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German Pages 460 [468] Year 2008
Graf · Die Zukunft der Weimarer Republik
LU 150 Jahre Wissen für die Zukunft Oldenbourg Verlag
Ordnungssysteme Studien zur Ideengeschichte
f
der Neuzeit
Herausgegeben von Dietrich Beyrau, Anselm Doering-Manteuffel und Lutz Raphael
Band 24
R. Oldenbourg Verlag München 2008
Rüdiger Graf
Die Zukunft der Weimarer Republik Krisen und Zukunftsaneignungen in Deutschland 1918-1933
R. Oldenbourg Verlag München 2008
Gedruckt mit Unterstützung des Förderungs- und Beihilfefonds Wissenschaft der VG Wort
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
© 2008 Oldenbourg Wissenschaftsverlag GmbH, München Rosenheimer Straße 145, D-81671 München Internet: oldenbourg.de Das Werk einschließlich aller Abbildungen ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Dies gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Bearbeitung in elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Dieter Vollendorf Umschlagbild: Roman Clemens: Spiel aus Form, Farbe, Licht und Ton (1929) © Theaterwissenschaftliche Sammlung, Universität zu Köln Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier (chlorfrei gebleicht). Satz: Typodata GmbH, München Druck: Memminger MedienCentrum, Memmingen Bindung: Buchbinderei Klotz, Jettingen-Scheppach ISBN 978-3-486-58583-4
Inhalt Vorwort
11
1.
Einleitung 1.1 Politische Kultur in der Weimarer Republik 1.2 Vergangene Zukunft und Geschichtswissenschaft 1.3 Was ist ein Zukunftsdwfcurs?
13 23 27 33
2.
Entstehungsbedingungen des Zukunftsdiskurses in der Weimarer Republik 2.1 Die Medien des Zukunftsdiskurses 2.1.1 Zeitschriften 2.1.2 Tageszeitungen 2.1.3 Selbständige Publikationen 2.2 Die Träger des Diskurses: Intellektuelle und Publizisten . . . 2.3 Krieg und Revolution als Katalysatoren
39 39 40 45 51 52 58
3.
4.
Die Zukunft als Charakterfrage. Eine Momentaufnahme im Jahr 1928 oder „Deutschlands Köpfe der Gegenwart über Deutschlands Zukunft" 3.1 Köpfe, Handschriften und die Zukunft 3.2 Die Einheit des Diskurses - Einigkeit als Zentralproblem... 3.3 Differenzen und Konflikte 3.4 Zwischenergebnis: Zukunftsgestaltung als Charakter- und Haltungsfrage „Kulturbejahung gegen Untergangsprophetie und Fortschrittsoptimismus" - Pessimismus und Optimismus in der Weimarer Republik 4.1. Weimar als pessimistische Zeit - Indizien einer Interpretation 4.1.1 Individueller Pessimismus und kollektive Zukunftsvorstellungen 4.1.2 Pessimistische Szenarien und ihre argumentative Funktion 4.1.3 Ablehnungen des Optimismus 4.1.4 Missverständnisse über den „Untergang des Abendlandes" 4.2 Optimismus als fundamentales Diskursmerkmal und seine Schattierungen 4.2.1 Glauben und Hoffen - religiöser Optimismus
65 66 69 76 80
83 86 86 91 98 104 111 115
6
Inhalt
4.2.2
Geschichte und Entwicklung - republikanischer Optimismus 4.2.3 Volk, Bewegung, Proletariat - antirepublikanischer Optimismus 4.3 Zwischenergebnis: Krisenerfahrung und Gestaltungsoptimismus 5.
6.
„Der Sinn der Zukunft ist nicht Dauer, sondern Bruch..." Entwicklungsdenken und Revolutionserwartung nach dem Ersten Weltkrieg 5.1 Kontinuität und Bruch als fundamentale Strukturen der Zukunftserwartung 5.2 Diskurstraditionen: „Fortschritt", „Revolution" und „neue Zeit" 5.3 Evolutionäre Perspektiven: Der schwere Weg in die „neue Zeit" 5.4 Einschränkungen des Untergangs 5.4.1 Der temporäre Niedergang Deutschlands 5.4.2 Der Untergang von Subsystemen: Demokratie, Liberalismus, Kapitalismus 5.4.3 Entweder-oder - der diskrete Charme der radikalen Dichotomie 5.5 „Neue Welten" und „neue Menschen" - die Verbreitung der Zeitenwenderhetorik 5.5.1 Die Zeitenwende in Parawissenschaften und Lebensreform 5.5.2 Die Erneuerung in der Katastrophe: Radikale Revolutionserwartungen 5.5.3 Die universale Anschlussfähigkeit der vieldeutigen Zeitenwenderhetorik 5.6 Zwischenergebnis: Evolution und Revolution in der Zeitenwende „Zehn Jahre alt schon ist das Neue Jahr..." - Dimensionen der Erwartung 6.1 Unbestimmte Zukunftsperspektiven 6.2 Hoffen für kommende Generationen - die „neue Zeit" in ferner Zukunft 6.3 Revolutionäre Naherwartungen 6.4 Lokalisierungen der Zukunft in der Gegenwart 6.4.1 Die Weimarer Republik als „neue Zeit" 6.4.2 Die Antizipation der Zukunft in Individuen und Kollektiven 6.5 Die Zukunft an fernen Orten: Sowjetunion und USA als topisierte Utopien
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135 135 139 148 157 157 160 161 170 171 175 186 201 205 208 211 216 225 226 232 250
Inhalt
Die „Zukunft im Rohbau" und die „Hölle auf Erden" in der Sowjetunion 6.5.2 Die Zukunft im Autobau: Die USA als fordistische Utopie 6.6 Zwischenergebnis: Die Zukunft in Raum und Zeit
7
6.5.1
7.
8.
9.
„Wie kann's am schnellsten besser werden?" - Formen der zukunftsgestaltenden Aktivität 7.1 Rhetorischer Aktivismus - die zukunftsgestaltende „Tat" . . . . 7.1.1 Die Tat als universaler Bezugs- und Abgrenzungspunkt 7.1.2 Historische Gesetze und die Möglichkeit der Tat: Marx und Spengler 7.2 Durch „Opfer und Arbeit" in die „neue Zeit" - Pragmatische Aktivität 7.3 Programme zur Verbesserung - Reformerische Aktivität . . . 7.3.1 Die virtuelle Ordnung Deutschlands 1918/1919 7.3.2 Politische Programme zwischen Pragmatik und Revolution 7.4 „Kampf" und Katastrophenpolitik - Revolutionäre Aktion . 7.4.1 Der „Kampf" der Revolutionäre 7.4.2 Die Weltrevolution und die kommunistische Strategie in Deutschland 7.4.3 Die konservative Revolution 7.4.4 Pragmatische Revolutionäre - die Nationalsozialisten 7.5 Zwischenergebnis: Die Ausweitung der Kampfzone Machen Utopien Geschichte? Der Reflexionsdiskurs über die Macht des Geistigen 8.1 Die „Utopismuskeule" und der Utopiediskurs 8.2 Drei Strategien gegen den Utopismusvorwurf 8.3 Die Macht des Geistigen oder die Zukunft als Tendenz in der Gegenwart 8.4 Zwischenergebnis: Experten der Zukunft - Politiker, Intellektuelle und Soziologen „Krisen" und Gestaltbarkeitsbewusstsein in der Weimarer Republik 9.1 Die „Krise" - die Karriere eines Begriffs in der Weimar-Forschung 9.2 Die „Krise" als Form der Zukunftsaneignung in der Weimarer Republik 9.3 Fazit
252 261 268
271 275 275 282 288 296 297 301 307 307 308 317 321 327
329 329 334 347 355
359 360 369 378
8 Anhang 1. Literaturverzeichnis 1.1 Quellen 1.2 Literatur 2. Personenverzeichnis
Inhalt
381 381 381 411 442
meinen Eltern
Vorwort Bei der vorliegenden Arbeit handelt es sich um die überarbeitete Fassung meiner Dissertation, die im Januar 2006 an der Philosophischen Fakultät I der Humboldt-Universität zu Berlin eingereicht und am 26. Oktober desselben Jahres verteidigt wurde (Dekan: Prof. Dr. Michael Borgolte). Genauso wie sich die Geschichte der Weimarer Republik in viele Richtungen hätte entwickeln können, war auch die Entstehung dieses Buches ein offener Prozess. Seine jetzige Form resultiert aus den Einflüssen und Anregungen vieler Umstände und Menschen, denen ich hiermit herzlich danke. An erster Stelle ist Prof. Dr. Ludolf Herbst zu nennen, der mir als wissenschaftlichem Mitarbeiter an seinem Lehrstuhl nicht nur die materielle, sondern auch die intellektuelle Freiheit gab, das Projekt zu verfolgen. Seine wirklich geäußerten oder auch nur von mir antizipierten kritischen Einwände haben die Arbeit wesentlich geprägt - ohne ihn wäre sie nicht entstanden. Mit Prof. Dr. Wolfgang Hardtwig hatte ich sozusagen einen zweiten Doktorvater, der das Projekt in vielfältiger Weise gefördert hat. Er hat nicht nur unzählige Anregungen gegeben, sondern nach einer Erkrankung von Herrn Professor Herbst auch das Erstgutachten übernommen. Prof. Dr. Lucian Hölscher sprang kurzfristig als Zweitgutachter ein und Prof. Dr. Wilfried Nippel erstellte das Drittgutachten und brachte als Vorsitzender des Prüfungsausschusses den Promotionsprozess zu einem unkomplizierten Ende. Während der Entstehung der Arbeit hatte ich die Möglichkeit, meine Überlegungen in den Kolloquien von Prof. Dr. Lucian Hölscher, Prof. Dr. Werner Plumpe, Prof. Dr. Bernd Weisbrod und Prof. Dr. Heinrich-August Winkler vorzustellen. Für kritische Anmerkungen danke ich ihnen sowie den mir nur teilweise bekannten Teilnehmerinnen und Teilnehmern. Darüber hinaus haben Freundinnen und Freunde, Kolleginnen und Kollegen unterschiedlich große Teile der Arbeit in verschiedenen Stadien gelesen und/oder mit mir diskutiert und wichtige Einwände und Verbesserungsvorschläge formuliert: Hannah Ahlheim, Moritz Föllmer, Constantin Goschler, Jens Hacke, Gerd Herzog, Christoph Kamissek, Habbo Knoch, Martin Kohlrausch, Per Leo, Philipp Müller, Matthias Pohlig, Christiane Reinecke, Ulrike Schaper, Alexander Schmidt-Gernig und Nina Verheyen. Vor der Publikation haben Annelies Scheel, Marcus Böick und Christoph Wehner die Arbeit durchgesehen. Im akademischen Jahr 2003/2004 ermöglichte mir ein Stipendium des DAAD einen achtmonatigen Aufenthalt als visiting scholar an der New York University, an der ich von Prof. Dr. Mary Nolan freundlich aufgenommen wurde. Mit ihr sowie mit Prof. Dr. Jerrold Seigel, Andreas Killen, Quinn Edgar Slobodian und den Teilnehmenden des Modern European History Kolloquiums der NYU konnte ich die Arbeit ebenfalls ausführlich diskutieren. Prof. Dr. Anselm Doering-Manteuffel, Prof. Dr. Lutz Raphael und Prof. Dr. Dietrich Beyrau danke ich für die schnelle und unkomplizierte Aufnahme der
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Vorwort
Arbeit in die Reihe „Ordnungssysteme. Studien zur Ideengeschichte der Neuzeit" sowie Cordula Hubert und Sabine Walther vom Oldenbourg Verlag für die anschließende angenehme Zusammenarbeit. Die Drucklegung der Arbeit wurde ermöglicht durch einen großzügigen Druckkostenzuschuss des Förderungs- und Beihilfefonds Wissenschaft der VG-Wort. Eine der Konstanten während des Arbeitsprozesses waren regelmäßige Treffen mit Katharina Böhmer, Stefanie Grüne, Frieder Missfelder, Philipp Müller, Matthias Pohlig, Jörg Rütten und Ulrike Schaper zum Diskutieren dicker Bücher und zu abendelangen Gesprächen über Filme, Musik und Theater. Ich wüsste nicht, wie meine Promotionsphase ohne sie verlaufen wäre. Genausowenig kann ich sagen, ob meine Doktorarbeit schneller oder langsamer fertig geworden wäre, wenn ich nicht jedes Semester an der HumboldtUniversität unterrichtet hätte. Ich hoffe, dass die Studierenden in meinen Seminaren ebensoviel profitiert haben wie ich. Darüber hinaus danke ich den Freundinnen und Freunden, die die letzten Jahre durch ihre Anwesenheit entschieden angenehmer gemacht haben. Sie können nicht alle aufgezählt werden, sollten aber wissen, dass sie gemeint sind. Vor allem freue ich mich, dass Sandra vor Beginn meiner Doktorarbeit da war und dass sie es glücklicherweise auch heute ist. Schließlich gilt mein Dank meinen Eltern, die mich immer bedingungslos unterstützt haben. Ihnen ist dieses Buch gewidmet. Berlin, August 2007
Rüdiger Graf
1. Einleitung Hatte die Weimarer Republik eine Zukunft? Wie die Antwort auf diese Frage ausfällt, hängt davon ab, wie man den Begriff „Zukunft" versteht. Grundsätzlich kann unterschieden werden „zwischen der Zukunft (oder: dem Zukunftshorizont) der Gegenwart als dem Reich des Wahrscheinlichen/Unwahrscheinlichen und den künftigen Gegenwarten, die immer genau so sein werden, wie sie sein werden, und nie anders". 1 ) Versteht man Zukunft als künftige Gegenwart, so wird man die Ausgangsfrage verneinen: Die 14 Jahre dauernde erste deutsche Demokratie hatte keine Zukunft. Sie startete unter denkbar schlechten Bedingungen, wurde ab 1930 durch die Präsidialregierungen formal ausgehöhlt und schließlich 1933 von den Nationalsozialisten gänzlich zerstört. Von dieser zukünftigen Gegenwart konnten die Zeitgenossen in der Weimarer Republik jedoch nichts wissen. Für sie war die Zukunft ein offener Möglichkeitshorizont und Gestaltungsraum. In diesem Sinn hatte die Weimarer Republik Zukunft, und die vorliegende Arbeit soll diesen Zukunftshorizont vermessen und beschreiben. Was erwarteten die verschiedenen politischen und intellektuellen Gruppen in Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg? Was erhofften und was befürchteten sie? Wie weit dachten sie in die Zukunft und auf welche Weise redeten sie über das, was kommen würde oder kommen sollte? Glaubten sie, dass sie die Zukunft aktiv gestalten könnten, oder sahen sie ihr eher fatalistisch entgegen? Diese Fragen nach den zeitgenössischen Zukunftsvorstellungen und ihrer Rolle in den politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Aushandlungsprozessen motivieren die vorliegende Untersuchung. In der historischen Forschung stand die Weimarer Republik stets im Schatten des Nationalsozialismus: Stärker als jede andere Epoche der deutschen Geschichte wurde sie von ihrem Ende her untersucht und interpretiert. Schließlich bestand seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs ein primäres Forschungsinteresse der deutschen Geschichtswissenschaft darin, den Ort des Nationalsozialismus in der deutschen Geschichte zu bestim-
Niklas Luhmann: Die Beschreibung der Zukunft, in: Beobachtungen der Moderne, Opladen 1992, S. 129-147, S.140; siehe auch ders.: The Future Cannot Begin. Temporal Structures in Modern Society, in: Social Research 43/1976, S. 130-152, S. 140. Dort unterscheidet er „future presents and present future". Bei der ersten Erwähnung werden alle Titel vollständig zitiert und danach Kurztitel für die Texte verwendet, die in der Bibliographie leicht aufzufinden sind. Anonym verfasste Texte und Publikationen eines Autors mit (nahezu) identischen Titeln erhalten keine Kurztitel. Pseudonyme werden soweit wie möglich aufgelöst und die richtigen Namen der Verfasser, unter denen sie auch im Literatur- und Personenverzeichnis verzeichnet sind, in eckigen Klammern hinzugefügt. Um eine genauere publizistische und intellektuelle Einordnung zu ermöglichen, werden Quellentexte mit Verlagsangaben zitiert.
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1. Einleitung
men.2) Weimars Scheitern zu erklären, war und ist der zentrale Impetus vieler Weimar-Forscher, und in seinem Handbuch erhebt Eberhard Kolb diese Orientierung zur conditio sine qua non: „Kein Versuch, die Geschichte dieser vierzehn Jahre aufzuhellen und den,historischen Ort' der Weimarer Republik im Zusammenhang der deutschen Geschichte zu bestimmen, kann abstrahieren von dem, was nach Weimar kam: die auf den Trümmern der ersten deutschen Demokratie errichtete nationalsozialistische Diktatur". 3 ) Angesichts der Verbrechen des Nationalsozialismus ist diese Forschungsperspektive mehr als gerechtfertigt und sie hat viele wichtige Ergebnisse gezeitigt. Allerdings läuft sie Gefahr, den Blick auf bestimmte Aspekte der Weimarer Republik und vor allem auf das Bewusstsein der historischen Akteure zu ver- oder doch zumindest zu entstellen. Um die mentale Verfassung vergangener Gesellschaften zu untersuchen, empfiehlt es sich, zunächst von dem zu abstrahieren, was später kam und was die Zeitgenossen nicht wissen konnten. Dies gilt vor allem für die Analyse vergangener Zukunftsvorstellungen oder Erwartungshorizonte, die einen zentralen Zugang zu historischen Bewusstseinswelten darstellen.4) Hier ist die methodische Ausblendung der zukünftigen Gegenwart notwendig, um ihre zeitgenössische Plausibilität zu beurteilen. Im Zeichen der Alltags- und Mikrohistorie sowie einer erneuerten Kulturund Geistesgeschichte äußerte sich seit den 1980er Jahren Unbehagen an der Dominanz der Forschungsperspektive auf das Jahr 1933. Stellvertretend für diese Neuorientierung erklärte Detlev Peukert in seiner inzwischen kanonisch gewordenen Gesamtdarstellung, man werde der Geschichte der Weimarer Republik nicht gerecht, „wenn man sie nur von ihrem Ende, von ihrem Einmünden in die ,deutsche Katastrophe' her" betrachte. 5 ) Im Anschluss an Peukert betonen viele neuere Arbeiten die prinzipielle Offenheit des Zukunftshorizonts der Weimarer Republik und die Notwendigkeit, die Analyse nicht teleologisch auf den Nationalsozialismus zulaufen zu lassen. So fordert
2
) Siehe dazu Thomas Nipperdey: 1933 und die Kontinuität der deutschen Geschichte, in: Nachdenken über die deutsche Geschichte, München 1986, S. 186-205. Forschungsüberblicke bei Eberhard Kolb: Weimarer Republik. Literaturbericht, in: GWU 43/1992, S. 311-321,636-651 u. 699-721, sowie 45/1994, S.49-64 u. 523-543; ders.: Die Weimarer Republik, München 6 2002, S. 155-251; Andreas Wirsching: Die Weimarer Republik. Politik und Gesellschaft, München 2000, S.47-118. 3 ) Kolb: Weimarer Republik, S. 155; Hervorhebung im Original. 4 ) Karl Mannheim: Ideologie und Utopie, Frankfurt/Main 4 1965 [l.Aufl. 1929], S.184: „Man kann die innerste Struktur eines Bewußtseins nirgends so klar erfassen, als wenn man sein Zeitbild von seinen Hoffnungen, Sehnsüchten und Sinnzielen her versteht. Denn von diesen Sinnzielen her gliedert es nicht nur sein zukünftiges Geschehen, sondern auch die vergangene Zeit." 5 ) Detlev J. K. Peukert: Die Weimarer Republik. Krisenjahre der klassischen Moderne, Frankfurt/Main 1987, S. 266. Als kritischen Forschungsbericht zur Weimar-Historiographie im Zeichen Peukerts siehe Moritz FöllmerlRüdiger Graf/Per Leo: Einleitung: Die Kultur der Krise in der Weimarer Republik, in: Moritz FdMmer/Rüdiger Graf{Hrsg.): Die „Krise" der Weimarer Republik. Zur Kritik eines Deutungsmusters, Frankfurt/Main 2005, S.9-41.
1. Einleitung
15
zum Beispiel Peter Fritzsche eine Neuorientierung im Sinne Peukerts auch für den Bereich des Politischen, indem er erklärt: „A great deal of the political dynamic in the 1920s is obscured by the telos of Weimar's collapse."6) Im Anschluss an Peukert und Fritzsche wird im Folgenden versucht, die Weimarer Republik wieder stärker als Möglichkeitsraum mit offenem Zukunftshorizont zu begreifen. Überblickt man die bisherige Forschungsliteratur, so entsteht der Eindruck, dass Deutschlands Zukunft nach dem Ersten Weltkrieg intensiv diskutiert wurde. Etwas schematisch lassen sich fünf historiographische Zusammenhänge unterscheiden, in denen Zukunftsvorstellungen zum Thema werden: 1. die politische Geschichte der Weimarer Republik und insbesondere die Geschichte der politischen Ideen, 2. die Geschichte der expandierenden Sozialund Humanwissenschaften mit ihren Ansprüchen auf eine rationale Planung und Steuerung der Gesellschaft, 3. die Untersuchung von Lebensreform- und Jugendbewegung, 4. die Behandlung der Versuche einer erneuten Verräumlichung der Utopie in Architektur, Stadtplanung oder Geopolitik und schließlich 5. die Beschäftigung mit Zukunftsvisionen in Literatur, Kunst und Film. 1. Parteien und Politiker stritten in der Weimarer Republik um Ideen und Gestaltungskonzepte und damit immer explizit auch um die Zukunft. Folglich beschäftigen sich die meisten Studien zum politischen System, den Parteien und Verbänden, einzelnen politischen Debatten oder auch intellektuellen Gruppierungen zumindest an einigen Stellen mit den Zukunftserwartungen der jeweiligen Akteure. Dies gilt auch für die politische Ideengeschichte,7) deren Hauptaugenmerk lange auf der politischen Rechten und hier vor allem im Spektrum der so genannten „konservativen Revolution" lag.8) Das vornehm6
) Peter Fritzsche: Did Weimar Fail?, in: Journal of Modern History 68/1996, S. 629-656, hier S. 630. Siehe auch Thomas J. Saunders: Weimar Germany. Crisis as Normalcy - Trauma as Condition, in: Neue Politische Literatur 45/2000, S. 208-226. Als empirische Analyse des politischen Systems bzw. des Reichstags, die methodisch von der prinzipiellen Offenheit der Entwicklung ausgeht, siehe Thomas Mergel·. Parlamentarische Kultur in der Weimarer Republik. Politische Kommunikation, symbolische Politik und Öffentlichkeit im Reichstag, Düsseldorf 2002, S. 14. Schon Mitte der 80er Jahre konstatierte Martin Broszat ganz ähnlich eine Verengung der Forschung zum Nationalsozialismus durch die Fixierung auf dessen Ende; Martin Broszat: Plädoyer für eine Historisierung des Nationalsozialismus, in: Merkur 39/1985, S. 373-385, v. a. S. 380. 7 ) Als Beispiel und Zusammenfassung der Geschichte der politischen Ideen siehe Herfried Münkler: Die politischen Ideen der Weimarer Republik, in: Iring Fetscher/ders. (Hrsg.): Pipers Handbuch der politischen Ideen, Bd. 5, München/Zürich 1987, S. 283-318; als stärker philosophiegeschichtlichen Überblick siehe Norbert J. Schürgers: Politische Philosophie in der Weimarer Republik, Stuttgart 1989. 8 ) Siehe zum Beispiel die klassischen Arbeiten von Fritz Stern: The Politics of Cultural Despair. A Study in the Rise of Germanic Ideology, Berkeley/Los Angeles/London 1961; Kurt Sontheimer: Antidemokratisches Denken in der Weimarer Republik. Die politischen Ideen des deutschen Nationalismus zwischen 1918 und 1933, München 1962, v.a. S. 240-305; George L. Mosse: Die völkische Revolution, Frankfurt/Main 1991 [englische Erstausgabe 1964]; Jeffrey Herf: Reactionary Modernism. Technology, Culture and Politics in Weimar
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1. Einleitung
liehe Erkenntnisinteresse der stark personenbezogenen Analysen von Rechtsradikalismus in der Weimarer Republik richtete sich auf die Differenzbestimmung zur NSDAP. Geklärt werden sollte zumeist die Frage, ob und inwiefern Autoren wie Hans Freyer, Ernst Jünger, Carl Schmitt, Othmar Spann, Edgar Julius Jung oder Arthur Moeller van den Bruck Vordenker oder zumindest eine „intellektuelle Reservearmee" des Nationalsozialismus darstellten. Dabei ging es um die geistigen Ursprünge und Einflussfaktoren des Nationalsozialismus, dessen Ideologie selbst ebenfalls intensiv untersucht wurde, weil sie nach Ansicht der so genannten Intentionalisten den Schlüssel zum Verständnis der nationalsozialistischen Herrschaft bildete.9) Jüngst hat Frank-Lothar Kroll die Geschichtsbilder der „ideologisch relevanten Politiker" bzw. der „ideologischen Repräsentanten" der NSDAP untersucht und dabei die hohe Bedeutung integrativer Zukunftsentwürfe festgestellt.10) In einem breiteren theoretischen Zusammenhang wurde die Zukunftsorientierung des Nationalsozialismus im Rahmen der Totalitarismustheorie sowie ihres kulturalistisch gewendeten Nachfolgers, der Theorie der politischen Religionen, zum Gegenstand wissenschaftlicher Analyse. Schon in ihren klassischen Formulierungen ging die Totalitarismustheorie davon aus, dass die exklusive Ideologie beziehungsweise die Utopie, die versprach, „einen Endzustand der Menschheit" oder „ein Paradies auf Erden" herzustellen, Loyalität erzeugte und sich durch dieses Versprechen auf eine unbestimmte Zukunft gegen Kritik immunisierte.11) Im Anschluss an das von Eric Voegelin und and the Third Reich, Cambridge 1984; sowie die Synthesen durch Armin Möhler: Die konservative Revolution in Deutschland 1918-1932. Ein Handbuch, Darmstadt 51999 [1. Aufl. 1950]; Louis Dupeux: Nationalbolschewismus in Deutschland 1919-1933. Kommunistische Strategie und konservative Dynamik, München 1985; Stefan Breuer. Anatomie der konservativen Revolution, Darmstadt 1993; ders.: Grundpositionen der deutschen Rechten 1871-1945, Tübingen 1999; ders.: Ordnungen der Ungleichheit - die deutsche Rechte im Widerstreit ihrer Ideen 1871-1945, Darmstadt 2001; Raimund von dem Bussche: Konservatismus in der Weimarer Republik. Die Politisierung des Unpolitischen, Heidelberg 1998; Gangolf Hübinger: Säkulare Zeitwendung und „konservative Revolution". Zur Politik mit historischem Epochenbewußtsein, in: Neue Politische Literatur 46/2001, S. 371-388. 9 ) Zum Begriff des Intentionalismus siehe Tim Mason: Intention and Explanation. A Current Controversy about the Interpretation of National Socialism, in: Gerhard Hirsch/eW/Lothar Kettenacker (Hrsg.): Der „Führerstaat". Mythos und Realität. Studien zur Struktur und Politik des Dritten Reiches, Stuttgart 1981, S. 23-42; sowie als klassische intentionalistische Interpretation Eberhard Jäckel: Hitlers Weltanschauung. Entwurf einer Herrschaft, Tübingen 1969 und ders.: Hitlers Herrschaft. Vollzug einer Weltanschauung, Stuttgart 1986. 10 ) Frank-Lothar Kroll: Utopie als Ideologie. Geschichtsdenken und politisches Handeln im Dritten Reich, Paderborn, u.a. 1998, S.311; siehe auch ders.: Der Faktor .Zukunft' in Hitlers Geschichtsbild, in: ders. u.a. (Hrsg.): Neue Wege der Ideengeschichte. Fs. f. Kurt Kluxen, Paderborn u.a. 1996, S.391-409; sowie ders.: Geschichte und Politik im Weltbild Hitlers, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 44/1996, S. 327-355. u ) Carl Joachim Friedrich: Totalitäre Diktatur, Stuttgart 1957, S. 19; Hannah Arendt: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Antisemitismus, Imperialismus, totale Herrschaft, München/Zürich 51996, S.735.
1. Einleitung
17
R a y m o n d A r o n entwickelte T h e o r e m der politischen Religion erhält dabei die Säkularisierung des ehemals transzendenten Erlösungsversprechens eine zentrale Bedeutung und wird als wichtige Motivationskraft moderner politischer B e w e g u n g e n verstanden. 1 2 ) Im Unterschied zu diesen Arbeiten, die sich entweder nur auf die N S D A P oder aber auf Nationalsozialismus und Kommunismus konzentrieren, versuchen andere, die breite Anschlussfähigkeit zentraler I d e o l o g e m e - wie zum Beispiel der Führeridee oder der Denkfigur der A p o kalypse - in der politischen Kultur der Weimarer Republik nachzuweisen. 1 3 ) A n d e r s als auf der politischen Rechten, die nach 1918 angesichts der in ihren A u g e n desolaten Gegenwart in verstärktem Maße Zukunftsvisionen entwickeln musste, lag die große Zeit der sozialistischen Zukunftsvisionen im 19. Jahrhundert. 1 4 ) Dementsprechend setzen sich Untersuchungen der Sozialdemokratie in der Weimarer Republik stärker mit der praktischen Politik der Partei als mit deren Zukunftsvorstellungen auseinander und konstatieren allenfalls eine Verschiebung der U t o p i e in fernere Zukunft. 1 5 ) Eine größere Rolle spielte die U t o p i e noch bei den Kommunisten und wurde hier vor allem in der älteren Historiographie intensiv diskutiert. 1 6 ) Für die liberalen Parteien
12 ) Zur Konzeption siehe Hans Maier: Konzepte des Diktaturvergleichs: „Totalitarismus" und „politische Religionen", in: ders. (Hrsg.):,'Totalitarismus' und .Politische Religionen'. Konzepte des Diktaturvergleichs, Paderborn u.a. 1996, Bd. 1, S.233-250; dazu kritisch Hans Mommsen: Nationalsozialismus als politische Religion, in: ebd., Bd. 2, S. 173-181; Hans Günter Hockerts: War der Nationalsozialismus eine politische Religion? Über Chancen und Grenzen eines Erklärungsmodells, in: Klaus Hildebrand (Hrsg.): Zwischen Politik und Religion. Studien zur Entstehung, Existenz und Wirkung des Totalitarismus, München 2003, S. 45-72. Als empirische Durchführung des Programms Claus-Ekkehard Barsch: Die politische Religion des Nationalsozialismus. Die religiöse Dimension der NS-Ideologie in den Schriften von Dietrich Eckart, Joseph Goebbels, Alfred Rosenberg und Adolf Hitler, München 1998; vergleichende Überlegungen bei Wolfgang Hardtwig: Political Religion in Modern Germany. Reflections on Nationalism, Socialism, and National Socialism, in: Bulletin of the German Historical Institute Washington D.C. 28/2001, S.3-27. 13 ) Klaus Vondung: Die Apokalypse in Deutschland, München 1988; Jürgen Brokoff: Die Apokalypse in der Weimarer Republik, München 2001; Klaus Schreiner: „Wann kommt der Retter Deutschlands?" Formen und Funktionen von politischem Messianismus in der Weimarer Republik, in: Saeculum 49/1998, S. 107-160; ders.: Messianismus. Bedeutungsund Funktionswandel eines heilsgeschichtlichen Denk- und Handlungsmusters, in: Hildebrand: Zwischen Politik und Religion, S. 1-44; Christoph H. Werth: Sozialismus und Nation. Die deutsche Ideologiediskussion zwischen 1918 und 1945, Opladen 1996. 14 ) Siehe Lucian Hölscher: Weltgericht oder Revolution. Protestantische und sozialistische Zukunftsvorstellungen im deutschen Kaiserreich, Stuttgart 1989. 15 ) Als klassische Analyse Heinrich August Winkler: Arbeiter und Arbeiterbewegung in der Weimarer Republik, 3 Bde., Berlin/Bonn 1984-1988; Lucian Hölscher: Die verschobene Revolution. Zur Generierung historischer Zeit in der deutschen Sozialdemokratie vor 1933, in: Wolfgang Hardtwig (Hrsg.): Utopie und politische Herrschaft im Europa der Zwischenkriegszeit, München 2003, S. 219-231. 16 ) Als Kontrastbeispiele Hermann Weber. Hauptfeind Sozialdemokratie. Strategie und Taktik der KPD 1929-1933, Düsseldorf 1982, und Klaus-Michael Mallmann: Kommunisten in der Weimarer Republik. Sozialgeschichte einer revolutionären Bewegung, Darmstadt 1996; jüngst: Riccardo Bavaj: Von links gegen Weimar. Linkes antiparlamentarisches Denken in der Weimarer Republik, Bonn 2005.
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1. Einleitung
und das Zentrum blieb die Frage der Zukunftsvisionen zumeist unterbelichtet. 1 7 ) 2. In enger Verbindung zum Bereich des Politischen standen die Sozialwissenschaften, die sich im Untersuchungszeitraum etablierten und Ansprüche auf Zukunftsgestaltung erhoben. D i e neuere Forschung schließt hier insbesondere an D e t l e v Peukert an, der erklärt hatte: „Seit den neunziger Jahren des letzten [des 19., RG] Jahrhunderts war die Überzeugung, soziale Reformen seien notwendig, zunehmend flankiert und überlagert worden von dem Glauben, alle sozialen Probleme könnten ihre rationale Lösung durch staatliche Intervention und wissenschaftlichen Einsatz finden. Dieser sozialtechnische Machbarkeitswahn verbreitete sich parteiübergreifend und konnte sich durchaus auf praktische Erfahrungen stützen." 18 ) Mit besonderem Blick auf den Nationalsozialismus fasst Lutz Raphael die bisherigen Arbeiten zu den sozialtechnokratischen Experten zusammen, deren Zukunftsvorstellungen er unter dem Begriff des „radikalen Ordnungsdenkens" rubriziert. 19 ) D a b e i geht er davon aus, dass „die Wissenschaften seit der Mitte des 19. Jahrhunderts Zukunftshoffnungen, Glückserwartungen und Sicherheitswünsche beerbt haben, die vorher religiös artikuliert worden" seien. 2 0 ) D i e Ausweitung dieser Machbarkeitsansprüche zeigt sich zunächst in der Soziologie bzw. den Sozialwissenschaften, die ohnehin aus d e m Geist der U t o p i e geboren wurden und eine rationale Steuerung und Planung der Gesellschaft zu erreichen suchten. 2 1 ) In den 1920er Jahren artikulierte sich diese rationalis-
17 ) Ausnahmen wären für den Bereich der Außenpolitik Jürgen C. Heß: Das ganze Deutschland soll es sein. Demokratischer Nationalismus in der Weimarer Republik am Beispiel der Deutschen Demokratischen Partei, Stuttgart 1978; sowie für das katholische Intellektuellenmilieu Dagmar Popping: Abendland. Christliche Akademiker und die Utopie der Antimoderne 1900-1945, Berlin 2002; Klaus Breuning: Die Vision des Reiches. Deutscher Katholizismus zwischen Demokratie und Diktatur (1929-1934), München 1969; Alois Baumgartner: Sehnsucht nach Gemeinschaft. Ideen und Strömungen im Sozialkatholizismus der Weimarer Republik, München/Paderborn/Wien 1977. 18 ) Peukert: Weimarer Republik, S.137. Siehe auch ders. : Max Webers Diagnose der Moderne, Göttingen 1989. 19 ) Siehe Lutz Raphael·. Radikales Ordnungsdenken und die Organisation totalitärer Herrschaft: Weltanschauungseliten und Humanwissenschaftler im NS-Regime, in: Geschichte und Gesellschaft 27/2001, S.5-40; ders. : Sozialexperten in Deutschland zwischen konservativem Ordnungsdenken und rassistischer Utopie, in: Hardtwig: Utopie und politische Herrschaft, S. 327-346. 20 ) Ders.: Die Verwissenschaftlichung des Sozialen als methodische und konzeptionelle Herausforderung für eine Sozialgeschichte des 20. Jahrhunderts, in: Geschichte und Gesellschaft 22/1996, S. 165-193, S. 183. 21 ) Siehe Thomas Nipperdey: Die Funktion der Utopie im politischen Denken der Neuzeit, in: Archiv für Kulturgeschichte 44/1962, S. 357-378, S.368; Wolf Lepenies: Die drei Kulturen. Soziologie zwischen Literatur und Wissenschaft, München 1985, S. 11; Harry Liebersohn: Fate and Utopia in German Sociology, 1870-1923, Cambridge/Mass. 1988; Paul Nolte: Die Ordnung der deutschen Gesellschaft. Selbstentwurf und Selbstbeschreibung im 20. Jahrhundert, München 2000, S. 11-29 u. 127-187.
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tische Zukunftsvision dann noch deutlicher in der Technokratiebewegung, die nicht nur in tayloristisch-fordistischer Manier das gesamte Arbeitsleben, sondern auch Politik und Gesellschaft von technischen Experten rational organisiert wissen wollte. 2 2 ) Darüber hinaus entwickelten vor allem Eugeniker und Sozialhygieniker Vorstellungen einer wissenschaftlichen Lösung der sozialen Frage sowie die Idee eines in der Zukunft herzustellenden „gesunden" und h o m o g e n e n „Volkskörpers". 2 3 ) Aufgrund der internationalen Ausrichtung des Wissenschaftssystems waren diese Tendenzen in Soziologie, Technokratie und Eugenik nicht auf Deutschland beschränkt, sondern auch in anderen Ländern verbreitet. 2 4 ) D a s gilt auch für die beiden folgenden A s p e k t e der Zukunft der Weimarer Republik, Lebensreform und Raumplanung, die ebenfalls v o n wissenschaftlichen Experten und ihren Planungsansprüchen geprägt wurden. 3. D i e Eugenik war zu Beginn des 20. Jahrhunderts nur eines einer R e i h e von intellektuellen A n g e b o t e n , wie eine Erneuerung und Verbesserung des Menschen in der Zukunft zu erreichen sein würde. 2 5 ) D i e s versuchte zum Beispiel auch die Jugendbewegung, die hinaus aus „grauer Städte Mauern" durch ein neues Natur- und Gemeinschaftserleben die als oberflächlich empfundenen bürgerlichen Sozialisations- und Lebensformen überwinden wollte. 2 6 ) Darüber
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) Einführend siehe Charles S. Maier: Between Taylorism and Technocracy. European Ideologies and the Vision of Productivity in the 1920s, in: Journal of Contemporary History 5/1970, S. 27-51; Mary Nolan: Visions of Modernity. American Business and the Modernization of Germany, New York/Oxford 1994; Thomas Rohkrämer: Eine andere Moderne? Zivilisationskritik, Natur und Technik in Deutschland 1880-1933, Paderborn u.a. 1999. 23 ) Aus der reichhaltigen Literatur zum Thema siehe zum Beispiel Paul Weindling: Health, Race and German Politics Between National Unification and Nazism 1870-1945, Cambridge 1989; Peter WeingartlJürgen Kroll! Kurt Bayretz: Rasse, Blut und Gene. Geschichte der Eugenik und Rassenhygiene in Deutschland, Frankfurt/Main 1988; Cornelie Usborne: Frauenkörper - Volkskörper. Geburtenkontrolle und Bevölkerungspolitik in der Weimarer Republik, Münster 1994; Michael Schwartz: Sozialistische Eugenik. Eugenische Sozialtechnologien in Debatten und Politik der Deutsche Sozialdemokratie 1890-1933, Bonn 1995; Hans-Walter Schmuhl: Rassenhygiene, Nationalsozialismus, Euthanasie, Göttingen 1987. 24 ) Dies zeigen zum Beispiel Stefan Kühl: The Nazi Connection: Eugenics, American Racism, and German National Socialism, New York 1994; oder Stefan Willeke: Die Technokratiebewegung in Deutschland zwischen den Weltkriegen. Eine vergleichende Analyse, Frankfurt/Main u. a. 1995. 25 ) Allgemein zur Geschichte der Idee des neuen Menschen Gottfried Küenzlen: Der neue Mensch. Eine Untersuchung zur säkularen Religionsgeschichte der Moderne, München 1994; John Passmore: Der vollkommene Mensch. Eine Idee im Wandel von drei Jahrtausenden, Stuttgart 1975; Nicola Lepp/Martin Roth/ Klaus Vogel: Der neue Mensch. Obsessionen des 20. Jahrhunderts. Katalog zur Ausstellung im Deutschen Hygiene-Museum vom 22. April bis 8. August 1999, Cantz 1999; zu den verschiedenen Konzeptionen des neuen Menschen siehe jetzt Alexandra GerstnerfBarbara Könczöl/Sanma Nentwig (Hrsg.): Der neue Mensch. Utopien, Leitbilder und Reformkonzepte zwischen den Weltkriegen, Frankfurt/Main 2006. 26 ) Als Überblick siehe noch immer Werner Kindt (Hrsg.): Grundschriften der deutschen Jugendbewegung, Düsseldorf/Köln 1963; ders. (Hrsg.): Die deutsche Jugendbewegung 1920 bis 1933. Die bündische Zeit. Quellenschriften, 2 Bde., Düsseldorf/Köln 1974; Tho-
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1. Einleitung
hinaus entwickelten sich in Deutschland seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert viele Vereine zur Lebens- und Gesellschaftsreform, die sich durch eine eminente Zukunftsorientierung sowie einen grundsätzlichen Veränderungswillen auszeichneten.27) Diese Vereine für Ernährungsreform, Vegetarismus, Antialkoholismus, Naturheilkunde, Nackt- und Körperkultur oder Kleidungsreform blieben zwar häufig eher esoterisch und marginal, erfreuen sich aber gerade wegen ihrer oftmals obskuren Gedankengebäude und Zukunftsvisionen regen Interesses in der Geschichtswissenschaft.28) Dies gilt auch für die Pläne zu einer Boden- und Siedlungsreform, die nicht nur diskutiert, sondern auch an vielen Orten zu realisieren versucht wurden. Hier verbanden sich Visionen eines neuen Menschen mit einer neuen Raumordnung und -planung.29) 4. Nachdem sich im 18. Jahrhundert die Wende von der Raum- zur Zeitutopie vollzogen hatte, 30 ) kennzeichnete die Zeitspanne vom ausgehenden 19. bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts eine erneute Verräumlichung des utopischen Denkens. Zumindest zeigt die Forschungsliteratur für die politische Ebene eine Vielzahl von konkreten Raumvisionen sowie für die architektonisch-technische Ebene eine Tendenz zu immer radikaleren Umgestaltungsphantasien. Erstere äußerten sich in der Geopolitik, die in Tradition der älteren Weltmachtpläne stand, dem intensiven Europadiskurs bzw. den verschiedenen Vorschlägen wirtschaftlicher Zusammenschlüsse oder Hegemonialkonzepte sowie den wirkmächtigen Visionen des Reichs, die nach der Niederlage im Krieg nur umso stärker blühten.31) Letztere zeigen sich in verschiedenen Dimensionen auf nahezu allen Ebenen architektonisch-technischer Gestal-
mas KoebnerlRolf-Peter JanzlFrank Trommler (Hrsg.): ,Mit uns zieht die neue Zeit'. Der Mythos Jugend, Frankfurt/Main 1985; Jürgen Reulecke: „Ich möchte einer werden so wie die ...". Männerbünde im 20. Jahrhundert, Frankfurt/Main/New York 2001. 27 ) Ein früher Zugriff von Wolfgang R. Krabbe: Gesellschaftsveränderung durch Lebensreform, Göttingen 1974; siehe auch Kai Buchholz u.a. (Hrsg.): Die Lebensreform. Entwürfe zur Neugestaltung von Leben und Kunst um 1900,2 Bde., Darmstadt 2001. 28 ) Synthetisierend Diethart Kerfes/Jürgen Reulecke (Hrsg.): Handbuch der deutschen Reformbewegungen 1880-1933, Wuppertal 1998; speziell zur Körperkultur jetzt Bernd Wedemeyer-Kolwe: „Der neue Mensch". Körperkultur im Kaiserreich und in der Weimarer Republik, Würzburg 2004. 29 ) Siehe dazu als Überblick Ulrich Linse (Hrsg.): Zurück, oh Mensch, zur Mutter Erde, München 1983; sowie als konkretes Beispiel Ortrud Woerner-Heil: Von der Utopie zur Sozialreform. Jugendsiedlung Frankenfeld im Hessischen Ried und Frauensiedlung Schwarze Erde in der Rhön 1915-1933, Darmstadt 1996. 30 ) Reinhart Koselleck·. Die Verzeitlichung der Utopie, in: Wilhelm Vosskamp (Hrsg.): Utopieforschung, Bd. 3, Stuttgart 1982, S.l-14. 31 ) Siehe Sönke Neitzel: Weltmacht oder Untergang. Die Weltreichslehre im Zeitalter des Imperialismus, Paderborn 2000; Hans-Adolf Jacobsen: Karl Haushofer - Leben und Werk - , 2 Bde., Boppard am Rhein 1979; Bruno Hipler: Hitlers Lehrmeister. Karl Haushofer als Vater der NS-Ideologie, St. Ottilien 1996; Jürgen Elvert·. Mitteleuropa! Deutsche Europapläne der Zwischenkriegszeit (1914-1945), Stuttgart 1999; Kurt Sontheimer: Die Idee des Reiches im politischen Denken der Weimarer Republik, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 13/1962, S. 205-221.
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tung: D a s Bauhaus und andere Architekten entwarfen neue Häuser und Wohnräume, die das traditionelle Lebensumfeld radikal umgestalten und an die wirklichen Bedürfnisse des Menschen anpassen sollten; 32 ) Stadt- und Regionalplaner dachten seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert intensiv über menschenfreundlichere Gestaltungen der Großstädte nach und begannen mit den Planungen ganzer Landschaften. 3 3 ) Weltweit arbeiteten Architekten und Ingenieure an megalomanischen Projekten, die zum Teil Phantasie blieben wie Alfred Sörgels Plan, durch zwei große Staudämme den Meeresspiegel des Mittelmeeres zu senken, um eine Landverbindung zwischen Afrika und Europa zu schaffen, und zum Teil realisiert wurden wie die Projekte der Tennessee Valley Authority während des N e w Deal. 3 4 ) 5. Schließlich herrschte in verschiedenen Bereichen der künstlerischen Produktion sowie der Populärkultur in der Weimarer Republik ein großes Interesse an Zukunft und Utopien. Im Anschluss an den Ersten Weltkrieg blühten die Genres des Zukunftsromans und der science fiction,35) Auch zur Beschreibung internationaler Entwicklungen in der bildenden Kunst und der Malerei vor dem Beginn der N e u e n Sachlichkeit wird in der Forschung oftmals der Begriff der Utopie benutzt. 3 6 ) Dies gilt auch für die Filmgeschichts-
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) Siehe Adelheid v. Saldern·. „Statt Kathedralen die Wohnmaschine". Paradoxien der Rationalisierung im Kontext der Moderne, in: Frank Bajohr (Hrsg.): Zivilisation und Barbarei, Hamburg 1991, S. 168-192; dies.: Symbolische Stadtpolitik - Stadtpolitik der Symbole. Repräsentationen in drei politischen Systemen, in: Inszenierter Stolz. Stadtrepräsentationen in drei deutschen Gesellschaften (1935-1975), Stuttgart 2005, S. 29-80, v.a. S. 60-67; Winfried Νerdinger: Architekturutopie und Realität des Bauens zwischen Weimarer Republik und Drittem Reich, in: Hardtwig: Utopie und politische Herrschaft, S. 269-286; Norbert Huse: „Neues Bauen" 1918 bis 1933. Moderne Architektur in der Weimarer Republik, München 1975. 33 ) Siehe Mechthild Rössler: Area Research and Spatial Planning from the Weimar Republic to the German Federal Republic. Creating a Society with a Spatial Order under National Socialism, in: Monika Renneberg (Hrsg.): Science, Technology and National Socialism, Cambridge 1994, S. 126-138; Christian Kopetzki: Grundlinien des Stadt-Umbaus im Deutschen Reich zwischen 1918 und 1933, in: Gerhard Fehl/Juan Rodriguez-Lores (Hrsg.): Stadt-Umbau: die planmäßige Erneuerung europäischer Großstädte zwischen Wiener Kongreß und Weimarer Republik, Basel/Berlin 1995, S. 273-288. 34 ) Dirk van Laak: Weiße Elefanten. Anspruch und Scheitern technischer Großprojekte im 20. Jahrhundert, Stuttgart 1999; ders.: Imperiale Infrastruktur. Deutsche Planungen für eine Erschließung Afrikas 1880 bis 1960, Paderborn 2004, S. 195-264; Wolfgang Voigt: Atlantropa. Weltbauen am Mittelmeer. Ein Architektentraum der Moderne, Hamburg 1998. 35 ) Peter S. Fisher: Fantasy and Politics. Visions of the Future in the Weimar Republic, Madison 1991; Jost Hermand: Der alte Traum vom neuen Reich. Völkische Utopien und Nationalsozialismus, Frankfurt/Main 1988; Dina Brandt: „Und die Welt sah, was deutscher Geist geschaffen". Der deutsche Zukunftsroman 1918-1924, Diss., München 2004. 36 ) Siehe zum Beispiel Victor Margolin: The Struggle for Utopia. Rodchenko, Lissitzky, Moholy Nagy 1917-1946, Chicago/London 1997; Guggenheim Museum (Hrsg.): The Great Utopia. The Russian and Soviet Avant-Garde, 1915-1932, New York 1992; zeitgenössisch bereits Bruno Adler (Hrsg.): Utopia. Dokumente der Wirklichkeit, Weimar 1921 [ND München 1980],
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1. Einleitung
Schreibung, vor allem wenn sie sich für die 1920er Jahre mit den Filmen von Fritz Lang beschäftigt, die wirkmächtige Zukunftsvisionen darstellten.37) Nachdem es an Detailstudien zu den Zukunftsvorstellungen einzelner Personen oder Gruppen nicht mangelt, geht es im Folgenden darum, den Zukunftsdiskurs im gesamten politischen und intellektuellen Spektrum in seinen wesentlichen Strukturmerkmalen und seiner Dynamik zu beschreiben, um so den politischen und kulturellen Gestaltungsraum in der Weimarer Republik zu erfassen.38) Die Integration der verschiedenen Aspekte des Zukunftsdiskurses wird dabei durch eine Akzentverschiebung ermöglicht: Im Unterschied zu den zitierten Arbeiten, die sich auf die Inhalte der Zukunftsvorstellungen konzentrieren, werden diese hier über die formalen Merkmale und Strukturen ihrer Artikulation erfasst. Diese Perspektiwerschiebung resultiert aus der Beobachtung, dass die Zeitgenossen oftmals weniger über die konkreten Inhalte der Zukunftsvorstellungen stritten, sondern vielmehr über die Einstellungen und Haltungen gegenüber der Zukunft, die in bestimmten sprachlichen Formen zum Ausdruck kamen. Sie beobachteten genau, wie die Kontrahenten und Gegner über die Zukunft redeten beziehungsweise schrieben, und sahen in diesen Redeweisen einen wesentlichen Faktor für den Erfolg oder Misserfolg intellektueller und politischer Positionen. Daher richtet sich das Hauptaugenmerk der folgenden Untersuchung auf die Formen der Zukunftsaneignung. Dieser Begriff bezeichnet sowohl die sprachliche Aneignung dessen, was noch nicht ist, als auch den Versuch politischer Akteure, sich die Zukunft selbst zu eigen zu machen, indem sie ihre Gestaltungsansprüche durchsetzen.39) Als zentrale Fragestellung ergibt sich also: Wie entwickelten sich die Zukunftsaneignungen der verschiedenen politischen und intellektuellen Gruppen in der Weimarer Republik, und welche Bedeutung hatten die sprachlich artikulierten Einstellungen zur Zukunft für
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) Siehe Guntram Geser. Fritz Lang. Metropolis und Die Frau im Mond. Zukunftsfilm und Zukunftstechnik in der Stabilisierungszeit der Weimarer Republik, Meitingen 1996; Dietrich Neumann: The Urbanistic Vision in Fritz Lang's Metropolis, in: Thomas W. Kniesche/ Stephen Brockmann (Hrsg.): Dancing on the Volcano. Essays on the Culture of the Weimar Republic, Columbia 1994, S. 143-162. Als Übertragung des Begriffs auf weitere Phänomene der Popkultur siehe Susan Buck-Morss: Dreamworld and Catastrophe: The Passing of Mass Utopia in East and West, Cambridge/Mass. 2000, ν. a. S. 98-221. 38 ) Zu einer solchen Integration gibt es bereits Ansätze. Siehe Hardtwig: Utopie und politische Herrschaft; FöllmeriGraf (Hrsg.): „Krise" der Weimarer Republik; Wolfgang Hardtwig (Hrsg.): Ordnungen in der Krise. Zur politischen Kulturgeschichte Deutschlands 1900-1933, München 2007, v.a. S. 115-190. 39 ) Während ich „Zukunftserwartung" als allgemeinen Begriff gebrauche, bezeichnet „Zukunftsvorstellung" im Unterschied zu Zukunftsaneignung den inhaltlichen Aspekt der Erwartung. Gerade wegen der im Folgenden herauszuarbeitenden aktivistisch-gestalterischen Grundierung des Zukunftsdiskurses in der Weimarer Republik scheint mir der Begriff der Zukunftsaneignung zu seiner Charakterisierung geeignet zu sein. Die Übertragbarkeit des Begriffs auf andere Epochen, in denen eventuell eher passiv-kontemplative Formen des Redens über die Zukunft vorherrschten, bliebe zu überprüfen.
1.1 Politische Kultur in der Weimarer Republik
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die Herausbildung von politischem und intellektuellem Konsens beziehungsweise Dissens? Zur Klärung dieser Frage lassen sich vier Unterfragen bilden. 1. Optimismus oder Pessimismus: Erwarteten die Zeitgenossen eine wirtschaftliche, politische oder gesellschaftliche Verbesserung der Lage in der Zukunft oder befürchteten sie eine Verschlechterung? Was dachten sie über die Möglichkeit, die Zukunft in ihrem Sinn zu gestalten und Verbesserungen zu erreichen? 40 ) 2. Kontinuität oder Bruch: Würden zukünftige Veränderungen bzw. die vielfach erhoffte „neue Zeit" das Produkt einer kontinuierlichen Entwicklung sein oder würden sie nur durch einen fundamentalen Bruch realisiert werden? 41 ) 3. Dimensionen der Erwartungen: In welchen zeitlichen und räumlichen Dimensionen bewegten sich die Zukunftsvorstellungen? War der Zeitpunkt der Veränderung unbestimmt, war er noch fern oder war er nah? Hatte die Zukunft vielleicht bereits begonnen, und wenn ja: in welcher Form an welchem Ort? 4. Aktivitätskonzeptionen: Was erschien wem als die beste Handlungsstrategie, um die Zukunft zu gestalten beziehungsweise Verbesserungen zu erreichen? Welche Haltungen sprachen aus den unterschiedlichen Strategien?
1.1 Politische Kultur in der Weimarer Republik Mit der Klärung dieser Fragen leistet die Arbeit einen Beitrag zur Untersuchung der politischen Kultur in der Weimarer Republik. Das Theorem der politischen Kultur wird seit Mitte der 1980er Jahre in der deutschen Geschichtswissenschaft intensiv diskutiert42) und erfreut sich vor allem im Zusammenhang der kulturgeschichtlichen Wende der 1990er Jahre immer größerer Beliebtheit. Genauso wie die Sozialgeschichte in den 1960er Jahren den Anspruch erhob, nicht nur Teilbereichsgeschichte zu sein, sondern eine neue Erklärung politischer Prozesse zu liefern, formuliert die Kulturgeschichte
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) Als Versuch einer theoretischen Explizierung der Begriffe Optimismus und Pessimismus siehe Graham T.T. Molitor: Change: Optimistic and Pessimistic Perspectives, in: George Thomas Kurianlders. (Hrsg.): Encyclopedia of the Future, Bd. 2, New York 1996, S. 78f. Eine Differenzierung zwischen Seins- und Willensoptimismus bei Frederik L. Polak: The Image of the Future. Enlightening the Past, Orienting the Present, Forecasting the Future, Leyden/New York 1961, S. 46-48. 41 ) Graham T.T. Molitor. Continuity and Discontinuity, in: Kurianlders:. Encyclopedia of the Future, Bd. 1, S. 151-153. 42 ) Ausgangsdefinition bei Gabriel L. Almond/Sidney Verba: The Civic Culture. Political Attitudes and Democray in Five Nations, Princeton/New York 1963. Zur deutschen Rezeption Dirk Berg-SchlosserlJakob Schissler (Hrsg.): Politische Kultur in Deutschland. Bilanz und Perspektiven der Forschung, Opladen 1987.
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1. Einleitung
heute diesen Erklärungsanspruch. 43 ) Anstatt nur das Kulturelle an der Politik zu untersuchen, soll Politik selbst als kulturelles Phänomen begriffen und erklärt werden. 44 ) Dazu wird zumeist mit Karl Rohe zwischen politischer Soziokultur und politischer Deutungskultur unterschieden.45) Als Deutungskultur, zu der auch Zukunftsvorstellungen gehören würden, bezeichnet Rohe das Konglomerat von aus Ideen zusammengesetzten Weltbildern, die wie bei Max Weber als „Weichensteller" die Bahnen bestimmen, in denen die Dynamik der Interessen das Handeln fortbewegt.46) Bei ihrer Analyse, so betonte Rohe, müsse „nicht nur das was, sondern auch das wie eines (politischen) Weltbildes" - nicht nur die Inhalts-, sondern vor allem auch die Ausdrucksseite - untersucht werden. 47 ) In Weiterführung dieses Ansatzes unterscheidet Thomas Mergel vier hauptsächliche Untersuchungsfelder der Analyse politischer Kultur: 1. die Rituale und symbolischen Repräsentationen, 2. den politischen Handlungs- und Kommunikationsraum, 3. politische Diskurse und Sprachstrukturen, 4. eine Wahrnehmungs- und Mentalitätsgeschichte der Politik.48) Obwohl all dies wichtige Gegenstände der politischen Kulturforschung sein können, sind sie doch nicht gleichrangig, sondern den Diskursen und Sprachstrukturen kommt eine Zentralstellung zu.49) Sie bestimmen nicht nur den Kommunikationsraum der politischen Akteure, sondern auch die externe Wahrnehmung der Politik. Darüber hinaus müssen viele Rituale und Symbole zunächst sprachlich begriffen werden, bevor sie Sinn ergeben. Wenn der Raum des Politischen wesentlich kommunikativ konstituiert und damit durch Kommunikation veränderlich ist,50) müssen bei seiner Analyse 43
) Wolfgang HardtwiglHans-Ulrich Wehler (Hrsg.): Kulturgeschichte Heute, Göttingen 1996; Hans-Ulrich Wehler: Die Herausforderung der Kulturgeschichte, München 1998; Thomas MergeltThomas Welskopp (Hrsg.): Geschichte zwischen Kultur und Gesellschaft. Beiträge zur Theoriedebatte, München 1997; Ute Daniel·. Clio unter Kulturschock. Zu den aktuellen Debatten der Geschichtswissenschaft, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 48/1997, S. 195-218 u. 259-278. 44 ) So explizit Thomas Mergel: Überlegungen zu einer Kulturgeschichte der Politik, in: Geschichte und Gesellschaft 28/2002, S. 574-606, S.586f.; Barbara Stollberg-Rilinger: Einleitung: Was heißt Kulturgeschichte des Politischen, in: dies. (Hrsg.): Was heißt Kulturgeschichte des Politischen?, Berlin 2005, S. 9-24, S. 10. 45 ) Karl Rohe: Politische Kultur und ihre Analyse. Probleme und Perspektiven der politischen Kulturforschung, in: Historische Zeitschrift 250/1990, S. 321-346, S.340; ders.: Politische Kultur und der kulturelle Aspekt von politischer Wirklichkeit, in: Berg-Schlosserl Schissler: Politische Kultur in Deutschland, S. 39-48. Rohe: Politische Kultur und ihre Analyse, S.333. Max Weber: Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, B d . l , Tübingen 1988 [1. Aufl. 1922], S.252. 47 ) Rohe: Politische Kultur und ihre Analyse, S. 334-337, Zitat S.337. 48 ) Mergel: Kulturgeschichte der Politik, S. 596-601. 49 ) Siehe auch Thomas Childers: The Social Language of Politics in Germany. The Sociology of the Political Discourse in the Weimar Republic, in: The American Historical Review 95/1990, S. 331-358. 50 ) Siehe dazu auch Ute Frevert: Politische Kommunikation und ihre Medien, in: dies.l Wolfgang Braungart (Hrsg.): Sprachen des Politischen. Medien und Medialität in der Geschichte, Göttingen 2004, S.7-19; bes. S.9 u. 12.
1.1 Politische Kultur in der Weimarer Republik
25
zunächst die kommunikativen und diskursiven Strukturen aufgedeckt werden, die ihn ordnen. Durch die Untersuchung des Gesagten beziehungsweise Sagbaren kann man dann zu einem besseren Verständnis des Gemachten beziehungsweise Machbaren vorstoßen.51) Die Auffassung des politischen Raumes als kommunikativ konstituiert erweitert und öffnet den Begriff des Politischen.52) In seiner klassisch gewordenen Definition fasst Max Weber „Politik" als das Streben nach „Machtanteil oder nach Beeinflussung der Machtverteilung, sei es zwischen Staaten, sei es innerhalb eines Staates zwischen Menschengruppen", wobei Macht die Chance bedeutet, „innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel worauf diese Chance beruht". 53 ) Dieser Politikbegriff begrenzt den Raum des Politischen zunächst auf eine bestimmte Gruppe von Personen, die gesellschaftlich und lokal genau zu verorten sind: In Parlamenten, Kabinetten, Ministerien, Botschaften, Behörden und im 20. Jahrhundert vielleicht auch think tanks agieren sie miteinander und „machen Politik". Ein solches Verständnis von Politik kennzeichnet die traditionelle, oftmals außenpolitikfixierte Politikgeschichtsschreibung. Allerdings eröffnet bereits Webers Definition eine breitere Perspektive. Denn auch Intellektuelle und Publizisten wollen durch ihre Texte und Kritiken die Machtverteilung in einer bestimmten Richtung beeinflussen, auch wenn sie sich dazu nur der Kraft des gesprochenen oder geschriebenen Wortes bedienen. Mit der Ausweitung der Gruppe der politischen Akteure einher geht eine Erweiterung der politischen Themen und Gegenstände. So erklärt Achim Landwehr im Anschluss an die aristotelische Politikdefinition, politisch sei, was „die Einrichtung des Sozialen und die Produktion, Reproduktion und Transformation sozialer Verhältnisse" betrifft. In diesem Sinne erweitert sich der Raum des Politischen und jede Handlung kann prinzipiell politisch sein.54) Ein derart weiter Politikbegriff liegt zunächst auch der vorliegenden Analyse zugrunde. In ihrem Verlauf soll er aber durch
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) Willibald Steinmetz: Das Sagbare und das Machbare. Zum Wandel politischer Handlungsspielräume. England 1780-1867, Stuttgart 1993. Ein ähnlicher Ansatz auch bei Gabriele Metzler. Konzeptionen politischen Handelns von Adenauer bis Brandt. Politische Planung in der pluralistischen Gesellschaft, Paderborn u. a. 2005. 52 ) Achim Landwehr: Diskurs - Macht - Wissen. Perspektiven einer Kulturgeschichte des Politischen, in: Archiv für Kulturgeschichte 85/2003, S. 71-117, S. 105. Weder dessen konstruktivistische Folgerungen noch sein Diskursbegriff werden hier geteilt. Als - allerdings ebenso problematische - Kritik an Landwehr siehe Thomas Nicklas: Macht - Politik - Diskurs. Möglichkeiten und Grenzen einer politischen Diskursgeschichte, in: Archiv für Kulturgeschichte 86/2004, S.l-25. Vgl. zur Kritik relativistischer Positionen demgegenüber Rüdiger Graf. Interpretation, Truth, and Past Reality. Donald Davidson Meets History, in: Rethinking History 7.3/2003, S. 387-402. 53 ) Siehe Max Weber. Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie, 5., revidierte Aufl., besorgt v. Johannes Winckelmann, Tübingen 1980 [1. Aufl. 1921, hg. v. Marianne Weber], S.822 u. 28. 54 ) Landwehr: Diskurs - Macht - Wissen, S.98f.; ähnlich auch Frevert: Politische Kommunikation und ihre Medien, S. 12.
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1. Einleitung
die Analyse der zeitgenössischen Zukunftsaneignungen genauere Konturen erhalten. Denn indem der Zukunftshorizont der Weimarer Republik rekonstruiert wird, entfaltet sich auch ihr politischer Gestaltungsraum. Die Arbeit ergänzt und erweitert somit die bisherigen Forschungen zur politischen Kultur der Weimarer Republik, die drei Schwerpunkte haben: Erstens werden politische Ausdrucksformen und Interaktionsprozesse als kulturelle Phänomene begriffen und diese dann mit dem „Blick des Ethnologen" beschrieben.55) Zweitens widmen sich viele Studien im Anschluss an M. Rainer Lepsius' Begriffsprägung des sozialmoralischen Milieus den verschiedenen, überaus heterogenen und oft lokal begrenzten Sozial- und Deutungskulturen.56) Drittens untersuchen oftmals politikwissenschaftliche Arbeiten die Deutungskulturen, die in verschiedenen Presseorganen zum Ausdruck kamen. 57 ) Dem dritten Zugang stehen die folgenden Überlegungen am nächsten, unterscheiden sich jedoch von den meisten dieser Arbeiten, die eine starke Fragmentierung der politischen Kultur im Vorhinein unterstellen, verschiedene Gruppen anhand ihrer ideologischen Ausrichtung schematisch unterscheiden und nach exakten Definitionen von oftmals sehr fluiden Gebilden suchen.58) Jenseits fein ziselierter intellektueller Differenzen, die in der Ideengeschichte oft im Vordergrund stehen, wird gezeigt, inwieweit bestimmte Zukunftsaneignungen über die Lagergrenzen hinweg anschlussfähig waren. Anstatt die oft nur schwer zu bestimmende intellektuelle oder politische Gruppenzugehörigkeit der Autoren in den Vordergrund zu stellen, wird von den Zukunftsaneignungen her gedacht und deren Verbreitung untersucht.59)
55
) Siehe stellvertretend Mergel: Parlamentarische Kultur in der Weimarer Republik; Dirk Schumann: Politische Gewalt in der Weimarer Republik. Kampf um die Straße und Furcht vor dem Bürgerkrieg, Köln 2001. 56 ) M. Rainer Lepsius: Parteiensystem und Sozialstruktur. Zum Problem der Demokratisierung der deutschen Gesellschaft, in: Gerhard A. Ritter (Hrsg.): Deutsche Parteien vor 1918, Köln 1973, S. 56-80. Siehe auch den guten Überblick über die frühe Milieuforschung bei Siegfried Weichlein: Sozialmilieus und politische Kultur in der Weimarer Republik. Lebenswelt, Vereinskultur, Politik in Hessen, Göttingen 1996, S. 11-17; sowie als Beispiel Frank Bosch: Das konservative Milieu. Vereinskultur und lokale Sammlungspolitik in ostund westdeutschen Regionen 1900-1960, Göttingen 2002. 57 ) Vgl. die Ergebnisse des politologischen Forschungsprojektes zur politischen Kultur der Weimarer Republik in Detlef Lehnertl Klaus Megerle (Hrsg.): Politische Identität und nationale Gedenktage. Zur politischen Kultur der Weimarer Republik, Opladen 1989; dies. (Hrsg.): Politische Teilkulturen zwischen Integration und Polarisierung. Zur politischen Kultur in der Weimarer Republik, Opladen 1990. 58 ) Die größte Nähe besteht zu Dietmar Schirmer: Mythos, Heilshoffnung, Modernität. Politisch-kulturelle Deutungscodes in der Weimarer Republik, Opladen 1992. Im Unterschied zu Schirmer werden hier jedoch mehr und heterogener erschlossene Quellen untersucht, keine wortstatistischen, sondern hermeneutische Verfahren angewendet und eine starre Modellbildung vermieden. 59 ) Dies schlägt sich in der Gliederung nieder, die sich primär an den Formen der Zukunftsaneignung orientiert und erst auf sekundären Gliederungsebenen - wenn notwendig - an den klassischen politisch-intellektuellen Differenzierungen der Ideengeschichte.
1.2 Vergangene Zukunft und Geschichtswissenschaft
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Auf diese Weise sollen die wesentlichen Konfliktlinien nicht verwischt, sondern vielmehr die gemeinsamen Grundlagen herausgearbeitet werden, auf deren Basis sie entstehen konnten. Damit schließt die Arbeit an neuere Forschungen zur intellectual history der Weimarer Republik an, die betonen, dass eindeutige Klassifikationen und Dichotomien wie rechts/links, republikanisch/ antirepublikanisch oder modern/antimodern die inneren Ambivalenzen der verschiedenen Gruppen nicht erfassen können. 60 ) Da die Suche nach neuen Begrifflichkeiten noch in den Anfängen steckt,61) wird auch danach gefragt, inwiefern über die Haltungen zur Zukunft eine Interpretation des intellektuellen und politischen Spektrums möglich ist, die die intellektuelle Nähe zwischen Angehörigen ganz verschiedener Milieus beziehungsweise die Distanz zwischen Angehörigen desselben Milieus erklärt. 62 )
1.2 Vergangene Zukunft und Geschichtswissenschaft Die Geschichtswissenschaft beschäftigt sich mit der Vergangenheit, und es gehört quasi zum Statusbewusstsein von Historikerinnen und Historikern, keine Aussagen über die Zukunft zu machen. Diese Selbstbeschränkung konstituiert einerseits den Charakter von Geschichte als Wissenschaft, führt jedoch bisweilen zu einer déformation professionnelle: Bei der Untersuchung von Zeitvorstellungen beziehungsweise der mentalen Verfassung vergangener Zeiten tendieren Historikerinnen und Historiker dazu, den Vergangenheitsbezug stark zu akzentuieren, den Zukunftsbezug aber zu vernachlässigen. Weil sie selbst professionelle Vergangenheitsdeuter sind, bemühen sie sich vor allem darum, für verschiedene Gruppen und Epochen herauszuarbeiten, dass und inwiefern der Bezug auf eine gemeinsame Vergangenheit „kollektive Identitäten" konstituiert habe. 63 )
^ Siehe Manfred Gangli Gérard Raulet (Hrsg.): Intellektuellendiskurse in der Weimarer Republik. Zur politischen Kultur einer Gemengelage, Frankfurt/Main 1994; Wolfgang Bialas: Intellektuellengeschichtliche Facetten der Weimarer Republik, in: Georg Iggerslders. (Hrsg.): Intellektuelle in der Weimarer Republik, Frankfurt/Main u.a. 1996, S. 13-30, S.14f. 61 ) Siehe den Vorschlag von Michael Makropoulos, die entscheidende Trennlinie entlang der Begriffe „Kontingenztoleranz" und „Kontingenzaufhebung" zu ziehen. Michael Makropoulos: Krise und Kontingenz. Zwei Kategorien im Modernitätsdiskurs der klassischen Moderne, in: Föllmer/Graf: Die „Krise" der Weimarer Republik, S. 45-76. 62 ) Dazu sind jedoch zunächst die traditionellen Begriffe noch nötig. Idealerweise wären diese die Leiter, die man zum Aufstieg benötigt, danach aber wegwerfen kann. Siehe Ludwig Wittgenstein: Tractatus Logico Philosophicus (Werkausgabe, B d . l ) , Frankfurt/Main 10 1994, S.85. 63 ) Siehe zur erfundenen Tradition Eric HobsbawmPCeience Ranger (Hrsg.): The Invention of Tradition, Cambridge 1983; zur kollektiven Identität Bernhard Giesen (Hrsg.): Nationale und kulturelle Identität, Frankfurt/Main 1991; Helmut Berding (Hrsg.): Nationales Bewußtsein und kollektive Identität, Frankfurt/Main 1994; ders. (Hrsg.): Mythos und Nation, Frankfurt/Main 1996; zu Gedächtnis und Memoria Maurice Halbwachs·. Das Ge-
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1. Einleitung
Nichtsdestoweniger ist die oft vorgebrachte Klage der (historischen) Zukunftsforscher, die Geschichtswissenschaft beschäftige sich nur mit der Vergangenheit und übergehe die (vergangene) Zukunft, in dieser Allgemeinheit nicht zutreffend. 64 ) Vielmehr haben Historikerinnen und Historiker schon lange in verschiedenen Zusammenhängen vergangene Zukunftsvorstellungen behandelt, und unter dem Eindruck der expandierenden Zukunftsforschung in den 1950er und 1960er Jahren widmete sich bereits 1962 ein Historikertag dem Thema Zukunft. 65 ) Dort argumentierte Karl Dietrich Erdmann im Anschluss an Martin Heidegger, Zukunft sei eine Zentralkategorie der Geschichte, da die Menschen ein grundsätzlich zukunftsgerichtetes Leben führten. 66 ) Nur wenige Jahre später schloss Reinhard Wittram mit der These an, „das Element Zukunft, die Zukunft selbst [sei] aus keiner historischen Betrachtung auszuschließen".67) Zukunftsvorstellungen spielen vor allem in drei Zusammenhängen eine zentrale Rolle: als Schlüssel zur Erklärung menschlicher Handlungen, zu vergangenen Bewusstseinsstrukturen oder zu kollektiven Integrationsprozessen. Die Erforschung historischer Zukunftsvorstellungen dient zunächst dazu, die je spezifischen Erwartungshaltungen einer Zeit freizulegen, um so der historistischen Forderung zu entsprechen, jede Epoche aus sich selbst heraus zu verstehen.68) Weil Menschen grundsätzlich im Lichte erwarteter und erhoffter Zukunft reden und handeln, sind ihre Handlungen nur dann zu verstehen oder zu erklären, wenn ihre Zukunftserwartungen beziehungsweise die von ihnen wahrgenommenen Handlungsspielräume rekonstruiert werden. Neben dieser eher instrumenteilen Behandlung von Zukunftsvorstellungen versuchen andere Arbeiten den Wandel von Zukunftsvorstellungen selbst dächtnis und seine sozialen Bedingungen, Frankfurt/Main 1985 [1. Aufl. Frankreich 1925]; Jan Assmann: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München 1997; sowie zu den Erinnerungsorten Hagen Schulze! Etienne François (Hrsg.): Deutsche Erinnerungsorte, 3 Bde., München 2001. Auch in Steffen Bruendel (Hrsg.): Kollektive Identität, Berlin 2000, akzentuieren die Autoren trotz eines anders lautenden Bekenntnisses die Vergangenheit stärker als die Zukunft. Siehe vor allem die methodische Einführung: Ebd., S.4-16. So z.B. Moshe Zimmermann·. Die aussichtslose Republik. Zukunftsperspektiven deutscher Juden vor 1933, in: Menora 1/1990, S. 152-183, S. 152. 65 ) Alexander Schmidt-Gernig: Die gesellschaftliche Konstruktion der Zukunft. Westeuropäische Zukunftsforschung und Gesellschaftsplanung zwischen 1950 und 1980, in: WeltTrends 18/1998, S. 63-84; Ernst Schulin: Die Zukunft im historisch-politischen Denken des zwanzigsten Jahrhunderts, in: Heinz Löwe (Hrsg.): Geschichte und Zukunft. Fünf Vorträge, Berlin 1978, S. 91-110. tä) Karl Dietrich Erdmann: Die Zukunft als Kategorie der Geschichte, in: Historische Zeitschrift 198/1964, S.44-61. 67 ) Reinhard Wittram: Zukunft in der Geschichte. Zu Grenzfragen zwischen Geschichtswissenschaft und Theologie, Göttingen 1966, S.6. 68 ) Ebd.; als klassische Formulierung siehe Leopold Ranke: Vorrede zu den .Geschichten der romanischen und germanischen Völker von 1494 bis 1535' (1824), in: Wolfgang Hardtwig (Hrsg.): Über das Studium der Geschichte, München 1990, S. 42-46.
1.2 Vergangene Zukunft und Geschichtswissenschaft
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über längere Zeiträume in den Blick zu nehmen. Vor allem Reinhart Koselleck begreift die Entstehung der modernen Welt über den Wandel der Zukunftsvorstellungen, indem er zeigt, „daß sich in der Neuzeit die Differenz zwischen Erfahrung und Erwartung zunehmend vergrößert, genauer, daß sich die Neuzeit erst als eine neue Zeit begreifen läßt, seitdem sich die Erwartungen immer mehr von allen bis dahin gemachten Erfahrungen entfernt haben." 6 9 ) Mit dem Auseinandertreten von Erfahrungsraum und Erwartungshorizont öffnete sich der Raum des Politischen für grundsätzlich neue, nicht mehr unmittelbar aus der Erfahrung abgeleitete Utopien und Pläne. Jenseits des Großprojektes, die Temporalisierung und Zukunftsorientierung des zentralen politisch-sozialen Vokabulars während der so genannten Sattelzeit nachzuweisen, 7 0 ) belegen diesen säkularen Wandel inzwischen auch diverse Einzelstudien für das 18. und 19. Jahrhundert. 71 ) Zusammenfassend argumentiert Lucían Hölscher, seit der Entdeckung der Zukunft in der Neuzeit habe die Periode von 1890 bis 1950 in Europa einen Höhepunkt des Zukunftsdenkens dargestellt. 72 ) Schließlich spielt die vergangene Zukunft eine zentrale Rolle für eine Geschichte historischer Zeiten bzw. des menschlichen Zeitbewusstseins. Individuen, Kollektive, Organisationen und Institutionen, so die Annahme, leben nicht nur in der natürlichen Zeit, sondern haben ihre eigenen Zeitrhythmen und Zeitvorstellungen, die es im Sinne einer historischen Anthropologie auf-
69
) Reinhart Koselleck: Erfahrungsraum und Erwartungshorizont - zwei historische Kategorien, in: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt/Main 3 1995, S. 349-375, S.359. Ganz ähnlich erklärt Niklas Luhmann: „Vielmehr wechselt [in der Neuzeit, RG] der Zeithorizont, der die Selektivität der Gegenwart primär steuert. Es ist nicht mehr vergangene, sondern künftige Selektivität, auf die bei gegenwärtiger Verhaltenswahl hauptsächlich geachtet wird. Die Gegenwart versteht sich als Vergangenheit künftig-kontingenter Gegenwarten und wählt sich selbst als Vor-Auswahl im Rahmen künftiger Kontingenz." Niklas Luhmann: Weltzeit und Systemgeschichte. Über Beziehungen zwischen Zeithorizonten und sozialen Strukturen gesellschaftlicher Systeme, in: Soziologische Aufklärung 2. Aufsätze zur Theorie der Gesellschaft, Opladen 1986, S. 103-133, S. 124; ders.: Temporalisierung von Komplexität. Zur Semantik neuzeitlicher Zeitbegriffe, in: Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft, Bd. 1, Frankfurt/Main 1980, S. 235-300. 70 ) Otto Brunner/Werner Conze/Reinhart Koselleck (Hrsg.): Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, 8 Bde., Stuttgart 1972-1997. Siehe zum Gesamtprojekt kritisch Christof Dipper. Die „Geschichtlichen Grundbegriffe". Von der Begriffsgeschichte zur Theorie der historischen Zeiten, in: Historische Zeitschrift 270/2000, S. 281-308. 71 ) Siehe zum Beispiel Hölscher: Weltgericht oder Revolution, v.a. S. 438-440 und passim, sowie Steinmetz: Das Sagbare und das Machbare, v. a. S. 312. 72 ) Lucian Hölscher: Die Entdeckung der Zukunft, Frankfurt/Main 1999, S. 129-216. Anders und undifferenzierter konstruiert Georges Minois das 20. Jahrhundert insgesamt als eine Zeit abnehmender Zukunftseuphorie; Georges Minois: Geschichte der Zukunft. Orakel, Prophezeiungen, Utopien, Prognosen, Düsseldorf/Zürich 1998, S.671-710.
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1. Einleitung
zudecken gilt. 7 3 ) In diesem Zusammenhang k ö n n e n sowohl die historische Variabilität der alltäglichen Zeiterfahrungen von Individuen als auch die kollektiven Zeitkonstruktionen bestimmter - zum Beispiel politischer oder religiöser - Gruppen zum Gegenstand der Untersuchung werden. 7 4 ) D a b e i ist der „Zeitsinn" zunächst in menschliche Handlungen und ihre Alltagspraxis eingelagert und dort wirksam, aber er kann expliziert und reflektiert werden und wird es auch in der Moderne in z u n e h m e n d e m Maße. 7 5 ) D e n n in der N e u zeit und verstärkt seit d e m ausgehenden 19. Jahrhundert vollzog sich auf der E b e n e der Alltagserfahrungen zunächst eine Erschütterung und dann eine Fundamentaltransformation der Wahrnehmung von R a u m und Zeit. 7 6 ) Durch technologische Entwicklungen wie die Verfeinerung und Universalisierung der Zeitmessung oder n e u e und immer schnellere Kommunikations- und Transportmittel schien die Zeit geradlinig in eine Zukunft zu laufen, die im Sinne klassischer Fortschrittskonzeptionen als weit o f f e n stehend gedacht wurde. 7 7 )
73
) Zur Theorie der historischen Zeit siehe Reinhart Koselleck: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt/Main 1989; ders.: Zeitschichten. Studien zur Historik, Frankfurt/Main 2000; stärker anthropologisch gewendet Jörn Rüsen: Typen des Zeitbewusstseins - Sinnkonzepte des geschichtlichen Wandels, in: Friedrich Jaeger (Hrsg.): Handbuch der Kulturwissenschaften, Bd. 1: Grundlagen und Schlüsselbegriffe, Stuttgart 2004, S. 365-384. Aus ethnologischer Perspektive siehe Wolfgang Kaschuba, Die Überwindung der Distanz. Zeit und Raum in der europäischen Moderne, Frankfurt/Main 2004. 74 ) Zur Anthropologie und Soziologie von Zeiterfahrung siehe zum Beispiel Jack Goody: Time. Social Organization, in: International Encyclopedia of the Social Sciences, Bd. 16, New York 1968, S. 30-37; Norbert Elias: Über die Zeit, Frankfurt/Main 1984; Pierre Bourdieu: Ökonomische Praxis und Zeitdispositionen, in: Entwurf einer Theorie der Praxis, Frankfurt/Main 1976; Günter Dux: Die Zeit in der Geschichte. Ihre Entwicklungslogik vom Mythos zur Weltzeit, Frankfurt/Main 1992; Rainer Zoll: Zeiterfahrung und Gesellschaftsform, in: ders. (Hrsg.): Zerstörung und Wiederaneignung von Zeit, Frankfurt/Main 1988, S. 72-88; Rudolf Wendorjf. Zeit und Kultur. Geschichte des Zeitbewusstseins in Europa, Opladen 1985. Zur Integration politischer Gruppen über eine bestimmte Konzeption historischer Zeit siehe beispielsweise Studien zu Messianismus und Utopismus in der Geschichte wie Norman Cohn: Das Ringen um das Tausendjährige Reich. Revolutionärer Messianismus im Mittelalter und sein Fortleben in den modernen totalitären Bewegungen, Bern 1961; Krishan Kumar: Utopianism, Bristol 1991; J. L. Talmon: Politischer Messianismus. Die romantische Phase, Köln/Opladen 1963; Jürgen Gebhardt: Messianische Politik und ideologische Massenbewegung, in: Joachim H. Knoll!Julius H. Schoeps (Hrsg.): Von kommenden Zeiten, Stuttgart/Bonn 1984, S. 40-59. 75 ) Dazu Rüsen: Typen des Zeitbewusstseins, S.375f. 76 ) Stephen Kern: The Culture of Time and Space 1880-1918, Cambridge/Mass. 1983, v. a. S. 314; siehe auch Rainer Zoll (Hrsg.): Zerstörung und Wiederaneignung von Zeit, Frankfurt/Main 1988. 77 ) Martin Burckhardt: Metamorphosen von Raum und Zeit. Eine Geschichte der Wahrnehmung, Frankfurt/Main 1997; Angela Schwarz: „Wie uns die Stunde schlägt". Zeitbewußtsein und Zeiterfahrungen im Industriezeitalter als Gegenstand der Mentalitätsgeschichte, in: Archiv für Kulturgeschichte 83/2001, S. 451^79. Zum Fortschrittsdenken allgemein siehe Ernest Gellner: Thought and Change, Chicago 1964; sowie Kapitel 5.2.
1.2 Vergangene Zukunft und Geschichtswissenschaft
31
In all diesen Zusammenhängen sind Zukunftsvorstellungen keine luftigen Ideengebäude, die nichts mit der harten Wirklichkeit zu tun haben. Als „ebenso politische und soziale wie kulturelle, ja selbst ökonomische Gebilde" treten sie „in allen Bereichen des menschlichen Lebens" auf und haben ein hohes Maß an sozialer Wirksamkeit und damit Realität. 78 ) Ihre historische Wirkmächtigkeit zeigt zum Beispiel Robert K. Mertons Theorie der self-fulfilling prophecy: Anhand einer realen Bankeninsolvenz, die lediglich durch die weite Verbreitung von Befürchtungen erzeugt wird, eine solche Insolvenz könne eintreten, demonstriert Merton, dass „Definitionen einer Situation (Prophezeiungen oder Voraussagen), die im öffentlichen Bewußtsein wirksam sind, ein integraler Bestandteil der Situationen selbst werden und dadurch spätere Entwicklungen beeinflussen."79) Zukunftsvorstellungen dürfen also nicht nur auf ihre Richtigkeit oder Falschheit hin befragt werden, und vor allem darf ihr Realitätsgehalt nicht an ihrer späteren Realisierung gemessen werden. Vielmehr gilt es zu rekonstruieren, warum und auf welche Weise bestimmte Vorstellungen wirksam waren und andere nicht bzw. was wann für wen vorstellbar war. Mertons Theorie der self-fulfilling prophecy deutet auf eine weitere wichtige Differenzierung für die Analyse vergangener Zukunft: Nicht nur Individuen bilden Zukunftsvorstellungen aus, sondern auch Kollektive.80) Dabei addieren sich jedoch nicht immer wie im Beispiel der selbstinduzierten Bankeninsolvenz die individuellen Befürchtungen einfach zu einer kollektiven Befürchtung gleichen Inhalts. Kollektive Zukunftsvorstellungen, d. h. Erwartungen, die das Kollektiv und seine Entwicklung betreffen, sind mehr als die Summe der individuellen Zukunftsperspektiven. Sie werden vor allem von Publizisten, Intellektuellen und Politikern geprägt und sind zwar wegen deren individueller Verwurzelung im Kollektiv nicht unabhängig von den individuellen Perspektiven, aber eben auch nicht auf sie zu reduzieren oder aus ihnen abzuleiten. Kollektive Zukunftsvorstellungen prägen individuelle, ohne sie zu determinieren, und bilden sie zugleich ab, ohne sie zu spiegeln.81) Noch stärker als bei der Untersuchung der politischen Kultur gilt bei vergangenen Zukunftsvorstellungen, dass man sich zunächst und vor allem der
78
) Lucían Hölscher: Zukunft und historische Zukunftsforschung, in: Jaeger. Handbuch der Kulturwissenschaften, Bd. 1, S. 401-416. Zum Begriff der sozialen Wirklichkeit und der Existenz sozialer, aber dennoch objektiver Fakten siehe John R. Searle: The Construction of Social Reality, New York 1995, v. a. S. 31-58. 79 ) Robert K. Merton: Die Eigendynamik gesellschaftlicher Voraussagen, in: Ernst Topitsch (Hrsg.): Logik der Sozialwissenschaften, Königstein/Ts. 10 1980, S. 144-161, S. 146. 80 ) Zum Begriff der kollektiven Zukunftsvorstellungen siehe auch Hölscher: Zukunft und historische Zukunftsforschung, S.402. 81 ) Mit Reinhart Koselleck kann man sagen, der kollektive Zukunftsdiskurs indiziere und induziere die Zukunftsaneignungen der Bevölkerung. Siehe Reinhart Koselleck: Begriffsgeschichte und Sozialgeschichte, in: Vergangene Zukunft, Frankfurt/Main 3 1995, S. 107-129.
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1. Einleitung
Sprache zuwenden muss, in der diese artikuliert wurden. Denn die Zukunft ist uns nicht anders als sprachlich zugänglich: „Nicht Vergangenheit und Zukunft als solche sind wir nämlich bereit, als seiend anzusehen, sondern Zeitqualitäten, die in der Gegenwart existieren können, ohne daß die Dinge, von denen wir sprechen, wenn wir sie erzählen oder vorhersagen, noch oder schon existieren." 82 ) Nach dieser Augustin-Lektüre von Paul Ricoeur gibt es „keine zukünftige, keine vergangene und keine gegenwärtige Zeit, sondern eine dreifache Gegenwart, eine solche des Zukünftigen, des Vergangenen und des Gegenwärtigen". 83 ) Weil sich die temporale Auffächerung und Ausdifferenzierung der menschlichen Erfahrung nicht anders als mit den Mitteln der Sprache vollziehen kann, müssen die sprachlichen Ausdrucksformen der Zukunftsvorstellungen im Mittelpunkt der Analyse stehen.84) Im Unterschied zu den meisten anderen Studien zur vergangenen Zukunft geht die vorliegende Arbeit nicht von elaborierten, oftmals geschichtsphilosophisch oder religiös fundierten Modellen der Ordnung historischer Zeit aus. Mit Optimismus/Pessimismus, Kontinuität/Bruch, zeitlicher und räumlicher Nähe und Ferne sowie den Ausdrücken zur Bezeichnung der verschiedenen Aktivitätskonzeptionen verwendet sie relativ allgemeine und flache, d. h. nicht theoretisierungsbedürftige und vielleicht auch nicht theoretisierungsfähige Begriffe. Gegenüber Studien zu Apokalypse, Fortschrittsdenken, Utopie, Mythos oder Heilsgeschichte85) hat dieses Vorgehen wichtige Vorteile: Zunächst geht es von den Debattenstrukturen und -Verläufen in der Weimarer Republik aus, die breiten Gruppen der Bevölkerung zugänglich waren, und nicht von fein nuancierten geschichtsphilosophischen Modellen, die nur wenige Intellektuelle interessierten. Die Zeitgenossen stritten eher um Fragen wie „Kontinuität oder Bruch?" oder über die „Nähe" oder „Ferne" der „neuen Zeit" als über die Beschreibung der Gegenwart mit den Begriffen der Apokalypse. Darüber hinaus erlaubt die Arbeit mit derart allgemeinen Begriffen, viele Texte zueinander in Beziehung zu setzen, anstatt wie bei einer ausgefeilten Modellstruktur nur entscheiden zu können, ob ein Text ihr entspricht oder nicht. Auf diese Weise werden Texte vergleichbar, die ansonsten unvermittelt nebeneinander stünden, und diskursive Übergänge plausibel, die sonst unver-
82
) Paul Ricoeur. Zeit und Erzählung, Bd. 1: Zeit und historische Erzählung, München 1988, S.22. 83 ) Ebd., S. 99. Zur sprachlichen Vereinfachung wird mentales und linguistisches Vokabular weitgehend synonym gebraucht. Aussagen darüber, was bestimmte Gruppen oder Autoren erwarteten, hofften, befürchteten, prophezeiten, prognostizierten, voraussagten, wünschten, sich vorstellten oder erreichen wollten, meinen also, wenn nicht anders gekennzeichnet, was sie zu einem bestimmten Zeitpunkt in einem bestimmten Kontext mit den zur Verfügung stehenden sprachlichen Mitteln artikulierten. 8S ) Siehe als Beispiele Brokoff: Die Apokalypse; Schirmer: Mythos, Heilshoffnung, Modernität; Hermand: Der alte Traum vom neuen Reich.
1.3 Was ist ein Zukunftsdúfcurs?
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ständlich blieben. 8 6 ) Darüber hinaus schließt dieses Vorgehen die Untersuchung elaborierter M o d e l l e historischer Zeit nicht aus, weil sich diese aus den o b e n vorgestellten Grundelementen zusammensetzten und daher auch über sie zu rekonstruieren sind. 8 7 )
1.3 Was ist ein Zukunftsdiskursl Nach der inflationären Verwendung des Diskursbegriffs in der Geschichtswissenschaft der letzten zwanzig Jahre ist dessen Bedeutung alles andere als klar. 88 ) Grundsätzlich bezeichnet „Diskurs" Strukturen des Sprachgebrauchs oberhalb der E b e n e einzelner Sätze, die von eng verwandten Begriffen wie Text, Debatte, Rhetorik oder Sprachspiel nicht oder nur unzureichend erfasst werden. 8 9 ) Zur A n a l y s e von Zukunftsaneignungen ist er deshalb besonders gut geeignet, weil er anders als Begriffe wie Idee, Vorstellung, Mentalität oder Bewusstseinsform keine geistigen Entitäten mit fragwürdigem ontologischen Status postuliert, sondern sich direkt auf die E b e n e der Sprache bezieht. In der Diskurstheorie wird grundsätzlich zwischen zwei Bedeutungen von „Diskurs" unterschieden, nämlich zwischen einem akteursbasierten, meist auf die Analyse konkreter Kommunikationsprozesse abzielenden und vor allem im angloamerikanischen Sprachraum vorherrschenden Verständnis und einem
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) Im Sinne von Stephen Kerns Überlegungen zur „conceptual difference" ermöglichen die Begriffe also durch die Relationierung von Texten aus heterogenen Kontexten die Bestimmung von „Zeitgeistphänomenen". Kern: Culture of Time and Space, S. 7. Zur post-hegelianischen Zeitgeist-Forschung siehe Carl E. Schorske: Fin-de-siècle Vienna. Politics and Culture, New York 1980, S.xxii; Hans Joachim Schoeps: Was ist und was will die Geistesgeschichte? Über Theorie und Praxis der Zeitgeistforschung, Göttingen/Berlin/ Frankfurt/Main 1959. 87 ) Die Explikation dieser Modelle, um die sich oft lange Forschungsdiskussionen ranken, wird an den entsprechenden Stellen in der Arbeit erfolgen. Siehe v.a. Kapitel 5. 88 ) Zur Begriffsgeschichte siehe Helge Schalk: Diskurs. Zwischen Allerweltswort und philosophischem Begriff, in: Archiv für Begriffsgeschichte 40/1997/98, S. 56-104; sowie als Verwendungen Peter Schüttler. Mentalitäten, Ideologien, Diskurse. Zur sozialgeschichtlichen Thematisierung der „dritten Ebene", in: Alf Lüdtke (Hrsg.): Alltagsgeschichte. Zur Rekonstruktion historischer Erfahrungen und Lebensweisen, Frankfurt/New York 1989, S. 85-136, S. 102; Achim Landwehr. Geschichte des Sagbaren. Einführung in die historische Diskursanalyse, Tübingen 2001, S. 65f.; Ludolf Herbst: Komplexität und Chaos. Grundzüge einer Theorie der Geschichte, München 2004, S. 154-162. 89 ) Dietrich Busse/Wolfgang Teubert: Ist Diskurs ein sprachwissenschaftliches Objekt? Zur Methodenfrage der historischen Semantik, in: Dietrich Busse u.a. (Hrsg.): Begriffsgeschichte und Diskursgeschichte. Methodenfragen und Forschungsergebnisse der historischen Semantik, Opladen 1994, S. 10-28, S.7. Zum Begriff allgemein Wallace Chafe u.a.: Discourse, in: International Encyclopedia of Linguistics, Bd. 1, New York/Oxford 1992, S. 355-371; A. McHoul·. Discourse, in: The Encyclopedia of Language and Linguistics, Bd.2, Oxford 1994, S.940-949; Reiner Keller u.a.: Zur Aktualität sozialwissenschaftlicher Diskursanalyse. Eine Einführung, in: dies. (Hrsg.): Handbuch sozialwissenschaftlicher Diskursanalyse, Bd. 1: Theorien und Methoden, Opladen 2001, S.7-27, S.9.
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1. Einleitung
aus Frankreich stammenden, das stärker auf die unpersönlichen Strukturen größerer Textkorpora abzielt und zumeist mit Michel Foucault verbunden wird. 9 0 ) B e i d e Diskursverständnisse erzeugen bei der historischen Analyse schwerwiegende Probleme. 9 1 ) A u f der einen Seite wird d e m angloamerikanischen Diskursverständnis vorgeworfen, den Akteuren ein zu großes M a ß an kommunikativer Freiheit zuzugestehen und die einschränkende Macht der Sprachstrukturen systematisch zu unterschätzen. Auf der anderen Seite kann die Foucault'sche Diskurstheorie keine zufriedenstellenden Antworten auf die zentralen Fragen liefern, wie die Grenzen von Diskursen zu bestimmen und Diskurstransformationen zu erklären sind. 9 2 ) A u s diesem Grund plädieren einige Historikerinnen und Historiker für eine Vermittlung von akteurszentrierter und strukturfixierter Perspektive. 9 3 ) Dieser Impetus liegt auch der vorliegenden Arbeit zugrunde, deren Diskursverständnis an die Philosophie D o n a l d Davidsons anschließt. 9 4 ) Im Unterschied zu vielen anderen und insbesondere (post-)strukturalistischen Sprachtheorien setzt Davidsons Bedeutungstheorie keine mehr oder weniger auton o m e sprachliche E b e n e voraus. Ausgangspunkt ist vielmehr eine konkrete Kommunikations- oder Übersetzungssituation, in der wir uns kein autonomes und vorher bestehendes Set sprachlicher R e g e l n aneignen, sondern bestimmte
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) Siehe John E. Toews: Intellectual History after the Linguistic Turn. The Autonomy of Meaning and the Irreducibility of Experience, in: The American Historical Review 92/1987, S. 879-907, S.889f.; Keller: Zur Aktualität sozialwissenschaftlicher Diskursanalyse, S. 9; Peter Schüttler: Wer hat Angst vor dem „linguistic turn"?, in: Geschichte und Gesellschaft 23/1997, S. 134-151, S.138f.; ders.: Sozialgeschichtliches Paradigma und historische Diskursanalyse, in: Jürgen FohrmannlHano Müller (Hrsg.): Diskurstheorien in der Literaturwissenschaft, Frankfurt/Main 1988, S. 159-199; Günther Lottes: „The state of the Art". Stand und Perspektiven der „intellectual history", in: Kroll: Neue Wege der Ideengeschichte, S.27^5, hier S. 43-45; Landwehr: Geschichte des Sagbaren, S. 65-102, unterscheidet mehr Begriffe, die sich aber letztlich auf diese Fundamentaldifferenz reduzieren lassen. 91 ) Siehe dazu ausführlich mit Literaturangaben Rüdiger Graf. Diskursanalyse und radikale Interpretation. Davidsonianische Überlegungen zu Grenzen und Transformationen historischer Diskurse, in: Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 16/2006, S. 67-86, bes. S. 61-67. 92 ) Das gilt auch für ihre Neufassung durch Philipp Sarasin: Geschichtswissenschaft und Diskursanalyse, in: Geschichtswissenschaft und Diskursanalyse, Frankfurt/Main 2003, S. 10-60; ders.: Diskurstheorie und Geschichtswissenschaft, in: Keller: Handbuch sozialwissenschaftlicher Diskursanalyse, S. 53-79; ders.: Subjekte, Diskurse, Körper. Überlegungen zu einer diskursanalytischen Kulturgeschichte, in: HardtwiglWehler: Kulturgeschichte Heute, S. 131-164. Siehe dazu Graf: Diskursanalyse und radikale Interpretation, S. 67-69. 93 ) Metzler: Konzeptionen politischen Handelns von Adenauer bis Brandt, S.20; Lottes: „The State of the Art", S. 44f.; Lutz Raphael: Diskurse, Lebenswelten und Felder. Implizite Vorannahmen über das soziale Handeln von Kulturproduzenten im 19. und 20. Jahrhundert, in: HardtwiglWehler: Kulturgeschichte Heute, S. 165-181, bes. S. 169. 94 ) Als ersten Zugang zu Davidson siehe Kathrin Gliier: Donald Davidson zur Einführung, Hamburg 1993; sowie zu seiner Relevanz für die Geschichtstheorie Graf: Interpretation, Truth, and Past Reality.
1.3 Was ist ein Zukunftsdis/curs?
35
Annahmen über die Welt erwerben. 95 ) Diese Meinungen stehen zu anderen in logischen Beziehungen und ihre Summe bildet so etwas wie den Hintergrund, vor dem man sich in einer Sprache bewegt. In aktuellen Kommunikationssituationen laufen sie unhinterfragt mit, und obwohl jede einzelne Annahme prinzipiell überprüft und verworfen werden kann, ist das in einer realen Kommunikationssituation immer nur für einige, aber nie für alle zusammen möglich.96) Mit Sprachen erwerben wir also Weltbilder, die weder unveränderlich noch von heute auf morgen umzustürzen sind, wohl aber in längeren Prozessen Schritt für Schritt zu transformieren. Dieses Modell lässt sich nicht nur auf die Alltagssprache, sondern auch auf spezifischere Sprachen oder Diskurse anwenden: Indem man die Fähigkeit erwirbt, an der Kommunikation einer scientific community, einer bestimmten sozialen Gruppe oder der Sprachgemeinschaft zu einem bestimmten Problembereich teilzunehmen, eignet man sich zugleich ein spezifisches Wissen über die Welt und die Meinungen der anderen Sprechenden an. Bei begrenzten Diskursen kann man die Grundannahmen noch extern mit den Ressourcen der Alltagssprache oder einer anderen Teilsprache insgesamt in Frage stellen oder ablehnen. Sobald man sich aber innerhalb eines Diskurses bewegt, ist das nicht mehr möglich. Man kann nur noch einzelne Annahmen auf den Prüfstand stellen und muss dazu eine größere Zahl von Hintergrundannahmen akzeptieren. Die zentralen Annahmen des Diskurses, die seine Identität konstituieren, sind nun gerade jene, die von den meisten implizit oder explizit geteilt werden und deren Infragestellung den Beteiligten die größten Schwierigkeiten bereitet. Bei seiner Untersuchung sollten folglich zunächst diese zentralen Grundannahmen definiert werden. Erst in einem zweiten Schritt können auf der Basis dieser Kernüberzeugungen die wesentlichen Differenzen und Konfliktlinien analysiert werden, weil sprachliche Konflikte erst auf der Basis geteilter Überzeugungen entstehen können. 97 ) Ein solches Diskursverständnis eröffnet nicht nur die Möglichkeit, die Transformation eines Diskurses über die Aktivität der Sprecherinnen und Sprecher zu untersuchen,98) sondern es liefert auch ein Kriterium zur Bestim95
) Donald Davidson·. Radical Interpretation, in: Inquiries into Truth and Interpretation, Oxford 1984, S. 125-140; die ursprüngliche Idee der radikalen Übersetzung bei Willard Van Orman Quine: Word and Object, Cambridge/Mass. 1960, hier S. 26-79; als kurze Zusammenfassung Graf: Diskursanalyse und radikale Interpretation, S. 69-72. 96 ) Etwas Ähnliches bezeichnet Jürgen Habermas mit dem „Begriff der Lebenswelt", die aus „unproblematischen Hintergrundüberzeugungen" besteht und die „vorgetane Interpretationsarbeit vorangegangener Generationen" speichert. Jürgen Habermas: Die Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. 1, Frankfurt/Main 1995 [basiert auf der 4., durchges. Aufl. v. 1987], S. 107,123 u. 150. 97 ) Donald Davidson: On the Very Idea of a Conceptual Scheme, in: Inquiries into Truth and Interpretation, S. 183-198, hier S. 197. 98 ) So auch Mark Bevir: The Role of Contexts in Understanding and Explanation, in: Hans Erich Bödeker (Hrsg.): Begriffsgeschichte, Diskursgeschichte, Metapherngeschichte, Göttingen 2002, S. 159-208, S. 189. Der große Vorteil von Davidsons Theorie resultiert
36
1. Einleitung
mung seiner Grenzen: Zum Diskurs gehören alle sprachlichen Äußerungen, die die ihn konstituierenden Grundannahmen implizit voraussetzen, explizit teilen oder aber kritisieren und zu transformieren suchen. Im Unterschied zu den meisten historischen Anwendungen wird der Diskurs hier also nicht durch externe Kriterien wie seine soziale Trägerschicht, seine Publikationsorte oder bestimmte Institutionen definiert. 99 ) Über die Zugehörigkeit einer Äußerung zum Zukunftsdiskurs entscheidet vielmehr das Kriterium, ob sie sich auf die zentralen Grundannahmen zu Optimismus und Pessimismus, Kontinuität und Bruch, Erwartungsdimensionen und Aktivitätskonzeptionen bezieht. Der Verzicht auf eine externe Grenzziehung eröffnet die Möglichkeit, den vielgestaltigen Ausdrucksformen des Diskurses in heterogenen Quellen nachzugehen, um seinen fluiden, heterogenen und oftmals diffusen Charakter zu untersuchen. Der Diskurs verliert bei dieser Betrachtungsweise seinen eindeutig festzulegenden Ort. Grundsätzlich kann man zwischen stärker und weniger stark institutionell gebundenen Diskursen unterscheiden. So verfügen die meisten wissenschaftlichen Diskurse über ein Zentrum von Institutionen und Publikationsorganen, wo klare Regeln über Inklusion und Exklusion entscheiden. Dieses Zentrum ist aber bei anderen Diskursen wie zum Beispiel über Ehe und Familie wesentlich schwächer ausgeprägt und es fehlt beim Zukunftsdiskurs in der Weimarer Republik fast vollständig. Zukunftsaneignungen äußerten sich mehrheitlich in Texten, die systematisch ganz unterschiedlichen Diskursen zugeordnet werden können. Nichtsdestoweniger bilden die verschiedenen Aussagen über die Zukunft, auch wenn sie ganz unterschiedlichen Kontexten angehören, einen eigenen diskursiven Zusammenhang, dem die Zeitgenossen große Bedeutung beimaßen. Wo sie auftauchten, bezogen sie sich auf die oben ausdifferenzierten Fragen, die ihnen auch jenseits institutioneller Festschreibung eine spezifische Struktur gaben. In gewissen Sinne handelte es sich also um einen Interdiskurs, der in anderen Diskursen auftauchte und sie miteinander vernetzte.100)
daraus, dass sie ohne den Begriff der Regel auskommt. Donald Davidson: A Nice Derangement of Epitaphs, in: Ernest LePore (Hrsg.): Truth and Interpretation. Perspectives on the Philosophy of Donald Davidson, Oxford 1986, S. 433-446; ders: The Second Person, in: Midwest Studies in Philosophy 17/1992, S. 255-266. " ) Vgl. Anson Rabinbach: The Human Motor. Energy, Fatigue, and the Origins of Modernity, Berkeley 1990, bes. S. 17, oder Philipp Sarasin: Reizbare Maschinen. Eine Geschichte des Körpers 1765-1914, Frankfurt/Main 2001, bes. S. 95-172. 100) vor dem Hintergrund der bisherigen Ausführungen wird die Unterscheidung zwischen Inter- und Spezialdiskursen allerdings relativ. Zum Interdiskurs siehe Jürgen Link: Literaturanalyse als Interdiskursanalyse. Am Beispiel des Ursprungs literarischer Symbolik in der Kollektivsymbolik, in: Fohrmann/Müller: Diskurstheorien in der Literaturwissenschaft, S. 284-310; Axel DrewsfUte Gerhard/Jürgen Link: Moderne Kollektivsymbolik, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur, Sonderheft 1/1985, S. 256-295; Gérard Raulet: Interdiskursivität als Methode der Literaturwissenschaft und der Ideengeschichte, in: Kenichi Mishina/Hikaru Tsuji (Hrsg.): Dokumentation des Sym-
1.3 Was ist ein Zukunftsdufcurs?
37
Vor der inhaltlichen Beantwortung der oben ausdifferenzierten Frage, welche Bedeutung die Zukunftsaneignungen in der Weimarer Republik für die Etablierung von politischem Konsens und Dissens hatten, müssen die Produktionsbedingungen des Zukunftsdiskurses genauer untersucht werden (Kapitel 2). Dazu wird das Quellensample vorgestellt (2.1), die Trägerschicht sozial genauer verortet (2.2) und die zeitliche Eingrenzung der Untersuchung begründet (2.3). Anhand eines Panoramas intellektueller Zukunftsvorstellungen aus dem Jahr 1928 werden dann wesentliche Aspekte des Zukunftsdiskurses skizziert (Kapitel 3), die in den folgenden vier Hauptkapiteln systematisch entfaltet werden. Dabei wird der Zukunftsdiskurs aus verschiedenen Perspektiven beleuchtet, indem nach Optimismus/Pessimismus (Kapitel 4), Kontinuität/ Bruch (Kapitel 5), zeitlichen und räumlichen Dimensionen (Kapitel 6) sowie Aktivitätskonzepten (Kapitel 7) gefragt wird. Da in jedem Kapitel der gesamte Diskurs aus einer neuen Richtung in den Blick genommen wird, tauchen viele Texte und Autoren an mehreren Stellen der Arbeit auf. Obwohl sie jeweils in neuen Hinsichten gelesen und interpretiert werden, ergeben sich daraus zwangsläufig einige Redundanzen. Diese wurden zu vermeiden gesucht, mussten aber bis zu einem gewissen Grade in Kauf genommen werden, weil nur so in den Einzelkapiteln Zusammenhänge deutlich gemacht und die Kapitel zugleich als selbständige Analysen gelesen werden können. Im Anschluss an die vier Kernkapitel der Arbeit wird der Grad des Gestaltbarkeitsbewussteins in der Weimarer Republik noch einmal anhand des Reflexionsdiskurses über die Macht des Geistigen genauer erfasst (Kapitel 8). Abschließend werden die Ergebnisse der Analyse des Zukunftsdiskurses auf Detlev Peukerts Interpretation der Weimarer Republik als „Krisenjahre der klassischen Moderne" bezogen und danach gefragt, inwieweit sie diese Deutung modifizieren (Kapitel 9).
posiums „Interkulturelle Deutschstudien. Methoden, Möglichkeiten und Modelle", München 1992, S. 135-155, v.a. S. 137; Manfred Gangl: Interdiskursivität und chassés-croisés. Zur Problematik der Intellektuellendiskurse in der Weimarer Republik, in: Sven HanuschekíTherese Hornigk/Chrísúne Malende (Hrsg.): Schriftsteller als Intellektuelle. Politik und Literatur im Kalten Krieg, Tübingen 2002, S. 43.
2. Entstehungsbedingungen des Zukunftsdiskurses in der Weimarer Republik 2.1 Die Medien des Zukunftsdiskurses D e r beste Zugang zu den Zukunftsaneignungen der Menschen in der Weimarer Republik sind deren öffentliche Äußerungen über die Zukunft. 1 ) Begreift man die Öffentlichkeit „nicht als Akteur, sondern als Raum", „innerhalb dessen verschiedene Akteure agieren", 2 ) kann man innerhalb dieses R a u m e s zumindest drei verschiedene E b e n e n unterscheiden, die von je eigenen Kommunikationsregeln geprägt werden: die £ncou«rer-Öffentlichkeit, die Versammlungsöffentlichkeit und die massenmediale Öffentlichkeit. 3 ) Seit d e m 19. Jahrhundert wurde die massenmediale E b e n e mit Massenpresse, R a d i o und Fernsehen immer bedeutsamer, so dass der Zeitraum v o m ausgehenden 19. Jahrhundert bis in die Zwischenkriegszeit bisweilen als mediale Revolution begriffen wird. 4 ) Massenmedien überlagern konkrete Raumstrukturen und konstituieren auf diese Weise weite Kommunikationszusammenhänge, deren Grenzen durch ihre Verbreitung sowie die Rezeptionsfähigkeit und -bereitschaft des Publikums bestimmt werden. 5 ) Dadurch prägen sie auch die Kommunikation der Teilöffentlichkeiten auf der Encounter- und der Versammlungse b e n e sowie private Gespräche. 6 ) A l s „Ausdruck, integrativer Bestandteil und
!) Zur Diskussion um „Öffentlichkeit" siehe Karl Christian FührerlKmit HickethierlAxel Schildf. Öffentlichkeit - Medien - Geschichte. Konzepte der modernen Öffentlichkeit und Zugänge zu ihrer Erforschung, in: Archiv für Sozialgeschichte 41/2001, S. 1-38; Lucían Hölscher. Öffentlichkeit, in: Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 4, Stuttgart 1978, S. 413^*67; Jürgen Habermas: Der Strukturwandel der Öffentlichkeit, Neuaufl., Frankfurt/Main 1990; Peter v. Moos: Die Begriffe öffentlich' und .privat' in der Geschichte und bei den Historikern, in: Saeculum 49/1998, S. 161-192. 2 ) Jörg Requate: Öffentlichkeit und Medien als Gegenstände historischer Untersuchung, in: Geschichte und Gesellschaft 25/1999, S.5-32, S.8; Axel Schildf. Das Jahrhundert der Massenmedien. Ansichten zu einer künftigen Geschichte der Öffentlichkeit, in: Geschichte und Gesellschaft 27/2001, S. 177-206, v. a. S. 188. 3 ) Jürgen Gerhards!Friedhelm Neidhardt: Strukturen und Funktionen moderner Öffentlichkeit. Fragestellungen und Ansätze, in: Stefan Miiller-Doohm (Hrsg.): Öffentlichkeit, Kultur, Massenkommunikation. Beiträge zur Medien- und Kommunikationssoziologie, Oldenburg 1991, S.31-88, S.55ff. Siehe auch Requate: Öffentlichkeit und Medien, S. 13f. 4 ) Martin Kohlrausch: Der Monarch im Skandal. Die Logik der Massenmedien und die Transformation der Wilhelminischen Monarchie, Berlin 2005, S. 48-53. Dabei handelt es sich um eine Revolution der technischen Verbreitungsmedien; Mike Sandbothe: Medien Kommunikation - Kultur. Grundlagen einer pragmatischen Kulturwissenschaft, in: Jaeger. Handbuch der Kulturwissenschaften, S. 119-127, S. 120. 5 ) Schildt: Jahrhundert der Massenmedien, S. 188f. 6 ) Zu dieser Differenzierung des Öffentlichkeitsbegriffs siehe FührerlHickethierl Schildt: Öffentlichkeit - Medien - Geschichte, S. 11. Dort auch weiterführende Literatur.
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2. Entstehungsbedingungen des Zukunftsdiskurses
konstitutiver Faktor moderner Gesellschaftsentwicklung seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert" bilden Massenmedien folglich den Ansatzpunkt der Analyse des Zukunftsdiskurses von 1918 bis 1933.7) Da dem 1923 in Deutschland eingeführten Radio erst in der Weltwirtschaftskrise der Durchbruch gelang und es auch dann zunächst eher als Unterhaltungsmedium diente, handelt es sich vor allem um Druckerzeugnisse.8) Um den Zukunftsdiskurs in seiner thematischen Breite und diachronen Dynamik zu erfassen, eignen sich insbesondere Tageszeitungen und politisch-kulturelle Zeitschriften, weil sie über eine größere Zahl von Wissensgebieten berichten und periodisch erscheinen. Wirkungsmächtige Vorstellungen aus Politik, Wirtschaft und Gesellschaft, aber auch Kunst, Architektur, Wissenschaft, Literatur und Populärkultur wurden in ihnen reflektiert und von ihnen geprägt. Den Kern des Quellenkorpus bilden folglich mehr als 1000 Artikel aus Tageszeitungen und Zeitschriften, von dem aus etwa 350 selbständige Publikationen erschlossen wurden, mittels derer die Diskurszusammenhänge vertieft werden können. 9 ) Da Periodika an bestimmte intellektuelle und politische Milieus gebunden waren, erreichten sie nur unterschiedliche Teilöffentlichkeiten. Um die Repräsentativität der in ihnen enthaltenen Zukunftsvorstellungen und mithin die Reichweite der Diskursanalyse abschätzen zu können, müssen also zunächst ihre Ausrichtung und Verbreitung skizziert werden.
2.1.1
Zeitschriften
Zeitschriften erscheinen zumeist in Wochen- oder Monatsabständen und verfügen über ein Programm, aus dem sich Themen der Berichterstattung und Tendenzen der Kommentierung ableiten. Politische oder besser politisch-kulturelle Zeitschriften sind prädestiniert zur Analyse des Zukunftsdiskurses, weil es ihnen per definitionem um die Deutung der Gegenwart im Lichte von Vergangenheit und Zukunft geht.10) Je nach programmatischer Ausrichtung unterscheiden sich Zeitschriften jedoch in Bezug auf die Intensität der in ihnen enthaltenen Zukunftsreflexionen.
7
) Schildt: Das Jahrhundert der Massenmedien, S. 188. ) Ebd., S. 197, und Joachim-Felix Leonhard (Hrsg.): Programmgeschichte des Hörfunks in der Weimarer Republik, 2 Bde., München 1997. 9 ) Es handelt sich um ein offenes Korpus, das dem fluiden Charakter des Diskurses Rechnung trägt; siehe dazu Bussel Teubert: Ist Diskurs ein sprachwissenschaftliches Objekt?, S. 14-18. 10 ) Wilmont Haacke: Erscheinung und Begriff der politischen Zeitschrift, Tübingen 1968, S. 12; siehe auch R. H. Pells: Radical Visions and American Dreams. Culture and Social Thought in the Depression Years, New York 1973, S. 395; Michel Grunewald!Hans Manfred Bock: Zeitschriften als Spiegel intellektueller Milieus. Vorbemerkungen zur Analyse eines ungeklärten Verhältnisses, in: dies. (Hrsg.): Das linke Intellektuellenmilieu in Deutschland, seine Presse und seine Netzwerke (1890-1960), Bern u.a. 2002, S.21-32. 8
2.1 Die Medien des Zukunftsdiskurses
41
Bereits im Kaiserreich trugen diverse Zeitschriften Titel mit Zukunftsbezug, und in der Weimarer Republik wurde allein 33 oft allerdings nur kurzlebigen Periodika ein Titel gegeben, der den Begriff „Zukunft" enthielt. In 23 zwischen 1918 und 1933 gegründeten Zeitschriftentiteln findet sich zudem die Wortfolge „neue Zeit", die sich jedoch oft auf eine bereits angebrochene neue Zeit bezog. Diese Zahlen deuten zumindest auf eine gewisse Virulenz des Themas Zukunft hin, das Publizisten im öffentlichen Raum zu besetzen suchten. Neben „Zukunft" und „neue Zeit" gab es noch andere Titelschlagwörter, die Deutungshoheit und Gestaltungsmacht über die Zukunft suggerieren sollten. Derartige Zukunftsbegriffe waren umkämpft, wie das Beispiel von Max Winkler, dem Leiter des Berliner Verlages Heute und Morgen, zeigt. Dieser erklärte im ersten Heft seiner Zeitschrift Der Mensch von morgen. Illustrierte Blätter für Sitten- und Lebensreform, die Zeitschrift habe zunächst Der neue Mensch heißen sollen. Das sei aber nicht möglich gewesen, da bereits die Zeitschrift des „Naturheilkundigen Bilz" in Dresden diesen Titel trage. Auch seine Zweitwahl Der kommende Mensch konnte Winkler nicht verwirklichen, weil der Chef des gleichnamigen Hamburger Verlagshauses Hanns Fischer die Wahl dieses Titels untersagt habe, so dass er auf Der Mensch von morgen verfiel.11) Nur bei einigen dieser Titel handelte es sich um Zeitschriften mit allgemeinem Anspruch: Maximilian Hardens Zukunft, die allerdings mit dem 30. Band 1922 ihr Erscheinen einstellte,12) die sozialdemokratische Neue Zeit, die 1924 von der Gesellschaft. Internationale Revue für Sozialismus und Politik abgelöst wurde, Die Tat, die im Krieg 1916/17 den Untertitel Monatsschrift für die Zukunft deutscher Kultur und ab 1928 Monatsschrift für die Gestaltung neuer Wirklichkeit trug,13) sowie die Entscheidung. Proletarischer Wille und soziale Zukunft. Während die Zeitungen der linken Arbeiter- und Soldatenräte oftmals die Wortfolge „neue Zeit" im Titel trugen, zeigt sich auf der anderen Seite des politischen Spektrums eine erstaunlich hohe Frequenz des Zukunftsbegriffs in den Titeln kurzlebiger Zeitschriften: Der Aufgang. Völkische Blätter des jungen Deutschland für deutsche Zukunft; Neues Land. Führer in die Zukunft für alle Stände; Die Deutsche Zukunft. Monatsschrift der nationalsozialistischen Jugend und Der Verstoss. Wochenschrift für die deutsche Zukunft. Viele der Zeitschriften, die „Zukunft" im Titel trugen, hatten allerdings keinen umfassenden Anspruch, sondern widmeten sich nur Einzelfragen wie der
n ) Der Mensch von morgen. Illustrierte Monatsblätter für Sitten- und Lebensreform, Bd. 1 (1927), Umschlaginnenseite. 12 ) Vgl. zur Geschichte der Zukunft B. Uwe Weller. Die Zukunft (1892-1922), in: Heinz Dietrich Fischer (Hrsg.): Deutsche Zeitschriften des 17. bis 20. Jahrhunderts, Pullach bei München 1972, S. 241-254. 13 ) Siehe dazu Irmgard Heidler: Der Verleger Eugen Diederichs und seine Welt, Wiesbaden 1998, S. 838.
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2. Entstehungsbedingungen des Zukunftsdiskurses
Pädagogik, der Astrologie, dem Pazifismus, der Sozialpolitik oder der Religion.14) Auch weil sie oft kurzlebig waren, kleinen Verlagshäusern entstammten und ihre Wirkung wahrscheinlich eher gering war, ist die Untersuchung der großen politisch-kulturellen Zeitschriften ergiebiger. Diese hatten häufig schon lange vorher bestanden, prägten das intellektuelle Leben der Weimarer Republik und beanspruchten, ein Panorama unterschiedlicher Wissensgebiete zu präsentieren. Um das intellektuelle Spektrum der Weimarer Republik möglichst weitgehend abzudecken, wurden sieben politisch-kulturelle Zeitschriften ausgewählt, in denen sich über 500 Artikel 15 ) mit der Zukunft beschäftigten: Die Weltbühne, Die neue Zeit und Die Gesellschaft, Die Neue Rundschau, Die Tat, die Deutsche Rundschau und die Nationalsozialistischen Monatshefte.16) Die Weltbühne. Wochenschrift für Politik, Kunst, Wirtschaft war bereits 1905 von Siegfried Jacobsohn unter dem Titel Die Schaubühne gegründet worden.17) Nachdem sie zunächst fast ausschließlich Theaterkritiken veröffentlicht hatte, wandelte sie sich im Ersten Weltkrieg zu einer allgemeinen politisch-kulturellen Zeitschrift, was sich in ihrer Umbenennung niederschlug. Bis zu seinem Tod 1926 blieb Jacobsohn ihr Chefredakteur, und nach einem kurzen Intermezzo von Kurt Tucholsky übernahm Carl von Ossietzky 1927 die Leitung der Weltbühne bis zu ihrem Verbot im Jahr 1933.18) Die Weltbühne erschien wöchentlich, erreichte Mitte der 1920er Jahre eine Auflage von 12000 Stück und war eines der wichtigsten Publikationsorgane des linksintellektuellen Milieus der Weimarer Republik. Auch wenn die meisten ihrer Autoren 14
) Siehe Die Zukunft. Aktuelle pädagogische Monatsschrift, insbesondere für Geist und Technik des Schulehaltens; Die Zukunft. Halbmonatsschrift für Astrologie, Graphologie und Lebensgestaltung; Deutsche Zukunft. Halbmonatsschrift, Pflichtorgan der Norddeutschen Arbeitsgemeinschaft der Friedensgesellschaft; Die Zukunft der Arbeit. Vierteljahrshefte der Internationalen Vereinigung für sozialen Fortschritt. 15 ) Ihre Verteilung ist nicht gleichmäßig: Aus der Weltbühne, der Deutschen Rundschau und der Neuen Rundschau stammen jeweils ungefähr 90 Aufsätze, aus der Neuen Zeit bzw. der Gesellschaft hingegen nur 60, während 180 in der Tat erschienen. Da die Nationalsozialistischen Monatshefte nur in drei Jahrgängen in der Weimarer Republik erschienen, finden sich hier nur 20 Aufsätze. 16 ) Die hier fehlenden politischen Strömungen werden durch die Zeitungen weitgehend kompensiert. Es fehlen jedoch Periodika, die sich speziell an Frauen oder solche, die sich an gesellschaftliche Minderheiten wie zum Beispiel die Juden richteten. Beide Gruppen tauchen immer dann auf, wenn sie sich am mainstream-OïsVms beteiligten. Zu den spezifischen Zukunftsperspektiven der jüdischen Bevölkerung, die allerdings nicht zu einer einheitlichen Zukunftsaneignung führten, siehe George L. Mosse·. Jüdische Intellektuelle in Deutschland. Zwischen Religion und Nationalsozialismus, Frankfurt/New York 1992, S. 45; Moshe Zimmermann: Zukunftserwartungen deutscher Juden im ersten Jahr der Weimarer Republik, in: Archiv für Sozialgeschichte 37/1997, S. 55-72; ders:. Die aussichtslose Republik. 17 ) Einführend zur Zeitschrift siehe Heinz-Dietrich Fischer. Die Weltbühne (1905-1939), in: ders:. Deutsche Zeitschriften, S. 323-336, hier S.324; sowie Dieter Tiemann: Kurt Tucholsky und die Weltbühne, in: Grunewald!Bock: Das linke Intellektuellenmilieu, S. 269-285. 18 ) Fischer. Die Weltbühne, S.331f.
2.1 Die Medien des Zukunftsdiskurses
43
grundsätzlich für die Republik eintraten, kritisierten sie diese zugleich von einem gesinnungsethischen Standpunkt. 19 ) „In summary, the ,typical' Weltbühne writer in the Weimar era - with due respect to significant exceptions was born into the ,war-generation'; he was the son of bourgeois parents; he belonged to the educational elite, and he was more likely of Jewish than of non-Jewish origin."20) Die Neue Zeit war nach ihrer Gründung im Jahr 1883 schnell zu dem entscheidenden Theorieorgan der Sozialdemokratie geworden, das die Lehren des Marxismus in der Gegenwart auslegen sollte.21) In ihr versuchte insbesondere Karl Kautsky, die orthodox marxistische Lehre gegen revisionistische Tendenzen zu verteidigen.22) Nach der Spaltung der Sozialdemokratie während des Ersten Weltkriegs, bei der Kautsky zur USPD wechselte, verlor Die Neue Zeit an Einfluss, und die Zahl ihrer Abonnenten, die 1914 noch bei 10700 gelegen hatte, verringerte sich um 7000. Nachdem ihr die Inflation endgültig das wirtschaftliche Fundament entzogen hatte, trat 1924 Die Gesellschaft. Internationale Revue für Sozialismus und Politik an ihre Stelle. Die neue monatliche Theoriezeitschrift wurde von Rudolf Hilferding, einem ehemaligen Mitarbeiter Karl Kautskys, herausgegeben und vertrat bis 1933 wie zuvor die Neue Zeit den Anspruch, die politische Selbstverständigung innerhalb der Sozialdemokratie zu gewährleisten, erreichte aber nicht wieder deren Einfluss.23) 1927 lag ihre Auflage bei 7000 Stück.24) Die im S. Fischer Verlag erscheinende Neue Rundschau entstand bereits im Kaiserreich in kritischer Abgrenzung zu den konservativen Rundschauzeitschriften und entwickelte sich rasch zu einer der führenden literarischen Zeitschriften Deutschlands. In den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg erreichte sie eine Auflagenhöhe zwischen 5000 und 8000 und versammelte Aufsätze und literarische Beiträge wichtiger deutscher Schriftsteller.25) Wie schon die Weltbühne wandte auch sie sich unter dem Eindruck des Ersten Weltkriegs stärker Themen aus Politik, Sozialwissenschaften und Geschichte zu. Von 1904 bis 1934 wachte der Verleger Samuel Fischer selbst über die Gestalt der Zeitschrift, die unter seiner Ägide einen im eigentlichen Wortsinn liberalen Cha-
19 ) Siehe die Zusammenfassung bei Istvan Deak: Germany's Left Wing Intellectuals. A Political History of the Weltbühne and its Circle, Berkeley/Los Angeles 1968, S. 222-228. Zur Kritik der Weltbühne siehe auch Bavaj: Von links gegen Weimar, S. 410-484. 20 ) Deak: Germany's Left Wing Intellectuals, S. 29. 21 ) Siehe Gerhard Schimeyer: Die neue Zeit (1883-1923), in: Fischer: Deutsche Zeitschriften, S. 201-213. 22 ) Dazu Hölscher: Weltgericht oder Weltrevolution, S.322. 23 ) Wilmont Haacke/Günter Pötter: Die politische Zeitschrift. 1665-1965, Bd. 2:1900-1980, Stuttgart 1982, S. 398-400. 24 ) Sperlings Zeitschriften- und Zeitungsadressbuch. Handbuch der deutschen Presse 53/1927, S.215. 25 ) Dieter Stein: Die Neue Rundschau 1890-1944, in: Fischer. Deutsche Zeitschriften, S. 229-240, S. 232.
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2. Entstehungsbedingungen des Zukunftsdiskurses
rakter erhielt: Grundsätzlich republikbejahend, stand sie Vertretern verschiedener politischer und intellektueller Richtungen als Publikationsforum offen. 26 ) Einen ähnlich offenen Charakter, wenn auch unter zunehmend republikkritischen Vorzeichen, besaß bis in die zweite Hälfte der 1920er Jahre die Tat. Schon 1912 hatte der Jenaer Verleger Eugen Diederichs die drei Jahre zuvor von Ernst Horneffer gegründete Zeitschrift, die den Untertitel Wege zu freiem Menschentum trug, übernommen und sogleich begonnen, sie immer stärker inhaltlich zu prägen.27) Angesichts seiner allgemeinen Zielvorgabe einer geistigen Erneuerung des Menschen sowie einer Überwindung der kapitalistischen Welt und des okzidentalen Rationalismus stand sie aber dennoch einem breiten Spektrum kulturkritischer Stimmen offen. 28 ) Während die Tat bis Ende der 1920er Jahre nur eine Auflage von 1000 bis 3000 Stück hatte, änderte sich dies mit der Übernahme der Redaktion durch Hans Zehrer und den so genannten 7ai-Kreis, dem unter anderem Wilhelm Eschmann, Giselher Wirsing und Ferdinand Fried (eigentlich Ferdinand Friedrich Zimmermann) angehörten. 29 ) Zehrer, der vorher außenpolitischer Redakteur der Vossischen Zeitung gewesen war, gab der Tat eine stärker politische Ausrichtung und brachte sie auf einen grundsätzlich rechtsrevolutionären Kurs. Damit steigerte er ihre Auflage zu Beginn der 1930er Jahre auf 8500 Abonnements und zeitweise bis zu 10000 weitere Einzelexemplare im freien Verkauf.30) Aufgrund der großen Nähe Zehrers zum Reichskanzler General von Schleicher und der Tatsache, dass die Zeitschrift vor allem von der politischen Elite
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) Wolfgang Grothe: Die Neue Rundschau des Verlages S. Fischer. Ein Beitrag zur Publizistik und Literaturgeschichte der Jahre von 1890 bis 1945, Diss., Berlin 1960, S.2176Í. u. 2237. 27 ) Siehe Klaus Werner Schmidt·. Die Tat (1909-1939), in: Fischer. Deutsche Zeitschriften, S. 349-364, S. 350; Haacke/Pötter: Die politische Zeitschrift, S. 348-355; Heidler: Der Verleger Eugen Diederichs, S. 833-862, hier S.835; Gangolf Hübinger: Die Tat und der TatKreis. Politische Entwürfe und intellektuelle Konstellationen, in: Michel Grunewald/VJwe Puschner (Hrsg.): Das konservative Intellektuellenmilieu, seine Presse und seine Netzwerke, Bern u.a. 2003, S.407^26. 28 ) Zu Eugen Diederichs' Programm siehe Gangolf Hübinger. Der Verlag Eugen Diederichs in Jena. Wissenschaftskritik, Lebensreform und völkische Bewegung, in: Geschichte und Gesellschaft 22/1996, S. 31-45; ders.: Eugen Diederichs' Bemühungen um die Grundlegung einer neuen Geisteskultur (Anhang: Protokoll der Lauensteiner Kulturtagung Pfingsten 1917), in: Wolfgang J. Mommsen (Hrsg.): Kultur und Krieg. Die Rolle der Intellektuellen, Künstler und Schriftsteller im Ersten Weltkrieg, München 1996, S. 259-274; Heidler. Der Verleger Eugen Diederichs, S. 835-839. 29 ) Kurt Sontheimer. Der Tatkreis, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 7/1959, S. 229-260; Haacke!Pötter. Die politische Zeitschrift, S.253; Hübinger. Die Tat und der Tat-Kreis, S.410. 30 ) Die noch von Sontheimer und anderen genannten Zahlen von 20000 bis 30000 Exemplaren sind wohl, wie Imgard Heidler gezeigt hat, zu hoch gegriffen. Siehe Heidler: Der Verleger Eugen Diederichs, S. 840.
2.1 Die Medien des Zukunftsdiskurses
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gelesen wurde, wird ihr gemeinhin ein großer politischer Einfluss zugeschrieben.31) Die Deutsche Rundschau war die erste deutsche Rundschauzeitschrift. Bei ihrer Gründung 1874 sollte sie als monatliches Nationaljournal die geistigen Leistungen Deutschlands nach innen und außen repräsentieren. 32 ) Nachdem sie in den 1880er Jahren mit 10000 Stück ihre höchste Auflage erzielt hatte, pendelte sie sich auch aufgrund der wachsenden Konkurrenz auf dem Zeitschriftenmarkt bis 1914 um 5000 ein. Nach dem Ersten Weltkrieg übernahm Rudolf Pechel die Herausgeberschaft der Deutschen Rundschau und gab ihr eine deutlich konservative Ausrichtung. Grundsätzlich antirepublikanisch eingestellt, avancierte sie zu einem zentralen Organ der Autoren der so genannten „konservativen Revolution" wie zum Beispiel der jungkonservativen Bewegung.33) Vor allem Edgar Julius Jung und Karl Haushofer, die mit Pechel persönlich befreundet waren, steuerten viele Artikel zur Deutschen Rundschau bei.34) Die Nationalsozialistischen Monatshefte wurden erst 1930 auf Veranlassung Adolf Hitlers gegründet.35) Unter der Leitung von Alfred Rosenberg diente die monatlich erscheinende „wissenschaftliche Zeitschrift des Nationalsozialismus" vor allem der parteiinternen Verständigung über ideologisch-politische Grundfragen. In Fragen, für die noch keine einheitliche Linie existierte, legte sie dabei eine gewisse Offenheit an den Tag. 2.1.2 Tageszeitungen Tageszeitungen waren im 19. und dem ersten Drittel des 20. Jahrhunderts das Leitmedium schlechthin.36) Ihre Bedeutung wurde bereits in den 1920er Jahren von der sich ausbildenden Zeitungswissenschaft registriert, die die Funk-
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) Siehe zum politischen Einfluss Zehrers Ebbo Demant Von Schleicher zu Springer. Hans Zehrer als politischer Publizist, Mainz 1971, S. 72-95. 32 ) Hans Wolfgang Wolter: Die Deutsche Rundschau (1874-1964), in: Fischer. Deutsche Zeitschriften, S. 183-200. 33 ) Siehe ebd., S. 194. Peter Fritzsche: Breakdown or Breakthrough? Conservatives and the November Revolution, in: Larry Eugene Jones!James Retallack (Hrsg.): Between Reform, Reaction, and Resistance. Studies in the History of German Conservatism from 1789 to 1945, Providence/Oxford 1993, S. 299-328, S.304. Stefan Breuer sieht sie als Publikationsort des Pseudoholismus der politischen Rechten. Breuer. Ordnungen der Ungleichheit, S.211 u. 214. 34 ) Rosemarie Schäfer. Rudolf Pechel und die „Deutsche Rundschau" 1946-1961. Zeitgeschehen und Zeitgeschichte im Spiegel einer konservativen politischen Zeitschrift, Diss., Göttingen 1975, S. 16-19. 35 ) Winfried Scharf. Nationalsozialistische Monatshefte (1930-1944), in: Fischer. Deutsche Zeitschriften, S. 409-420. 36 ) Siehe z.B. Jörg Requate: Die Zeitung als Medium politischer Kommunikation, in: Frevertl Braungart: Sprachen des Politischen, S. 139-167, hier S. 139.
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2. Entstehungsbedingungen des Zukunftsdiskurses
tionsweise und Wirkungsmacht der Presseorgane zu untersuchen begann. 3 7 ) Anders als in anderen Ländern beherrschte in Deutschland die politische Richtungs- oder Gesinnungspresse den Zeitschriftenmarkt bis in die Zwischenkriegszeit. 38 ) Durch ihre klare politische Ausrichtung lassen sich die meisten Tageszeitungen also bestimmten politischen oder intellektuellen Milieus und oft sogar einzelnen Parteien zuordnen. D a die Tageszeitungen meist eine wesentlich größere Auflage als Zeitschriften hatten, erschließt ihre Analyse breitere Leserschichten. 3 9 ) Aufgrund der Kürze und des geringeren intellektuellen Anspruchs erreichten ihre Artikel auch solche Leserinnen und Leser, denen die Artikel in den politisch-kulturellen Zeitschriften nicht zugänglich waren oder die nicht willens waren, sie sich anzueignen. Genauer untersucht wurden die Rote Fahne, der Vorwärts, die Germania, das Berliner Tageblatt, die Deutsche Allgemeine Zeitung, die Neue Preußische (Kreuz-)Zeitung, der Tag und der Völkische Beobachter,40) Dies ist zwar nur eine kleine Auswahl der ungefähr 3350 Zeitungen, die um 1930 in Deutschland erschienen, 4 1 ) aber sie repräsentieren doch einen relativ großen Teil des politischen Meinungsspektrums. 4 2 ) D a Menschen Zukunftsreflexionen insbesondere an solchen
37
) Walter Schöne: Die Zeitung und ihre Wissenschaft, Leipzig: Timm 1928; Gerhard Miinzner. Öffentliche Meinung und Presse. Eine sozialwissenschaftliche Studie, Karlsruhe: Braun 1928; Otto Meinen/Franz Reuter: Die deutsche Zeitung. Wesen und Wertung, München/Leipzig: Duncker & Humblot 1928; Wilhelm Bauer: Die öffentliche Meinung in der Weltgeschichte, Potsdam: Athenaion 1930; Horst Heenemann: Die Auflagenhöhen der deutschen Zeitungen. Ihre Entwicklung und ihre Probleme, Diss., Leipzig 1931; Ferdinand Tönnies: Kritik der öffentlichen Meinung, Berlin: J. Springer 1922. 38 ) Siehe Handbuch der Weltpresse. Eine Darstellung des Zeitungswesens aller Länder, hg. v. Deutschen Institut für Zeitungskunde, Berlin: Duncker 1931, S. 146-148; Requate: Öffentlichkeit und Medien, S. 24f.; ders.: Die Zeitung als Medium politischer Kommunikation, S. 160; siehe allgemein zur Zeitungslandschaft in der Weimarer Republik HeinzDietrich Fischer: Handbuch der politischen Presse in Deutschland 1480-1980. Synopse rechtlicher, struktureller und wirtschaftlicher Grundlagen der Tendenzpublizistik im Kommunikationsfeld, Düsseldorf 1981, S. 230-284; Kurt Koszyk: Deutsche Presse 1914-1945 (Geschichte der deutschen Presse 3), Berlin 1972, S. 240-336. 39 ) Diese sind zu erschließen über Handbuch der Weltpresse, Sperlings Zeitschriften- und Zeitungsadressbuch und Jacques Albachary (Hrsg.): Albacharys Markt-Zahlen für Reklame-Verbraucher. Ausgabe 1929, Berlin: J. Albachary o.J.; dessen Zahlen beruhen allerdings auf Angaben der Verlage. 40 ) Eine ähnliche Auswahl bei Burkhard Asmuss: Republik ohne Chance? Akzeptanz und Legitimation der Weimarer Republik in der deutschen Tagespresse zwischen 1918 und 1923, Berlin/New York 1994, S. 16, und Florian Stadel: Die letzten freien Reichstagswahlen 1930/32 im Spiegel der deutschen Presse, Aachen 1997. 41 ) Dazu kommen noch mehr als 750 Nebenausgaben, die mit einem anderen Kopf und Lokalteil erschienen. Zwei Drittel der Zeitungen waren mit einer Auflage unter 5000 sehr klein. Siehe Handbuch der Weltpresse, S. 145-149. 42 ) Asmuss: Republik ohne Chance?, S.29. Ein wesentliches Problem des Samples besteht jedoch in seiner Metropolenlastigkeit - außer beim Völkischen Beobachter handelt es sich immer um die Berliner beziehungsweise die Reichsausgaben der Zeitungen. Die Ausblendung kleiner Regionalzeitungen, die in Teilen der Provinz eine Monopolstellung eingenommen haben können, kennzeichnet allerdings fast die gesamte Zeitungsforschung. Siehe dazu Konrad Dussel·. Deutsche Tagespresse im 19. und 20. Jahrhundert, Münster 2004, S. 129f.
2.1 Die Medien des Zukunftsdiskurses
47
Tagen anstellen, die sie als zeitliche Einschnitte begreifen, die Weimarer Republik aufgrund der Fragmentierung der politischen Deutungskultur aber keine einheitliche kulturelle Interpunktion der Zeit entwickelte,43) wurden vor allem die Ausgaben um die Jahreswechsel untersucht. Auf der politischen Linken existierten mit der Roten Fahne und dem Vorwärts zwei dominante Parteizeitungen.44) Sie waren die Zentralorgane der Kommunistischen beziehungsweise der Sozialdemokratischen Partei und dienten als solche den lokalen Parteizeitungen als Vorbild.45) Der Vorwärts war 1876 gegründet worden und fungierte ab 1890 als Zentralorgan der SPD.46) Nachdem er zunächst dem revisionistischen Flügel der Partei nahegestanden hatte, entwickelten sich im Ersten Weltkrieg Konflikte zwischen der Parteileitung und der Redaktion über die Frage der Kriegskredite. Die Redaktion wurde daraufhin entlassen und nach einer kurzen kollegialen Leitung 1916 Friedrich Stampfer zum Chefredakteur ernannt. 47 ) Dieser hielt den Vorwärts dann in den 1920er Jahren auf Parteikurs. Nachdem der Vorwärts vor dem Ersten Weltkrieg eine Auflage von 160000 erreicht hatte, lag er 1925 noch bei 100000 Exemplaren. 48 ) Für 1929 gibt Albacharys Marktzahlenindex eine Berliner Stadtauflage von 82000 an, die vor allem an die Arbeiterschaft, die kleine Geschäftswelt, Angestellte, Handwerker und Beamte verkauft worden sei.49) Die Berliner Auflage der Roten Fahne veranschlagt Albachary demgegenüber um 10000 Exemplare höher, schränkt aber die Verbreitung auf Arbeiterinnen und Arbeiter und deren Familien ein.50) Im November 1918 zunächst in den besetzten Räumen des Berliner Lokalanzeigers gedruckt und von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht redigiert, bezeichnete sich die Rote Fahne ab dem 31. Dezember 1918 als „Zentralorgan der Kommunistischen Partei Deutschlands (Spartacusbund)". 51 ) Nachdem es zwischen 1925 und 1928 zu Abweichungen von der Parteilinie gekommen war, wurde im Herbst 1928 der
43
) Dazu LehnertlMegerle: Politische Identität und nationale Gedenktage, S. 13-15. ) Für die Frühphase wären noch die Periodika der Unabhängigen Sozialdemokraten zu berücksichtigen, die es aber nur bedingt schafften, eine dritte Position zwischen der grundsätzlichen Alternative von Vorwärts und Roter Fahne zu beziehen. Siehe Klaus Schönhoven: Reformismus und Radikalismus. Gespaltene Arbeiterbewegung im Weimarer Sozialstaat, München 1989, S. 78-82. 45 ) Fischer. Handbuch der politischen Presse, S. 236-250. Assmuss: Republik ohne Chance?, S. 60-62. 47 ) Volker Schulze: Vorwärts (1876-1933), in: Fischer (Hrsg.): Deutsche Zeitungen, S. 329-347, S. 338f. 48 ) So Heenemann: Die Auflagenhöhen der deutschen Zeitungen, S.27. 49 ) Albachary: Albacharys Markt-Zahlen, S. 16. 50 ) Ebd., S. 15.1930 wurde allerdings in einem Gerichtsstreit festgestellt, dass die Auflage der Roten Fahne nicht wie behauptet bei 100000 liege, sondern nur bei 20000. Jan Foitzik: Das kommunistische Intellektuellenmilieu in der Weimarer Republik: Redakteure der Roten Fahne, in: Grunewald!Bock: Das linke Intellektuellenmilieu, S. 227-249, hier S.229. 51 ) Kurt Koszyk: Die Rote Fahne, Berlin (1918-1933), in: Fischer: Deutsche Zeitungen, S. 391-103. 44
48
2. Entstehungsbedingungen des Zukunftsdiskurses
seit 1921 agierende Chefredakteur Heinrich Süßkind durch Heinz Neumann ersetzt. Diesen löste 1930 Daniel Hirsch und den wiederum 1932 Alexander Abusch ab.52) Insgesamt vertrat die Rote Fahne grundsätzlich mit aller Konsequenz die Position der Parteileitung.53) Ihre Wirkung wurde allerdings durch zahlreiche Verbote eingeschränkt: Allein 1932 konnte sie an 124 Tagen nicht erscheinen.54) Im Unterschied zu KPD und SPD verfügte das Zentrum über keine Parteizeitung im strengen Sinn, und die 451 Blätter, die der Partei 1925 nahestanden, boten ein heterogeneres Bild als die Zeitungen der politischen Linken.55) Von den bedeutenderen katholischen Tageszeitungen, der Kölnischen Volkszeitung, der Tremonia und der Germania, ist vor allem die letztere wegen ihres zumindest ab 1927 parteioffiziösen Charakters interessant.56) Das Selbstverständnis der Germania als Gemeinschaftsorgan des Zentrums sprach auch daraus, dass Artikel oft nicht mit Namen gekennzeichnet, sondern anonym oder nur mit einem Kürzel versehen gedruckt wurden.57) Sie erreichte Ende der 1920er Jahre zwar nur eine Reichsauflage von 43 000,58) wirkte aber weit darüber hinaus, weil die Zeitungen der 1922 gegründeten Zeitungsverlagsgesellschaft Nordwestdeutschland ihre überregionale Berichterstattung übernahmen. 59 ) Die liberalen Parteien DDP und DVP besaßen ebenfalls keine eindeutigen Parteizeitungen, aber es stand ihnen doch ein Kreis von Zeitungen mehr oder weniger nahe. Die wichtigsten der 320 im Jahr 1923 an der DDP orientierten Zeitungen waren die Frankfurter und die Vossische Zeitung sowie das Berliner Tageblatt,60) Obwohl das Meinungsspektrum dieser Zeitungen größer war als das der katholischen, wird hier nur das Berliner Tageblatt genauer untersucht, das als „führendes Wirtschaftsblatt" der Weimarer Republik galt, von den ,,maßgebliche[n] Kreise[n] in Industrie, Handel, Gewerbe, Kunst und Literatur" gelesen wurde und auch international hohe Reputation genoss.61) Es war 1872 von dem Berliner Verleger Rudolf Mosse gegründet worden, 1906 übernahm Theodor Wolff die Leitung der Redaktion. Dieser beteiligte sich 1918 an der Gründung der DDP, verließ jedoch sehr schnell wieder den Vorstand und
52
) Zu den Redakteuren der Zeitung insgesamt und ihrem sozialen Hintergrund siehe Foitzik: Das kommunistische Intellektuellenmilieu in der Weimarer Republik. 53 ) Ebd., S. 229. 54 ) Koszyck: Die Rote Fahne, S.401. 55 ) Fischer. Handbuch der politischen Presse in Deutschland 1480-1980, S.252. 56 ) Siehe dazu Stadel: Die letzten freien Reichstagswahlen, S.25; Assmuss: Republik ohne Chance?, S.52f. 57 ) Klaus Martin Stiegler: Germania (1871-1938), in: Fischer: Deutsche Zeitungen, S. 299-314, hier S. 306. 58 ) Albachary: Albacharys Markt-Zahlen, S. 15. 59 ) Dussel: Deutsche Tagespresse im 19. und 20. Jahrhundert, S. 143. Koszyk: Deutsche Presse 1914-1945, S.265f. 61 ) Albachary: Albacharys Markt-Zahlen, S. 12.
2.1 Die Medien des Zukunftsdiskurses
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1926 die Partei.62) Trotzdem behielt das Berliner Tageblatt unter seiner Leitung bis zur Machtübernahme der Nationalsozialisten eine deutlich liberale Prägung. Seine Auflage lag zunächst bei 300000 und sank dann in der Inflation auf 250000 Exemplare. In den Folgejahren erzielte das Tageblatt diese Auflage nur noch an Sonntagen und lag wochentags um 140000.63) Aus dem liberalen bzw. liberal-konservativen Milieu wird zudem noch die Deutsche Allgemeine Zeitung (DAZ) herangezogen. Sie war die Nachfolgerin der Norddeutschen Allgemeinen Zeitung, die seit Bismarck ein offiziöses Regierungsorgan gewesen war, und legte ihre Regierungsnähe auch in der Weimarer Republik nicht ab.64) 1920 kaufte der Industrielle Hugo Stinnes, der für die DVP im Reichstag saß, das Blatt, das er aber nicht vollständig auf den Kurs der Partei brachte, sondern eher als Sprachrohr der Industriellen und der wirtschaftlichen Elite verstand.65) Nach Stinnes' Tod übernahm 1925 zunächst die preußische Regierung die DAZ, die dann jedoch auf das Reich überging, bis sie 1927 von einem Industriellenkonsortium gekauft wurde.66) Nachdem sie in den 1920er Jahren oftmals die Politik Stresemanns unterstützt hatte, stellte sie sich 1930 hinter die Brüning'sche Präsidialregierung.67) 1929 erreichte die an der Nahtstelle zwischen Industrie und Politik stehende DAZ eine reichsweite Auflage von 60000 Stück.68) Der DNVP standen viele Zeitungen nahe, unter denen die Neue Preußische (Kreuz-)Zeitung eine herausgehobene Stellung einnahm. Nach ihrer Gründung im Jahr 1848 war die Kreuzzeitung ein Kristallisationspunkt der konservativ-protestantischen preußischen Elite gewesen und stand daher 1918 der Republik feindlich gegenüber.69) Am Ende des Ersten Weltkriegs war Georg Foertsch alleiniger Chefredakteur geworden, und bis 1925 erwarb der Vorsitzende der DNVP Kuno Graf Westarp die Aktienmehrheit der Zeitung.
62
) Larry Eugene Jones: German Liberalism and the Dissolution of the Weimar Party System, Chapel Hill/London 1988, S.16; Heß: Das ganze Deutschland soll es sein, S. 44; Bernd Sösemann: Das Ende der Weimarer Republik in der Kritik demokratischer Publizisten. Theodor Wolff, Ernst Feder, Julius Elbau, Leopold Schwarzschild, Berlin 1976, S.22. 63 ) Ebd., S. 42. M ) Koszyk: Deutsche Presse 1914-1945, S. 135. 65 ) Ebd., S. 137; Heinz-Dietrich Fischer. Deutsche Allgemeine Zeitung (1861-1945), in: ders.: Deutsche Zeitungen, S. 269-298, S.276f. Aufgrund ihres besonderen Charakters als Wirtschaftszeitung wurde die D A Z eindeutigeren Parteiblättern vorgezogen. Zur Presse der D V P siehe Hugo Böttger. Von der Parteipresse, in: Adolf Kempkes (Hrsg.): Deutscher Aufbau. Nationalliberale Arbeit der Deutschen Volkspartei, Berlin: Staatspolitischer Verlag 1927, S.316-321. ^ Zu den verwickelten Eigentümerwechseln siehe Koszyk: Deutsche Presse 1914-1945, S. 150-152, und Dussel: Deutsche Tagespresse im 19. und 20. Jahrhundert, S. 128. 67 ) Koszyk: Deutsche Presse 1914-1945, S. 154. œ ) Albachary: Albacharys Markt-Zahlen, S. 14. 69 ) Siehe dazu Meinolf Λο/ί/eder/Burkhard Treude: Neue Preussische (Kreuz-)Zeitung (1848-1939), in: Fischer: Deutsche Zeitungen, S. 209-224.
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2. Entstehungsbedingungen des Zukunftsdiskurses
Westarp wurde zugleich leitender Mitarbeiter für die politische Ausrichtung und stellte so die Nähe der Zeitung zur DNVP sicher.70) Nach der Abspaltung der Konservativen Volkspartei im Jahr 1930 ordnete sich die Zeitung keiner der beiden Parteien eindeutig zu, sondern bemühte sich darum, die gleiche Entfernung zu beiden zu halten.71) Obwohl die Kreuzzeitung in den 1920er Jahren reichsweit nur eine Auflage von 6500 bis 700072) erreichte, dürfte ihr Einfluss dennoch hoch gewesen sein, weil sie vor allem von der alten preußischen Elite, vom Adel, den Offizieren, hohen Beamten, Industriellen, Diplomaten und Pfarrern gelesen wurde.73) Neben der Kreuzzeitung existierten 1928 ca. 500 andere der DNVP nahestehende Zeitungen, die häufig dem Pressekonzern von Alfred Hugenberg angehörten. Diese wurden mit seiner Übernahme des DNVP-Parteivorsitzes bedeutender, weshalb ab 1928 auch Der Tag in die Analyse einbezogen wird, der als intellektuelles Pendant zum Berliner Lokalanzeiger 1931 quasi den Status einer Parteizeitung bekam. 74 ) Der Tag war weiter verbreitet als die Kreuzzeitung und erreichte in Norddeutschland eine Auflage von 80000 Stück.75) Der Völkische Beobachter, das Kampfblatt der national-sozialistischen Bewegung Großdeutschlands'16), war der Nachfolger des Münchener Beobachters, der im Franz Eher Verlag erschien und 1918/19 zunächst für kurze Zeit in den Besitz von Rudolf Freiherr von Sebottendorf übergegangen war.77) Im Dezember 1919 übernahm ihn die NSDAP unter großen finanziellen Anstrengungen und entwickelte ihn weiter zum Kommunikations- und Agitationsmedium der Partei.78) Nachdem anfangs Dietrich Eckardt die Redaktion geleitet hatte, übernahm dies ab 1923 Alfred Rosenberg. Auch Hitler übte direkten Einfluss auf die Gestaltung der Zeitung aus, deren Redaktion im gleichen Haus wie die Parteileitung der NSDAP untergebracht war.79) Anfang der 70
) Werner Liebe·. Die Deutschnationale Volkspartei 1918-1924, Düsseldorf 1956, S.43. ) RohlederlTreude: Neue Preussische (Kreuz-)Zeitung, S.223; Stadel: Die letzten freien Reichstagswahlen, S.23. 72 ) Die Zahlen bei Albachary: Albacharys Markt-Zahlen, S. 16; Heenemann: Die Auflagenhöhen der deutschen Zeitungen, S.76. 73 ) So Albachary: Albacharys Markt-Zahlen, S.16; und Liebe: Die Deutschnationale Volkspartei, S.44. 74 ) Dazu Koszyk: Deutsche Presse 1914-1945, S.240f.; Stadel·. Die letzten freien Reichstagswahlen, S.23. Zu Hugenberg siehe auch Heidrun Holzbach: Das „System Hugenberg". Die Organisation bürgerlicher Sammlungspolitik vor dem Aufstieg der NSDAP, Stuttgart 1981. 75 ) So Albachary: Albacharys Markt-Zahlen, S. 14. 76 ) Fischer: Handbuch der politischen Presse in Deutschland 1480-1980, S.274; siehe auch Margarete Plewnia: Völkischer Beobachter, München/Berlin (1887-1945), in: Fischer. Deutsche Zeitungen, S. 381-390; Roland V. Layton: The, Völkischer Beobachter' 1920-1933. The Nazi Newspaper in the Weimar Era, in: Central European History 3/1970, S. 353-382. 77 ) Assmuss: Republik ohne Chance?, S.39. 78 ) Ebd.; Detlef Mühlberger: Hitler's Voice. The Völkischer Beobachter, 1920-1933, Bd. 1: Organisation & Development of the Nazi Party, Bern 2004, S. 20. 79 ) Plewnia: Völkischer Beobachter, S.383. 71
2.1 Die Medien des Zukunftsdiskurses
51
1920er Jahre schwankte die Auflagenhöhe sehr stark und erreichte kurz vor dem Hitler-Putsch 1923 einen Höchstwert von 25 000, der nach dem anschließenden Verbot des Völkischen Beobachters erst 1929 wieder erreicht und übertroffen wurde.80) In den folgenden beiden Jahren steigerte sich die Auflage der Zeitung, für die unter den Parteimitgliedern intensiv geworben wurde, auf 40000 bzw. 100000, wo sie bis zur Regierungsübernahme stagnierte.81) 2.1.3 Selbständige
Publikationen
Gerade weil der Zukunftsdiskurs nach dem Ersten Weltkrieg von zentraler Bedeutung war und nahezu alle zeitgenössischen Debatten und Themenfelder durchzog, stellte er in der Perspektive der Zeitgenossen keine unter dem Begriff „Zukunft" zu klassifizierende Menge von Texten dar. Nur wenige Intellektuelle sahen die zugrunde liegenden Gemeinsamkeiten der Texte, die in Bibliographien, Bibliotheken und Archiven in verschiedene Kategorien eingeordnet wurden. Auch in den Bücherverzeichnissen wurde die Literatur des Zukunftsdiskurses nicht unter einem einheitlichen Schlagwort zusammengefasst.82) Die relevanten Bücher und Pamphlete können also nur unsystematisch erschlossen werden. Insgesamt zeigt die bibliographische Erfassung der selbständigen Publikationen, die den Begriff „Zukunft" im Titel enthielten, eine hohe Frequenz des Begriffs zu Beginn und am Ende der Weimarer Republik. Um eine Aussage über die Entwicklung des Diskurses zu machen, müssen allerdings noch andere Zukunft konnotierende Titelstichwörter wie „Prognose", „Programm", „Planung", „neue Zeit", „neue Gemeinschaft", „Morgen" etc. miteinbezogen werden. Auf diese Weise ergibt sich eine Gesamtzahl von mindestens 900 selbständigen Publikationen, die aufgrund ihres Titels dem politisch-kulturellen Zukunftsdiskurs im engeren Sinne zuzurechnen sind.83) Auch ihre Verteilung legt die Annahme nahe, dass der Zukunftsdiskurs zu Beginn der Weimarer Republik besonders intensiv war, in den mittleren Jahren etwas schwächer wurde, sich aber auf konstant hohem Niveau befand, um dann ab 1930 wieder
80
) Charles F. Sidman: Die Auflagenkurve des völkischen Beobachters und die Entwicklung des Nationalsozialismus Dezember 1920 bis November 1923, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 13/1965, S. 112-118; Assmuss: Republik ohne Chance?, S.43. 81 ) Siehe Layton: The ,Völkischer Beobachter', S.360; Plewnia: Völkischer Beobachter, S.388; Miihlberger. Hitler's Voice, S. 21. 82 ) Siehe Deutsches Bücherverzeichnis. Eine Zusammenstellung der im deutschen Buchhandel erschienenen Bücher, Zeitschriften und Landkarten, Bde. 3.2, 6.2, 11, 16 u. 19.2, Leipzig 1920, 1924, 1927,1933 u. 1937; Gesamtverzeichnis des deutschsprachigen Schrifttums von 1911-1916, Bd. 150, München 1981, S.247-253. 83 ) Die Zählung erfolgte nach dem Katalog der Staatsbibliothek zu Berlin - Preußischer Kulturbesitz und ergibt nur Näherungswerte, weil über die Titel der Inhalt nicht immer eindeutig zu erschließen ist und Publikationen ohne Jahresangabe veröffentlicht wurden. Zukunftsromane wurden weitgehend ausgeklammert.
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2. Entstehungsbedingungen des Zukunftsdiskurses
anzusteigen. Aufgrund der Schwierigkeiten der Erfassung darf diese Aussage jedoch - wie quantitative Aussagen in der intellectual history generell - nicht überbewertet werden.84)
2.2 Die Träger des Diskurses: Intellektuelle und Publizisten Die untersuchten Aufsätze und Bücher wurden von mehreren hundert Autorinnen und Autoren verfasst. Damit unterscheidet sich die Herangehensweise deutlich von der klassischen Geistes- und Ideengeschichte, aber auch von wesentlichen Strömungen der neuen intellectual history, die zumeist nur wenige Autoren und oft sogar nur einen einzigen in den Mittelpunkt der Analyse stellen.85) Sofern diese Beschränkung nicht einfach aus pragmatischen Erwägungen erfolgt, steht dahinter oft die Annahme, dass in den „großen Geistern" die intellektuellen Formationen und Brüche einer Zeit am deutlichsten beziehungsweise, wie Christian Graf von Krockow formuliert, „die deutsche Disposition auf höchstem Niveau in besonderer Klarheit" zum Ausdruck kämen. 86 ) Demgegenüber liegt hier die gegenteilige Annahme zugrunde: Während sich die so genannten großen Geister mit sehr speziellen Fragen in oftmals idiosynkratischer Weise beschäftigen, zeigen sich die wesentlichen Konfliktlinien gerade auf einem mittleren intellektuellen Niveau oder in den Gelegenheitsproduktionen für Zeitungen und Zeitschriften besonders deutlich. Angesichts der Textmenge kann dem Einzeltext und seinem Autor notgedrungen nur geringere hermeneutische Aufmerksamkeit gewidmet werden. Allerdings geht es auch weniger um die intellektuelle Urheberschaft von Ideen oder Diskursstrukturen, sondern vielmehr um ihre Verbreitung und ihr Auftauchen in verschiedenen Kontexten. Denn unter den Bedingungen der im 20. Jahrhundert voll ausgeprägten Massenkommunikation ist der Ursprung von Ideen ohnehin oft nicht eindeutig zu lokalisieren. Das klassische Diffusionsmodell der Geistesgeschichte, demzufolge große Denker Ideen prägen, die dann immer stärkere Verbreitung finden, erweist sich als unzureichend zur
Die genaue Verteilung ist: 1918: 33, 1919: 136, 1920: 80, 1921: 55, 1922: 69, 1923: 51, 1924: 42,1925: 33,1926: 36,1927: 46,1928: 34,1929: 36, 1930: 47,1931: 69,1932: 73,1933: 34.1918 wurden nur Publikationen gezählt, die nach dem Ende des Krieges und 1933 nur solche, die vor der nationalsozialistischen Machtübernahme entstanden sind. 85 ) Siehe als ein Beispiel unter vielen Dagmar Barnouw: Weimar Intellectuals and the Threat of Modernity, Bloomington 1988; sowie als theoretische Erneuerung Daniel Morat: Intellektuelle in Deutschland. Neue Literatur zur intellectual history des 20. Jahrhunderts, in: Archiv für Sozialgeschichte 41/2001, S. 593-607. 86 ) Christian Graf v. Krockow: Die Entscheidung. Eine Untersuchung über Ernst Jünger, Carl Schmitt, Martin Heidegger, Frankfurt/Main/New York 1990 [1. Aufl. Göttingen 1958], S.7. Als klassische Formulierung des Programms der geistesgeschichtlichen Gipfelwanderung siehe Friedrich Meinecke: Die Entstehung des Historismus, hrsg. u. eingel. v. Carl Hinrichs, München 4 1965, S.5f.
2.2 Die Träger des Diskurses: Intellektuelle und Publizisten
53
Beschreibung der komplexen Prozesse, in denen Diskurse oder Ideen hervorgebracht werden. Bevor Ideen überhaupt rezipiert werden können, findet oft eine längere diskursive Vorbereitung statt, die auch diejenigen, die später als Ideengeber stilisiert werden, wahrnehmen. 87 ) In der vorliegenden Arbeit kommen mehr als 640 Autorinnen und Autoren vor, die zunächst einmal nichts anderes miteinander verbindet, als dass sie sich zwischen dem Ende des Ersten Weltkriegs und dem Beginn der nationalsozialistischen Herrschaft in einem - an mehr oder weniger prominenter Stelle veröffentlichten - Text mit der Zukunft beschäftigten.88) Ihre genaue Zahl ist nicht zu bestimmen, weil von den untersuchten Texten mehr als 50 anonym verfasst wurden. Es ergibt sich also nur eine ungefähre Zahl von ca. 36 Autorinnen und über 600 Autoren, die nicht alle aus Deutschland stammten, aber doch am Zukunftsdiskurs in der Weimarer Republik teilnahmen. Die deutliche Dominanz der Männer dürfte ungefähr ihrer zeitgenössischen Vorherrschaft im Allgemeinen entsprochen haben. So waren, nachdem 1908 die preußischen Hochschulen für Frauen geöffnet worden waren, bis 1914 nur etwa 7% der Studierenden weiblich.89) Der Frauenanteil an den deutschen Universitäten steigerte sich im Verlauf der Weimarer Republik zwar auf 16%, aber in den akademischen Berufen waren 1925 nur 7000 Frauen tätig und auch 1933 erst 12 468, was einem Anteil von deutlich weniger als 10% entspricht.90) Auch im Reichstag waren in der Weimarer Republik nie mehr als 10% weibliche Abgeordnete vertreten. 91 ) Für 152 der über 640 untersuchten Autorinnen und Autoren können über die gängigen biographischen Nachschlagewerke bzw. den Deutschen Biographischen Index keine Informationen erschlossen werden. Etwa ein Fünftel der behandelten Personen machte also weder wissenschaftlich Karriere, noch erreichte es durch andere Aktivitäten Lexikonfähigkeit. Von den verbleibenden mehr als 480 Personen verfügte dann jedoch die Mehrzahl über eine akademische Ausbildung, wie im Personenverzeichnis am Ende der Arbeit genauer nachvollzogen werden kann. Mindestens 222 - also knapp die Hälfte 87
) So zeigt Moritz Föllmer, dass die hohen Industriellen keine Ideengeber benötigten, sondern führende Rechtsintellektuelle eher zur Bestätigung und prägnanten Formulierung ihrer Ideen einluden. Moritz Föllmer. Der,kranke Volkskörper'. Industrielle, hohe Beamte und der Diskurs der nationalen Regeneration in der Weimarer Republik, in: Geschichte und Gesellschaft 25/2001, S.41-67, S.51. 8S ) Siehe die Auflistung im Personenverzeichnis. Dort finden sich auch kurze biographische Angaben, um den Text von ansonsten notwendigen Charakterisierungen zu entlasten. 89 ) Konrad H. Jarausch: Die Krise des deutschen Bildungsbürgertums im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts, in: Jürgen Kocka (Hrsg.): Bildungsbürgertum im 19. Jahrhundert, Teil IV: Politischer Einfluß und gesellschaftliche Formation, Stuttgart 1989, S. 180-205, S. 184. 90 ) Ute Frevert: Frauen-Geschichte. Zwischen Bürgerlicher Verbesserung und Neuer Weiblichkeit, Frankfurt/Main 1986, S. 192. 91 ) Ebd., S. 167.
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2. Entstehungsbedingungen des Zukunftsdiskurses
trugen einen Doktortitel und mehr als 126 unterrichteten an deutschen Hochschulen als Professoren oder Dozenten. 74 Autorinnen und Autoren waren im Kaiserreich oder in der Weimarer Republik Mitglieder des Reichstages, eines Landtages oder einer Regierung. Selbst wenn man annimmt, dass die biographisch nicht fassbaren Autoren nicht studiert haben, gehörte noch immer die große Mehrheit der Beteiligten zur Bildungselite. Dieser elite-bias resultiert daraus, dass nur publizieren kann, wer über eine gewisse Ausbildung verfügt, die ihm oder ihr die Fähigkeit vermittelt, sich schriftlich zu artikulieren. Da die Texte jedoch in bestimmte Milieus hineinwirkten und die dort vorherrschenden Zukunftsaneignungen beeinflussten, sind sie über die enge Trägerschicht hinaus aussagekräftig. Darüber hinaus dürfte ihre Abfassung zumindest teilweise an antizipierten Lesererwartungen orientiert gewesen sein. Die Geburtsjahrgänge der Autorinnen und Autoren sind breit gestreut und alle wesentlichen Generationen, die die Geschichte der Weimarer Republik prägten, gleichmäßig vertreten. Jeweils etwas mehr als 100 Autorinnen und Autoren gehörten der Wilhelminischen (1850er und 1860er Jahrgänge) und der Gründerzeitgeneration (1870er Jahrgänge) an, und etwa 230 sind der Frontgeneration der 1880er und 1890er Jahre zuzurechnen. Ungefähr 34 Autoren wurden nach 1900 geboren und gehörten zur Kriegsjugendgeneration, die erst im Verlauf der Weimarer Republik in den Beruf einstieg und somit weniger Zeit zum Publizieren hatte. 92 ) Insgesamt erweist sich die generationelle Prägung allerdings als wenig durchschlagend für die Zukunftsaneignungen der Autorinnen und Autoren. Relevant wurde sie nur dort, wo sich die Frage nach den zeitlichen Dimensionen der Zukunftserwartung stellte oder wo „Generation" als Kategorie der Selbstbeschreibung fungierte. Letzteres war vor allem im Mythos der „Jugend" oder „jungen Generation" der Fall, aber selbst hier löste sich, wie im Verlauf der Arbeit (v. a. Kapitel 6.4.2) gezeigt wird, der Begriff weitgehend vom biologischen Alter. Wie sind die Autorinnen und Autoren, die mehrheitlich zur Bildungselite gehörten, begrifflich genauer zu fassen, und wie unterschieden sie sich sozial von anderen gesellschaftlichen Gruppen in der Weimarer Republik? Zunächst einmal handelt es sich bei den Trägern des Diskurses im klassischen Sinn um Intellektuelle, auch wenn sich nur wenige von ihnen den Begriff zu eigen machten.93) Schon zeitgenössisch definierte Karl Mannheim die Intellektuellen als „relativ klassenlose Schicht" beziehungsweise mit Alfred Weber als
92
) Hinzu kommen die schlechten Berufsaussichten für Akademiker in der Weimarer Republik, auf die unten ausführlicher eingegangen wird. Zur Unterscheidung der vier politischen Generationen siehe Peukert: Die Weimarer Republik, S. 25-31. 93 ) Zur Begriffsgeschichte Dietz Bering: Die Intellektuellen. Geschichte eines Schimpfwortes, Stuttgart 1978; Christophe Charle: Vordenker der Moderne. Die Intellektuellen im 19. Jahrhundert, Frankfurt/Main 1997. Die zeitgenössischen Selbstverständnisse sind dokumentiert bei Michael Stark (Hrsg.): Deutsche Intellektuelle 1910-1933. Aufrufe, Pamphlete, Betrachtungen, Heidelberg 1984.
2.2 Die Träger des Diskurses: Intellektuelle und Publizisten
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„sozial freischwebende Intelligenz", deren Inklusion und Exklusion durch Bildung erfolge. 9 4 ) Darauf aufbauend begreift M. Rainer Lepsius Intellektuelle als Personen, die sich vor allem dadurch auszeichnen, dass sie eine bestimmte Form der öffentlichen Kritik üben. 9 5 ) Obgleich dieser M o d u s der Kritik prinzipiell j e d e m o f f e n steht, nutzen ihn doch fast ausschließlich Angehörige von Intelligenzberufen, weil nur sie über die Macht des gesprochenen und geschriebenen Wortes verfügen. 9 6 ) Bei der intellektuellen Kritik handelt es sich um „inkompetente Kritik": Sie ist nicht durch bestimmte Verfahren institutionalisiert und wird auch nicht von jemandem geäußert, der formal für das Kritisierte zuständig wäre. Vielmehr kritisiert hier jemand, der in einem anderen Bereich Anerkennung erworben hat, unter B e z u g n a h m e auf allgemeine Werte. 9 7 ) Ausgeblendet bleiben bei dieser Definition lediglich die Autoren, deren Beruf nicht die Kritik, sondern vielmehr die Politik war, so dass im Folgenden - auch w e g e n der teilweise geringen Wirkung der A u t o r e n - allgemeiner von Intellektuellen und Publizisten gesprochen wird. Intellektuelle gehörten meist d e m Bildungsbürgertum an, das heißt der seit d e m späten 18. Jahrhundert entstandenen soziokulturellen Gruppierung, die „sich aus sehr verschiedenen Berufen (Anwälte, Richter, Verwaltungsbeamte, evangelische Pfarrer und Journalisten, Lehrer und Professoren verschiedener Fakultät, dann Ärzte und Apotheker, später auch Architekten, Ingenieure und Chemiker) zusammensetzte und also in vielen Hinsichten - Klassenlage, Beruf, Machtteilhabe, Einkommensart und Einkommenshöhe - sehr heterogen war, aber etwas sozial Auszeichnendes gemeinsam hatte: nämlich anerkannte .Bildung'." 98 )
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) Mannheim·. Ideologie und Utopie, S. 134f. ) Siehe M. Rainer Lepsius: Kritik als Beruf. Zur Soziologie der Intellektuellen, in: Interessen, Ideen, Institutionen, Opladen 1990, S. 270-285; siehe auch Gangolf Hübinger: Die europäischen Intellektuellen 1890-1930, in: Neue Politische Literatur 39/1994, S. 34-54, S. 35; Dirk van Laak: Zur Soziologie der geistigen Umorientierung. Neuere Literatur zur intellektuellen Verarbeitung zeitgeschichtlicher Zäsuren, in: Neue Politische Literatur 47/2002, S. 422^40. % ) Lepsius: Kritik als Beruf, S.283. 97 ) Ebd., S.281Í. Ähnlich, aber normativ aufgeladen, definiert Pierre Bourdieu den Intellektuellen als „bi-dimensionales" Wesen: „zum einen muß er einer intellektuell autonomen, d. h. von religiösen, politischen, ökonomischen usf. Mächten unabhängigen Welt (einem Feld) angehören [...]; zum anderen muß er in eine politische Aktion, die in jedem Falle außerhalb des intellektuellen Feldes in engerem Sinn stattfindet, seine spezifische Kompetenz und Autorität einbringen, die er innerhalb des intellektuellen Feldes erworben" hat. Pierre Bourdieu: Die Intellektuellen und die Macht, hrsg. v. Irene Dölling, Hamburg 1991, S.42; siehe auch Jürgen Habermas: Heinrich Heine und die Rolle des Intellektuellen in Deutschland, in: Die Moderne - ein unvollendetes Projekt, Leipzig 1990, S. 130-158. 98 ) Werner Conze/Jürgen Kocka: Einleitung, in: dies. (Hrsg.): Bildungsbürgertum im 19. Jahrhundert. Teil I: Bildungssystem und Professionalisierung in internationalen Vergleichen, Stuttgart 1985, S.9-26, S . l l ; zur Begriffsgeschichte auch Ulrich Engelhardt: Bildungsbürgertum. Begriffs- und Dogmengeschichte eines Etiketts, Stuttgart 1986, S. 25-28 und passim. 95
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2. Entstehungsbedingungen des Zukunftsdiskurses
Als soziale Gruppe wird das Bildungsbürgertum also über den Besitz von Bildungspatenten und die Zugehörigkeit zu akademischen Berufen, den englischen professions, begriffen. 99 ) Nach dem „bürgerlichen" 19. Jahrhundert konstatiert die historische Forschung für die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts eine allmähliche Auflösung des Bürgertums im Allgemeinen und eine „Krise des deutschen Bildungsbürgertums" im Besonderen. 100 ) Sowohl die soziale Verunsicherung des Bürgertums und die daraus resultierende „Aushöhlung der bürgerlichen Lebensformen" als auch die „Auflösung des bildungsbürgerlichen Selbstverständnisses" werden als Ursachen der Anfälligkeit gerade dieser Gruppen für den Nationalsozialismus gesehen. 101 ) Für die These des Auflösungsprozesses spricht, dass die entsprechenden Gruppen in der Weimarer Republik besonders stark von negativen wirtschaftlichen Entwicklungen betroffen waren. Denn in der Inflation verloren die ca. 135000 Bildungsbürger und damit auch die Intellektuellen, die zumeist in nur geringem Umfang über Sachwerte verfügten, einen großen Teil ihrer Ersparnisse, und die Geldentwertung reduzierte auch ihre Gehälter radikal. 102 ) So urteilt Gerald D. Feldman über die Hyperinflation 1923: „Those groups excluded from the labor market by age or disability aside, none seemed more affected by this turn of events than the so-called geistige Arbeiter - the intellectual workers in the free professions, the arts and sciences, and all those who professed to be the .bearers' of Germany's cultural and intellectual tradi-
") ConzelKocka: Einleitung, S. 18; siehe auch Jürgen Kocka: Bildungsbürgertum - Gesellschaftliche Formation oder Historikerkonstrukt?, in: ders. (Hrsg.): Bildungsbürgertum im 19. Jahrhundert. Teil IV: Politischer Einfluß und gesellschaftliche Formation, Stuttgart 1989, S. 9-20; ders.: Bürgertum und bürgerliche Gesellschaft im 19. Jahrhundert. Europäische Entwicklungen und deutsche Eigenarten, in: ders. (Hrsg.) Bürgertum im 19. Jahrhundert. Deutschland im europäischen Vergleich, Bd. 1, München 1988, S. 11-78, S. 60-63; M. Rainer Lepsius: Das Bildungsbürgertum als ständische Vergesellschaftung, in: ders. (Hrsg.): Bildungsbürgertum im 19. Jahrhundert, Teil III: Lebensführung und ständische Vergesellschaftung, Stuttgart 1992, S. 9-18. Dazu auch Gangolf Hübinger. Politische Werte und Gesellschaftsbilder des Bürgertums, in: Neue Politische Literatur 32/1987, S. 189-210. 10 °) Hans Mommsen: Die Auflösung des Bürgertums seit dem späten 19. Jahrhundert, in: Jürgen Kocka (Hrsg.): Bürger und Bürgerlichkeit im 19.Jahrhundert, Göttingen 1987, S. 288-315; Jarausch: Die Krise des deutschen Bildungsbürgertums; Engelhardt Bildungsbürgertum, S.23; Alan E. Steinweis: Conservatism, National Socialism, and the Cultural Crisis of the Weimar Republic, in: JoneslRetallack: Between Reform, Reaction, and Resistance, S. 329-346, S.337. 101 ) Mommsen: Die Auflösung des Bürgertums, S. 288 und passim. 102 ) Zu dieser Zahl, die mit Familien zu einer Gesamtzahl von 540000 bis 680000 Personen führt, und den Wirkungen der Inflation siehe Hans-Ulrich Wehler: Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 4: Vom Beginn des Ersten Weltkriegs bis zur Gründung der beiden deutschen Staaten 1914-1949, München 2003, S. 248f. u. 294. Siehe auch Jarausch: Die Krise des Bildungsbürgertums, S. 194f.; sowie ders.: Die unfreien Professionen. Überlegungen zu den Wandlungsprozessen im deutschen Bildungsbürgertum 1900-1955, in: Kocka (Hrsg.): Bürgertum im 19. Jahrhundert, Bd. 2, München 1988, S. 124-146, bes. S.135f.
2.2 Die Träger des Diskurses: Intellektuelle und Publizisten
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tions."103) Insbesondere die Gruppe der ca. 6700 Hochschullehrer, deren Angehörige einen erheblichen Anteil der Beiträge zum Zukunftsdiskurs produzierten, waren hart betroffen, da sie sich nicht nur stark wachsenden Studierendenzahlen bei gleichzeitiger Einkommensverringerung gegenübersahen, sondern auch innerhalb der Gruppe der Staatsbediensteten einen relativen Statusverlust erlitten.104) Durch die nach einem Einbruch Mitte der 1920er Jahre rasant weiter steigenden Studierendenzahlen verschlechterten sich in der Weltwirtschaftskrise die Berufsaussichten und damit auch die individuellen Zukunftsperspektiven der Akademiker radikal. Im Jahr 1931 standen den zwischen 300000 und 350000 berufstätigen Akademikern ungefähr 150000 Anwärter gegenüber, so dass die jährliche Absolventenquote zwei- bis dreimal so hoch lag wie der Jahresbedarf an neuen Kräften.105) Nach zeitgenössischen Berechnungen entwickelte sich aus dieser Schieflage ein „akademisches Proletariat" von 16000 stellenlosen Akademikern im Jahr 1930 und 40000 bis 60000 im Jahr 1932.106) Die realen und emotionalen Statusverluste des Bildungsbürgertums führten, so wird gemeinhin angenommen, unter den deutschen Intellektuellen zu Verunsicherung und Krisenstimmung. Diese sei noch dadurch verstärkt worden, dass auch auf geistiger Ebene die Modernisierungsprozesse oftmals als Marginalisierung der eigenen Position begriffen wurden, wenn beispielsweise durch eine zunehmend hermetisch werdende moderne Kunst die eigene kulturelle Deutungskompetenz abnahm.107) Angesichts der sozialen und mentalen 103 ) Gerald D. Feldman: The Great Disorder. Politics, Economics, and Society in the German Inflation 1914-1924, New York/Oxford 1993, S.528. Siehe zum realen und empfundenen Statusverlust der Intellektuellen auch Bernd Widdig: Culture and Inflation in Weimar Germany, Berkeley 2001, S. 169-187. 104 ) Zur Entwicklung der Hochschullehrer- und Studierendenzahlen Dieter Langewiesc/ie/Heinz-Elmar Tenorth (Hrsg.): Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte, Bd. 5: 1918-1945: Die Weimarer Republik und die nationalsozialistische Diktatur, München 1989, S.216f.; Hartmut Titze: Das Hochschulstudium in Preußen und Deutschland 1820-1944 (Datenhandbuch zur deutschen Bildungsgeschichte, Bd. 1), Göttingen 1987, S. 26,34 u. 74f. Die Beurteilung des relativen Statusverlusts bei Feldman: The Great Disorder, S.546; siehe zur Entwicklung der Hochschullehrerschaft auch die klassische Studie Fritz K. Ringer: Die Gelehrten. Der Niedergang der deutschen Mandarine 1890-1933, München 1987 [1. Aufl. 1969], 105 ) LangewieschelTenorth: Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte, S.223. 106 ) Die Zeitgenossen zitiert bei Konrad H. Jarausch: Die Not der geistigen Arbeiter. Akademiker in der Berufskrise 1918-1933, in: Werner Abelshauser (Hrsg.): Die Weimarer Republik als Wohlfahrtsstaat. Zum Verhältnis von Wirtschafts- und Sozialpolitik in der Industriegesellschaft, Stuttgart 1987, S.280-299, S.291. Als zeitgenössische Klage über die „Raumnot in den geistigen Berufen" und die „Lebensnot der geistigen Arbeiter" siehe Ludwig Niessen: Der Lebensraum für den geistigen Arbeiter. Ein Beitrag zur akademischen Berufsnot und zur studentischen Weltsolidarität, Münster: Aschendorff 1931. 107 ) Siehe dazu Christian Jansen: Professoren und Politik. Politisches Denken und Handeln der Heidelberger Hochschullehrer 1914-1935, Göttingen 1992. Das Beispiel bei Georg Bollenbeck: Das deutsche Bildungsbürgertum und der Nationalsozialismus als vermeintlicher Retter der deutschen Kultur. Ein Versuch, in: Recherches Germaniques 27/1997,
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2. Entstehungsbedingungen des Zukunftsdiskurses
Verunsicherung, so wird oftmals gefolgert, hätten pessimistische Zukunftsvisionen bei den Intellektuellen hoch im Kurs gestanden, und sie seien zudem besonders anfällig für radikale Weltverbesserungspläne gewesen. Diese These gilt es zu überprüfen (v.a. Kapitel 4 und 9).
2.3 Krieg und Revolution als Katalysatoren Die meisten der behandelten Autorinnen und Autoren publizierten nicht nur in der Weimarer Republik, sondern auch davor und danach, und der Zukunftsdiskurs hatte längere Traditionslinien, die bis ins 19. Jahrhundert zurückreichten. 108 ) Diese werden zwar miteinbezogen, aber die eigentliche Analyse beginnt doch erst mit dem Ende des Ersten Weltkriegs und den anschließenden revolutionären Neuordnungsprozessen. Denn diese gaben dem Zukunftsdiskurs eine neue Qualität. 109 ) Es ist schwer, die Bedeutung des Ersten Weltkriegs, der „seminal catastrophe" des 20. Jahrhunderts (George E Kennan), für die deutsche Gesellschaft, die politische Entwicklung und das intellektuelle Leben der Weimarer Republik zu überschätzen.110) Allein das Deutsche Reich zählte über zwei Millionen Kriegstote und über vier Millionen Verletzte, was in Bezug auf die männliche Bevölkerung von 1913 einen Anteil von über 19 Prozent bedeutete. 111 ) Mit mehr als acht Millionen mobilisierten Männern, einer ab 1915 sprunghaft steigenden Zahl von Frauen in den kriegswichtigen Industrien, der schon 1914 einsetzenden und 1916 im HindenburgProgramm radikalisierten Umstellung von Friedens- auf Kriegswirtschaft griff der Krieg als totaler Krieg fundamental in die gesamte Gesellschaftsordnung
S. 165-181, v. a. S. 171f. Wenngleich das für einen Teil der Bildungsbürger zutreffend gewesen sein mag, überzeugt das Argument jedoch nicht vollkommen, da schließlich zu erklären wäre, warum die Bildungsbürger ihre Kompetenz nicht einfach auf den Bereich moderner Kunst ausweiteten, anstatt auf eine „Rettung der deutschen Kultur" zu hoffen. 108 ) Kurt Pinthus (Hrsg.): Menschheitsdämmerung. Symphonie jüngster Dichtung, Berlin: Rowohlt 1920, S. XIII: „Das Chaotische der Zeit, das Zerbrechen der alten Gemeinschaftsformen, Verzweiflung und Sehnsucht, gierig fanatisches Suchen nach neuen Möglichkeiten offenbart sich in der Dichtung dieser Generation mit gleichem Getöse und gleicher Wildheit wie in der Realität [...], aber wohlgemerkt: nicht als Folge des Weltkriegs, sondern bereits vor seinem Beginn und immer heftiger während seines Verlaufs." 109 ) Dies wird im Verlauf der Arbeit (v. a. Kapitel 5.2 und 7.3.1) immer wieder zum Thema und kann hier nur angedeutet werden. 110 ) Ernst Schuliw. Die Urkatastrophe des zwanzigsten Jahrhunderts, in: Wolfgang Michalka (Hrsg.): Der Erste Weltkrieg. Wirkung, Wahrnehmung, Analyse, München/Zürich 1994, S.3-28; Wolfgang J. Mommsen: Die Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts. Der Erste Weltkrieg, 1914-1918, Stuttgart 2002. Die historischen Arbeiten zum Weltkrieg sind kaum zu überschauen. Einführend die Aufsätze in dem von Wolfgang Michalka herausgegebenen Sammelband und die Literaturhinweise bei Roger Chickering: Das Deutsche Reich und der Erste Weltkrieg, München 2002, S. 248-270. m ) Ebd., S. 235.
2.3 Krieg und Revolution als Katalysatoren
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ein. 1 1 2 ) Er prägte den individuellen Erfahrungshorizont breiter Bevölkerungskreise und auch nach seinem E n d e blieb er im öffentlichen Bewusstsein fest verankert: D e r Bewältigung des massenhaften Sterbens dienten in allen europäischen Ländern Kriegervereine, Gedenkfeiern und Denkmäler, die die Erinnerung an den Krieg wach hielten. 1 1 3 ) 1918/19 erfolgte in Deutschland zudem eine Neuordnung der politischen Verhältnisse, die von vielen Zeitgenossen als Bruch und Revolution wahrgenommen wurde. 1 1 4 ) Mit der Mobilisierung der personellen und ökonomischen Ressourcen des Reichs für die Kriegführung ging auch eine „geistige Mobilmachung" einher: Philosophen, Historiker, Ö k o n o m e n , Philologen und Dichter, die sich vorher oft nicht politisch geäußert hatten, produzierten mehr als 13000 Texte, in denen sie als Intellektuelle zum Krieg Stellung bezogen. 1 1 5 ) Stärker als andere D e b a t t e n polarisierte der Krieg, zwang Kriegsgegner unter den Bedingungen der Zensur ins Exil und zerstörte intellektuelle Freundschaften. 1 1 6 ) Insbesondere unter d e m Stichwort der „Ideen von 1914" entwickelte sich ein intellektueller Diskurs über die ideale Ordnung der Nation, der seinen Ausgangspunkt v o m mythisch überhöhten Erlebnis der nationalen Einheit im August
112 ) Ebd. u. Ute Daniel·. Arbeiterfrauen in der Kriegsgesellschaft. Beruf, Familie und Politik im Ersten Weltkrieg, Göttingen 1989; dies.·. Fiktionen, Friktionen und Fakten. Frauenlohnarbeit im Ersten Weltkrieg, in: Michalka·. Der Erste Weltkrieg, S. 530-562; Jürgen Kocka: Klassengesellschaft im Krieg, Göttingen 1973, S. 142-156. 113 ) Zu Totengedenken und Kriegerdenkmälern in der Weimarer Republik gibt es inzwischen eine breite Literatur. Siehe z.B. Paul Fusseil: The Great War and Modern Memory, Oxford 1975; Jay Winter: Sites of Memory. Sites of Mourning. The Great War in European Cultural History, Cambridge 1995; George L. Mosse: Gefallen für das Vaterland. Nationales Heldentum und namenloses Sterben, Stuttgart 1993. Die Erinnerungskultur in den Hauptstädten Deutschlands und Frankreichs vergleicht zurzeit Elise Julien in ihrem Dissertationsprojekt: Berlin, Paris. Die Erinnerung an den Ersten Weltkrieg (1914-1933). 114 ) Wolfgang J. Mommsen: Deutschland und Westeuropa. Krise und Neuorientierung der Deutschen im Übergang vom Kaiserreich zur Weimarer Republik, in: Horst RenzfFtiedrich Wilhelm Graf (Hrsg.): Umstrittene Moderne. Die Zukunft der Neuzeit im Urteil der Epoche Ernst Troeltschs (Troeltsch-Studien, Bd. 4), Gütersloh 1987, S. 117-132, S. 117. Zur Revolution allgemein siehe Ulrich Kluge: Die deutsche Revolution 1918/19. Staat, Politik und Gesellschaft zwischen Weltkrieg und Kapp-Putsch, Frankfurt 1985. 115 ) Siehe dazu Kurt Flasch: Die geistige Mobilmachung. Die deutschen Intellektuellen und der Erste Weltkrieg. Ein Versuch, Berlin 2000, S.7-11 u. 227-232. Kritisch zu Flasch sowie als guten Literaturüberblick siehe Peter Hoeres: Krieg der Philosophen. Die deutsche und britische Philosophie im Ersten Weltkrieg, Paderborn 2004, S. 15-30. Zu den Intellektuellen im Krieg allgemein siehe Wolfgang J. Mommsen (Hrsg.): Kultur und Krieg. Die Rolle der Intellektuellen, Künstler und Schriftsteller im Ersten Weltkrieg, München 1996; Helmut Fries: Die große Katharsis, 2 Bde., Konstanz 1994 u. 1995; sowie zu einer der Initialzündungen der intellektuellen Kriegsintervention Jürgen v. Ungern-StembergfWoWgang v. Ungern-Sternberg: Der „Aufruf an die Kulturwelt!" Das Manifest der 93 und die Anfänge der Kriegspropaganda im Ersten Weltkrieg, Stuttgart 1996. 116 ) So zerbrach zum Beispiel die Freundschaft von Georg Simmel und Ernst Bloch. Arno Münster: Utopie, Messianismus und Apokalypse im Frühwerk von Ernst Bloch, Frankfurt/ Main 1982, S.55; ders. (Hrsg.): Tagträume vom aufrechten Gang. Sechs Interviews mit Ernst Bloch, Frankfurt/Main 1977, S.35.
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2. Entstehungsbedingungen des Zukunftsdiskurses
1914 nahm. 117 ) Im Verlauf des Krieges wurden nicht nur die außenpolitischen Ordnungsvorstellungen immer radikaler, sondern auch die Ideen zur innenpolitischen Ordnung Deutschlands, die um die Begriffe Volksstaat und Volksgemeinschaft kreisten.118) Wie einige jüngere Studien zeigen, kennzeichnete die innen- und außenpolitischen Diskurse während des Ersten Weltkriegs eine zunehmende Futurisierung oder Utopisierung, die dann auch noch die intellektuellen Diskurse in der Weimarer Republik prägte.119) Wie schon in zeitgenössischen Deutungen werden in der Forschung zwei Erklärungen für dieses Phänomen angeboten: In einer positiven Deutung führten die Infragestellung der Grenzen des Reiches, die Umstellung von Friedens· auf Kriegswirtschaft, die Einbeziehung der Frauen in die Rüstungsindustrie und die Auflösung der monarchischen Ordnung in der Revolution zu einer Steigerung des Bewusstseins der Kontingenz und Gestaltbarkeit der Lebensverhältnisse: Nicht nur viele linke, sondern auch rechte Intellektuelle sahen die Zukunft als immer offeneren Möglichkeitsraum, für den sie Vorschläge neuer politischer, wirtschaftlicher und sozialer Ordnungen entwarfen. 120 ) Vor allem für die wirtschaftspolitischen Reformvorschläge betont die Forschung, dass die Erfahrung der Umstellung von einer Friedens- auf eine interventionistische Kriegswirtschaft neue Wirtschaftsordnungen und insbesondere stärker planwirtschaftliche Modelle möglich erscheinen ließ. 121 ) Eine negative Deutung fügt demgegenüber noch einen psychologischen Zwischenschritt ein: Die Infragestellung und Auflösung der alten Ordnungs117 ) Dazu jetzt auf breiter Quellenbasis Steffen Bruendel: Volksgemeinschaft oder Volksstaat. Die „Ideen von 1914" und die Neuordnung Deutschlands im Ersten Weltkrieg, Berlin 2003, S. 24-28 u. 110-132. Zum Mythos des Augusterlebnisses Jeffrey Verhey: Der .Geist von 1914' und die Erfindung der Volksgemeinschaft, Hamburg 2000, v. a. S. 106-128. 118 ) Bruendel: Volksgemeinschaft oder Volksstaat, S.221,240-275 und passim. 119 ) Hoeres: Der Krieg der Philosophen, S.580; Bruendel: Volksgemeinschaft oder Volksstaat, S.28; Sven Oliver Müller: Die Nation als Waffe und Vorstellung. Nationalismus in Deutschland und Großbritannien im Ersten Weltkrieg, Göttingen 2002, S.82 u. 358; siehe auch Gunther Mai: „Verteidigungskrieg" und „Volksgemeinschaft". Staatliche Selbstbehauptung, nationale Solidarität und soziale Befreiung in Deutschland in der Zeit des Ersten Weltkriegs (1900-1925), in: Michalka: Der Erste Weltkrieg, S. 583-602, S.593f. 120 ) Peter Fritzsche: Landscape of Danger, Landscape of Design. Crisis and Modernism in Weimar Germany, in: KnieschelBrockmann: Dancing on the Volcano, S. 29-46, S. 41: „Both the socialist Left and the nationalist Right looked past Weimar, concerned not so much with the constitutional republic, but inspired instead by the political and social constructability that war and revolution seemed to have made possible." Ähnlich auch Hölscher: Die Entdeckung der Zukunft, S. 209. 121 ) Ernst Schulin: Die Zukunft im historisch-politischen Denken des zwanzigsten Jahrhunderts, S. 100. Für die politische Rechte allgemein Breuer: Ordnungen der Ungleichheit, S.209. Als Beispiel für ökonomische Inspirationen aus der Kriegswirtschaft siehe Johann Plenge: 1789 und 1914 - die symbolischen Jahre in der Geschichte des politischen Geistes, Berlin: Springer 1916, 82-84; dazu Axel Schildt: Ein konservativer Prophet moderner nationaler Integration. Biographische Skizze des streitbaren Soziologen Johann Plenge (1874-1963), in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 35/1987, S. 523-570; zu Rathenau siehe ausführlich unten Kapitel 6.2.
2.3 Krieg und Revolution als Katalysatoren
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systeme in Krieg und Revolution habe zu einer massiven Verunsicherung geführt, die bei vielen Intellektuellen mit der Sehnsucht nach stabilen Ordnungen einhergegangen sei, die sie wiederum in Utopien artikuliert hätten. 1 2 2 ) Schon einige Zeitgenossen stellten eine intellektuelle Verbindung zwischen gesellschaftlichen Umbruchsituationen und Ordnungsutopien her. Sie führten bestimmte intellektuelle Positionen auf die Verunsicherung zurück, die Weltkrieg und Revolution ausgelöst hätten, um sie durch den Verweis auf diese psychologischen Wurzeln zu desavouieren. So kritisierte beispielsweise Eugen Diederichs 1920 eine verbreitete „Kriegspsychose und Revolutionspsychose", die meinte, alle äußeren Einrichtungen der Gesellschaft grundsätzlich verändern zu können. 1 2 3 ) Auf ganz ähnliche Weise werden der „Weltkrieg" und die „Revolution" in der Forschung zur Geistesgeschichte der Weimarer Republik gern eingesetzt, um intellektuelle Veränderungen nach 1918 zu erklären. 1 2 4 ) Insgesamt werden der Erste Weltkrieg und die Revolution - nicht nur die Deutsche, sondern vor allem auch die Russische - in der intellectual history darüber hinaus häufig mit veränderten Erfahrungen und Konstruktionen historischer Zeit in Verbindung gebracht. 1 2 5 ) D i e Veränderung der Zeitkonzeptionen und damit auch Zukunftsvorstellungen im Ersten Weltkrieg werden dabei gemeinhin auf zwei Weisen beschrieben. Zum einen wird eine Beschleu-
122 ) So argumentiert paradigmatisch Peukert: Max Webers Diagnose der Moderne, S.66f.; siehe auch Mommsen: Die Auflösung des Bürgertums, S. 289f.; ders:. Aufbruch zur Nation. Irrwege des Deutschen Nationalismus in der Zwischenkriegsepoche, in: Von Weimar nach Auschwitz. Zur Geschichte Deutschlands in der Weltkriegsepoche. Ausgewählte Aufsätze, Stuttgart 1999, S. 44-57, S.46; ähnliche Figuren bei Moritz Föllmer. Machtverlust und utopische Kompensation. Hohe Beamte und Nationalismus im Ersten Weltkrieg, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 49/2001, S. 581-598; Nolte: Die Ordnung der deutschen Gesellschaft, S. 65; Peter Krüger: Der Erste Weltkrieg als Epochenschwelle, in: Hans Maier (Hrsg.): Wege in die Gewalt. Die modernen politischen Religionen, Frankfurt/Main 2000, S. 70-91, S.82; Schreiner: „Wann kommt der Retter Deutschlands?", S. 124,137 und passim. 123 ) Eugen Diederichs: Die geistigen Aufgaben der Zukunft. Eine Ansprache an die Leipziger Buchhandlungsgehilfen, Leipzig: Eule 1920, S.6; wertneutraler formuliert Semi Meyer. Utopie und Entwicklung, in: Nord und Süd 44/1919, S. 141-147, S. 141; der Danziger Nervenarzt publizierte zudem eine Studie über die „Zukunft der Menschheit" in einer Reihe, die sich mit den psychologischen Folgen von Krieg und Revolution beschäftigte: Grenzfragen des Nerven- und Seelenlebens. Einzeldarstellungen für Gebildete aller Stände, begr. v. Dr. L. Loewenfeld und Dr. H. Kurella. Ausführlicher zum Verhältnis von Utopismus und Nachkrieg unten Kapitel 9.1. 124 ) Siehe dazu ausführlich Föllmer!Graf!Leo: Einleitung; sowie unten Kapitel 10. Als ein Beispiel unter vielen, das allerdings besonders gut gerechtfertigt ist, können die Arbeiten zu Hans Freyer gelten. Siehe Jerry Z. Muller: The Other God That Failed. Hans Freyer and the Deradicalization of German Conservatism, Princeton 1987, 58-72; oder Walter Giere: Das politische Denken Hans Freyers in den Jahren der Zwischenkriegszeit (1918-1939), Diss., Freiburg im Breisgau 1967, S. 10. 125 ) Burkhard Diicker: Krieg und Zeiterfahrung. Zur Konstruktion einer neuen Zeit in Selbstaussagen zum Ersten Weltkrieg, in: Thomas F. Schneider (Hrsg.): Kriegserlebnis und Legendenbildung, Osnabrück 1999, S. 153-172.
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2. Entstehungsbedingungen des Zukunftsdiskurses
nigung der historischen Zeit konstatiert und zum anderen die Entwertung des klassischen Fortschritts- und Entwicklungsdenkens festgestellt.126) Die Rede von der Zeitbeschleunigung ist metaphorisch: Nicht die Zeit wird schneller, sondern die Veränderungen in ihr vollziehen sich in immer rascherem Tempo. Dabei handelt es sich, wie Reinhart Koselleck in vielen Studien gezeigt hat, um ein allgemeines Phänomen der Moderne, dass sich „alles schneller ändert, als man bisher erwarten konnte oder früher erfahren hatte. Es kommt durch die kürzeren Zeitspannen eine Unbekanntheitskomponente in den Alltag der Betroffenen, die aus keiner bisherigen Erfahrung ableitbar ist: das zeichnet die Erfahrung der Beschleunigung aus."127) Während Koselleck seine Überlegungen auf die so genannte „Sattelzeit" um 1800 konzentriert, spricht vieles dafür, dass die Veränderungsdynamik zum Beginn des 20. Jahrhunderts im Ersten Weltkrieg und den revolutionären Umbrüchen nochmals zunahm, bisherige Erfahrungen schneller entwertet wurden und die Zukunft zugleich unvorhersehbarer wurde. So hieß es beispielsweise 1918/19 in der Tat: „Die Weltgeschichte geht bald langsam, bald rasch. Nun rast sie."128) Damit harmoniert der Befund, dass das Fortschrittsdenken am Ende war und viele Zeitgenossen die Gegenwart als Zeit von Brüchen beschrieben. Denn die Wahrnehmung von Diskontinuität entsteht dann, wenn Wandel sich so schnell vollzieht, dass seine Produkte nicht mehr aus Vergangenem abzuleiten sind.129) Daher erlebten apokalyptische Zukunftsaneignungen am Ende des Krieges eine Renaissance und radikale Utopien und Visionen eines fundamentalen Bruchs blieben in der Weimarer Republik attraktiv.130) Auch wenn der fundamentale Einfluss des Weltkriegs und der anschließenden revolutionären Veränderungen auf die Intellektuellen und den Zukunftsdiskurs nicht von der Hand zu weisen ist, müssen die genauen Wirkungen detaillierter ausgewiesen werden. 131 ) Jenseits der allgemeinen Intensitätssteigerung gab das Erlebnis intentional herbeigeführter, fundamentaler Veränderungen in Wirtschaft, Gesellschaft und Politik in den Jahren von 1914 bis 1919 Veränderungsvorschlägen und Neuordnungsvisionen eine neue Virulenz und Brisanz. Davon zeugen schon allein die Bezüge auf Krieg und Revolution, die 126 ) Exemplarisch siehe die Überlegungen zur Zeitbeschleunigung bei Martin H. Geyer. Verkehrte Welt. Revolution, Inflation, Moderne, München 1914-1924, Göttingen 1998, S. 379-381. Zur Ablösung des Fortschrittsdenkens ausführlich Kapitel 6.2. 127 ) Reinhart Koselleck: Gibt es eine Beschleunigung der Geschichte?, in: Zeitschichten. Studien zur Historik, Frankfurt/Main 2000, S. 150-177, S. 164; siehe auch ders.: Zeitverkürzung und Beschleunigung. Eine Studie zur Säkularisation, in: ebd., S. 177-202. 128 ) Schmitt: Was müssen wir tun, in: Die Tat 10.2/1918/19, S.671f. 129 ) Fritzsche: Landscape of Danger, S. 36-40; Peukert. Die Weimarer Republik, S. 187. 130 ) Vondung: Die Apokalypse in Deutschland, S.10; Winter: Sites of Memory, S. 145; speziell zu jüdischen Intellektuellen: Anson Rabinbach: In the Shadow of Catastrophe. German Intellectuals between Apocalypse and Enlightenment, Berkeley/Los Angeles/London 1997, S.2; Stéphane Moses: Der Engel der Geschichte. Franz Rosenzweig, Walter Benjamin, Gershom Scholem, Frankfurt/Main 1992, S. 19f. 131 ) Siehe dazu ausführlich Kapitel 5.
2.3 Krieg und Revolution als Katalysatoren
63
Texten des Zukunftsdiskurses in vielen Fällen vorangestellt wurden. 1 3 2 ) Vor allem der Krieg galt als eine Zeit extrem beschleunigter Veränderungen und plausibilisierte damit die Erwartung kurzfristigen Wandels. 1 3 3 ) Schließlich diente der Verweis auf die Anstrengungen und Leistungen des deutschen Volkes im Krieg zur Rechtfertigung des Glaubens an seinen „Wiederaufstieg" in der Zukunft: „Würde Deutschland durch eine R e i h e von Jahren, so lange wie der Krieg war, so arbeiten und entbehren wie im Kriege, so wäre es aus d e m Schlimmsten der Krise heraus und dürfte wieder Zuversicht haben, obenauf zu bleiben." 1 3 4 ) Entscheidend ist bei diesen Aussagen, dass die Zeitgenossen Beschleunigung oder Bruch nicht als einen ungesteuerten und ungerichteten Prozess wahrnahmen, sondern vielmehr als absichtliche und planmäßige Veränderung einer Wirtschafts- und Gesellschafts- beziehungsweise politischen Ordnung. D i e Erfahrung von Krieg und Revolution legte so die Auffassung nahe, dass man alles in kurzer Zeit radikal verändern könne. E s liegt also die H y p o t h e s e nahe, dass der Zukunftsdiskurs in der Weimarer Republik von einem ausgesprochen h o h e n Gestaltbarkeitsbewusstsein gekennzeichnet war.
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) Siehe als Beispiele aus verschiedenen politischen Kontexten die Einleitung zu Othmar Spann: Der wahre Staat. Vorlesungen über Abbruch und Neubau der Gesellschaft, Jena: Fischer 31931 [l.Aufl. Leipzig 1921]; Edgar Julius Jung: Die Herrschaft der Minderwertigen, Berlin: Verlag Deutsche Rundschau 21930, S. 8, und Ernst Bloch: Der Geist der Utopie, Frankfurt/Main 1959 [Faksimile der Erstausgabe von 1918]. Über dessen Entstehung urteilt Blochs Freundin Margarete Susman: Der Geist der Utopie, in: Frankfurter Zeitung 12.1.1919: „Dem, der in einer eisigen Sturmnacht im Schnee verirrt plötzlich vor sich ein einziges Licht aufblinken sieht, mag es ähnlich ums Herz sein wie dem, der in der finsteren, armen Sturmnacht der Kriegszeit plötzlich im Herzen Deutschlands ein glühendes Licht aufgehen sah: eine neue deutsche Metaphysik." Diese Perspektive wird übernommen von Günter Vogler. Ernst Bloch und Thomas Müntzer. Historie und Gegenwart in der Müntzer-Interpretation eines Philosophen, in: Norbert FiscAer/Mariam KobeltGroch (Hrsg.): Außenseiter zwischen Mittelalter und Früher Neuzeit. Festschrift für HansJürgen Goertz zum 60. Geburtstag, Leiden/New York/Köln 1997, S. 243-267. 133 ) Albert Paust: Das „Tausendjährige Reich" in Geschichte und neuester Literatur, in: Alere flammam. Festschrift für Minde-Pouet, Leipzig: Ges. d. Freunde d. Dt. Bücherei 1921, S. 60-78,60f. u. 64. 134 ) Friedrich Wieser: Die Revolutionen der Gegenwart, in: Die Deutsche Rundschau 182/1920, S. 321-353, S.348; siehe auch Edgar Herbst: Die Verwirklichung der Gott-Idee. Richtlinien für den Aufstieg der Menschheit zur Vernunft (Der Aufstieg. Neue Zeit- und Streitschriften), Leipzig/Wien 1919, S.30.
3. Die Zukunft als Charakterfrage. Eine Momentaufnahme im Jahr 1928 oder „Deutschlands Köpfe der Gegenwart über Deutschlands Zukunft" Im Unterschied zu 1926, das Hans Ulrich Gumbrecht als ein „Jahr am Rande der Zeit" bezeichnet, scheint 1928 ein Jahr kurz vor Beginn der Zukunft gewesen zu sein.1) Diese Perspektive eröffnet zumindest eine zeitgenössisch wenig beachtete und auch in der historischen Forschung bisher nicht rezipierte Edition des kleinen Berliner Eigenbrödler-Verlags mit dem Titel Deutschlands Köpfe der Gegenwart über Deutschlands Zukunft.2) Herausgegeben und zusammengestellt von Friedrich Koslowsky, versammelte das großformatige Buch die Auffassungen von ca. 700 deutschen Politikern, Wissenschaftlern, Künstlern und anderen Personen des öffentlichen Lebens unterschiedlicher politischer Couleur über Deutschlands Zukunft. Mit Sinnsprüchen an das eigene Vaterland, die von wenigen Worten bis zu einer Seite langen Traktaten reichen, nimmt sich das Buch wie ein Poesiealbum des Deutschen Reiches aus: Sein Zweck bestand weniger in der Reflexion von Vergangenheit und Gegenwart als vielmehr darin, Auskunft über Deutschlands zukünftige Entwicklung zu geben. Trotz ihrer geringen Resonanz stellen die in der Edition versammelten Aussagen deutscher Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens eine ausgezeichnete kulturgeschichtliche Quelle dar. Sie eröffnen nicht nur Einblicke in die intellektuelle Stimmung des Jahres 1928, sondern offenbaren auch die grundsätzliche Virulenz des Zukunftsdiskurses in der Weimarer Republik sowie seine basalen Strukturen. Könnte es noch eine pittoreske Episode sein, dass ein obskurer Verlag Mitte der 1920er Jahre versucht, kurze Statements zur Zukunft des eigenen Landes zu sammeln, so ist doch bemerkenswert, dass ca. 700 namhafte Persönlichkeiten ein paar Zeilen über die Zukunft zu Papier bringen, um zu dem Sammelwerk beizutragen. Nach einer kurzen formalen Beschreibung der Edition werden wesentliche Grundannahmen und Konfliktlinien der Zukunftsaneignungen in den Sinnsprüchen dargestellt. Dadurch kann der Zukunftsdiskurs in groben Zügen skizziert und der methodische Zugriff auf die formale Struktur der Zukunftsaneignungen anhand eines konkreten Beispiels erneut motiviert werden.
!) Hans Ulrich Gumbrecht: In 1926. Living at the Edge of Time, Cambridge/Mass. 1997. Der Titel der deutschen Übersetzung lautet „1926. Ein Jahr am Rande der Zeit". 2 ) Friedrich Koslowsky (Hrsg.): Deutschlands Köpfe der Gegenwart über Deutschlands Zukunft. Mit einem Geleitwort von Graf Rüdiger von d. Goltz, Berlin/Zürich: Eigenbrödler-Verlag 1928.
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3. Die Zukunft als Charakterfrage
3.1 Köpfe, Handschriften und die Zukunft Eine Sammlung von Aussagen „führender Deutscher" zur Zukunft der Landes herauszugeben, war in den 1920er Jahren in Deutschland kein originelles Projekt, sondern fügte sich in eine Reihe ähnlicher Publikationen ein, in denen Politiker und Intellektuelle ihre Ansichten über die Zukunft äußerten. Insbesondere in der Anfangsphase der Republik entstanden - wahrscheinlich noch in der Tradition der Weltkriegsschriften zu Deutschlands Erneuerung und Zukunft3) - eine Reihe vergleichbarer Textsammlungen.4) Auch im weiteren Verlauf der Weimarer Republik wurden immer wieder nicht nur einzelne Abhandlungen, sondern auch Sammelwerke zur Zukunft veröffentlicht, und viele Zeitungen veranstalteten Umfragen unter ihren Lesern, was diese von der Zukunft erwarteten und erhofften. 5 ) In diesem publizistischen Umfeld wurde „Deutschlands Zukunft" zu einem eigenständigen Diskursgegenstand, und daher dürfte es den vom Eigenbrödler-Verlag angesprochenen Personen nicht seltsam, sondern eher normal vorgekommen sein, um ihre Meinung zur Zukunft gebeten zu werden. Nur wenige sahen sich wie der Historiker Hans Delbrück außer Stande, ein Bild von der Zukunft zu zeichnen, oder äußerten wie Otto Geßler ein Unbehagen, weil Prophezeiungen die eigenen intellektuellen Fähigkeiten überstiegen.6) Obwohl sich die Publikation Deutschlands Köpfe der Gegenwart über Deutschlands Zukunft also quasi in ein Genre einfügte, unterschied sie sich 3
) Siehe dazu Bruendel: Volksgemeinschaft oder Volksstaat sowie unten Kapitel 5.2. ) Siehe zum Beispiel Neue Wege zum Aufbau Deutschlands. Der deutschen Nationalversammlung gewidmet (Erstes Beiheft zur Monatsschrift Die Tat), Jena: Eugen Diederichs 1919; Zentrale für Heimatdienst (Hrsg.): Der Geist der neuen Volksgemeinschaft. Eine Denkschrift für das deutsche Volk, Berlin: S. Fischer 1919; Klemens Löffler (Hrsg.): Deutschlands Zukunft im Urteil führender Männer. Beiträge von Reichspräsident Ebert u.a., Halle 1921; eine ausführlichere Analyse dieser Textsammlungen unten in Kapitel 7.3.1. 5 ) Georg Anschiltz u.a. (Hrsg.): Der Weg in die Zukunft (Handbuch der Politik, Bd.5), Berlin: Walther Rothschild 31922; Fritz Dehnow (Hrsg.): Ethik der Zukunft, Leipzig: O.R. Reisland 1922; Karl Haushofer/Kurt Trampler (Hrsg.): Deutschlands Weg aus der Zeitenwende, München: Hugendubel 1931; Friedrich M. Huebner (Hrsg.): Die Frau von morgen, wie wir sie uns wünschen, Leipzig: E.A. Seemann 1929; als Beispiele für Umfragen siehe Ende und Neubeginn. Eine Neujahrsumfrage, Beilage der Deutschen Allgemeinen Zeitung, 1.1.1924; Deutschlands Zukunft. Eine Rundfrage bei 51 führenden Deutschen, in: Süddeutsche Monatshefte 24/1926, S. 169-219; Wie wird Berlin in hundert Jahren aussehen? Eine Umfrage an einige Berliner, die es eigentlich wissen müßten ...", Berliner Tageblatt und Handels-Zeitung, 5. Beiblatt, 1.1.1927. 6 ) Koslowsky: Deutschlands Köpfe, S.33 u. 65. Dies liegt natürlich zum Teil daran, dass nur die beantworteten Schreiben publiziert sind. Da das Verlagsarchiv verloren ist, ist eine Rekonstruktion der unbeantworteten Anschreiben oder auch der nicht abgedruckten Antworten leider nicht möglich. Ein Schreiben des Eigenbrödler-Verlags, aus dem hervorgeht, dass die Anschreiben mit einem Formblatt für die Rückantwort versehen wurden, findet sich im Nachlass von A. Brackmann; Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz I HA, Rep.92, Brackmann (D) Nr. 48. 4
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3.1 Köpfe, Handschriften und die Zukunft
doch deutlich von den übrigen Sammelbänden zum gleichen Thema. Das Buch wurde wesentlich aufwendiger gestaltet, war großformatig, auf hochwertigem Papier gedruckt und enthielt zahlreiche Abbildungen. Alles in allem wirkt es weniger wie ein Buch, das man kauft, um es zu lesen, als vielmehr wie eines, das man verschenkt und das dann zur Erbauung durchblättert werden soll. Damit entsprach es grundsätzlich dem Programm des Eigenbrödler-Verlages, der 1919 vom Berliner Fabrikantensohn Willy Stuhlfeld gegründet worden war. Der mit der Hofopernsängerin Maria Stuhlfeld, geb. Gänge, verheiratete Verlagsdirektor war ausgebildeter Sänger, hatte während des Ersten Weltkriegs die Salzburger Operngastspiele geleitet und arbeitete zu Beginn der 1920er Jahre noch als Intendant der Vereinigten Stadttheater Nürnberg/Fürth/ Erlangen, um sich dann ganz dem Verlagsgeschäft zu widmen. Mit dem Eigenbrödler-Verlag publizierte er vor allem schöne Literatur, aber auch großformatige und reich bebilderte Sitten- und Kulturgeschichten.7) Bereits der Titel Deutschlands
Köpfe der Gegenwart
über
Deutschlands
Zukunft indiziert das zentrale Gestaltungsmerkmal der Edition: Neben jeder Sentenz befindet sich ein passbildgroßes Porträtfoto des Verfassers, das mit seinem Namen und Beruf versehen wurde. Darüber hinaus steht unter jedem Sinnspruch ein Faksimile der Unterschrift des Befragten, und ungefähr ein Viertel der Zuschriften sind vollständig als Faksimile der Handschriften reproduziert. In der Weimarer Republik, in der charakterologisches Wissen, das beispielsweise Graphologie, Physiognomie und Kraniometrie liefern sollten, etabliert und popularisiert wurde, reichte es dem Verlag nicht, die Bedeutsamkeit des Sammelbandes durch die herausgehobene Stellung der Beiträger im öffentlichen Leben zu betonen, indem er ihre Berufe angab.8) Vielmehr versuchte der Herausgeber, den Aussagen über die Zukunft dadurch besondere Geltung zu verleihen, dass er den Charakter der Autoren für graphologisch und physiognomisch geschulte Leserinnen und Leser offenlegte. Dieses Vorgehen zeigt die große Relevanz, die Charakterfragen im Zukunftsdiskurs in
7
) Ende der 1920er Jahre scheint der Verlag von S. Fischer übernommen worden zu sein. Anfragen bezüglich des Verlagsarchivs blieben jedoch dort wie auch beim Börsenverein des deutschen Buchhandels leider erfolglos. Auch in den klassischen Publikationen zur Verlagsgeschichte wird der Eigenbrödler-Verlag nicht oder nur am Rande erwähnt. Am ausführlichsten ist Regina Mahlke: Berlin als Verlagsort. Tendenzen und Entwicklungen nach 1825. Hausarbeit zur Prüfung für den höheren Bibliotheksdienst, Köln 1982, S.76: „Romane verlegt der 1919 gegründete Eigenbrödlerverlag, unter anderem von Walter von Molo und Börries von Münchhausen." 8 ) Siehe dazu Claudia Schmölders/Sander Gilman (Hrsg.): Gesichter der Weimarer Republik. Eine physiognomische Kulturgeschichte, Köln 2000; zur Graphologie entsteht derzeit eine Dissertation von Per Leo an der Humboldt-Universität zu Berlin. Als Beispiele für den populären charakterologischen Diskurs siehe Gustav W. Gessmann: Katechismus der Handschriften-Deutung, Berlin: Siegismund 1918; ders.·. Katechismus der Gesichtslesekunst, Berlin: Siegismund 31919; Reinhold Kohlhardt: Dein Schädel verrät Dich! Deine Kopf-Form zeigt mit Sicherheit Talente, Begabungen und Charaktereigenschaften!, Berlin: Uranus 1922.
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3. Die Zukunft als Charakterfrage
der Weimarer Republik hatten: Weil man über die Zukunft im Unterschied zu anderen Themen kein empirisches, positives Wissen haben konnte, kam es nicht so sehr auf eine bestimmte Expertise an, sondern vielmehr auf die allgemeine charakterliche Haltung und Einstellung. Nur charakterlich vorbildlichen Personen wurde die Fähigkeit zugetraut, Aussagen über die Zukunft zu machen. Dies galt umso mehr, als man auch gerade den charakterfesten und willensstarken Personen die Fähigkeit zumaß, die Zukunft nach ihren Vorstellungen zu gestalten. Deshalb sammelte der Eigenbrödler-Verlag nicht einfach nur Aussagen von Prominenten über Deutschlands Zukunft, sondern gab zugleich so genau wie möglich Auskunft über deren Charakter. So wurde suggeriert, man habe es hier mit den Köpfen zu tun, die etwas über die Zukunft zu sagen haben, weil sie sie auch gestalten können. Neben den Fotos der Beiträger enthält die Edition zahlreiche weitere, zumeist ganzseitige Abbildungen, die vor allem neue Bauwerke wie Bahnhöfe, Flughäfen und Verwaltungsgebäude, Fabriken (die Hochofenanlage der Vereinigten Stahlwerke AG, das Großkraftwerk Trattendorf der Elektrowerke AG oder die Krupp-Werke in Essen) sowie Werften und Hafenanlagen zeigen. Abgesehen von baulichen werden aber auch technische Errungenschaften der Nachkriegszeit präsentiert wie zum Beispiel neue Flugzeuge, die ZweizylinderEinheits-Schnellzuglokomotive der Deutschen Reichsbahn oder das Passagierschiff Bremen, das 1929 das blaue Band für die schnellste Passagierschiffüberquerung des Atlantik gewann. Die einzige Abbildung, bei der Menschen mehr als nur ein zufälliges Beiwerk zum eigentlich fotografierten technischen oder architektonischen Objekt sind, ist eine Aufnahme der Massenfreiübungen auf dem Turnfest in Köln 1928, auf der allerdings in auffälligem Kontrast zur Individualisierung von Deutschlands Köpfen das Individuum in der Menge der Körper verschwindet. Blättert man die Edition durch, so fällt weiterhin auf, dass Deutschlands Köpfe im Wesentlichen männlich gewesen zu sein scheinen; im Vorwort heißt es sogar, der Band versammele die Gedanken „führender Männer" zur Zukunft des Vaterlandes. Lediglich 22 der rund 700 Autoren waren Frauen. Von diesen waren einige wie Gertrud Bäumer politisch aktiv, aber die meisten waren in künstlerischen Berufen und vor allem als Schriftstellerinnen tätig. Bei den männlichen Beiträgern ist das Berufsspektrum breiter, wenn es auch wenig Vertreter der Arbeiterschaft enthält, weil explizit Personen des öffentlichen Lebens befragt wurden. Die Schwerpunkte liegen hier im Bereich der Politik und Verwaltung - mit zahlreichen Vertretern der Reichsregierung - , den künstlerischen Berufen mit Schauspielern, Schriftstellern und Malern sowie bei Militärs und Guts- bzw. Fabrikbesitzern. Überraschend gering repräsentiert sind hingegen Akademiker und Universitätsprofessoren. Der Intention des Verlages entsprechend, ist das politische Spektrum der Edition sehr breit. Mit Ausnahme von Kommunisten oder Nationalsozialisten kommen Vertreter aller politischen Richtungen zu Wort. Über die politische Elite finden Arbeiterschaft und Mittelschichten also doch eine Stimme, obwohl die
3.2 Die Einheit des Diskurses - Einigkeit als Zentralproblem
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Edition einen Schwerpunkt im national-konservativen Milieu hat. Nichtsdestoweniger äußern sich zahlreiche Liberale und Sozialdemokraten sowie einige weiter links stehende Intellektuelle wie zum Beispiel Ernst Toller und Bertolt Brecht. Durch ihre Platzierung neben rechtsradikalen Figuren wie dem Freikorpsführer Hermann Ehrhardt oder dem Bundesführer des Stahlhelm Franz Seldte, deren Arrangement nach Verlagsangabe rein drucktechnischen Gesichtpunkten folgte, ergibt sich folglich ein buntes Panorama unterschiedlicher Stimmen über Deutschlands Zukunft.
3.2 Die Einheit des Diskurses - Einigkeit als Zentralproblem Im Vorwort von Deutschlands Köpfe erklärt der Eigenbrödler-Verlag, dass bei einer so heterogenen Gruppe von Befragten die „Ansichten über Deutschlands Aufstieg" naturgemäß auseinandergingen, betont aber zugleich, „allen gemeinsam [sei] der zuversichtliche Glaube an die Zukunft unseres Vaterlandes."9) Die zentrale Intention der Herausgeber, eine über die politischen Lagergrenzen hinausgehende Einigung über die optimistische Vergewisserung zu erreichen, dass Deutschland Zukunft habe und wieder aufsteigen werde, wird noch deutlicher im Geleitwort des Generals a. D. Rüdiger Graf von der Goltz, der nach seinem militärischen Einsatz gegen die Rote Armee im Baltikum seit 1924 Vorsitzender der Vereinigten Vaterländischen Verbände war. Noch 1928 sah er „Deutschland am Boden, entwaffnet, ausgeplündert, verarmt, wichtiger Ernährungsgebiete im Osten beraubt, der Westen widerrechtlich immer noch unter erniedrigender, rücksichtsloser aufreizender Besatzung leidend", so dass viele Menschen sich fragten: „Wie lange noch? Gibt es einen Ausweg? Gibt es eine Hoffnung?" 10 ) Mit dieser Reihung formulierte Rüdiger von der Goltz wesentliche Fragen des Zukunftsdiskurses einer intellektuellen Gemeinschaft, die mit der Gegenwart unzufrieden war bzw. sie als unhaltbare und unerträgliche Situation begriff. Das zentrale Hindernis für Deutschlands Wiederaufstieg war für Rüdiger von der Goltz die „furchtbare Zerrissenheit und Zersplitterung, der uralte ,Furor teutonicus' der gegen sich selbst wütenden Deutschen." Erst wenn die Uneinigkeit und der Parteienhader überwunden sei wie einst im „Schützengraben, in dem der Reiche neben dem Armen, der Kopfarbeiter neben dem Handarbeiter stand, und in dem beide die treueste Kameradschaft lernten und hielten", könne eine Besserung der Lage erreicht werden. Genau in dieser gemeinsamen Verständigung über Deutschlands Zukunft sah von der Goltz den Hauptzweck der Edition. Allerdings war für ihn das Ergebnis der Verständigung bereits vorgezeichnet, da eine substantielle Verbesserung der Lage nicht
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) Koslowsky. Deutschlands Köpfe, S.6. ) Ebd., S.7.
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3. Die Zukunft als Charakterfrage
durch Passivität und internationale Fügsamkeit, sondern nur durch Wehrwillen und die Wiedererlangung des Großmachtstatus erreicht werden könne. Diese spezifisch nationalistische Zukunftsaneignung codierte er jedoch als universalistische, indem er die vollkommene Identifikation mit dem Vaterland mit der Einigkeit gleichsetzte. Das Symbol der erstrebten Einigkeit war Hindenburg. Der EigenbrödlerVerlag widmete das Buch „Deutschlands großem Führer dem Herrn Reichspräsidenten Generalfeldmarschall von Hindenburg in Ehrfurcht", und die ersten Seiten zierten sein Porträt und ein Lobgedicht von Paul Warncke. Inwiefern entsprachen aber nun die Beiträge des Sammelbandes der Intention der Herausgeber, eine optimistische Selbstvergewisserung in Bezug auf Deutschlands Aufstieg und intellektuelle Einigkeit zu erzielen, und wo traten Konflikte oder Differenzen zwischen den verschiedenen Beiträgern auf? Mit anderen Worten, was waren die geteilten Grundannahmen des Zukunftsdiskurses in der Weimarer Republik, und welche Konfliktlinien ergaben sich auf ihrer Basis? Die Aussagen der politisch-kulturellen Meinungsführer entsprechen in ihrer einheitlich optimistischen Ausrichtung auf eindrucksvolle Weise der Verlagsintention. Im ganzen Buch finden sich keine pessimistischen Stimmen. Selbst wer die Gegenwart so negativ beschrieb wie Rüdiger Graf von der Goltz in seinem Geleitwort, gab die Hoffnung auf eine bessere Zukunft doch nicht auf. Eine solche Haltung des „Dennoch!" brachte Wilhelm Freiherr von Gayl zum Ausdruck: Zwar gebe es angesichts der Entwicklung der letzten 14 Jahre Gründe, pessimistisch im Hinblick auf Deutschlands Zukunft zu sein, aber „dennoch zweifle ich an dieser Zukunft nicht."11) Ungefähr ein Dutzend Autoren zeichnete zwar das Bild einer möglichen weiteren Verschlechterung von Deutschlands außen- und innenpolitischer Lage, aber sie alle sahen dies lediglich als eine Möglichkeit, die eintreten werde, wenn nicht bestimmte Maßnahmen ergriffen würden. Am einprägsamsten formulierte diese Position der Bildhauer Walter Schott, der angesichts des von ihm skizzierten politischen und moralischen Verfalls Deutschlands meinte: ,,[E]in solches Volk ist ein Sauvolk und geht zu Grunde, wenn es nicht wieder lernt: .gehorchen'!" 12 ) Selbst Monarchisten sahen noch immer die Möglichkeit der Rettung. So meinte der General a. D. Konstantin Freiherr von Gebsattel zwar, das deutsche Volk sei für immer verloren, wenn es so weitermache wie bisher. Wenn es jedoch „reuig zur Monarchie und einem deutschen Kaisertum" zurückkehre, dann werde „seine Zukunft zu einer lichtvollen werden." 13 ) Die meisten Autoren waren aber nicht nur unter bestimmten Bedingungen optimistisch, sondern sie äußerten vielmehr einen grundsätzlichen und oftmals geradezu überschwänglichen Optimismus. So erklärte Reichminister » ) Ebd., S. 157. ) Ebd., S. 143. 13 ) Ebd., S.27. Ein ähnliches Schema auch bei Traugott von Jagow, in: ebd., S. 14.
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3.2 Die Einheit des Diskurses - Einigkeit als Zentralproblem
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a. D. Gustav Bauer, das deutsche Volk gehe einer „glänzenden Zukunft" entgegen, und der Schriftsteller Bogislaw Freiherr von Selchow meinte gar, „daß das Hoffen auf eine große kommende Zeit nie so berechtigt war wie heute." 14 ) Ihren Glauben an die deutsche Zukunft motivierten die Autoren auf verschiedene Arten. Für den ehemaligen deutschnationalen Reichsminister Oskar Hergt bedurfte der Glaube keiner weiteren Motivation, so dass Hergt sein gesamtes Statement auf die zwei Worte „Ich glaube" reduzieren konnte. 15 ) Demgegenüber verwiesen jedoch viele Autoren auf die unmittelbare Vergangenheit des Krieges und der nachfolgenden Aufbauarbeit, um ihren Optimismus zu begründen. Allen voran konstatierte Außenminister Gustav Stresemann: „Die Entwicklung, die Deutschland seit dem Niederbruch nach dem verhängnisvollen Weltkrieg erlebt hat, gibt uns das Recht, an Deutschlands Zukunft zu glauben." 16 ) Wie Stresemann erwartete auch Thomas Mann, die positive Entwicklung der Nachkriegszeit werde sich fortsetzen und so allmählich und zwangsläufig zu einer Verbesserung der Lage führen: „Laßt weitere 10 Jahre vergehen, laßt die heute 16jährigen, die alles schon soviel ruhiger ansehen, Männer geworden sein und kaum noch ein Achselzucken wird es unter uns geben über das, was uns jetzt so trübselig entzweit."17) Es waren insbesondere die so genannten deutschen Tugenden, die Leistungs- und Leidensfähigkeit des deutschen Volkes, auf die die Autoren ihren Glauben an die Zukunft gründeten. Dieser konnte sich davon jedoch auch ablösen und zu einem quasi metaphysischen Glauben an die Zukunft des deutschen Volkes werden. Denn der wesentliche Charakterzug der Deutschen sei ihre „Unfertigkeit", die ihnen immer weitere Zukunft sichere, wie Egon Frieden meinte. Die Schriftstellerin Elisabeth Dauthendey ging sogar so weit, das deutsche Volk aufgrund seiner Kulturgröße mit der Zukunft zu identifizieren: „Ein solches Volk braucht nicht um seine Zukunft zu bangen, - Es ist Zukunft." 18 ) Tautologische Sentenzen wie diese, dass Deutschland Zukunft habe, weil es Zukunft sei, waren sehr beliebt und nahmen oft geradezu mystische Qualität an, wenn zum Beispiel der Ministerialrat Gustav Zimmermann erklärte, er glaube an Deutschlands Zukunft, weil es eben Deutschland sei.19) So erinnern die Statements oft eher an Beschwörungsformeln als an rationale Argumente, wenngleich einige Autoren wie zum Beispiel Eufemia von Adlersfeld-Ballestrem und Philipp Freiherr von Carnap Bornheim ihren Glauben an die Zukunft mit dem Verweis auf historische Gesetzmäßigkeiten begründeten, wonach schlechte und gute Zeiten einander abwechselten.20) 14
) Ebd., S.83 u. 44. ) Ebd., S.90; ähnlich formulierte auch Hans Delbrück grundsätzliche Zuversicht, auch wenn er kein genaues Bild der Zukunft zeichnen wollte; ebd., S.33. 16 ) Ebd., S. 12. 17 ) Ebd., S. 24. 18 ) Ebd., S. 153 u. 325. 19 ) Ebd., S. 40. 20 ) Ebd., S. 193. 15
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3. Die Zukunft als Charakterfrage
Neben dem grundsätzlichen Optimismus der Sentenzen über Deutschlands Zukunft tauchten vor allem drei Forderungen immer wieder auf, die konsensuale Kraft entfalteten: 1. die Überwindung von Zersplitterung und Zerrissenheit bzw. die Herstellung größerer Einigkeit; 2. eine geistige, sittliche und moralische Erneuerung; 3. die Erhöhung von Arbeits- und Opferbereitschaft. 1. Vor dem Hintergrund der zersplitterten Parteienlandschaft der Weimarer Republik, weltanschaulich aufgeladener Auseinandersetzungen und einer militarisierten politischen Kultur und martialischen Sprache war die Forderung nach Einigkeit ein zentrales Anliegen der Autoren. Denn die Einigkeit sahen sie als notwendige Bedingung für Deutschlands Wiederaufstieg. Die universale Anschlussfähigkeit dieser Forderung darf jedoch nicht die Unterschiede verdecken, die daraus resultierten, dass Einigkeit je verschieden verstanden wurde bzw. die Intensität der erstrebten Einigkeit differierte. Republikanisch gesinnte Intellektuelle lehnten zumeist nicht die Auseinandersetzung als solche ab, sondern wandten sich nur gegen deren allzu radikale Ausdrucksformen, in denen die Achtung vor dem politischen Gegner verloren gehe. Der Korrespondent der Neuen Freien Presse Paul Goldmann zum Beispiel meinte, der Parteienstreit sei in einem demokratischen System notwendig, und forderte lediglich, man solle aufhören, dem Gegner mangelnden Patriotismus vorzuwerfen. 21 ) Desgleichen meinte Philipp Scheidemann, die „Überwindung der gehässigen politischen Kampfesweise" sei die Voraussetzung für Deutschlands Wiederaufstieg.22) Für viele der Beiträger erschöpfte sich die erstrebte Einigkeit jedoch nicht in der rhetorischen Abschwächung der Auseinandersetzung, sondern sie suchten eine weitergehende inhaltliche weltanschauliche Einigung der politischen Akteure. So verlangte der Theologe Reinhard Mumm eine Einigung im christlich sozialen Geist.23) Im Sinne einer solchen geistigen Einigkeit, die dann zu gemeinsamer Aktivität führen könne, müssen auch die Aussagen des ehemaligen Staatsministers Roderich Hustaedt, des Präsidenten des Deutschen Roten Kreuzes Joachim von Winterfeldt-Menkin sowie von Fred A. Angermayer verstanden werden. 24 ) Insbesondere auf der politischen Rechten wurde diese Forderung nach stärkerer Einheit formuliert und nationalistisch codiert, indem trennende Parteilichkeit und einiges Deutschtum einander gegenüber gestellt wurden. „Schlagt die Parteien in Stücke, Deutsche seid!", appellierte der Dirigent Siegfried Ochs an seine Landsleute, und der ehemalige Reichskanzler Hans Luther erklärte, in der gegenwärtigen Situation sei
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) Ebd., S.321. So ähnlich auch der Vizeadmiral Karl Galster, der meinte, übertriebener Nationalegoismus bringe Deutschland auch nicht weiter. 22 ) Ebd., S. 59, ähnlich auch Max Pechstein ebd., S. 112. 23 ) Ebd., S. 196. 24 ) Ebd., S.47,317 u. 137.
3.2 Die Einheit des Diskurses - Einigkeit als Zentralproblem
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„deutsch sein [...] alles!"25) Was genau dieses „Deutschsein" jenseits der Einigkeit über die Parteigrenzen hinweg war, blieb bei den meisten Beiträgern wie Carl Ernst Fürst Fugger von Glött oder dem Komponisten Hugo Kaun im Dunkeln. Deutschsein wurde so zu einer Beschwörungsformel, die quasi synonym mit der Forderung nach Einigkeit erhoben werden konnte und diese nationalisierte. 2. Ähnlich universal einsetzbar war die Forderung nach einer neuen geistigen Orientierung oder einer moralischen Erneuerung, die viele Autoren als Bedingung für die Einigung und die Überwindung der Zersplitterung ansahen. „Deutsch" war auch hier wieder ein Schlüsselwort für die Beschreibung der erstrebten Erneuerung, das zumeist gleichgesetzt wurde mit „männlich" und „gestaltungs-" und damit „zukunftsfähig". In Reinform sprach Franz Seldte diese assoziativ-begriffliche Verknüpfung von Männlichkeit, Deutschtum und Zukunft aus. Für ihn hing Deutschlands Zukunft davon ab, dass es gelinge, „ähnlich wie England, einen einheitlichen deutschen Männertyp zu schaffen, der keinen heiligeren Begriff kennt als das Vaterland, der kein höheres Gebot kennt als das Vaterland, der das Vaterland selbst ist."26) Genauer ausbuchstabiert wurde das „Deutsche" nur selten, und wenn, blieb es oft wie bei dem Juristen Kurt von Kleefeld bei einer Beschreibung der klassischen deutschen bzw. „preußischen Tugenden", „welche Glück und Entwicklung der Völker gewährleisten, nämlich Fleiß, Bescheidenheit, Verläßlichkeit und Pflichterfüllung."27) Auch ohne Bezug auf das Deutschtum forderten jedoch viele Autoren eine geistige Erneuerung - oder „Erstarkung", wie Max Planck formulierte - , die bis zur Aufstellung konkreter Lebensregeln gehen konnte. 28 ) So entwickelte der Intendant Paul Barney einen Regelkatalog, dem man folgen müsse, um Deutschlands Wiederaufstieg zu gewährleisten.29) Die geistige Erneuerung des deutschen Volkes wurde darüber hinaus häufig über das Thema „Jugend" verhandelt, weil diese in einem ganz konkreten Sinn die Zukunft bildete und zugleich über Erziehungs- und Bildungseinrichtungen noch form- und veränderbar erschien (siehe dazu ausführlich Kapitel 6.4.2). Beim häufigen Bezug auf die Jugend lassen sich jedoch verschiedene Argumente unterscheiden. Zum einen sahen viele Autoren die Jugend selbst und ihre Kraft und Gestalt als „Hoffnungsquell" (Georg Michaelis) oder gar als „einzige Hoffnung" (General Ludwig von Gebsattel) für eine bessere Zukunft. 30 ) Allerdings konnte
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) Ebd., S.206 u. 54. Siehe auch das Statement des Schriftstellers Artur Landsberger, in: ebd., S. 299. 26 ) Ebd., S. 317. 27 ) Ebd., S.69. Siehe Max Kempner Hochstädt, in: ebd., S.73. 28 ) Ebd., S. 285. 29 ) Ebd., S. 135. 30 ) Ebd., S.203 u. 52. Siehe auch die Aussage des Mediziners Themistocles Gluck: „Aus den Trümmern und Ruinen des Weltkriegs erwächst ein neues Leben. Dieses neue deutsche Leben, welches die hoffenden Augen aufschlägt, diese unter den genannten Auspizien erblühende Jugend, trägt, bildlich gesprochen, das Banner der deutschen Zukunft." Ebd., S.323.
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3. Die Zukunft als Charakterfrage
der Begriff der Jugend durchaus das gesamte deutsche Volk als junges oder jugendliches Volk umfassen. In diesem Sinne, aber im Gegensatz zu den eher älteren Köpfen, deren Porträts sich im Sammelband befanden, dichtete Klabund: „Doch sei verflucht der alte Zopf Verflucht die dürre Krücke Deutschland hat einen Knabenkopf und braucht keine Perücke!" 31 )
Vor allem die Autoren, die in der Jugendbildung tätig waren, verstanden die Jugend jedoch nicht als Hoffnungsquelle per se, sondern eher als das Material, das geformt werden könne, um die Zukunft im eigenen Sinne zu gestalten.32) Die moralische Erneuerung wurde von einigen der Beiträger - insbesondere, aber nicht nur von kirchlichen Würdenträgern - religiös codiert. Für den Münchener Oberbürgermeister Karl Scharnagl waren es „Gottesglaube, Gottesfurcht und Gottvertrauen", durch die Deutschlands Wiederaufstieg möglich werde, und auch Werner Sombart meinte, nur ein frommes Volk habe Zukunft, weshalb Deutschland wieder gläubig werden müsse.33) In gleicher Weise verstand der Erzdiakon von Danzig Artur Brausewetter eine religiöse Erneuerung als Bedingung für die Zukunft, deren Notwendigkeit der Pfarrer Ernst Bittlinger noch mit dem Argument unterstrich, dass die Macht eines Landes von dessen Kultur und diese wiederum von der Religion abhänge.34) Das Streben nach geistiger Erneuerung kulminierte häufig in der Forderung nach einem neuen Willen, einer neuen Haltung der Zukunft gegenüber. Dieser neue Wille sollte zur aktiven Gestaltung der Zukunft führen. So erklärte der Bischof Alexander Bernewitz: „Eine Zukunft hat nur, wer einen Willen hat! Nur der Gesamtwille eines Volkes sichert ihm einen Platz in der Welt."35) Vielen galt der Wille aber nicht nur als eine notwendige, sondern auch als eine hinreichende Bedingung für Deutschlands Wiederaufstieg: „Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg", erklärten der Herausgeber Friedrich Koslowsky, der ehemalige Gouverneur von Kamerun Carl Heinrich Ebermaier und der General der Infanterie Karl Freiherr von Lukas.36) Angesichts dieser Auffassung, dass eine bestimmte Haltung, nämlich die der willensstarken aktiven Zukunftsgestaltung, Deutschlands Zukunft bereits sicherstellen könne, wurde die Beobachtung eben dieses Willens in der Gegenwart zum Indiz für Deutschlands
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) Ebd., S. 14. ) So der Kanzler des Neudeutschen Bundes Pater Ludwig Esch und der Stadtschulrat Peter Adams; ebd., S. 104 u. 334. 33 ) Ebd., S. 12 u. 174. 34 ) Ebd., S.202 u. 342. 35 ) Ebd., S. 20. 36 ) Ebd., S. 102,287 u. 306. 32
3.2 Die Einheit des Diskurses - Einigkeit als Zentralproblem
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glückliche Zukunft. 37 ) Diesem Zweck diente auch die Präsentation der Ingenieursleistungen in den zahlreichen Abbildungen des Sammelbandes. Als visueller Gegendiskurs gegen kritische Darstellungen der innen- und außenpolitischen Gegenwart Deutschlands dokumentierten sie Manifestationen des deutschen Aufbauwillens, die als Indizien für Deutschlands große Zukunft verstanden werden sollten. Am deutlichsten wird diese Perspektive in Friedrich Koslowskys eigenem Beitrag, den er ganz auf die Person Zeppelins konzentrierte. Dieser habe mit „bewunderungswürdiger Zähigkeit" an seinem Plan festgehalten und die häufigen Rückschläge hätten ihn immer nur zu einem „Jetzt erst recht" geführt. „Das deutsche Volk nehme sich Zeppelins Lebensweg zum Vorbild: Nie verzagen - Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg Selbst ist der Mann! ,Es wird geschafft' und Jetzt erst recht' sei unsere Parole für die Zukunft!" 38 ) 3. Hier schließt sich nahtlos die dritte konsensfähige Position an, dass Deutschlands bessere Zukunft nur das Produkt harter Arbeit sein könne, bzw. dass die Arbeit der „Fels" sei, „auf dem Deutschlands Zukunft ruht" (Heinrich Löffler, Direktor im Reichskohlenverband).39) Carl Zuckmayer erklärte, die Deutschen müssten nun einige alte Kleider ab- und die „Arbeitsblusen" überstreifen, und Reichskanzler Hermann Müller meinte genauso wie der Reichswehrminister Wilhelm Groener, das deutsche Volk müsse hart arbeiten, um die eigene Not zu lindern.40) Besonderer Beliebtheit erfreute sich in diesem rhetorischen Zusammenhang die Gegenüberstellung von Reden und Arbeiten. 41 ) Aus Aussagen wie der Rudolf G. Bindings: „Über die Zukunft Deutschlands weiß ich nur eins: daß der welcher sie wirklich gestaltet einer - oder vielleicht jeder sein wird, der hier, im Gewirre der Rezepte, über sie schweigt", sprach ein deutlicher Überdruss an der angeblichen Intensität, mit der Pläne, Programme und Utopien verhandelt wurden, ohne dass daraus konkrete Veränderungen folgten. Charakteristisch für Autoren der politischen Rechten war dabei die zum Beispiel von Forstrat Georg Escherich, dem Chef des radikalen Wehrverbandes „Organisation Escherich", vorgenommene Paarung von Arbeit und Opferbereitschaft, die die moralischen Anforderungen nach oben schraubte und letztlich die Grenze zwischen der aufopferungsvollen Arbeit und dem Opfer des eigenen Lebens fließend werden ließ.42) (Siehe dazu ausführlich Kapitel 8.) Die konsensuale Forderung nach harter Arbeit als Bedingung für Deutschlands Wiederaufstieg stand nicht unvermittelt neben den Forderungen nach
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) Vgl. hierzu zum Beispiel die Aussagen des Kammersängers Cornells Bronsgeest und des Theaterdirektors Konrad Dreher. Ebd., S.205 u. 113. 38 ) Ebd., S. 102. 39 ) Ebd., S. 331. Ebd., S. 179 u. 71. 41 ) Siehe dazu die Aussagen von Otto Fritz Geßler und Prof. Dr. Juckenack, in: ebd., S.65 u. 80. 42 ) Ebd., S. 322.
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3. Die Zukunft als Charakterfrage
Einigkeit und einer geistigen Erneuerung, sondern sie war eng mit diesen verbunden. Die Aufbauarbeit konnte nur gelingen, wenn sie als gemeinsame Aufgabe durchgeführt wurde, so dass Arbeit und Einigkeit häufig in einem Atemzug genannt wurden. 43 ) Darüber hinaus galt eine geistige Erneuerung als Grundbedingung für das Gelingen der Aufbauarbeit, weil diese ohne einen starken und einigen Aufbauwillen nicht möglich war. Somit sprach aus den Sentenzen intellektuell sehr verschiedener Meinungsführer des Deutschen Reiches ein überraschend einheitliches Streben nach einer neuen, aktiv gestalterischen Haltung der Zukunft gegenüber. Passiv kulturpessimistische Positionen und utopische Pläne lehnten „Deutschlands führende Köpfe" ab. Sie formulierten vielmehr ein ausgeprägtes Gestaltbarkeitsbewusstsein und forderten handlungsfähige Charaktere. Aus ihrer Bereitschaft, Sentenzen über die Zukunft beizusteuern und ihre Charaktere in Fotografien und Handschriften-Faksimiles offen zu legen, kann man darauf schließen, dass zumindest der Verlag und sie selbst sich als potentielle Zukunftsgestalter sahen.
3.3 Differenzen und Konflikte Die bisher herausgearbeiteten zentralen Elemente der Zukunftsaneignungen Deutschlands führender Köpfe - Optimismus, Einigkeit, geistige Erneuerung und Arbeits- bzw. Gestaltungsfreudigkeit - bildeten die Grundlage, auf der Meinungsverschiedenheiten erst möglich wurden. Wenngleich oben gezeigt wurde, dass die Autoren den Begriffen „Einigkeit" und „geistige Erneuerung" oder auch der geforderten „Arbeitsamkeit" unterschiedliche Bedeutungen beimaßen, bildete doch die Verwendung der gleichen Begriffe eine diskursive Brücke, auf der Verständigung und Abgrenzung möglich waren. Auf der Basis der gemeinsamen Annahme, dass nur harte Arbeit in Deutschlands bessere Zukunft führen könne, entstanden Differenzen vor allem darüber, welche Art der gestalterischen Aktivität geeignet sei, dies zu erreichen. Dabei war das Meinungsspektrum naturgemäß sehr breit, aber die Aussagen konzentrierten sich um drei größere Themenkomplexe, zu denen sich jeweils mehr als 30 der Autoren direkt äußerten: Deutschland in der internationalen Ordnung, seine Wirtschaftsorganisation und die Frage einer partizipatorischen oder nicht-partizipatorischen Staatsordnung. Bezüglich Deutschlands Rolle in der Welt standen auf der einen Seite Forderungen nach einer Politik nationaler Stärke, die schon Rüdiger Graf von der Goltz in seinem Geleitwort aufstellte, in dem er die Stärkung des Wehrwillens forderte, um die nationale Würde zurückzuerlangen. In gleicher Weise sprachen sich Wolfgang und Rudolf Hofmann, Schriftleiter und Herausgeber des Kladderadatsch, für eine Zurückdrängung internationaler Einflüsse in der
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) Siehe z. B. Prof. Julius Exter und Hermann Ehrhardt, in: ebd., S. 144 u. 142.
3.3 Differenzen und Konflikte
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deutschen Kultur sowie eine nicht auf internationale Vereinbarungen zielende Außenpolitik aus, die vor allem die Versailler Ordnung überwinden sollte.44) Auf der anderen Seite stand die Überzeugung einiger Autoren, Deutschlands Wiederaufstieg sei nur innerhalb der internationalen Ordnung und einer friedlichen Verständigungspolitik zu erreichen. Der Anglist Levin Ludwig Schücking sah dabei die Völker als Glieder eines Leibes, der zerstört werden würde, wenn Einzelne sich nationalistisch abkapselten, und Lion Feuchtwanger erklärte in diametralem Gegensatz zu den Hofmanns, Deutschland werde dann groß werden, wenn es die guten Einflüsse der Welt aufnehme und selber guten Einfluss ausübe.45) Über diesen Internationalismus noch hinausgehend, identifizierte der Sexualwissenschaftler Magnus Hirschfeld Deutschlands Zukunft mit der der Menschheit: „Ich glaube an Deutschlands Zukunft, weil ich an die Entwicklung der Menschheit glaube."46) Der zweite zentrale Punkt, an dem sich rechte und linke Geister schieden, war die soziale Frage bzw. die Frage eines möglichen Ausgleichs der Besitzunterschiede. Als Präsident der Landesversicherungsanstalt Braunschweig und Reichstagsabgeordneter definierte Otto Grotewohl die soziale Frage als wichtigste Gegenwartsfrage und meinte, der Staat müsse seinen Bürgern mehr als nur das Existenzminimum garantieren. 47 ) Im wirtschaftlichen Diskurs der 1920er Jahre fungierten dabei vor allem zwei Länder als Vorbilder bzw. als Beispiele potentiell auch in Deutschland zu realisierender Zukunftsmodelle: die USA und die Sowjetunion (siehe dazu ausführlich Kapitel 6.5). So verkündete der Kulturhistoriker Eduard Fuchs: „Deutschlands Zukunft wird in sehr absehbarer Zeit die gleiche stolze sein wie die heutige Gegenwart Sowjetrußlands", wohingegen der Reichstagsabgeordnete Carl Ulrich den Weg zum Sozialismus über den fordistischen Weg von Arbeitszeitverkürzung und Kaufkraftstärkung gehen wollte.48) Im Gegensatz zu diesen Strategien, die soziale Unterschiede mindern und größeren Wohlstand für die Arbeiterschaft herstellen sollten, zielten die konservativeren Autoren eher auf eine symbolische Minderung der Klassenkonflikte durch eine „Einheitsfront von Arbeitern und Unternehmern", wobei sie auf die allgemeine Einheitsrhetorik zurückgriffen.49) Besonders deutlich wird diese Perspektive in der Erklärung des Geheimen Regierungsrats Richard Freund: „Wenn unter Zurückdrängung von Partei-, Rassen-, und Religionshader tiefstes soziales Empfinden alle Volksschichten durchdringt, wenn Arbeitgeber und Arbeitnehmer sich zu gemeinsamer Arbeit in der deutschen Wirtschaft zusammen finden,
*») 45 ) 46 ) 47 ) 48 ) 49 )
Ebd., S. 340. Ebd., S. 329. Ebd., S. 222. Ebd., S. 250. Ebd., S. 363. So der Volkswirt Paulheinz Diedrich, in: ebd., S. 108.
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3. Die Zukunft als Charakterfrage
dann ist Deutschlands Wiederaufstieg und seine glänzende Zukunft gesichert."50) Schließlich unterschieden sich die Meinungen der Autoren deutlich in Bezug auf den Partizipationsgrad der Staatsform, in der Deutschlands Wiederaufstieg am ehesten herbeizuführen sei. Auf republikanischer Seite formulierte der Schriftsteller Hans Land apodiktisch: „Deutschland wird republikanisch sein, oder es wird nicht sein."51) Moderater sahen der Schriftsteller Max Kempner-Hochstädt sowie der Richter und Publizist Ernst Sontag die republikanische Verfassung als Grundbedingung deutscher Zukunft, und Justizminister Erich Koch-Weser fügt hinzu, dass diese am besten zur Führerauslese geeignet sei, womit er einen zentralen Begriff der antiliberalen Kräfte benutzte.52) Demgegenüber plädierte man auf der politischen Rechten für „Autorität statt Majorität" (Rudolf Hofmann). Der Führer, über dessen Ankunft verschiedene Meinungen herrschten, sollte das Volk zur Einigung zwingen und in die Freiheit führen. 53 ) Bei der Konstruktion der Führerfigur, aber auch bei der Definition der anzustrebenden geistigen Erneuerung spielte das Vorbild Bismarcks eine sehr große Rolle.54) Durchaus typisch formulierte der Reichstagsabgeordnete H. E. von Lindeiner-Wildau: „Bismarcks Tatwille und feldgraue Opferbereitschaft mögen sich einen, um unseren Kindern ein neues Reich zu bauen." Damit lokalisierte er in der Figur Bismarcks genau die Eigenschaften, deren Verbreitung als essentiell für Deutschlands Wiederaufstieg angesehen wurde.55) Neben diesen großen Konfliktlinien gab es viele individuelle oder auch idiosynkratische Positionen, bei denen die verschiedenen Intellektuellen jeweils ihrem eigenen Metier die größte Bedeutung für die Zukunft zumaßen. Insbesondere die durch den Einfluss von Willy Stuhlfeld überrepräsentierten Musiker, Schriftsteller und Künstler betonten die Rolle der Kunst bei der anstehenden geistigen Transformation und Einheitsstiftung. So argumentierte der Komponist Max Ettinger, damit Einigkeit erreicht werden könne, müssten die Menschen besser werden, und das Medium zu ihrer Verbesserung sei die
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) Ebd., S. 64. ) Ebd., S. 104. 52 ) Ebd., S.73,103 u. 39. 53 ) Siehe die Ausführungen von Karl Rosner, Karl Litzmann und Joachim von Winterfeldt-Menkin, in: ebd., S. 184 u. 18. 54 ) Siehe zur Rolle Bismarcks im öffentlichen Diskurs Wolfgang Hardtwig: Der BismarckMythos. Gestalt und Funktionen zwischen politischer Öffentlichkeit und Wissenschaft, in: ders. (Hrsg.): Politische Kulturgeschichte der Zwischenkriegszeit 1918-1939, Göttingen 2005, S. 61-90. Siehe auch Robert Gerwarth: The Bismarck Myth. Weimar Germany and the Legacy of the Iron Chancellor, Oxford 2005. 55 ) Koslowsky: Deutschlands Köpfe, S. 117. Eine sehr eigentümliche Lesart von Bismarcks charakterlicher Vorbildhaftigkeit entwickelte daneben der Fabrikbesitzer Heinrich Freese, indem er erklärte: „Bismarck konnte hassen. Erst wenn wir hassen lernen wie er, werden wir wieder vorwärtskommen in der Welt." Ebd. S. 119. 51
3.3 Differenzen und Konflikte
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Kunst.56) Auch der Opernsänger Hans Heinz Bollmann meinte, deutsche Wissenschaft und deutsche Kunst könnten Deutschlands Wiederaufstieg sichern helfen, während dies für die Schriftstellerin Alice Fliegel nur eine gesunde und ehrliche Kunst leisten konnte. 57 ) Hier zeigt sich in feinen Nuancierungen, dass sich auch im Bereich der Kunst politische Konfliktlinien auftaten. Noch radikaler als Fliegel forderte der Komponist Horst Platen, dass die „dekadenten Erscheinungen wie aufgepfropfte Negerkunst und mühsam konstruierte musikalische Gehirnrhythmik in die ihnen gebührenden Schranken zurückfluten" müssten, wenn Deutschlands Wiederaufstieg möglich sein solle.58) Die königlich preußische Kammersängerin Martha Leffler-Burckard äußerte gar den „heißen Wunsch": „Möge der Jazz bald ein Stahlbad gewesen sein, aus dem ein neuer Wagner Deutschland zu wahrer Musik zurückführt. Und möge diese Musik den Grundstein legen zu neuen reinen Werken und Werten".59) Auf ähnliche Weise ließen sich viele andere Autorengruppen vorstellen, die in ihrem Beruf einen zentralen Schlüssel zum Wiederaufstieg Deutschlands sahen. Vertreter der Landwirtschaft wie der preußische Landwirtschaftsminister Heinrich Steiger, die Präsidenten des Reichslandbundes Karl Hepp und Eberhard Graf Kalckreuth sowie der Landesökonomierat Carl Herold sahen das Erstarken der Landwirtschaft als Grundbedingung für Deutschlands Zukunft. 60 ) Das Vorstandsmitglied der Lufthansa Otto Merkel und der Vorsitzende verschiedener Luftfahrtklubs Georg von Tschudi meinten demgegenüber, Deutschlands Zukunft liege in der Luft. Der sozialdemokratische Sozialhygieniker Alfred Grotjahn äußerte die Überzeugung, „Deutschlands Zukunft häng[t] davon ab, wie wir die Feuerprobe des Geburtenrückgangs überstehen". 61 ) Der Referent für Leibesübungen im Reichswehrministerium Johannes Runge sah Breitensport und Volksgesundheit als Voraussetzung einer großen Zukunft. 62 ) Und schließlich meinte der Afrikaforscher Hans Schom-
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) Ebd., S. 233. ) Ebd., S. 332 u. 143. 58 ) Ebd., S. 344. 59 ) Ebd., S.371. Dieser Satz, der in aller Deutlichkeit die Führerrhetorik und damit eine klassische Form der Zukunftsaneignung vor allem der politischen Rechten auf den Bereich der Musik überträgt, ist nicht nur interessant, weil mit der Stahlbad-Metapher ein in der Weltkriegsliteratur populärer Begriff zur poetisierten Beschreibung des industriellen Massenkrieges auf den Bereich der Kunst übertragen wird. Darüber hinaus weckt die Formulierung die Assoziation des Kulturindustriekapitels aus der Dialektik der Aufklärung, in der Max Horkheimer und der Jazz-Verächter Theodor W. Adorno erklären, „fun" sei ein „Stahlbad". Max Horkheimer/Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Frankfurt/Main 1988 [1. Aufl. 1944], S. 149. 6°) Ebd., S.26,136,272 u. 140. 61 ) Ebd., S. 92. 62 ) Ebd., S. 224. Widersprochen hätte ihm da der Direktor der Singakademie Berlin Georg Schumann, der fand, dass die übermäßige Sportbegeisterung eingedämmt werden müsse. Denn: „Es kann für uns nicht darauf ankommen, wie hoch man springt, sondern wie tief ein Volk denkt." Ebd. S.200. 57
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3. Die Zukunft als Charakterfrage
burgk, es sei wichtig für die Zukunft, fremde Sprachen zu lernen und doch im Ausland Deutscher zu bleiben. Während die männlichen Köpfe der Gegenwart den Frauen zumeist nur die Aufgabe zugestanden, die Männer in ihrem Streben zu unterstützen, oder den allgemeinen Sittenverfall beklagten, durch den Frauen und Mädchen wie „Dirnen" umherliefen, 63 ) betonte ein Viertel der im Sammelband vertretenen Frauen die besondere Bedeutung der Frauen für Deutschlands Zukunft. Auch sie bezogen sich dabei auf den allgemeinen Wunsch nach Einheit. So erklärte die Schriftstellerin Nanny Lambrecht, Deutschlands Hoffnung sei die Frau, weil diese die Gemeinschaft über den Einzelwillen stelle.64) In der Stunde der Not seien die Frauen gerufen worden, meinten die Studienrätinnen Elsa Matz und Annagret Lehmann, und sollten dementsprechend jetzt ein größeres Gewicht in Staat und Gesellschaft erhalten.65) Dabei ging es den meisten jedoch gerade um ein die Männer ergänzendes Handeln und eine Übertragung „weiblicher Instinkte" auf den öffentlichen Raum. 66 )
3.4 Zwischenergebnis: Zukunftsgestaltung als Charakterund Haltungsfrage In der Sammlung der Sinnsprüche von Deutschlands Köpfen der Gegenwart über Deutschlands Zukunft interferierten der charakterologische und der populäre Zukunftsdiskurs der Weimarer Republik. Diese Verbindung war nicht zufällig. Der Intention des Eigenbrödler-Verlages entsprechend, sollte der Band eine Selbstvergewisserung der „führenden Deutschen" in einer in vielerlei Hinsicht desolaten Gegenwart sein. Dabei ist es symptomatisch, dass diese Orientierung weniger im Medium der Vergangenheit als vielmehr in bestimmten Formen der Zukunftsaneignung gesucht wurde. Wie die Reichstagsabgeordnete und Nervenärztin Margarete Stegmann bemerkte, hatte der Krieg alle Grundlagen zerstört, so dass man auf dem Vergangenen nicht mehr bauen könne: „Die Zukunft muß damit beginnen, daß man die Vergangenheit endlich als vergangen ansieht."67) In diesem Sinne widmeten die 700 Autoren ihre Sinnsprüche der deutschen Zukunft und reflektierten nur in wenigen Fällen das Verhältnis zur Vergangenheit. Wenn auf die Vergangenheit Bezug genommen wurde, so geschah dies zumeist als ein Verweis auf die Größe der deutschen Geschichte insbesondere der Bismarck-Zeit, da diese eine Verpflichtung
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) So die Aussagen von August Kraus und Walter Schott, in: ebd., S. 137 u. 143. ) Ebd., S. 290. 65 ) Ebd., S. 100 u. 355. Vgl. auch Hedwig Heyl: „In Deutschlands Zukunft wird die Frau für die Gestaltung von Kultur, Gesetz und Gerechtigkeit ein bis jetzt unbekanntes Gewicht erlangen", ebd., S.97.