als ruhigen, geordneten und kontrollierbaren Sozialisationsraum und stellten dieses Territorium als von ihnen beanspruchte ‚Heimat‘ in positivem Licht dar. Diese kontrastierten sie mit dem Bild der ‚entarteten Großstadt‘ in Deutschland als Gefahr für die Siedlernachkommen und als eine spezifische Repräsentation von Lebenswelt. Gleichzeitig betrachteten sie Deutschland als Industrie- und Kulturland mit zentralen Kennzeichen wie Leistung, Wertarbeit, wechselnden Landschaftsformationen und sinnstiftenden Kulturangeboten und formulierten damit ihre Angewiesenheit auf diesen Raum. Dieser vor allem an ‚Kultur‘ geknüpften Bedeutungskonstruktion von Deutschland folgten die Befürworter/innen der Bildungsaufenthalte. Sie wiesen dem Umgang der Siedlernachkommen mit dieser Materialität für den Prozess der Identitätsbildung eine wichtige Prägekraft zu wie auch dem Raum als territorialem Gebilde. Das (vorübergehende) ‚Wurzeln‘ an einem Ort innerhalb der deutschen Reichsgrenzen definierten sie als Voraussetzung dafür, dass die Siedlernachkommen nach ihrer späteren Rückkehr nach Südwestaf-
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rika die geforderten Repräsentationsfunktionen als ‚deutsche Kulturträger/innen‘ erfüllen konnten. Die Siedlernachkommen blickten teilweise mit ähnlichen Sichtweisen auf ihre erlebte Mobilität, setzten allerdings andere Akzente. Sowohl in den raren zeitgenössischen Ego-Dokumenten als auch in den retrospektiven Interviewausschnitten bezogen sie sich fast ausschließlich positiv auf ihr Herkunftsland (Deutsch-)Südwestafrika und in ambivalenter Weise auf Deutschland. Mit ihren überwiegend undifferenzierten und dichotomen Betrachtungen der beiden Länder, die vor allem soziale Aspekte beinhalteten, markierten sie Südwestafrika als ihren Lebensmittelpunkt. Die Assoziationen von Solidarität, Fürsorge und (räumlicher) Freiheit in Südwestafrika kontrastierten sie in dichotomer und stereotyper Weise mit denen von Misstrauen, Desinteresse sowie (räumlicher und sozialer) Enge in Deutschland. Lediglich die vielseitige Landschaft und die jahreszeitbedingten Naturveränderungen beurteilten die Siedlernachkommen in Deutschland uneingeschränkt positiv. Darüber hinaus bemühten sich einige Siedlernachkommen um Distinktion, um sich gegenüber Angehörigen der binnendeutschen Bevölkerung als etwas Besseres darzustellen zu können. Als distinguierende Merkmale beanspruchten sie nicht nur die Verkörperung spezifischer Werte wie Tüchtigkeit und Enthaltsamkeit, sondern sie grenzten sich auch von ihrer Ansicht nach ‚kleinen‘ oder ‚einfachen‘ Leuten und damit unteren Schichten ab. Es ist davon auszugehen, dass solche Abgrenzungsversuche nicht zuletzt auf eigener Statusunsicherheit basierten, hatten doch die Siedlernachkommen in Südwestafrika unabhängig von ihrer heterogenen Zusammensetzung qua ihres ‚Weißseins‘ zur privilegierten Gruppe gehört. Dieser Status war während der Deutschlandaufenthalte ins Wanken geraten. Im Unterschied zu diesen überwiegend dichotomen Betrachtungsweisen verdeutlichte die Korrespondenz der Familie Hälbich, dass sie vor dem Hintergrund der langjährigen transnationalen Familienstruktur Südwestafrika und Deutschland als Beziehungsraum betrachteten. In ihren Reflexionen über gesellschaftspolitische Veränderungen formulierten sie Sorgen und Zuversicht und nutzten für ihre Deutungen der beiden Länder das jeweils andere zur Abgrenzung oder als Hoffnungsträger. Zudem erzeugten die Mobilitätserfahrungen bei einigen Hälbich-Nachkommen Verunsicherung und Gefühle von Deplatzierung, die wiederum von ambivalenten Zugehörigkeitsgefühlen bezüglich ehemaliger Kolonie und Metropole begleitet waren. Während sie in Deutschland das kulturelle Angebot und das Kennenlernen neuer Menschen beeindruckte, betonten sie für Südwestafrika nicht nur ihre tiefe (Natur-)Verbundenheit mit der ‚Heimat‘, sondern auch die durchaus als psychische Bedrohung wahrgenommene geistige Einsamkeit. Den daraus resultierenden Wunsch nach Auflösung der Zerrissenheit setzten einige durch das Schaffen von etwas Neuem um: die eigene Familiengründung. Darüber hinaus deutete der Transfer neuer politischer Ideen aus der Weimarer Republik durch die junge Generation auf ihre Erneuerungsabsichten in Südwestafrika hin.
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Im Hinblick auf das Verhältnis von in Deutschland lebenden Siedlernachkommen und den kolonialen Jugendgruppen ließ sich schließlich feststellen, dass erstere nur vereinzelt Kontakte zu Jugendgruppen hatten und insgesamt betrachtet kaum Verbindungen zwischen den beiden Gruppen entstanden. Dies ist einerseits darauf zurückzuführen, dass nicht an allen Orten, an denen Siedlernachkommen lebten, koloniale Jugendgruppen bestanden. Es weist andererseits (einmal mehr) darauf hin, dass sich die Interessen nicht in der Weise überschnitten, dass sie eine systematische Zusammenführung veranlasst hätten. Selbst- und Fremdentwürfe von Jugend In den untersuchten Selbst- und Fremdentwürfen von Jugend traten Geschlechterund Klassendifferenzen zutage, die die Aktivitäten der kolonialen Jugendbewegung und die Bildungsaufenthalte der Siedlernachkommen in Deutschland beeinflussten. In Bezug auf die Geschlechterdifferenz stand – so ein weiteres Ergebnis der Studie – die Bewahrung eines bürgerlich-konservativen Geschlechtermodells im Vordergrund. Konflikte zwischen Erwachsenen und Heranwachsenden über dieses Geschlechtermodell ließen sich kaum finden, allerdings entwickelten die Jugendlichen und jungen Erwachsenen eigene Vorstellungen und Handlungsorientierungen. Die bürgerlich geprägte, männlich dominierte und weitgehend in geschlechterhomogenen Gruppen organisierte koloniale Jugendbewegung stellte geschlechterspezifische Sozialisationsangebote bereit. In ihrer Funktion als Propagandaträger/innen nahmen die Jugendlichen die von den Kolonialverbänden in Umlauf gebrachten fantasiegeprägten Kolonialvorstellungen mehrheitlich an. Die Kolonialpfadfinder verbanden diese mit eigenen Perspektiven. Die von Schul- und Jugendgruppen inszenierten Bühnenstücke haben gezeigt, dass die Jugendlichen zum einen eine auf Jungen ausgerichtete ‚weiße‘ soldatische Männlichkeit (re-)präsentierten. Zum anderen entwarfen sie eine romantisierte Vorstellung der kolonialen Farmerfamilie, die mit der Reproduktion eines bürgerlich-konservativen Geschlechtermodells Mädchen ihren Platz als zukünftige Ehefrauen und Mütter zuwies. Da in diesen Inszenierungen ‚schwarze‘ Personen ausschließlich in der besiegten, dienenden oder helfenden Rolle vorkamen, blieben die imaginierten Kolonialhierarchien unangetastet. ‚Weiße‘ Jugendliche konnten ihre Positionen vermeintlicher Überlegenheit verinnerlichen. Gleichzeitig entstand im Rahmen der Jugendarbeit die idealtypische Figur des ‚Kolonialpioniers‘ bzw. der ‚Kolonialpionierin‘, die die Vorbereitung der Jugendlichen auf ein späteres Leben in Übersee symbolisierte. Sie rief Assoziationen von Abenteuerjugend hervor und war nicht auf individuelle Zukunftsentwürfe in Südwestafrika ausgerichtet. Auch diesen Vorstellungen lag ein bürgerlich-konservatives Geschlechtermodell zugrunde, welches Jungen das Trainieren
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verschiedener männlich geprägter Handfertigkeiten und Mädchen das Erlernen weiblich konnotierter Tätigkeiten des häuslichen Bereichs zuwies. Diese Geschlechtervorstellungen bestätigten sich in der Betrachtung der kolonialen Mädchengruppen. Der Frauenbund integrierte seine Mädchengruppen vor allem in die Vereinsarbeit, denn er war, wie auch die anderen Kolonialverbände, auf die Fortführung der eigenen Arbeit bedacht. Seine Mädchengruppen agierten somit stärker in einem geschlechtersegregierten Handlungsrahmen als die der DKG, die im Rahmen gemeinsamer Veranstaltungen mehr mit Jungengruppen kooperierten. Es kam vor, dass sich Mädchengruppen über die Ausübung weiblich konnotierter Tätigkeiten zunächst Akzeptanz verschaffen mussten, um an dem von Jungen dominierten Aktionsraum des Ferienlagers partizipieren zu können. Daran zeigten sich Ähnlichkeiten zur Geschichte des Frauenbundes, der über den Rekurs auf ein weibliches Rollenverständnis seinen Platz in der Kolonialbewegung etabliert hatte. Die sich in der Weimarer Republik verändernden Geschlechterverhältnisse wurden in der kolonialen Mädchenarbeit und in der kolonialen Jugendarbeit insgesamt kaum thematisiert, stand doch die Bewahrung bürgerlich-konservativer Rollenbilder des Kaiserreichs im Vordergrund. Verschiebungen gegenüber der alten Kolonialgeneration traten hingegen im Selbstverständnis der Kolonialpfadfinder zutage, die ihren Vorstellungen von ‚Volksgemeinschaft‘ ein Männlichkeitsbild des ‚neuen Menschen‘ zugrunde legten und den alten ‚Kolonialpionier‘ in den Hintergrund treten ließen. Weitere Forschungen könnten diese Erkenntnisse mit einer Analyse kolonialkritischer Jugendgruppierungen kontrastieren, um festzustellen, inwieweit sie progressivere Geschlechtervorstellungen vertraten. In der Diskussion um die Vorbereitung und Umsetzung der Bildungsaufenthalte hat sich herausgestellt, dass Geschlechter- und Klassenvorstellungen auch im Hinblick auf die Siedlernachkommen verhandelt wurden und ihre Mobilitätsmöglichkeiten beeinflussten. Den Wünschen von Eltern nach (überwiegend) finanzieller Unterstützung folgend, schufen Vertreter/innen der Siedlerbevölkerung gemeinsam mit Kolonialverbänden eine nichtstaatliche und von dauerhaften Finanzierungsproblemen geprägte Infrastruktur. Das tendenziell undurchsichtige Auswahlverfahren für Unterstützungsleistungen basierte auf unspezifischen Kriterien wie Eignung, Würde und Bedürftigkeit. Die Empfehlungsberechtigten hatten somit, wie die Aushandlungsprozesse über verbilligte Schiffsreisen verdeutlichten, genügend Handlungsspielraum, um das Kriterium der Bedürftigkeit durch den Verweis auf die gesellschaftliche und kulturelle Bedeutsamkeit einer Familie in Südwestafrika auszuhebeln. Während in diesen Prozessen die Kategorie Klasse mit verhandelt wurde, indem sich die anfängliche Unterstützung für Schüler/innen und Studierende auf Lehrlinge ausweitete, waren Ungleichbehandlungen zwischen den Geschlechtern kaum ein Thema. In der Tendenz überwogen Unterstützungsleistungen und Mobilitätsmöglichkeiten für männliche Heranwachsende, was sicherlich damit zusammenhing, dass für Mädchen und junge Frauen weniger existenzsichernde Berufstä-
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tigkeiten vorgesehen waren. Ihr Beitrag bestand vielmehr in einem zukünftigen Ehe- und Familienleben. Die Qualifizierungsmöglichkeiten in Deutschland differenzierten sich entlang der Kategorien Geschlecht und Klasse, wenngleich die an der Umsetzung Beteiligten die unterschiedlichen Berufsmöglichkeiten für Siedlernachkommen und die damit verbundenen Zukunftsaussichten in Südwestafrika nicht ausführlich erörterten. Für männliche Heranwachsende erfolgten – eine entsprechende Schulbildung voraussetzend – Hinweise auf unterschiedliche Studienmöglichkeiten an Hochschulen oder Universitäten sowie auf diverse Handwerksausbildungen, die sich mit der Wahl von den in Deutschland lebenden Siedlernachkommen deckten. Insbesondere für Söhne von Handwerkern als großer Berufsgruppe verlangten einige Diskutierende besondere Unterstützung bei der Umsetzung der Deutschlandaufenthalte, denn sie wollten deren Ausbildung in der Südafrikanischen Union aus zwei Gründen unbedingt verhindern: aus Angst vor dem Verlust angenommener fachlicher Überlegenheit gegenüber südafrikanischen Konkurrenten und aus Angst vor dem Verlust ‚deutscher Kultur‘ durch die imaginierte identitätsprägende Wirkung des Territoriums. Für Mädchen waren weitaus eingeschränktere Qualifizierungsmöglichkeiten vorgesehen. Sie richteten sich vor allem auf den hauswirtschaftlichen Bereich oder andere weiblich konnotierte Ausbildungen. Die Analyse der Deutschlandaufenthalte von Siedlernachkommen, die sich in der kolonialverbandlich-institutionellen Infrastruktur bewegten, hat schließlich gezeigt, dass die Kolonialverbände überwiegend mit Bildungseinrichtungen und Wohnheimen aus dem nationalistisch-konservativen und christlichen Milieu kooperierten, versuchten sie doch weitgehend an gesellschaftlichen Ordnungsmustern des Kaiserreichs festzuhalten. In diesen vor allem auf Jungen ausgerichteten Einrichtungen sahen die Verbände – korrespondierend mit der Sozialisationsdebatte – nicht nur deren Aneignung und Verinnerlichung ‚deutscher Werte‘, sondern auch ‚kameradschaftlicher‘ Denk- und Handlungsweisen gewährleistet. Ziel war, die Heranwachsenden für ihre Rolle als zukünftige Repräsentantinnen und Repräsentanten ‚deutscher Kultur‘ zu befähigen. Zudem forderte der Frauenbund die zeitweise Unterbringung der Siedlernachkommen in für ihn vertrauten Familien, um auch männlichen Jugendlichen die Perspektive eines eigenen zukünftigen Familienlebens zu eröffnen. Vorbehalte gegenüber der Unterbringung bei Verwandten begründete der Frauenbund mit den sich teilweise abzeichnenden Differenzen in den Einstellungen und Interessen innerhalb der transnationalen Familienzusammenhänge. Mit dieser beanspruchten Kontrollfunktion ließ er die Familienbeziehungen zu einem öffentlichen Thema werden. Mädchen und junge Frauen besuchten die Koloniale Frauenschule in Rendsburg oder lebten in Privathaushalten, um sich dort hauswirtschaftlich zu qualifizieren oder von dort aus einer Ausbildung in der Krankenpflege, im Schneiderhandwerk, in der Kindererziehung oder Buchführung nachzugehen. Die für sie vorherbestimm-
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te zukünftige Rolle als Ehefrauen und Mütter, die bereits während der gesteuerten Frauenauswanderung zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein zentrales Thema gewesen war, wurde nicht aus dem Blick verloren. Allerdings waren die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen nun andere. Im Kaiserreich hatte die koloniale Geschlechterideologie traditionelle Konzepte von Weiblichkeit und Männlichkeit zwar nicht infrage gestellt, dennoch eröffnete sie Frauen in den Kolonien durch die ideelle und rassifizierte Aufwertung ihres gesellschaftlichen Beitrags tendenziell mehr Handlungsspielräume als Frauen im Kaiserreich.2 Im Unterschied dazu gingen mit den sich in der Weimarer Republik verändernden Geschlechterverhältnissen vor allem mehr Rechte und neue Berufsperspektiven für Frauen einher, sodass die angestrebte Bewahrung kolonialer Geschlechtervorstellungen eine Orientierung an diesen neuen Entwicklungen eher abzuwenden versuchte. Allerdings verdeutlichten die Handlungen junger Frauen, die nach ihrer Rückkehr nach Südwestafrika die Autorität der Eltern infrage gestellt hatten, dass die sich in der Weimarer Republik wandelnden Geschlechterverhältnisse auch Siedlernachkommen beeinflussten. Diese idealtypischen Vorstellungen von kolonialverbandlich-institutionellen Vertreterinnen und Vertretern, in Deutschland zukünftige Repräsentantinnen und Repräsentanten ‚deutscher Kultur‘ für Südwestafrika zu formen, hatten für die Sichtweisen von Angehörigen der Familie Hälbich wenig Relevanz. Mit dem Haus in Biebrich stand den Hälbich-Nachkommen ein großfamiliärer und erweiterter ‚kolonialdeutscher‘ Interaktionsraum zur Verfügung, der unabhängig von der verbandlich-institutionellen Infrastruktur funktionierte und den andere Siedlernachkommen in einer derartigen Form in der Regel nicht hatten. Diesen Interaktionsraum nutzten sie eher zur mentalen Bezugnahme auf ihr Herkunftsland Südwestafrika, wohin ihre Zukunftsvorstellungen mehrheitlich gerichtet blieben, als zur Herstellung innerfamiliärer Vertrautheit. Begleitet von Schwierigkeiten des alltäglichen Zusammenlebens und finanziellen Problemen stand für vier Hälbich-Brüder, auf die die Analyse gerichtet war, eine gute Schul- und Berufsausbildung im Mittelpunkt, nicht aber die Aneignung ‚deutscher Kultur‘. Sie waren von der großfamiliären Zukunftsplanung geprägt und lösten sich von den Anforderungen der Eltern, die von einigen Kindern eine Mitarbeit im elterlichen Geschäfts- und Farmbetrieb forderten, nicht grundlegend ab. Dennoch hinterfragten die Brüder die elterlichen Sichtweisen und teilten miteinander, dass sie den Familienlogiken entgegenstehende Wünsche eher im Verborgenen diskutierten und verfolgten. Eine Abgrenzung gegenüber der Erwachsenengeneration zeigte sich in ihren Schritten hin zu mehr Handlungsmöglichkeiten, Autonomie und finanzieller Unabhängigkeit im Prozess der Berufsfindung und -ausübung. Differenzen untereinander verdeutlichten sich in ihrem von politischen Interessen gekennzeichneten Engagement, das von der Unterstützung freistudentischer Aktivitäten bis zum Sympathisieren mit der NSDAP reichte. Eine aktive Un2
Vgl. Dietrich 2007, S. 261-269.
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terstützung für kolonialrevisionistische Bestrebungen fand darin keinen Platz. Im Zuge der durch die Mobilität entstandenen beruflichen Qualifizierungsmöglichkeiten beschäftigten sich die Hälbich-Nachkommen vor allem mit ihrem individuellen Fortkommen und der eigenen Zukunftsplanung, für die die Forderung nach Kolonialrevision wenig Relevanz hatte. Weiterer Forschungsbedarf besteht zu der Frage, wie und wohin sich die Lebenswege der Hälbich-Nachkommen und anderer Siedlernachkommen weiter entwickelten und welche Rollen sie insbesondere im Nationalsozialismus einnahmen. Die Kontinuitäten des Kolonialismus weisen zahlreiche Brüche auf, die in vorliegender Studie anhand der jungen Generation sichtbar wurden. Mit der Zäsur von 1919 verfolgten Kolonialverbände und Angehörige der deutschen Siedlerbevölkerung in Südwestafrika aus der politischen Defensive heraus Zukunftsvorstellungen für das formal beendete koloniale Projekt. Diese Vorstellungen verloren sich allerdings in vergangenheitsorientierten Fantasien und waren für die Lebensgestaltung von Siedlerfamilien nur teilweise bedeutsam. Das instrumentelle Verhältnis, das Kolonialverbände und Vertreter/innen der Siedlerbevölkerung gegenüber den Heranwachsenden offenbarten, ging mit Fremdzuschreibungen einher, die mit den Selbstkonstruktionen und Zukunftsvisionen der jungen Generation nicht im Einklang standen. Wenngleich die unterschiedlichen Akteurinnen und Akteure in dieser Phase der erzwungenen Neuorganisation aufeinander angewiesen blieben, so war doch unverkennbar, dass sich die Interessenlagen der beteiligten Erwachsenen und Jugendlichen als disparat erwiesen.
Abkürzungsverzeichnis
AA-PA AdJb BAB BArch BDKJ BVP DDP DKB DKG DKJ DKV DNVP DVP GStA PK IFFF Korag KPD LgkU NAN NSDAP NWG RddJ SPD S.W.A. VDA
Auswärtiges Amt, Politisches Archiv Archiv der deutschen Jugendbewegung Basler Afrika Bibliographien Bundesarchiv Berlin Bund Deutscher Kolonialjugend Bayerische Volkspartei Deutsche Demokratische Partei Deutscher Kolonialkriegerbund Deutsche Kolonialgesellschaft Deutsche Kolonialjugend Deutscher Kolonialverein – Gesellschaft für Siedlungs- und Auslandspolitik Deutschnationale Volkspartei Deutsche Volkspartei Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz Internationale Frauenliga für Frieden und Freiheit Koloniale Reichsarbeitsgemeinschaft Kommunistische Partei Deutschlands Liga gegen koloniale Unterdrückung National Archives of Namibia Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei Namibia Wissenschaftliche Gesellschaft Reichsausschuss der deutschen Jugendverbände Sozialdemokratische Partei Deutschlands Südwestafrika Verein für das Deutschtum im Ausland
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Quellen- und Literaturverzeichnis | 327
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3. INTERVIEWS Folgende Interviews habe ich im Oktober und November 2010 in Swakopmund und Windhoek (Namibia) geführt. Die Namen der Interviewpartner/innen wurden zur Wahrung ihrer Anonymität geändert. Über eigene Deutschlandaufenthalte berichteten: Else (geb. 1921), Interviews am 31.10.2010 und 2.11.2010 Heinz (geb. 1914), Interview am 12.10.2010 Hilde (geb. 1920), Interview am 10.10.2010 Ilse (geb. 1919), Interview am 11.10.2010 Über Deutschlandaufenthalte von Eltern oder Geschwistern berichteten: Anna, Interview am 30.10.2010 Frieda, Interview am 8.10.2010 Gerda und Karl, Interview am 17.10.2010
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Danksagung
Die vorliegende Studie wurde im Oktober 2015 bei der Philosophischen Fakultät der Leibniz Universität Hannover als Dissertation eingereicht, im Juni 2016 verteidigt und für die Veröffentlichung leicht überarbeitet. Auf dem Weg bis zum Erscheinen dieses Buches haben mich viele Menschen auf sehr unterschiedliche Weise begleitet und unterstützt. Bei ihnen möchte ich mich bedanken, wenngleich eine Nennung aller Beteiligten kaum möglich sein wird. Zuallererst danke ich meiner Erstbetreuerin Prof. Dr. Brigitte Reinwald für ihre langjährige fachliche Begleitung sowie das wertschätzende und vertrauensvolle Arbeitsumfeld. Sie stärkte mir auch bei vielen administrativen Notwendigkeiten den Rücken. Ihre pointierten Nachfragen, konzeptionellen Ratschläge und anregenden Perspektivwechsel haben mich stets inspiriert und das Projekt immer weiter konturiert. Ebenso bedanke ich mich bei meiner Zweitbetreuerin Prof. Dr. Kirsten Rüther, deren scharfsinniges Feedback und quellenkritische Anmerkungen äußerst wertvoll waren. Sie gab mir hilfreiche Hinweise für den Abschluss der Dissertation. Für die materielle und ideelle Unterstützung bedanke ich mich vielmals bei der Hans-Böckler-Stiftung. Danken möchte ich den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der verschiedenen, von mir besuchten Archive, die nicht müde wurden, immer wieder neue Akten auszuheben. Ich bedanke mich auch beim Team der Basler Afrika Bibliographien, insbesondere bei Dag Henrichsen für seine große Hilfsbereitschaft und fachliche Unterstützung. Er vermittelte mir wertvolle Kontakte in Namibia. Mein besonderer Dank gilt Liselotte Bütow, Margitta und Klaus von Dewitz, Gertrud Krüger, Ursula Lenssen, Frauke und Hans-Henning Mercker, Uta und Manfred Redecker, Ilse Schatz, Ortrud und Peter Schonecke, Gunter von Schumann und Luise Maria Visser. Sie haben mir in Namibia ihre Privatarchive zur Verfügung gestellt und damit die Studie in dieser inhaltlichen Form überhaupt erst ermöglicht. Gleichermaßen danke ich meinen anonym bleibenden Interviewpartnerinnen und -partnern, die bereit waren, mir von ihren (vermittelten) Erinnerungen an die Zeit der Weimarer Republik zu erzählen.
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Des Weiteren bedanke ich mich bei den Teilnehmenden des Examens- und Doktorand/inn/enkolloquiums von Brigitte Reinwald. In kollegialer Atmosphäre hatte ich vor allem mit Harald Barre, Jana Otto, Mario Peters und Steffen Runkel produktive Diskussionen zu meiner Dissertation. Ebenso gilt mein Dank all den Menschen, die zu unterschiedlichen Zeiten und an ganz verschiedenen Orten mit mir Gespräche führten, wichtige Fragen stellten, Anregungen und nützliche Hinweise gaben sowie zur Lektüre von Textabschnitten bereit waren: Renate Dürr, Edith Glaser, Marc Grellert, Ulrike Hamann, Antje Harms, Elija Horn, Johannes Katzan, Sybille Küster, Susann Lewerenz, Stefanie Michels, Alexandra Ommert, Britta Rabe, Susanne Rappe-Weber, Elina Stock, Heiko Wegmann und Kerstin Wolff. Zudem danke ich Caroline Authaler und Felix Schürmann für ihr kritisches Textfeedback und die anregenden Diskussionsrunden. Bei meiner Lektorin Karen Rauh möchte ich mich für die strukturierte und umsichtige Zusammenarbeit bedanken. Ebenso danke ich Kai Reinhardt und Katharina Wierichs vom transcript Verlag für das unkomplizierte und zuverlässige Zusammenarbeiten. Eine großartige Unterstützung war Marc Czichy, der in der Abschlussphase fast alle Kapitel gelesen hat. Ich danke ihm sehr für seine sorgfältige Lektüre, präzisen Anmerkungen sowie die konstruktiven und inspirierenden Gespräche. Wohltuend und motivierend waren die Mittagspausen in der Deutschen Nationalbibliothek mit Alexandra Ommert, Elisabeth Wagner, Imme Klages und Mahtab Khedri. Unerlässlich für das Projekt Dissertation war ein herzliches und stärkendes Umfeld im Privaten. Insbesondere danke ich meinem langjährigen Freundinnen-Trio Agnieszka Zimowska, Martina Benz und Pia Westermayer für erfüllende Erholungszeiten sowie den vielen anderen Freundinnen und Freunden, die mit mir geduldig und neugierig durch diese Lebensphase gingen. Auch bei meinen Mitbewohnerinnen und Mitbewohnern der verschiedenen Wohnkonstellationen bedanke ich mich für ihre wertvollen Unterstützungsformen. Ganz herzlich danken möchte ich meiner Mutter Renate Heyn für ihre liebevolle Begleitung. Sie hatte stets ein offenes Ohr und hat mich auf dem langjährigen Weg immer wieder bedingungslos unterstützt. Kaum in Worte fassen lässt sich mein Dank an Timo Wandert. Er durchlebte mit mir die Dissertationsphase im wahrsten Sinne des Wortes. Er stand für Diskussionen und Feedback an den unterschiedlichsten Orten im In- und Ausland bereit. Er unterstützte mich bei Korrekturen und Satz und war da, wenn es nicht mehr oder scheinbar nicht mehr ausreichend voranging. Er ließ mich das Schöne im Leben nicht vergessen. Mit diesem wunderbaren Menschen an meiner Seite lassen sich Berge versetzen.
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