Verschwörungsdenken. Zwischen Populärkultur und politischer Mobilisierung [1. ed.] 9783837931730, 9783837978711


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German Pages 344 [349] Year 2022

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Table of contents :
Inhalt
Verschwörungsdenken: Zwischen Populärkultur und politischer Mobilisierung (Florian Hessel, Mischa Luy & Pradeep Chakkarath)
Elemente des Verschwörungsdenkens (Florian Hessel)
On the Spectrum: Verschwörungstheorien und Erklärungen (Martin Jay)
Nichtklassische Konspirologie (Alexey Levinson)
»Vertraut mir, ihr solltet niemandem vertrauen« (Felix Brauner)
Politische Bildungsarbeit für eine»Gesellschaft der Mündigen« (Melanie Hermann, Florian Eisheuer & Jan Rathje)
»Falsche Konkretheit« als politisches Instrument (Stefan Vennmann)
Argwohn, Misstrauen, Verfolgungsängste: Verschwörungstheorien in der Coronakrise (Hans-Jürgen Wirth)
Verschwörung, Wahnarbeit und schizophrene Wirklichkeit (Frank-Andreas Horzetzky)
Das Verhältnis von Antifeminismus und Verschwörungsdenken (Rebekka Blum)
Von Verschwörungsideologien, Vernetzungsstrategien und Vernichtungsphantasien (Nora Feline Pösl)
Verschwörung audiovisuell gedacht (Deborah Wolf)
#flattenthecurve (Julian Kauk, Helene Kreysa, Anne Voigt & Stefan R. Schweinberger)
»Und dann habe ich mir überlegt, warum hörst du denn nichts darüber?« (Mischa Luy)
Zur »alltäglichen« Integration und Mobilisierung von Verschwörungsideologien (Carolin Engels & Sebastian Salzmann)
Moderne Hexereivorstellungen und Antisemitismus (Felix Riedel)
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Verschwörungsdenken. Zwischen Populärkultur und politischer Mobilisierung [1. ed.]
 9783837931730, 9783837978711

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Florian Hessel, Pradeep Chakkarath, Mischa Luy (Hg.) Verschwörungsdenken

In der Reihe Psyche und Gesellschaft sind bisher unter anderem folgende Titel erschienen: Ulrich Bahrke, Rolf Haubl, Tomas Plänkers (Hg.): Utopisches Denken – Destruktivität – Demokratiefähigkeit. 100 Jahre »Russische Oktoberrevolution«. 2018. Bandy X. Lee (Hg.): Wie gefährlich ist Donald Trump? 27 Stellungnahmen aus Psychiatrie und Psychologie. 2018. Sascha Klotzbücher: Lange Schatten der Kulturrevolution. Eine transgenerationale Sicht auf Politik und Emotion in der Volksrepublik China. 2019. Oliver Decker, Christoph Türcke (Hg.): Ritual. Kritische Theorie und Psychoanalytische Praxis. 2019. Oliver Decker, Christoph Türcke (Hg.): Autoritarismus. Kritische Theorie und Psychoanalytische Praxis. 2019. Rolf Haubl, Hans-Jürgen Wirth (Hg.): Grenzerfahrungen. Migration, Flucht, Vertreibung und die deutschen Verhältnisse. 2019. Caroline Fetscher: Das Paddock-Puzzle. Zur Psychologie der Amoktat von Las Vegas. 2021. Johann August Schülein: Psychoanalyse als gesellschaftliche Institution. Soziologische Betrachtungen. 2021. Steffen Elsner, Charlotte Höcker, Susan Winter, Oliver Decker, Christoph Türcke (Hg.): Enhancement. Kritische Theorie und Psychoanalytische Praxis. 2021. Florian Bossert: Viraler Angriff auf fragile Subjekte. Eine Psychoanalyse der Denkfähigkeit in der Pandemie. 2022. Klaus Ottomeyer: Angst und Politik. Sozialpsychologische Betrachtungen zum Umgang mit Bedrohungen. 2022. Carlo Strenger: Die Angst vor der Bedeutungslosigkeit. Das Leben in der globalisierten Welt sinnvoll gestalten. 2. Aufl. 2022. Hans-Jürgen Wirth: Gefühle machen Politik. Populismus, Ressentiments und die Chancen der Verletzlichkeit. 2022. Vera King: Sozioanalyse – Zur Psychoanalyse des Sozialen mit Pierre Bourdieu. 2022. Daniel Burghardt, Moritz Krebs (Hg.): Verletzungspotenziale. 2022.

Psyche und Gesellschaft

Herausgegeben von Johann August Schülein und Hans-Jürgen Wirth

Florian Hessel, Pradeep Chakkarath, Mischa Luy (Hg.)

Verschwörungsdenken Zwischen Populärkultur und politischer Mobilisierung Mit Beiträgen von Rebekka Blum, Felix Brauner, Pradeep Chakkarath, Florian Eisheuer, Carolin Engels, Melanie Hermann, Florian Hessel, Frank Horzetzky, Martin Jay, Julian Kauk, Helene Kreysa, Alexey Levinson, Mischa Luy, Nora Feline Pösl, Jan Rathje, Felix Riedel, Sebastian Salzmann, Stefan R. Schweinberger, Stefan Vennmann, Anne Voigt, Hans-Jürgen Wirth und Deborah Wolf

Psychosozial-Verlag

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Erweiterte und überarbeitete Buchausgabe von psychosozial Nr. 159 (I/2020): »Verschwörungsdenken« © 2022 Psychosozial-Verlag GmbH & Co. KG, Gießen [email protected] www.psychosozial-verlag.de Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Umschlagabbildung: Joachim Sperl, www.joachimsperl.com Umschlaggestaltung und Innenlayout nach Entwürfen von Hanspeter Ludwig, Wetzlar Satz: SatzHerstellung Verlagsdienstleistungen Heike Amthor, Fernwald ISBN 978-3-8379-3173-0 (Print) ISBN 978-3-8379-7871-1 (E-Book-PDF)

Inhalt

Verschwörungsdenken: Zwischen Populärkultur und politischer Mobilisierung

9

Zu Semantik, Strukturen und Funktionen einer Wahrnehmungs- und Deutungskultur: Eine Einleitung Florian Hessel, Mischa Luy & Pradeep Chakkarath

Elemente des Verschwörungsdenkens

31

Ein Essay Florian Hessel

On the Spectrum: Verschwörungstheorien und Erklärungen

51

Martin Jay

Nichtklassische Konspirologie

65

Ein Essay Alexey Levinson

»Vertraut mir, ihr solltet niemandem vertrauen«

89

Verschwörungsmentalität in der Coronakrise aus mentalisierungstheoretischer Perspektive Felix Brauner

5

Inhalt

Politische Bildungsarbeit für eine »Gesellschaft der Mündigen«

107

Melanie Hermann, Florian Eisheuer & Jan Rathje

»Falsche Konkretheit« als politisches Instrument

129

Zu Franz L. Neumanns dialektischem Psychogramm des Verschwörungsdenkens Stefan Vennmann

Argwohn, Misstrauen, Verfolgungsängste: Verschwörungstheorien in der Coronakrise

149

Psychoanalytische und sozialpsychologische Überlegungen Hans-Jürgen Wirth

Verschwörung, Wahnarbeit und schizophrene Wirklichkeit

171

Gruppenanalytische Behandlung während der Coronapandemie Frank-Andreas Horzetzky

Das Verhältnis von Antifeminismus und Verschwörungsdenken

193

Antimoderne Krisenbearbeitung in der Coronapandemie Rebekka Blum

Von Verschwörungsideologien, Vernetzungsstrategien und Vernichtungsphantasien

215

Digitale soziale Netzwerke, »alternative Heilmethoden« und Esoterik in der Covid-19-Pandemie Nora Feline Pösl

Verschwörung audiovisuell gedacht Alex Jones’ The 9/11 Chronicles Deborah Wolf

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239

Inhalt

#flattenthecurve

259

Wie begrenzen wir die Welle von Falschinformationen und Verschwörungserzählungen in digitalen sozialen Netzwerken? Julian Kauk, Helene Kreysa, Anne Voigt & Stefan R. Schweinberger

»Und dann habe ich mir überlegt, warum hörst du denn nichts darüber?«

281

Zum Zusammenhang von Verschwörungsdenken und Preppen Mischa Luy

Zur »alltäglichen« Integration und Mobilisierung von Verschwörungsideologien

305

Carolin Engels & Sebastian Salzmann

Moderne Hexereivorstellungen und Antisemitismus

325

Zwei Verschwörungsmythen im europäisch-westafrikanischen Vergleich Felix Riedel

7

Verschwörungsdenken: Zwischen Populärkultur und politischer Mobilisierung Zu Semantik, Strukturen und Funktionen einer Wahrnehmungs- und Deutungskultur: Eine Einleitung1 Florian Hessel, Mischa Luy & Pradeep Chakkarath »Nichts passiert zufällig. Nichts ist wie es scheint. Alles hängt zusammen.« Michael Barkun (2013) »Erst die Theorie entscheidet darüber, was man beobachten kann.« Albert Einstein, zit. n. Heisenberg (1969)

»Verschwörungstheorie« gehört zu den schillerndsten Begrifflichkeiten in den Sozialwissenschaften. Auch umgangssprachlich ist sie – wie das damit bezeichnete Phänomen selbst  – heute omnipräsent: in Alltag, Populärkultur und Politik. Verfochten werden Verschwörungsvorstellungen von Linken und Rechten, Religiösen und Säkularen, Einzelnen oder ganzen Gruppen, kreuz und quer durch das soziodemografische Spektrum. Sie bieten Orientierung und Erklärung, sie »wissen« bspw., wer das Wetter wie und warum kontrolliert, wieso die Fabrik nebenan wirklich schließt oder wer zu welchen Zwecken Krankheiten und Krieg in die Welt bringt; von wo aus Osama bin Laden noch immer Pläne schmiedet, hinter welchen Politiker*innen reptiloide Außerirdische stecken oder eine »GenderLobby«, wer das World Trade Center in New York am 11. September 2001 wirklich einstürzen ließ oder warum überhaupt Herrschaft, Ausbeutung, Betrug und Leiden unser aller Leben prägen – und wer davon ursächlich profitiert. Und wer – wie die meisten dies von sich sagen würden – nicht an »Verschwörungstheorien« und die in ihnen behaupteten »Verschwö1

Der ursprünglich 2020 als Editorial der psychosozial, 43(1) erschienene Text wurde überarbeitet, um ausgewählte Literaturhinweise ergänzt und mit einem neuen Schluss versehen.

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Florian Hessel, Mischa Luy & Pradeep Chakkarath

rungen« glaubt, ist in der Regel der festen, mitunter vielleicht aber voreiligen Überzeugung, sprichwörtlich »bloße Verschwörungstheorien« von seriösen Theorien klar unterscheiden zu können. Im Zuge der Erschütterung so mancher überkommener Sicherheit in der kollektiven Urteilsbildung haben sich sogenannte Verschwörungstheorien nicht nur erfolgreich als Topoi in Literatur, Film und Serien, in sozialen Medien, Feuilletons und Feierabenddebatten etabliert, sondern weisen darüber hinaus auch ein besorgniserregendes Potenzial für politische Agitation, Verunsicherung und – oftmals gewaltlegitimierende – Propaganda auf. Nicht nur vor diesem disparaten, hier lediglich schlaglichtartig skizzierten Hintergrund erscheint uns eine Begrifflichkeit wie »Verschwörungsdenken« geeigneter, um sowohl die gleichzeitig wirkenden Aspekte von (kognitiver) Deutung und Wahrnehmung sowie (praktischer) Aneignung als auch deren gesellschaftlich-kulturelle Dimension(-en) wissenschaftlich zu thematisieren. Wenn wir im Untertitel zu dieser Einleitung von Verschwörungsdenken als einer ganz bestimmten Wahrnehmungs- und Deutungskultur sprechen, so legen wir nicht zufällig auch eine kulturpsychologische Perspektive an das Thema an. Es ist eine unserer Grundüberzeugungen, dass Kultur untrennbar mit wissensbasierten Praktiken des Menschen verwoben ist und so Erlebnis- und Handlungsmöglichkeiten in unterschiedlichsten Handlungsfeldern und diskursiven Rahmungen sowohl ermöglicht als auch begrenzt, sowohl verstehbar als auch analysierbar und kritisierbar macht (Chakkarath & Straub, 2020). Wer das Zusammenspiel von kognitiven, epistemologischen, emotionalen, klinischen, kommunikativen, politischen, auch identitätspolitischen Aspekten genauer verstehen will, sollte einer solch komplexen Perspektive einiges abgewinnen können. Gerade die Sozialwissenschaften sind zu einer eingehenden Befassung mit diesem Gegenstand aufgefordert, sowohl was Begrifflichkeiten als auch historische Entwicklungen und gesellschaftliche Dimensionen der damit verbundenen Phänomene betrifft.

Verschwörung, Verschwörungsidee und Verschwörungstheorie: Ein historischer Abriss »Konspiration« entstammt dem lateinischen »conspiratio« und bedeutete ursprünglich so viel wie Übereinstimmung, Einigkeit oder Gleichklang. Die heute gebräuchliche Übersetzung des Wortes als »Verschwörung« mag 10

Verschwörungsdenken: Zwischen Populärkultur und politischer Mobilisierung

sich einer semantischen Überlappung von »conspiratio« und »coniuratio« verdanken, wobei Letzteres eine gemeinschaftliche und für gewöhnlich heimliche Vereinbarung durch Treueeid bezeichnet (vgl. DWDS, 2022a, b). Wenn auch der Begriff der »Verschwörung« nicht zu allen Zeiten, in allen Gesellschaften und in allen Sprachen das Gleiche bezeichnete (vgl. exempl. Roisman, 2008), so richtete er sich doch in diesem Sinne schon in den griechischen Stadtstaaten und im antiken Rom auch auf eine bestimmte Form der Herbeiführung politischen Wandels mittels Tyrannenmord. Ihren klassischen Ausdruck (in Europa) hat diese Funktion an der Schwelle zur Neuzeit etwa in Niccolò Machiavellis Discorsi (1531) und in William Shakespeares Julius Caesar (1599) gefunden.2 Im 17. Jahrhundert entstand im angelsächsischen Recht die Konstruktion der »criminal conspiracy«, nach der bis heute in den USA insbesondere Fälle organisierter Kriminalität verfolgt werden. Hier geht es um eine Verabredung von Personen, in koordinierter und teils konspirativer Form ein oder mehrere Verbrechen zu begehen. In der Form der »conspiracy to commit crimes against peace« wurde diese Rechtstradition Bestandteil der Statuten der Nürnberger Prozesse gegen die deutschen Hauptkriegsverbrecher nach 1945. Im Gegensatz zu den USA stellt der in Deutschland als partielle Entsprechung existierende Straftatbestand der »Bildung krimineller Vereinigungen« (StGB § 129) allerdings in der Öffentlichkeit keinen erkennbaren Referenzpunkt der Debatten um »Verschwörungen« bzw. geheime gemeinschaftliche Verabredungen dar. Obwohl insbesondere innerhalb des christlichen Antijudaismus kulturelle Prototypen wie Ritualmordbeschuldigungen eine lange, bis in die Antike zurückreichende Tradition haben, wurden Bezeichnung und Idee der »Verschwörung« im Sinne einer intendierten, (un-)heimlichen Subversion einer differenzierten Sozialordnung ab dem späten 18. Jahrhundert etabliert. Insbesondere geistliche Propagandisten der Gegenaufklärung denunzierten eine angebliche »Verschwörung gegen die Religion«, ausgehend und betrieben von den Freimaurer- oder Illuminatenorden. Ausformuliert wurde diese Deutungsstruktur 1797/98 von einem französischen Jesuitenpater, Augustin Barruel (vgl. Rogalla von Bieberstein, 2008 [1992], 2

Eine entsprechende Legitimierung politischen Mords findet sich bereits in dem einflussreichsten staatstheoretischen Werk (Süd-)Asiens, dem Arthashastra, das zwischen dem 3. vorchristlichen und dem 2. Jahrhundert kompiliert wurde und heute ebenso als »machiavellistisch« bezeichnet wird wie u. a. Teile der Lehren von Han Fei (3. Jhd. v. Chr.) und Ibn Zafar (12. Jhd.).

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Florian Hessel, Mischa Luy & Pradeep Chakkarath

S.  83–126). In der Folge wurden entsprechende, umfassende Welterklärungsmodelle einer »causalité diabolique« (Léon Poliakov) in Europa und Nordamerika in unterschiedlichen politischen Kontexten bis hin zu der antisemitischen Propagandaschrift par excellence, den notorischen Protokollen der Weisen von Zion mit ihrer Erfindung einer »jüdischen Weltverschwörung«, und darüber hinaus tradiert (vgl. Cohn, 1998 [1969]; Lipset & Raab, 1970; Pfahl-Traughber, 1993; Herf, 2006). »Verschwörungstheorie« wurde ab der Mitte des 20. Jahrhunderts dann zu einem Sammelbegriff oder Schlagwort zur Bezeichnung einer Vielzahl an verschiedenen, tatsächlich oder manchmal auch angeblich auf Basis einer »Verschwörung« argumentierenden Konstrukten mit jeweils tendenziell großer Erklärungsreichweite in Politik oder Massenkultur (vgl. Melley, 1999; Fenster, 2008; Thalmann, 2019; Butter & Knight, 2020).3 Als derartiger Sammelbegriff scheint die Bezeichnung aus den USA nach Europa »importiert« worden zu sein, vermutlich ab den 1970er Jahren mit literarischen Produkten der »counter culture« (zentral Shea & Wilson, 1975; vgl. auch Ronson, 2007), wonach eine (über-)mächtige Gruppe an Personen sich verabredet habe, um verdeckt Leben und Lebensumstände einer anderen, größeren Gruppe von Menschen auf einer letztlich strukturellen Ebene zu beeinflussen oder zu kontrollieren. Infolge der islamistischen Selbstmordanschläge vom 11. September 2001 und des »war on terror« erhielten entsprechende Deutungsmuster politisch-gesellschaftlich wie medial nochmals global ungeheuren Auftrieb (vgl. Jaecker, 2005; Fenster, 2008; Butter, 2018; Wolf, i. d. Bd.).4 3

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12

Die Bezeichnung im heute vertrauten Sinn vermutlich erstmals bei Karl Popper (1980 [1945]); vgl. Pidgen, 2006; Jay, i. d. Bd. Eine weitere Vorgeschichte jenseits des zuvor Beschriebenen skizziert McKenzie-McHarg (2018). Auf die Entwicklungsgeschichte von (modernen) Verschwörungsvorstellungen kann aus Platzgründen an dieser Stelle wie in den weiteren Beiträgen nicht in wünschenswerter Ausführlichkeit eingegangen werden. Dasselbe gilt für eine ausführlichere und differenziertere Analyse des Zusammenhangs bestimmter verschwörungsassoziativer Begrifflichkeiten und ihres jeweiligen, oft auch spezifischen, von historischen und kulturellen Umständen abhängigen gesellschaftlichen Effekts. Wir verweisen für einen kursorischen Überblick auf den online verfügbaren Artikel von Florian Hessel (2020), den Beitrag von Alexey Levinson in diesem Band sowie auf die weiteren hier im Text genannten Publikationen. Zur gesellschafts- wie globalgeschichtlichen Bedeutung der Verbreitung außerhalb Westeuropas und Nordamerikas vgl. exempl. Poliakov (1987), Tibi (1994), Gray (2010) sowie viele der Beiträge in Caumanns & Niendorf (2001), Butter & Reinkowski (2014), Uscinski (2018), Dyrendal et al. (2018).

Verschwörungsdenken: Zwischen Populärkultur und politischer Mobilisierung

Die wissenschaftliche Thematisierung als ein in seiner Besonderheit zu verstehendes Phänomen beginnt historisch als Bestandteil dieser Entwicklung ab den 1950er Jahren. 1964 erscheint in Harper’s Magazine ein Aufsatz mit dem Titel »The Paranoid Style in American Politics« aus der Feder des Historikers Richard Hofstadter. Unter Bezugnahme auf die »politischen Hexenjagden« der McCarthy-Ära und auf die »lunatic fringe« der US-amerikanischen extremen Rechten bezeichnete Hofstadter als »paranoid style« einen auf der Basis des Denkens in Verschwörungen argumentierenden Modus der politischen Agitation und einen damit korrespondierenden »style of mind«: »a way of seeing the world and expressing oneself« (Hofstadter, 1996 [1964], S. 3f.; vgl. bereits Löwenthal, 1990 [1949], S. 39–41). Die Rolle und Verwendung von Verschwörungs- und Verfolgungsvorstellungen als Technik »totaler Herrschaft« bzw. als Merkmal autoritärer Politik thematisierten einige Jahre zuvor bereits Hannah Arendt (vgl. 2005 [1951]) und Franz Neumann (vgl. Vennmann, i. d. Bd.), während Max Horkheimer und Theodor W. Adorno (1987 [1947]) einige Aspekte im Rahmen ihrer kritisch gesellschaftstheoretischen Überlegungen zum modernen Antisemitismus grundlegend eingeordnet hatten.

Bezeichnungen – Debatten »Verschwörungstheorie«, »Verschwörungsideologie« und »Verschwörungsmythos«, »Verschwörungskultur«, »Verschwörungskonstrukt« und »Verschwörungserzählung«, »Verschwörungsmentalität«, »Verschwörungsglauben« und »Verschwörungsdenken« gehören zu den nebeneinander und zum Teil gleichzeitig verwendeten Begrifflichkeiten, die – so sie überhaupt theoretisch-konzeptionellen Anspruch erheben – teilweise stark differierende Funktionen erfüllen.5 Am weitesten verbreitet sind offenkundig weiterhin die Bezeichnungen »Verschwörungstheorie« bzw. Verschwörungstheoretiker*innen«,6 da diese nicht zuletzt im Sinne einer »Alltagstheorie«, aber auch aufgrund des intellektuellen und wissenschaftlichen Nimbus des »Theo5 6

Für eine andere Thematisierung der »Bezeichnungsdebatten« vgl. Oberhauser (2021). Darauf weisen neben unserer Erfahrung über Google Trends (für »Verschwörungstheorie«, »Verschwörungserzählung«, »Verschwörungsideologie«, »Verschwörungsmythos«) und Google Books NGram Viewer verfügbare Daten hin (Stand jeweils: 30.05.2022). Zum Gehalt des Theoriebegriffs in diesem Zusammenhang vgl. Hepfer (2015, S. 23ff.).

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Florian Hessel, Mischa Luy & Pradeep Chakkarath

rie«-Begriffs in der Öffentlichkeit, die bevorzugten massenmedialen Benennungen für tatsächliche oder manchmal auch angebliche Vertreter*innen von Verschwörungskonstrukten sind, gelegentlich sogar eine Selbstbeschreibung (etwa Bröckers, 2002). Entsprechend fungiert »Verschwörungstheorie« als massen- und alltagskulturelles Schlagwort, das das Verständnis kanalisieren soll und auch immer eine etwas der Lächerlichkeit preisgebende, aber psychologisch zutiefst ambivalente Abwertung enthält. In diesem Sinn wird sie insbesondere in den Massenmedien als Hilfskonstruktion verwendet. Als Bezeichnung ohne Anspruch auf eine Definition verwendete der Historiker Dieter Groh »Verschwörungstheorien« ähnlich in seinen kulturwissenschaftlichen Arbeiten, die im deutschsprachigen Raum bis vor wenigen Jahren den wichtigsten Referenzpunkt wissenschaftlicher Auseinandersetzung bildeten. Derart mehrheitlich pragmatischen – und gelegentlich ambivalenten – Charakter hat die Verwendung der Bezeichnung »conspiracy theory« in vielen weiteren wissenschaftlichen, aber auch journalistischen Arbeiten (vgl. etwa Melley, 1999; Reinalter, 2002; Grüter, 2006; Fenster, 2008; Horn & Rabinbach, 2008; Olmsted, 2009; Hepfer, 2015; Raab et al., 2017; Alt & Schiffer, 2018; Butter, 2018; Douglas et al., 2019; Merlan, 2019; Appel & Mehretab, 2020; van Prooijen, 2020). Als Charakteristika des Phänomens benennt Groh (1987, S. 3–5; vgl. ähnlich bereits Lipset & Raab, 1970, S. 13–17) eine bestimmte, auf (All-)Macht fixierte »theory of action«, Gruppenbildung über »countersolidarity«, einen (ahistorisch) bruchlosen Zeithorizont, manichäische Struktur des Inhalts sowie eine psychodynamisch strukturierte Entlastungsfunktion. Als offene Frage formuliert, wurde Grohs These einer »anthropologischen Konstante« – basierend auf der grundsätzlichen Identifizierung von »anthropologisch tiefsitzenden Bedürfnissen nach Weltorientierung« (1991, S.  284; vgl. Caumanns  & Niendorf, 2001) im Verschwörungsdenken  – immer wieder im Sinne eines unveränderbaren, überhistorischen »Naturzusammenhangs« von menschlicher Kognition und Verschwörungsideen rezipiert (etwa Raab et al., 2017). In einem Schritt begrifflicher Differenzierung und implizit angelehnt an Norman Cohn (1998 [1969]) sprechen die Historiker Geoffrey T. Cubitt (1989) und Johannes Rogalla von Bieberstein (2008 [1992]) sowie der Politikwissenschaftler Armin Pfahl-Traughber (1993, 2002) vom Gegenstand als »Verschwörungsmythos«. Cubitt (1989, S. 13) kennzeichnet so einen sich historisch gebenden monokausalen Deutungsrahmen, dem dann in einer »Verschwörungstheorie« aktuelle Ereignisse eingepasst werden. 14

Verschwörungsdenken: Zwischen Populärkultur und politischer Mobilisierung

»[A]ls Bewusstseinshaltung sowie als ideologisches Kampfinstrument« (Rogalla von Bieberstein, 2008 [1992], S. 13) kommen hier eine gewisse Unterhaltungsfunktion mit der Konstruktion einer »Meta-Welt« ohne Anerkennung von Zufall, Feindbestimmung sowie Bezug auf gesellschaftliche Veränderungsprozesse zusammen. »Verschwörungsmythos« sieht Pfahl-Traughber (2002, S. 32) weitergehend als »Sonderform oder Übersteigerung« einer »Verschwörungsideologie«. Dabei betont er, neben dem längeren Zeithorizont, Geschlossenheit und Unwiderlegbarkeit als Unterscheidungskriterien zu einer (falsifizierbaren) »Verschwörungshypothese«. Beide, Verschwörungsideologie wie Verschwörungsmythos, wirkten als »unveränderbares Dogma« (ebd.) realitätsgestaltend, insbesondere im politischen Rahmen. Eine trennscharfe Abgrenzung zwischen beiden Bezeichnungen, dies wird von Pfahl-Traughber explizit eingeräumt, erscheint letztlich kaum möglich. Die Bezeichnung »Verschwörungsideologie« wurde von Wolfgang Wippermann (2007) aufgegriffen und ist  – wobei nicht zwingend deckungsgleich – etwa als »conspiracism« auch im englischen Sprachraum vereinzelt anzutreffen (Muirhead  & Rosenblum, 2019). Sie war über einige Jahre hinweg die im pädagogischen Bereich in Deutschland gängigste Bezeichnung, insbesondere da sie in die methodisch-konzeptionell einflussreichen Bildungsprojekte der Amadeu Antonio Stiftung (2015) integriert wurde. Mit dieser Begrifflichkeit sollen die politisch-autoritären Wirkungen des Denkens in Verschwörungen sowie dessen weiterhin enger Zusammenhang mit Ressentiments wie Antisemitismus betont werden.7 Einen Einfluss auf die öffentliche Sprachpraxis konnte dieser Versuch eines sprachlichen Rebranding unserer Wahrnehmung nach nicht ausüben. Dies könnte zwischenzeitlich allerdings in gewissem Maße für die Begrifflichkeit »Verschwörungserzählung« gelten, die in Öffentlichkeit und Pädagogik, vor allem angestoßen durch neuere Publikationen (insb. Nocun & Lamberty, 2020) nun breiter verwendet wird. Intuitiv zugänglich wird hier der Aspekt der Sinnstiftung und Bedeutungskonstruktion reflektiert. »Verschwörungserzählung« oder »Verschwörungsnarrativ« und seltener »Verschwörungskonstrukt« finden sich dergestalt bereits zuvor in den allermeisten Arbeiten zum Thema, wobei außerhalb von 7

Vgl. dazu auch Hermann et al. und Hessel in diesem Band sowie die Berichte hrsg. v. American Jewish Committee Berlin Ramer Institute (AJC, 2021) und u. a. vom Londoner Media Diversity Institute (MDI et al., 2021).

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Florian Hessel, Mischa Luy & Pradeep Chakkarath

Studien zu Literatur oder Film die Termini fast ausschließlich allgemein deskriptiven Charakter aufweisen und – bis heute – kaum theoretischkonzeptionell, etwa narrationspsychologisch, gefüllt werden.8 Im Hinblick auf die Allgegenwart einer »language of conspiracy« und der kulturellen Vertrautheit mit ihr spricht Peter Knight (2000, S.  1; ähnlich Melley, 1999) von einer massenkulturellen »Verschwörungskultur«, während – in einer Art Vorgriff auf heute in Bezug auf die Verbreitung von Verschwörungskonstrukten in digitalen sozialen Medien in der Öffentlichkeit allzu populären Deutungen – Elaine Showalter (1999) in ihrer kontrovers diskutierten Arbeit »konspirative Kulturen« (ebd., S. 43) mit medial vermittelten, angeblichen »psychischen Epidemien« (ebd., S. 11) in Verbindung bringt. Einen Denkstil kennzeichnend handelt es sich bei »Verschwörungsmentalität« um eine sozialpsychologisch orientierte Bezeichnung, die von dem Psychologen Serge Moscovici (1987) eingeführt wurde und sich zumindest implizit an die Begriffsbildungen der Autoritarismus-Studien des Instituts für Sozialforschung anlehnt (etwa Adorno et al., 1950; Löwenthal, 1990 [1949]; vgl. Ziege, 2009). Inzwischen wurde der Terminus im Rahmen der empirischen Sozialforschung zu Rechtsextremismus und autoritären Tendenzen als ein zentrales Item genauer differenziert, gelegentlich unter stärkerer Betonung kognitionspsychologischer Ansätze (beginnend mit Imhoff & Decker, 2013). Assoziiert werden alle Bezeichnungen mit tiefsitzendem und tendenziell undefiniertem Misstrauen gegenüber gesellschaftlichen Institutionen, das sich in aktuellen Studien – im Sinne einer »generalisierten politischen Einstellung« (Imhoff & Bruder, 2014) – in Deutschland als breit anschlussfähiger Bestandteil eines autoritären Syndroms manifestiert (Decker & Brähler, 2018, 2020; vgl. Zick et al., 2019; Zick & Küpper, 2021). »Verschwörungsglauben«, »Verschwörungsdenken« und »konspirologisches Denken« wurden gelegentlich als Beschreibungen gebraucht, werden allerdings in jüngerer Zeit von einigen Studien als kognitiv orientierte Entsprechungen zu jenem »way of seeing the world and expressing oneself«, den schon Hofstadter (1996 [1964]) so identifizierte, spezifischer verwendet (vgl. Barkun, 2013; Anton et al., 2014; Meyer, 2018; 8

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In diesem Zusammenhang sei stellvertretend für die zahlreichen literarischen wie kulturwissenschaftlichen Arbeiten Umberto Ecos zum Thema, auf die posthum erschienene Aufsatzsammlung Il complotto (dt. Verschwörungen, 2021) verwiesen.

Verschwörungsdenken: Zwischen Populärkultur und politischer Mobilisierung

Luy et al., 2020; ähnlich Grüter, 2006; Heil, 2006). Eine Fortsetzung im engeren Sinn haben die Arbeit von Hofstadter und seine Begriffsbildung des »paranoid style« dagegen lediglich in sehr wenigen Studien wie der des Politikwissenschaftlers Daniel Pipes (1999) gefunden. Hofstadter kann allerdings als Wegbereiter einer rezipient*innenorientierten Forschung gelten (vgl. klassisch Goertzel, 1994; sowie aktuell z. B. van Prooijen, 2020; eine Übersicht über Forschungsthemen und -felder in Butter & Knight, 2020), während in erweitertem Sinn zahlreiche Beobachter*innen weiterhin auf die von Hofstadter herausgestellten antidemokratischen Wirkungspotenziale von Verschwörungsvorstellungen Bezug nehmen (vgl. etwa Goldberg, 2001; Fenster, 2008; Amadeu Antonio Stiftung, 2015; Salzborn, 2016; Douglas et al., 2019; Merlan, 2019; Muirhead & Rosenblum, 2019; Nocun & Lamberty, 2020; AJC, 2021).

Was heißt Denken in Verschwörungen? Annäherungen an einen historisch-gesellschaftlichen Funktionswandel Tendenziell hat sich in den letzten Jahren – auch infolge einer gewissen ReOrientierung der deutschsprachigen Forschung an englischsprachigen Veröffentlichungen und Themen – die von dem Politologen Michael Barkun (2013, S. 3) formulierte Beschreibung durchgesetzt: »[A] conspiracy belief is the belief that an organization made up of individuals or groups was or is acting covertly to achieve some malevolent end.« Die Mehrzahl der wissenschaftlichen Theorieansätze über Verschwörungskonstrukte sind sich über das rein Deskriptive hinaus zumindest in grundlegenden Bestimmungen einig: Innerhalb von Verschwörungsvorstellungen wird stark intentionalistisch, monokausal und personalisierend argumentiert; es wird hinter dem Schein des Gegebenen etwas Verstecktes, wesentlich (Un-)Heimliches behauptet; die dergestalt vorgenommenen (Gruppen-)Einteilungen tragen stark manichäische Züge (vgl. exempl. Hofstadter, 1996 [1964]; Moscovici, 1987; Groh, 1987, 1991; Cubitt, 1989; Goertzel, 1994; PfahlTraughber, 2002; Barkun, 2013; Butter, 2018; Douglas et al., 2019; van Prooijen, 2020; Butter & Knight, 2020). Inhaltlich lassen sich Verschwörungskonstrukte weiter durch verschiedene Kriterien typisieren. Fragen lässt sich danach, wer die »Verschwörer*innen« und ihre Helfer*innen sind: Handelt es sich dabei vorgeblich 17

Florian Hessel, Mischa Luy & Pradeep Chakkarath

um – existente oder behauptete – Personen(-gruppen), die bereits – tatsächlich oder angeblich – Machtpositionen innehaben und diese vermeintlich nutzen, um ihre Macht zu konsolidieren oder auszubauen, oder ist es eine »Verschwörung von unten«? Sind die »Verschwörer« Feinde, Feindinnen aus dem Innen oder aus dem Außen der Gruppe, der Gesellschaft, der Nation oder gar der Erde? Wie groß ist die Gruppe der »Verschwörer« und der in die »Verschwörung« Eingeweihten? Weitere inhaltlich differenzierende Merkmale sind die Fragen nach dem Zeithorizont und der Reichweite der »Verschwörung«: Betrifft die »Verschwörung« ein einzelnes, zeitlich begrenztes Ereignis oder wird, eventuell über längere Zeiträume, die Kontrolle ganzer gesellschaftlicher Funktionsbereiche, Länder oder final die Weltherrschaft angestrebt oder »aufrechterhalten«? In diesem Zusammenhang unterscheidet Barkun (2013, S. 6) inhaltlich vier Typen von Verschwörungskonstrukten in einer Matrix zwischen »Gruppe«–»Aktivität« und »geheim«–»nicht geheim« sowie für deren »Erklärungsreichweite« zwischen einer Ereignis- und einer Systemausrichtung sowie »Superverschwörungstheorien«.9 Das thematische Spektrum erscheint dabei als potenziell unendlich weit  – allerdings bleiben die tatsächlich aufgegriffenen Themen auf Bereiche menschlicher Existenz beschränkt, die Kontingenz, Unsicherheit und Ambivalenz aufweisen: Eine  – kulturell unvermittelbare  – »offene Verletzung des ›Realitätsprinzips‹« findet nicht statt (Adorno; s. Hessel, i. d. Bd.). Da jede Verschwörungsvorstellung insofern auf offene geschichtliche Entwicklungszusammenhänge, auf uneindeutige bzw. unübersichtliche gesellschaftliche Macht- und Herrschaftsverhältnisse abzielt und das Individuum darin scheinbar eindeutig positioniert, ist auch eine Abgrenzung zwischen unterschiedlichen Ausprägungen, zum Beispiel eine globale oder lokale Ausrichtung, letztlich kaum mehr als typologisch relevant. Seit den Anschlägen vom 11.  September 2001 ist nicht nur die Prominenz und auch die Masse an Verschwörungskonstrukten nochmals gestiegen,10 sondern vor allem auch die Forschung verstärkt und diversifiziert worden (vgl. dazu nun das Handbook of Conspiracy Theories, das selbst zumindest partiell im Kontext eines Forschungsclusters entstanden 9

Ein Modell auf der Basis rein mathematischer Wahrscheinlichkeiten hat Grimes (2016) entwickelt. 10 Inwieweit dies tatsächlich zutrifft, wird kontrovers diskutiert, vgl. etwa Uscinski et al. (2022).

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ist; Butter  & Knight, 2020). Wie sich bereits andeutete, stellt sich die Forschungslage vielleicht als wenig systematisiert, aber insgesamt im engeren sozialwissenschaftlichen wie im psychologischen Fachbereich als vergleichsweise gut, zum Teil sogar inzwischen als quantitativ unüberschaubar und inhaltlich repetitiv dar (vgl. die Übersicht allein über die neuere, vor allem kognitionspsychologische Literatur bis 2019 in Douglas et al., 2019). Eine analytisch-sozialpsychologische Thematisierung blieb allerdings weitgehend ein Desiderat (vgl. klassisch Löwenthal, 1990 [1949]; sowie Wulff, 1987; Maaz, 2001; Decker & Brähler, 2018; Luy et al., 2020; Brunner et al., 2021). Der Trend zu weiteren Forschungsanstrengungen und wissenschaftlichen wie populären Publikationen hat sich infolge verschiedener gesellschaftlich-politischer Ereignisse, unter die Entwicklungen im Bereich des Rechtsextremismus und -terrorismus, die Präsidentschaft Donald Trumps in den USA und noch mehr die Covid-19-Pandemie zu rechnen sind, weiter verstärkt. Das Bedürfnis der politischen Öffentlichkeit an Informationen und (wissenschaftlichen) Deutungen ist so ausgeprägt – und drängend – wie kaum zuvor in der Vergangenheit (vgl. exempl. bpb, 2021). Seit 2020 wurden neben zahlreichen Projekten der politischen Bildung und Prävention zum Thema auch einige außeruniversitäre Institutionen zur Forschung und Information (etwa das Berliner CeMAS, Center für Monitoring, Analyse und Strategie) etabliert. Die Tatsache, dass bisher keine Bezeichnung für das Phänomen allgemein anerkannt wurde, ist entgegen gängiger Annahmen keineswegs auf eine mangelnde wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Thema zurückzuführen. Die Vielzahl an – zum Teil in denselben Arbeiten – nebeneinander verwendeten Bezeichnungen reflektiert ebenso sehr unterschiedliche theoretisch-konzeptionelle Perspektiven wie mehr noch den Gegenstand und dessen Form und Veränderung selbst. In der Verlagerung der Schwerpunkte der Bezeichnungen von inhaltlichen Aspekten (»conspiracy myth«; Cubitt, 1989) hin zu einer stärkeren kognitiven Orientierung (»conspiracy belief«; Barkun, 2013) reflektiert sich auch ein Wandel von historischen, geschlossenen Welterklärungsmodellen hin zu kombinierbaren Konglomeraten von Verschwörungskonstrukten, der mit politischen, sozioökonomischen und soziokulturellen, zunehmend »globalisierten« Transformationsprozessen und Krisen in enger Verbindung steht. Insofern kann es nicht das Ziel sein, in erster Linie eine allgemeingültige oder umfassend anerkannte Begrifflichkeit zu finden, sondern es muss um eine kritische Betrachtung der Angemessenheit der existierenden gehen und 19

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noch mehr um die Bemühung, dem Gegenstand als solchem mit all seinen Verflechtungen mit anderen Phänomenen in deren historischen Funktionswandel und dessen globalen Dimensionen noch besser gerecht zu werden (zur globalen Verbreitung vgl. die Regionalartikel in Butter  & Knight, 2020, S. 569ff.). Insofern erscheint – so lange Begrifflichkeiten und die Stringenz von Begriffsverwendungen eine substanzielle Bedeutung zukommt – zur Abgrenzung von »Verschwörung« und »Verschwörungstheorie« als Forschungsgegenständen eine pragmatische Verwendung verschiedener Bezeichnungen angebracht, um jeweils zentrale inhaltliche oder historische Differenzen reflektieren zu helfen. Im Wesentlichen scheint uns die deskriptive Bezeichnung »Verschwörungskonstrukte« für in irgendeiner Form zusammenhängende Deutungsangebote auf Basis einer »Verschwörung« sinnhaft. »Verschwörungsmythos« bzw. »Verschwörungsideologie« spezifizieren Verschwörungskonstrukte, die historisch-kulturell bereits tradiert sind bzw. einen starken politischen Weltanschauungscharakter aufweisen und ein darüber hinausweisendes, weiteres Spektrum von Inhalten verklammern. In Bezug auf Individuen bzw. einzelne Elemente, die in Verschwörungskonstrukten enthalten sind oder sein können, können insbesondere »Verschwörungsidee«, »Verschwörungsvorstellung« oder analoge Sprachformen verwendet werden. Im in den Buchtitel aufgenommenen »Verschwörungsdenken« sehen wir, wie bereits gesagt, die im Gegenstand gleichzeitig wirkenden Aspekte von (kognitiver) Deutung und Wahrnehmung, von (praktischer) Aneignung sowie deren gesellschaftlichkultureller Dimension(-en) am besten thematisierbar. Gerade an Hofstadters klassischem Aufsatz sowie an der Verwendung von »Verschwörungstheorie« als Label in der Öffentlichkeit oder »Verschwörungsideologie« im wissenschaftlich-pädagogischen Bereich sowie generell an stärker auf politische Zusammenhänge abzielenden Arbeiten wird gelegentlich ein denunziatorischer Unterton und eine Tendenz zum othering bzw. eine gewisse Eindimensionalität in der Betrachtung bemängelt. Entweder meint man, innerhalb wissenssoziologischer Ansätze im Verschwörungskonstrukten zugrundeliegenden Denkstil eine erst einmal wertfrei zu konstatierende Wissensform unter anderen zu sehen (vgl. Anton et al., 2014; Meyer, 2018), oder man erkennt aus kulturgeschichtlichen Studien ein als – teils mit allen Implikationen des Worts – »stigmatisiert« wahrgenommenes, gesellschaftlich-kulturell eingebundenes Idiom (vgl. Knight, 2000, 2008; Olmsted, 2009; Thalmann, 2019). 20

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Doch die in den Bezeichnungsdebatten zum Ausdruck kommende Uneindeutigkeit ist nicht durch den Blick allein auf die möglichen bzw. sich vollziehenden politischen Verwendungen oder auf verandernde, ausgrenzende Externalisierungseffekte aufzulösen  – es handelt sich bei diesen, letztlich gesellschaftlichen Widersprüchen nicht um Datenfehler. Verschwörungsideen und -konstrukte wie überhaupt das Denken in »Verschwörungen« interessieren uns als Sozialwissenschaftler*innen, insofern sie eine wie auch immer geartete gesellschaftliche Wirksamkeit und einen entsprechenden Resonanzraum haben. Der Hintergrund dieser Wirksamkeit, zentral die psychosoziale Attraktivität von Verschwörungsvorstellungen, kann dabei nur aus deren jeweiliger historisch-gesellschaftlicher Grundlage in deren Widersprüchlichkeit erklärt werden. Auch diejenigen, die sich zugutehalten, nicht an »Verschwörungstheorien« zu »glauben«, oder die deren Struktur und politische Konsequenzen reflektieren, verstehen fast intuitiv was der darin behauptete Sinn ist. Warum uns als in dieser Gesellschaft aufgewachsenen und lebenden Menschen Verschwörungsideen eben keineswegs fremd sind, ist kritisch sozialpsychologisch und gesellschaftstheoretisch erklärungsbedürftig. Ansätze zu einer solchen, bisher in der Forschung zu wenig repräsentierten Aufklärung vorzulegen, ist das Anliegen der Herausgeber und der Autor*innen des vorliegenden Bandes. Entsprechend sind im Folgenden verschiedene Essays und Studien versammelt, die unterschiedliche Dimensionen und Facetten des Phänomens des Denkens in »Verschwörungen« erkunden und transdisziplinär beleuchten, aus soziologischer, gesellschaftstheoretischer, sozialpsychologischer oder psychoanalytischer, medienwissenschaftlicher, ethnologischer, wissenschaftsgeschichtlicher oder philosophischer Perspektive, aus Sicht der Erforschung von Ressentiments, politischer Bewegungen, digitaler Medien, des gesellschaftlichen Alltags, der analytischen Psychotherapie oder der Grundlagen politischer Bildung und Demokratieerziehung, in Deutschland, den USA, im subsaharischen Westafrika oder dem (post-)sowjetischen Russland. Einige der Beiträge sind ursprünglich in Ausgabe  1/2020 der Zeitschrift psychosozial erschienen und wurden für diese Neuveröffentlichung von den Autor*innen nochmals durchgesehen und (teilweise umfangreich) überarbeitet und ergänzt. Dass wir zusätzlich noch weitere Autor*innen und wertvolle Beiträge gewinnen konnten, freut uns ungemein – das von uns intendierte Panorama des Verschwörungsdenkens zwischen Populärkultur und politischer Mobilisierung hat, so hoffen wir, damit nochmals an Breite und Tiefenschärfe gewonnen. 21

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Verschwörungskonstrukte und -vorstellungen, so betonen nahezu alle im Folgenden versammelten Beiträge, sind heute unabhängig von ihrer jeweilig unterschiedlichen thematischen »Reichweite« oder der Stärke ihres »Erklärungsanspruchs« gleichzeitig ein Symptom wie ein Katalysator einer autoritären Tendenz der Gesamtgesellschaft und des »kulturellen Klimas« (Adorno). Einer Betrachtung als absolut eigenständiges Phänomen, als wertfrei »anderer« Modus von Realitätskonstruktion, als verselbstständigter Effekt »der sozialen Medien« oder gar als überhistorische »anthropologische Konstante« muss dieser Zusammenhang entgehen. Negiert wird so die Historizität des Phänomens wie auch die Historizität wissenschaftlicher Thematisierung und ignoriert wird der Funktionswandel, dem das Phänomen im Laufe der gesellschaftlichen Entwicklung, ihrer Transformationen und Krisen, unterworfen ist, wie auch dessen inhaltlich und formal grundlegend politische, normativ antidemokratische Codierung. Im Kern reproduziert man damit – unwillentlich – den Mythos des Denkens in »Verschwörungen« selbst.

Zynismus und Gewalt: Zur sich aktualisierenden Relevanz des Verschwörungsdenkens – und der Aufklärung Während dieser Text in seiner ursprünglichen Form als Editorial für die Ausgabe 1/2020 der psychosozial (Luy et al., 2020, S. 5ff.) begonnen und fertiggestellt wurde, erreichten uns die Nachrichten von dem antisemitischen Anschlag an Jom Kippur in Halle (9. Oktober 2019) und dem rassistischen Anschlag in Hanau (19. Februar 2020). Wenige Monate zuvor, am 1. Juni 2019, war bereits der Kasseler Regierungspräsident Walter Lübcke von einem Rechtsextremisten erschossen worden. Während der Arbeit an dieser Einleitung, am 14. Mai 2022, betritt ein rassistisch orientierter Täter einen Supermarkt in einem vorwiegend von nichtweißen Menschen bewohnten Stadtteil im US-amerikanischen Buffalo und erschießt zehn Afroamerikaner*innen. Der Attentäter von Halle bekannte sich in seiner an die Dramaturgie früherer rechtsextremer Anschläge von Oslo/Utoya bis Christchurch anknüpfenden, im Internet live gestreamten Mordserie, zu einem Konglomerat an Ressentiments und Verschwörungsideen – Ideen wie sie ähnlich auch der Mörder von Walter Lübcke und die Attentäter von Hanau und Buffalo vertraten. Unter dem Label »großer Austausch« (»great replacement«) 22

Verschwörungsdenken: Zwischen Populärkultur und politischer Mobilisierung

wird dieses Set an Phantasmagorien seit einigen Jahren flexibel synthetisiert und propagiert – mit Sprachführer*innen bis in den Deutschen Bundestag, das Országgyűlés in Budapest, das Capitol in Washington, D. C., und den Kreml in Moskau. Demzufolge arbeiten angeblich »liberale Eliten« und »Feministinnen« etwa an einer »Gender-Umerziehung« zur Senkung der Geburtenraten und folgend zur gezielten Förderung von Einwanderung aus sogenannten islamischen Ländern, um die völkisch-rassistisch homogen vorgestellte Bevölkerung kulturell oder »physisch« umzustrukturieren – orientiert am älteren rechtsextremen Sprachgebrauch von »Volkstod« oder »white genocide« (vgl. Botsch & Kopke, 2018). Hinter diesem angeblichen, vielschichtigen Komplott ständen – ob nun codiert formuliert oder ganz konkret – »die Juden« (vgl. dazu insgesamt auch Blum, i. d. Bd.). Die Mutter des Attentäters und zweifachen Mörders von Halle demonstrierte, warum eine Unterteilung zwischen unterschiedlichen »Graden an Verschwörungsglauben« angesichts von Empirie und Erfahrung letztlich verleugnenden Charakter hat. Auf die von ihrem Sohn selbst vorgetragene, antisemitische Rationalisierung seiner Mordtaten angesprochen, gab sie Spiegel TV zu Protokoll: »Er hat nichts gegen Juden in dem Sinne. Er hat was gegen die Leute, die hinter der finanziellen Macht stehen – wer hat das nicht?« (o. A., 2019). Dass das Denken in »Verschwörungen« entsprechend als kulturell flexibles Vehikel und (sozial-)psychologisch wie politisch mobilisierbare Ressource zur Deutung und Aneignung von Realität fungiert (vgl. insb. Engels & Salzmann, i. d. Bd.), zeigte sich schon im Mai 2020, als die erwähnte psychosozial-Ausgabe erschien, und erfährt nochmals schlagende Bestätigung, während dieser Text im Mai 2022 geschrieben wird. In diesen Zusammenhang gehört das soziodemografisch heterogene, aber in der Orientierung an verschwörungsideologischen Deutungen und der Ausrichtung auf tendenziell autoritäre Krisenlösungen oder -leugnungen geeinte Publikum der »Querdenken«-Demonstrationen und »Spaziergänge« gegen die staatlichen Corona-Schutzmaßnahmen und Impfkampagnen wie auch deren eskalative Dynamik, die dort anzutreffende Offenheit zu Themensetzungen der extremen Rechten und z. T. offene Gewaltbereitschaft (vgl. Frei & Nachtwey, 2021; Nachtwey et al., 2021; Muschenich, 2022). Dazu gehört auch die propagandistische, antiliberale Begleitmusik des Angriffskriegs gegen die Ukraine über »westliche Verschwörung« und »Zersetzung«, kombiniert mit der entsprechenden Steuerung aller 23

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Medien und Informationskanäle und der Zerschlagung staatsunabhängiger, zivilgesellschaftlicher Initiativen innerhalb der autokratisch beherrschten Russländischen Föderation (vgl. etwa Alyukov, 2022; Trudoljubow, 2022)  – eine Propaganda, die wie bereits 2014/15 weit über Russland hinaus wirkt, gerade in den Medienumwelten des Verschwörungsmilieus (vgl. für Deutschland Rathje, 2022). Dass die nunmehr seit einigen Jahrzehnten vorliegenden, von uns dokumentierten und ergänzten Analysen (Luy et al., 2020) im Lichte aktueller Entwicklungen weiter zutreffen, bekräftigt die anhaltende sozialwissenschaftliche und zunehmend praktische Relevanz des Themas. Auf diese Bestätigung, und gerade auf die weitere Realisierung verschiedener, namentlich politisch antidemokratischer Potenziale hierzulande wie weltweit, hätten wir und die Autor*innen gern verzichtet. Denn das Denken in »Verschwörungen« – das legen alle Beiträge in diesem Band nahe – ist in seiner kompromisslosen Institutionalisierung des Misstrauens hoch kompatibel mit gesellschaftlich virulenten Ressentiments wie Xenophobie, Antisemitismus oder Antifeminismus und inkompatibel mit einer auf Vertrauens- und Kompromisspotenzialen beruhenden demokratischen Öffentlichkeit. Unser Zeitalter erscheint gleichzeitig als von größter sozialer Ungleichheit wie globalem Austausch und umfassend zugänglichen Informationen geprägt – der strukturell immer enger werdenden Verflechtung der Welt zu einem geteilten Handlungs- und Kommunikationsraum. Der dergestalt generierten, unübersichtlichen Masse für sich sinnfreier Fakten scheint von allzu vielen Menschen oft als einziges »wirkliches« Faktum der begriffslose Glauben an die Sinnhaftigkeit eines subjekt- oder eigengruppenzentrierten Ordnungswunsches und des Ressentiments entgegen- und vorausgesetzt zu werden. Plausibilität, Quellenkritik, Belegbarkeit oder Ansichten zu zivilen Umgangsformen werden selbst zur »bloßen Meinung« erklärt und über den vielgescholtenen Begriff der Wahrheit sollen Gewaltherrscher, Demagogen oder »irgendwer auf Telegram« besser urteilen können als das ganze selbstaufklärende Denken der Menschheit seit den Upanishaden, den Gesprächen des Konfuzius oder den sokratisch-platonischen Dialogen. Die Verfahren von Repräsentation und Interessensausgleich werden zur verschwörerischen Manipulation umgedeutet, die Institutionen von politischen Gemeinwesen als exklusive Beute betrachtet – nach dem von dem Politikwissenschaftler Ivan Krastev (2017, S. 25; vgl. Müller, 2016; Geiselberger, 2017) kritisch formulierten, globalen »populistischen« Motto: »Entweder ›wir‹ kontrollieren sie, oder unsere Feinde tun es.« 24

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In der Verklärung der Welt mit den Mitteln des digitalen Zeitalters, noch mehr im Achselzucken des »Wer weiß schon noch was wahr ist?« liegt bereits der Kern einer Desavouierung vieler, vielleicht sogar aller potenziell geteilten Bezugspunkte, die ein Mindestmaß an kollektiven Übereinstimmungen verbürgen könnten, auf deren Basis eine Verständigung über Tatsachen und Fiktionen – »die Wurzel der Humanität« (Hegel, 1989 [1807], S.  65)11  – allererst möglich wäre. Und als eine Geste der Gleichgültigkeit akzeptiert solches Achselzucken  – ob nun »hilflos« oder zynisch – einen Zugriff auf das gesellschaftlich als legitim und legitimiert Aufgefasste durch eine – u. U. auch mit Gewalt gestützte – Setzung der Herrschenden. Glaubt man das Denken in »Verschwörungen« losgelöst von dessen gesellschaftlichen und historischen Kontexten betrachten zu können  – sich selbst scheinbar »wertfrei« vom gesellschaftlichen Geschehen zu dispensieren –, so werden die Wissenschaften, die sich mit dem vergesellschafteten Menschen, dem zoon politikon beschäftigen, nicht nur ihrem kritischen Anspruch, sondern auch der aus jeder Tradition menschheitsgeschichtlichen, selbstreflexiven Aufklärungsdenkens entspringenden Aufgabe und Verpflichtung nicht gerecht.

Danksagung Wir bedanken uns bei N. N. und Paul Mentz (Dortmund) für ihre jeweilige Übersetzung der Texte von Alexey Levinson aus dem Russischen und Martin Jay aus dem Englischen, bei Joachim Sperl (Hamburg) für das Titelbild und den gestalterischen Rat, bei Christoph Hövel (Recklinghausen) für den Austausch, bei Prof. Lev Gudkov (Moskau) für die freundliche Vermittlung, beim Hans Kilian und Lotte Köhler-Centrum (Bochum) für die finanzielle und ideelle Unterstützung. Unser besonderer Dank gilt auch, stellvertretend für alle beteiligten Mitarbeiter*innen und Lektor*innen des Psychosozial-Verlags, Christian Flierl und David Richter, die uns bei der Bearbeitung dieser Thematik über fast drei Jahre hinweg kompetent und engagiert unterstützt haben. Und selbstverständlich danken wir allen Autor*innen für ihre anregenden Beiträge und die gewinnbringende Zusammenarbeit. 11 Für den Hinweis danken wir Christoph Hövel.

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Biografische Notizen

Florian Hessel, Dipl.-Soz. Wiss., ist Lehrbeauftragter für Sozialpsychologie und Sozialtheorie der Fakultät für Sozialwissenschaft der Ruhr-Universität Bochum (RUB) sowie der TU Hamburg und arbeitet als freier Bildungsreferent und wissenschaftlicher Berater in der Antisemitismusprävention und Demokratieförderung. Er ist Gründungsmitglied von Bagrut e. V. Verein zur Förderung demokratischen Bewusstseins. Mischa Luy, M. A., ist Sozialwissenschaftler und promoviert am Lehrstuhl für Sozialtheorie und Sozialpsychologie an der Ruhr-Universität Bochum zum Gegenstand der deutschen Prepperszene. Daneben ist er als wissenschaftlicher Berater tätig beim Modellprojekt #kopfeinschalten – Kritisch gegen Verschwörungsdenken. Er ist Stipendiat der Hamburger Stiftung zur Förderung von Kultur und Wissenschaft. Pradeep Chakkarath, Dr., lehrt Sozial- und Kulturpsychologie an der Fakultät für Sozialwissenschaft der RUB und ist (mit Jürgen Straub) Co-Direktor des Hans Kilian und Lotte Köhler Centrums für kulturwissenschaftliche Psychologie und historische Anthropologie (KKC). Er ist 2. Vorsitzender der Gesellschaft für Kulturpsychologie und Mitherausgeber der psychosozial.

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Elemente des Verschwörungsdenkens Ein Essay1 Florian Hessel K. K. H. (1950–2021) zum Gedächtnis »Weil die Wahrheit viel beängstigender ist. Niemand regiert die Welt. Niemand kontrolliert irgendetwas.« Informant von Jon Ronson (2007)

1 Das Denken in Verschwörungen begegnet uns in der modernen Welt als selbstverständlich. Es existiert in unterschiedlichsten Formen und in nahezu allen gesellschaftlichen Milieus. Der Kern der Vorstellung präsentiert sich als eine Schicksalsfrage der Menschheit: Eine verborgene, aber doch genau zu benennende Gruppe von Personen würde das Leben und die Lebensumstände einer anderen, weitaus größeren Gruppe – einer Gesellschaft, Kultur, vielleicht gar der ganzen Welt  – nach ihrem (bösen) Willen, aus »fremden«, eigensüchtigen Interessen unmittelbar, verdeckt und unbemerkt beeinflussen, lenken oder gar vollständig beherrschen. Als »Basis einer Repräsentation von Gesellschaft« (Moscovici, 1987, S. 154) stattet diese Vorstellung bestimmte Ereignisse ebenso wie gesellschaftlichen Alltag mit bestimmtem Sinn aus und kreiert eine intensiv »gefühlte Wahrheit«. Die Erfahrung von Realität wird nahezu vollständig nach diesem bedrohlichen Bild geordnet und kann, insofern die jeweilige »Verschwörung« per definitionem für Uneingeweihte unsichtbar und verborgen sei, sinnhaft als eine sich selbst begründende Struktur unabhängig von jedem Beweis oder Gegenbeweis fortgeschrieben werden. Zentriert auf das Selbst und die eigene Person, werden Zumutungen von gesellschaftlicher 1

Der Autor bedankt sich für wertvolle Hinweise bei Paul Mentz, Olaf Kistenmacher und Janne Misiewicz. – Der ursprünglich in psychosozial 1/2020 erschienene Text wurde für diese Ausgabe durchgesehen und geringfügig ergänzt.

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Florian Hessel

Komplexität und emotionaler Ambivalenz reduziert sowie Erfahrungen und Gefühle von Angst und Ohnmacht, Frustration und Dissonanz kompensiert. Doch so hermetisch geschlossen der Erfahrungsraum – in Bezug auf das Funktionieren und die innere Ordnung einer Gesellschaft, Kultur, der ganzen Welt – sich für die Einzelnen entsprechend gestalten mag, ist dessen Struktur, Gehalt und Genese selbst keineswegs so einheitlich, wie es intuitiv erscheint, und nur aus seinen einzelnen gesellschaftlichen Elementen heraus zu verstehen. Verschwörungsideen und entsprechende Konstrukte haben eine spezifische (Wirkungs-)Geschichte und unterliegen in deren Verlauf einem Funktionswandel (vgl. Hessel, 2020). Unter den Bedingungen kapitalistischer Vergesellschaftung und Herrschaft zielen Verschwörungskonstrukte tendenziell auf die »Erklärung« gesellschaftlicher Totalität, also einer Gesellschaftsform, ihrer Ökonomie, Politik und Kultur, als Ganzer. Dies ist überhaupt erst möglich und »sinnhaft«, nachdem alle Momente menschlichen Zusammenlebens auf allgemeine Prinzipien von Vergesellschaftung bezogen sind, also Gesellschaft im modernen Sinne existiert und »den Menschen als ein Selbstständiges gegenübertrat, mit ihnen nicht unmittelbar mehr identisch war, sich gegen sie behauptete und verfestigte« (Institut für Sozialforschung, 1974 [1956], S. 29). Verschwörungsideen existierten in nuclei in weiten Teilen der Geschichte, doch das Ende direkter, personalisierbarer Herrschaft als gesellschaftlichpolitisches Prinzip, wie es in Europa bis zur Französischen Revolution letztlich gültig war, ist auch das Ende der Möglichkeit eines tatsächlich verallgemeinerbaren Gebrauchs einer Verschwörung bzw. geheimen Verabredung zwischen konkreten Personen als Technik der Herrschaft. Um mehr als einen einfachen Machtwechsel und meist auch das Lebensende der individuell Herrschenden herbeizuführen, bedarf es in hochgradig differenzierten, global zunehmend verflochtenen und durch die Vermittlung und gegenseitige Durchdringung aller gesellschaftlichen Funktionen oder Teilbereiche gekennzeichneten nationalstaatlichen Klassengesellschaften eines diese Ordnung transzendierenden Prozesses, der ebenso wie diese nicht mehr ursächlich an konkrete Personen gebunden sein kann. Macht, Herrschaft und Ausbeutung wurden strukturell vom Wirken Einzelner oder bestimmter Personengruppen – in Europa dem Adel und dem Klerus – entkoppelt. In dem Maße wie sie zunehmend institutionalisierten Prozesscharakter gewinnen, abstrakt, anonym und verallgemeinert 32

Elemente des Verschwörungsdenkens

werden, wird dies im Verschwörungsdenken gespiegelt in Form einer Personalisierung gesellschaftlicher Verhältnisse,2 die nunmehr als Wirkung unsichtbarer und übermächtiger Personen oder Personengruppen konstruiert werden. Denn in diesem gesellschaftlichen Prozess formiert sich eine Dialektik von depersonalisierter, tendenziell anonymer Herrschaft einerseits, und einer Ideologie des Individualismus andererseits, die das einzelne Individuum als das wirkmächtige, selbstverantwortliche, autonome Subjekt bürgerlicher Gesellschaft, Ökonomie und Politik setzt und dessen Stellung als Privateigentümer, Lohnarbeiter, Rechtsperson reflektiert. Der darin reproduzierte Widerspruch ist in der Erfahrung der Mehrheit der Gesellschaftsmitglieder ständig präsent. Innerhalb der formalen Demokratisierung von Herrschaft und Machtpositionen steht der Einbeziehung potenziell aller citoyens in die Politik – in erster Linie der Mobilisierung zunehmend größerer Teile der Bevölkerung dafür – die Erfahrung von Ohnmacht und Fremdbestimmung, von Distanz und relativer Ungreifbarkeit konkreter Entscheidungsprozesse gegenüber.3 So verweist etwa Hannah Arendt (1970, S. 80) auf die Erscheinung der bürokratisierten politischen Ordnung des 20. Jahrhunderts als »›System‹« schlechthin und bemerkt, es gebe, »wenn man Verantwortung verlangt oder auch Reformen, nur den Niemand«. Mit ihm könne »man nicht rechten, ihn kann man nicht beeinflussen oder überzeugen, auf ihn keinen Druck der Macht ausüben«. Betont ambivalent bezieht sie sich an dieser Stelle auf zwei jener bürgerlichen Heroen antibürgerlicher Reflexe am Ende des langen 19. Jahrhunderts, Sorel und Pareto. In deren Verachtung der individualistischen bourgeois für das vermeintlich gesichts- und verantwortungslose Ganze, die »Charaktermasken« (Karl Marx) und das »stahlharte Gehäuse« (Max Weber) prozessual verselbstständigter gesellschaftlicher Reproduktion – der geschichtlichen Schöpfung »ihrer« Klasse –, schlägt, angesichts der Aporien zunehmend demokratisch legitimierter Herrschaft, die Sorge des einzelnen Individuums um in die Angst des gekränkten in2

3

In Anlehnung an die geschichtsdidaktische Verwendung (»Geschichte Großer Männer«) wird hier für die (sozial-)psychologische Funktion »Personalisierung« gegenüber der ebenfalls in der Literatur verwendeten »Personifikation« bzw. »Personifizierung« (als einer Erzähltechnik) bevorzugt. Samuel Salzborn (2019, S. 189–202) entwickelt im Rahmen ähnlicher Überlegungen hier eine Dialektik von Öffentlichkeit und Geheimnis in der Moderne.

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dividualistischen Subjekts vor Ohnmacht und Fremdbestimmung, Bedeutungslosigkeit und Austauschbarkeit. Die Personalisierung der sozialen und politischen Verhältnisse – der »Jemand« – löst die Antinomie zwar lediglich deklarativ, dafür umso vehementer. Inwieweit der »Jemand« die Gestalt der Verderber oder eben auch des Retters annehmen kann, deutet die Wirkungsgeschichte von Sorel wie Pareto an: Die aktivistische Philosophie des einen bildete eine der Grundlagen protofaschistischer Ideologie; die Elitensoziologie des anderen lehrte Mussolini ein Stück des Wegs zur Macht.

2 Der Abdruck der Gesellschaftsgeschichte der Epoche, die wir (noch) als unsere eigene erkennen, des »bürgerlichen Zeitalters« (Max Horkheimer), ist in der Form der Verschwörungskonstrukte und des Umgangs mit ihnen weiter in doppelter Weise erkennbar. Am Beginn ihrer massenhaften Resonanz und Wirkungskraft steht die Verbindung zwischen gesellschaftlicher Krise und deren Bewältigung. Diejenigen, die man zu Recht als Reaktionäre und Parteigänger der Konterrevolution bezeichnete, gossen so ihre Empörung über das Ende der ancien régimes in eine Form, die das epochal Neue, Unerklärliche dieser Machtübernahme der zuvor durch »weise Vorsehung« Machtlosen und jener anderen, potenziell egalitären Herrschaftsstruktur als an göttlicher Ordnung oder ewiger Tradition frevelnde Konspiration »erklärte«. Gleichzeitig schuf man damit das propagandistische Instrument, das das Unverständnis für die neuen Strukturen von Herrschaft und Vergesellschaftung (den »Niemand«) und die dann zügig enttäuschten Hoffnungen breiter Gesellschaftsschichten in politischen Gebrauchswert (den »Jemand«) zu übersetzen versprach. Die tiefgreifenden gesellschaftlichen Umwälzungen in der Moderne und ihre politisch-ökonomischen Formen bedeuten nicht nur »eine Verlagerung der sozialen Struktur und Dynamik von klaren, feststehenden Mustern hin zu systematischem Zufall« (Gellner, 1995, S. 98), sondern noch mehr die Perpetuierung und letztlich Institutionalisierung dieser Verunsicherung. Kontingenz, Krise und Transformation gewinnen Permanenz, da sie den gesellschaftlichen Verhältnissen ebenso wie die Universalisierung von Herrschaft bis ins Private und in die Psyche hinein innewohnen. So hält Erich Fromm (1980 [1937], S. 204) fest: 34

Elemente des Verschwörungsdenkens

»Auch wenn [der bürgerliche Mensch] zu wissen glaubt, was vorgeht, so ändert diese Illusion doch nichts daran, daß ihm die Orientierung über die in der Gesellschaft und in ihm selbst wirkenden fundamentalen Kräfte nahezu völlig fehlt. Er sieht hundert Einzelheiten, hält sich an die eine oder andere und versucht, von einer aus das Ganze zu verstehen, um nur immer wieder von neuen Einzelheiten überrascht und verwirrt zu werden.«

Stabilität stellt letztlich auf gesellschaftlicher Ebene eher die Ausnahme denn die Regel dar und dies begünstigt die Fortschreibung von Verschwörungsideen. Der Zusammenbruch und die Verunsicherung überkommener Sozialmilieus, gewohnter Lebenswelten, fester Glaubenssysteme oder patriarchaler Machtstrukturen reflektieren sich deutlich in den paradigmatischen, vollständigen Welterklärungsmodellen, die parallel zur Französischen und zur Russischen Revolution geschaffen und verbreitet wurden, den Vorstellungen universeller Verschwörungen von Freimaurern und Illuminaten, von Juden, Revolutionären und anderen Cliquen »sittenloser Freigeister«. Und ebenso reflektieren sich heute ähnliche, gesellschaftlich noch komplexere Verunsicherungen in den entsprechend flexibler kombinierbaren Phantasmagoriekonglomeraten vom »Kulturmarxismus« oder der »Gender-Umerziehung«, vom »Great Reset« oder »großen Austausch«. Erhalten hat sich etwa in den Vorstellungen des Abbé Barruel, des prominentesten Propagandisten der »Freimaurer-Jakobiner-Verschwörung« seit 1797, und seiner Konsorten eine tatsächliche Verbindung der von ihnen – und durchaus zutreffend – als Gefahr für Thron und Altar denunzierten Aufklärung und ihrer gesellschaftspolitischen Protagonist*innen mit den Logen der Freimaurer am Beginn des langen 19.  Jahrhunderts. Nicht nur stellten solche Logen an manchen Orten und in bestimmten Regionen den einzigen Raum dar, in dem sich gegen das Bestehende richtende Gedanken offener diskutiert werden konnten. Sie gaben dergestalt eines der Modelle ab, wie entsprechend Gleichgesinnte sich zusammenfinden und organisieren konnten, so etwa in den berühmten Clubs der Französischen Revolution. In vielen europäischen Regionen außerhalb Frankreichs, gelegentlich wohl auch in Lateinamerika und in Ägypten – noch später spiegelbildlich verkehrt in Indochina –, finden wir bis zur Revolution von 1848 und einige Jahre darüber hinaus solche mehr oder weniger erklärt klandestinen Kreise von carbonari und romantisch-nationalistischen Insurrektionalisten, deren grandiose Pläne zur Volkserhebung fast ausnahmslos 35

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wenig grandios scheiterten (vgl. Hobsbawm, 1966, S. 217–261). Der praktische Internationalismus der Sache der Freiheit, der Wechsel zwischen den nationalen Aufstandsprojekten und nicht zuletzt der romantische Glaube an die geschichtliche Kraft des heroischen Individuums dürfte dem Mythos von der boden- und vaterlandslosen Verschwörung gegen die Nation etwas historischen Grund unter den Füßen geliefert haben. Über die parallelen Umwege ihrer eigenen aktivistischen Heldenlegende wie der berufsmäßigen Übertreibungen der Geheimpolizeien sich vollziehend, zählt dieser Zusammenhang zu den Ironien einer Gesellschaftsgeschichte, in der Befreiung und Herrschaft unreflektiert verwoben bleiben.4 Die Chiffre »Verschwörung« enthält somit eine fühlbare begriffliche Ambivalenz, die einen Teil von deren anhaltender Wirkungskraft ausmacht. Sie bildet den gesellschaftlichen Funktionswandel der Sache selbst ab  – einen Funktionswandel, der in ihrer Thematisierung kaum hinreichend reflektiert wird. Der Gehalt der Bezeichnung »Verschwörung« wird oftmals in der wissenschaftlichen wie in der alltagssprachlichen Verwendung als ein überhistorisches Datum behandelt. So springen insbesondere populäre Arbeiten zu Verschwörungskonstrukten zwischen der Politik der antiken polis und der antijudaistischen Dämonologie des europäischen Mittelalters, den Propagandisten der Konterrevolution von 1789/92 und 1918/20 und den Medien und media events der pluralisierten Kulturindustrie des späten 20. Jahrhunderts. Wie durch diese Kulturindustrie und ihr Feuilleton wird hier schlagwortartig eine vorgeblich invariante Bedeutung hypostasiert, die kaum einer Erklärung bedarf und die intuitiv zugänglich erscheint. Ebenso wie innerhalb des Denkens in Verschwörungen wird Geschichtlichkeit so suggestiv aufgelöst in den unterhaltsamen und griffigen Mythos von ewiger Geltung. Was wir heute wie eingangs skizziert intuitiv unter einer »Verschwörung« verstehen (wollen), ist jedoch nicht dasselbe, kann kaum dasselbe sein, wie etwa in der polis der griechischen Antike oder im Teufelsglauben des Mittelalters.5 Keineswegs geht es darum, die Realität von Intrigen, Manipulation und Desinformation, von nichtöffentlichen Absprachen und Entscheidungen in der Gegenwart zu leugnen, denen 4 5

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Zu diesen und den folgenden Überlegungen entfaltet Martin Jay (i. d. Bd.) eine komplementäre Sichtweise. Die Bedeutung der Dimension (historische) Zeit betonen Ute Caumanns und Mathias Niendorf (2001).

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gegenüber kritische Skepsis mehr als angebracht ist. Allerdings ist gerade deren Realität in extremster Form als staatlich organisierte Kriminalität mit der personalisierenden Vorstellung von »Verschwörungen« nicht mehr vermittelt bzw. kaum noch vermittelbar. Die Bezeichnung und ihr unterstellter Gehalt sind eine Schöpfung der modernen Propagandisten von entsprechend ausstaffierten modernen Verschwörungskonstrukten. Und in diesem Sinn ist eine »Verschwörung« die Behauptung von der Abhängigkeit sozialer, politischer, ökonomischer Strukturen von individuellen, identifizierbaren Personen im Zeitalter von deren Unmöglichkeit. Je weniger Verschwörung als potenziell gesellschaftsverändernde Kraft und je kruder ihre reale Erbschaft als Absprache über gefälschte Abgaswerte, als antisemitische Propaganda gegen einen jüdischen Philanthropen oder als staatlich betriebene Mordkampagne, umso mehr »Verschwörungen« und ahistorische, relativistische Verschwörungstheoriebetrachtung, die aus dem widersprüchlichen, geschichtlich kontingenten und »sinnfreien« gesellschaftlichen Ganzen von Herrschaft, Ausbeutung und Gewalt »tieferen Sinn« unkritisch herauszulesen versprechen. Der Aufstieg und die Omnipräsenz der Kulturindustrie, deren Bilder und Strukturen als »geborgte Erfahrung« (Herta Herzog) einen großen Teil unserer Imagination rahmen, spielt hier eine gewichtige Rolle.6 Als Produkt der bürgerlichen, zunehmend massendemokratischen Gesellschaft und ihrer individualistischen Ideologie basiert ihre Wirkung auch auf der narrativen Transformation dieser Ideologie von handlungsfähigen, autonomen, heroischen Individuen zu Protagonist*innen, mit denen wir uns identifizieren können. Personifizierung von gesellschaftlichen Strukturen ist eine Verlängerung dieser Konstellation. Nicht nur können ansonsten kaum darstellbare, nichtpersonengebundene Verhältnisse erzählerisch handhabbar gemacht werden, es kann so auch, wie an den paradigmatischen Produkten der populärsten Film- und Musikgenres bis zum heute ubiquitären Superherofilm oder »Gangster«-Rap zu sehen ist, eine ideologieimmanent legitimierte und schließlich im Happy End überwindbare Grenze des Handelns und der Handlungsfähigkeit unserer Held*innen markiert werden. 6

In den von Robert Goldberg (2001) in seine Darstellung des Verschwörungsdenkens im modernen (Nord-)Amerika eingearbeiteten Bezügen und Verbindungen zeigt sich auch, wie früh »Verschwörung« und »Verschwörungstheorie« nicht nur Sujet, sondern Schema der Kulturindustrie darstellten.

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3 In der strikten Ordnung eines modernen Verschwörungskonstrukts zeigt sich ein bestimmtes Verhältnis zu gesellschaftlicher Macht und Herrschaft wie auch zu individueller Handlungsmacht und Ohnmacht. Entgegen einem weitverbreiteten Missverständnis wird innerhalb von Verschwörungsvorstellungen keineswegs irrational argumentiert. Die Konstruktionen sind in sich, wie bereits Richard Hofstadter (1996 [1965], S. 36) hervorgehoben hat, geradezu hyperrationalistisch und in bestimmter Hinsicht »far more coherent than the real world«. Voneinander isolierte Fakten werden addiert und oft – in Büchern und Blogs, aber auch in YouTube-Filmen  – in einer Imitation akademischer und dokumentarischer Konventionen der Darstellung, mit Anhängen und Literaturverzeichnissen, Fußnotenapparaten und Linksammlungen, Expert*innen und OffKommentaren, präsentiert. Jedem noch so ephemeren Detail wird eine bewusste Bedeutung zugesprochen – es gibt keinen Zufall, keine Kontingenz: Alles, was zusammen auftritt, hängt auch zusammen und wird von einer unsichtbaren und gelenkten Struktur, der »Verschwörung«, verbunden gesehen. Es wird versucht, »to match [the infallibly rational and totally evil enemy’s] imputed competence with its own, leaving nothing unexplained and comprehending all of reality« (ebd., S. 36f.). Darin zeigt sich deutlich ein positivistisches Verhältnis zur gesellschaftlichen Struktur  – das herrschende Prinzip rein instrumenteller Vernunft wird nicht kritisch hinterfragt, sondern bis zur Unkenntlichkeit auf die Spitze getrieben. Gerade der Anspruch auf Kontrolle und Berechnung total unterworfener Verhältnisse wird beim Wort genommen und der Mythos und die Ideologie, dies sei bereits erreicht oder erreichbar, reproduziert. Es ist die Vorstellung der modernen, rationalistischen, bürgerlich geprägten Gesellschaft von »sich selbst« und deren Verdoppelung in einem Zerrspiegel. Ebenso wie dem Zugriff instrumenteller Vernunft soll dem Denken in »Verschwörungen« nichts entgehen und kein Rest, nichts Nicht-Identisches bleiben. Insofern der Ordnungs- und Herrschaftsanspruch im Mittelpunkt steht, ist »Kohärenz« nicht im Sinne von wissenschaftstheoretischer »Widerspruchsfreiheit« misszuverstehen. So belegen empirische Studien immer wieder, dass es nicht nur möglich, sondern heute durchaus üblich ist, dass Verschwörungsvorstellungen anhängende Personen mehrere, sich gegenseitig ausschließende Deutungen für ein und dasselbe Ereignis kommunizieren, ohne dabei Effekte kognitiver Dissonanz offen kompensieren zu 38

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müssen (vgl. Wood et al., 2012). Es gilt hier, könnte man sagen, form over matter. Und diese Tendenz kommt gegenwärtig in der Vollendung eines weiteren Funktionswandels von Verschwörungsvorstellungen – vom Welterklärungsmythos zu flexibilisierten Konglomeraten – voll zur Geltung, der auch den letzten Rest des gesellschaftlichen Wahrheitskerns einer relativistischen Betrachtung erledigt. In der Entwicklung hin zur »Verschwörung ohne die Theorie« (Muirhead & Rosenblum, 2018, o. S.) hält man sich nicht einmal mehr mit Ansätzen detaillierter »Erklärung« und damit einem Rest an Vermittlung mit gesellschaftlicher Struktur auf. Vielmehr treten autoritäre Aggression und manichäische Feindbestimmung gänzlich unbekleidet auf. Der Mythos von der allmächtigen Verschwörung gegen die Gesellschaft erscheint als Affirmation des Mythos von der Allmacht in der Gesellschaft.7 Keineswegs ein verstellter Impuls der Kritik gegenwärtiger Modi der Vergesellschaftung und Politik, ist er vielmehr – heute mehr denn je – Reflexion der Behauptung der unbeschränkten Handlungsmacht der vergesellschafteten Einzelnen einerseits und der Unhintergehbarkeit und Alternativlosigkeit der gesellschaftlichen Struktur andererseits – Behauptungen von Eindeutigkeit, die sich an der realen Ohnmacht der Einzelnen und der inhärenten Krisenhaftigkeit der Gesellschaft brechen, an Erfahrungen von Ambivalenz. Die Wirkung ist regressiv, da jedes Potenzial von Vertrauen in den Anderen verneint, namentlich das Gefühl von Fremdbestimmung und Ohnmacht rationalisiert und verstärkt wird.8 Als eine absolute Überzeugung trennt die Vorstellung die soziale Welt entsprechend in zwei personalisierte Gruppen, die »Verschwörer« und die »Opfer der Verschwörung«, denen dualistisch fast absolute Handlungsmacht und fast absolute Ohnmacht zugeordnet werden. Der vollzogene 7

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So schreiben die Soziologen Lev Gudkov und Boris Dubin (2005, S. 70) über die Konstellation des Massenbewusstseins in Russland und dessen Technologen während des »Falls Chodorkovskij«: »Es handelt sich nicht um Ignoranz eines Menschen, der nicht weiß, daß er in einem Unrechtsstaat lebt, weil er einen anderen Staat nie gesehen hat. Wir haben es mit etwas anderem zu tun: Die Menschen identifizieren sich mit dem Willen der Obrigkeit, der als eine nicht zu ändernde Kraft akzeptiert wird, an die man sein Verhalten anpassen muß, ohne sich aber damit zu solidarisieren. […] Da [… hinter dem Vorgehen der Strafverfolgungsbehörden gegen Chodorkovskij] eine reale Kraft steht, werden alle oder fast alle ihre Handlungen mit der Zeit innerlich gerechtfertigt.« Ähnliche Effekte ließen sich schon an Besucher*innen des Thrillers JFK beobachten (Butler et al., 1995).

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Akt der Mimikry, der Versuch sich selbst aktiv der (All-)Macht anzuverwandeln, tut dies innerhalb der Grenzen des konformistischen »Verständnisses«. Ebenso begründete der anonyme rechtsextreme Nutzer des Online-Messageboards 4chan, der im Sommer 2019 erfolgreich zur Schaffung eines »Netzwerk[s] von gefälschten jüdischen Profilen auf Twitter und Facebook« zur Verbreitung antisemitischer Mythen aufforderte, seinen Aufruf: »Er behauptete, Juden könnten sich jederzeit als Weiße ausgeben und diese dann dämonisieren. Das wolle man nun umdrehen« (Gensing, 2019). Dies veranschaulicht, dass nicht nur Realität in bestimmter Weise »erklärt« wird, wie bisher gesagt, sondern verdeutlicht, dass es sich um eine Form der Praxis handelt, die in der An- und Einpassung von Realität an und in die eigene Wahrnehmungstendenz besteht. Die Funktion der »Erklärung« erscheint genauer betrachtet als ebenso instrumenteller Akt wie als Rationalisierung dieser Praxis, deren nach außen, auf ein Anderes abgeladener psychologischer Gehalt ein aus dem Eigenen entspringender Wunsch, eine Angst, ein Bedürfnis ist. Der anonyme 4chan-Nutzer möchte sich die »imputed competence« und Allmacht der »Bedrohung« aneignen und schafft auf sich zentriert genau die Ordnung, aus der er seine Objekte auswählt (ein »jüdisches« Netzwerk). Gleichzeitig weiß er, dass er dies tut und was er damit bezwecken möchte. Im Zusammenhang dieses Falls wie in Bezug auf den interessierenden Gegenstand gilt, was Lutz Winckler (1970, S. 100) in seiner Untersuchung zur faschistischen Sprache und deren Wirkung festgehalten hat: Weil man »die Wirklichkeit nur im Bild der fiktiven Gegenwelt erfahren kann, spricht [… man] die Sprache dieser Gegenwelt.«9 Umgekehrt formt die »Sprache der Gegenwelt« die Wirklichkeit ebenso zum »Bild der fiktiven Gegenwelt« und selbst eine instrumentelle, berechnende Verwendung als Mittel der Propaganda affiziert so noch ihre zynischsten Verwender*innen. Indem man spricht und handelt, als sei die behauptete »Verschwörung« Realität, bestätigt sich immer wieder die Funktionalität dieser Vorstellung und man formt die Welt als Erfahrungsraum.10 Aber nicht nur wird eine bestimmte Deutung oder ein bestimmter Deutungsrahmen innerhalb spezifischer Milieus als wirkungsmächtige, 9

Nach Ergebnissen von linguistischen Studien dürften auch die ersten Propagandisten des »QAnon«-Kults dessen Erfinder und die Autoren der darüber in Fragmenten verbreiteten Fantasien sein (vgl. Kirkpatrick, 2022). 10 Vgl. dazu auch den Beitrag von Alexey Levinson i. d. Bd.

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handlungsleitende Tatsache behandelt bzw. selbst als Handlung verstanden, auch dass in der Öffentlichkeit gegen diese Behauptungen argumentiert wird und argumentiert werden muss, verleiht weitere Wirkungskraft und – suggestiv – praktische Bestätigung. Als eine Form spezifischer Praxis bestimmt auch Sigmund Freud – in seinen wenigen, verstreuten Überlegungen und Untersuchungen zur Psychologie und Psychopathologie des klinischen Verfolgungswahns – die Dynamik von Verschwörungs- und Verfolgungsvorstellungen innerhalb der psychischen Ökonomie von Einzelnen. Er erkennt diese als einen Versuch der Rekonstruktion einer »verrückten« Wirklichkeit: »Was wir für die Krankheitsproduktion halten, die Wahnbildung«, so Freud (1911c [1910], S. 308), »ist in Wirklichkeit der Heilungsversuch, die Rekonstruktion«. Was sich im klinischen Kontext als »wahnhaft« beschreiben ließ, ist nicht identisch mit den hier interessierenden sozialpsychologischen Momenten der Erfahrungs- und Realitätsgestaltung, deren effektiver Geschlossenheit und relativer Unaufklärbarkeit. Ihre Dynamiken und funktionalen Aspekte erscheinen allerdings analogisierbar. Für den Einzelnen werde die »verrückte« Welt selbstzentriert aktiv wiederaufgebaut, »nicht prächtiger zwar, aber wenigstens so, daß er wieder in ihr leben kann« (Herv. d. A.). Und, so schreibt Freud (ebd.) weiter, »der Mensch hat eine Beziehung zu den Personen und Dingen der Welt wiedergewonnen, oft eine sehr intensive, wenn sie auch feindlich sein mag«.

4 Die*Der Einzelne kann durch die Annahme einer ominösen, aber in Personen identifizierbaren Struktur der Fremdbestimmung, Bedrohung und totalen Manipulation die reale Ohnmacht und den ebenso empfundenen wie inszenierten Kontrollverlust über ihre*seine Welt in sich stimmig »erklären« und rationalisieren, sich praktisch aneignen und einen Gewinn an Handlungsmacht und Kontrolle fühlen. Der bestimmte, aber nicht (mehr) notwendig ausformulierte Gehalt der »Rekonstruktion« der Welt als »Gegenwelt«, die Ordnung der Verschwörungsvorstellung, wirkt nicht nur im Sinne einer »einfachen« Reduktion von Komplexität sozialer Verhältnisse und Strukturen. Diese Rekonstruktion beinhaltet auch, was eine projektive Personalisierung genannt werden muss. Projektion fasst die Verlegung eigener unbewusster bzw. verdrängter Triebe, Wünsche und Ängste 41

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in oder auf ein Anderes, ein äußeres Objekt oder eine andere Person. Individuelle, sozialisatorisch und kulturell tabuierte Strebungen, zum Beispiel sexuell-moralischer und/oder sadistisch-aggressiver Natur, aber auf einer anderen Ebene auch die alltägliche Erfahrung der Partizipation an und Eingebundenheit in die gesellschaftliche Praxis von Herrschaft und Ausbeutung, können so etwa in der Gestalt »der Bilderberger« oder »der geschlossenen transatlantischen Elite« aus der Sphäre des Eigenen verdrängt und in bestimmter Form externalisiert werden. Wie bereits angedeutet ist dieser sozio-psychologische Mechanismus wesentlicher Teil der Grundlage, auf der die Erfahrung der Realität in ein bestimmtes Bild gestaltet werden kann  – ihre Wahrnehmung wird wie in einem Vexierspiegel gebrochen. »Die ›Projektion‹ verhindert eine unvoreingenommene Wahrnehmung« – als Abwehr gerade dessen, was »im Binnenraum unserer uns angestammten Erfahrungswelt, im Umgang mit den uns bekannten Personen und im Messen an unserer eigenen Wertordnung entstanden« ist (Mitscherlich, 2003 [1971], S. 142). Die Wahl des »anderen« Objekts ist dabei nicht beliebig. Es wird, um Freud zu paraphrasieren, nicht willkürlich ins Blaue hinaus projiziert, sondern dorthin, wo sich etwas Ähnliches finden lässt. Doch was bedeutet Ähnliches? Freuds Fallstudien – wiederum gelesen als Modelle möglicher psychologischer Bedeutungsdynamik – benennen die im Konstrukt kreierte Aufmerksamkeit als dem eigenen Unbewussten entzogen und eine daraus folgende Wiederkehr des Verdrängten von außen (Freud, 1922b [1921], S. 199f.) bzw. eine »Aufhebung der Verdrängung« durch Projektion, wobei »das innerlich Aufgehobene von außen wiederkehrt« (Freud, 1911c [1910], S. 308). Projiziert wird im Denken in »Verschwörungen« zum einen die eigene Partizipation an und in den Strukturen gesellschaftlicher Macht und Herrschaft, die jeden sozialen Austausch in der Form prägen, und die wir durch und in unserem Handeln selbst reproduzieren; zum anderen der Wunsch nach Macht und Handlungsmacht ohne alltäglich erfahrene (kränkende) Beschränkung und entsprechende Ambivalenz. Und projiziert wird dies in Richtung derjenigen Personen(-gruppen), die vielleicht ein »Mehr« an gesellschaftlichem Einfluss, an Macht oder Repräsentation haben und/oder denen dies zumindest zugeschrieben wird: Nichts wird zum Thema, »[w]as in einer Kultur nicht gedacht worden ist« (Wulff, 1987, S. 14). Dies formt ein weiteres Element psychologischer wie situationaler Dynamik. »As he begins attributing to others the attitudes which he has 42

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toward himself«, so heißt es in einer klassischen Studie zur Mikrosoziologie klinischer Paranoia, »he unintentionally organizes these others into a functional community, a group unified in their supposed reactions, attitudes, and plans with respect to him« (Cameron, 1943, S. 38). Zwar kann von keinem vollständig bewussten Akt ausgegangen werden, aber eine – wenn auch unbewusste respektive verdrängte – psychologische Motivation und Intention ist, wie zuvor skizziert, vorhanden. Und als eine bestimmte Praxis hat diese auch einen instrumentellen Charakter. Denn wo in einer personalisierenden Verschwörungsvorstellung erfahrene Ohnmacht, Fremdbestimmung und vermeintlicher Sinnverlust projektiv »erklärt« bzw. rationalisiert und angeeignet werden, wird funktional die Schaffung eines klaren, politischen Feindbilds betrieben. An diesem Punkt der Fokussierung auf gesellschaftliche Macht, Handlungsmacht und Herrschaft liegt eine der Verbindungslinien des Denkens in »Verschwörungen« und antimodernistischen modernen Ressentiments wie Antiamerikanismus und Antisemitismus, zunehmend auch Antifeminismus.11 Die Verbindung namentlich zwischen Antisemitismus und Verschwörungsvorstellungen wird auf zwei Ebenen verständlich. Zum einen stellt die Judenfeindschaft ein kulturell lang tradiertes Reservoir an Bildern und Deutungsspuren zur Verfügung, zum anderen spielt Projektion bzw. Projektivität in beiden Fällen eine zentrale Rolle. Antisemitische Verschwörungsmythen und ihre Prototypen, Konstrukte in denen »den Juden« eine zentrale Rolle als Agenten des Bösen oder des Teufels zugewiesen wird, haben kulturhistorisch (insbesondere in Europa) eine lange Geschichte und sind leider noch immer allzu vertraut. Und gerade weil die damit verbundenen Phantasmagorien und Dämonologien verfügbar, mittlerweile qua Kolonialismus, Weltmarkt und digitalisierter Kulturindustrie global fast allgemein abrufbar und anwendbar sind, stellen diese ein bequemes Vokabular (nicht nur) für Verschwörungsideen und -konstrukte bereit. Historisch haben einige Verschwörungsmythen umgekehrt den Charakter von antisemitischen Codes angenommen, wie etwa seit dem 19. Jahrhundert die Rede von der angeblichen Macht »der Rothschilds«. Und aufgrund der »Entwertung« von Judenfeindschaft in der Öffentlichkeit nach 1945 und deren nun noch stärker indirekter, kommunikationslatenter Äußerung, scheinen Verschwörungskonstrukte heute, einen weiteren gesellschaftlichen Funktionswandel reflektierend, in vielen 11 Vgl. dazu auch den Beitrag von Rebekka Blum i. d. Bd.

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Fällen auch eine Form entlastender, schuldabwehrender Ersatz- und Umwegkommunikation zu sein, in noch konkreterem Sinn ein Medium von Antisemitismus (vgl. ähnlich Diner, 2019, S. 485). Das Verschwörungsvorstellungen und Antisemitismus gemeinsame Element der Projektion bedeutet funktional eine Umkehrung, die insbesondere in der antisemitischen Praxis der Gewalt in Wort und Tat als TäterOpfer-Umkehr ganz und gar wörtlich zu verstehen ist: Jüdinnen und Juden wurden und werden für ihre Verfolgung, den Hass, der auf sie gerichtet wird, verantwortlich gemacht. Der nationalsozialistische Völkische Beobachter titelte etwa gelegentlich der (verhaltenen) internationalen Proteste gegen den ersten Boykott »jüdischer« Geschäfte im Mai 1933: »Der jüdische Krieg beginnt« (zit. n. Auerbach, 1994, S. 122) – nicht »nur« das Verhältnis von Täter und Opfer umkehrend, sondern auch von Ursache und Wirkung, von antisemitischer Verfolgung und von dieser Verfolgung forciertem, internationalem, vernetztem Widerstand und Protest. Diese Rationalisierungen einer verfolgenden Gewaltpraxis, die ihre Realität als Erfahrungsraum ganz praktisch schafft, identifizieren aufmerksame Beobachter einige Jahre später als sozio-psychologische Mechanismen pathischer Projektion (vgl. Horkheimer & Adorno, 1987 [1947], S. 217–230). Während in der Praxis des Antisemitismus die abstrakten Aspekte und negativen Auswirkungen moderner kapitalistischer, politisch-ökonomischer Vergesellschaftung und Herrschaft an und in »den Juden« festgemacht und externalisiert werden bzw. überhaupt als »jüdisch« bestimmt werden (vgl. Postone, 2005, S. 178–182), ist es im Denken in »Verschwörungen« konkreter die eigene widersprüchliche Eingebundenheit in diese gesellschaftlichen Prozesse, die projektiv personalisiert wird. Erfahrbare Ohnmacht und Ambivalenz wird hier als konformistische Suche nach versprochener Macht und autoritäres Verlangen nach behaupteter Übermacht und Eindeutigkeit inszeniert und angeeignet. Verschwörungsideen stellen in vielen, letztlich den meisten Fällen ein wichtiges Element des Antisemitismus dar, da in der Projektion das eigene Verdrängte als Unheimliches, eben Verborgenes, »Fremdes«, Bedrohliches von außen zurückkehrt bzw. die Umkehrung von Täter und Opfer als propagandistische, offene Lüge psychologisch rationalisiert werden muss. Sie sind aber nicht mit diesem identisch. In diesem Zusammenhang kann eher von einer inhaltlichen Affinität und von funktionalen Überschneidungen gesprochen werden, die in den Strukturen einer gesellschaftlich notwendig autoritätsbezogenen Sozialisation und Subjektformation sowie im kultu44

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rellen Klima eine begünstigende Grundlage finden. Gleichwohl ist es kein Zufall, dass die meisten Vertreter*innen von Verschwörungskonstrukten Antisemiten sind.

5 Schematismus, Stereotypie und relative Starrheit der Reaktionsbildungen; Aggressivität, Selbstzentriertheit und Projektivität, das heißt die Neigung für alles irgendwie negative Verantwortliche im Außen, im »Anderen«, zu suchen, in Manipulation und Verschwörung – als eng miteinander verbundene Bestandteile eines autoritätsgebundenen Syndroms sind diese und andere Momente über die letzten 70 Jahre bis heute immer wieder untersucht und belegt worden. Auf der sozialpsychologischen Ebene der Konstitution der Subjekte müssen diesbezüglich gerade Erfahrungen von Ohnmacht und Frustration als ein zentraler Bestandteil der Herausbildung von bestimmten Mustern internalisierter Reaktionspotenziale identifiziert werden: Personen, »who failed […] to strike a balance between renunciations and gratifications, and whose whole inner life is determined by the denials imposed upon them from outside, not only during childhood but also during their adult life«, bauten demgegenüber eine Innenwelt auf, die konsequent gegen die Außenwelt gesetzt werde, stellt Adorno in The Authoritarian Personality (1975 [1950], S. 483) fest. »They can exist only by self-aggrandizement«, führt er weiter aus, »coupled with violent rejection of the external world« und »by building up a pseudoreality against which their aggressiveness can be directed without any overt violation of the ›reality principle‹« (ebd.). »[O]hne offene Verletzung des ›Realitätsprinzips‹« meint hier auch, ohne klinische Symptome zu manifestieren bzw. sich durch kulturell unvermittelbare Inhalte von der sozialen Umwelt abzukoppeln. Diese im konkreten Sinn konformistische Dynamik verweist nochmals auf den gesellschaftlich-politischen Resonanzboden als entscheidenden Aspekt. Diese von Adorno analysierten psychologischen und inhaltlichen Muster sind – im Gegensatz zu anderen, nun weitgehend historischen – in empirischen Untersuchungen in Deutschland am Beginn des 21. Jahrhunderts als zentrale Bestandteile eines autoritären Syndroms nachweisbar. Die Verbreitung entsprechender (sozial-)psychologischer Strukturen wird nicht zuletzt durch die in erschreckend großen Teilen der Bevölkerung vor45

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handene Bereitschaft belegt, Ansätze und Elemente von Verschwörungsideen zur »Erklärung« von heutiger Politik und Gesellschaftsordnung zu akzeptieren. In der Kombination mit deren starkem Zusammenhang mit antidemokratischen, Kompromiss, Dialog und (Selbst-)Reflexivität ablehnenden Haltungen wird auch ein wesentlicher Teil des Aufkommens und des Erfolgs autoritärer politischer Kräfte und Bewegungen verständlich (s. Decker et al., 2018). Dazu gehört auch die Tendenz zu Ethnozentrismus als kognitive Bevorzugung und/oder als bevorzugter Umgang mit der Eigengruppe. Die behauptete personalisierende »Verschwörung« ist Ausdruck einer imaginierten, letztlich in ihren Konsequenzen realen, ob nun virtuellen oder physischen »Gemeinschaft der Wissenden« oder »der Bedrohten«. Obwohl Angehörige sozial, politisch oder anderweitig marginalisierter Schichten oder Milieus entsprechend – zumindest statistisch – häufiger die eigene Marginalisierung rationalisierende Verschwörungsvorstellungen anzunehmen bereit sind (so bereits Mirowsky & Ross, 1983), erscheint das selbstzentrierte Empfinden, die starke affektive Besetzung von Marginalität, unabhängig davon als ausschlaggebendes Moment. Der geschaffene emotionale Mehrwert hilft Isolation und Frustration zu kompensieren und die eigene Wichtigkeit und Handlungsmacht zu bestätigen. »There is something about it which appeals to the ego in people. You suddenly feel empowered by having secret knowledge«, so beschrieb dies 2011 eine Person, die einen geschlossenen Zirkel des sogenannten »9/11 Truth Movement«, eine paradigmatische in-group, verlassen hatte (zit. n. Stahl, 2011, o. S.).12 Insofern werden soziale Gruppenabschottung und inhaltliche Unaufklärbarkeit (auch) verständlich als eine kommunikativ und in Interaktion verfertigte Barriere, aus der insbesondere die in-group oder Person eine Gratifikation bezieht bzw. diese herstellt und die bestimmte soziale Funktionen über die Nutzung als emotionale Krücke hinaus erfüllt: »It is argueable that occupying the role of mistrusted person becomes a way of life […], providing them with an identity not otherwise possible« (Lemert, 1962, S. 17; Herv. d. A.). Entsprechend wird diese Situation einer im Kern konformistischen, selbstzentrierten Rebellion nicht nur immer wieder aktiv hergestellt und autoritär angeeignet, sondern auch die Welt, in der diese stattfindet und Sinn erhält, als Erfahrungsraum gestaltet. 12 Vgl. dazu und zum Folgenden insgesamt auch den Beitrag von Carolin Engels & Sebastian Salzmann i. d. Bd.

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Soziologisch fungieren bestimmte Sets von Gehalten als »Erkennungszeichen der Zugehörigkeit zu einem bestimmten, subkulturellen Milieu« – können »Symbolcharakter« annehmen (Volkov, 2000, S. 84). Sie stellen eine schematisierte, spezifische Inhalte und entsprechende Emotionen implizierende und damit aufgeladene, positionierende Haltung dar, in bestimmter Weise bestimmten Fragen »gegenüber einen Standpunkt zu beziehen« (ebd.). In geschlossenen Gruppen, die sich über die Zustimmung zu und Aufrechterhaltung von bestimmten Vorstellungen definieren und daraus ein geteiltes Selbstbild beziehen, wird eine Verletzung entsprechend akzeptierter Normen von Kommunikation unlösbare Konflikte verursachen: Wie im Fall der zuvor durch Jeremy Stahl (2011) zitierten Person kann ein Ausschluss bereits erfolgen, wenn auch nur einzelne Punkte der – als Kern von Abweichung und »Rebellion« definierten – Gruppen- bzw. Wahrnehmungsklammer des Verschwörungskonstrukts in Zweifel gezogen werden oder gar lediglich zur Diskussion gestellt werden sollen.

6 Eine Verschwörungsvorstellung kann weder immanent kritisiert noch inhaltlich argumentativ widerlegt werden. Die Tatsache, dass der im Denken in »Verschwörungen« behauptete Sinn – das Wirken personengebundener, böswilliger Manipulationen und bedrohlicher Machenschaften – in jedem Fall unsichtbar ist, lässt die Struktur unangreifbar bzw. zur Falle werden: Das Fehlen jeden Beweises wird unter Annahme der Allmacht der »Verschwörung« zum besten Beweis – denn wie mächtig muss diejenige Gruppe sein, die ihre eigene Nichtexistenz beweisen kann? Das Denken in »Verschwörungen« funktioniert tendenziell  – die zusammenhängende Totalität gesellschaftlicher Struktur spiegelnd – als ein geschlossenes System, das letztlich seine eigene Widerlegung mit enthält und sich von jeder verunsichernden Erfahrung abschottet bzw. sich diese aneignet. Es »neigt«, so Léon Poliakov (1988, S. 45), »in einer unangenehmen Weise dazu, ganz seine entscheidenden Beweise aus dem Fehlen von Beweisen zu erheben […]. Besteht die größte List des Teufels nicht gerade darin, den Glauben zu erwecken, er existiere überhaupt nicht?« Die Relevanz des Denkens in »Verschwörungen« muss ebenso sehr wie als politischer Katalysator als ein gesellschaftliches Symptom verstanden werden. Allzu viele, so formuliert es Anna Merlan in Republic of Lies (2019, 47

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S. 14) prägnant, sehen die gesellschaftlich-politischen Entwicklungen und Konflikte der Gegenwart als »millions of snares, laid by a menacing group of enemies, all the more alarming for how difficult they are to identify and pin down« – eine Wahrnehmung, die »a disturbing thirst for vengeance, a willingness to punish enemies and vanquish evildoers« legitimiert und rationalisiert. Bereitschaft zu Vertrauen und Kompromiss, Toleranz für Ambiguität und Dissonanz, Anerkennung von Ambivalenz und Differenz – ebenso unabdingbare wie prekäre Bedingungen demokratischer Öffentlichkeit und Politik – werden in der Tendenz in jeder Verschwörungsvorstellung zugunsten von externalisierender Projektion und Personalisierung, von manichäischen Feindbildern und absoluten Machtansprüchen (weiter) entwertet, ambivalente Realität wird als eindeutige »Gegenwelt« (Winckler, 1970) rekonstruiert und praktisch angeeignet. Die Enttäuschung darüber, dass so umfassend wie nie zuvor zugängliche, isoliert beobachtbare und meist banale, kontingente Fakten der Welt keinen »tieferen Sinn« verleihen, wird in ein ebenso starkes, autoritäres Bedürfnis nach personaler, verortbarer und damit notwendig personalisierter Verantwortung und Schuld umgemünzt. Dass das weitgehend ohnmächtige individuelle Leiden an Herrschaft und Ausbeutung allein der Fortschreibung von Herrschaft und Ausbeutung dient, wäre im Gegensatz dazu nur gesellschaftlich und strukturell abzuschaffen. Literatur Adorno, T. W. (1975 [1950]). Studies in the Authoritarian Personality. Gesammelte Schriften, Bd. 9.1 (S. 143–509). Frankfurt/M.: Suhrkamp. Arendt, H. (1970). Macht und Gewalt. München: R. Piper & Co. Auerbach, H. (1994). »Kriegserklärungen« der Juden an Deutschland. In W. Benz (Hrsg.), Legenden – Lügen – Vorurteile. Ein Lexikon zur Zeitgeschichte (S. 122–126). 6. Aufl. München: dtv. Butler, L. D., Koopman, C. & Zimbardo, P. G. (1995). The Psychological Impact of Viewing the Film JFK: Emotions, Beliefs, and Political Behavioral Intentions. Political Psychology, 16(2), 237–257. Cameron, N. (1943). The Paranoid Pseudo-Community. American Journal of Sociology, 49(1), 32–38. Caumanns, U. & Niendorf, M. (2001). Raum und Zeit, Mensch und Methode. Überlegungen zum Phänomen der Verschwörungstheorie. In U. Caumanns & M. Niendorf (Hrsg.), Verschwörungstheorien: Anthropologische Konstanten  – historische Varianten (S. 197–210). Osnabrück: Fibre. Decker, O., Schuler, J. & Brähler, E. (2018). Das autoritäre Syndrom heute. In O. Decker & E. Brähler (Hrsg.), Flucht ins Autoritäre. Rechtsextreme Dynamiken in der Mitte der Gesellschaft (S. 117–156). Gießen: Psychosozial-Verlag.

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Biografische Notiz

Florian Hessel, Dipl.-Soz. Wiss., ist Lehrbeauftragter für Sozialpsychologie und Sozialtheorie der Fakultät für Sozialwissenschaft der Ruhr-Universität Bochum sowie der TU Hamburg und arbeitet als freier Bildungsreferent und wissenschaftlicher Berater in der Antisemitismusprävention und Demokratieförderung. Er ist Gründungsmitglied von Bagrut e. V. Verein zur Förderung demokratischen Bewusstseins.

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On the Spectrum: Verschwörungstheorien und Erklärungen1 Martin Jay

Der vorliegende Essay wurde geschrieben unter dem Eindruck eines außergewöhnlichen Ereignisses – oder vielmehr einer Art von Ereignis, das leider allzu gewöhnlich geworden ist. Ein amtierender US-amerikanischer Präsident hat eine obskure und nicht vertrauenswürdige Quelle retweetet, die einen früheren Präsidenten der Komplizenschaft bei einem angeblichen Mord an einem verurteilten Pädophilen in einem Bundesgefängnis beschuldigt. Wenn Sie dies lesen, wird diese bizarre Episode dem wohlverdienten Vergessen anheimgefallen sein, aber Sie können sich darauf verlassen, dass es viele vergleichbare Absurditäten geben wird, die ein zunehmend beunruhigendes Zeichen unserer zutiefst beunruhigten Zeiten illustrieren: das Prosperieren von Varianten abwegiger Pseudoerklärungen realer Ereignisse, für die sich die Bezeichnung »Verschwörungstheorien« etabliert hat.2 1

Der Text wurde zuerst auf Englisch veröffentlicht in Salmagundi, 206–207 (2020). Übersetzung und Abdruck mit freundlicher Genehmigung durch den Autor. Die Übersetzung wurde vom Autor durchgesehen und drei Quellen wurden aktualisiert. Die Übersetzer danken Janne Misiewicz und Pradeep Chakkarath für wertvolle Hinweise [Anm. d. Übers.]. 2 Um nur einige wenige der zuletzt populärsten Beispiele zu nennen: die Ermordung John F. Kennedys, die 9/11-Vertuschung, Area 51 und die Außerirdischen, die gefakte Mondlandung, die CIA und AIDS, die Reptiloidenelite, Obama und »Birtherism«, die Frankfurter Schule und der »Kulturmarxismus«, das »inszenierte« Schulmassaker von Sandy Hook, die »Morde« an Vincent Foster und Seth Rich. Ob diese Beispiele den Test der Zeit bestehen und sich zu solch langlebigen Exemplaren der Gattung wie den Illuminaten oder den »Weisen von Zion« gesellen, bleibt abzuwarten.

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Das Aufblühen derartiger Theorien zu erklären, hat sich als schwierig erwiesen, und die Frage, wie man ihnen begegnen kann, stellt eine noch größere Herausforderung dar. Im Großen und Ganzen haben die Kommentator*innen versucht den Ursprung von Verschwörungstheorien zu erklären, indem sie deren psychologische Ursachen und wachsende Popularität, vermittelt durch die Verbreitung neuer Medien und der damit einhergehenden Verstärkung ihrer Botschaft, in den Blick genommen haben. Aufbauend auf der bedeutenden Arbeit des Historikers Richard Hofstadter (1964) aus den 1960er Jahren über den »paranoid style« in der politischen Geschichte Amerikas,3 gehen sie häufig sehr schnell von den Theorien selbst zum Bewusstsein derer über, die solche Theorien vertreten (vgl. z. B. Imhoff, 2018).4 Deren Hang, häufig mehr als nur eine einzige angebliche Verschwörung anzunehmen – man denke an exemplarische Figuren wie Alex Jones, Lyndon LaRouche und den bereits erwähnten USamerikanischen Präsidenten  –, hat die Kommentator*innen veranlasst, oftmals die toxische Mischung aus Verfolgungsgefühlen, Misstrauen gegenüber Autorität(en), Projektionen von Ängsten und manifester Leichtgläubigkeit hervorzuheben, die anfällige Individuen dazu neigen lässt, vereinfachende Antworten auf komplexe Fragen zu suchen, um mit Ungewissheit und Unsicherheit umgehen zu können (vgl. z. B. Goertzel, 1994; zur Kritik Franks et al., 2017; Hagen, 2018). Jene Mentalität, so das Argument, die nicht zwischen Aberglauben und Wissenschaft unterscheiden kann, und okkulte Pseudowissenschaften wie die Astrologie ernst nimmt, erliege ebenso leicht Verschwörungstheorien, insbesondere dann, wenn plötzliche und schockierende Ereignisse sich scheinbar normalen Erklärungen entziehen (bspw. die Ermordung John F. Kennedys, 9/11, der Tod Prinzessin Dianas oder die US-amerikanische Präsidentschaftswahl 2016). Als Bewältigungsstrategien zum Umgang mit traumatischen Erfahrungen bieten sie eine gewisse Beruhigung, wenn Schutzmechanismen zusammenbrechen, die normalerweise die Aufgabe übernehmen, existenzielle Ängste abzuwehren. 3

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Der Artikel wurde bald schon in einem seitdem regelmäßig neu aufgelegten Buch abgedruckt, zuletzt 2008 in einer Edition bei Vintage mit einer Einleitung von Sean Wilentz. Für neuere Kritiken s. Radnitz & Underwood (2017), Hagen (2017). Der Rückgriff auf Psychopathologie als eine Erklärung für verabscheuungswürdige politische Überzeugungen begann vor dem Zweiten Weltkrieg mit Versuchen, Rassismus und Totalitarismus zu erklären (vgl. Gilman & Thomas, 2016).

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Die Forscher*innen verweisen zudem auf das kompensierende Gefühl der Überlegenheit, das Verschwörungstheorien ihren Vertreter*innen vermittelt – ein Gefühl der Überlegenheit gegenüber der angeblich ahnungslosen Masse, die von den offiziellen Darstellungen, die die Wahrheit verdeckten, hinters Licht geführt würden. Sie weisen auch darauf hin, dass Verschwörungstheoretiker*innen imaginierte Verschwörer*innen zu Sündenböcken machen, die zur Verantwortung gezogen und bestraft werden sollen, um sich selbst jeder Verantwortung für was auch immer passiert sein mag zu entziehen. In ihren Überlegungen zur wachsenden Popularität solcher Theorien, die über die gesellschaftlichen Ränder hinausreicht, machen die Kommentator*innen oftmals das explosive Wachstum der sozialen Medien und den Zusammenbruch von Gatekeeper-Funktionen im digitalen Raum dafür verantwortlich. Was sich vormals durch informelle Gerüchte und die Launen interpersonaler Übertragung ausgebreitet hat, wird nun, exponentiell gesteigert, durch ein unreguliertes Internet verbreitet, das die Zeit verkürzt und die Entfernung verdichtet – Zeit und Distanz, die Ideen brauchen, um Glaubwürdigkeit zu erlangen, egal wie ungeprüft und unplausibel sie sind. Welche Gründe man auch immer für ihre Herkunft, Verbreitung und Funktion angeben mag, die starke Zunahme solcher Verschwörungstheorien hat es zunehmend schwieriger gemacht, zwischen tatsächlichen »fake news« und »fake ›fake news‹« zu unterscheiden, da Verbreiter der erstgenannten in unredlicher Absicht versuchen, diejenigen zu diskreditieren, denen einst die Unterscheidung zwischen beiden anvertraut wurde. Wir leben in einer Zeit, in der der angebliche »Anführer der freien Welt« sich gegen die Anschuldigung verteidigen konnte, er habe heimlich mit einer feindlichen Macht zusammengearbeitet, um eine Wahl zu seinen Gunsten zu manipulieren, indem er den Vorwurf selbst zum Ergebnis einer Verschwörung eines »deep state« gegen ihn erklärte. Der Trugschluss des tu quoque, durch den der Beschuldigte den Vorwurf umkehrt und behauptet, sein Ankläger sei in heuchlerischer Weise desselben Verbrechens schuldig  – eine Technik, die von dem erwähnten amtierenden5 Präsidenten perfektioniert wurde –, trägt dazu bei, den Blick noch weiter zu trüben. Oder um eine weitere Metapher zu verwenden, wir befinden uns in einem Spiegelkabinett in dem der conspirator-in-chief sich selbst als großer Verschwörungstheoretiker entpuppt. Man muss zur Kenntnis nehmen, dass 5

Geschrieben 2020 [Anm. d. Übers.].

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diese Art und Weise der trügerischen Argumentation – egal wie sehr dieser US-Präsident sie auch persönlich perfektioniert haben mag – im Diskurs um Verschwörungstheorien leider eine lange Tradition aufweist. Als der Begriff im Nachgang der Ermordung John F.  Kennedys populär wurde, um diejenigen abzuqualifizieren, die die offizielle Darstellung der Warren Kommission infrage stellten, behaupteten die so Bezeichneten im Gegenzug tatsächlich, die CIA habe sich gezielt verschworen, sie als Spinner zu dämonisieren, und würde so – in der Sprache unserer Zeit – die Theorie von der Verschwörungstheorie »als Waffe einsetzen«, um eine wirkliche Aufarbeitung unbequemer Wahrheiten zu verhindern.6 All dies wurde breit diskutiert und ich bin unsicher, ob ich dem, was bereits geschrieben wurde über die vermuteten psychopathologischen Ursachen von Verschwörungstheorien und über die Art und Weise, wie sie ein prominenter Bestandteil unserer aktuellen politischen Kultur geworden sind, viel hinzuzufügen habe (vgl. dazu z. B. Melley, 1999; Goldberg, 2001; Fenster, 2008; Barkun, 2013). Ich möchte mich dem Phänomen stattdessen aus einem anderen Blickwinkel annähern: der Beziehung zwischen Verschwörungstheorie und dem, was normalerweise als verantwortungsbewusste Erklärung in den Humanwissenschaften angesehen wird, insbesondere in Geschichtserzählungen.7 Auf diese Weise werden wir vielleicht die Position solcher Theorien innerhalb des Plausibilitätsspektrums angemessener erfassen können. Anstatt Verschwörungstheorien eindeutig jenseits aller Grenzen des Akzeptierten zu verorten, sie entsprechend allein als Manifestationen irrationaler Pathologien, magischen Denkens und technologisch begünstigter Massenhysterien zu betrachten, können wir so ein besseres Verständnis entwickeln, wie schwer, wenn nicht gar unmöglich, es sein wird, sie zu beseitigen. Die offensichtlichste Verbindung von sogenannten Verschwörungstheorien mit dem, was gewöhnlich als valide Erklärung anerkannt wird, ist die unabweisbare Existenz tatsächlicher Verschwörungen in der Geschichte, geheimer Komplotte von Gruppen von Menschen, die, erfolgreich oder nicht, versucht haben, Veränderungen herbeizuführen, die sie auf anderem Wege nicht erreichen konnten. Wie die Nixon Tapes zeigen, rauchen manchmal 6 7

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Vgl. den Diskussionsverlauf unter https://projectunspeakable.com/conspiracy-theory -invention-of-cia (04.04.2022). Für eine Auswahl von Überlegungen zu diesem Thema vgl. die von Coady (2006) und Dentith (2018) herausgegebenen Bände.

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auch die metaphorischen Schusswaffen verräterisch, und wir entdecken, dass, was öffentlich abgestritten wurde und auf den ersten Blick höchst unplausibel erschien, tatsächlich passiert ist. Nicht nur, dass Paranoiker*innen wirkliche Feinde haben können, paranoide Fantasien stehen manchmal auch mit einem Fuß auf dem Boden der Realität. Die Tabakindustrie hat sich tatsächlich zusammengetan, um die krebserregenden Auswirkungen des von ihr verkauften Produkts zu leugnen, und die Pharmaindustrie hat es wirklich unternommen, die massenhafte Abhängigkeit von Opioiden zu befördern. Es steckte immer ein Körnchen Wahrheit in dem Schreckgespenst von der kommunistischen Verschwörung, die während des Kalten Krieges so sehr gefürchtet wurde, obwohl es genügend andere, weniger dubiose Erklärungen für den Widerstand gegen den kapitalistischen Westen gab. Noch ist es grundsätzlich immer der Fall, dass wirkliche Verschwörungen unausweichlich finsteren Zwecken dienen; man denke zum Beispiel an die »Operation Walküre«, den Plan deutscher Militärs 1944, Hitler zu ermorden, der unglücklicherweise sein Ziel nicht erreicht hat. Und die amerikanische Geschichte wäre ganz anders verlaufen ohne die heimliche Verabredung der Sons of Liberty, sich als Indianer zu verkleiden und etwas Tee in das Hafenbecken von Boston zu werfen. Es wäre daher selbst ein Zeichen psychologischer Verleugnung – was als »conspiracy theory phobia« bezeichnet wurde (vgl. Räikkä & Basham, 2018) –, jede Spekulation über tatsächliche Verschwörungen von vornherein zu diskreditieren.8 Ebenso wenig trifft zu, dass die politischen Vorlieben der Verschwörungstheoretiker*innen automatisch stärker mit rechten als mit linken Sympathien zusammenhängen, wie der gegen Trump erhobene Vorwurf der Zusammenarbeit mit Russland klar zeigt. Vice, die 2018 veröffentlichte Filmbiografie über Dick Cheney mit Christian Bale in der Hauptrolle, gleicht Cheney und seine Frau Lynne explizit den literarischen Bilderbuchintriganten, den Macbeths an. Der Film zögert nicht, die Entscheidung, gegen Saddam Hussein in den Krieg zu ziehen, umstandslos als neokonservative Verschwörung zu präsentieren, entworfen, um die Macht der imperialen Präsidentschaft auf der Grundlage einer starken »unitary executive theory« zu befördern.9 Derartige Fälle zeigen, dass das voreilige Ablehnen aller unwahrscheinlichen Erklärungen auf der Grundlage von Beweisen, 8 9

Vgl. dazu auch den Beitrag von Florian Hessel i. d. Bd. Der Anspruch auf absolute Exekutivgewalt ohne Beeinträchtigung durch andere Regierungsorgane basiert auf einer Interpretation des Artikels II der amerikanischen Ver-

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die ursprünglich ungenügend zu sein scheinen, und von Überlegungen, die auf den ersten Blick unlogisch erscheinen, nicht nur ein Fehler sein mag, sondern sogar legitimen politischen Anliegen entgegenstehen kann (wie auch immer man diese definiert). Es lässt sich schwer abschätzen, wie groß die Zahl der Erklärungen ist, die einmal als dubiose Verschwörungstheorien angesehen wurden und die sich später als wahr herausgestellt haben – aber es sind mit Sicherheit genug, um einer apriorischen Haltung des absoluten Skeptizismus zu widerstehen. Es gibt jedoch neben der Existenz der gelegentlichen realen Verschwörung gravierendere Gründe, die eine nuanciertere Beurteilung von Verschwörungstheorien rechtfertigen, und diese möchte ich eingehender erörtern. Das Schlagwort »Verschwörungstheorie« selbst, dies muss zuallererst festgehalten werden, ist nicht rein deskriptiv, sondern es enthält immer eine negative Konnotation, die es von gradlinigen Erzählungen, von wirklichen Verschwörungen, d. h. geheimen gemeinschaftlichen Verabredungen, unterscheidet. Obwohl der Ursprung des Schlagworts bis weit in die ersten Jahre des 20. Jahrhundert zurückverfolgt worden ist, hat es erst, nachdem es durch den bedeutenden Wissenschaftstheoretiker Karl Popper 1945 in seiner kontroversen Denunziation des Totalitarismus, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, in den Blick genommen wurde, weitreichende Aufmerksamkeit erfahren und mehr pejorative als deskriptive Bedeutung angenommen (Popper, 1980 [1945], S. 181).10 Poppers Ziel war es, ein Modell historischer Erklärung zu verteidigen – oder um es weiter zu fassen, eines für die Gesellschaftswissenschaften als Ganzes –, das den Methoden der Naturwissenschaften folgt, in denen plausible Annahmen in Bezug auf Ursachen immer empirischen Widerlegungen zugänglich sind. Er begann, indem er Verschwörungstheorien als eine säkularisierte Version von Pseudoerklärungen identifizierte, angeboten von jenen, die an den Einfluss von Göttern auf die menschlichen Angelegenheiten mittels mythischer Kräfte glauben. Derartige Erklärungen personifizieren unpersönliche Ursachen und schreiben bestimmte Ergebnisse den Intentionen jener zu, die sich diese Ergebnisse erhoffen. Popper ließ persönliche Intentionen nicht unberücksichtigt, zumindest nicht solche, die fassung: »Die vollziehende Gewalt [der Vereinigten Staaten] soll einem Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika übertragen sein.« 10 Popper hat dies in einem Essay in Vermutungen und Widerlegungen. Das Wachstum wissenschaftlicher Erkenntnis (2009 [1963]) weiterentwickelt.

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lebende Menschen motivieren, aber er betrachtete sie als irrelevant für die wissenschaftliche Erklärung von Ereignissen: »In allen sozialen Situationen gibt es Individuen, die etwas tun, die etwas tun wollen, die gewisse Ziele haben. Soweit sie so handeln, wie sie es wollen, und damit die Ziele erreichen, die sie anstreben, entsteht kein Problem für die Sozialwissenschaften (außer dem Problem, ob ihre Wünsche und Ziele vielleicht sozial erklärt werden können, etwa durch gewisse Traditionen). Die charakteristischen Probleme der Sozialwissenschaften entstehen nur durch den Wunsch, die unbeabsichtigten Konsequenzen zu erkennen und speziell die unerwünschten Konsequenzen, die auftreten können, wenn wir bestimmte Dinge tun« (Popper, 2009 [1963], S. 191).

Da unerwünschte Konsequenzen zahlenmäßig erwünschte bei Weitem übersteigen, sei die Bedeutung von Handlungsmacht in der Geschichte, so behauptete Popper, den unpersönlichen Strukturen untergeordnet, die notwendigerweise menschliche Absichten hintergehen. Zudem sollten Individuen oder sogar kleine Gruppen nicht der eigentliche Schwerpunkt von sozialwissenschaftlichen Untersuchungen sein, vielmehr sei zu analysieren: »[W]arum existieren und wie funktionieren Institutionen (etwa Polizei, Versicherungsgesellschaften, Schulen oder Regierungen) und gesellschaftliche Kollektive (etwa Staaten, Nationen, Klassen oder andere gesellschaftliche Gruppen). Der Verschwörungstheoretiker wird annehmen, daß Institutionen vollständig verstanden werden können als ein Ergebnis bewußter Gestaltung; und wie Kollektiven schreibt er auch den Institutionen eine Art Gruppenpersönlichkeit zu und behandelt sie wie Teilnehmer an einer Verschwörung, ganz als ob sie einzelne Individuen wären« (ebd., S. 192f.).

In einer begleitenden Fußnote bezog sich der streitbare Liberale Popper auf einen unerwarteten Verbündeten, Karl Marx, der die Behauptung, Kapitalist*innen hätten sich verschworen, die Massen zu versklaven, zugunsten einer strukturellen Analyse zurückgewiesen hatte – einer Analyse namentlich der Art und Weise, wie Kapital als soziale Form die Ausbeutung einer Klasse durch eine andere bedingt. Kritiker*innen wiesen zügig auf Schwachstellen in Poppers Argumentation hin (vgl. z. B. Pidgen, 1995). So kann die Alternative zwischen 57

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menschlicher Handlungsmacht und gesellschaftlicher Struktur nicht vorab per Dekret entschieden werden, wobei lediglich Letztere als Objekt von genuinem »wissenschaftlichen« Interesse zugelassen wird. Marx mag zu Recht zitiert werden, um die Behauptung zu stützen, dass unter kapitalistischen Produktionsbedingungen unpersönliche strukturelle Kräfte größtenteils das menschliche Verhalten determinieren, denn in der Tat ist dies eines der Kennzeichen ihrer unterdrückenden Natur. Aber im Kampf, dieses System zu überwinden, müssen seine Opfer ihre eigene Geschichte machen (was später ein marxistischer Theoretiker wie Antonio Gramsci und ein Aktivist wie Lenin klar verstanden haben). Zudem schließt auch die Tatsache, dass Ergebnisse oftmals nicht intendiert sind, die Möglichkeit keineswegs aus, dass Verschwörungen, geheime gemeinschaftliche Verabredungen, eine bestimmte bedeutende Rolle in diesem Prozess spielen. Obwohl die Watergate-Einbrecher sicherlich nicht die Blamage und den Rücktritt Richard Nixons anstrebten, waren sie Teil einer tatsächlichen kriminellen Verschwörung, die diese Ergebnisse zeitigte. In der Tat sind unbeabsichtigte Folgen nicht weniger wahrscheinlich, wenn Akteur*innen in aller Öffentlichkeit statt im Geheimen agieren. Daher ist das Scheitern eines Plans kein grundsätzliches Argument gegen Verschwörungstheorien im Allgemeinen. In der Tat können wir erst, wenn wir Intentionen, öffentliche wie private, in unseren Geschichtserzählungen berücksichtigen, diese als ironische Geschichten nicht intendierter Konsequenzen schreiben.11 Kurz gesagt entschied sich Popper vorab für Struktur und gegen Handlungsmacht, für unbeabsichtigte Konsequenzen und gegen bewusste Gestaltung als Merkmale sozialwissenschaftlicher und historischer Erklärung (im Gegensatz zu bloßer Geschichtsschreibung). Anders formuliert, er wertete Ursachen ungleich wichtiger für das Verständnis historischer Ereignisse als Gründe.12 Für die modernen Naturwissenschaften hat Kausalität selbstverständlich frühere Erklärungsweisen, die der Welt Sinn verleihen sollten, abgelöst. Lediglich in bestimmten religiösen Kreisen kann das sogenannte teleologische »argument from design«, dem zufolge Komple11 Für eine eingehende Diskussion dieses Sachverhalts vgl. Jay (2013). 12 Die Unterscheidung zwischen Ursachen und Gründen wurde sowohl durch die Theologie als auch die Philosophie nicht schon immer gemacht. Leibniz’ »Satz des zureichenden Grundes«, in dem er dafür argumentiert, dass selbst historische Ereignisse letztlich rational begründet werden können, unterscheidet nicht klar zwischen beiden. Möglicherweise grenzte erst Schopenhauer 1813 in Über die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde Ursache und Grund klar voneinander ab.

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xität dem vorsehenden Eingriff eines göttlichen Handwerksmeisters zugeschrieben wird, immer noch mit auf zufälligen Mutationen und Anpassung an die äußere Umwelt basierenden Evolutionstheorien konkurrieren. Obwohl die eingängige Wendung »Nichts geschieht ohne Grund«13 noch gelegentlich den Opfern unerklärlicher oder ungerechter Ereignisse Trost bietet, die ansonsten als grausame Willkür erscheinen würden, hat sie keine Bedeutung für die Erklärung von Naturereignissen. San Francisco mag von einem Erdbeben zerstört werden, aber nicht deshalb, weil Gott es für das sündige Verhalten seiner Bewohner*innen bestraft. In Bezug auf menschliche Angelegenheiten neigen wir weniger dazu, unser Handeln und dessen Folgen allein dem Wirken kausaler Prozesse zuzuschreiben, so sehr wir auch von Analogien aus den Naturwissenschaften in Versuchung geführt werden mögen. Unser hartnäckiger Glaube an die Möglichkeit menschlicher Freiheit, die im Widerspruch zum Determinismus in der Natur steht, wie Philosophen wie Kant immer wieder betonten, hat zur Folge, dass es uns schwerfällt, menschliches Handeln auf das instinktgesteuerte Verhalten von Tieren oder die Programmierung mechanischer Automaten zu reduzieren. Obwohl Sozialwissenschaftler*innen überzeugend gezeigt haben, dass es oftmals kollektive Muster gibt, die individuelle Handlungen transzendieren – jene stochastischen Wahrscheinlichkeiten, die Statistik möglich machen  –, bleibt immer ein Rest von Kontingenz selbst in den am unnachgiebigsten erscheinenden Verhaltensmustern. So konnte Emile Durkheim zeigen, um ein klassisches Beispiel anzuführen, dass die Selbstmordrate innerhalb der Gesamtbevölkerung immer mehr oder weniger konstant blieb, aber er war nie in der Lage, in Einzelfällen vorherzusagen, wer tatsächlich sein Leben beenden würde.14 Wir könnten sagen, dass Verschwörungstheorien  – wenn auch vielleicht etwas zu begierig – eine tatsächliche Differenz aufgreifen, namentlich die Differenz zwischen naturwissenschaftlicher Erklärung, die allein auf Kausalität basiert, und sozialwissenschaftlicher Interpretation, die darauf insistiert, sowohl den Gründen als auch den Ursachen zumindest etwas Aufmerksamkeit zu widmen, und die zwischen Handlungen und 13 Die Redewendung »Everything happens for a reason« wurde im gesamten Text der dem deutschen Sprachgebrauch näheren klassischen Formulierung nihil fit sine causa folgend übertragen [Anm. d. Übers.]. 14 Durkheims klassische Studie Le suicide von 1897 liegt in deutscher Übersetzung in zahlreichen Ausgaben vor, aktuell bei Suhrkamp (2008, 1. Aufl.: 1983) [Anm. d. Übers.].

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bloßem Verhalten unterscheidet. Indem solche Theorien auf die Menschen zum Handeln motivierende Intentionalität bestehen – unabhängig davon wie sehr diese vielleicht auch von unbewussten Bedürfnissen angetrieben oder von Kräften außerhalb ihrer Kontrolle hintertrieben wird –, verweisen sie auf die Sinnhaftigkeit menschlichen Handelns und auf die daraus resultierende, moralische wie praktische Verantwortlichkeit für alles was daraus folgt. Obwohl es, ohne bestimmten Populärtheolog*innen zu nahe treten zu wollen, höchst unwahrscheinlich ist, dass »nichts ohne Grund geschieht«,15 ist es doch nicht weniger problematisch anzunehmen, dass dies nie der Fall sei. Wenn Menschen zusammenkommen – oder um bei der wortwörtlichen Bedeutung von »conspirare« zu bleiben, wenn sie gemeinsam atmen –, ersinnen sie manchmal Pläne, von denen sie hoffen, dass diese die Zukunft beeinflussen werden. Vertreter*innen von Verschwörungstheorien teilen zudem mit vielen Geisteswissenschaftler*innen eine Präferenz für die Interpretation gegenüber der Erklärung. Sie misstrauen den offiziellen Darstellungen der gesellschaftlich Mächtigen oder den gängigen Auffassungen der öffentlichen Meinung – dem, was im Falle guter Literaturkritiker*innen als naive Lesart eines Textes verachtet würde – und versuchen, latente Motive aufzudecken und verborgene Verbindungen zu erkennen. Auf diese Weise wenden sie eine Variante dessen an, was Paul Ricœur in einer berühmten Formulierung als »die Hermeneutik des Verdachts« bezeichnete.16 Indem Ereignisse behandelt werden, als handele es sich bei ihnen um Artefakte, die einer einzigen, bewussten Quelle entspringen – anstatt um das Ergebnis von Überdeterminiertheit oder bloßer Kontingenz –, emulieren Vertreter*innen von Verschwörungstheorien verbissen die Suche nach jenem nicht greifbaren »Muster im Teppich«, das der Erzähler in Henry 15 Seriöse Theolog*innen neigen wenig dazu, diese Idee zu akzeptieren. Man nehme z. B. Liefeld (2005, S.  473), der schreibt: »The Church also must make clear that the constantly repeated refrain ›Everything happens for a reason‹ is not Christian faith nor even a suitable basis for it. Such sentiments degenerate into paranoia even more often than they reflect authentic Christian faith in the providence of God.« Liefeld macht diesen Punkt im Kontext einer Kritik feministischer Argumente, die einen verschwörerischen Ursprung des Patriarchats behaupten. 16 Tatsächlich gibt es eine lebhafte Diskussion über den mutmaßlichen Zusammenhang zwischen Verschwörungstheorien und der Hermeneutik des Verdachts. Vgl. z. B. https:// philosophy.stackexchange.com/questions/41894/whats-the-difference-between-the -hermeneutics-of-suspicion-and-conspiracy-theory (04.04.2022).

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James gefeierter Kurzgeschichte zu ergründen sucht.17 Indem Zusammenhänge hergestellt werden, deren Relation sich dem oberflächlichen Blick entzieht oder die von den dafür Verantwortlichen bewusst verschleiert werden, huldigen sie der tätigen Vorstellungskraft. Weil ihre Vorstellungskraft, um es deutlich zu sagen, ein wenig hyperaktiv sein mag, kann man ihnen vorwerfen, Verbindungen zu sehen, die möglicherweise nicht wirklich existieren, und anschließend dann Ausflüchte zu finden, um dieses Deutungsmuster, das mehr ist als die Summe seiner Teile, zu retten. Dergestalt laden sie den Vorwurf exzessiver Projektion ihrer Ideen und Fantasien auf die Welt geradezu ein. Wir müssen allerdings anerkennen, dass ein gewisses Maß an Projektion für unsere Begegnungen mit der Welt unumgänglich ist. In ihrem Kapitel über die »Elemente des Antisemitismus« in der Dialektik der Aufklärung haben Max Horkheimer und Theodor W. Adorno (1987 [1947], S. 217) sogar nahegelegt: »In gewissem Sinn ist alles Wahrnehmen Projizieren. Die Projektion von Eindrücken der Sinne ist ein Vermächtnis der tierischen Vorzeit, ein Mechanismus für die Zwecke von Schutz und Fraß, verlängertes Organ der Kampfbereitschaft, mit der die höheren Tierarten, lustvoll und unlustvoll, auf Bewegung reagierten, unabhängig von der Absicht des Objekts. Projektion ist im Menschen automatisiert wie andere Angriffs- und Schutzleistungen, die Reflexe wurden.«

Obwohl Projektion ein überholter Schutzmechanismus zu sein scheint, könnte sie trotzdem sogar in den komplexesten kognitiven Begegnungen mit der Welt noch fortbestehen: »Das System der Dinge, das feste Universum, von dem die Wissenschaft bloß den abstrakten Ausdruck bildet, ist, wenn man die kantische Erkenntniskritik anthropologisch wendet, das bewußtlos zustandekommende Erzeugnis des tierischen Werkzeugs im Lebenskampf, jener selbsttätigen Projektion« (ebd., S. 218). So sehr man auch dubiose psychologische von begründbaren epistemologischen Projektionen scheiden möchte, bleiben beide, Horkheimer und Adorno zufolge, bis zu einem gewissen Grad miteinander verflochten: »Die Paranoia ist der Schatten der Erkenntnis« (ebd., S. 225). 17 Die gleichnamige Kurzgeschichte von 1896 ist auf Deutsch aktuell enthalten im Band Erzählungen (Kiepenheuer & Witsch, 2017, S. 323–364) [Anm. d. Übers.].

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Aus diesem Grund wäre es falsch, einen absoluten und undialektischen Gegensatz zu proklamieren zwischen einer »irrationalen« Mentalität, die Verschwörungstheorien befördert, und einer »rationalen«, die plausible Darstellungen der Natur oder der menschlichen Geschichte allein auf der Grundlage einer nüchternen Evaluation der harten Fakten hervorbringt. Sie sind besser positioniert als extreme Punkte innerhalb eines Spektrums von Erklärung und Interpretation, als Idealtypen, die selten der Komplexität unserer Versuche, der Welt Sinn abzugewinnen, gerecht werden. Verschwörungstheorien gruppieren sich dabei am projektiven, oder wenn man so will, am paranoiden Ende der Skala, wo das andere Extrem des passiven Empirismus und der kausallogischen Erklärung verschmäht wird. Aber der entscheidende Punkt ist hier, dass die Differenz zu plausibleren Darstellungen, die dem Equilibrium in der Mitte näher sind, graduell ist, nicht grundsätzlich. Oder um eine weitere Metapher zu verwenden, sie werden im Verhältnis zu Platons Begriff des pharmakon verständlich, wo die Dosierung das Heilmittel vom Gift unterscheidet. Spekulative Vorstellungskraft ist gesund, wenn sie diskreten »Fakten« plausible Bedeutung einflößt, die als weiter zu prüfende Hypothese dienen können, aber sie ist tödlich, wenn sie in der Luft hängende Schlösser errichtet. Diese Beziehung lässt sich noch besser veranschaulichen, wenn wir festhalten, dass Projektion, will sie sich nicht hinbewegen zum rein phantasmagorischen Endpunkt des Spektrums, durch selbstkritische Reflexion gemäßigt werden muss. Derartige Reflexion unterscheidet sich grundlegend von dem tu quoque-Fehlschluss, in dem das dergestalt Erscheinende lediglich das Spiegelbild des betrachtenden Subjekts darstellt, eine Verdoppelung des projizierenden Selbst (Trump, der vermutliche kriminelle Verschwörer, der die Untersuchung seiner Straftaten als »Hexenjagd« bezeichnet, die es auf ihn abgesehen hat). Stattdessen handelt es sich um eine Reflexivität, die skeptisch ist gegenüber übertrieben einfachen Erklärungen, denen zufolge alles das Resultat von bewusster Gestaltung anstatt glücklichen Zufalls ist und immer Strippenzieher hinter den Kulissen die Puppen zum Tanzen bringen. Es handelt sich um eine Reflexivität, die ihre Hermeneutik des Verdachts auf die eigenen Kreationen und die verdeckten Motive, die diese möglicherweise zum Ausdruck bringen, ausdehnt, anstatt anzunehmen, dass Kritik immer nur auf äußere Ziele gerichtet werden sollte. Es handelt sich um eine Reflexivität, die innehält, bevor sie Handlungsmacht allein einem vorab festgelegten Subjekt und keinem anderen zuspricht (George Soros kann nicht für alles verantwortlich gemacht werden!), und die sich 62

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weigert, Subjekten außergewöhnliche Macht zuzuschreiben, die zu grandios oder unplausibel ist, um jemals auch nur annähernd verifizierbar zu sein – jenen von David Icke postulierten reptiloiden Eliten, den »Weisen von Zion« mit ihren finsteren Protokollen, den Illuminati und anderen dämonisierten kollektiven Akteur*innen, die nie aus dem Schatten heraustreten. Aber wie sehr wir uns auch bemühen mögen, exzessive Projektion mit nüchterner Reflexion zu mäßigen, ist die Wahrscheinlichkeit doch gering, all jene fantasievollen Neigungen, die Verschwörungstheorien hervorbringen, zu eliminieren. Automatisch jeder Autorität zu misstrauen, mag ein Anzeichen pathologischen Denkens sein, aber dasselbe gilt für den blinden Gehorsam gegenüber den jeweils Herrschenden. Geschichte ist niemals lediglich das Werk von unpersönlichen, strukturellen Kräften oder der bloße Effekt von beliebiger Kontingenz, selbst wenn die sinnstiftenden Narrative, die wir uns zurechtlegen, selten, wenn überhaupt, auf zielgerichtetes Handeln reduziert werden können, sei dieses nun verdeckt oder nicht. Aber wenn Macht ein »acting in concert« ist, wie es Hannah Arendts berühmte Formulierung festhält, dann ist »conspirare« – »gemeinsam atmen« – unausweichlich, und etwas davon wird, im Besseren oder Schlechteren, außerhalb des prüfenden Blicks der Öffentlichkeit stattfinden. Und wenn nun inhaftierte prominente Pädophile trotz aller offenkundigen Vorsichtsmaßnahmen einen Weg finden, der Anklage zu entgehen und dem Heer ihrer unbekannten Helfershelfer*innen die Verlegenheit zu ersparen, öffentlich benannt zu werden, wer kann danach mit absoluter Gewissheit sagen, dass sie durch ihre eigene Hand den Tod fanden? Übersetzt von Paul Mentz und Florian Hessel Literatur Barkun, M. (2013). A Culture of Conspiracy. Apocalyptic Visions in Contemporary America. 2. Aufl. Berkeley, Los Angeles: Univ. of California Press. Coady, D. (Hrsg.). (2006). Conspiracy Theories. The Philosophical Debate. London, New York: Routledge. Dentith, M. R. X. (Hrsg.). (2018). Taking Conspiracy Theories Seriously. London: Rowman & Littlefield. Fenster, M. (2008). Conspiracy Theories. Secrecy and Power in American Culture. 2., korr. u. erw. Aufl. Minneapolis, London: Univ. of Minnesota Press.

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Biografische Notiz

Martin Jay ist Prof. em. für Geschichte an der University of California-Berkeley. Zu seinen zahlreichen Büchern zur Intellectual History und Gesellschaftstheorie zählen Dialektische Phantasie. Die Geschichte der Frankfurter Schule und des Instituts für Sozialforschung 1923–1950 (1976) und Reason After Its Eclipse. On Late Critical Theory (2016). Zuletzt ist von ihm erschienen Genesis and Validity. The Theory and Practice of Intellectual History (2022).

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Nichtklassische Konspirologie Ein Essay Alexey Levinson1

Seiner lexikalischen Form nach sollte das russische Wort Konspirologie (конспирология; konspirologiya) zwar einen bestimmten wissenschaftlichen Forschungsbereich bezeichnen, doch im alltäglichen medialen Sprachgebrauch und in der Umgangssprache bezeichnet es eher Phänomene, die diese Wissenschaft untersucht. In Anlehnung daran verstehe ich in diesem Essay unter Konspirologie soziale Situationen, in denen eine beträchtliche Anzahl von Menschen in einer bestimmten Gesellschaft glaubt oder vermutet, dass es eine Gruppe von besonders mächtigen Personen gibt, die sich verschwören, um bestimmten anderen Mitgliedern der Gesellschaft Schaden zuzufügen, sie zu unterwerfen oder zu vernichten. Ich halte solche Überzeugungen und Verdächtigungen für unbegründet, irrtümlich, manchmal wissentlich falsch und zum Zweck der Täuschung verbreitet. Ich gehe außerdem davon aus, dass die Leser*innen dieses Essays meinen Standpunkt grundsätzlich teilen oder teilen würden, wenn sie sich mit der Beschaffenheit eines jeden Falls bekannt gemacht hätten. Trotzdem ist nicht zu leugnen, dass die Beschreibung solcher angeblichen Verschwörungen in privaten Gesprächen oder in Medien eine besondere Energie besitzt, da sie immer gleichsam eine Aufdeckung oder Entlarvung einer solchen Verschwörung darstellt. Solche emotionsbeladenen »Enthüllungs1

Die Herausgeber des vorliegenden Bandes traten an das Analytische Center Lewada (Lewada-Zentrum) mit dem Vorschlag heran, einen Essay über das konspirologische Denken in der russischen Gesellschaft zu schreiben. Alexey Levinson, Leiter der Abteilung Soziale und Kulturforschung (заведующий отделом социально-культурных исследований), übernahm diese Aufgabe [Anm. d. Hrsg.].

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momente«, die weithin bekannt, häufig anzutreffen und mehrfach beschrieben sind, können als Fälle »klassischer« Konspirologie bezeichnet werden. In diesem Essay aber soll eine Reihe von Ereigniszusammenhängen aus der russischen Geschichte und Gegenwart geschildert werden, die aufgrund ihres Ausmaßes oder der sozialen Profile der Beteiligten als Fälle »nichtklassischer« Konspirologie gelten können. Wendet man das Wort Konspirologie auf diese Fälle an, bekommt es eine übertragene Bedeutung, transportiert aber die erwähnte emotionale Energie. Nicht selten werden solche Situationen herbeigeführt oder ausgenutzt, um diese Energie für bestimmte, meist politische Zwecke zu instrumentalisieren. Eines meiner Tätigkeitsfelder im Lewada-Zentrum (zuvor VCIOM) ist die Durchführung von Tiefeninterviews in Fokusgruppen. Während der langen Jahre gab mir diese Arbeit oft die Gelegenheit, in direkter Kommunikation mit vielen verschiedenen Menschen sozusagen aus erster Hand gängige Meinungen zu erfahren, einschließlich derjenigen, die Verschwörungstheorien oder -vermutungen enthalten. Dabei muss ich zugeben, dass Verschwörungstheorien als Thema und als gesellschaftliches Problem nie Teil der Forschungsprogramme der erwähnten Institute waren und dass die Auftraggeber der jeweiligen Meinungsumfragen nie daran Interesse zeigten. Deshalb enthält der vorliegende Aufsatz nur sehr wenige Daten, die in landesweiten Meinungsumfragen mit repräsentativen Samples durchgeführt wurden und als besonders zuverlässig gelten können. Unter konspirologischem Denken als sozialem Phänomen soll hier der in der Gesellschaft verbreitete Glaube an die Existenz von Verschwörungen bzw. von nach der Weltherrschaft strebenden Geheimbünden und die damit verbundenen Ängste verstanden werden. Derartige Vorstellungen und Gerüchte sind im Massenbewusstsein in verschiedenen Ländern seit Langem präsent und Russland bildet da keine Ausnahme. Konspirologische Literatur gibt es seit mehr als einem Jahrhundert und in den letzten Jahrzehnten sind solche Texte auch im Internet verfügbar. Ihre bevorzugten Themen in Russland sind jüdische/freimaurerische Verschwörungen, neuerdings werden aber auch vermehrt Verschwörungen »aufgedeckt«, die mit dem Coronavirus, Impfungen usw. zu tun haben. Diese konspirologischen Phänomene der »klassischen« Art nehmen im Massenbewusstsein der Russ*innen in etwa denselben Platz ein, den sie laut Presse und Experten bspw. im Bewusstsein der Brit*innen, Amerikaner*innen und Deutschen einnehmen (vgl. Domhoff, 2005; Butter, 66

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2017; Newkey-Burden, 2021; Criezis et al., 2021; für Russland analytisch Gudkov, 2007).2 Indessen gab und gibt es im russischen Massenbewusstsein, in der politischen Praxis und im gesellschaftlichen Leben Ereignisse und Tendenzen, die viel mit konspirologischen Erscheinungen gemeinsam haben, aber eine viel größere Bedeutung und Tragweite haben und dabei nach meiner Auffassung nichtklassische konspirologische Phänomene darstellen. Auf sie soll in diesem Essay das Augenmerk gerichtet werden. Warum werden sie als nichtklassisch eingestuft? In manchen Fällen haben wir es mit der Verbreitung von Verschwörungstheorien nicht durch Einzelpersonen oder Organisationen marginalen Charakters, sondern durch den Staat oder zumindest durch auf staatlicher Ebene agierende Akteure zu tun, in anderen Fällen sind wir mit beispiellosem Ausmaß und besonders schwerwiegenden Folgen dieser Prozesse konfrontiert. In wieder anderen Fällen liegen keine Verschwörungen oder Verschwörer vor, aber die Ängste sind trotzdem da. Der nichtklassische Charakter der Fälle, die hier für die Analyse ausgewählt wurden, zeigt sich auch darin, dass die gesamtgesellschaftliche Bedeutung dieser Phänomene oder ihrer Folgen in der Regel viel höher ist als die Bedeutung der klassischen Erscheinungsformen konspirologischen Denkens, bei denen es sich in der Regel um schrille und bezeichnende, aber doch marginale Phänomene handelt. In der Vergangenheit wie in der Gegenwart Russlands gab und gibt es viele Varianten nichtklassischer Konspirologie, die als Parakonspirologie, Konspirophobie usw. bezeichnet werden können.

Angst vor Organisationen Die Überlegungen, die diesem Abschnitt zugrunde liegen, beruhen auf Beobachtungen, die ich bei soziologischen Feldforschungen in der späten Sowjetzeit und in der frühen postsowjetischen Zeit machen konnte. Die Studien, die das Meinungsforschungsinstitut VCIOM (seit 2003 LewadaZentrum) seit 1988 durchführte,3 zeigten eine Welle des Aktivismus in 2 3

Nicht mehr für diesen Text genutzt werden konnte das aktuell erschienene Buch Shnirel’mans (2022). Zu den beiden Institutionen vgl. etwa Gestwa, K. (2013). Der Homo Sovieticus und der Zerfall des Sowjetimperiums. Jurij Levadas unliebsame Sozialdiagnosen. Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History, 10, 331–341 [Anm. d. Hrsg.].

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der sowjetischen Gesellschaft nach dem faktischen Scheitern der Sowjetmacht, der Kommunistischen Partei (KPdSU) und eines Großteils der Institutionen des früheren Regimes. Die Bereitschaft der Bürger*innen, sich an verschiedenen öffentlichen Aktionen zu beteiligen, war sehr hoch. Überall schlossen sich Menschen zusammen, die gemeinsames Territorium, Alter, Interessen, Bedürfnisse, Ziele usw. miteinander teilten. Man könnte von beginnender Herausbildung einer Zivilgesellschaft sprechen. Individuen, die sich zusammenschlossen und koordiniert handelten, verzichteten jedoch in der Regel darauf, ihren Vereinigungen die rechtliche Form von Vereinen, Parteien oder anderen Organisationen zu geben, obwohl Gesetze, die das erlaubten, erlassen wurden und der neue postsowjetische Gesetzgeber zur Gründung von Organisationen und zur anschließenden Zusammenarbeit mit dem Staat einlud. Im Rahmen zahlreicher soziologischer Studien fragte ich damals viele Menschen, warum sie ihre real existierenden Vereinigungen nicht als Organisationen formalisieren wollten. Auf diese Frage antworteten sie meist mit der Gegenfrage: »Wozu denn?« Bezeichnenderweise bestand also das wichtigste der vorgebrachten Argumente gegen eine formale Organisation stets darin, dass es keine Argumente dafür gebe. Ein ausführlicheres Gespräch brachte dann die unausgesprochene Befürchtung zum Vorschein, dass es zu Problemen führen könnte, wenn die Aktivisten eine Organisation bilden würden. Dies führte mich zu dem Schluss, dass es in der Gesellschaft bestimmte Ängste gab, die in der Vergangenheit entstanden bzw. den Menschen eingeflößt worden waren. Es gab auch Ausnahmen. Zur Konstituierung als eingetragene Vereine entschlossen sich Vereinigungen, deren Gründung auf menschliche Tragödien wie Tod, Krankheit oder Unglücksfälle zurückging. Die erste Organisation dieser Art war wahrscheinlich das Komitee der Soldatenmütter. Es entstand während des Tschetschenienkrieges. »Soldatenmütter« war eine spontan entstandene Bezeichnung für Frauen, die in Kriegsgebiete fuhren, um nach ihren verschollenen Söhnen – den gefangen genommenen, verwundeten, gefallenen oder vermissten Soldaten der russischen Armee – zu suchen (vgl. dazu Levinson, 2004, S. 583ff.). Die ersten eingetragenen Verbände gingen also aus akuter Not hervor, die alles andere in den Schatten stellte. Bei mehr alltäglichen, nicht lebenswichtigen Anliegen und Interessen waren die Menschen, die sie teilten, zwar gern bereit, über das Internet zu kommunizieren, sich zum Austausch von Informationen oder Sammelobjekten wie Briefmarken o. Ä. zu treffen 68

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und Zeit miteinander zu verbringen. Aber sie weigerten sich lange, sich als Organisationen zu bezeichnen und ihren Vereinigungen die rechtliche Form von eingetragenen Verbänden zu geben. Ich bin der Ansicht, dass dieses Phänomen, das man vielleicht als Konspirophobie bezeichnen sollte, seine Wurzeln in der Vergangenheit der sowjetischen Gesellschaft hatte.4

Eine Organisation ist eine staatsfeindliche Verschwörung Die Entwicklungen, die zu dieser Konspirophobie des ausgehenden 20. und frühen 21.  Jahrhunderts führten, gehen meiner Meinung nach auf die ersten Jahre der Sowjetmacht nach der Oktoberrevolution von 1917 zurück. Die Organisation, die sich selbst als die Sozialdemokratische Arbeiterpartei Russlands (Bolschewiki) bezeichnete und den später als »Große Sozialistische Oktoberrevolution« von 1917 glorifizierten Staatsstreich durchführte, bereitete diesen Umsturz im Verschwörungsmodus vor. Es handelte sich bei dieser Partei um eine teils legale, teils geheime Organisation. Unmittelbar nach ihrem Sieg errichtete sie eine »Diktatur des Proletariats« im Land, die in Wirklichkeit die durch diese Organisation monopolisierte Staatsführung darstellte. Bald darauf ging sie zu politischen Repressalien und Terror über. Opfer dieser Politik waren bekanntlich zahlreiche Privatpersonen, Angehörige ganzer sozialer Klassen und Schichten. Andere Parteien wurden als politische Rivalen bzw. Gegner systematisch vernichtet. »Von den ersten Tagen der Revolution an wurden Menschen nach Schichtund Gruppenzugehörigkeit, also nach Klassen-, Berufs- oder Parteizugehörigkeit erschossen und verhaftet. So wurden Ende November 1917 alle Angestellten der Staatsbank und im Dezember der gesamte Vorstand der Konstitutionell-Demokratischen Partei verhaftet.«5 4

5

Ich beabsichtige im Folgenden, Ereignisse und Vorgänge sowohl der Gegenwart als auch der Vergangenheit zu behandeln. Da ich jedoch kein Historiker bin, bleiben meine Untersuchungen und Mutmaßungen laienhaft und alles andere als systematisch. In der Hoffnung, dass professionelle Historiker*innen eines Tages meine Annahmen überprüfen und sie verwerfen oder korrigieren werden, wage ich es jedoch, sie den Leser*innen vorzustellen. Sozdaniye VCHK pri SNK. histrfu.ru, 14.12.2015. https://histrf.ru/read/articles/sozdaniie -vchk-pri-snk-event (06.04.2022).

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Parallel dazu erfolgte die Vernichtung nicht politischer, sondern sozialer Rivalen. Wer waren sie? Die russische Gesellschaft des frühen 20. Jahrhunderts war zu 85 % agrarisch geprägt. Die Bauernschaft und die Mehrheit der Stadtbevölkerung kannten keine anderen Formen der sozialen Organisation als die, die alle ohne Wahl umfassten: Nachbarschafts- oder Kirchspielgemeinschaft und handwerkliche Arbeitsgenossenschaft. Der soziale Aufschwung der Jahre 1904–1906 und 1916–1918 spiegelte sich aber in der explosionsartigen Zunahme von Organisationen wider, denen sich die Menschen freiwillig und aus Interesse oder Überzeugung anschlossen. Die Institutionalisierung menschlicher Solidaritätsbeziehungen, die eine Organisation schafft, verleiht ihr eine soziale Durchsetzungskraft, die größer ist als die Summe der Kräfte ihrer Mitglieder. Diese Erfahrung machten Tausende von ehemaligen Bauern und Arbeitern, die ihren Weg an die Front und dann, nach Ende des Ersten Weltkriegs, in die Städte fanden. Genossenschaften, Berufsverbände, Vereine, Gewerkschaften, Bünde und andere Organisationen schossen überall aus dem Boden. Die Sowjets, d. h. die Räte der Arbeiter-, Soldaten- und Bauerndeputierten, waren eine dieser Formen. Die Kommunistische Partei der Sowjetunion (KPdSU), wie sich die ehemalige Sozialdemokratische Arbeiterpartei seit März 1918 nannte, bemühte sich, die Räte unter ihre Kontrolle zu bringen. Alle anderen unabhängigen Organisationen, so sagte den Bolschewisten ihr »proletarisches Gespür«, gehörten vernichtet als potenzielle Konkurrenten oder Gegner, auch wenn es sich dabei um Organisationen handelte, die nicht politischer Natur waren, wie z. B. Hilfskassen, Kreditvereine, Landsmannschaften, unabhängige Zeitschriften und Zeitungen usw. Die meisten von ihnen wurden in der Zeit des sogenannten Kriegskommunismus nach den Gesetzen des »revolutionären Rechtsbewusstseins«, d. h. unter Missachtung von jedweden Gesetzen und Rechtsverfahren, liquidiert. Dass eine Organisation eine Kraft an sich ist, weil sie stabiler und dauerhafter ist als eine unorganisierte Gruppe von Menschen, eine größere und bedrohliche Handlungsfähigkeit hat als eine bloße Ansammlung von Menschen, wurde von den Siegern durchaus erkannt. Es ist kein Zufall, dass in den sowjetischen Strafgesetzbüchern seit 1922 die Beteiligung an einer Organisation einen gesonderten Straftatbestand oder einen erschwerenden Umstand darstellte.6 6

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»Die Beteiligung an einer Organisation, die zugunsten der internationalen Bourgeoisie handelt, oder die Unterstützung einer solchen Organisation […] wird […] mit dem

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Die Geschichte der KPdSU, der Kommunistische Internationale (Komintern) und der Tscheka mit all ihren Reinkarnationen erscheint aus der Perspektive nichtklassischer Formen der Konspirologie geradezu exemplarisch. Die Sozialdemokratische (später Kommunistische) Partei Russlands setzte die Tätigkeit der revolutionären Geheimbünde gewissermaßen fort. Innerhalb der Partei existierten Kampforganisationen, ihre Führer versteckten sich. Lenin, Stalin und Trotzki waren Pseudonyme. Diese verschwörerische Organisation, die die Machtergreifung in Russland anstrebte, erreichte dieses Ziel und strebte darüber hinaus bekanntlich die Herrschaft über die ganze Welt (»Weltrevolution«) an. Zu diesem Zweck wurde die Komintern als eine teilweise konspirative Organisation gegründet. Die in den ersten Monaten nach dem Staatsstreich gegründete Sonderorganisation (die ihrerseits einen geheimen Teil hatte), die »Außerordentliche Kommission« (Tscheka),7 ist allgemein bekannt. In ihr schuf die Kommunistische Partei als (Super-)Organisation eine Organisation zur Bekämpfung von Organisationen.8 Über die Geschichte der Tscheka sind Hunderte Bücher geschrieben worden. Lassen Sie uns nur eine Entwicklungslinie herausgreifen. Die Tscheka als »die bewaffnete Abteilung

7

8

höchsten Strafmaß [d. h. Todesstrafe] und der Konfiszierung des gesamten Vermögens geahndet« (Strafgesetzbuch der R. S. F.S.R., 1922, Art. 61); https://ru.wikisource.org/wiki/ %D0%A3%D0%B3%D0%BE%D0%BB%D0%BE%D0%B2%D0%BD%D1%8B%D0%B9_%D 0%BA%D0%BE%D0%B4%D0%B5%D0%BA%D1%81_%D0%A0%D0%A1%D0%A4%D0% A1%D0%A0_(1922) (06.04.2022). – »Die Begehung einer Straftat durch eine Gruppe von Personen aufgrund einer vorherigen Absprache oder durch eine organisierte Gruppe führt zu einer strengeren Strafe aus den Gründen und in den Grenzen, die durch das vorliegende Gesetzbuch festgelegt sind« (eingeführt durch das Föderale Gesetz der Russischen Föderation vom 1. Juli 1994, N 10-FZ – Gesetzessammlung der Russischen Föderation, 1994, N 10, Art. 1109). Es gab mehrere Varianten des Namens, die andeuteten, was die Außerordentliche Kommission bekämpfen sollte: »Konterrevolution und Sabotage«, »Spekulation«, »Verbrechen von Amts wegen« (vgl. Boris Yeltsin Presidential Library, [o. J.]. ). Es sei auch darauf hingewiesen, dass zahlreiche »außerordentliche Kommissionen« eingerichtet wurden, die sich mit allen möglichen wirtschaftlichen Fragen befassten. Die Macht dieser außerordentlichen Kommission war so viel größer, dass sie in die Geschichte eingegangen ist und nur ihre Mitarbeiter die Bezeichnung »Tschekisten« erhielten bzw. sich zulegten. Die Sowjetmacht zerstörte nicht nur die unabhängig entstandenen Organisationen, sondern schuf auch ihre eigenen, die sie kontrollierte. Die größten Organisationen letzterer Art waren der Kommunistische Jugendverband (Komsomol), die kommunistische Kinderorganisation (Die Jungen Pioniere), die verstaatlichten Gewerkschaften sowie die Hilfsorganisationen für Armee, Luftfahrt und Marine (Osoaviachim, später DOSAAF).

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der Partei«, als ein Teil der Partei, war in gewissem Sinne dem Ganzen gleichgestellt. Lenins beiläufige Bemerkung, »ein guter Kommunist ist gleichzeitig ein guter Tschekist«, ist wohlbekannt (zit. n. o. A., 1959, S. 505). Die Geschichte dieser Organisation lässt sich als ein Kampf um die Macht in dem unter ihrer Beteiligung geschaffenen Staat darstellen. Der Umfang der Befugnisse der »Organe der Staatssicherheit« wurde ständig erweitert. Das heute weithin bekannte GULag (ursprünglich ein Kürzel für Hauptverwaltung der Besserungslager und -kolonien) stand nicht nur für riesige Massen von Häftlingen, sondern auch für riesige Gebiete unter seiner Monopolkontrolle, Baustellen und Industriebetriebe, Forschungseinrichtungen, einschließlich solcher, die Atomwaffen entwickelten. Die höchste Macht im Land, nach der diese Organisation strebte, war ihr jedoch verwehrt. Versuche, diese Macht an sich zu reißen, wurden immer wieder vereitelt. Lawrenti Beria hätte es fast geschafft, Juri Andropow hatte Erfolg, der aber nicht lange dauerte. Paradoxerweise war es der »erste demokratische Präsident Russlands«, Boris Jelzin, der diese Organisation zur höchsten Machtstellung im Land berief. Er suchte sich seinen Nachfolger aus den Mitarbeitern von staatlichen Sicherheitsorganen und ähnlichen Geheimdiensten aus, und er wählte Wladimir Putin.9 Die Macht der Berufsgemeinschaft, mit der sich Putin nachdrücklich identifiziert, hat sich allmählich entfaltet und erweitert. Wir können darüber im Rahmen der Auseinandersetzung mit konspirologischem Denken sprechen, da von außen betrachtet diese Politik wie eine Verschwörung aussieht, die den Anspruch auf die Vorherrschaft auf dem europäischen Kontinent, wenn nicht gar auf die Weltherrschaft erhebt. Dieser Anspruch wird nicht nur erhoben, sondern auch durch militärische Maßnahmen untermauert. Das Unklassische an diesem Phänomen ist, dass es sich nicht um Geschichten von einem imaginären Superkonzern handelt, der von einer geheimnisvollen Figur geleitet wird, sondern um reale politische Prozesse, an denen reale Menschen beteiligt sind. Kehren wir zu der Frage zurück, wie sich diese Prozesse im Massenbewusstsein widerspiegeln. Wenn wir das Wort Terror im Sinne von Einflößung von Angst, Furcht oder Schrecken vor etwas in einer Gesellschaft verstehen, dann haben die Jahre des bolschewistisch-tschekistischen Terrors, einschließlich des Terrors gegen jegliche Organisationen, der sowjetisch9

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Diese Frage erörtert z. B. Moroz (2009) in seinem fast 700 Seiten starken Buch Potschemu on wybral Putina?

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russischen Gesellschaft sicherlich Angst vor nichtstaatlichen Organisationen dauerhaft eingeflößt. Man kann mit Sicherheit sagen, dass die sowjetischen Geheimdienste »Organisationen« gerade deshalb zerstörten, weil sie jede von ihnen einer Verschwörung oder der Möglichkeit eines Komplotts gegen die Sowjetmacht verdächtigten. Hier zeigt sich, dass in den sowjetischen Behörden im Allgemeinen und insbesondere bei den Stellen oder Personen, die mit der »Feindbekämpfung« betraut waren, eine konspirologische Sicht sowohl des politischen Lebens, als auch des privaten Alltags vorherrschte, und diese Sichtweise wurde von ihnen auch der Gesellschaft aufgezwungen. Die Angst vor Organisationen, Konspirophobie, wie wir sie genannt haben, hat sich in der Gesellschaft definitiv entwickelt und verstärkt. Es besteht jedoch ein großer Unterschied zwischen den Phobien der Behörden und ihrer Beschützer einerseits und den Ängsten der breiten Öffentlichkeit andererseits. Die Behörden fürchteten Organisationen als potenzielle Quellen von Gefahren für sich und ihre Herrschaft. Die Öffentlichkeit hingegen fürchtete Organisationen als potenzielle Quelle von Gefahren für sich, die jedoch von den Behörden ausgingen. Es muss mit Sicherheit gesagt werden, dass sowohl die Konspirologie der Behörden als auch Konspirologie im Allgemeinen auf fiktiven Bedrohungen beruhte, während die Ängste der Öffentlichkeit vor Repressalien wegen der Zugehörigkeit zu Organisationen völlig realistisch waren. Hunderttausende Menschen bezahlten mit ihrer Freiheit oder sogar mit ihrem Leben, nachdem sie verhaftet und beschuldigt worden waren, der einen oder anderen »antisowjetischen« Organisation anzugehören. Konspirologische Phänomene der Stalinzeit haben nicht nur die klassische Form einer Furcht vor Gefahrenquellen und Komplotten, die es in Wirklichkeit nicht gab, sondern die sich die Behörden und ihre Geheimdienstler einbildeten. Als »nichtklassisch« können Fälle eingestuft werden, in denen die Organisationen und ihre Verschwörungen, die aufgedeckt und deren Teilnehmer*innen bestraft wurden, nicht einmal in der Vorstellung der Tschekisten existierten. Im sogenannten »Großen Terror«10 10 »Großer Terror« hat sich als Bezeichnung für die Zeit der stalinistischen Repressionen und Säuberungen im Anschluss an das gleichnamige Buch von Conquest (1990 [1968], S. 487) etabliert. Ohne eine eigene Bezeichnung für dieses Phänomen vorschlagen zu können, möchte ich darauf hinweisen, dass sie in diesem Fall (im Gegensatz z. B. zum »Roten Terror« im Bürgerkrieg) nicht korrekt ist. Feinde in Angst und Schrecken zu ver-

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wurden vielfach Personen zunächst verhaftet und erst danach wurden von den Ermittlern Verbrechen erfunden, die die Verhafteten zu gestehen hatten und dessentwegen sie bestraft werden sollten. Sehr oft handelte es sich bei diesen frei erfundenen Verbrechen um die Beteiligung an einer »antisowjetischen« Organisation. Die Neigung der Ermittler zu einem solchen Vorwurf lässt sich nicht nur durch die bereits beschriebene Phobie oder deren Nachahmung, sondern auch durch praktische Bequemlichkeit für die Ermittlungsorgane erklären. Es war für sie viel vorteilhafter, gleich eine ganze Organisation aufgedeckt zu haben. Die Logik von Ökosystemen, bürokratischen Systemen und bestimmten Arten von Organisationen impliziert nämlich ihre ständig erweiterte Reproduktion. Eine Organisation lebt von der Ausweitung ihres Tätigkeitsfeldes. Wenn also einer Einzelperson, gegen die man ermittelte, unterstellt wurde, einer kriminellen verschwörerischen Organisation anzugehören, ermöglichte dies, den Kreis der Verdächtigen bzw. Angeklagten willkürlich zu erweitern und den Tätigkeitsbereich der ermittelnden Organisation auszudehnen. Konspirologie diente dabei als Hilfsmittel. Während es sich bei klassischen Verschwörungstheorien um den Glauben an die Existenz von bestimmten Verschwörungen handelt, die von Organisationen getragen seien, war bei der geschilderten Variante die angebliche Organisation primär und von konkreten handfesten Tatsachen oft losgelöst. Die von Ermittlern kreierten Narrative (Anklageschriften), in denen stand, der bzw. die Angeklagte(n) gehöre(n) einer antisowjetischen Organisation an, glaubten oft weder die Angeklagten noch die Ankläger selbst. Eine konkrete geheime Verschwörung musste auch nicht immer vorausgesetzt werden. »Antisowjetische« bzw. »konterrevolutionäre« Betätigung ganz allgemein oder »Sowjetfeindliche Einstellung« genügte. setzen, war nicht der Zweck von Verhaftungen, Erschießungen, Inhaftierungen und Verbannungen der späten 1930er Jahre. Es gab solche Feinde nicht mehr. Wie spätere Rehabilitierungen bewiesen, waren die Inhaftierten und Exekutierten weder wirkliche noch potenzielle Feinde der Sowjetmacht. Es gab also keinen wirklichen Adressaten für diese Drohbotschaft. Der Prozess der allgemeinen »Repressalien« und innerparteilichen »Säuberungen« erlangte bald eine Eigendynamik und wurde nicht von irgendeiner äußeren Rationalität gesteuert. Solche Prozesse der massenhaften Selbstzerstörung von Gesellschaften (nicht nur der russischen, sondern auch der chinesischen, kambodschanischen u. a.) haben sicherlich andere Gründe als Terror und Unterdrückung, und ihre von Historiker*innen und Soziolog*innen (noch) zu entwickelnden Bezeichnungen sollten die wahren Gründe andeuten.

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Wahlweise wurden Hilfeleistungen an ausländische Aufklärungsdienste unterstellt. Nur für Schauprozesse wurden detaillierte Verschwörungsnarrative erdichtet. Wenn die in solchen großen Schauprozessen gefällten Urteile im Wortlaut oder sinngemäß in der sowjetischen Presse veröffentlicht wurden, wurde vorausgesetzt, dass die Öffentlichkeit diese Narrative glaubt. Ansonsten wurde vielfach das Urteil, das den Vorwurf der Zugehörigkeit zu einer antisowjetischen Organisation enthielt, nur dem bzw. den Verurteilten gegenüber (im »Hochbetrieb« der Massenverhaftungen und -hinrichtungen vielfach nicht einmal persönlich, sondern in Pauschalverurteilungen) mündlich verkündet und anschließend mitsamt der Akte archiviert, um nie wieder von jemand gelesen zu werden. Viele Menschen wurden vor der Erschießung oder während der Haftzeit nicht über den Inhalt der gegen sie erhobenen Anklage in Kenntnis gesetzt. Wer war dann der Adressat dieser Anklageschriften, der ihren Inhalt glauben sollte? Es scheint einen ideellen Adressaten gegeben zu haben. Das war sicherlich nicht der allsehende Herrgott, sondern vielmehr ein imaginäres anderes mystisches höheres Wesen, das eine offensichtliche Lüge akzeptieren und gutheißen und deren Urheber auf die eine oder andere Weise dafür belohnen sollte. Immerhin diente das Urteil, das allein Zeugnis für die »bewiesene« Existenz der betreffenden Verschwörungen bzw. Organisationen war, den Ermittlern und Schergen als Rechtfertigung für ihre Handlungen, die sonst auch von ihnen selbst als kriminell angesehen werden müssten.

Die Konspirologie und die Juden Nach dem siegreichen Ende des Zweiten Weltkriegs, so der Historiker Georgij Levinson11, ging das die Sowjetunion beherrschende Regime erneut daran, eine Machtkonstruktion zu errichten, die auf dem Vorhandensein eines äußeren und eines inneren Feindes beruhte. Die Rolle der äußeren Feinde spielten »anglo-amerikanische Imperialisten«, »der aggressive NATO-Block« und die »Bonner Revanchisten«. Als innere Feinde wurden die »wurzellosen Kosmopoliten« designiert, die synonym auch »Zionisten« genannt wurden, was der Öffentlichkeit zeigte, dass es sich dabei um Juden handelte. Der Höhepunkt dieser Kampagne sollte die 11 Er ist der Vater des Verfassers. Seine Erinnerungen befinden sich im Privatarchiv der Familie Levinson.

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Aufdeckung der »Ärzteverschwörung« sein. Die Staatssicherheitsorgane erstellten und verbreiteten »Informationen« (d. h. eine konspirologische Version) über eine angebliche Verschwörung von mehrheitlich jüdische Nachnamen tragenden Ärzten, die Vertreter der obersten Führung des Landes medizinisch behandelten und mehrere prominente Persönlichkeiten durch wissentlich unsachgemäße Behandlung ermordet haben sollten.12 Die in diesen Veröffentlichungen genannten Ärzte wurden verhaftet und im Ministerium für Staatssicherheit von Ermittlern verhört. Über diese Verschwörung hieß es in einer Meldung der sowjetischen Nachrichtenagentur TASS am 13. Januar 1953 (zit. n. Netrotsky, 2005): »Verhaftung einer Gruppe von Ärzten-Schädlingen Vor einiger Zeit wurde von den Organen der Staatssicherheit eine terroristische Gruppe von Ärzten aufgedeckt, deren Ziel es war, durch schädliche Heilbehandlungsmethoden das Leben aktiver Persönlichkeiten in der Sowjetunion zu verkürzen […]. Es ist erwiesen, dass all diese Mörder-Ärzte, die zum Abschaum des Menschengeschlechts geworden sind, das heilige Banner der Wissenschaft mit Füßen getreten und die Ehre der Wissenschaftler geschändet haben, angeheuerte Agenten ausländischer Geheimdienste waren […]. Die Mehrheit der Mitglieder dieser Terroristengruppe (M. S.  Vovsi, B. B. Kogan, A. I. Feldman, A. M. Grinstein, J. G. Etinger und andere) waren mit einer internationalen jüdischen bourgeois-nationalistischen Organisation namens ›Joint‹ verbunden, die vom amerikanischen Geheimdienst gegründet wurde, angeblich um Juden in anderen Ländern materielle Hilfe zu 12 In der UdSSR wurde Antisemitismus doktrinär und formell als Ausdruck des »bürgerlichen Nationalismus«, der im Gegensatz zum »proletarischen Internationalismus« stand, verurteilt und hatte bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs nur private, alltägliche Erscheinungsformen. Mit dem Ausbruch des Kalten Krieges änderte sich die Situation und Antisemitismus begann, zur staatlichen Politik zu werden. Die Frage, ob Stalin antisemitische Überzeugungen hatte, soll hier nicht gestellt oder entschieden werden. Auf dem Höhepunkt der antikosmopolitischen Kampagne sprach er sich öffentlich gegen Antisemitismus aus. Es gibt jedoch, wie der Historiker Mletschin (o. J.) gezeigt hat, Hinweise, dass Stalin »in einer Sitzung des Präsidiums des Zentralkomitees am 1. Dezember 1952 sagte: ›Jeder Jude ist ein Nationalist, er ist ein Agent des amerikanischen Geheimdienstes. Jüdische Nationalisten glauben, dass ihre Nation von den Vereinigten Staaten gerettet wurde. Sie sehen sich den Amerikanern gegenüber in der Pflicht. Unter den Ärzten gibt es viele jüdische Nationalisten‹.«

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leisten. In Wirklichkeit führt diese Organisation unter der Leitung des amerikanischen Geheimdienstes umfangreiche Spionage-, Terror- und andere subversive Aktivitäten in mehreren Ländern, darunter auch in der Sowjetunion durch. […] Andere Mitglieder der Terroristengruppe (V. N. Vinogradov, M. B. Kogan und P. I. Jegorov) entpuppten sich als langjährige Agenten des britischen Geheimdienstes. Die Untersuchung wird in Kürze abgeschlossen sein.«

Kurz nach Stalins Tod wurde das Verfahren eingestellt, alle Anklagen wurden fallen gelassen. Alle im Zusammenhang mit diesem Verfahren verhafteten Personen wurden freigelassen und wieder eingestellt. Offiziell wurde erklärt, die Geständnisse der Angeklagten seien durch »unzulässige Ermittlungsmethoden«, sprich Folter, erlangt worden.13 Es ist bezeichnend für den Zustand des Massenbewusstseins in der UdSSR in jenen Jahren, dass das von den Behörden suggerierte und durch ihre Autorität verstärkte konspirologische Narrativ laut zahlreichen Zeitzeug*innen als Auslöser für eine Pressekampagne, für Veröffentlichung von mehr oder weniger offen antisemitischen Texten und für das Aufkommen einer Welle des Alltagsantisemitismus im Land diente. Zeugnisse dieser antisemitischen Welle sind sowohl in zahlreichen Memoiren als auch in Publikationen jener Zeit leicht zu finden. Ebenso bezeichnend ist aber auch ein anderes Phänomen, das als konspirologische Gegenversion angesehen werden kann. Gemeint ist die damals angeblich vorbereitete Deportation (und teilweise Ermordung) der jüdischen Bevölkerung Moskaus und dann der gesamten UdSSR. Diese Aktion sollte die Krönung der ganzen Kampagne zur Aufdeckung jüdischer Spionageund Sabotageorganisationen werden. Ihre Ausführung soll nur durch den Tod Stalins und das anschließende Eingreifen von Beria verhindert worden sein, der das Verfahren gegen die »Mörder-Ärzte« und die geplanten anschließenden Aktionen des Ministeriums für Staatssicherheit stoppte. Hinweise auf die Existenz solcher Pläne sind in vielen Memoiren der Zeitzeug*innen einschließlich derer von bedeutenden Staatsmännern der Stalinzeit enthalten. Sie wurden erst als Gerücht, dann als Überlieferung von Generation zu Generation weitergegeben. Auch ich habe sie in meiner 13 Vgl. https://ru.wikipedia.org/wiki/%D0%94%D0%B5%D0%BB%D0%BE_%D0%B2%D1% 80%D0%B0%D1%87%D0%B5%D0%B9 (06.04.2022).

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Jugend gehört. Es gibt eine Fülle von Literatur zu diesem Thema, darunter Bücher von professionellen Historikern, von denen manche diese Erzählungen für wahr halten, andere aber sie widerlegen. Die Geschichte von der geplanten Judendeportation selbst weist konspirologische Merkmale auf (was nicht unbedingt bedeutet, dass sie unwahr ist). Ihre Opponenten weisen auf das Fehlen von sie beweisenden Dokumenten hin. Es ist nicht meine Absicht, hier Aussagen darüber zu machen, ob die Deportation der sowjetischen Juden damals tatsächlich geplant und vorbereitet wurde. Soviel steht aber fest: Der Zustand der sowjetischen Gesellschaft, die hysterische »Entlarvungskampagnen« in den Vorkriegsjahren, dann den Zweiten Weltkrieg und danach den Kalten Krieg erduldet hatte, war so, dass Behauptungen, es gebe Verschwörungen und Schädlinge »in den eigenen Reihen«, hohe Resonanz fanden und alle noch so grausamen Maßnahmen gegen diese vermeintlichen Feinde befürwortet wurden. Die Frage, ob es das Stalin’sche Regime war, das die Gesellschaft so transformierte, oder ob es die Gesellschaft war, die dieses Regime brauchte und hervorbrachte, kann nicht eindeutig beantwortet werden. Die hier erörterten Fälle der »Konspirologie von oben«, die auf eine Unterstützung »von unten« angewiesen waren und sie auch erhielten, sowie verschiedene Varianten der »Konspirologie ohne Adressaten« sprechen eher dafür, dass wir es mit einem Phasenzustand der Gesellschaft als Ganzes zu tun haben, wo das Regime ein Teil dieses Ganzen ist und diese Gesellschaft kraft der in ihr wirkenden Gesetze regiert. Nach diesem Höhepunkt ließen der staatliche wie der alltägliche Antisemitismus allmählich nach. In der Putin-Ära waren sie in Russland auf einem historischen Tiefstand (vgl. Levada Center, 2022). Dies hatte eine interessante Auswirkung auf das Schicksal eines klassischen, ja beinahe des zentralen konspirologischen Narrativs, nämlich dass eine geheime (jüdische) Regierung die Welt regiere. Zu meiner Überraschung musste ich während Fokusgruppeninterviews in verschiedenen Gegenden Russlands feststellen, dass die Existenz einer solchen Geheimregierung weithin als Tatsache anerkannt wird. Doch die Ansicht, sie stelle ein schreckliches Übel und eine Bedrohung dar, ist kaum präsent. Die vorherrschende Haltung ist eine ruhige Akzeptanz dieser Tatsache, denn die Welt sei nun einmal so, wie sie ist. Vielleicht trägt zu dieser unaufgeregten Haltung die Tatsache bei, dass diese geheime Regierung nach landläufiger Meinung die Welt nicht direkt regiere, sondern dadurch, indem sie die US-amerikanische Regierung kontrolliere, die versuche, 78

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der Welt ihren Willen aufzuzwingen. Da aber die USA nach Ansicht der russländischen Respondenten nicht imstande seien, sich gegenüber Putin durchzusetzen, sei auch die »jüdische Verschwörung« für Russland nicht weiter schlimm.

Ausländische Agenten Das Ende der Stalinzeit brachte teilweise eine Änderung der Funktionsgesetze des Ganzen. Totalitäre Bestrebungen, die gesamte Gesellschaft für einen bestimmten Zweck zu mobilisieren, wurden ohne Gewaltanwendung umgesetzt und waren nicht mehr so wirksam. Unklassische konspirologische Erscheinungen als Symptom der sozialen Lage gingen zurück, verschwanden aber nicht, sondern nahmen neue Formen an. In den späten Jahren der Sowjetunion bildeten sich unter Jugendlichen verschiedene Vereinigungen, die sich auf eine bestimmte Mode, einen bestimmten Musikoder Kleidungsstil oder ein bestimmtes Verhalten stützten. Sie gaben sich selbst Namen wie »Punks«, »Metallisten« (d. h. Fans von Heavy Metal-Rockmusik) usw. Manchmal benutzten sie die Namen ihrer LieblingsRockbands (Sex Pistols usw.). Diese Gruppen waren aus Prinzip nicht als Organisationen angemeldet und wurden daher pauschal »Informelle« genannt. Ihr internes Leben (im Wesentlichen clubbing) hatte in der Regel nichts sozial Gefährliches. Die Miliz und der KGB unterstellten sie jedoch ihrer Kontrolle, die Leiter*innen von Schulen und anderen Bildungseinrichtungen wurden aufgefordert, die Bildung solcher Gruppen zu verhindern und sie der Miliz oder dem KGB zu melden. Es ist hervorzuheben, dass diese Vereinigungen von den Behörden als Organisationen betrachtet wurden, die insofern »informell« waren, als sie sich nicht unter staatliche Kontrolle stellten. Die Angst vor Organisationen hielt auch in den Breschnew-Jahren an. Erst in der postsowjetischen Zeit ließ diese Angst, als Organisation bezeichnet zu werden, allmählich nach, und die Zahl der eingetragenen Vereine wuchs. Parallel dazu entstand die Freiwilligenbewegung, die Kommunikation über das Internet aktiv benutzte. Die entstehenden neuen Organisationsformen (ohne Organisationen) zeigten beachtliche Wirksamkeit. Bei der Katastrophenhilfe (Großbrände, Überschwemmungen) trafen die Freiwilligen schneller ein als die zuständigen staatlichen Dienste wie z. B. Feuerwehr oder Katastrophenschutz und brachten ihre eigene Aus79

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rüstung mit. Diese Mobilisierungsbereitschaft von Kräften, die sich der staatlichen Kontrolle entzogen, gab den Behörden Anlass zur Sorge. Man könnte diese Besorgnis auch für eine konspirologische Erscheinung halten. Außerdem waren Behörden wie die lokalen Selbstverwaltungsorgane oder das Katastrophenschutzministerium unzufrieden, weil durch die höhere Effizienz der Freiwilligen sie selbst in Misskredit gebracht wurden. Die Freiwilligenbewegung wurde allmählich in staatliche Organisationen umgewandelt, die leichter zu kontrollieren waren. Non-Profit-Organisationen, kurz NPOs,14 die aus der Sicht der lokalen Behörden nützliche Arbeit leisteten – z. B. solche, die staatliche oder kommunale Instanzen aus irgendwelchen Gründen nicht selbst leisten konnten, aber für nötig hielten –, wurden eingeladen, eng mit den Behörden zusammenzuarbeiten, und wurden praktisch diesen einverleibt. Organisationen, die autonom bleiben wollten, wurden hinsichtlich ihrer Finanzierungsquellen einer besonderen Kontrolle unterworfen. Diejenigen, die Finanzmittel aus dem Ausland erhielten (meist handelte es sich dabei um Zuschüsse von Geldgebern aus der Europäischen Union und den USA), waren mit einer so umfangreichen und komplizierten Rechnungslegung belastet, dass viele von ihnen zur Selbstauflösung gezwungen waren, weil sie sich nicht genügend Verwaltungspersonal leisten konnten, um diese Buchhaltung zu bewältigen. Dann wurde 2012 das Gesetz über »ausländische Agenten« verabschiedet. Die Ideologie, die hinter diesem Ansatz steckt, basiert auf zwei in der russländischen Kultur weithin akzeptierten Vorstellungen. Beide sind nicht spezifisch russisch, beide wurzeln in archaischen Strukturen des Massenbewusstseins und beide sind in Russland so weit verbreitet, dass sie als Axiome und Selbstverständlichkeiten gelten. Die eine Vorstellung besagt, dass es keine Geldverhältnisse außer Kauf oder Lohnarbeit gebe. Wer Geld erhalte, verkaufe sich selbst dem Geldgeber und gehorche ihm knechtisch. Die andere Vorstellung besagt, dass der Rest der Welt Russland gegenüber feindselig sei. Alles Ausländische könne daher nur feindlich und schädlich sein.15 14 Der Begriff wird im Englischen oft mit NGO übersetzt, also »Non-Governmental Organisation«. In Russland hießen sie zunächst auch so, aber dann wurde zügig die Bezeichnung NPO übernommen, um den Gegensatz zwischen diesen Organisationen und dem Staat nicht zu betonen. (Dieser Gegensatz konnte jedoch, wie sich zeigen sollte, im Endeffekt doch nicht vermieden werden.) 15 Dies ist Fremdenfeindlichkeit in der ursprünglichen Bedeutung des Wortes Xenophobie: »Angst vor dem Fremden«. Natürlich können auch fremde Dinge nützlich, wirksam usw.

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Es überrascht nicht, dass Organisationen, die ihre Aufgabe in der Gewährleistung der Staatssicherheit sehen, sich für Organisationen interessieren, die ausländische Gelder erhalten. In ihrer Fachsprache heißen diejenigen, die Finanzierung aus dem Ausland erhalten und folglich die Befehle »ihrer ausländischen Herren« ausführen, »ausländische Agenten«16, was in der Umgangssprache so viel wie Spione oder Saboteure bedeutet. Das Justizministerium wurde hinzugezogen, um diesen Ansatz rechtlich zu formalisieren. Der Juristen kamen jedoch davon ab, Organisationen einfach als »ausländische Agenten« zu beschuldigen, falls sie Geld aus dem Ausland erhalten. Erstens wurde die Definition verkompliziert: Jetzt hieß es nicht »ausländische Agenten«, sondern »Organisationen, die die Funktion eines ausländischen Agenten ausüben«. Zweitens wurde »politische Tätigkeit« als ein zusätzliches Kriterium eingeführt. Wie die Definition besagt, sind »Beeinflussung« und »öffentliche Meinungsbildung« auch politische Tätigkeiten.17 Daher haben die Behörden mehr als genug Möglichkeiten, viele verschiedene Organisationen als »politisch tätig« zu qualifizieren. Das Gesetz sieht verschiedene Sanktionen vor. Auch Zwangsauflösung ist möglich, und mit der Schließung sein, aber ihre Qualität zu bestimmen und sie zu »entschärfen«, ist das Vorrecht der Obrigkeit. 16 Die Befürworter dieses »föderalen Gesetzes 121-FZ vom 13. Juli 2012« argumentieren, dass der Begriff »ausländischer Agent« von einem amerikanischen Gesetz aus dem Jahr 1937 abgeleitet sei. Die Semantik dieses Begriffs im Russischen ist aber durch den russischen historischen Kontext und den russischen Sprachgebrauch beeinflusst. 17 »Eine gemeinnützige Organisation, die die Funktionen eines ausländischen Agenten wahrnimmt, ist eine russische gemeinnützige Organisation, die Gelder und andere Vermögenswerte [… aus dem Ausland] erhält und die sich, auch zugunsten ausländischer Geldgeber, an politischen Aktivitäten im Hoheitsgebiet der Russischen Föderation beteiligt. Hierbei wird die Beteiligung an politischen Aktivitäten auf dem Territorium der Russischen Föderation (unabhängig von den in den Gründungsdokumenten genannten Zielen) als Beteiligung an der Veranstaltung und Durchführung politischer Aktionen mit dem Ziel der Beeinflussung von Entscheidungen staatlicher Stellen, die auf eine Änderung der Regierungspolitik abzielen, sowie an der Bildung der öffentlichen Meinung zu diesen Zwecken verstanden.« Zit. n. http://www.consultant.ru/document/cons_doc_ LAW_135159/f7ba5d38b302b01769b1ad83f487346faad028f9 (06.04.2022). – Von den 200 gemeinnützigen Organisationen, die von 2013 bis Februar 2021 als »ausländische Agenten« anerkannt waren, üben 45 nicht mehr die Funktionen eines »ausländischen Agenten« aus, 56 haben sich freiwillig selbst aufgelöst, 16 wurden per Gerichtsentscheid liquidiert, 8 wurden aus der Liste der gemeinnützigen Organisationen gestrichen und 75 sind weiterhin im Register eingetragen.

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der Dachorganisationen von Memorial im Dezember 2021 wurde ein Präzedenzfall geschaffen. Obwohl sich für die Arbeit und die Existenz von NPOs, die auf die Liste der »Organisationen, die die Funktion eines ausländischen Agenten ausüben«, gesetzt wurden, daraus verschiedene Schwierigkeiten und Probleme ergeben, stößt diese Stigmatisierungsinitiative der Behörden in der breiten Öffentlichkeit auf wenig Resonanz. »Mehr als die Hälfte der Russ*innen (54 %) sieht keinen Nutzen darin, dass gemeinnützige Menschenrechtsorganisationen (NPOs) mit ausländischer Finanzierung den Status eines ausländischen Agenten beantragen und diese Information in ihren Unterlagen angeben müssen«, hat eine Umfrage des Lewada-Zentrums und der NPO Obschestwennyj werdikt unlängst gezeigt (Levada Center, 2015).18

Coronavirus und Konspirologie Es gab eine frühe Phase in der Geschichte dieser Pandemie, als Nachrichten über eine neue Viruserkrankung die russischen Massenmedien und die sozialen Medien zu erreichen begannen, während der es noch keine Berichte über erkrankte Menschen in Russland gab. Der Mangel an zuverlässigen Informationen und positiven Erkenntnissen in der Fachwelt führte zu Diskrepanzen in den Aussagen gegenüber der breiten Öffentlichkeit. Die Situation ließ erwarten, dass die öffentliche Meinung von Panik geprägt sein würde, die sich u. a. in einer besonders starken Verbreitung von Gerüchten und Theorien, einschließlich der konspirologischen, äußern würde. Diese Erwartungen wurden nur teilweise erfüllt. Panik wurde weder von den Behörden noch von den Beobachter*innen oder in unseren Umfragen festgestellt. Im Gegenteil, fast ebenso häufig wie Angst vor einer drohenden Epidemie äußerten die Befragten die Hoffnung, dass Russland nicht von der Seuche heimgesucht werden würde. Konspirologische Meinungen über Corona waren in diesem Stadium mit den bereits bestehenden konspirologischen Erzählungen über die angeblich beim Impfen erfolgende Implantation von Chips und über die Gefahren von 5G-Türmen verknüpft. Umfragen des Lewada-Zentrums zu 18 Beide Institutionen stehen auf der Liste der Organisationen, die Funktionen ausländischer Agenten erfüllen.

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Beginn und auf dem Höhepunkt der Epidemie ergaben, dass der Anteil der Menschen, die die Ausbreitung der Krankheit auf Verschwörungen oder Geheimprojekte zurückführten, zwischen 6 und 10 % lag. Die Versionen lauteten hauptsächlich, dass in China (in Wuhan) Experimente durchgeführt wurden, um ein tödliches Virus zu erforschen (oder zu schaffen), dieses Virus versehentlich aus dem Labor entwichen war und eine Pandemie verursacht hatte (Levada Center, 2021a). In der Presse wurde viel darüber berichtet. Diese Version war auch von den Teilnehmer*innen der Fokusgruppeninterviews zu hören. Die Pandemie überschattete die zunehmende Entwicklung des Images der benachbarten Ukraine als eines feindlichen Landes. Während der Pandemie kam auch die Meldung, dass in Kasachstan ein Staatsstreich stattgefunden habe und dass russische und andere OVKS-Truppen19 zu einer friedenserhaltenden Mission dorthin geschickt würden. Es ist bemerkenswert, dass die allerersten Erklärungen der neuen Führung des Landes immer wieder Hinweise auf ausländische Einmischung und die Ausbildung von Guerillamilizen »im Ausland« enthielten. Es wurde jedoch in offiziellen Texten und Reden kein konkretes Land in diesem Zusammenhang genannt. Wohl wissend, dass die russische Führung der politischen Ausrichtung der Ukraine sehr negativ gegenübersteht, wurden von kasachischer Seite Gerüchte genährt, dass die Quelle der »Unruhen in Kasachstan […] in Kiew liegt«.20 Etwa zur gleichen Zeit breitete sich in der russischen Öffentlichkeit zunehmend eine konspirologische Version der Entstehungsgeschichte des Coronavirus aus. Eine Umfrage Ende 2021 ergab, dass 61 % der Russen das Coronavirus für eine neue Form biologischer Waffen hielten (35 % stimmten dieser Behauptung voll und ganz zu, 26 % stimmten ihr eher zu). Nur 30 % betrachteten das Coronavirus nicht als Form einer biologischen Waffe (Levada Center, 2021b). Wir haben keinen Grund zu der Annahme, dass dies das Ergebnis einer absichtlichen Beeinflussung der öffentlichen Meinung ist. Aber ein so starker Anstieg des Anteils derer, die der Meinung sind, dass das Coronavirus keine natürliche Krankheit, sondern eine neue Form einer biologischen Waffe ist, lässt uns nach besonderen Gründen für dieses Phänomen suchen. 19 OVKS: Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit; Militärbündnis, dem neben der Russischen Föderation die postsowjetischen Staaten Armenien, Belarus, Kasachstan, Kirgisistan und Tadschikistan angehören. 20 Vgl. https://www.youtube.com/watch?v=c5-tFtIetEc (06.04.2022).

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Mit der Entwicklung des Konflikts zwischen der Russischen Föderation und der Ukraine wurde dieses im Grunde genommen konspirologische Thema nicht mehr in Gerüchten, sondern in Regierungserklärungen weiterentwickelt. Der Verdacht auf geheime Labors, die Waffen in Form eines Virus vorbereiten, wurde von China auf die Ukraine verlagert und von einem Verdacht in eine Anschuldigung umgewandelt, wobei die USA eine unheilvolle Führungsrolle erhielten: »In Biolabors in der Ukraine, die von den USA eingerichtet und finanziert wurden, fanden Experimente mit Coronavirus-Proben statt«, erklärte der Sprecher des russischen Verteidigungsministeriums, Generalmajor Igor Konaschenkow, gegenüber Lenta.ru.21 Aus den gefundenen Dokumenten gehe hervor, dass die US-Seite plane, im Jahr 2022 »Arbeiten über Krankheitserreger von Vögeln, Fledermäusen und Reptilien durchzuführen, mit anschließender Untersuchung der Möglichkeit der Übertragung von Afrikanischer Schweinepest und Milzbrand durch sie«. Laut Konaschenkow zogen die Wissenschaftler*innen die Möglichkeit in Betracht, dass die Erreger von Wildvögeln übertragen werden, die zwischen Russland und der Ukraine sowie anderen Nachbarstaaten migrieren. Am 6. März teilte das russische Verteidigungsministerium mit, »im Laufe der Spezialoperation in der Ukraine ist festgestellt worden, dass Kiew die Spuren eines militärisch-biologischen Programms beseitigt hat. Das Programm wurde vom US-Verteidigungsministerium finanziert«. Die USA haben, wie nicht anders zu erwarten, diese Version dementiert. Aber diese Meinungen waren, wie bereits erwähnt, von der für konspirologische Gerüchte normalen marginalen Natur. Viel weiter verbreitet waren hingegen andere, parakonspirologische Meinungen. Von Beginn der Pandemie an waren nämlich die Bemühungen der russischen Führung, aus der Situation moralisches Kapital zu schlagen, nicht zu übersehen. Es kann davon ausgegangen werden, dass eine in dieser Hinsicht relevante Erfahrung aus den Terroranschlägen vom 11. September 2001 berücksichtigt wurde. Russlands damals neuer Präsident Putin, der noch keinen markanten Ruf in der Welt hatte, war der erste, der dem US-Präsidenten sein Beileid aussprach.22 Diese 21 Ukrainskiye biolaboratorii veli opyty s obraztsami koronavirusa, sobiralis’ »zaryazhat’« dikikh ptits i reptiliy. stolica-s.su, 10.03.2022. https://stolica-s.su/archives/330971 (06.04.2022). Nachfolgende Zitate ebd. 22 Da es in diesem Artikel um Konspirologisches geht, scheint es angebracht, ein Gerücht aus jener Zeit zu zitieren: Der Anruf aus Moskau kam so schnell, dass der Verdacht aufkam, Moskau habe etwas mit den Taten zu tun. Soweit mir bekannt, wurde Entsprechendes von US-amerikanischer Seite niemals (öffentlich) thematisiert.

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Geste wurde von der amerikanischen Seite dankbar aufgenommen und schuf eine wichtige positive Grundlage für die weiteren amerikanisch-russischen Beziehungen. Angesichts der Pandemie in Europa beschloss Moskau, eine entsprechende Geste zu machen. Russische Militärärzte und Krankenhausausrüstung wurden spontan nach Italien geschickt. Die improvisierte Aktion schlug jedoch fehl, überschwänglicher Dank an Russland blieb aus. Mit dem Fortschreiten der Pandemie wurde der Bedarf an einem Impfstoff gegen das Coronavirus immer größer. Mehrere der weltweit führenden Labore arbeiteten an einem solchen Impfstoff quasi um die Wette. Russland gab als Erstes bekannt, einen Impfstoff entwickelt zu haben. Dies kündigte kein Geringerer als Präsident Putin an. Der Impfstoff erhielt den Namen Sputnik, der zum Ausdruck bringen sollte, dass Russland bei der Entwicklung eines Impfstoffs allen anderen Ländern voraus war, so wie es auch 1957 beim Start eines künstlichen Erdsatelliten allen anderen voraus gewesen war. Doch dann stellte sich heraus, dass die erforderlichen Tests nicht vollständig durchgeführt (oder dokumentiert) worden waren, sodass die WHO den Impfstoff nicht zertifizieren wollte. Der globale Triumph blieb aus. In der russischen Bevölkerung aber gab es, wie unsere Untersuchungen gezeigt haben, eine sehr eindeutige Meinung dazu, die wir als parakonspirologisch bezeichnen können, nämlich dass eine mächtige Instanz etwas geplant habe, das dem gesamten Volk Schaden zufügen könnte. Diese Instanz sei in diesem Fall die Regierung und die Entwickler des Impfstoffs, die ihr gehorchten. Die Interessen des Gesundheitswesens seien politischen Interessen untergeordnet worden, und zwar solchen, die es in den Augen der Bevölkerung Russlands gar nicht wert wären. Diese angebliche Zweckentfremdung der medizinischen Forschung kompromittierte in den Augen der Bevölkerung nicht nur den SputnikImpfstoff, sondern auch die Idee der Impfung selbst. In den osteuropäischen Ländern war die Bereitschaft, sich impfen zu lassen, im Allgemeinen geringer als in Westeuropa und nahm langsamer zu. Dies bedarf einer eigenen Erklärung. Fest steht, dass Russland eindeutig diesem Trend folgte. Es kann die Vermutung gewagt werden, dass in dem zuvor beschriebenen Diskurs in Russland ein in diesen Ländern verbreitetes diffuses Misstrauen der Impfkampagne und dem Staat bzw. der Medizin im Allgemeinen gegenüber seine Rationalisierung gefunden hat. Man kann kleine Details zu diesem Bild hinzufügen, die damals wichtig waren. Präsident Putin wollte offenbar zeigen, dass er in der Stunde der Not an der Seite des Volkes stehe. Er ließ sich ständig im Fernsehen sehen 85

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und sprach u. a. über die Vorteile von Impfungen für die Russ*innen. Aus den regelmäßigen Fernsehübertragungen schlossen die Zuschauer*innen jedoch, dass sich der Präsident erstens in tiefer Isolation von allen anderen befand und dass es zweitens keine eindeutigen Beweise dafür gab, dass er selbst mit dem russischen Impfstoff Sputnik geimpft worden war. Während der Pandemie ging es mit der Popularität des russischen Präsidenten abwärts. Wie politische Analyst*innen in vertraulichen Gesprächen erklären, ist für Putin seine Bewertung durch das Volk sehr wichtig. Sie ist nicht deshalb wichtig, weil der Präsident von der Meinung der Wähler*innen etwa abhängt. Eine Verbindung über den Wahlmechanismus besteht nicht. Aber die »Unterstützung durch das Volk« ist Putins einzigartiges Mittel der Einflussnahme auf Beziehungen zu seiner Umgebung. Als Einziger unter seiner Entourage kann er von sich behaupten, er sei ein »Volksführer«. Der Verlust dieser Ressource würde seine Fähigkeit zur Kontrolle der Eliten schwächen. Wenn die Popularität Putins sank, half ihm zweimal das probate Mittel, das auf Russisch »ein kleiner siegreicher Krieg«23 heißt: 2008 war das ein kurzer siegreicher Krieg mit Georgien, 2014 eine kurze militärische Operation, die in der Annexion der Krim gipfelte.24 Nach Meinung vieler Befragter und Expert*innen wurde dieses Mittel nun wieder eingesetzt, als am 24. Februar 2022 russische Truppen in die Ukraine einmarschierten. Das Vorgehen Russlands in der Ukraine wurde sowohl in den Medien als auch in der Öffentlichkeit als ein Vorgehen gegen den Westen als Ganzes dargestellt. Die konkreten Gründe für die Einleitung der »militärischen Spezialoperation« wie z. B. »Völkermord an den Russen im Donbass« wurden in der russischen Öffentlichkeit als nebensächlich eingestuft. Selbst hinter dem Ziel, die NATO-Streitkräfte von den Grenzen Russlands wegzudrängen, sahen die Befragten (und wahrscheinlich nicht nur sie) ein allgemeineres Problem von historischem Ausmaß – die ewige Konfrontation zwischen Russland und dem Westen25 – und ein allgemeineres historisches Ziel: eine Trennlinie zu ziehen, die die Welt wie in der Zeit des Kalten Krieges in »unsere Einflusssphäre« und »ihre Einflusssphäre« 23 Der Ursprung dieser inzwischen sarkastischen Redewendung wird gewöhnlich dem zaristischen Innenminister von Plehwe im Kontext des russisch-japanischen Kriegs zugeschrieben [Anm. d. Hrsg.]. 24 Vgl. https://www.levada.ru/en/ratings (06.04.2022). 25 Die einhellige Reaktion vieler Länder der Welt wurde als Bestätigung aufgenommen, dass es den sogenannten »kollektiven Westen«, dem Russland sich widersetzt und der sich Russland widersetzt, tatsächlich gibt.

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teilen würde. Bezeichnenderweise sagten die Befragten einen starken Rückgang der Spannung zwischen der NATO und Russland nach Ende der »Spezialoperation« voraus. Sie glaubten nämlich, dass diese Teilung der Welt in zwei Hälften beide Seiten zufriedenstellen würde. Da so viel auf dem Spiel steht, kommen manche Russ*innen auf die Idee, dass eine Erpressung mit Atomwaffen zulässig sei, auch wenn das mit dem Risiko eines Weltkriegs verbunden ist. Es gibt Menschen, die gewillt sind, das in Kauf zu nehmen. Das Ausmaß der Ereignisse ist, wie man sieht, global. Das Risiko katastrophaler Folgen ist so groß wie noch nie. Das Schema des konspirologischen Narrativs findet seine Umsetzung: Jemand ist bereit, die ganze Welt zu zerstören, um seine Ziele zu erreichen. Übersetzt von N. N. Literatur Boris Yeltsin Presidential Library (o. J.). Obrazovana Vserossiyskaya Chrezvychaynaya Komissiya (VCHK), 20 dekabrya 1917. https://www.prlib.ru/history/619826 (06.04.2022). Butter, M. (2017). Wer regiert wirklich die Welt? https://www.ipg-journal.de/schwerpunkt -des-monats/verschwoerungstheorien/artikel/wer-regiert-wirklich-die-welt-2025 (24.05.2022). Conquest, R. (1990 [1968]). The Great Terror: Stalin’s Purge of the Thirties. Erw. Neuaufl. Oxford: UP. Criezis, M., Hughes, B., Jeitler, C. & Miller-Idriss (2021). From Q to Querdenken: Conspiracy Theories in Germany and the United States [Webinar]. AICGS, 02.12.2021. https:// www.aicgs.org/video/from-q-to-querdenken-conspiracy-theories-in-germany-and -the-united-states (06.04.2022). Domhoff, G. W. (2005). Theories of Power: There Are No Conspiracies. https://whorules america.ucsc.edu/theory/conspiracy.html (06.04.2022). Gudkov, L. (2007). Rußlands Systemkrise. Negative Mobilisierung und kollektiver Zynismus. Osteuropa, 57(1), 3–13. Levada Center (2015). Bespoleznyye agenty. Levada Center, 06.10.2015. https://www. levada.ru/2015/10/06/bespoleznye-agenty (06.04.2022). Levada Center (2021a). Koronavirus, vaktsina i proishozhdenie virusa. Levada Center, 01.03.2021. https://www.levada.ru/2021/03/01/koronavirus-vaktsina-i-proishoz hdenie-virusa (24.05.2022). Levada Center (2021b). Koronavirus, vaktsina i mery. Levada Center, 01.11.2021. https:// www.levada.ru/2021/11/01/koronavirus-vaktsina-i-mery (06.04.2022). Levada Center (2022). Xenophobia and migrants. With a comment by Lev Gudkov. Levada Center, 28.01.2022. https://www.levada.ru/en/2022/01/28/xenophobia-and-mi grants (06.04.2022).

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Alexey Levinson Levinson, A. (2004). Opyt sociografii. Moskau: Novoye Literaturnoye Obozrenije. Mletschin, L. M. (o. J.). Stalin, Navaschdenie Rossii. https://history.wikireading.ru/71651 (06.04.2022). Moroz, O. (2009). Potschemu on wybral Putina? Мoskau: Rus’-Olimp. Netrotsky, V. (2005). »Delo vrachey«: dokumenty i fakty. Chorninter.com, 02.03.2005. https://web.archive.org/web/20071110083459/http://www.chorninter.com/mo dules.php?name=News&file=article&sid=481 (06.04.2022). Newkey-Burden, C. (2021). Study finds UK’s most popular conspiracy theory. The Week, 02.07.2021. https://www.theweek.co.uk/news/world-news/953359/ study-finds-uks-most-popular-conspiracy-theory (06.04.2022). o. A. (1959). Protokoly 9 s’ezda RKP(b). Protokoly s’ezdov i konferencij Vsesojuznoj Kommunistitscheskoj partii. Moskau: Gospolitizdat. Shnirel’man, V. A. (2022). Uderzhivayushchiy. Ot Apokalipsisa k konspirologii. St. Petersburg: Ed. Nestor-Istoriya.

Biografische Notiz

Alexey Levinson, K. N., ist Soziologe und Leiter der Abteilung für Soziale und Kulturforschung des unabhängigen Meinungs- und Sozialforschungsinstituts Lewada-Zentrum in Moskau. Er lehrt an der Nationalen Forschungsuniversität Hochschule für Wirtschaft Moskau und publiziert regelmäßig in Zeitungen und wissenschaftlichen Zeitschriften auf Russisch, Englisch und Deutsch. Neben zahlreichen, bislang unübersetzten Büchern war er an der von Juri Lewada herausgegebenen klassischen Untersuchung zum Massenbewusstsein in der späten Sowjetunion, Die Sowjetmenschen 1989–1991. Soziogramm eines Zerfalls (1992), beteiligt.

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»Vertraut mir, ihr solltet niemandem vertrauen« Verschwörungsmentalität in der Coronakrise aus mentalisierungstheoretischer Perspektive1 Felix Brauner

Wie im Beitragstitel deutlich wird, der dem Song Bilderbücher Konferenz der Berliner Rapperin Sookee entnommen ist, speisen sich Verschwörungsvorstellungen2 in psychologischer Hinsicht aus einem massiven Misstrauen, das in autoritären Dynamiken aktiviert wird. Bereits Hannah Arendt hat sich in ihrer Totalitarismusanalyse differenziert mit dem verheerenden Potenzial dieser toxischen Kombination von Misstrauen und Autoritarismus auseinandergesetzt. In Elemente und Ursprünge der totalen Herrschaft rekonstruiert sie eine um sich greifende soziale und politische Entfremdung in weiten Teilen der Bevölkerung als Nährboden des aufsteigenden Nationalsozialismus, auf dem sich antisemitische Verschwörungsvorstellungen umfassend ausbreiten konnten (Arendt, 2017 [1951], S. 663–685). Demnach wurden Entfremdungsgefühle von vielen Individuen in die Ausbildung einer Geisteshaltung übersetzt, die heute als Verschwörungsmentalität (s. u.) zusammengefasst werden kann. In den Worten Arendts: »Das Leitmotiv dieser Konstruktionen, gleich in welchem Gewande sie erschienen, war, die offiziell bekannte Geschichte als Fassade zu entlarven und eine Sphäre ge1 2

Der ursprünglich in psychosozial 1/2020 erschienene Text wurde für diese Ausgabe überarbeitet und erweitert. Im Folgenden bemühe ich mich um terminologische Einheitlichkeit: Mit Verschwörungserzählungen sind die diskurstheoretische Bedeutung bestimmter Narrative gemeint, während Verschwörungsvorstellungen stärker die psychologische Dimension abbilden; Verschwörungsmentalität hingegen beschreibt unabhängig von der inhaltlichen Ausgestaltung eine allgemeine individuelle Disposition für die Ausbildung von Verschwörungsvorstellungen. Wenn zusätzlich weitere Begriffe verwendet werden, dann nur aufgrund einer (in-)direkten Zitation einer dann jeweils angegebenen Quelle.

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heimer Einflüsse zu erweisen, die sich dieser sichtbaren Geschichte bedient, um alle Welt zu narren« (ebd., S. 714, s. insb. S. 741–766). Als zentrale emotionale Grundlage solcher Verschwörungsvorstellungen erkannte Arendt eine dynamische Zersetzung des Vertrauens: »Dieser universalen Verdächtigkeit entspricht ein nicht weniger universales Mißtrauen, das mehr als alles andere alle menschlichen Beziehungen in der totalitären Gesellschaft unterminiert« (ebd., S. 892, Herv. d. A.). In psychologischer Hinsicht führten die weitverbreitete Verschwörungsmentalität und das universale Misstrauen zu einer massiven Einschränkung von Reflexionsfähigkeiten, bzw. wie Arendt es nannte: zu einer Unfähigkeit zu denken und zu einem Mangel an Vorstellungskraft, durch die »eine Grenzlinie zwischen Einbildung und Wirklichkeit psychologisch nicht mehr feststellbar ist« (ebd., S. 748). In der aktuellen psychodynamischen Theorie erkennen die Mentalisierungsforscher Allen, Fonagy und Bateman (2011, S. 416ff.) in dieser Analyse Arendts große Parallelen zu ihrem eigenen Modell: »Ihre Sichtweise des Denkens […] erfasst auf brillante Weise den Geist dessen, was wir als mentalisierende Haltung beschreiben« (ebd., S. 419, Herv. d. A.). Im Anschluss daran untersuche ich psychodynamische Mechanismen einer ausgeprägten Verschwörungsmentalität, die auch aktuell einen entscheidenden Nährboden antidemokratischer Bewegungen darstellt, mithilfe des Mentalisierungsmodells.

»Paranoide« Projektionen in Verschwörungsvorstellungen und »Autoritärer Charakter« Butter (2018, S. 151–160) bezeichnet die – wie er es nennt – »Frankfurter Schule der Verschwörungstheorieforschung« zum Autoritären Charakter in den 1930er- und 1940er-Jahren als entscheidenden Ausgangspunkt für die wissenschaftliche Erforschung von Verschwörungstheorien. Es gilt also zunächst, die zentralen Erkenntnisse dieses Forschungsprojekts zusammenzufassen, um diese anschließend auf dem aktuellen Forschungsstand weiterentwickeln zu können. Eine Forschungsgruppe um den analytischen Sozialpsychologen Erich Fromm, damals Leiter der Forschungsabteilung am Frankfurter Institut für Sozialforschung (IfS), konnte in ihrer 1929/30 durchgeführten Arbeiter-/ Angestellten-Enquete zeigen, dass der gesellschaftliche Aufstieg des Nationalsozialismus in der Weimarer Republik in sozioemotionaler Hinsicht mit einer Zunahme autoritärer Haltungen in der Bevölkerung korrespondierte, 90

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insbesondere in den Teilen der Bevölkerung, die sich in der damaligen Gesellschaft sozial isoliert und politisch entfremdet fühlten (Fromm, 1983). Während in dieser ursprünglichen Konzeption Fromms Verschwörungsvorstellungen nicht differenziert analysiert worden sind, wurde dieser Fokus von seinen Nachfolger*innen im New Yorker Exil ergänzt, wohin das IfS vor dem aufsteigenden Nationalsozialismus fliehen musste. Im fünften Band der Studies in Prejudice, der mit »Falsche Propheten« betitelt wurde, analysieren die IfS-Mitarbeiter Leo Löwenthal und Norbert Guterman als entscheidende Entstehungsbedingung für die Ausbreitung antidemokratischer Ideologien, dass Gefühlskomplexe der Hilflosigkeit und Passivität in Individuen durch die faschistische Agitation und Demagogie umgewandelt würden in die Ausbildung von kollektiven Verschwörungsvorstellungen: »[I]hr Gefühl, ausgeliefert zu sein, wird dazu benutzt, den Glauben zu nähren, daß sie das Objekt einer permanenten Verschwörung seien« (Löwenthal, 1990 [1949], S. 35, Herv. d. A.). Als fundamentale emotionale Dynamik erkennen auch Löwenthal und Guterman eine »Stimmung von Mißtrauen« (ebd., S. 36), die der faschistische Agitator für eine Umwandlung mangelnder gesellschaftlicher Anerkennung in einen Hass auf die vermeintliche Machtausübung durch angeblich geheim agierende Gruppen, die häufig zuvor abgewerteten Kollektiven zugeschrieben werden, nutze: »Er hetzt sein Publikum zu Reaktionen auf, die – im individuellen Bereich – dem Verfolgungswahn gleichen, und er bringt es dahin vor allem durch ein endloses Breittreten der Verschwörungsidee« (ebd., S. 40, Herv. d. A.). Hinter der befürchteten Fremdherrschaft werde häufig »der Jude als Feind« vermutet (vgl. ebd., S. 76–97), weil aus der Perspektive einer Verschwörungsvorstellung für gewöhnlich Jüdinnen und Juden die öffentliche Meinungsbildung und die politischen Institutionen kontrollieren würden sowie wesensmäßig andersartig seien. Die IfS-Arbeitsgruppe untersuchte damit erstmals in psychologischen Untersuchungen das Phänomen der Verschwörungsvorstellungen (als Teilaspekt eines umfassenderen Syndroms) und erkannte seine zentrale Bedeutung für die antidemokratische Propaganda. In dem Gemeinschaftsprojekt zum Autoritären Charakter zeigte sich der enge Zusammenhang zwischen einerseits (antisemitisch geprägten) Verschwörungsvorstellungen und andererseits einer autoritären Grundhaltung auch in empirischer Hinsicht. In den bekannten Untersuchungen von Adorno, Frenkel-Brunswik, Levinson und Sanford (2018 [1950]), die 1945 an vier Stichproben überwiegend amerikanischer Studierender durchgeführt worden sind, wurden in der AS-Skala antisemitische Ressentiments über die 91

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Zustimmung zu Aussagen gemessen, die Jüdinnen und Juden als gefährliche, herrschsüchtige, korrumpierende Gruppe darstellen, die in sich homogen geschlossen sei. In diesem Aspekt einer auf »die Juden« projizierten Angst vor einer übermächtigen, geheimnisvollen Bedrohung erkannten Adorno und Kolleg*innen eine entscheidende Verbindung zu Verschwörungsvorstellungen: »Dieses Phänomen kann durch einen Vergleich mit dem Verfolgungswahn erläutert werden, der, wie oft festgestellt wurde, viele strukturelle Züge mit dem Antisemitismus gemeinsam hat« (ebd., S. 112f., Herv. d. A.).3 In den empirischen Untersuchungen zeigte sich, dass die AS-Skala, in der »paranoide« Züge von Verschwörungsvorstellungen zum Ausdruck kamen, stark mit der sogenannten F-Skala korrelierte, mit der Adorno und Kolleg*innen bekanntermaßen das »antidemokratische Syndrom« und damit die Anziehung durch faschistisches Gedankengut erfassten (ebd., S. 92ff.). In psychodynamischer Hinsicht erwies sich der Mechanismus der Projektion, der sich bereits in antisemitischen Vorurteilen als zentral herausgestellt hatte, als entscheidendes Bindeglied zum Konzept des autoritären Charakters: »[D]er Autoritäre tendiert dazu, seine unterdrückten Impulse auf andere Menschen zu projizieren, um diese dann prompt anzuklagen. […] Tatsächlich sind die die meisten Sätze der F-Skala […] projektiv« (ebd., S. 60, Herv. d. A.). Derselbe psychodynamische Mechanismus wird von der IfS-Forschungsgruppe auch als entscheidender Hintergrund antisemitischer Verschwörungsvorstellungen analysiert, die im Sinne »paranoider Wahnvorstellungen« (ebd., S. 116) »die Juden« als »imaginären Feind« (vgl. ebd., S. 115–123) festsetzen: »[Dabei] handelt es sich überwiegend um Vorstellungen exzessiver Macht, die dem willkürlich ausgesuchten Feind zugeschrieben wird. Das Mißverhältnis zwischen der relativen sozialen Schwäche des Objekts und seiner angeblich finsteren Allmacht ist an sich selbst Beweis, daß hier projektive Mechanismen wirken« (ebd., S. 115, Herv. d. A.). 3

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Dieser Aspekt wurde von Hofstadter (1964) in seinem bis heute viel zitierten Konzept des paranoid style ausformuliert. Auch wenn ihm aufgrund dieser Bezeichnung im Nachhinein häufig der Vorwurf einer vermeintlichen klinischen Pathologisierung politischer Einstellungen gemacht worden ist (vgl. Butter, 2018, S. 103f.), distanziert sich Hofstadter (1964, S. 77) selbst in seinem Artikel von einer solchen deutlich. Dieser Aspekt der NichtPathologisierung politischer Überzeugungen ist auch heute bei modern-psychodynamischen Analysen unbedingt zu beachten. Für eine aktuelle Überprüfung des paranoid style in der Verschwörungsmentalität s. a. van der Linden et al. (2021).

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Zusammengefasst konnte die IfS-Forschungsgruppe mit ihren Untersuchungen damit erstmals empirisch begründen, dass eine erhöhte Ausprägung von Verschwörungsvorstellungen, die entscheidend für eine Aufnahmebereitschaft antisemitischer Ideologien ist, eng mit der Ausbildung autoritärer Haltungen, ethnozentrischer Vorurteile und antidemokratischer Überzeugungen zusammenhängt. Nicht nur die aktuellen Rechtsextremismus- und Antisemitismusanalysen des Politikwissenschaftlers Samuel Salzborn zeigen, dass auch heute noch die beiden Hauptaspekte der ursprünglichen psychoanalytischen Konzeption  – unbewusste Projektionen und ein »paranoider« Denkstil – als zentrale psychodynamische Charakteristika von Verschwörungsvorstellungen anzusehen sind (vgl. Salzborn, 2017, S.  119–127; 2019, S. 165–189).4 Angesichts der konzeptionellen Weiterentwicklungen auf dem Weg zur Gegenwartspsychoanalyse stellt sich jedoch die Frage, ob der ursprüngliche klassisch-psychoanalytische Theorierahmen, den die IfS-Forschungsgruppe mithilfe der Freud’schen Entwicklungs- und Triebtheorie aufstellte, in heutigen Untersuchungen nicht durch die Modernisierungen der psychodynamischen Theorie ergänzt oder vielleicht sogar ersetzt werden muss, um die veränderte Subjekt- und Identitätsbildung in der Spätmoderne angemessen erfassen zu können. Hierfür wird im Folgenden ein Vorschlag unterbreitet.

Mentalisierungstheoretisches Modell zur Verschwörungsmentalität Der psychoanalytische Sozialpsychologe Oliver Decker, Direktor des Kompetenzzentrums für Rechtsextremismus- und Demokratieforschung an der Universität Leipzig und Leiter der sogenannten Autoritarismusstudien, diskutiert für aktuelle Auseinandersetzungen »Das Veralten des Autoritären Charakters« (Decker, 2012): Während Freuds psychosexuelle Entwicklungstheorie, auf die die Frankfurter Schule ihre Konzeption des Autoritären Charakters gestützt hatte, für die damaligen Verhältnisse noch stärker patriarchal geprägter Gesellschaften zutreffend gewesen sei, solle der Autoritarismus aufgrund veränderter Lebensformen infolge der gesellschaftlichen Modernisierungsprozesse heute anders konzeptualisiert werden. In 4

Vgl. auch die Aufsätze von Florian Hessel und Martin Jay i. d. Bd.

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seiner Auseinandersetzung erörtert Decker (2018, S. 50–58) die Möglichkeit, zur Erforschung des psychodynamischen Hintergrunds autoritärer Dynamiken heutzutage nicht allein auf Freuds entwicklungstheoretisches Modell zurückzugreifen, das sehr auf den Ödipuskomplex konzentriert war, sondern stärker auch sogenannte »präödipale« Konzepte einzubeziehen, mit denen die Voraussetzungen zur Erreichung von Autonomie innerhalb naher Bindungsbeziehungen besser abgebildet werden können. Anstatt auf die Prägung psychosexueller Charakterstrukturen in der Kindheit zu schließen, aus der laut der ursprünglichen Konzeptualisierung autoritäre Charakterstrukturen hervorgingen, gilt es heute vielmehr zu untersuchen, wie über die Beeinträchtigung sozioemotionaler Fähigkeiten die Ausbildung einer zugleich stabilen und fluiden Identität verhindert wird und stattdessen regressive psychische Prozesse aktiviert werden. Ich habe an anderer Stelle ausführlich hergeleitet, warum sich die Forderung nach einer konzeptuellen Neubestimmung der psychodynamischen Mechanismen zur »Flucht ins Autoritäre« treffend mithilfe der Konzepte aus dem modern-psychodynamischen Mentalisierungsmodell einlösen lässt (s. Brauner, 2019a, b, 2020). Das Kernmodell dieses Ansatzes Autoritärer Emotionsdynamiken soll im Folgenden kurz zusammengefasst werden, um es anschließend auf psychodynamische Mechanismen innerhalb der Ausbildung einer Verschwörungsmentalität anzuwenden. Für eine psychodynamische Neuaufnahme der Autoritarismusforschung lässt sich auf die bindungstheoretische Konzeption der Autoritären Persönlichkeit durch Christel Hopf aufbauen, die in verschiedenen Studien einen engen Zusammenhang zwischen einerseits autoritären, rechtsextremen und fremdenfeindlichen Überzeugungen und andererseits einer unsicher-vermeidenden Bindung aufzeigen konnte (vgl. Hopf, 2000). Betrachtet man rückblickend diese Befunde, sind aus der Perspektive der aktuellen Bindungsforschung zwei Aspekte zu beachten: Zum einen wird Bindung inzwischen als Konzept aufgefasst, das nicht nur aus sozialisatorisch stabilen Komponenten (strukturell) besteht, die durch eine langfristig stabile Repräsentation von Erfahrungen mit nahen Bezugspersonen in der Kindheit entstehen, sondern auch aus situativ variablen Komponenten (dynamisch), deren Aktivierung von stressauslösenden sozialen Situationen abhängt (Verhees et al., 2019). Und zum anderen besteht der zentrale interpersonale Aspekt von Bindung darin, in Abhängigkeit vom Bindungsstil spezifische Umgangsweisen zur (größtenteils unbewussten) Regulation emotionaler Prozesse in nahen Beziehungen zu präfigurieren (Fonagy & Target, 2011, Kap. 10). 94

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In diesem Sinne lässt sich der von Hopf erforschte Zusammenhang nur zu einem geringen Teil als strukturelle Beeinflussung politischer Haltungen durch Kindheitserfahrungen verstehen, sondern entscheidender ist die Frage, welche emotionsbezogenen Prozesse in bestimmten sozialen Situationen durch einen unsicher-vermeidenden Bindungsstil dynamisch aktiviert werden. Der aktuelle sozialpsychologische Forschungsstand zeigt, dass der verstärkende Effekt einer unsicher-vermeidenden Bindung auf Vorurteile darüber vermittelt wird, dass durch die situativ ausgelöste Wahrnehmung einer subjektiven Bedrohung emotionsbezogene Fähigkeiten zur empathischen Perspektivübernahme und zu interpersonalem Vertrauen dynamisch eingeschränkt werden (Review: Carnelley & Boag, 2019). Zwar bedürfen die empirischen Hinweise aus dieser noch sehr jungen Forschungsrichtung noch weiterer Überprüfung (s. a. Mikulincer & Shaver, 2021, S. 6ff.), doch deutet sich aus mentalisierungstheoretischer Perspektive ein großes Erklärungspotenzial an. Damit lässt sich empirisch begründet die These formulieren, dass die negativen Effekte, die eine unsicher-vermeidende Bindung auf politische Überzeugungen hat, emotionsdynamisch auf Mentalisierungsregressionen in Situationen, die subjektiv als Bedrohung wahrgenommen werden, zurückgeführt werden können. Denn im Mentalisierungsmodell werden zwei emotionsbezogene Fähigkeiten als entscheidend für das Gelingen sozialer Kommunikation beschrieben, die große Überschneidungen zu den beiden dynamisch eingeschränkten Prozessen, die den Einfluss von Bindung auf Vorurteile vermitteln, aufweisen (vgl. Fonagy et al., 2019):5 Zum einen werden im Konzept Mentalisieren Fähigkeiten erfasst, menschliches Verhalten auf Grundlage mentaler Beweggründe reflektieren zu können, also zur Interpretation von Handlungen anderer sich in ihre Gefühle, Wünsche oder Gedanken hineinversetzen und diese in Distanz zu eigenen vorschnellen Vorstellungen reflektieren zu können. Mit einer solchen mentalisierenden Grundhaltung ist zum anderen die Fähigkeit epistemischen Vertrauens verknüpft, worunter grundlegend das Vertrauen in kommuniziertes Wissen verstanden wird, also die Fähigkeit zur Offenheit gegenüber der Informationsweitergabe durch andere im jeweiligen soziokulturellen Rahmen (Fonagy et al., 2015). Epistemisches Vertrauen bedeutet einen komplexen Prozess der Aufnahme soziokulturell vermittelter Informationen, der von der Fähigkeit abhängt, die Zuverläs5

Vgl. dazu auch den Beitrag von Hans-Jürgen Wirth i. d. Bd.

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sigkeit der Informationsquelle, die Relevanz der Information für einen selbst und die Qualität der Information selbst einzuschätzen (Campbell et al., 2021). Dies umfasst auch eine selbstschützende Fähigkeit zur kritischen Einschätzung der Informationsvermittlung durch andere, da diese auch unzuverlässig und damit nicht vertrauenswürdig sein können, bspw. aufgrund von Unwissenheit oder böswilligen Absichten. Das bedeutet, dass Brüche des epistemischen Vertrauens sich auf zweierlei Weisen ausdrücken können (ebd., S. 3), einerseits in der Tendenz, jedwede Informationsquelle als unzuverlässig oder böswillig zu betrachten und keinerlei Beeinflussung durch kommuniziertes Wissen zuzulassen (epistemisches Misstrauen), sowie andererseits in einem ausgeprägten Mangel einer wachsamen Diskriminierungsfähigkeit, was in einer grundsätzlichen Unklarheit bezüglich der eigenen Position und einer leicht aktivierbaren Anfälligkeit für die Beeinflussung durch Fehlinformationen von außen resultiert (epistemische Leichtgläubigkeit). Aus einer mentalisierungstheoretischen Perspektive kann epistemisches Vertrauen also sowohl dadurch gestört sein, dass »zu wenig«, als auch, dass »zu viel« vertraut wird (vgl. Tanzer et al., 2021, S. 3f.). An anderer Stelle wurde eine mentalisierungstheoretische Konzeption der Flucht ins Autoritäre heute entwickelt, indem Anknüpfungspunkte an die jüngere Autoritarismusforschung (Feldman & Stenner, 1997; Oesterreich, 2005) erarbeitet wurde; diese betont die Bedeutung »autoritärer Dynamiken«, die infolge von Bedrohungswahrnehmungen und (un-) zureichenden Bewältigungsmöglichkeiten entstehen (s.  Brauner, 2019a, 2020). Demnach lassen sich antidemokratische Ressentiments psychodynamisch damit assoziieren, dass durch Stimmungen, die als bedrohlich wahrgenommen werden, emotionsregulatorische Stile einer unsicher-vermeidenden Bindung ausgelöst und damit die Fähigkeiten zu mentalisieren und epistemisch zu vertrauen eingeschränkt werden. Konzeptionell lassen sich solche Prozesse als Regressionen auf den prämentalisierenden Äquivalenzmodus fassen, in dem beim Reflektieren mentaler Beweggründe und der Informationsvermittlung durch andere innere Fantasien mit äußeren Fakten gleichgesetzt werden. In der Folge ist die soziale Kommunikation davon geprägt, dass Reflexionsbemühungen von einem übertrieben argwöhnischen Grundgefühl dominiert werden, die Perspektiven anderer nicht ohne Vorherrschaft eigener Vorstellungen eingenommen werden können und Versuchen der Informationsvermittlung durch Mitmenschen mit einem massiven Misstrauen begegnet wird. Zusammengefasst lassen 96

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sich diese regressiven Prozesse als Autoritäre Emotionsdynamiken bezeichnen (vgl. Brauner, 2019b).6 Die Forschungsgruppe um Peter Fonagy, den Begründer der Mentalisierungstheorie, hat in den letzten Jahren deutlich betont, dass die Entwicklung und Ausübung des Mentalisierens und epistemischen Vertrauens stark vom jeweiligen soziokulturellen Kontext abhängt (Asen et al., 2019). Insbesondere in Phasen gesellschaftlicher Krisenzeiten könne das epistemische Vertrauen in offizielle Institutionen zusammenbrechen, was im Extremfall »gedankenloses Chaos und Gewalt« (ebd., S. 231) nach sich ziehen kann. Insgesamt könne daraus resultieren, dass der Äquivalenzmodus nicht mehr nur einzelne Individuen betrifft, sondern »institutionell wird« (ebd.): »Dann kann es durchaus eine dramatische Intoleranz gegenüber anderen Sichtweisen geben. Doch einfache  […], schematische und starre Denkmodelle, die starr gehalten werden, führen leicht zu dramatischen sozialen Handlungen und individuellen Vorurteilen« (ebd., Übers. d. A.). Vergleichbar damit betonen auch die mentalisierungstheoretischen Gruppenanalytiker*innen Schultz-Venrath und Felsberger (2016, S. 112) in ihrer Untersuchung von Regressionen auf den Äquivalenzmodus innerhalb kollektiver Gruppenprozesse, dass »das Denken […] in diesem Zustand von ungerechtfertigten Verallgemeinerungen und einseitigen Zuschreibungen gekennzeichnet [ist], wie z. B.: ›Ich weiß, wie es ist; keiner kann mir etwas erzählen!‹, ›Die ganze Welt ist schrecklich!‹, ›Er ist immer böse!‹ oder ›Sie ist immer gut!‹« In gesellschaftlichen Großgruppen äußere sich ein solches konkretistisches und unflexibles Denken »ausschließlich in maligner Regression […]: Was die regredierte Großgruppe über die Abartigkeit des Gegners und die Gerechtigkeit und Unschuld der eigenen Gruppe alles denkt, wird von allen für Realität gehalten« (ebd., S. 113). In Bezug auf die vorherrschende Geisteshaltung im Äquivalenzmodus sind mit einer solchen Ambiguitätsintoleranz mentale Prozesse verknüpft, die den psychodynamischen 6

Grundsätzlich lassen sich unter Emotionsdynamiken solche affektregulatorischen Prozesse fassen, die zur (größtenteils automatischen) Regulation (meist unbewusster) Konflikte zwischen widersprüchlichen Beziehungsmotiven eingesetzt werden (Benecke & Brauner, 2017). Dabei dienen die grundlegenden Fähigkeiten des Mentalisierens und Epistemischen Vertrauens insbesondere der Bewältigung des »dialektischen« Bindungsgrundkonflikts zwischen Bezogenheit und Autonomie, wobei ihre aktive Ausübung von der Art der Wahrnehmung, Regulation und Ausdrucksweise negativer Emotionen (insb. von Angstgefühlen) abhängt (Jurist, 2018; Luyten et al., 2019).

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Mechanismen der Projektion und des »paranoiden« Denkstils in Verschwörungsvorstellungen entsprechen: »So entsteht das Abartige bzw. Böse in der anderen Gruppe als das verleugnete Eigene. Die aus Kränkung und Angst entstehenden Gedanken werden mit der Wirklichkeit gleichgesetzt. Da das eigene Unbewusste die projizierten Selbstanteile genau kennt, wissen die Mitglieder der eigenen Großgruppe auch ganz genau, was die Mitglieder der verfeindeten Großgruppe fühlen, denken oder planen. Die sich subjektiv als gut erlebende Großgruppe durchschaut dann den bösen anderen, weil sie ihn selbst erschaffen hat. Durch ihr heimliches Wissen ist sie entsetzt über die andere Großgruppe, die sie argwöhnisch beobachtet und der sie sich moralisch überlegen fühlt« (ebd., Herv. d. A.).

Darüber hinaus charakterisiert Regression auf den Äquivalenzmodus in Gruppen »nicht selten eine Sturheit oder Intoleranz gegenüber alternativen Perspektiven« (ebd.), die maßgeblich »von einer Haltung der Selbstgerechtigkeit, absoluter Gewissheit und einer gewissen Arroganz begleitet« (ebd.) wird. Breitet sich eine solche Geisteshaltung innerhalb der gesamten Gruppe aus, sind gruppeninterne Reflexionsbemühungen von einer zunehmenden Radikalisierung, dem Einnehmen einer Opferhaltung und der Tendenz zur Verschleierung geprägt: »Wenn bestimmte Vorstellungen, die dem Äquivalenz-Modus zuzuordnen sind, nicht hinterfragt werden, besteht die Gefahr, dass diese sich in der Gruppe vervielfältigen  […]. Andererseits begünstigt der Äquivalenz-Modus Tabus, wodurch sich die Gruppe verhält, als ob bestimmte Katastrophen mit bestimmten Gruppenteilnehmern oder mit früheren Ereignissen oder Themen in der Gruppe verbunden sind, ohne angesprochen werden zu dürfen« (ebd., Herv. d. A.).

Anhand dieser Beschreibungen wird bereits evident, inwiefern im Rahmen eines mentalisierungstheoretisch formulierten Modells auch emotionsdynamische Aspekte von Verschwörungsvorstellungen analysiert werden können. In der sozialpsychologischen Forschung wurde mithilfe des Konzepts der Verschwörungsmentalität gezeigt, dass hinter dem Glauben an spezifische Verschwörungserzählungen eine allgemeine Geisteshaltung liegt, das Weltgeschehen als von im Geheimen und nach böswillig auf98

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gestellten Plänen agierenden Gruppen gesteuert zu imaginieren (Bruder et al., 2013; vgl. Douglas et al., 2019, S. 5f.). Abschließend sollen aktuelle Forschungsergebnisse vorgestellt werden, die die Ausbildung einer ausgeprägten Verschwörungsmentalität in Zusammenhang mit mentalisierungsbezogenen Fähigkeiten im Rahmen der gesellschaftlichen Coronakrise bringen.

Mentalisierungsfähigkeiten und Verschwörungsmentalität in der Coronakrise Die gegenwärtige Verbreitung von demokratiegefährdenden Einstellungen in Deutschland lässt sich aus den sogenannten Mitte-Studien ablesen, die regelmäßig unter Leitung des Instituts für interdisziplinäre Konflikt-und Gewaltforschung an der Universität Bielefeld durchgeführt werden. Bereits vor Ausbruch der Coronapandemie, in der Mitte-Studie 2018/19, offenbarte sich eine starke Anziehung durch Verschwörungserzählungen: So drückten über alle Items hinweg 38,5 % der Befragten in dieser repräsentativen Bevölkerungsumfrage im Durchschnitt eine zustimmende Haltung zu Aussagen aus, die eine Verschwörungsmentalität widerspiegeln (Rees & Lamberty, 2019). Besorgniserregend ist dieser Befund insbesondere dadurch, dass eine ausgeprägte Verschwörungsmentalität überproportional mit der Ausbildung rechtspopulistischer Überzeugungen einhergeht, was ein massives Misstrauen in die demokratischen Institutionen und eine verstärkte gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit zur Folge hat, sodass eine Verschwörungsmentalität auch heute eng mit einer antidemokratischen und antipluralistischen Grundüberzeugung verbunden ist (ebd., S. 215ff.). Insbesondere für die Ausbildung antisemitischer Vorurteile, die (nicht nur) im heutigen Rechtspopulismus vor allem hinter einer vermeintlichen Israelkritik versteckt sind, stellt eine ausgeprägte Verschwörungsmentalität einen einflussreichen Prädiktor dar (ebd., S. 219ff.).7 Damit wird deutlich, dass bereits vor Ausbruch der Coronapandemie ein beträchtliches Potenzial von Verschwörungsvorstellungen als Katalysator für demokratiegefährdende Einstellungen vorhanden war. Zusätzlich lässt sich konstatieren, dass auch heute ähnliche Einstellungsmuster eng miteinander zusammen7

Zum engen empirischen Zusammenhang zwischen Verschwörungsmentalität und Antisemitismus in der internationalen Forschung s. a. Douglas et al. (2019, S. 18).

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hängen, die bereits die ursprüngliche Frankfurter Schule um Adorno (et al., 2018 [1950]) und Löwenthal (1990 [1949]) sowie die Totalitarismusanalyse Arendts (2017 [1951]) als mentale Wegbereiter einer antidemokratischen Ideologie identifiziert hatte. Diese Zusammenhänge zwischen einer ausgeprägten Verschwörungsmentalität einerseits und einem rechten bis rechtsextremen Weltbild andererseits wurden auch in der aktuellen Mitte-Studie 2020/2021, die zu Beginn der Coronapandemie durchgeführt wurde, umfassend bestätigt (Lamberty & Rees, 2021). Eine andere großangelegte Erhebung, die ebenfalls während der Coronapandemie auf Bevölkerungsebene durchgeführt wurde (n = 1.684), zeigt zusätzlich, dass – vergleichbar zu den Erkenntnissen der Frankfurter Schule – auch in der deutschen Gegenwartsbevölkerung eine Tendenz zu »paranoiden Vorstellungen« einen zentralen Einflussfaktor auf einen ausgeprägten Glauben an allgemeine und coronabezogene Verschwörungserzählungen darstellt (Kuhn et al., 2021). Darüber hinaus wurden in einer Detailauswertung der Mitte-Studie 2020/21 (Krott & Reininger, 2021) erstmals Hinweise dafür gesammelt, wie bedeutend Beeinträchtigungen der Mentalisierungsfähigkeiten für ein »antidemokratisches Denken, Fühlen und Handeln« (ebd., S. 308ff.) in Deutschland sind. Die Auswertungen zeigen, dass Personen mit stark ausgeprägten Mentalisierungsfähigkeiten deutlich häufiger eine Identifikation als Demokrat*in ausbilden, während geringe Mentalisierungsfähigkeiten mit einer stärkeren Ausprägung gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit (etwa gegenüber als »fremd« wahrgenommenen Personen) und rechtspopulistischer Überzeugungen (z. B. Law-and-Order-Autoritarismus) assoziiert sind. Damit wird deutlich, dass die Ausbildung von Mentalisierungsfähigkeiten allgemein als protektiver Faktor gegenüber demokratiegefährdenden Entwicklungen in der deutschen Gegenwartsbevölkerung dienen kann. Wie abschließend dargestellt werden soll, lässt sich darüber hinaus aus einer Vielzahl von Studienergebnissen aus der internationalen Forschung aufzeigen, dass sich mithilfe des Mentalisierungsmodells auch spezifische Einflüsse auf die Verbreitung einer Verschwörungsmentalität im Rahmen der Coronapandemie untersuchen lassen. In der Auswertung einer repräsentativen Survey-Umfrage aus den USA zeigt sich, dass Personen mit einer stärker ausgeprägten Verschwörungsmentalität häufiger unsichere Bindungsstile aufweisen, was damit einhergeht, vermehrt von Gefühlen des Unwohlseins mit emotionaler Nähe und 100

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Bezogenheit in sozialen Beziehungen zu berichten (Freeman  & Bentall, 2017). In drei weiteren Studien konnte dieser Zusammenhang bestätigt werden, wobei eine erhöhte Verschwörungsmentalität insbesondere mit einer unsicher-vermeidenden Bindung (und weniger stark mit einer unsicher-ambivalenten Bindung) zusammenhängt, was die Autor*innen auf die spezifischen Umgangsweisen vermeidend gebundener Personen mit stressauslösenden Erfahrungen zurückführen (Leone et al., 2018). Im Kontext der COVID-19-Krise kann der Glaube an Verschwörungserzählungen mithilfe multipler linearer Regressionsmodelle auch bei Einschluss anderer Einflussfaktoren (teilweise) durch die Ausprägung unsicher-vermeidender (und unsicher-ambivalenter) Bindungsstile erklärt werden, sowohl in Bezug auf coronaspezifische als auch auf allgemeine Verschwörungstheorien (Braud et al., 2021). Darüber hinaus wurde aufgezeigt, dass der Einfluss einer unsicher-vermeidenden Bindung auf die Verschwörungsmentalität eng mit sogenannten manichäischen Reflexionen zusammenhängt, also mit der Tendenz, in einer rigiden und absoluten Art und Weise im Sinne moralisch polarisierter Gegensätze zu reflektieren (Freeman & Bentall, 2017, Studie 3). In diesen Forschungsergebnissen besteht ein empirischer Hinweis darauf, dass die Aktivierung einer unsicher-vermeidenden Bindung eine Verschwörungsmentalität dadurch verstärkt, dass Mentalisierungsfähigkeiten eingeschränkt werden. Denn Reflexionen im prämentalisierenden Äquivalenzmodus sind – wie zuvor ausgeführt – maßgeblich von einer konkretistischen Einteilung in gegensätzliche Kategorien geprägt, ein Phänomen, das bereits von der ursprünglichen Forschungsgruppe zum Autoritären Charakter als Ambiguitätsintoleranz beschrieben worden ist (FrenkelBrunswik, 1949, S. 115).8 Im Rahmen der Coronakrise ist bspw. von Steele (2020) vermutet worden, dass ein Zusammenbruch der Fähigkeiten zur »Mentalisierung von Angst« zur Verstärkung einer Verschwörungsmentalität führen kann. Zusätzlich diskutieren Forschende vom University College London, dass das allgemeine Level von Mentalisierungsfähigkeiten während der Coronakrise vermutlich gesunken ist (Lassri & Desatnik, 2020). Im Existential Threat Model, das eine Synthese einer Vielzahl von sozialpsychologischen 8

Auch Adorno und Kolleg*innen (2018 [1950], S. 130ff.) erörtern diesen »Automatismus des Schwarz-Weiß-Denkens«, der nicht nur für antisemitische Ideologien, sondern ethnozentrische Vorurteile insgesamt zentral sei.

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Studienergebnissen zur Verschwörungsmentalität darstellt, wird davon ausgegangen, dass der Einfluss von Bedrohungserfahrungen auf den Glauben an Verschwörungstheorien durch mangelhafte »sense-making-processes« vermittelt wird; z. B. durch die Bevorzugung von automatisch-intuitiven gegenüber analytisch-kontrollierten Reflexionsprozessen, durch teleologisches Denken beim Schlussfolgern bezüglich möglicher Zusammenhänge und durch eine übertriebene und fehlerhafte Fokussierung auf Indikatoren für (vermeintliche) Handlungsmacht (van Prooijen, 2020). In einem mentalisierungstheoretischen Rahmen können diese Studienergebnisse so interpretiert werden, dass Brüche des Mentalisierens, die in gesellschaftlichen Krisenzeiten (etwa in der Coronakrise) ausgelöst werden, Verschwörungsvorstellungen verstärken. Neben den beschriebenen Zusammenhängen mit unsicheren Bindungsstilen und eingeschränkten Mentalisierungsfähigkeiten ist eine ausgeprägte Verschwörungsmentalität empirisch vor allem mit Einschränkungen des epistemischen Vertrauens assoziiert. Dem Two-Component, Socio-Epistemic Model of Conspiracy Belief (Pierre, 2020) zufolge entsteht eine ausgeprägte Verschwörungsmentalität im Kern aus dem Verlust des epistemischen Vertrauens in die Übermittlung von Informationen durch gesellschaftlich autorisierte Institutionen oder Personen (erste Komponente); als Folge dieser Ablehnung autoritativer Informationsübermittlung entsteht ein Vakuum der Welterklärung, das zu einer Anfälligkeit für den Glauben an Fehlinformationen führt (zweite Komponente). Die Kernaussage des Modells besteht somit darin, dass eine Verschwörungsmentalität »weniger eine primäre Anziehungskraft für Verschwörungserzählungen repräsentiert als vielmehr eine Ablehnung autoritativer Darstellungen, akzeptierter Erklärungen und konventioneller Erkenntnis« (ebd., S. 620). Dieses Modell wurde aktuell in einem systematischen Review von 133  Studien über die weltweite Ausbreitung von Verschwörungsvorstellungen im Rahmen der COVID-19-Pandemie getestet: Als Hauptergebnis wird deutlich, dass die gesellschaftliche Situation großer Unsicherheit und Bedrohungswahrnehmung insbesondere bei solchen Personen zu verstärkten Verschwörungsvorstellungen führt, bei denen Defizite oder Zusammenbrüche des epistemischen Vertrauens ausgemacht werden können (van Mulukom et al., 2021). Als zentrales Fazit ihres Reviews gelangen die Autor*innen zu der Erkenntnis, »dass die Konzentration auf den Aufbau von Vertrauen ein effektiverer Weg sein kann, als nur über Fakten zu diskutieren« (ebd., S. 47, Übers. d. A.). 102

»Vertraut mir, ihr solltet niemandem vertrauen«

Damit einhergehend zeigt sich in einer aktuellen Pilotstudie der Forschungsgruppe um Fonagy, dass Brüche des epistemischen Vertrauens (epistemic disruption) dazu führen, dass sich allgemeine sowie coronabezogene Verschwörungsvorstellungen verstärken und nicht mehr zuverlässig zwischen vertrauenswürdigen Nachrichten und Falschinformationen differenziert werden kann (Tanzer et al., 2021). Dabei präsentieren sich Effekte bezüglich beider Ausprägungen einer Beeinträchtigung des epistemischen Vertrauens, Misstrauen und Leichtgläubigkeit (s. o.). Aus US-amerikanischen Repräsentativerhebungen lässt sich außerdem ablesen, dass der Einfluss einer rechten politischen Orientierung auf die Ausbildung einer Verschwörungsmentalität und eines ausgeprägten Glaubens an spezifische Verschwörungserzählungen dadurch mediiert wird, dass ein Misstrauen in die Informationsweitergabe durch offizielle Institutionen sowie eine Vorherrschaft »paranoider« Vorstellungen ausgebildet wird (van der Linden et al., 2021). Zusammenfassend lässt sich aus den dargestellten Forschungserkenntnissen ablesen, dass sich zentrale Aspekte, die bereits im Titel meines Beitrags angeklungen sind, empirisch fundiert worden sind. Das Mentalisierungsmodell kann somit einen entscheidenden Erklärungsansatz für die zentrale Dialektik bieten, die für eine ausprägte Verschwörungsmentalität charakteristisch ist: dass einerseits der Informationsvermittlung durch bestimmte Quellen (bspw. den sogenannten »Mainstreammedien« oder virologischen Forschungsinstituten) ein massives Misstrauen entgegen gebracht wird, während anderen Quellen (etwa Telegram-Kanälen von »Querdenken« oder der sogenannten »Alternativmedizin«) ohne Prüfung der Zuverlässigkeit der Aussagen leichtgläubig gefolgt wird. Beide Tendenzen lassen sich aus mentalisierungstheoretischer Perspektive gleichermaßen auf Brüche des epistemischen Vertrauens und Mentalisierens im Rahmen autoritär-antidemokratischer Gesellschaftsdynamiken zurückführen. Literatur Adorno, T. W., Frenkel-Brunswik, E., Levinson, D. J. & Sanford, R. N. (2018 [1950]). Die Messung antidemokratischer Züge in der Charakterstruktur. In T. W. Adorno, Studien zum autoritären Charakter (S. 37–104). Frankfurt/M.: Suhrkamp. Allen, J. G., Fonagy, P. & Bateman, A. W. (2011). Mentalisieren in der psychotherapeutischen Praxis. Stuttgart: Klett-Cotta. Arendt, H. (2017 [1951]). Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft: Antisemitismus, Imperialismus, totale Herrschaft. 20. Aufl. München: Piper.

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Biografische Notiz

Felix Brauner, M. Sc., ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Psychologischen Hochschule Berlin, Lehrstuhl Klinische Psychologie und Psychotherapie (tiefenpsychologisch-psychodynamischer Schwerpunkt), Psychologischer Psychotherapeut in Ausbildung am Alfred-Adler-Institut Berlin und Promovend im Fach Psychologie an der Universität Kassel.

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Politische Bildungsarbeit für eine »Gesellschaft der Mündigen«1 Melanie Hermann, Florian Eisheuer & Jan Rathje

Die SARS-CoV-2-Pandemie seit Ende 2019 hat verdeutlich, welche gesellschaftlichen Probleme Verschwörungsideologien darstellen können. Im Kern binden verschwörungsideologische Welterklärungsmodelle durch die modernen Möglichkeiten digitaler Vernetzung weltweit Menschen an wahnhafte Ideen autoritärer Herrschaft und an apokalyptische Endzeitfantasien. Im Rahmen der Pandemie haben auch staatliche Akteur*innen den erstarkenden Trend der Hinwendung zu Verschwörungsideologien anerkennen müssen. Dementsprechend steigt die Nachfrage nach staatlichen und/oder pädagogisch implementierten Gegenstrategien. Diese Bereitschaft ist zwar durchaus begrüßenswert, vielfach führen jedoch die angestrebten Maßnahmen am Kern des Problems vorbei. Politische Bildungsarbeit zielt im Verständnis der Autor*innen auf ein differenziertes Verständnis der Problemlage, unter Einbeziehung gesellschaftlicher Konstellationen. Nur so besteht die Möglichkeit, adäquate Handlungsoptionen und Gegenstrategien zu entwickeln, die das Phänomen Verschwörungsideologie in seiner Komplexität begreifen und bekämpfen können. Sie sollen reflexive Bildungsprozesse erzeugen, insbesondere bei jenen Individuen, die anfällig für Verschwörungsideologien sind. Im Folgenden werden die Herausforderungen beschrieben, die Verschwörungsideologien an politische Bildungsarbeit stellen. Es geht dabei nicht um die Darstellung konkreter Methoden, sondern um die Erörte1

Der ursprünglich in psychosozial 1/2020 erschienene Text wurde für diese Ausgabe überarbeitet und aktualisiert.

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Melanie Hermann, Florian Eisheuer & Jan Rathje

rung eines Bildungsverständnisses, das die gesellschaftlichen Verhältnisse analysiert, die beiden zugrunde liegen, und das dazu beiträgt, Individuen zu reflexiver Kritik zu befähigen. Es werden dementsprechend keine spezifischen Zielgruppen verhandelt, sondern strukturelle Überlegungen zu den Ansprüchen an politische Bildungsarbeit skizziert. Dazu wird zunächst eine Terminologie vorgestellt, die Unzulänglichkeiten des Begriffs »Verschwörungstheorie« adressiert, und mit der Verschwörungsideologie einen für die Praxis besser geeigneten Begriff anbietet. Ferner wird aufgezeigt, welche Funktionen Verschwörungsideologien erfüllen und inwiefern sie als Welterklärungsmodelle auf struktureller Ebene starke Parallelen zum Antisemitismus aufweisen. An die theoretischen Grundlagen anschließend wendet sich der Artikel den Herausforderungen zu, die insbesondere der identitätsstiftende Faktor von Verschwörungsideologien an die politische Bildungsarbeit stellt. Abschließend werden die grundsätzlichen Möglichkeiten und Fallstricke politischer Bildungsarbeit in Bezug auf Verschwörungsideologien diskutiert.

Theoretische Grundlagen Verschwörungsideologie

Für die politische Bildungsarbeit bietet der Begriff der Verschwörungsideologie, der auf den Extremismusforscher Armin Pfahl-Traughber (2002) zurückgeht, einen differenzierteren Zugang zur Thematik. Er nutzt für die Analyse moderner Gesellschaften die idealtypischen Begriffe »Verschwörung«, »Verschwörungshypothese« sowie »Verschwörungsideologie« bzw. »Verschwörungsmythos«. Der Begriff der Verschwörung akzeptiert den Umstand, dass Verschwörungen reell existieren und Teil komplexer Gesellschaften sind. Bei ihnen handele es sich um heimliche Verabredungen mit einem relativ kurzen Zeithorizont zum Zweck des Machtgewinns oder -erhalts. Pfahl-Traughber beschreibt mit diesem Begriff also Verschwörungen, die sich auf ein bestimmtes oder mehrere Ereignisse beziehen, jedoch nicht auf Superverschwörungen, die alle Ereignisse der Welt, auch historische, in einer einzigen Verschwörungserzählung vereinen.2 Da 2

Zur Unterscheidung von ereigniszentrierten, systemischen und Superverschwörungen vgl. Barkun (2013, S. 6).

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Politische Bildungsarbeit für eine »Gesellschaft der Mündigen«

Verschwörungen im Sinne der ersten Bestimmung existieren, sei die Annahme, dass ein bestimmtes Ereignis das Ergebnis einer Verschwörung sei, innerhalb demokratischer Diskurse als Verschwörungshypothese legitim. Als Hypothese bleibe die Verschwörung eine von vielen Erklärungsmöglichkeiten für ein gesellschaftliches oder historisches Ereignis, bis ihre Existenz abschließend bewiesen oder widerlegt sei. Ein wichtiges Kriterium innerhalb dieses Prozesses sei die Offenheit der sie vertretenden Person(en) für Kritik. Immunisiere sich die Verschwörungshypothese vor Kritik, so verfestige sie sich zu einer Verschwörungsideologie. Pfahl-Traughber beschreibt sie als eine »festgefügte, monokausale und stereotype Einstellung« (ebd., S. 32). In ihnen würden real existierende Gruppen als vermeintliche Verschwörer*innen benannt, etwa Geheimdienste, Freimaurer*innen oder andere Logen. Eine überzeichnete Variante der Verschwörungsideologie bilde der Verschwörungsmythos, in dem mythische oder mythisierte Gruppen als Verschwörer*innen bestimmt werden. Referenzen auf Aliens (Reptiloide), satanistische Geheimbünde, den 1784/85 aufgelösten Illuminatenorden oder die »jüdische Weltverschwörung« fallen in diese Kategorie. PfahlTraughber betont in diesem Zusammenhang, dass aufgrund des Mangels an objektiver Realitätsgebundenheit der Gruppen der Glaube an ihre Existenz im Vordergrund stünde. Verschwörungsideologie und -mythos lassen sich jedoch nur idealtypisch voneinander trennen. In der Empirie zeigt sich eine Durchdringung beider Kategorien, besonders auf der Ebene der Superverschwörung. Ergänzend zu Pfahl-Traughbers Definition von Verschwörungsideologie sollen an dieser Stelle weitere Aspekte neben dem des widerspruchsfreien Welterklärungsmodells hervorgehoben werden. Verschwörungsideologien bündeln nicht bloß fantastische und falsche Erzählungen und Erklärungen gesellschaftlicher Sachverhalte, sondern stellen als Ideologie eine »Verschränkung des Wahren und Unwahren« (Adorno 2003 [1954], S. 465) dar. Ihr Zustandekommen ist nicht zufällig, sondern korrespondiert mit den Grundlagen bürgerlicher Vergesellschaftung. In den letzten Jahren wurde darüber hinaus der Begriff der Verschwörungserzählung (Nocun & Lamberty, 2020) in den öffentlichen Diskurs eingeführt. Im Rahmen politischer Bildungsarbeit eignet er sich, um analytisch einzelne Narrative voneinander zu trennen und ihre Einbindung in verschiedene Ideologien aufzuzeigen. Für demokratische Gesellschaften werden sie zum Problem, wenn sie sich zur Ideologie verdichten. 109

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Funktionen von Verschwörungsideologien

Für die weitere Analyse soll der Begriff der Verschwörungsideologie für das in der Pädagogik zu adressierende Problem genutzt werden. Verschwörungen im Sinne Pfahl-Traughbers und Verschwörungshypothesen sind somit nicht Gegenstand dieser Betrachtung. Weiterhin bietet eine funktionale Betrachtung von Verschwörungsideologien fruchtbare Anknüpfungspunkte für die pädagogische Arbeit. In der Wissenschaft werden vier Funktionen hervorgehoben: die Identitätsfunktion, die Sinnstiftungs- und Erkenntnisfunktion, die Manipulationsfunktion sowie die Legitimationsfunktion (vgl. Groh, 1987; Pfahl-Traughber, 2002; Rogalla von Bieberstein, 1992, S. 114). Zentral ist in diesem Zusammenhang die Identitätsfunktion. Sie bietet Anhänger*innen von Verschwörungsideologien über irrationale bis wahnhafte Erklärungsmodelle eine eindeutige Identität in der von Ambivalenz und Widersprüchlichkeit gekennzeichneten Welt moderner gesellschaftlicher Verhältnisse. Diese Identität entsteht aus der Identifikation des Bösen, dessen Negation die positiven Eigenschaften des verschwörungsideologisch geleiteten Subjekts darstellt. Zunächst identifizieren sich Anhänger*innen von Verschwörungsideologien als Opfer einer Verschwörung. Weiterhin sind Verschwörungsideologien von einem Manichäismus gezeichnet, der die Welt als Feld einer letzten Entscheidungsschlacht zwischen den Mächten des Lichts/des Guten und der Finsternis/des Bösen begreift, und in der sich ihre Anhänger*innen auf der Seite des Guten verorten. Widerstreitende individuelle Interessen sowie anonyme strukturelle und systemische Zwänge werden auf eine große Verschwörung reduziert, deren Vernichtungsmotivation dadurch begründet wird, das Böse an sich zu sein. Im Manichäismus ist die Identitätsfunktion eng verbunden mit der Sinnstiftungs- und Erkenntnisfunktion von Verschwörungsideologien. Die Identifikation des Bösen ordnet komplexe gesellschaftliche und historische Prozesse und befreit diese von Widersprüchen. Verschwörungsideologien beantworten in diesem Sinne die Frage »Why do bad things happen to good people?« (vgl. Groh, 1987). Im Masterplan der vermeintlichen Verschwörer*innen, sei es derjenige aus »den Protokollen der Weisen von Zion«, derjenige der »New World Order« (»Neue Weltordnung«, NWO), des »Great Reset« oder der »Plandemie«, hat alles einen festen Platz. Dieses Strukturmerkmal von Verschwörungsideologien (vgl. Rathje, 2021) ermöglicht es, vergangene, gegenwärtige und zukünftige Ereignisse als Teil der vermeintlichen Verschwörung zu inkorporieren. 110

Politische Bildungsarbeit für eine »Gesellschaft der Mündigen«

Aus der Sinnstiftungs- und Erkenntnisfunktion von Verschwörungsideologien leitet sich deren Manipulationsfunktion ab. Die Personifizierung des Bösen, die in der Identifikation der vermeintlichen Verschwörer*innen enthalten ist, verweist implizit auf Handlungen, die notwendig scheinen, um das Böse aus der Welt zu tilgen. Diese reichen von Missionierungs- und Propagandabemühungen, die auf ein »Erwachen« der guten Mehrheit gegen die böse Minderheit der Weltverschwörer*innen abzielen, bis hin zu individuellen und kollektiven Gewalthandlungen. In letzter Instanz lassen Verschwörungsideologien keinen Kompromiss in der Auseinandersetzung mit dem Bösen zu, da es in ihren Konstellationen das Böse an sich darstellt, sondern setzen auf eine endgültige Lösung des vermeintlich existierenden Problems: die Vernichtung des Bösen und der als böse Identifizierten. Damit verbunden ist außerdem das utopische Heilsversprechen eines widerspruchsfreien Orts, an dem lediglich das Gute existieren werde. Abschließend dienen Verschwörungsideologien der Legitimation von Herrschafts-, Unterdrückungs- und/oder Vernichtungshandlungen gegen die vermeintlichen Verschwörer*innen. Je stärker ihr Bild überzeichnet wird, je mehr ihnen Bestialität und Gesetzlosigkeit vorgeworfen wird, desto legitimer erscheint in Verschwörungsideologien ein gewalttätiger »Widerstand«, der nicht an geltendes Recht gebunden sein muss (vgl. Strozier, 2012). Doch nicht nur »erfolgreiche« Gewalthandlungen gegen vermeintliche Verschwörer*innen können legitimiert werden, sie entlasten Anhänger*innen auch von Niederlagen, Scheitern und dem Nichteintreffen eines ersehnten Ereignisses und versehen diese mit Sinn: schuld sei die »Verschwörung« (vgl. Butter, 2018, S. 115–124; Groh, 1987, S. 5). Gleichzeitig wird das Subjekt in dieser Legitimation der Niederlage, häufig in Form einer Rationalisierung, aufgewertet. Schließlich wird es von der Verschwörung für wert befunden, als Feind*in direkt bekämpft zu werden. Verschwörungsideologien und Antisemitismus

Eine pädagogische Praxis, die Verschwörungsideologien adressiert, muss ebenfalls offen Antisemitismus thematisieren. Beide Phänomene sind eng miteinander verbunden. Der Mythos der »jüdischen Weltverschwörung« wird seit dem Spätmittelalter in christlichen Gesellschaften verbreitet (vgl. Heil, 2006). Seither ist er als »komplexe Stereotypverknüpfung« (Schwarz-Friesel  & Reinharz, 2013, S.  107) Bestandteil tradierter Wis111

Melanie Hermann, Florian Eisheuer & Jan Rathje

sensbestände. Im Zuge von Aufklärung und Französischer Revolution wurde der Mythos von Konterrevolutionären säkularisiert und mit dem Verschwörungsvorwurf gegen Freimaurer*innen, Liberale und Sozialist*innen fusioniert. Vom 19. bis in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts wandelte er sich von der »jüdisch-freimaurerischen« zur »jüdisch-bolschewistischen Weltverschwörung«, dessen bedeutendstes Dokument, trotz stetiger Widerlegung, die Fiktion der »Protokolle der Weisen von Zion« darstellt (vgl. Hagemeister, 2011; Rogalla von Bieberstein, 1992). Nach der Shoah wurde der Mythos der »jüdischen Weltverschwörung« v. a. innerhalb rechtsextremer und islamistischer Kreise offen verbreitet. In öffentlichen Debatten in Deutschland hatte eine Tabuisierung und Sanktionierung antisemitischer Äußerungen die Ausbildung impliziter Formen zur Folge: Latenter Antisemitismus drückt sich nach 1945 vornehmlich durch Codes und Chiffren (»Kosmopoliten«, »One-WorldGovernment«, »NWO«, »Globalisten« etc.) aus, die auf in der Gesellschaft vorhandenes Wissen um antisemitische Stereotype rekurrieren (vgl. Schwarz-Friesel & Reinharz, 2013, S. 37f.). Die Nutzung von antisemitischen Codes und Chiffren ist aber nicht nur auf diesen Raum beschränkt, sondern lässt sich auch in anderen (trans-)nationalen Zusammenhängen feststellen. In seiner ideologischen Verfestigung zeigt Antisemitismus nicht nur die gleichen Funktionen wie Verschwörungsideologien auf, beide teilen ebenso drei zentrale Strukturprinzipien (vgl. Rathje, 2021). Thomas Haury hat diese exemplarisch in seiner Studie Antisemitismus von links (2002, S.  105–114) herausgearbeitet. So personifizieren beide gesellschaftliche Prozesse als absichtsvolles Handeln einzelner, mächtiger Menschen, das sich im Geheimen vollzieht. Weiterhin teilen beide den in der Identitätsfunktion dargelegten Manichäismus, dem ebenso eine Teilung der Welt in identitäre Kollektive eingeschrieben ist, in denen Menschen im Wesentlichen kollektive Eigenschaften besitzen. Darüber hinaus sind antisemitische Weltverschwörungsmythen Teil des gesellschaftlich tradierten Wissens, sodass Antisemitismus in Verschwörungserzählungen auch unbeabsichtigt reproduziert wird. Eine Ausweitung der Grenzen des Sagbaren kann in diesem Fall auch dazu beitragen, dass eine Verschiebung von impliziten zu expliziten antisemitischen Äußerungen in verschwörungsideologischen Diskursen stattfindet. Verschwörungsideologien geben somit Strukturen und Funktionen vor, die im Antisemitismus um ein tradiertes Feindbild angereichert werden 112

Politische Bildungsarbeit für eine »Gesellschaft der Mündigen«

können. Praktisch kann sich dies als »Erweckungserlebnis« innerhalb des Radikalisierungsprozesses vollziehen: Der Weg vom impliziten, durch Codes und Chiffren ausgedrückten, zum expliziten Antisemitismus führt die Anhänger*innen in den inneren Kreis der »Eingeweihten«.

Identitätskonstruktionen als Herausforderung für politische Bildungsarbeit Die in verschwörungsideologischen Diskursen zentralen Identitätsangebote stellen die politische Bildungsarbeit vor große Herausforderungen. Die bisweilen untrennbare, identitäre Verwobenheit zwischen Individuum und Narrativ, also das Zusammenfallen der (selbst) zugeschriebenen Rolle in der Erzählung und der Selbstwahrnehmung, wirkt sich integral darauf aus, welche Gegenstrategien sinnvoll und zielführend sein können. Das sich selbst als ohnmächtig und erniedrigt wahrnehmende Individuum erhält die Möglichkeit, sich durch aktives Aufbegehren aus diesem Zustand herauszulösen. Reelle Krisen, wie etwa die COVID-19-Pandemie und die damit verbundenen Unsicherheiten und Selbstwirksamkeitsbeschränkungen, können diese Wahrnehmung verstärken und mit (weiteren) objektiven Bezügen versehen. Identitätskonstruktionen in verschwörungsideologischen Narrativen sind grundsätzlich durch einen manichäischen Kontrast geprägt. Auf der einen Seite das Gros der Menschheit, das unverschuldet zum Opfer der Verschwörung gemacht wurde und mit positiven Attributen wie Ehrlichkeit, Tüchtigkeit, Gemeinschaftssinn etc. in Verbindung gebracht, gleichzeitig aber auch als kraftlos und ohnmächtig wahrgenommen wird. Auf der anderen Seite der kleine Kreis der Verschwörer*innen, die als unehrlich, materialistisch, verschlagen etc., aber gleichzeitig auch als nahezu allmächtig porträtiert werden. Held*in statt Opfer

Die Attraktivität der implizit enthaltenen Identitätsangebote speist sich aus der Möglichkeit, dieser eigentlich ausweglos erscheinenden Situation doch noch entgehen zu können. Der Kampf »Gut gegen Böse« schließt auch gewaltvolle Formen nicht aus, da diese aus der Perspektive des 113

Melanie Hermann, Florian Eisheuer & Jan Rathje

Opfers als Selbstverteidigung wahrgenommen und rationalisiert werden (Adorno, 1973 [1950], S.  369ff.). Dem eigenen Opferstatus, so lautet das Versprechen, könne man nicht nur entkommen, sondern er könne aktiv umgekehrt werden. Aus dem ursprünglich passiven Opfer kann durch einen Akt selbstloser Aufopferung für die Gemeinschaft ein aktives gemacht werden. Statt Opfer zu sein, wird ein Opfer erbracht (vgl. Stegemann & Neumann, 2016, S. 218f.; Münkler & Fischer, 2000). Das Resultat ist Selbstermächtigung durch Selbstaufgabe. Die existenzielle Gefahr auf sich zu nehmen, die mit einem Auflehnen gegen eine globale Verschwörung verbunden ist, befriedigt die romantisch verklärte Sehnsucht nach »echten Held*innen« in einer Zeit, die solcherlei Heldenmut jenseits popkultureller Inszenierungen eigentlich nicht mehr kennt, da sie schon längst »postheroische Gesellschaften« hervorgebracht hat. Bei diesen handelt es sich nicht etwa um unheroische, sondern um solche, in denen eine Erinnerung an vergangene, heroische Zeiten in kulturell tradierten Formen kollektiver, sozialer Erinnerung verankert und nostalgisch verklärt ist (vgl. Münkler, 2007). Vorstellungen vom Heroischen bilden zwar nicht mehr den Kern politischer Identitäten und gesellschaftlicher Selbstbilder, existieren aber als ideologisch aufgeladenes Rudiment und als Angebot dennoch weiter. Die selbstaufwertende Transformation vom Opfer zur Heldin, zum Helden erfolgt niemals losgelöst von sinnstiftenden Vorstellungen von Gemeinschaft. Abwehrverhalten aus purem, individuellem Selbstschutz gilt zwar als legitim, aber nicht als heldenhaft. Erst die Aufopferung für etwas Größeres transzendiert die Bereitschaft, existenzielle Risiken einzugehen, in einen Akt der Selbstauflösung, die letztlich ein untrennbares, symbolisches Band zwischen dem Helden, der Heldin und der Gemeinschaft etabliert: »Nicht das Blut, das an seinen Waffen klebt, macht den Krieger zum Helden, sondern seine Bereitschaft zum Selbstopfer, durch das andere gerettet werden. Demgemäß ist der Held nicht durch seine Kampfkraft, sondern durch die Opferbereitschaft definiert. Im Umgang mit dem Wissen um dieses Opfer erweist sich das Heroische« (ebd., S. 742).

Im Rahmen der Proteste gegen die Coronaschutzmaßnahmen zeigte sich eine neue, popkulturell inspirierte Ästhetik der Selbstheroisierung. Ein Aktivist aus Berlin, der einem hedonistischem Spektrum zuzuordnen ist, 114

Politische Bildungsarbeit für eine »Gesellschaft der Mündigen«

inszenierte sich als Superheld und trat im bunten Kostüm als DJ auf Demonstrationen auf. Mit augenzwinkerndem Gestus wurde eine Leichtigkeit der Proteste vermittelt, die sich selbst als Gegenpol zur angeblichen Lustfeindlichkeit der Coronamaßnahmen verstanden. Dennoch war auch diesen Veranstaltungen gemein, dass sie in ihrer Selbstwahrnehmung die Verteidigung der Demokratie zum Ziel hatten. Unter Slogans wie »Frieden, Freiheit, keine Diktatur« wurde zur Verteidigung bürgerlicher Grundrechte und zum Widerstand gegen als antidemokratisch empfundene Maßnahmen wie die Masken- und später die Impfpflicht aufgerufen. Auch Teile der AfD riefen öffentlich zum Widerstand gegen die »Coronadiktatur« auf. Auch im Kontext der Coronaproteste zeigt sich also, dass die Akteur*innen sich zwar einerseits vorgeblich dem Gemeinwohl verpflichtet fühlen, andererseits wird aber auch die Widersprüchlichkeit verschwörungsideologischer Positionierungen im Konflikt zwischen Gemeinwohl und Eigennutz deutlich. Einerseits wurde ein Topos bedient, der als Werkzeug der Selbstlegitimierung und moralischen Selbstaufwertung fester Bestandteil des verschwörungsideologischen Repertoires ist, der Schutz besonders vulnerabler Teile der Gesellschaft, nämlich der Kinder, deren Verpflichtung zum Tragen von Mund-Nasen-Schutz als besonders menschenunwürdig missbilligt wurde oder die gar vor einer angeblichen Vergiftung durch den Impfstoff geschützt werden müssten. Gleichzeitig konnte zumindest in Teilen des Milieus allerdings andererseits eine Tendenz vorgefunden werden, die als »Solidarität der Gesunden« bezeichnet werden könnte. Wer an COVID-19 erkranke, habe sich bspw. nicht ausreichend um das eigene Immunsystem gekümmert und trage somit die Verantwortung. Der Aspekt der Selbstaufopferung zeigt sich im Kontext der Coronaproteste primär als Gefahr sozialer Ächtung. Im Rahmen der Debatte über die Einführung einer Impfpflicht für Pflegepersonal kam es zu Selbstinszenierungen als Opfer der Maßnahmen, die aus der Perspektive der Akteur*innen einem Berufsverbot für Ungeimpfte gleichkämen. Gleichzeitig wurde v. a. in sozialen Medien in Bild- und Textbeiträgen dazu aufgerufen, sich gegen die verpflichtende Impfung zur Wehr zu setzen, auch wenn dies mit entsprechenden Konsequenzen einhergehe. V. a. Ärzt*innen, die sich trotz negativer Auswirkungen als Sprachrohr der Bewegung betätigten und unbequeme Wahrheiten aussprächen, wurde ein heldenhafter Mut zugesprochen. 115

Melanie Hermann, Florian Eisheuer & Jan Rathje

Heroismus und Maskulinität

Verschwörungsideologischen Narrativen inhärente Identitätsangebote sind also auf mehreren Ebenen ansprechend, bieten sie nicht nur die Möglichkeit der Stabilisierung und Selbsterhöhung fragiler und ohnmächtiger Identitäten, sondern weisen diesen auch einen zentralen Platz und eine tragende Rolle in der bzw. für die Gemeinschaft zu. Personen, die verschwörungsideologischen Narrativen anhängen, nehmen sich und ihre Situation nicht selten in militärischen Kategorien wahr, bspw. als »Soldat*innen«, die sich in einem »Krieg« befänden. Trotz apokalyptischer Szenarien, denen Zufolge der Untergang der Welt, wie wir sie kennen, unmittelbar bevorstehe und nur noch durch massive Gegenwehr aufgehalten werden könne, beschränken sich die meisten Beteiligten allerdings auf das Aufdecken und Verbreiten angeblicher brisanter »Wahrheiten«, also auf die Tätigkeit als sogenannte »Infokrieger*innen« und auf die aktive Beteiligung an Protesten. Stilisierungen als heroischer Krieger stellen zahlreiche Anknüpfungspunkte für Männlichkeitsvorstellungen bereit. Das anachronistische Bild des sich aufopfernden Mannes, der sich schützend vor die Frauen und Kinder der Gemeinschaft stellt, bietet eine attraktive Möglichkeit für die Selbsterzählung und -vergewisserung von Männlichkeiten. Heldenmut, v. a. in seiner kriegerischen Ausprägung, ist in westlichen Gesellschaften kulturell mit Vorstellungen von Maskulinität verknüpft (Kerth, 2002). Der Akt der Aufdeckung vermeintlicher Verschwörungen verhandelt also nicht nur die eigene Ohnmacht, sondern die eigene Ohnmacht als Mann. Die Destabilisierung von Männlichkeit wird als besonders unerträgliche Kränkung und Form der Machtlosigkeit erlebt (Christ, 2014). Der 27-jährige Attentäter, der im Oktober 2019 mit dem Plan, möglichst viele Jüdinnen und Juden zu ermorden, in die Synagoge in Halle an der Saale einzudringen versuchte, baute Selbsterzählungen und -wahrnehmungen von Kränkung, Verletzung und letztlich Aufbegehren zum Kern seiner Selbstlegitimierung aus. Bereits während der ersten Minuten seiner Tat, die er live im Internet streamte, macht er deutlich, dass er sich als Opfer einer großen, jüdischen Verschwörung sieht, die ihn eben nicht nur als nichtjüdischen Weißen beträfe, sondern im besonderen Maße auch als Mann. Die beabsichtigte Tat kann somit auch als Versuch des Aufbegehrens, um die verletzte Männlichkeit zu reparieren, gesehen werden. Das Scheitern des Plans wird vom Täter im Verlauf des Geschehens mit zahlreichen Selbstbeschimpfungen und -abwertungen quittiert. 116

Politische Bildungsarbeit für eine »Gesellschaft der Mündigen«

Konsequenzen für die Praxis

Politische Bildungsarbeit gegen Verschwörungsideologie sollte die Implikationen solcher Identitätsangebote zu einem Grundpfeiler ihrer pädagogischen Ansätze machen. Inzwischen hat sich in diesem Zusammenhang die Erkenntnis verfestigt, dass faktenbasierte, inhaltliche Widerlegungen verschwörungsideologischer Narrative, das sogenannte Debunking, wenig erfolgsversprechend ist (vgl. Cheema 2021). Ansätze dieser Art laufen Gefahr, die Bedeutung von Identitätskonstruktionen zu ignorieren und somit zu übersehen, dass mit jeder Richtigstellung falscher Behauptungen nicht nur ein Widerspruch auf inhaltlicher Ebene erfolgt, sondern für Betroffene damit zuvorderst ein Infragestellen selbstaufwertender und in sich vermeintlich als stabilisiert wahrgenommener Identitäten verbunden ist. Die zentrale Selbsterzählung lautet, verborgene Wahrheiten aufzudecken, und Selbstwert wird daraus bezogen, dass diese »Demaskierungstätigkeit« trotz aller wahrgenommenen Gefahr als Dienst für die Allgemeinheit vollzogen wird. Jede direkte Debunking-Konfrontation ist somit auch ein potenzieller Angriff auf die Basis dieser identitätsbildenden Narrative und wird auf entsprechende Abwehrreaktionen stoßen.3 Aus demselben Grund ist davon auszugehen, dass auch der satirische Umgang mit Verschwörungsideologien unter Umständen problematisch sein kann. Tatsächlich kann Satire zwar einen Beitrag dazu leisten, Irritationen auszulösen, die als erster Zugang dienen können, dies wird allerdings nur gelingen, wenn die identitätsbildende Dimension gezielt adressiert wird. Satire, die sich primär Instrumente der Verächtlichmachung zu eigen macht, kann diese Funktion nicht erfüllen. Vielfach artikulieren Verschwörungsideologien Gefühle gesellschaftlicher Unzufriedenheit, die es aufzudecken gilt, auch wenn sie sich zunächst diffus oder gar kontrafaktisch präsentieren. Was Leo Löwenthal und Norbert Guterman in ihrer Studie zu faschistischer Agitation in den USA der 1940er Jahre, Falsche Propheten, über den Agitator zu sagen hatten, trifft auch auf vielen Ebenen auf Verschwörungsideologien zu. So existiere in entsprechenden Weltbildern meist ein ganzer Katalog der Beschwerden, den es zunächst aufzunehmen gelte. Wirtschaftliche, politische und kulturelle Beschwerden ließen Rückschlüsse auf emotionale Komplexe zu, in denen sich u. a. Misstrauen, Abhängigkeit oder Angst ausdrücken. Es 3

Uhlig (2017) bezeichnet Verschwörungsideologien aus diesem Grund als ein »Zerrbild der Ideologiekritik«.

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handle sich nicht um »rein zufällige Emotionen«, sondern »diese Gefühle können weder als willkürlich noch als gekünstelt ignoriert werden, sie sind grundlegend für die moderne Gesellschaft« (Löwenthal, 2017 [1949], S. 25). Dieses soziale Unbehagen bildet gesellschaftliche Realitäten zwar im Kontext verschwörungsideologischer Identitätskonstruktionen nicht exakt ab, verweist jedoch auf sie. Zivilgesellschaftliche Interventionen gegen Verschwörungsideologie müssen bewerkstelligen, dieses Unbehagen zu erkennen und in seinem Kern ernst zu nehmen, ohne dabei den ideologischen Gehalt zu affirmieren, sondern die Existenz dieses Unbehagens und die gesellschaftlichen Realitäten, auf die es verweist, anzuerkennen. Die Aufgabe politischer Bildungsarbeit gegen Verschwörungsideologie kann sich folglich nicht damit begnügen, lediglich Faktenwissen zu vermitteln, sondern muss zu »echter« Kritik ermutigen. Statt die kritischen Impulse von Personen, die sich Verschwörungsideologien zuwenden, abzulehnen, weil sie sich regressiv ausdrücken, sollten diese vielmehr aufgenommen und umgeleitet werden, hin zu anderen, frei gewählten und progressiven Formen gesellschaftlicher Kritik, die sich, statt eindimensionale Erklärungs- und Lösungsmuster anzubieten, sozialer Komplexität stellt und eine Auseinandersetzung mit real existierenden Gründen für politische Unzufriedenheit zulässt. Eine solche Leerstelle in Identitäten zu hinterlassen, ist für Menschen mit einem Selbstbild, das sie als kritischen, teils rebellischen Geist zeichnet, nur schwer hinnehmbar. Umso wichtiger ist es zu zeigen, dass die vermeintliche Kritik, die in verschwörungsideologischen Narrativen angeboten wird, das eigene Unbehagen nicht nur nicht aufzulösen in der Lage ist, sondern letztlich sogar schadet und einem »Akt der Selbstverstümmelung« (ebd., S. 31) gleicht.

Möglichkeiten und Fallstricke politischer Bildungsarbeit »Man kann sich verwirklichte Demokratie nur als Gesellschaft von Mündigen vorstellen.« Adorno (1970, S. 112)

Die Interventionsmöglichkeiten politischer Bildungsarbeit können und müssen dort ansetzen, wo institutionalisierte Bildung nicht hinreicht oder bereits versagt hat. Sie spricht jene Individuen an, die sich noch nicht vollständig in einer Ideologie aus Verschwörungen und Feindbil118

Politische Bildungsarbeit für eine »Gesellschaft der Mündigen«

dern eingeschlossen haben. Mehr noch richtet sie sich an die Vielzahl bürgerlicher Subjekte, die unentschlossen sind, nicht wissen, »was sie glauben sollen«, sich verunsichert oder unbehaglich fühlen. Im Angesicht globaler Krisen, wie sie die Coronapandemie darstellt, treten gesellschaftliche Probleme besonders deutlich zutage. Politische Bildungsangebote sind insbesondere in Krisenzeiten von höchster Relevanz, da sie sowohl Möglichkeiten der Kritik an den gesellschaftlichen Verhältnissen eröffnen oder bestärken als auch präventiv gegen regressive Formen der Bewältigung wirken können. Die Ansprüche an diese Angebote sowie die Ideen zu einer gelungenen Umsetzung unterscheiden sich jedoch eklatant. Unter dem Druck populistischer Kampagnen besteht häufig die Erwartung, attraktive Werbung für die offene Gesellschaft und gegen Diskriminierung, also für Demokratie und gegen autoritäre Herrschaft zu gestalten. Die Beschreibung der Adressat*innen schwankt zwischen »besorgten Bürger*innen«, deren Menschenfeindschaft nicht als Gefahr ernst genommen wird oder einer vermeintlich starken Zivilgesellschaft, die frei von jeglichen Ressentiments sei. Weder wird in dieser Annäherung die Gesellschaft in ihrer Komplexität begriffen, noch wird wahrgenommen, wie gefährdet sie in ihrer idealtypischen Konzeption als offen, pluralistisch und demokratisch ist. Gerade in Zeiten zunehmender gesellschaftlicher Regressionstendenzen bedarf es eines Verständnisses von bürgerlicher Gesellschaft, das sowohl die ihr inhärenten Widersprüche als auch ihre Feind*innen benennt. Die sich im Zuge der Coronakrise radikalisierenden Verschwörungsideolog*innen gerierten sich zunehmend als große Bewegung aus »der Mitte« für »die Mitte« der Gesellschaft. Trotz des Schulterschlusses mit offen rechtsextremen Akteur*innen sowie der Zurschaustellung antisemitischer und dezidiert verschwörungsideologischer Symbole und Slogans, wurden die Proteste im Frühjahr 2020 sowohl medial als auch politisch vielfach als falsche, jedoch einzig existente Kritik an den Coronamaßnahmen verhandelt. Die Frage, die sich in diesem Spannungsfeld entfaltet, ist, wie sich Kritik von Verschwörungsideologie und daran anschließend berechtigtes Unbehagen von Ressentiment unterscheiden lässt und wie das eine jeweils mit dem anderen zusammenhängt. Die Wirksamkeit politischer Bildungskonzepte steht und fällt mit der Analyse der gesellschaftlichen Verhältnisse, denen regressiven Tendenzen zugrunde liegen. Wer demokratische Prozesse stärken will, der muss sich auch der Schwächen des gesellschaftlichen Systems bewusst sein und das 119

Melanie Hermann, Florian Eisheuer & Jan Rathje

Wissen um beides zum Bestandteil einer dialektischen Demokratieerziehung und -bildung machen (vgl. ebd., S. 120). Gesellschaftskritik vs. regressive Krisenbewältigung

Eine kritische Grundhaltung den gesellschaftlichen Verhältnissen gegenüber bietet einen fruchtbaren Anknüpfungspunkt für politische und soziale Reflexionen. Wer demokratische Prozesse stärken will, der muss sich auch die Schwächen des gesellschaftlichen Systems bewusst machen und das Wissen, um das Wissen darum zum Bestandteil einer dialektischen Demokratieerziehung und -bildung zu machen (vgl. ebd.). Voraussetzung für einen gelingenden Reflexionsprozess ist jedoch zunächst ein Verständnis für den Unterschied zwischen Kritik und regressiver Entlastung. Das heißt bspw., rassistische, antisemitische, sexistische und weitere Ressentiments als solche zu benennen und zu skandalisieren, denn ein wesentlicher Lerneffekt sollte sein, dass fundierte Kritik nicht nur nach außen gerichtet wird, sondern bei der eigenen Person bzw. Haltung anfängt. Das große Potenzial der Selbstkritik ist, dass sie letztlich auch die nach außen gerichtete Kritik schärft, indem sie sich nicht in Projektionen verfängt. Für die Perspektive der politisch Bildenden bedeutet der selbstkritische Zugang in erster Linie, dichotome Positionierungen zu vermeiden. (Politische) Bildung darf nicht auf die Vermittlung von Wissen in Form »harter Fakten« reduziert werden, sondern sie unterstützt bei der Bewusstmachung soziokultureller Strukturen und der Selbstverortung innerhalb dieser Strukturen. Eine Grundvoraussetzung dafür, sich in der Welt zurechtzufinden, ist die Fähigkeit, Widersprüche zu erkennen und sie dort auszuhalten, wo sie (noch) nicht progressiv aufgehoben werden können. Antisemitische Verschwörungsideologien greifen dort, wo versucht wird, Widersprüche regressiv aufzulösen, um das gesellschaftliche Narrativ dem eigenen Weltbild anzupassen. Die Herausforderung besteht diesbezüglich darin, Individuen darin zu bestärken, dass sie die Komplexität der Welt nicht in Gänze verstehen müssen, um sich ihr zu stellen. Die übergroße Flut an Informationen im »digitalen Zeitalter« wird von vielen Menschen bisweilen als Überforderung erfahren. Sich zurechtzufinden innerhalb der Fülle an Narrativen ist grundsätzlich anspruchsvoll. Im vordigitalen Zeitalter waren es die meisten Menschen gewohnt, sich auf die Autorität etablierter Informationsquellen oder Personen zu verlassen. Das 120

Politische Bildungsarbeit für eine »Gesellschaft der Mündigen«

Internet hat diese Wissenshierarchien aufgeweicht. Jede*r hat die Möglichkeit, Narrative im Netz zu gestalten und andere, den eigenen Vorstellungen entsprechend, über Zusammenhänge zu informieren. Dabei mangelt es an objektiven Prüfkriterien. Blogger*innen und YouTuber*innen müssen sich zwar vor der Netzgemeinde, jedoch nicht unbedingt vor wissenschaftlichen Anforderungen behaupten. Einige tun es dennoch, da sie sich selbst dem Anspruch verschrieben haben, eine zuverlässige, reflexiv arbeitende Informationsquelle zu sein. Auch politische Bildungskonzepte greifen auf Formate wie YouTube zurück, um dort insbesondere junge Menschen zu erreichen. Um viele Follower*innen zu generieren ist es jedoch nicht notwendig, Dinge differenziert darzustellen, Quellenkritik zu betreiben oder die eigene Analyse der Kritik preiszugeben. Im Gegenteil erfreuen sich solche Formate besonders großer Beliebtheit, die ihre Adressat*innen emotional ansprechen und/oder über ein identitär aufgeladenes Weltbild in Form starker Meinungen an sich binden. Sie evozieren bei ihren Konsument*innen das Gefühl der Komplizenschaft und des »Richtigliegens«.4 Bildungsangebote, die den Umgang mit digitalen Medien schulen und eine selbstständige Quellenkritik ermöglichen, sind daher durchaus wichtig und erfolgversprechend. Sie greifen jedoch das Problem der Tendenz zur regressiven Krisenbewältigung im Kern nicht an bzw. stellen bisher keine wirksame Gegenstrategie dar, da sie sich in einem stetigen Wettkampf mit regressiven Gegenakteur*innen befinden. Um individuell die Fähigkeit zum reflexiven Umgang mit diversen online wie offline kursierenden Erzählungen zu entwickeln, ist es hilfreich, sich dem Problem auf struktureller Ebene zu nähern. Bezugnehmend auf die Funktionen, die Verschwörungsideologien für ihre Anhänger*innen erfüllen, lassen sich Fragen an Texte oder Reden formulieren, die eine Einordnung der Inhalte auch jenen Personen ermöglicht, die nicht über Fachkenntnisse verfügen. Wer sich dies in Bezug auf einen Text erschließt, kann anhand der sich herauskristallisierenden Struktur entscheiden, ob sie*er mit den Selbst- bzw. Fremdbeschreibungen oder Legitimationsstrategien konform geht: Welche Identitätsangebote werden geliefert und wie sind diese attribuiert? Wird ein Selbst-/Feindbild entworfen? Wie ist dieses konnotiert, greift es z. B. auf rassistische Stereotype oder antisemitische Codes und Chiffren zurück? Arbeitet der Text mit stark emotionalisierender und dadurch manipulativer 4

Vgl. dazu auch die Beiträge von Julian Kauk und Kolleg*innen sowie Nora Feline Poesl i. d. Bd.

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Sprache? Welches (Nicht-)Verhalten oder welche Lebensweise wird durch das Dargelegte legitimiert? Das Wesentliche an dieser Herangehensweise ist, dass ihr ein Entscheidungsprozess zugrunde liegt. Wer sich zu bzw. gegen Verschwörungsideologien positionieren möchte, muss zunächst für sich selbst die Entscheidung treffen, in welcher Welt er*sie leben möchte. Dabei handelt es sich nicht um ein argumentativ streitbares Faktum, sondern um eine bewusst zu treffende Wahl. Das Bekenntnis zu einer freien, demokratischen Gesellschaft auf Basis des Universalismus, in der alle Menschen über gleiche Rechte verfügen sollen, zieht, wenn es ernst genommen wird, Konsequenzen nach sich. Wer diese Entscheidung für sich gefällt hat, ist dazu in der Lage bzw. kann dazu befähigt werden, antidemokratische oder antiuniversalistische Gesellschaftsentwürfe zu kritisieren. Die zentrale Differenz zu verschwörungsideologischen Setzungen ist, dass die skizzierte Methode ihre Grundannahme bewusst trifft und als aktive Entscheidung offenlegt. Zudem befähigt diese reflexive Methode dazu, Gesellschaftskritik überall dort anzubringen, wo die bestehende Demokratie hinter ihre erklärten Grundwerte zurückfällt. »Erziehung zur Mündigkeit«

Gerade in der politischen Bildungsarbeit mit Jugendlichen und Heranwachsenden wird dazu tendiert, Identifikationsmomente anzubieten bzw. jene, auf die junge Menschen ohnehin Bezug nehmen, zu besetzen. Insbesondere das Motiv der »Heimat« erlebt momentan eine Renaissance – nicht nur im Bildungsdiskurs. So erhielt bspw. das Bundesministerium des Innern 2018 den zusätzlichen Titel »Heimatministerium«, angeregt durch den am 14. März 2018 zum Bundesminister des Innern, für Bau und Heimat bzw. folgerichtig: zum Heimatminister ernannten Horst Seehofer. In ihrem Bühnenstück Heimat – eine Besichtigung des Grauens stellen Thomas Ebermann und Thorsten Mense anschaulich dar, wie diverse politische, popkulturelle und zivilgesellschaftliche Akteur*innen darum konkurrieren, den Heimatbegriff in ihrem Sinne mit Bedeutung zu füllen. Argumentiert wird in der Regel mit einer genuinen Sehnsucht nach Heimat als transzendentaler Instanz, als Ort, der Vertrautheit, Sicherheit und Zuhause symbolisiere. Was die Verfechter*innen einer Annäherung an das Konzept der Heimat jedoch außer Acht lassen, ist, dass es sich dabei um ein ideologisches Konstrukt handelt. Die tröstenden, aufwertenden Gefühle, die es 122

Politische Bildungsarbeit für eine »Gesellschaft der Mündigen«

transportieren soll, basieren auf der Vorstellung, zu etwas dazuzugehören, das größer ist als man selbst. Etwas, auf das man stolz sein darf, ohne dass man dafür etwas getan haben muss. Die Coronakrise und insbesondere die in ihr gewachsenen, verschwörungsideologischen Proteststrukturen haben stark emotionalisierende Begriffe wie Heimat, Freiheit, Demokratie, Volk, Frieden und Widerstand adaptiert. Ihre Interpretationen sind geprägt von autoritären Sehnsüchten, Sozialchauvinismus und konformistischem Rebellentum. Sie wünschen sich keine Freiheit, die allen die Möglichkeit, selbstbestimmt und verantwortlich zu leben, einräumt, sondern eine, die das Recht des Stärkeren postuliert, der sich nicht an den Belangen vulnerabler Gesellschaftsmitglieder orientieren möchte und aufbegehrt, wo Unlust vermieden werden soll. Menschen, die aufgrund eines vulnerablen Selbstwertgefühls oder gesellschaftlicher wie persönlicher Krisen besonders empfänglich sind für vermeintlich stärkende Identitäts- und Sinnstiftungsangebote, binden sich an diese gängigen, gut adaptierbaren Konzepte. Politische Bildungsarbeit, die derlei ideologisierte Angebote aufnimmt, verkennt nicht nur vollkommen die Gefahren, die die entsprechenden Ideologeme mit sich bringen, sondern wirkt darüber hinaus einer tatsächlichen, selbstreflexiven Ich-Stärkung der Individuen entgegen. Der vermeintlich positive Rückbezug auf sich selbst, der hier beispielhaft am Begriff der Heimat diskutiert wird, ist so oder ähnlich Bestandteil jeder Ideologie. Auch Verschwörungsideologien wirken attraktiv durch ihre eindimensionalen Identitätsangebote, wie bereits dargelegt wurde. Die identitäre Selbstbestätigung, die aus ihnen bezogen wird, ist jedoch fragil und spricht das Selbst nur auf einer unbewussten, triebhaften Ebene an. »Die narzißtischen Triebregungen der Einzelnen, denen die verhärtete Welt immer weniger Befriedigung verspricht und die dennoch ungemindert fortbestehen, solange die Zivilisation ihnen sonst so viel versagt, finden Ersatzbefriedigung in der Identifikation mit dem Ganzen« (ebd., S. 20). Eine erste Bedingung dafür, dass Individuen sich nicht autoritären Führer*innen und Gesellschaftskonstruktionen zuwenden, ist ein zuverlässiges Gespür dafür, wer sie sind, und dafür, dass sie wertvoll sind. Dazu gehört die Fähigkeit und Bereitschaft zur Empathie mit allen Facetten und Widersprüchen der Gefühlswelt und das Vermögen, sich dennoch Gruppendynamiken zu entziehen und ein autonomes Gewissen auszubilden. Diese Fähigkeiten entwickeln sich bereits in der frühesten Kindheit und werden entscheidend durch Strukturen innerhalb der Familien geprägt (Ahlheim, 2017, S. 57f.). 123

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In Erziehung zur Mündigkeit (1970) weist Adorno darauf hin, dass die größte Herausforderung moderner Bildung sei, Menschen einerseits dazu zu befähigen, sich in den bestehenden Verhältnissen zurechtzufinden, und sie gleichzeitig darin zu bestärken, diese zu kritisieren und sich ihnen gegenüber widerständig zu verhalten. Zwischen diesen Ansätzen könne und dürfe es keine Harmonie geben, vielmehr bestehe der Anspruch darin, die Individuen darin zu fördern, diese Spannung auszuhalten. Ohne den Begriff zu verwenden, appelliert Adorno daran, die Ambiguitätstoleranz zu stärken, um die Widersprüchlichkeit der Gesellschaft an sich sowie die diese Widersprüchlichkeit reflektierende Gesellschaftskritik auszuhalten. Wichtig dafür ist jedoch die Fähigkeit, sich diese Spannungsfelder bewusst zu machen. Wer erkennt, dass sie*er leidet, und benennen kann, woran, die*der ist weniger geneigt, sich eine Projektionsfläche für sein Leid zu suchen. Politische Bildungsarbeit muss sich dieser Herausforderung einer dialektischen Pädagogik stellen, indem sie ihren Adressat*innen nicht ideologisch begegnet, sondern mit Aufklärung im besten Sinne, nämlich als »Kraft zur Reflexion, zur Selbstbestimmung, zum Nicht-Mitmachen« (ebd., S. 97). Auch Personen, die sich Verschwörungsideologien zuwenden, suchen auf ihre eigene Weise nach Bildung und Aufklärung, viel mehr jedoch nach Sinnstiftung, Entlastung und Halt. Der große Argwohn gegenüber progressiver Bildung und Aufklärung geht u. a. auf ein Gefühl der Abgeschlagenheit und des Ausgeschlossenseins zurück. Zudem fürchtet, wer ohnehin von der Komplexität der Welt überfordert ist, ein Zunehmen seiner Desorientiertheit (ebd., S. 120). Diese Ängste gilt es ernst zu nehmen und in die politischen Bildungsangebote aufzunehmen. Die Sehnsucht nach autoritärer Führung, die sich in Verschwörungsideologien manifestiert, sollte hingegen entschieden zurückgewiesen werden. Es sollte nicht die Aufgabe der Bildner*innen sein, sich im Wettkampf der Informationen durchzusetzen, um eine Anhängerschaft der richtiggläubigen Demokrat*innen an sich zu binden. Ein Konzept, das autoritäre Maßnahmen nicht grundsätzlich infrage stellt, sondern sie in guter Absicht instrumentalisiert, läuft Gefahr, gegen sich selbst gewendet zu werden. Gelungene Bildungsarbeit predigt nicht die richtige Haltung, sondern bestärkt kritische Reflexionsprozesse. Bildung im Sinne tatsächlicher Aufklärung findet dann statt, wenn sich ein reflexiver Erkenntnisprozess in den Adressat*innen vollzieht. Daher muss sie intersubjektiv arbeiten. Das heißt, politische Bildungsangebote müssen transparent machen, wie sie zu den Konklusionen gekommen sind, die sie präsentieren, und warum das von Bedeutung ist. V. a. jedoch sollten sie eine komplexe, dialektische 124

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Kritik beinhalten, die die gesellschaftliche Verfasstheit des Phänomens der antisemitischen Verschwörungsideologien berücksichtigt. Antisemitische Verschwörungsideologien verweisen in ihrer Funktion als regressive Erklärungs- und Bewältigungsstrategien auf das gesellschaftliche Verhältnis, das sie hervorbringt. Sie sind zugleich Produkt der Moderne als auch antimoderne Abwehr gegen unerwünschte, überfordernde Aspekte bürgerlicher Vergesellschaftung. Die Affinität zu dieser Abwehr ist in allen bürgerlichen Subjekten angelegt, es kommt also darauf an, ihr nicht nachzugeben, sondern Wege zu finden, gesellschaftliche Probleme und Unbehagen zu adressieren, anstatt Entlastung in Ressentiments zu suchen. Durch diese Betrachtungsweise wird den Nutzer*innen des Bildungsangebots die Möglichkeit verwehrt, sich lediglich von den vermeintlich verrückten Verschwörungsideolog*innen abzugrenzen und das Problem als etwas ihnen Gegensätzliches abzuwehren. Stattdessen werden sie darin bestärkt, sich in der Gesellschaft zu positionieren und davon ausgehend einen kritischen Blick auf menschenfeindliche Ideologien zu werfen. Zu dieser Positionierung gehört, dass sie Unrechtserfahrungen sichtbar und ansprechbar macht, ohne sie verschwörungsideologisch aufzulösen. Diese kritische Haltung kann etwa durch eine Auseinandersetzung mit den Funktionen und Strukturen antisemitischer Verschwörungsideologien geschult werden. Der kritische Blick schaut dementsprechend auch in den Spiegel und kann daraus gestärkt hervorgehen, da der zugrunde liegende Anspruch nicht ist, alles richtig zu machen oder zu wissen, sondern in der Bereitschaft liegt, sich Widersprüche bewusst zu machen. Literatur Adorno, T. W. (1970). Erziehung zur Mündigkeit. Vorträge und Gespräche mit Hellmut Becker 1959–1969. Frankfurt/M.: Suhrkamp. Adorno, T. W. (1973 [1950]). Studien zum autoritären Charakter. Frankfurt/M.: Suhrkamp. Adorno, T. W. (2003 [1954]). Beitrag zur Ideologienlehre. Gesammelte Schriften, Bd. 8: Soziologische Schriften I (S. 457–477). Frankfurt/M.: Suhrkamp. Ahlheim, R. (2017). »So hat Erziehung auf die frühe Kindheit sich zu konzentrieren«: Autorität, Familie und die Rolle des Vaters. In K. Ahlheim & M. Heyl (Hrsg.), Adorno revisited: Erziehung nach Auschwitz und Erziehung zur Mündigkeit heute (S. 56–89). Hannover: Offizin. Barkun, M. (2013). A Culture of Conspiracy: Apocalyptic Visions in Contemporary America. 2. Aufl. Berkeley: Univ. of California Press. Butter, M. (2018). »Nichts ist, wie es scheint«: Über Verschwörungstheorien. Berlin: Suhrkamp.

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Politische Bildungsarbeit für eine »Gesellschaft der Mündigen«

Biografische Notizen

Melanie Hermann, M. A., promoviert derzeit an der Leibniz Universität Hannover zur Bedeutung antisemitischer und antifeministischer Verschwörungsideologien für Subjektkonstruktionen und Legitimationsstrategien rechtsextremer Attentäter. Ihre Dissertation wird ermöglicht durch die Förderung des Ernst Ludwig Ehrlich Studienwerks. Florian Eisheuer, M. A., ist Politikwissenschaftler sowie Ethnologe und arbeitet als Referent beim Ernst Ludwig Ehrlich Studienwerk. Jan Rathje, M. A., ist Politikwissenschaftler und Mitgründer des Centers für Monitoring, Analyse und Strategie.

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»Falsche Konkretheit« als politisches Instrument Zu Franz L. Neumanns dialektischem Psychogramm des Verschwörungsdenkens1 Stefan Vennmann »›Nein‹, sagte der Geistliche, ›man muß nicht alles für wahr halten, man muss es nur für notwendig halten.‹ ›Trübselige Meinung‹, sagte K. ›Die Lüge wird zur Weltordnung gemacht.‹« Franz Kafka (1983, S. 188)

Franz L. Neumanns politiktheoretische Reflexionen des Verschwörungsdenkens waren lange Zeit nahezu unbekannt, erleben aber spätestens seit dem globalen Aufkommen des sogenannten autoritären Populismus ein kleines Revival. Wird Neumann zwar oft der Status eines der Gründerväter der politischen Wissenschaft in Deutschland nach 1945 attestiert (Pross, 1967, S.  15), ist seine Rezeption doch geringer als die der anderen Mitglieder des Instituts für Sozialforschung. Zwar hat sein opus magnum, der Behemoth (1998 [1944]), internationale Anerkennung erhalten, für die Integration einer genuin politischen Theorie in die Denkarchitektur des Instituts steht Neumanns Ansatz aber, so der Historiker Martin Jay (1981, S. 176), »in vielen Punkten zur Arbeit der älteren Mitglieder der Frankfurter Schule im Widerspruch«. Dass er nie wirklich zum »HorkheimerKreis« gehörte, hat theoretische, politische wie persönliche Gründe, die einen interdisziplinären Materialismus des Instituts verhinderten. Als problematisch stellte sich in Neumanns Frühwerk sein »als weniger dialektisch, als mechanistisch« (ebd., S. 177) definierter Materialismus und sein »weniger um die psychologische Dimension der gesellschaftlichen Realität« (ebd.) bemühter theoretischer Ansatz heraus. Zwar hatte Neumann (1998 [1944], S. 129) schon im Behemoth auf die Notwendigkeit einer »Analyse der psychologischen Vorgänge« verwiesen, 1

Der ursprünglich in psychosozial 1/2020 erschienene Text wurde für diese Ausgabe überarbeitet und erweitert.

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die in der Lage wäre, den Niederschlag gesellschaftlicher Krisensituationen im einzelnen Subjekt zu erklären. Tatsächlich – und hier ist die Kritik seitens der engeren Institutsmitglieder ebenso berechtigt wie für die Reflexion auf seine Theorie politischer Agitation wichtig – findet sich dort eine solche Analyse allerdings nicht. Die mythische Begabung der autoritären »Führer« wird lediglich mit einem knappen Verweis auf Max Webers Idealtyp charismatischer Herrschaft beschrieben, ihre Quellen aber bleiben unergründet. Und dennoch bereitet Neumann hier Gedanken vor, die ihn in seinem späteren Werk immer wieder umtreiben werden und in der Frage nach der politischen Relevanz von Verschwörungsdenken konvergieren. Dieses Denken treibe die Menschen nicht nur »in die Arme des Aberglaubens, sondern [bringe] das Unvermögen [hervor], die Ursachen ihrer Hilflosigkeit, ihres Elends und ihrer Erniedrigung zu erkennen« (ebd.). Dieses Unvermögen ist von Adorno (1951, S. 419) auf den spezifisch »modern conflict between a strongly developed rational, self-preserving ego agency and the continous failure to satisfy their own ego demands« zurückgeführt worden, den die kapitalistische Gesellschaft systematisch produziert. Adorno (1975 [1950], S.  355) glaubt dieser systemischen Grundlage mit der Beantwortung der Frage nach der Korrelation von Entfremdung, Angst und Aberglaube beikommen zu können. Auch Neumann erkennt diese Korrelation, die er als Motor politischer Agitation zu analysieren für notwendig hält. An dieser Stelle bleibt der Zusammenhang kryptisch, kristalliert sich aber in Neumanns Spätwerk im Begriff der »Verschwörungstheorie«2. Dieser Begriff ist der Kern der Neumann’schen »Theorie politischer Agitation«. Die »Verschwörungstheorie« ist das 2

Es müsste konsequenterweise von »Verschwörungsideologie« gesprochen werden, da »Theorie« laut Neumann (1953, S. 102) progressiven Charakter besitzt: Eine konformistische oder autoritäre »politische Theorie ist keine Theorie«, da sie nicht auf einen emanzipatorischen Begriff von Freiheit bezogen sei. Allerdings scheint Neumann mit der Verwendung des Begriffs »Verschwörungstheorie« auf etwas anderes hinauszuwollen, als sie nur als »Ideologie« zu beschreiben. Der Begriff der »Theorie« wird stellenweise insofern verteidigt, als dass Verschwörungsdenken eine ernstgenommene Alltagstheorie zur Verfügung stellt, die die Welt strukturiert, erklärt und ihre Komplexität reduziert, ohne aber wissenschaftlich nachvollziehbar sein zu können oder zu wollen (vgl. Barkun, 2003, S. 7ff.; Butter, 2018, S. 22f.). Neumann scheint seinen Begriff in diesem Sinne zu verwenden und ihn sogar politisch zu konkretisieren. Neumanns »Verschwörungstheorie« ist nicht identisch mit den heute gängigen Begriffen Verschwörungserzählungen, -mythen und -vorstellungen, insofern diese v. a. auf ideologische Strukturmerkmale bezogen werden. Er verweist vielmehr auf eine politische Verwendung durch die autori-

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Wesen autoritärer Politik und zugleich Instrument autoritärer Politisierung der Subjekte. Dass die Erzählung von »Verschwörungen« erfolgreich sein und soziale sowie politische Regression begünstigen kann, ist Neumann folgend in der Totalität entfremdeter Gesellschaftsstrukturen begründet. Um diese fragmentierte Theorie zu rekonstruieren und ihr ein Mehr an Stringenz zu geben, sollen folgend die zentralen Begriffe erörtert und von Neumanns Struktur abweichend neu arrangiert werden. Zwar werden auch bestimmte Defizite der Neumann’schen Theoriebildung aufgezeigt, seine »politische Theorie des Verschwörungsdenkens« soll aber insgesamt als zur Erkenntnis über autoritäre Bewegungen und deren Führer3 in der Gegenwart als nach wie vor hilfreiches, theoretisches Instrument bestimmt werden.

»Caesarismus« und »Verschwörungstheorie«: Feinde der Freiheit Caesarismus ist Neumanns diagnostischer Begriff der autoritären Bewegungen und Parteien seiner Gegenwart. Der Begriff scheint semantisch zwar einen unverkennbaren Bezug zu Julius Cäsar und der historischen Transformation der Römischen Republik in eine Diktatur zu besitzen,4 jedoch handelt es sich bei Caesarismus um einen genuin modernen Begriff und eine Form der Politik, die sich nur in einer demokratisierten Gesellschaft als deren illiberales Gegenstück entwickeln kann. Neumann folgt eindeutig der Marx’schen Bestimmung des Begriffs, die im Vorwort zur zweiten Auflage von Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte entwickelt wird. »Schließlich hoffe ich, daß meine Schrift zur Beseitigung der jetzt namentlich in Deutschland landläufigen Schulphrase vom sogenannten Cäsarismus beitragen wird. Bei dieser oberflächlichen geschichtlichen Analogie vergißt man die Hauptsache, daß nämlich im alten Rom der Klassenkampf nur innerhalb einer privilegierten Minorität spielte, zwischen den freie Reichen und den freien Armen, während die große produktive Masse der Bevölkerung, die

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tären Führer. Wenn daher nachfolgend auf die politische Praxis verwiesen werden soll, wird Neumanns eigener Begriff »Verschwörungstheorie« genutzt. In diesem Beitrag wird das generische Maskulinum verwendet. Und wird in dieser antiken Form auch von politischen Reaktionären wie Friedrich Nietzsche und Oswald Spengler affirmativ verwendet.

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Sklaven, das bloß passive Piedestal für jene Kämpfer bildete. […] Das römische Proletariat lebte auf Kosten der Gesellschaft, während die moderne Gesellschaft auf Kosten des Proletariats lebt« (MEW 8, S. 560, Herv. i. O.).

Caesarismus ist mit Neumann eben nicht als historische Analogie zu verstehen. Der Begriff kennzeichnet den Versuch, autoritäre Bewegungen zu charakterisieren, in der Diktatur und Demokratie mal latent, mal manifest zusammenfallen.5 Einerseits ist eine charismatische Führerfigur notwendig, die die Masse autoritär beherrscht. Andererseits müssen moderne, demokratische Strukturen existieren, unter denen erst die Mobilisierung der Masse als politische Subjekte möglich ist (Neumann 1954b, S. 234). Caesarismus folgt der Logik des »Marsches durch die Institutionen«, der Anbiederung an die parlamentarische Demokratie und nimmt daher »in der Demokratie eine zwiespältige Funktion« (Neumann, 1950, S. 91) ein. Neumann (1954a, S. 267) erkennt die Akzeptanz von Caesarismen innerhalb des demokratischen Pluralismus und ist daher bestrebt, das antidemokratische Moment zu dechiffrieren und zu kritisieren. Dieses zeichnet sich zunächst durch die demokratische »Notwendigkeit öffentlicher Unterstützung« (Neumann, 1954b, S. 227)6 aus, neigt aber aus Motiven autoritären Macht- und Privilegienerhalts zur Diktatur, letztlich zum Totalitarismus. »Die Demokratie erzeugt Parteien, und die Parteien erzeugen einen Parteiapparat, der die Massen umfängt und dadurch einem neuen Cäsar zum Aufstieg verhilft. Das Wahlrecht für das Volk ist ein Betrug; je mehr es erweitert wird, desto mehr schwindet die tatsächliche Macht des Wählers. Damit verstärkt es die cäsaristischen Tendenzen innerhalb der politischen Organisa5

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Ohne auf Neumann Bezug zu nehmen, hat Strobl (2021, S. 43) jüngst eben diese Diagnose auf die Gegenwart angewendet und auf den Begriff des radikalisierten Konservatismus gebracht. Auf das 20. Jahrhundert gemünzt konstatiert auch Möller (2022, S. 12f.), dass seit den »demokratischen Revolutionen in der Zeit von 1917 bis 1920« eine zunehmende Auseinandersetzung darüber begann »wer nun das Volk sei, das die Ordnung tragen sollte. Mit dem Eintritt der Massen in die Politik waren emanzipatorische Hoffnungen darauf verbunden, endlich eine Selbstregierung des Volkes einzuführen und soziale Fortschritt zu erzielen. Allerdings betrat in dieser Zeit auch die Gegenmöglichkeit die Bühne […]. Völkische und cäsaristische Politikmodelle brachen in den gesellschaftlichen Fortschritt [nicht zufällig, sondern gesellschaftsstrukturell] ein und obsiegten [ebenso wenig zufällig] in vielen Ländern.«

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tionen. […] Mit der Zerstörung der Demokratie beginnt das Zeitalter der kämpfenden Staaten, deren Führer und Organisatoren Cäsaren sind, welche die Menschen vollständig beherrschen« (Neumann, 1998 [1944], S. 244f.).

Neumann versteht in diesem Sinne die nationalsozialistische Bewegung in der Anfangsphase als Caesarismus, der sich »als demokratische Bewegung maskieren und diese Maske auch nach der Machtergreifung beibehalten [musste]. In anderen Worten: sie ist gezwungen, das Ritual der Demokratie zu praktizieren, obwohl sie deren Wesen vollständig negiert« (Neumann, 1954b, S. 235). Für Neumann (1954a, S. 270), der die kapitalistischen Verhältnisse als Architektur der sich stetig reproduzierenden Krise beschreibt, lässt sich unter diesen falschen Bedingungen auch Demokratie nicht mehr derart emanzipatorisch denken, wie er selbst es noch in der pluralistischen Demokratie Weimars zu erkennen gehofft hatte (Neumann, 1980, S. 319). Vielmehr zeigt sich, dass die Demokratie im Kapitalismus einen »Doppelcharakter« (Sassmannshausen, 2020, S. 283) besitzt, der ob der genuin autoritären Struktur der sozialen Verhältnisse dazu tendiert, ihnen die politische Form der Diktatur zu geben (Struwe & Vennmann, 2021, S. 126). Neumann diagnostiziert, dass die »Verschwörungstheorie« als ideologischer Kitt zwischen regressiven, sozialen Verhältnissen und der Diktatur als deren adäquater, politischer Form fungiert. Die Agitation des Caesarismus lässt sich »als Verschwörungstheorie der Geschichte bezeichnen. Es ist das Geschichtsbild einer falschen Konkretheit«, die mit projektiver Dynamik funktioniert: »So wie die Massen ihre Erlösung aus Unglück durch absolutes Einssein mit einer Person erhoffen, so schreiben sie ihr Unglück bestimmten Personen zu, die durch eine Verschwörung gegen die Massen das Unglück in die Welt gebracht haben. Der Geschichtsprozeß wird so personifiziert. Der Haß, das Ressentiment, die Angst vor allem, die durch große Umwälzungen produziert wird, werden auf bestimmte Personen konzentriert, die als teuflische Verschwörer denunziert werden. Nichts ist falscher, als die Feinde als ›Sündenböcke‹ zu bezeichnen […], denn sie erscheinen als echte Feinde, die man ausrotten muss, und nicht als Substitute, die man nur in die Wüste schicken braucht. Es ist eine falsche Konkretheit und darum ein besonders gefährliches Geschichtsbild« (Neumann, 1954a, S. 270).

»Verschwörungstheorien« suggerieren, »in der Politik nichts anderes zu sehen als die Manipulation von Massen durch Eliten« (ebd., S. 275), und 133

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dienen als Identifizierungsmedium der Masse mit einem Führer, das gesellschaftliche Krisen als Resultat einer Verschwörung konkreter Individuen oder Gruppen gegen »das Volk« inszeniert. Caesarismus wird in Situationen von »Inflation, Depression, Nichtidentifizierung mit den existierenden politischen Parteien, Nichtfunktionieren des politischen Systems« (ebd.) relevant, da er einfache Antworten für komplexe, gesellschaftliche Krisenphänomene und in Gestalt von »Verschwörungstheorien« einen archaischen Ausweg bietet. Neumann unterscheidet daher in »organisierte«, präkapitalistische und »abstrakte Verschwörungen« in der modernen, kapitalistischen Gesellschaft (vgl. Postone, 2003, S.  231f.).7 Erstere existieren nur in Situationen konkreter politischer Instabilität – dem von Marx angesprochenen »antiken Klassenkampf« –, in denen sich konkrete Akteure gegen einen ebenso konkreten personalen Herrscher verschwören, um mit dem »Tyrannenmord« die Etablierung einer neuen Herrschaftsform zu legitimieren (Neumann, 1954a, S. 271). In der Gegenwart aber nehmen Verschwörungsmythen qualitativ andere Formen an. Sie funktionieren über den »Appell an die Angst, die Personifizierung der Übel« abstrakter, gesellschaftlicher Strukturen (ebd., S. 273). Neumann zeigt, dass die Archaik der »Verschwörungstheorien« darin begründet ist, zwar mit abstrakten Strukturen konfrontiert zu sein, die Caesaren aber einen konkreten, für alles Unglück verantwortlichen Feind inszenieren und die Hoffnung in Aussicht stellen, mit seiner Ausschaltung verändere sich die Realität vermeintlich zum Besseren. Primär interessiert Neumann aber weniger eben jene Struktur, sondern der politische Einsatz der »Verschwörungstheorie« zu Zwecken der Herrschaftsstabiliserung.8 »Verschwörungstheorien« werden daher eingesetzt, um Bürger von der in der parlamentarischen Demokratie minimal möglichen Mitgestaltung der politischen Verhältnisse abzuhalten (Neumann, 1950, S.  83) und sie zur »totalen Ablehnung des politischen Systems ohne die Chance, eine sinnvolle Alternative zu wählen« (Neumann, 1953, 7 8

Vgl. hierzu auch die Beiträge von Florian Hessel und Martin Jay i. d. Bd. Dementsprechend unterscheidet sich seine politische Theorie ebenso von der philosophischen Reflexion, die Verschwörungsdenken als Verhinderung autonomer Erkenntnis analysiert (vgl. Popper, 1992 [1945], S. 119f.; Basham, 2003; Coady, 2006), wie von den empirisch gestützten, ideologiekritischen Analysen der Kritischen Theorie (vgl. Adorno, 1963, S. 547f.; Löwenthal, 1990 [1949], S. 39ff.).

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S. 130), zu bewegen. Neumann geht es also um die Bestimmung der explizit politischen Funktion des Verschwörungsdenkens. Sie ist die »regressivste Form« politischer Mobilisierung, »denn sie ist auf einem nahezu totalen Ich-Schwund aufgebaut. Es ist diejenige Form, die für uns von entscheidender Bedeutung ist. Wir nennen sie caesaristische Identifizierung« (Neumann, 1954a, S. 268). Die Erkenntnis wird in der das Spätwerk untersuchenden Sekundärliteratur allerdings systematisch unterschätzt (vgl. Fuchs, 2017, S. 644; Gottschalch, 1984, S. 132; Honneth, 2002, S. 205; Scheuerman, 2019, S. 90). Ohne aber die Vorstellung abstrakter »Verschwörungen« als konstitutives Moment autoritären Denkens mit einzubeziehen, lässt sich das Spätwerk nur unzureichend entschlüsseln. Nur in detaillierter Rekonstruktion der politischen Theorie der »Verschwörungstheorie« lässt sich Neumanns nur fragmentarisch ausgearbeitete Gegenwartsdiagnose der »politischen Entfremdung« bestimmen. Während Neumann diesen Begriff in Zum Begriff der politischen Freiheit (1953, S. 125) einführt, ohne politische Entfremdung aber abseits der normativen Setzung, sie müsse vermieden werden, näher zu erläutern, bemüht er sich in dem kurz vor seinem Unfalltod 1954 entstandenen Aufsatz Angst und Politik um Klärung. Unter Rückgriff auf eine materialistisch-psychoanalytische Gesellschaftstheorie widmet sich Neumann einer Reflexion kapitalistischer »Entfremdungsformen«. In der Dialektik aus sozialer und psychischer Entfremdung ist, so Neumann, die Anfälligkeit für »Verschwörungstheorien« eingelagert, die ihrerseits als Katalysator politischer Entfremdung fungiert.

»Soziale Entfremdung«: Die Übermacht der Verhältnisse Neumann (1954a, S.  281) spricht von einer in den ökonomischen Verhältnissen begründeten, »sozialen Entfremdung« und rekurriert auf den Entfremdungsbegriff der Marx’schen Manuskripte als Grundvoraussetzung seiner Analyse von »Verschwörungstheorien«. Im Kapitalismus sind die Arbeitenden vom Produkt ihrer Arbeit, ihrer Tätigkeit, von Gattungswesen und anderen Menschen entfremdet (MEW 40, S. 517f.) und von gestörter Selbst- und Weltaneignung sowie dem Unvermögen, sich zu Menschen und Institutionen in Beziehung zu setzen, betroffen. Jüngere Diagnosen stimmen überein, dass Entfremdung nicht nur individuelle, sondern strukturelle Fremdheit darstellt, die abstrakte Herrschaftsstruktu135

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ren installiert sowie Unfreiheit und Machtlosigkeit konstituiert hat ( Jaeggi, 2016, S. 20f.; Postone, 2003, S. 251). In den Manuskripten wird Arbeit noch als menschliche Wesensbestimmung verstanden, als etwas Anthropologisch-Ontologisches ( Jaeggi, 2016, S. 36; Postone, 2003, S. 224). Auch wenn Neumann deutlich macht, dass die Gesamtgesellschaft von Entfremdungsprozessen betroffen ist, verleitet sein Entfremdungsverständnis, das die bei Marx werkimmanente Transformation von der Entfremdeten Arbeit zum Fetischcharakter der Ware nicht reflektiert, dazu, dass Neumann den Caesaren Erhabenheit über und den Beherrschten Unterworfenheit unter Entfremdungsphänomene zuschreibt (Neumann, 1954a, S. 272). Um diese Inkonsistenzen eines traditionalistischen Marxismus zu schleifen und »Verschwörungstheorien« treffender zu verstehen, muss diese Ontologisierung der Arbeit theoretisch aufgehoben werden. Entfremdung als »abstrakteste, aber auch allgemeinste Form der bürgerlichen Produktionsweise« (MEW 23, S. 95) ist kein Ontologismus, dem eine Klasse qua produktiver Arbeit im Produktionsprozess unterworfen ist. Vielmehr konstituiert sich die Herrschaft des Kapitals als abstrakte Arbeit, womit nicht die Kritik der Entfremdung einer Klasse, sondern die Kritik der Arbeit im Kapitalismus als dessen historisch-spezifische Konstitutionsbedingung im Zentrum stehen muss (Postone, 2003, S.  226ff.). Diese Abstraktheit ist für das Verständnis moderner »Verschwörungstheorien« hervorzuheben, da die spezifische Form der Arbeit keine – wie in vorkapitalistischen Gesellschaften (ebd., S. 231) – unmittelbaren Beziehungen zwischen Produzenten konstituiert (MEW 43, S. 91ff.), die aber dennoch als solche wahrgenommen werden. Der stoffliche Reichtum einzelner »Kapitalisten« erscheint als dominante Form gesellschaftlicher Beziehungen. Neumann verbleibt bei dieser Erscheinung und kritisiert nur bedingt wirklich abstrakte Herrschaft. Er konzentriert sich auf Klassenformationen und -interessen (Postone, 2003, S. 240f.), die er im Kampf politischer Führer gegen die Beherrschten mittels einer Analyse von Verschwörungsdenken zu explizieren versucht. Ontologisch scheint in dieser Diagnose vorausgesetzt zu sein, dass ausschließlich die Arbeitenden entfremdet sein können und daher besonders anfällig für »Verschwörungstheorien« sind. Die historisch-spezifische Reziprozität von kapitalistischer Gesellschaft und individueller Praxis konstituiert anonymen Zwang, der »alle gesellschaftlichen Beziehungen« (Neumann, 1954a, S. 279) durchzieht. Da aber stofflicher Reichtum als erkennbare und wenigen »Eliten« zukommende Form 136

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kapitalistischer Verhältnisse erscheint, entwickeln sich psychische Bewältigungsstrategien, das eigene Leid an unpersönlichen Verhältnisse in archaischer Scheinkritik zu artikulieren. Die Identität von kapitalistischen Verhältnissen und entfremdeter Struktur scheint undurchschaubar (ebd., S. 264), sodass die Wahrnehmung des gesellschaftlichen Reichtums, an dem nicht partizipiert werden kann, personalisiert und gesellschaftliche Missstände auf nicht arbeitende »Kapitalisten«, mächtige Geheimbünde und globale Verschwörungen projiziert werden. Dass objektive Missstände mit einem falschen Verständnis kapitalistischer Dynamiken zusammenfallen, nennt Neumann das »Körnchen Wahrheit«, das »niemals ganz falsch ist« (ebd., S. 270, Herv. i. O.), über Verschwörungsdenken aber projektiv pervertiert wird. Dass diese in der abstrakten Herrschaft des Kapitals angelegte Personalisierung der gesellschaftlichen Verhältnisse der strukturelle Grund für Verschwörungsdenken ist, reicht zur Analyse allerdings nicht aus. Neumann erweitert daher die Perspektive um eine psychoanalytische Dimension. Seine Diagnose »politischer Apathie« – ein Mangel an relativ autonomer, politischer Aktivität und die Anfälligkeit für Verschwörungsdenken – als Problem der Demokratie deutet auf die Gefahr hin, die politische Arena Akteuren zu öffnen, die »nicht unbedingt die unbewussten Wünsche der Massen zum Ausdruck bringen« (Neumann, 1944, S. 543),9 sondern diese Wünsche und Hoffnungen zur Durchsetzung autoritärer Machtpolitik nutzen.

»Psychische Entfremdung«: Soziale Angst als Massenpsychopathologie Um diese »psychische Entfremdung«10 zu deuten, verbindet Neumann Freuds Angsttheorie mit dessen massenpsychologischen Analysen, um die 9

»Nicht unbedingt«, da laut Neumann (1954a, S. 269) Massenbildung nicht notwendig in Autoritarismus umschlagen muss, sondern eine »nicht-affektive Loyalität« existieren kann, in der die Massenbewegung für Emanzipation auftritt. Auch wenn Neumann auf diese »progressiv-kooperative Identifizierung« nur am Rande hinweist – da sie schlicht nicht sein Gegenstand ist – und sich diese theoretische Distanzierung politisch-biografisch erklären lässt (Erd, 1985, S. 26), ist Honneths (2002, S. 204) Kritik, Neumann ignoriere progressive Formen der Identifizierung mit Kollektiven, nicht zutreffend. 10 Dass die inkorrekte Benennung als »psychologisch« nicht nur ein philologischer Fehler Neumanns (Gottschalch, 1984, S. 131), sondern »psychologisch« als »von außen aufgezwungen« zu verstehen ist, scheint in seinem problematischen Verständnis kapitalisti-

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»politische Funktion der Angst« (ebd., S. 266) zu ermitteln. Konstitutiv ist, dass »Verschwörungstheorien«, die Neumann als den politischen Ausdruck neurotischer Ängste beschreibt (Vennmann, 2020, S. 63ff.), zwar in der Angst vor realer Gefahr ihre Basis haben, die Entwicklung von neurotischen Ängsten aber primär in der Psyche als Bewältigungsstrategie stattfindet (Freud, 1923b, S. 287ff.). Neurotische Angst entsteht, sobald das Ich Triebregungen aus dem Es wahrnimmt, die seitens des Über-Ichs tabuiert sind und das Ich zwecks Aufrechterhaltung sozialer Kohäsion zur Abwehr dieser Triebregungen bewegen (Freud, 1926d, S. 120f.). Diese Angst ist als Über-Ich-Angst (Freud, 1923b, S. 288f.), später als soziale Angst (Freud, 1930a, S. 484) beschrieben worden. Diese psychische Genese ist in ödipalen Konfliktsituationen begründet, in der Angst vor Strafe bei Zuwiderhandlung gegen elterliche, letztlich gesellschaftliche Normen. Dieser Angst kann mit Identifizierung mit gleichgeschlechtlichen Autoritätsfiguren begegnet werden. Freud (1921d, S. 138f.) schreibt diese Identifizierungsfunktion sowohl dem Urvater, als Herrscher der archaischen Organisationsform der Urhorde, als auch dem Führer, als Vaterimago der modernen Masse, zu. Demnach führt Angst vor Strafe nicht zur Revolte gegen die Autorität, sondern zur Unterdrückung der Feindseligkeiten und zur Identifizierung mit dem autoritären Ich-Ideal. Schon bei Freud ist aber der Führer nicht notwendig personalisierbar, das Ideal kann eine »führende Idee« (ebd., S. 110) – Volk, Vaterland, politische Partei11 – sein, solange diese die Überwindung der Angst vor Desintegration vermeintlich ermöglicht, einen politischen Kompass gegen Entfremdungserfahrungen bietet und einer libido-besetzten Verliebtheit in das kollektive Ich-Ideal gleicht (Adorno, 1951, S. 415). Neumann schließt sich Freuds Diagnose der libidinösen Kettung der Massenindividuen an den Führer an, durch die erstere ihre neurotische Angst durch die Hingabe an die caesaristische Agitation mittels »Verschwörungstheorien« vermeintlich überwinden können. Die vom Über-Ich der Masse aufgebürdeten Triebhemmungen subordinieren die scher Totalität zu wurzeln, in dem er »die Kapitalisten« oder »die Führer« als dem Verblendungszusammenhang überlegen markiert (Neumann, 1954a, S. 272; vgl. Struwe & Vennmann, 2021, S. 123). Daher soll folgend der von Neumann selbst nicht verwendete Begriff der psychischen Entfremdung genutzt werden. 11 Obwohl Freud sich nicht explizit mit den »objective historical conditions« (Adorno, 1951, S. 418) dieser politischen Phänomene beschäftigte, diagnostizierte er dennoch die Entwicklungen faschistischer Zerstörungswut korrekt (ebd., S. 410, 423).

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Massenindividuen dem Führer, der eine vermeintliche Alternative zur Befriedigung tabuierter Triebe darstellt. In der Masse ist der Einzelne auf Affekte reduziert und verkörpert einen »Zustand von Regression zu einer primitiven Seelentätigkeit« (Freud, 1921d, S. 137). Im politischen Kontext nennt Neumann (1954a, S. 268) diese Reinkarnation vormoderner, undemokratischer Herrschaft im Caesarismus »historische Regression«. Hatte Freud (1921d, S. 90f.) noch Massenangst als Erosionstendenz der Bindung der Masse an den Führer verstanden, ist für Neumann die Angst in der Identifizierung mit der Vaterimago notwendig aufrechtzuerhalten. Die neurotischen Ängste der Massenindividuen werden nur scheinbar überwunden und die Ängste auf ein Außerhalb der exklusiven Gemeinschaft projiziert (Löwenthal, 1990 [1949], S. 74). Zur Mobilisierung und Stabilisierung der Herrschaft darf der Caesar nicht die Angst überwinden, sondern muss sie institutionalisieren und neurotische Ängste als Realangst vor der Vernichtung des eigenen, vermeintlich homogenen Kollektivs inszenieren (Vennmann, 2020, S. 70). Diese Stabilisierung ist das Ziel der politischen Agitation via »Verschwörungstheorien«. Mittels »Verschwörungstheorien« Anhängerschaft mobilisieren zu können deutet darauf hin, wie sich in »der Psychologie der Subjekte […] der Niederschlag gesellschaftlicher Verhältnisse« (Horn, 1990a, S.  46) manifestiert, ökonomische Entfremdung also die psychische Entfremdung fördert. Die Widersprüchlichkeit der Verhältnisse ist zu psychischen Deformationen, zu irrationalem Verhalten und zu projektivem Verschwörungsdenken geronnen, die mit der systematischen Produktion von Leid im Kapitalismus in Zusammenhang stehen. Dennoch entscheiden sich in dieser Konstellation die Einzelnen relativ bewusst für den Versuch einer verschwörungsmythischen Bewältigung dieses Leids. Sie verweigern sich aktiv einem »Verständnis des historischen Prozesses« (Neumann, 1953, S. 120), der zwar erkenn-, wenn auch nicht unmittelbar überwindbar ist. Diese falsche Projektion sozialer Verhältnisse auf Personen oder Gruppen – bei Neumann durch den genuin antisemitischen Gehalt des Verschwörungsdenkens gekennzeichnet – macht die Menschen für die Agitation der Caesaren anfällig. Dieser erscheint als »Mann aus dem Volke und doch über ihm stehend; nah und vertraut, aber doch fern und einsam« (Löwenthal, 1990 [1949], S. 126). Allerdings unterliegt der Caesar selbst für Neumann nicht dem stummen Zwang der Verhältnisse. Er hat Einsicht in die gesellschaftlichen Dynamiken, kann die neurotischen Ängste politisch kanalisieren und der Masse die Möglichkeit zum Zelebrieren ihrer Angst139

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lust gewähren, indem die vermeintliche Angst vor der »Verschwörung« die politische Zusammenrottung, den Angriff und das Pogrom rechtfertigt (Pohl, 2010, S. 13ff.), aus dem die Hoffnung auf Besserung entspringen soll. Die politische Funktion der Mobilisierung der Masse durch angststabilisierende »Verschwörungstheorien« verfolgt damit einen konkreten Zweck: Die Rechtfertigung einer »Politik des Terrors« (Neumann, 1954a, S. 277). Verschwörungsdenken ist das politische Produkt der Dialektik von heteronomer Individualität und entfremdeten, gesellschaftlichen Strukturen. In jener Dialektik erzeugt die »Institutionalisierung der Angst« (ebd., S. 281) die Legitimation des caesaristischen Herrschaftsanspruchs.

»Politische Entfremdung«: Institutionalisierung von Verschwörungstheorien Die individuelle Entscheidung zur Identifizierung mit dem Caesaren versteht Neumann als politische Entfremdung. Sie besitzt dystopischen Charakter, da sie nicht das von Neumann empirisch beobachtete Szenario, sondern dessen Möglichkeit darstellt. Während Honneth (2002, S. 201) behauptet, Neumanns Verständnis von Angst und Entfremdung ließe sich auf ein simples »Stufenmodell« reduzieren, in dem die individualpsychische Desintegration am Anfang und das Verschwörungsdenken am Ende steht, spricht Neumann (1954a, S.  264) deutlich von einem nichtdeterministischen, dialektischen Komplex sozialer, psychischer und politischer Entfremdung. Die Regressionstendenzen der kapitalistischen Gesellschaft können das »höchstmögliche Maß an Freiheit« (Neumann, 1953, S. 125) gerade nicht hervorbringen: Bürgerlich demokratische Strukturen schaffen nicht individuelle Autonomie, sondern die Entfremdungsphänomene führen in die Unterwerfung unter politische Kollektive, die ein Mehr an Selbstbestimmung und Freiheit suggerieren (Neumann, 1946, S. 767f.). Das vermeintliche Freiheitsstreben des Caesarismus ist dabei kein auf demokratische Selbstbestimmung konzentriertes, sondern eines der »Befreiung« vom fremden Joch, das individuelle und kollektive Bevormundung durch autoritäre Staatsformen legitimiert. Da das Gemeinschaftsgefühl der Masse notwendig Feinde konstruiert (Freud, 1939a [1934–38], S. 197f.), ist die Freund-Feind-Differenz als Konstituens des Politischen nicht nur Lebenselixier, sondern die politiktheoretische Konsequenz der »Verschwörungs140

»Falsche Konkretheit« als politisches Instrument

theorie«. Die neurotische »Furcht vor einem Feind« (Neumann, 1953, S.  134) wird konsequent zum »Haß gegen einen Feind« (Neumann, 1954a, S.  277), da sich über die psychischen Abwehrmechanismen von Identifizierung und Projektion die komplexen Konflikte und die Krisenhaftigkeit der modernen Gesellschaft als Verschwörung übermächtiger Feinde ordnen, erklären und lösen lassen (Horn, 1990b, S.  24f.). Diese falsche Konkretheit »wurde zum Paradox einer Freiheitsbewegung, in der sich Archaisches und Hochdifferenziertes, ein psychotisch-magisches Bewußtsein und ein technisch-rationales« (ebd., S. 28) mischen. Das Schema, nach dem sich die falsche Konkretheit des Verschwörungsdenkens formt, kann als eines reinlicher Scheidung zwischen Gut und Böse verstanden werden, das auf Basis völkisch-nationalistischer Ideologie einen antirationalen, mythisch-biologistischen Reduktionismus darstellt, den Verschwörungsideologen mit technisch-zweckrationaler Wissenschaftlichkeit »beweisen«. Während sie kritische Erkenntnisse über ihre eigene Irrationalität als »Techniken der Manipulation« (Neumann, 1954a, S. 275) seitens korrupter Eliten und Verschwörungen imaginieren, rekurrieren sie vice versa auf die Wissenschaftlichkeit der Ergebnisse quantitativ-empirischer Sozialforschung – etwa Veränderungen in der Demografie als hinreichende Erklärung einer »fremden Übernahme« der Nation  – sowie verkürzte oder falsche Interpretation naturwissenschaftlicher Erkenntnisse (Butter, 2018, S. 78f.). Die falsche Konkretheit ist zunehmend in der Lage, das Über-Ich demokratischer Gesellschaften durch ein neues, autoritäres Über-Ich zu ersetzen (Horn, 1990b, S. 29), das zur entscheidenden, politischen »Waffe in der Hand von verantwortungslosen Führern« (Neumann, 1954a, S. 278) wird. Folgt man Neumann (1953, S. 120), befördert Verschwörungsdenken politische Apathie, das die Politik betreffende Resultat psychischer und sozialer Entfremdung. Politische Apathie bildet dabei einen Indikator für das Heraufdämmern politischer Entfremdung, der »Aufhebung der Freiheit im Totalitarismus«. Erstere ist daher noch nicht total, sondern konstituiert sich erst in einer bestimmten Reaktion auf psychische Entfremdung, die Neumann (1954b, S. 245) auf die Charakterstruktur autoritärer Persönlichkeiten zurückführt. Politische Apathie bedeutet die partielle »Paralysierung des Staates und öffnet den Weg zu einer caesaristischen Bewegung, die, die Spielregeln verachtend, sich die Unfähigkeit des Bürgers zur individuellen Entscheidung zunutze macht und den Ich-Verlust durch Identifizierung mit dem Caesar kompensiert« (ebd., S. 281). 141

Stefan Vennmann

Das Schüren der Angst vor politischer Autonomie, die Feindschaft gegen etablierte Politik und die Errichtung autoritärer Strukturen ist das Ziel des Caesarismus. Daher muss der liberale Rechtsstaat sowohl – bei aller Kritik an moderner Staatlichkeit, die Neumann in Die Herrschaft des Gesetzes formuliert – gegen die Feinde der Freiheit verteidigt werden, als sich auch gegen sämtliche reaktionäre, antidemokratische Kräfte mit allem ihm zur Verfügung stehenden Mitteln zur Wehr setzen. Die autoritäre Bewegung, die mit Angst, Propaganda, letztlich Terror und Gewalt systematisch gegen die Errungenschaften der Moderne vorzugehen bereit ist, ist politisch zu isolieren und rechtlich zu unterbinden (Neumann, 1954a, S. 284). Allerdings kann der »ideologische[ ] Charakter der Politik« (Neumann, 1950, S. 96), den die Demokratie innerhalb kapitalistischer Gesellschaftsstrukturen besitzt, nur begrenzt Instrumente der Verhinderung des Caesarismus bereitstellen. Sollte es autoritären Bewegung daher gelingen mittels »Verschwörungstheorien« die Angst zu institutionalisieren und »politische Macht zu erringen« (Neumann, 1954a, S. 270), vollzieht sich die historische Regression (ebd., S. 268). Neumann (1980, S. 343) konstatiert, dass die kollektive Basis des Caesarismus der politischen Statik des Bestehenden ein vermeintlich dynamisches Konzept entgegenstellen kann, das aber auf der Negation von Individualität und Freiheit beruht: »Die Bewegung handelt durch den Führer, der von der Volksidee durchdrungen ist. Der Führer repräsentiert das Volk. Die totale Bewegung wird aufgefaßt als die dynamische Kraft, die gegen die statische Kraft der Staatsmaschine zu stehen kommt.« Die in den falsch eingerichteten gesellschaftlichen Verhältnissen angelegte Tendenz zum Verschwörungsdenken, die das Phantasma einer Bedrohung von Familie, Eigentum, Moral und Religion sowie Angst vor ökonomischem Statusverlust und sozialer Desintegration beschwört (Neumann, 1954a, S. 275ff.), wird bei Neumann in ihrer politischen Funktion zum Kernproblem demokratischer Gesellschaften.

Defizit, Reduktion und politiktheoretisches Potenzial Neumanns Vorteil ist die Zuspitzung auf die politische Agitation, das eindimensionale Verständnis von Propaganda als auf Terror basierender »Technik« (Neumann, 1998 [1944], S. 506), die die über sie erhabenen Führer skrupellos anwenden (ebd., S. 507ff.). Diese Zuspitzung ist zugleich 142

»Falsche Konkretheit« als politisches Instrument

sein theoretisches Problem. Propaganda ist nicht auf eine Technik von Demagogen zu reduzieren, sondern dient der Artikulation einer ohnehin schon unbewussten, in den gesellschaftlichen Verhältnissen begründeten, kollektiven Identität, die die Individuen selbst ohne die Kanalisation durch Führerfiguren nicht in der Lage wären zu artikulieren – »Die Masse ist das Ergebnis der Agitation, nicht deren Voraussetzung« (Struwe & Vennmann, 2021, S. 125). Die Masse ist damit nicht (nur) durch Führer heteronom bestimmt, sondern einer gesamtgesellschaftlichen Heteronomie unterworfen. Neumann reduziert hingegen die »Verschwörungstheorien« auf bewusste Propaganda. Seine Interpretation des Caesaren als »Führer-Demagoge« (Neumann, 1954a, S. 271), der über die soziale Angst erhaben ist, stilisiert Einzelne zur Wurzel des Übels und begeht einen ähnlichen, manipulationstheoretischen Fehlschluss wie jene, die die sozialen Verhältnisse mittels Verschwörungsdenken personifizieren. Bei Neumann (1942, S. 269) bleibt die traditionsmarxistische Imagination der organisierten Unterdrückung der Beherrschten bestehen, die selbst die Tendenz zur Verschwörungstheorie der Herrscher der Welt gegen die Arbeiterklasse enthält. Der Versuch einer Reflexion auf Verschwörungsdenken scheitert damit nicht, zeigt er doch treffend, wie »Verschwörungstheorien« als politisches Instrument zur autoritären Agitation fungieren. Allerdings kann Neumann nicht die strukturelle Wirkung von »Verschwörungstheorien« auf Masse und Führer gleichermaßen bestimmen. Sie müssen in seiner Entfremdungsdiagnose notwendig auf Demagogie reduziert bleiben (Gottschalch, 1984, S. 132), da sein Verständnis von Propaganda die Differenz zwischen einer »organisierten Verschwörung« in präkapitalistischen Gesellschaften und einer »abstrakten Verschwörung« im Kapitalismus, wenn er sie auch als elementare Differenz behauptet, nicht ausreichend fassen kann. Neumann geht von konkreten Personen aus, die »demagogische Tricks« zur Konsolidierung ihrer Herrschaft nutzen und die Massen unterwerfen. In dieser problematischen Tradition verkennt Neumann, dass es sich bei der für autoritäre Bewegungen anfälligen Masse nicht um Opfer von »psychological intoxication« und »passive contagion« (Adorno, 1946, S. 400) handelt. Vielmehr will die Masse gesellschaftsstrukturell durch den Caesaren verführt und beherrscht werden, da ihnen ein psychischer Ersatz zur unmöglichen Bewältigung unbewältigter Realität und unbefriedigter Bedürfnisse versprochen wird (Bussemer, 2008, S. 98). Darüber hinaus glauben Führer und Masse gleichermaßen an die Realität der Verschwörung, 143

Stefan Vennmann

beide sind von neurotischer Angst betroffen und die Caesaren gerade nicht über sie erhaben (Löwenthal, 1990 [1949], S. 135f.). Neumanns orthodoxes Basis-Überbau-Klassenverständnis ist defizitär, da auch die Caesaren Sachzwängen unterworfen sind und keine Kontrolle über gesellschaftliche Prozesse haben. Korrekterweise stellt Neumann sie aber als Akteure dar, die über politische, ökonomische und institutionelle Ressourcen verfügen, die politische Agitation zum individuellen Machtausbau zu nutzen und dazu auf Ressentiments falscher Konkretheit zurückzugreifen (Möller, 2022, S. 15; Strobl 2021, S. 64ff.). Sie sind nicht deren Urheber, können aber durch ihre soziale Stellung eigene ideologische Vorstellungen kanalisieren. Wie Neumann (1950, S. 97) in Anlehnung an Kafka zu Recht schreibt, wird der »Lügner der Held«. Die »verschwörungstheoretische« Lüge in verschiedenen Varianten wird zum »Schutz des Individuums« gegen die allgegenwärtige »Propaganda des Establishment« zur führenden Idee stilisiert, zur Retterin vor korrupten Eliten. Die von der Masse als Führerfiguren imaginierten Demagogen sind ebenfalls charakterstrukturell autoritäre Marionetten gesamtgesellschaftlicher Regression, denen aber die Vorstellung vermeintlichen Heroismus attestiert wird (Adorno, 1946, S. 402). Es ist aber verkürzt, von einem »internalisierten Zwang oder von psychischer Manipulation« ( Jaeggi, 2016, S. 47) zu sprechen, denn entfremdete Verhältnisse haben eine doppelte Wirkung auf Menschen, sie sind Opfer und Täter zugleich. Neumann besitzt hier insofern analytisches Potenzial, als dass er auf die konkreten Personen verweist, die in den Fokus zu rücken sind, um autoritäre Tendenzen in der Demokratie zu kritisieren, ohne aber den gesellschaftsstrukturellen Kontext zu vernachlässigen. Da er die gesellschaftliche Anschlussfähigkeit von »Verschwörungstheorien« problematisiert, bietet seine Theorie politischer Agitation die »Konfrontation der demokratischen Theorie und Praxis« (Horn, 1989, S. 23), indem sie die der Demokratie immanenten Rückfalltendenzen expliziert. Er kann seinem eigenen Anspruch, Verschwörungstheorien als Katalysator und Stabilisator aus der politischen Ökonomie, deren Klassenstrukturen und den individuellen Persönlichkeitsstrukturen zu erklären (Neumann, 1954b, S. 240), zwar nicht in toto gerecht werden, er scheint aber politiktheoretisch anschlussfähig. Neumanns Theorie fällt nicht der gegenwärtigen Aufregung der schon vollendeten Reinkarnation des Faschismus in den Parlamenten anheim und betrachtet parallel den demokratischen Prozess als Teil des Problems, solange antidemokratische Kräfte über »Verschwörungstheorien« 144

»Falsche Konkretheit« als politisches Instrument

agitieren, die – wenn auch politisch belächelt und als Wahn pathologisiert – als zu akzeptierende »Meinung« legitim bleiben. Solche »Meinungen« und deren demokratische Billigung sind für Neumann inakzeptabel, da sie »Verschwörungstheorien« als politischen Exorzismus für legitim halten. Ihre Unterworfenen glauben an die Überwindung der Angst durch »verschwörungstheoretische« Scheinwahrheit. Ihre neurotische Angst vor dem Zerfall der Ordnung wird gegen die Ordnung selbst gerichtet, deren falsche Basis nicht beseitigt, sondern zum Agitationsmedium transformiert wird. Gleichzeitig wird verschleiert, dass die Projektion auf stereotyp gegen die Ordnung Verschworene – Judentum, Kommunismus und Amerika, chiffriert als globale Eliten und anonyme Mächte – den Herrschaftsanspruch stabilisiert. Denn was Neumann (1953, S. 108) zum abstrakten Recht als gesellschaftliche Herrschaft schreibt, gilt auch für das Verschwörungsdenken – es kann sui generis »nicht herrschen. Nur Menschen können über andere Menschen Macht ausüben.« Die falsche Konkretheit verkörpert die totale politische Aporie. Neumann schließt pessimistisch, dass sich die reale Gefahr der autoritären Regression von der hoffnungsvoll-utopischen Forderung einer freien Gesellschaft durch den enormen Zuspruch aus der Gesamtgesellschaft kaum tangiert zu fühlen braucht. Die Tendenz der totalen politischen Aporie lauert nach wie vor, die Gefahr politischer Entfremdung – so sehr die parlamentarischen Akteure und Institutionen die Gestaltungsmöglichkeiten der Demokratie auch suggerieren – bleibt eine Gefahr, die der kapitalistischen Gesellschaft immanent ist. Caesarismus und Verschwörungsdenken sind die politischen Explikationen einer Gesellschaft der stetigen Krise. Literatur Adorno, T. W. (1946). Anti-Semitism and Fascist Propaganda. Gesammelte Schriften, Bd. 8: Soziologische Schriften I (S. 397–407). Frankfurt/M.: Suhrkamp. Adorno, T. W. (1951). Freudian Theory and the Pattern of Fascist Propaganda. Gesammelte Schriften, Bd. 8: Soziologische Schriften I (S. 408–433). Frankfurt/M.: Suhrkamp. Adorno, T. W. (1963). Meinung Wahn Gesellschaft. In R. Tiedemann (Hrsg.), Theodor W. Adorno. Gesammelte Schriften, Bd. 10.2: Kulturkritik und Gesellschaft II (S. 573– 594). Frankfurt/M.: Suhrkamp. Adorno, T. W. (1975 [1950]). Studies in the Authoritarian Personality. Gesammelte Schriften, Bd. 9.1: Soziologische Schriften II.1 (S. 142–509). Frankfurt/M.: Suhrkamp. Barkun, M. (2003). A Culture of Conspiracy. Apocalyptic Visions in Contemporary America. Berkeley u. a.: Univ. of California Press.

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Biografische Notiz

Stefan Vennmann ist Promotionsstipendiat der Hans-Böckler-Stiftung und promoviert am Institut für Philosophie der Universität Duisburg-Essen zum Thema »Kollektive Schuld. Zur kritischen Theorie eines umkämpften Begriffs«.

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Argwohn, Misstrauen, Verfolgungsängste: Verschwörungstheorien in der Coronakrise Psychoanalytische und sozialpsychologische Überlegungen1 Hans-Jürgen Wirth

Netzwerke, böse Drahtzieher, komplexe Komplotte: Verschwörungstheorien haben Konjunktur, sie sind Bestseller, im Buchmarkt, im Kino und im Internet. Im Zusammenhang mit rechtspopulistischen Bewegungen haben sie sich bereits seit einigen Jahren verbreitet, mit der Coronapandemie jedoch einen weiteren rasanten Aufwind bekommen (Altmeyer, 2020). In Deutschland werden Verschwörungserzählungen vor allem von der AfD und ihrem rechtsextremistischen Umfeld vertreten (Wirth, 2019, 2021). Jüngst sind Coronaleugner*innen und die Querdenkenbewegung dazu gekommen, die sich gegen die Coronamaßnahmen der Regierung wenden (Wirth, 2020). Aber auch Regierungen setzen gezielt Verschwörungsideologien in die Welt, um die Gesellschaft zu spalten und ein Klima der Feindseligkeit, des Hasses und des Misstrauens zu erzeugen. Dies gilt für die Internettrolle, die von Russland aus gegen westliche Gesellschaften operieren ebenso wie für den ehemaligen US-Präsidenten Donald Trump, der seine Anhänger während seiner gesamten Amtszeit mit Lügen, »Fake News« und »alternativen Fakten« für seine Interessen aufstachelte. Den Höhepunkt bildete seine nachweislich falsche Behauptung von der »gestohlenen Wahl«, mit der er seine Anhängerschaft zum Sturm auf das Kapitol aufwiegelte. Im Folgenden soll es darum gehen, die psychologischen, familien- und gruppendynamischen sowie massenpsychologischen Hintergründe von 1

Eine Variation dieses Textes ist erschienen in meinem Buch Gefühle machen Politik. Populismus, Ressentiments und die Chancen der Verletzlichkeit. Gießen: Psychosozial-Verlag, 2022.

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Hans-Jürgen Wirth

Verschwörungsideen näher zu beleuchten. Dabei sollen nicht nur »extreme« Verschwörungsmythen, die auf individueller Ebene den Charakter von Wahnvorstellungen annehmen können, sondern auch »mildere« Formen, die sich bspw. in einer gewissen Impfskepsis zeigen können, betrachtet werden. Für das Verständnis von Verschwörungstheorien ist der Begriff des Misstrauens und vice versa der des Vertrauens von zentraler Bedeutung.2 Es lohnt sich also, diese Begriffe näher zu betrachten.

Epistemisches Vertrauen – epistemisches Misstrauen Nach Erik Erikson besteht die erste fundamentale Aufgabe des Menschen darin, das Gefühl des Ur-Vertrauens zu entwickeln, das die entgegengesetzten Gefühle von Verlassenheit, Verzweiflung und Ur-Misstrauen in Schach hält: »Das Ur-Vertrauen ist der Eckstein der gesunden Persönlichkeit« (Erikson, 1966 [1959], S. 63). Der Grundstein dafür wird bereits in den ersten Lebensjahren gelegt, wenn sich beim Kleinkind ein Gefühl des UrVertrauens in die Zuverlässigkeit und Liebe der zentralen Beziehungspersonen entwickelt. Nur wenn das Kind erlebt, dass es anderen vertrauen kann und dass andere Vertrauen in es setzen, entwickelt sich bei ihm Selbst- und Weltvertrauen (Hartmann, 2011, S. 66). Das Ur- oder Weltvertrauen ist eine psychosoziale Ressource, auf die das Individuum, aber auch soziale Gemeinschaften in Krisenzeiten zurückgreifen können. Eine Ausdifferenzierung des Begriffspaars Vertrauen  – Misstrauen haben Peter Fonagy et al. (2017) mit dem Konzept des »epistemischen Vertrauens« bzw. des »epistemischen Misstrauens« entwickelt. Epistemisches Vertrauen ist eine besondere Art des Vertrauens, die sich darauf bezieht, ob man einer anderen Person vertraut, dass sie relevante kulturelle Zusammenhänge korrekt erklärt und soziale Sachverhalte beim richtigen Namen nennt. Die Entwicklung des epistemischen Vertrauens hängt eng zusammen mit Fähigkeiten, die Fonagy mit dem Konzept des Mentalisierens beschreibt. Damit ist das menschliche Vermögen gemeint, sich einerseits in die innere Welt unserer Mitmenschen, in ihre Gefühle, Wünsche, Gedanken, Motive und Befürchtungen hineinzuversetzen und andererseits auch die eigene innere Welt zu reflektieren, also mit einer gewissen Distanz zu betrachten. Die Fähigkeit zu mentalisieren ist grundlegend dafür, wie 2

Vgl. dazu auch den Beitrag von Felix Brauner i. d. Bd.

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Argwohn, Misstrauen, Verfolgungsängste: Verschwörungstheorien in der Coronakrise

gut es gelingt, eigene Emotionen zu regulieren. Eine ausreichend gute Affektregulation fördert die Ausbildung von epistemischem Vertrauen. Wenn wir hingegen uns selbst und die innere Welt unserer Mitmenschen nur ungenügend erfassen, kommt es unweigerlich zu Missverständnissen, Kränkungen, Vorwürfen und Selbstvorwürfen, die zu weiteren Komplikationen in den sozialen Beziehungen und im psychischen Erleben führen. Verbleibt die Mentalisierung der Affektivität auf einem niedrigen Niveau, werden die »Reflexionsbemühungen von einem übertrieben argwöhnischen Grundgefühl dominiert« (Brauner, i. d. Bd.) und es kommt zur Entwicklung einer »allgemeinen Geisteshaltung« die sich durch epistemisches Misstrauen auszeichnet. Dieses äußert sich in einer übertriebenen Wachsamkeit gegenüber allen Ereignissen in der Umgebung. Es entwickelt sich eine Überinterpretation der Motive anderer Menschen, denen in der Regel böse Absichten unterstellt werden. Epistemisches Misstrauen kann dann die Form einer »Hypermentalisierung« oder »Pseudomentalisierung« (Fonagy et al., 2017) annehmen. Der Betreffende will immer und überall auf das Schlimmste gefasst sein. Misstrauisch überprüft er ständig seine Umgebung nach Hinterhältigkeiten und Betrügereien. Fonagys Ausführungen beziehen sich auf direkte kommunikative Prozesse zwischen Personen. Seine Beschreibungen treffen aber auch auf den Umgang mit gesellschaftlichen Problemlagen und politischen Institutionen zu. Menschen, die von epistemischem Misstrauen geprägt sind, befinden sich in einer ständigen Bereitschaft, alles, was von etablierten Institutionen der Gesellschaft, vom »Establishment«, von »den Eliten« kommt, also von denjenigen, die über Macht und Einfluss verfügen, kritisch zu hinterfragen und misstrauisch nach möglichen Fallstricken, versteckten unlauteren Interessen, Ausbeutungsabsichten und Funktionalisierungsmotiven zu durchleuchten. Ein typisches Argumentationsmuster ist die Frage nach heimlichen Interessen, die hinter einer beliebigen politischen Maßnahme stecken. Die offizielle Begründung wird auf alle Fälle misstrauisch abgelehnt. Misstrauen kann sich zu einer habituell eingenommenen Grundhaltung verfestigen, die durch Ur-Misstrauen und ein paranoid gefärbtes Menschen- und Weltbild gekennzeichnet ist, das in Verschwörungstheorien eine verfestigte Form findet (Butter, 2018). Aktuelle Beispiele für entsprechende Verschwörungsmentalitäten finden sich in der Querdenkenbewegung, die mit abstrusen Verschwörungsannahmen, Coronaverleugnung und Anti-Corona-Demonstrationen in Erscheinung treten. Im Verein mit rechtsradikalen Gruppierungen versucht die Anhängerschaft dieser Bewe151

Hans-Jürgen Wirth

gung, systematisch grundlegendes Misstrauen gegen alle Informationen, Einschätzungen und Maßnahmen zu sähen, die von etablierten Gruppen, der Wissenschaft oder der Regierung stammen. Ins Auge fällt die Überzeugungskraft, mit der das Misstrauen gegenüber »denen da oben« vertreten wird. Es scheint, als müssten mögliche Selbstzweifel an der eigenen Position durch die Vehemenz des Misstrauens übertönt werden.

Familiendynamiken des Vertrauens und des Misstrauens in der Coronakrise Familien sind in der Pandemie starken sozialen und psychischen Belastungen ausgesetzt (Gravelmann, 2020). Wie verschiedene Studien (Schnetzer & Hurrelmann, 2021) zeigen, hat sich die »Lebensqualität der Kinder und Jugendlichen verschlechtert, Ängstlichkeit und die Häufigkeit psychischer Auffälligkeiten haben zugenommen« (Ravens-Sieberer et al., 2021, S.  8). Tendenziell neigen Kinder und Jugendliche stärker zu depressiven Zuständen und Stimmungen (ebd.). Zudem hat sich das Gesundheitsverhalten der Kinder während der Pandemie verschlechtert. »Der Medienkonsum ist hoch, ein Fünftel der Kinder treibt keinen Sport und ein Drittel isst mehr Süßigkeiten als vor der COVID-19-Pandemie. Aktuelle internationale Studien weisen in eine ähnliche Richtung« (ebd.). Da auch die Eltern durch finanzielle Sorgen, Arbeitsplatzverlust und Homeoffice gestresst sind (ebd.), kann es nicht verwundern, »dass Streitigkeiten in den Familien zunehmen und öfter eskalieren. In anderen Studien konnte bereits gezeigt werden, dass das Risiko von Kindesmissbrauch und Vernachlässigung in Krisenzeiten steigt« (ebd.). Sozial benachteiligte Kinder und Jugendliche sind »besonders stark von den Auswirkungen der COVID-19-Pandemie betroffen« (ebd.). Familien, für die Angst ohnehin ein Leitthema ihres Zusammenlebens darstellt, sind durch die Realängste, die von der Pandemie ausgelöst werden, besonders belastet. Der psychosoziale Ausnahmezustand der Pandemie verstärkt latent vorhandene pathologische Beziehungsmuster und aktiviert die eingespielte psychosoziale Abwehr. Horst-Eberhard Richter (2012 [1970]) hat in Patient Familie drei homogen strukturierte Familientypen beschrieben, bei denen die Bewältigung oder – genauer gesagt – die Abwehr von Ängsten im Mittelpunkt steht: die angstneurotische und die paranoide Familie. Der dritte von Richter geschildete Familientyp, die hysterische Familie, zentriert sich um die Abwehr von depressiven Gefühlen und Stimmungen. 152

Argwohn, Misstrauen, Verfolgungsängste: Verschwörungstheorien in der Coronakrise

Bei der angstneurotischen Sanatoriumsfamilie steht meist ein Familienmitglied im Zentrum, das von Vereinsamungsängsten, Vernichtungsbefürchtungen, vegetativen Beschwerden und Hypochondrie bestimmt ist. Diese angstneurotische Zentralfigur setzt alle anderen Familienmitglieder unter Druck, sich ihrem risikoarmen, hygienischen und harmoniesüchtigen Lebensstil anzupassen, und verwandelt die Familie in eine Art von »selbstgeschaffenem Sanatorium« (Richter, 1976, S.  15). Sie nutzt die Ausnahmesituation der staatlich verordneten Kontaktbeschränkungen, um die anderen Familienmitglieder überängstlich an sich zu binden und auf das familiäre Schonklima zu verpflichten. Die ganze Familie entwickelt eine Gruppenphobie, die auf die kranke Hauptperson zwar beruhigend wirkt, insgesamt jedoch zu einer »Einschränkung des familiären GruppenIchs« (ebd.) führt. In der Coronapandemie steht ein solches angstneurotisch-phobisches Familiensystem in großer Übereinstimmung mit der Realangst vor dem Virus und der staatlichen Aufforderung, sich möglichst zu Hause im Kreis der Familie aufzuhalten. Die phobische Familienabwehr findet gleichsam eine »Verankerung in der Realität« (Mentzos, 1977). Bei Kindern kann dies zu erhöhter Ängstlichkeit und einem sozialen Rückzug von Gleichaltrigen führen, und stellt damit ein hohes Risiko für ihre psychosoziale Entwicklung dar. Solche familiendynamischen Konstellationen, die sich durch Überängstlichkeit, Anklammerungsbedürfnisse und hypochondrische Ängste auszeichnen, tauchten auch schon bei der HIV-Pandemie als AIDS-Phobie auf (Wirth, 2013). Das »Vertrauen«, das die Familienmitglieder in das phobisch geprägte Weltbild der angstneurotischen Zentralfigur entwickeln, ist gleichsam zu stark und zu einseitig ausgeprägt. Eine Untermauerung dieser ängstlichen Weltsicht wird in der verunsichernden Situation der Pandemie bei den virologischen Expert*innen gesucht, die ein besonders düsteres Bild der Lage zeichnen und zu besonders scharfen Einschränkungen der sozialen Kontakte außerhalb der Familie raten. Im Extremfall hört die ganze Familie gemeinsam den populären Coronapodcast von Christian Drosten und geht kaum noch aus dem Haus. Die angstneurotische Zentralfigur instrumentalisiert die virologischen Warnungen, um die »Einschränkung des familiären Gruppen-Ichs« (Richter, 1976, S. 15) durchzusetzen. Das Vertrauen, von dem hier die Rede ist, ist ein »blindes Vertrauen« (Volkan, 2005), das nicht durch eine gesunde Skepsis, den kritischen Vergleich verschiedener Ansichten und Selbstvertrauen in die eigene Urteilsfähigkeit gekennzeichnet ist. Natürlich sagt diese Familiendynamik nichts darüber aus, welche 153

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virologische Analyse die Realität am besten trifft, sondern nur etwas über ihre funktionalisierende Verwendung innerhalb der Familie. In der paranoiden Festungsfamilie (Richter, 2012 [1970]) herrscht eine hochgradig aggressive Spannung, die durch Übersolidarisierung der Mitglieder und durch die Projektion der Aggression auf gemeinsame äußere Feindbilder in Schach gehalten werden soll. Die paranoide Weltsicht hält die Familie wie eine Festungsmauer zusammen. Das Freundbild-Denken prägt alle Lebensbereiche. In radikalen religiösen Sekten und in anderen durch Fanatismus gekennzeichneten Gruppen sind solche paranoiden Strukturen sowohl in der Gruppe als auch in den dazugehörigen Familien weit verbreitet. Da paranoides Denken und Verhalten enorm suggestiv wirken, werden solche paranoiden Strukturen vielfach von einer Generation zur nächsten weitergegeben. Das Konzept der »transgenerationalen Weitergabe« wurde zwar erst von der Trauma- und der Holocaust-Forschung als solches benannt, ist theoretisch aber bereits in Richters Theorie der »psychosozialen Abwehrmechanismen« (Richter, 1963) differenziert beschrieben. Während der Coronapandemie wird zum gleichen Zeitpunkt die latent existierende Bereitschaft zu paranoiden Einstellungen bei sehr vielen Menschen getriggert. So kommt es in einzelnen Familien, aber auch in sozialen Gruppen, zu einer paranoiden Atmosphäre, die sich massenpsychologisch ausbreitet. Schert in einer Familie ein Mitglied aus der wahnhaften Realitätswahrnehmung aus, droht die Spaltung der Familie. Abweichende Mitglieder werden aus der Kommunikation ausgeschlossen oder man einigt sich darauf, das brisante Streitthema zu tabuisieren. Auch Freundschaften werden durch paranoide Überzeugungen auf eine harte Probe gestellt, wie man in der Coronapandemie häufig beobachten konnte oder schmerzhaft selbst erleben musste. Misstrauische oder gar paranoide Vorstellungen können nicht nur Familien, sondern auch kleinere und größere soziale Gruppen erfassen. So kann sich eine gesellschaftliche Stimmung verbreiten, die durch Misstrauen, projektive Feindbilder und die Polarisierung über strittige und emotional aufgeladene Themen gekennzeichnet ist. Auch die öffentliche Diskussion über die Gefährlichkeit des Coronavirus, die Angemessenheit der einschränkenden Maßnahmen und einer möglichen Impfpflicht schienen von Anfang an durch misstrauisch getönte oder gar paranoid aufgeladene Stimmungen bestimmt. In der hysterischen Theaterfamilie findet sich in der Regel ein Mitglied, das an einer histrionischen Störung erkrankt ist. Diese hysterische – oder 154

Argwohn, Misstrauen, Verfolgungsängste: Verschwörungstheorien in der Coronakrise

wie es heute heißt: histrionische – Zentralfigur organisiert die restliche Familie nach ihren Bedürfnissen und bezieht sie als Mitakteure oder aber in der Zuschauerrolle in ihr Theaterspiel ein. Das Theaterhafte des Familienlebens ist das hervorstechende Merkmal der hysterischen Familie. Veranstaltet wird ein großartiges Wechselspiel zwischen Exhibitionismus und Voyeurismus, bei dem es unablässig und einzig und allein um Darstellung und Effekthascherei geht. Nachdenkliche und sachlichere Familienmitglieder werden als »Spielverderber« geächtet und so lange unter Druck gesetzt, bis sie sich wenigstens als applaudierende Zuschauer in das hysterische Familienensemble einfügen. The show must go on. Glanz und Elend des familiären Showensembles zeigt sich dann, wenn anlässlich einer äußeren Krise die abgewehrte Depression zum Vorschein kommt und die ganze hysterische Dauerinszenierung jäh in sich zusammenbricht. Auch dieses familiäre Abwehrmuster kommt sehr häufig vor, entspricht es doch gesellschaftlich gängigen Idealen, Umgangsformen und Lebensstilen, die uns in TV-Soaps täglich vorgeführt werden. In der Coronakrise gerät dieser familiäre Lebensstil unter besonderen Druck, da mit der Einschränkung der sozialen Kontakte der aufgedrehten Zentralfigur die Bühnen verloren gehen. Nicht mehr in Bars und Restaurants, ins Theater, auf Empfänge und zum Shopping gehen zu können, lässt das Gefühl entstehen, aller Möglichkeiten zur Selbstdarstellung und -bestätigung beraubt zu sein. Ohne Halli Galli, Party und Resonanz des »Ensembles« und applaudierenden Publikums fühlt sich das Leben grau, einsam und langweilig an. Wenn die hysterische Zentralfigur mit sich allein ist, weiß sie nichts mit ihrem Leben anzufangen. Ihr Bedürfnis nach theatralischen, affektierten und gleichzeitig egozentrischen Auftritten läuft ins Leere. Schmerzlich vermisst sie die stetige Zufuhr von Aufmerksamkeit, Anerkennung, Lob und Trubel. Die soziale Auszeit kann sie nicht genießen und nicht sinnvoll für sich nutzen. Die Möglichkeit, in der Pandemie mehr Zeit mit der Familie zu verbringen oder auch allein zu sich selbst zu finden, ist ihnen ein Graus. Dieser weit verbreitete exaltierte Lebensstil stellt eine Form der Depressionsabwehr dar, die in Zeiten des Lockdowns und der Kontaktbeschränkungen in eine als existenziell empfundene Krise gerät. Um die aufsteigenden depressiven Gefühle und Stimmungen zu unterdrücken, bringen viele der Betroffenen ihre Wut über die Einschränkungen vehement zum Ausdruck und finden im öffentlichen Widerspruch eine neue Bühne für ihre Selbstinszenierung. 155

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Intellektuelle Gewährsmänner des Misstrauens: Agamben und Foucault Am 26. Februar 2020, als die Zahl der Infizierten in Italien auf 470 stieg (Cristi, 2020), veröffentlichte der renommierte italienische Philosoph Giorgio Agamben (2020) eine Kolumne mit der Überschrift »Die Erfindung einer Epidemie«. Agamben prangerte »den hektischen, irrationalen und völlig grundlosen Notstand als Reaktion auf eine angebliche CoronaVirus-Epidemie« an. Er warf den Behörden vor, ein Klima des Terrors zu verbreiten und einen Ausnahmezustand zu provozieren. Nach Agamben führt die staatlich erfundene Pandemie zu einer »Militarisierung« der Zivilgesellschaft. Der Staat nutze die grippeähnliche Epidemie als »idealen Vorwand«, um den Ausnahmezustand zum Normalfall zu machen. Er erzeuge eine kollektive Panik, die die Menschen dazu zwingen solle, den Staat auf der Suche nach Schutz zu umarmen. Die größte Gefahr sei nicht das Virus selbst, sondern die Tatsache, dass Politiker*innen diese Situation ausnutzten, um verstärkte Sicherheitsmaßnahmen einzuführen und neue Machttechnologien zu erproben. Dies führe bald zur »Erfindung eines neuen Machtparadigmas«, dem Agamben den bedeutungsschwangeren Namen »pandemische Herrschaft« verleiht. Agambens Auslassungen fanden internationale Resonanz und lösten eine kontroverse Diskussion aus. Seine Thesen wurden zur Blaupause für Coronaleugner*innen, Verschwörungstheoretiker*innen und Gegner*innen der Coronamaßnahmen auch in Deutschland. Bei manchen Kritiker*innen – sowohl von rechts als auch von links – konnte man den Eindruck gewinnen, dass die Einschränkungen der Grundrechte, die mit den Schutzmaßnahmen zweifellos einhergehen, als willkommener Anlass aufgegriffen wurden, um einen schon lange aufgestauten Groll in einen heiligen Zorn zu verwandeln. Die moralische Empörung über die als Anmaßung empfundenen staatlichen Maßnahmen, die mit der Pflicht zum Maskentragen und Kontaktbeschränkungen bis in den privaten Bereich hineinwirkten, knüpfte an populistische Ressentiments an, die seit einigen Jahren die öffentlichen Debatten vergiften. Äußerungen wie die von Agamben wurden auch noch zwei Jahre nach Beginn der Pandemie von einigen Philosoph*innen – wenn auch in weniger radikaler Form – neu aufgewärmt. Solche Rechtfertigungen eines paranoid gefärbten Misstrauens werden von rechtspopulistischen Gruppierungen begrüßt, ja ihr als gerecht empfundener Zorn erhält dadurch einen intellektuellen Glo156

Argwohn, Misstrauen, Verfolgungsängste: Verschwörungstheorien in der Coronakrise

rienschein. Einen ähnlichen Prozess beschreibt der Historiker Uffa Jensen (2017, S.  123) im Hinblick auf die philosophische Rechtfertigung des Zorns als legitimes Mittel der Politik durch Peter Sloterdijk (2016), das von den Rechtspopulisten dankbar aufgegriffen worden sei. Insbesondere die linken Kritiker*innen der staatlichen Coronamaßnahmen berufen sich gern auf bestimmte Elemente in Michel Foucaults Machttheorie, die er in Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses (1977) ausgeführt hat. Foucault konzipiert Macht als ein alle gesellschaftlichen und psychischen Phänomene durchdringendes und umspannendes Netzwerk. Jeder noch so kleine Teilbereich ist von Machtprozessen durchdrungen. »Innerhalb der Gesellschaft existiert kein machtfreier Raum. Macht ist somit allgegenwärtig, ubiquitär, omnipräsent« (Kneer, 2016 [2012], S. 262). Gerade die Disziplinen, Institutionen und Dienste, die mit dem Anspruch auftreten, den Menschen zu helfen oder sie gar zu befreien und zu emanzipieren, also bspw. Pädagogik, Psychologie, Psychiatrie, Psychotherapie, Medizin, Sozialarbeit, Kriminologie und Justiz, stellten besonders perfide Technologien der Unterwerfung und Disziplinierung dar. »Diese düstere Vision einer total verwalteten Gesellschaft«, so der Historiker Philipp Sarasin (2020), entwickelte Foucault unter anderem am Beispiel der Pest. Aus Angst vor der Pest entwarfen die Behörden des 18. Jahrhunderts das Konzept einer rigorosen Disziplinierung, »die nicht zuletzt der Einübung einer strengen Arbeitsdisziplin und damit dem ›Produktivmachen‹ ihrer Körper diente« (ebd.). »Die frühneuzeitlichen Pest-Reglemente, die er [Foucault] zitiert, entwerfen ein System lückenloser Kontrolle aller Grenzen und Übergänge in der Stadt und fordern die strenge Einsperrung der Bürger in ihre Häuser: ›Der Raum erstarrt zu einem Netz von undurchlässigen Zellen. Jeder ist an seinen Platz gebunden. Wer sich rührt, riskiert sein Leben: Ansteckung oder Bestrafung‹« (ebd.).

In Überwachen und Strafen schreibt Foucault (1977, S. 279) pathetisch: »Wir sind nicht auf der Bühne und nicht auf den Rängen. Sondern eingeschlossen in das Räderwerk der panoptischen Maschine, das wir selber in Gang halten – jeder ein Rädchen.« Wie Sarasin (2020) weiter ausführt, kamen Foucault »in der Zwischenzeit Zweifel an seiner doch sehr dunkeln Machttheorie«, und er modifizierte sie mehrfach: »Es erschien ihm zunehmend unplausibel, moderne 157

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Gesellschaften nach dem Muster einer großen Disziplinarmaschine zu denken, wie er das in Überwachen und Strafen vorgeschlagen hatte – gerade so, als wären moderne Gesellschaften vollständig überwachte und kontrollierte Pest-Städte« (ebd.). Gleichwohl wird Foucault von verschwörungstheoretisch argumentierenden Theoretikern gerade wegen seines düsteren Raunens geschätzt. Sein Konzept von gleichsam unsichtbaren Machtprozessen, die sich unter dem Deckmantel der staatlichen Fürsorge ausbreiten und in alle gesellschaftlichen Verhältnisse eindringen, fügt sich sehr passend ein in die misstrauische bis paranoid gefärbte Skepsis gegenüber jeglicher staatlichen Autorität, wie sie für den autoritären Populismus kennzeichnend ist. Verschwörungstheoretisch argumentierende Theoretiker*innen, die sich auf Foucault berufen, zeichnen häufig ein eingängiges, aber monolithisches Bild der sozialen Wirklichkeit, eine kafkaeske Welt, aus der es kein Entrinnen gibt. Gut und Böse sind klar definiert. Die Mächtigen, die Reichen, die Privilegierten, die Eliten, die Wissenschaft und natürlich die Regierung sind die Ursache allen Übels. Auch das Menschenbild, das auf einer solchen Einschätzung beruht, ist entsprechend ausgerichtet. Man nimmt grundsätzlich an, dass die Menschen, insbesondere diejenigen, die erfolgreich sind oder über Macht, Einfluss und Geld verfügen, insgeheim Böses und Hinterhältiges im Schilde führen. Für diese Weltsicht Foucault zum Kronzeugen zu machen, wird seinem Denken zwar insgesamt nicht gerecht – die skizzierte Verwendung kann sich jedoch auf Foucault selbst berufen, der »sein Werk gelegentlich als einen ›Werkzeugkasten‹ [bezeichnet hat], von dem man mehr oder minder nach eigenem Gutdünken Gebrauch machen könne« (Raffnsøe et al., 2011, S. 12).

Empirisches zur Verschwörungsmentalität In den »Autoritarismus-Studien zum Rechtextremismus in Deutschland« haben Forschungsteams um Oliver Decker und Elmar Brähler (2018) gezeigt, dass ein Zusammenhang besteht zwischen dem in der frühen Kindheit entwickelten Misstrauen und den im Erwachsenenleben auftretenden Ressentiments, Verschwörungsfantasien, misstrauischen und populistischen Einstellungen. Sie kamen zu dem Ergebnis, dass rechtsextreme und populistische Einstellungen hauptsächlich durch die Merkmale Autoritarismus, Verschwörungsmentalität, das Gefühl mangelnder Anerken158

Argwohn, Misstrauen, Verfolgungsängste: Verschwörungstheorien in der Coronakrise

nung als Bürger*in, verweigerte Anerkennung als Kind durch die Eltern und einer misstrauischen Grundhaltung charakterisiert sind (Decker et al., 2018, S. 173). Allerdings halten sie ausdrücklich fest, dass Verschwörungsdenken auch im linken Spektrum beheimatet ist (Imhoff & Decker, 2013, S. 147). Populistische Einstellungen sind demnach mit einer misstrauischen Grundhaltung zur Welt assoziiert, die sich tendenziell bereits während der Kindheit abgezeichnet hat. Eine im Dezember 2020 publizierte Studie des Soziologen Oliver Nachtwey und seines Teams mit dem Titel Politische Soziologie der Corona-Proteste zeigt, dass es bei der Bewegung der Querdenker*innen und Coronakritiker*innen »nicht um eine, sondern um mehrere, häufig disparate soziale Gruppen« (ebd., S. 51), geht. Die Befragungen wurden im Herbst 2020 bei Demonstrationen und Kundgebungen in der Schweiz und in Deutschland durchgeführt. Besonders bemerkenswert ist, dass »es sich nicht um eine genuin autoritäre Bewegung [handelt], wie es etwa bei PEGIDA der Fall war« (ebd., S. 52). Auch von den rechtsextremistischen Gruppierungen und den Anhänger*innen der AfD scheinen sich die Querdenker*innen in verschiedenerlei Hinsicht zu unterscheiden, auch wenn es bei Demonstrationen zu Bündnissen kommt, die Differenzen für außenstehende Beobachter*innen oft nicht erkennbar sind und die AfD versucht, diese Bewegung für sich zu instrumentalisieren. Die Statements, mit denen eine antisemitische Einstellung gemessen wird, »werden in einem geringeren Masse abgelehnt als in der Leipziger Autoritarismus-Studie (vgl. Unterkapitel ›Antisemitismus und Nationalsozialismus‹). Es wird ihnen jedoch auch nicht stark zugestimmt« (ebd.). Die Autor*innen der Studie weisen aber ausdrücklich auf den Umstand hin, dass bei diesem Item auffällig viele der Befragten auf die Antwortkategorie »keine Angabe« ausgewichen sind (ebd.). Dies könnte darauf hindeuten, dass die Ressentiments latent vorhanden sind, auch wenn sie nicht offen geäußert werden. »Sozialstrukturell handelt es sich um eine relativ alte und relativ akademische Bewegung. Das Durchschnittsalter der Umfrageteilnehmer*innen beträgt 47 Jahre, 31 % haben Abitur, 34 % einen Studienabschluss« (ebd., S. 51). Bei ihren Parteipräferenzen tendieren die Befragten deutlich nach links. Besonders bemerkenswert ist jedoch, dass etwa ein Drittel der Befragten angaben, bei der nächsten Bundestagswahl der AfD ihre Stimme zu geben (ebd.). Offenbar sind sie – durch die Coronakrise ausgelöst – im Begriff, sich verschwörungsideologisch zu radikalisieren, eine Tendenz, die sich inzwischen verfestigt haben dürfte. 159

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Ich möchte folgende Hypothese formulieren: Die links-alternativen, esoterischen und spirituellen Coronaleugner*innen repräsentieren den abgespaltenen irrationalen Anteil der links-grün-alternativen Bewegung. Als die »Fundis« noch eine Fraktion innerhalb der Grünen bildeten, war dieses irrationale, teils esoterische, teils verschwörungsmythische Denken noch in der grünen Partei gebunden. Es wurde dort mehr oder weniger gut integriert, verursachte allerdings enorme Spannungen und kuriose Auseinandersetzungen (Decker, 2020). Seitdem sich die »Realos« durchgesetzt haben und die Grünen sogar für die CDU koalitionstauglich geworden sind, haben die esoterischen, verfolgungsmythischen und »fundamentalistischen« Alternativen keine politische Heimat mehr. Diese Spektren finden in den Anti-Corona-Protesten eine Möglichkeit, sich wieder zu sammeln und auf der politischen Bühne öffentliche Resonanz zu erzeugen. Kennzeichnend für die Personen, die an den Demonstrationen gegen die Coronamaßnahmen teilnehmen, ist »eine starke Entfremdung von den Institutionen des politischen Systems« (Nachtwey et al., 2020, S. 52) – von den Medien über die Regierung, die Europäische Union bis hin zu den Vertretern der Wissenschaft. All diesen Institutionen bringen sie großes Misstrauen entgegen. Umgekehrt sehen sich die Kritiker*innen »in ihrer Abweichung vom Mainstream verkannt und geächtet; gleichzeitig werten sie sich und ihre Expertise im Vergleich zum Mainstream auf« (ebd., S. 65). Um die Gefühlslage, die Stimmung und die Weltsicht der Querdenkenbewegung noch besser zu verstehen, möchte ich im Folgenden drei Fotos beschreiben,3 die bei verschiedenen Coronaprotesten gemacht wurden, und dazu auch aus den teilnehmenden Beobachtungen von Nachtwey berichten, um so einen Beitrag zu einer »dichten Beschreibung« (Clifford Geertz) der Querdenkenszene zu leisten. Das erste Foto zeigt eine Anti-Corona-Veranstaltung am 1. August 2020 in Berlin. Wir sehen musizierende, tanzende und singende Menschen, die sich offenbar in einer ausgelassenen, fast könnte man sagen ekstatischen Stimmung befinden. Die Szene löst Assoziationen an ein Volksfest, an ein alternatives Hippie-Festival oder auch an den mittelalterlichen Karneval aus. Wie der sowjetische Literaturwissenschaftler Michail Bachtin in seiner Studie über die mittelalterliche Lachkultur herausgearbeitet hat, hatte der mittelalterliche Karneval eine doppelte Funktion. Zum einen sollten 3

In meinem eingangs erwähnten Buch Gefühle machen Politik (Wirth, 2022) finden sich die Fotos auf den Seiten 121, 124, 126.

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die bösen Geister der Natur, insbesondere der Winter, vertrieben werden. Zum anderen aber ging es darum, der Lach- und Lustfeindlichkeit des Christentums und der weltlichen Herrschaft eine zeitlich befristete Freiheit abzutrotzen: »Der mittelalterliche Mensch empfand im Lachen besonders scharf den Sieg über die Furcht […] vor allem Geheiligten und Verbotenen […], vor der Macht Gottes und vor der Macht der Menschen, vor den autoritären Geboten und Verboten, vor Tod und Vergeltung im Jenseits, vor der Hölle« (Bachtin, 1985, S. 35).

Mit ihrer Form der »modernen Geisterbeschwörung« können die Querdenker*innen zwar nicht das Virus selbst vertreiben, wohl aber ihre untergründige Angst vor der Pandemie besänftigen, vor allem aber ihre Angst umlenken und  – psychoanalytisch formuliert  – »verschieben« auf die Angst vor den bösen und unheimlichen Mächten in Politik, Medien und Wissenschaft, von denen sie sich bevormundet, manipuliert und unterdrückt fühlen. Mit ihrem Protestzug inszenieren sie einen »Tanz auf dem Vulkan«, ein groteskes Gelächter, das die Herrschenden verunsichern und der Lächerlichkeit preisgeben soll. Die psychologische Gefühlslage der Coronaproteste kann durch die Losung charakterisiert werden: »Wir lassen uns unser Lebensgefühl und unseren Lebensstil nicht von den Herrschenden vorschreiben«. Oder um es mit einem Slogan aus dem subkulturellen Teil der 68er-Bewegung zu sagen: »Wir sind die, vor denen uns unsere Eltern immer gewarnt haben.« Eine solche Einstellung kann mit Erik Erikson (1966 [1959], S. 29) als »Identifikation mit der negativen Identität« bezeichnet werden. Sie ist bei allen Gruppierungen zu beobachten, die sich von der dominierenden gesellschaftlichen oder kulturellen Moral entfernen und sich dafür von der Mehrheit ausgegrenzt und verachtet fühlen. In einer Art von Notwehr identifizieren sie sich mit der »negativen Identität«, die die Mehrheit ihnen zuschreibt. Es ist ein trotziges Verharren in der Gegenidentifikation zum sozial Erwünschten. Diese Form der psychosozialen Abwehr trägt ihnen jedoch das Problem ein, dass sie in der ihnen teils aufgenötigten, teils freiwillig angenommenen Identität gefangen bleiben und deren Begrenzungen nicht überwinden können. Das zweite Foto zeigt einen Demonstranten, der sich mit einer mittelalterlichen Schnabelmaske, einer sogenannten »Pestmaske«, verkleidet hat. 161

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Am Revers trägt er einen »Judenstern« auf dem steht: »jesund«. Es ist eine groteske Kombination unterschiedlichster Versatzstücke, die bei mir verschiedenste Assoziationen und unangenehme Gefühle auslösen. Die Gesamterscheinung vermittelt ein Gefühl der Unheimlichkeit. Die Pest als Geisel der Menschheit wird verknüpft mit den Gasmasken aus dem Ersten Weltkrieg und dem Holocaust. Das Wort »Jude« wird in banalisierender Weise verfremdet zum Wort »jesund«, was das Wort »Jesu« enthält und im Berliner Dialekt das Wort »gesund«. Es ist ein Spiel mit absurden Assoziationen, ein Kalauern, ein Blödeln, also ein psychischer Vorgang, den der Schriftsteller Dieter Wellershoff (1976) als »gewollten Niveauverlust« gekennzeichnet hat. Wellershoff fasst das Blödeln als ein »Kommunikations-Spiel« auf, das auf eine »fortschreitende Chaotisierung der Realität drängt und sich dabei jeder Kontrolle durch verinnerlichte Normen der Vernunft oder des Geschmackes zu entziehen versucht« (ebd., S. 338). Angesichts der behandelten Themen bleibt einem das Lachen, das solche regressiven »Blödeleien« normalerweise auslösen, jedoch im Halse stecken. Was will der Protagonist der Welt sagen, was will er ausdrücken? Ich fühle mich abgestoßen und schockiert. Ich vermute, dies ist das Ziel der Maskerade. Beobachter*innen sollen schockiert werden. Das Motto könnte lauten: »Nicht ich fürchte mich vor dem lächerlichen Virus, sondern ihr sollt euch vor mir, vor meiner Erscheinung und vor dem Bösen fürchten, mit dem ich euch konfrontiere.« Das Böse, das Unheimliche, das Existenzvernichtende an sich tritt unter dieser Maske auf die Bühne. Der psychosoziale Abwehrmechanismus ist die Verkehrung der passiv erlittenen Angst in die aktiv hervorgerufene Angst des anderen. Wollte man einen kreativen Anteil in diesem Mummenschanz sehen, könnte man sagen, dass hier jemand spielerisch die Rolle des Bösen, der existenziellen Bedrohung einnimmt, um den gesellschaftlich Mächtigen einen Spiegel vorzuhalten nach dem Motto: »Solche existenziellen Ängste jagt Ihr uns ständig ein mit eurer technisch-wissenschaftlichen Beherrschung der Welt, euren Kriegsspielen und eurer Zerstörung unserer Freiheitsrechte. Diesen lächerlichen Grippevirus nehmt ihr doch nur zum Vorwand, um uns eurer ›pandemischen Herrschaft‹  – von der Georgio Agamben spricht  – zu unterwerfen.« Das dritte Foto zeigt eine Frau mittleren Alters, die sich in deutschen Nationalfarben als Engel mit riesigen weißen Flügeln verkleidet hat. Auf den Flügeln sind Zettel befestigt, auf denen steht links: »Kinderschutzengel« 162

Argwohn, Misstrauen, Verfolgungsängste: Verschwörungstheorien in der Coronakrise

und rechts »Schützt die Kinder«. Man kann vermuten, dass sie sich als dieser Schutzengel für die Kinder versteht. Auf dem Kopf hat sie eine Art Krone mit der Aufschrift »Lügenpresse«. Außerdem hält sie zwei Schilder in die Luft, auf denen es vor allem um das Thema Pädophilie geht. Präsentiert wird eine obskure Mischung aus moralisch verwerflichen Handlungen, die tatsächlich stattgefunden haben, Halbwahrheiten und frei erfundenen Unwahrheiten. Das Ganze bildet ein kaum zu entwirrendes Gesamtkunstwerk. Die Protagonistin scheint die Aufmerksamkeit, die ihr der*die Fotograf*in schenkt, zu genießen. Unklar bleibt, was die angesprochenen Themen mit der Corona-Thematik zu tun haben.4 Die Coronakrise, und speziell eine solche Kundgebung, »scheint eine gute Möglichkeit zu sein, einmal zu sagen, dass man eigentlich gegen alles ist – gegen die Reichen und Mächtigen, gegen die Wissenschaft, die Schulmedizin, die Justiz und Polizei« (Nachtwey et al., 2020, S. 60) aber auch gegen »die Antifa« und gegen Pädophilie. Wie Nachtwey feststellt, schweift die Kritik »deshalb auch oft ab, schnell ist man bei 9/11 und zieht Parallelen zum Nationalsozialismus. Wichtiger als die Darstellung der Kritik ist die Selbstdarstellung als Kritiker:in. Hier findet sich das genuin romantische Motiv der mutigen, heldenhaft-standfesten Widerstandskämpfer:innen, die bereit sind, Opfer zu bringen« (ebd.).

Die Selbstinszenierung als Opfer ist ein zentraler psychosozialer Abwehrmechanismus, der eine komplexe Funktion hat. Er bietet die Chance, sich selbst in einem »ehrenvollen Akt der Selbstaufopferung« (ebd., S. 57) zu inszenieren und sich in diesem Zuge von der profanen Restgesellschaft der angepassten »Schlafschafe« als etwas Besonderes abzuheben. Zugleich ist es ein Vorwurf an die Gegenseite, die einen zum Opfer gemacht hat. Die Spaltung in nur gute und nur böse Objekte wird unterstützt. Noch komfortabler wird die Rolle des Opfers, wenn man sich zur Rolle des Schutzengels für jedwede Opfer von Gewalt, Unterdrückung und Ungerechtigkeit emporschwingen kann, wie es die Querdenkerin im Engelskostüm offenbar versucht. Während die Politik versucht, Schutzregeln durchzusetzen, sieht sie sich als Schutzengel, der über solch profanen Dingen wie Mund-Nasen-Schutz schwebt. So wie viele überzeugte Anhänger*innen religiöser Sekten die Coronaschutzregeln der Regierungen missachten, 4

Vgl. dazu den Beitrag von Rebekka Blum i. d. Bd.

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sind die Querdenker*innen fanatische Anhänger eines ad hoc neu erfundenen synkretistischen Aberglaubens, der darin besteht, die Gefahr des Coronavirus zu leugnen und stattdessen die Idee von einer Weltverschwörung zu konstruieren.

Psychodynamik der Impfskepsis »Querdenker*innen« und Verschwörungsgläubige haben eine misstrauische bis paranoide Weltsicht. Sie stellen zwar nur eine sehr kleine Minderheit dar, beeinflussen den öffentlichen Diskurs aber in erheblichem Maße, indem sie ein Klima des Misstrauens und eine grundsätzlich staatsfeindliche Stimmung befördern. Misstrauisch-paranoide Stimmungen sind enorm ansteckend (Heiland, 2020) und können sich massenpsychologisch schnell ausbreiten.5 Das bedeutet nicht zwangsläufig, dass die oft abstrusen Auffassungen der Querdenker*innen in vollem Umfang geteilt werden. Wohl aber finden einzelne, von Misstrauen und Ressentiment geprägte Elemente von Verschwörungsvorstellungen auch in weiteren Kreisen Zustimmung. Dies betrifft insbesondere die ablehnende und misstrauische Einstellung in Bezug auf das Impfen. Mit Blick auf die Impfskepsis manifestieren sich kollektiv geteilte Gefühle des Misstrauens und einer Skepsis gegenüber Wissenschaft und Rationalität. Die Impfskepsis tritt auch bei einigen Spitzensportler*innen auf, die ansonsten auf medizinischen Rat hören. Warum lassen sich manche Spitzensportler*innen nicht impfen? Sie verkörpern den Traum der Unverletzlichkeit, letztlich der Unsterblichkeit. Das wird sogar so formuliert, etwa wenn man davon spricht, dass ein*e Sportler*in sich durch einen herausragenden Sieg »unsterblich gemacht« habe. Manche pflegen entsprechend die irrationale Grandiositätsfantasie, ihre körperliche Fitness schütze sie vor Krankheit, Infektionen und Hinfälligkeit. Erlaubte oder ggf. auch nichterlaubte Mittel zur Leistungssteigerung einzunehmen, untermauert bei vielen Spitzensportler*innen die Illusion von Unverletzlichkeit und Stärke, da dies die weitere Steigerung ihrer Leistungsfähigkeit unterstützt. Impfbedürftig zu sein, setzt hingegen voraus, sich als vulnerabel zu betrachten. Die Erwähnung der »vulnerablen Gruppen«, der Alten, Kranken und Pflegebedürftigen, mag auf Spitzensportler*innen abschreckend wirken. Ihr grandioses 5

Vgl. dazu den Beitrag von Julian Kauk und Kolleg*innen i. d. Bd.

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Argwohn, Misstrauen, Verfolgungsängste: Verschwörungstheorien in der Coronakrise

Selbstbild mag ihnen sagen, dass sie mit diesen Gruppen absolut nichts gemein und deshalb auch keine Impfung nötig haben. Der Philosoph Wolfram Eilenberger sieht in der fantasierten Unantastbarkeit die Ursache der Impfskepsis mancher Sportler*innen: »Der Sportler verkörpert den Traum der Unantastbarkeit, den wir alle hegen. Und ebendiese Illusion zerstört er als Geimpfter und ebenfalls als Impfbedürftiger. Im Sportler konzentriert sich die Sehnsucht nach dem gesunden – auch unantastbaren – gegen alle Fährnisse und Angriffe immunisierten Leib. […] Ein impfender Sportler gesteht ein, nicht bereits ›immun‹ zu sein« (Eilenberger, 2021, zit. n. Kalwa & Meltzer, 2021, S. 30).

Das Motto könnte lauten: »Mein Körper ist mir heilig und damit ist er unantastbar.« Bei manchen männlichen Adoleszenten wird körperliche Berührung als ehrverletzend empfunden. »Fass mich ja nicht an!«, heißt es da. Hingegen erlaubt es ihr Ehrenkodex durchaus, Frauen, das »schwache Geschlecht«, zu »begrabschen«, d. h. in übergriffiger Weise körperlich zu berühren. Allgemein werden körperliche Berührungen, denen man nicht ausdrücklich zugestimmt hat, in aller Regel als Übergriff, als Verletzung der Intimsphäre, als Missachtung der eigenen Autonomie, als Angriff auf die körperliche Integrität, als Herrschaftsgeste und als Angriff auf die Autonomie des Köper-Selbst erlebt und verstanden. Insofern ist es nicht verwunderlich, dass auch Emanzipationsbewegungen wie die #MeTooBewegung und die schon ältere Bewegung für die Legalisierung von Abtreibungen (»Mein Bauch gehört mir!«) sensibel auf Eingriffe in die körperliche Unversehrtheit und die Entscheidungsgewalt über ihren eigenen Körper reagieren. Das Bewusstsein für das Recht auf körperliche Autonomie, Selbstbestimmung und Unversehrtheit ist also auch Kennzeichen emanzipatorischer Bewegungen. Mit der dringlich gemachten Impfempfehlung wird der als problembelastet oder gar als traumatisch empfundene thematische Komplex von Berührung, Autonomie, grandiosem Selbstbild und Unterwerfungsangst getriggert. Einige Menschen reagieren darauf affektgesteuert, gleichsam allergisch. Folgende Zusammenhänge spielen hier eine Rolle: 1. Ängste, die durch die objektiv gegebene existenzielle Bedrohung durch Klimawandel und Pandemie ausgelöst werden, werden durch ein kollektiv geteiltes Paranoid abgewehrt. Man verschiebt die angst165

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2.

3.

auslösende Gefahr auf ein anderes Objekt, mit dessen Bösartigkeit man vertraut zu sein scheint, weil man es schon so lange bekämpft. Die Aufforderung, sich einer Maßnahme zu unterziehen, die gleichzeitig 85 % der Bevölkerung durchlaufen soll, wird als Unterwerfung erlebt und stellt eine narzisstische Kränkung des grandiosen Selbstbildes von Autonomie, Individualität und Singularität dar. Folgt man dem Soziologen Andreas Reckwitz (2019), besteht die psychokulturelle Aufgabe des heutigen Subjekts darin, Singularität, d. h. Einzigartigkeit zu entwickeln. Wenn ich mich darin fügen soll, gleichzeitig etwas zu tun, was Millionen andere Menschen tun, dann ist das aber eher ein Beweis meiner Gewöhnlichkeit. Es erscheint viel attraktiver, meine Singularität damit unter Beweis zu stellen, dass ich mich als Impfskeptiker*in und »Freiheitskämpfer*in« inszeniere. Ressentiments und Verschwörungstheorien existieren nicht nur im rechten, sondern auch im linken Spektrum bzw. sogar milieuübergreifend in der gesamten Gesellschaft. Gerade im linken Spektrum gibt es jedoch eine habituell verfestigte Einstellung, man müsse dem Staat, der Politik, der Regierung stets mit größtem Misstrauen begegnen.

Magisches Denken und die Fähigkeit zur Besorgnis Die COVID-19-Pandemie hat die ganze Welt erfasst und bedroht jede und jeden Einzelne*n. Der objektive Grad der gesundheitlichen Gefahr ist unterschiedlich und auch das subjektive Empfinden der Bedrohung unterscheidet sich stark. Aber niemand kann der Konfrontation mit der Existenz des Virus ausweichen, auch wenn man in ganz unterschiedlicher Weise damit umgeht. Eine automatisch ablaufende psychische Reaktion auf eine solche Gefahr ist die Emotion der Angst. Menschen unterscheiden sich allerdings darin, wie stark sie sich durch äußere Bedrohungen ängstigen lassen und über welche psychischen und sozialen Kompetenzen sie verfügen, mit Angst umzugehen. Wie klinische Beobachtungen zeigen, stößt die Bedrohung durch Corona Ängste, Fantasien und Traumata an, die ganz andere Ursachen haben. Die real begründete Angst vor einer Ansteckung wird dann zusätzlich affektiv aufgeladen und nimmt irrationale Züge an. Um diese überwältigende Angst zu bändigen, können Abwehrmechanismen eingesetzt werden, wie bspw. die Verschiebung der Angst auf andere 166

Argwohn, Misstrauen, Verfolgungsängste: Verschwörungstheorien in der Coronakrise

Objekte. Man hat dann weniger oder keine Angst vor Corona, aber umso mehr vor den staatlich verordneten Maßnahmen oder der Impfung. Es existiert jedoch noch ein anderes sozialpsychologisch wirkmächtiges, aber häufig unterschätztes Phänomen: Solche Krisen bringen unsere Idiosynkrasien überdeutlich zum Vorschein. Wir alle verfügen über Idiosynkrasien, über Eigentümlichkeiten, über Merkwürdigkeiten in unserem Verhalten, über Überempfindlichkeiten in unseren Wahrnehmungen und Empfindungen, die für unsere Persönlichkeit und auch für die sozialen Gruppen, denen wir uns zugehörig fühlen, charakteristisch sind. Diese Eigentümlichkeiten dienen der psychischen Stabilisierung, geben besänftigende Antworten auf verunsichernde Fragen. Sie haben die Aufgabe, unser subjektives Gefühl der Sicherheit und Autonomie zu schützen. Abergläubische Auffassungen, besondere Ernährungsgewohnheiten, esoterische Überzeugungen, ritualisierte Gewohnheiten und der Glaube an übernatürliche Kräfte, die man magisch bannen kann, vermitteln uns das Gefühl, dass uns die alltäglichen Widrigkeiten des Lebens nichts anhaben können. Dieses magische Denken fällt im Alltag kaum auf, weil es jede*r für sich praktiziert und weil man sich im Allgemeinen nicht dafür rechtfertigen muss. Es besteht eine gesellschaftliche Toleranz gegenüber solchen abergläubischen Praktiken auch dann, wenn sie wissenschaftlichen Auffassungen widersprechen. So sie überhaupt offen geäußert oder praktiziert werden, fallen sie in den intimen Bereich der freien Persönlichkeitsentfaltung. In Zeiten der Pandemie wächst der subjektive Bedarf an solchen Angst und Verunsicherung reduzierenden Praktiken und Überzeugungen für viele Menschen enorm, während gleichzeitig die gesundheitspolitische Notwendigkeit besteht, sich an wissenschaftlich fundiertem Wissen zu orientieren. Automatisch greifen viele Menschen auf ihre esoterischen und abergläubischen Weltanschauungen zurück, geraten damit aber in das Kreuzfeuer gesundheitspolitischer Debatten und Maßnahmen. Plötzlich wird sichtbar, wie viel magisches, abergläubisches, esoterisches, ideologisches und irrationales Denken in der Gesellschaft verbreitet ist, sonst aber weitgehend im  – teilweise uns selbst  –Verborgenen bleibt. Gleichzeitig hat sich bei der ganz überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung die wissenschaftlich untermauerte Überzeugung durchgesetzt, mit welchem individuellen Verhalten man dem Virus am besten begegnet: erstens durch Reduktion der Kontakte und zweitens durch das Impfen. Die Mehrheit der Bevölkerung hat diese Sichtweise akzeptiert und praktiziert sie auch. 167

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Hans-Jürgen Wirth

Biografische Notiz

Hans-Jürgen Wirth, Prof. Dr., Dipl.-Psych., ist Psychologischer Psychotherapeut, Psychoanalytiker sowie psychoanalytischer Paar- und Familientherapeut in eigener Praxis. Er ist Professor für Soziologie und Psychoanalytische Sozialpsychologie an der Universität Frankfurt am Main, Gründer des Psychosozial-Verlags sowie Mitherausgeber der Zeitschriften psychosozial und Psychoanalytische Familientherapie. Ausgewählte Buchveröffentlichungen: Narzissmus und Macht (5. Aufl. 2015); Grenzerfahrungen. Migration, Flucht, Vertreibung und die deutschen Verhältnisse (Hrsg. mit R. Haubl 2019). Gefühle machen Politik. Populismus, Ressentiments und die Chancen der Verletzlichkeit (2022).

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Verschwörung, Wahnarbeit und schizophrene Wirklichkeit Gruppenanalytische Behandlung während der Coronapandemie Frank-Andreas Horzetzky

Umberto Eco (2021, S. 20) wies darauf hin, dass schon Richard Hofstadter in seinem Klassiker zum Verschwörungsdenken The Paranoid Style in American Politics (1965) gesagt habe, »die Lust am Komplott sei nur zu erklären, wenn man die Kategorien der Psychiatrie auf das gesellschaftliche Denken anwende.« Ausgehend von Erfahrungen mit Patienten1 in analytischen Gruppen während der Pandemie möchte ich untersuchen, wie aus berechtigten Sorgen wahnhaftes Verschwörungsdenken entstehen kann und wie diese Wandlungen in längerfristige gesellschaftliche Prozesse eingebettet sind, die diese individuellen Entwicklungen begünstigen.

Fallvignetten aus Gruppenstunden Gruppe 1: Wiederholt werden die Coronaeinschränkungen während des Lockdowns im Winter 2020/21 diskutiert. Eine Teilnehmerin findet es unglaublich, was man ihren Kindern antue, denen damit Angst gemacht werde, wenn sie keine Maske trügen, würden sie vielleicht ihre Großeltern anstecken und für deren Tod verantwortlich sein. Es wäre gesundheitsschädlich, wenn Kinder den ganzen Tag nicht frei atmen könnten. Eine zweite Teilnehmerin, die in einer Schule arbeitet, pflichtet ihr bei. Die Maßnahmen würden die Kinder ängstigen. Sie finde das fürchterlich, die langfristigen seelischen Schäden für die Kinder seien nicht absehbar. An dieser Stelle mache ich die Bemerkung, dass es bei aller Sorge um die Kinder auch um die Ängste der 1

In diesem Beitrag wird das generische Maskulinum verwendet.

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Erwachsenen gehe, die vielleicht auf die Kinder übertragen würden. Darauf wird zunächst nicht direkt eingegangen. Aber etwas später sagt ein anderer Teilnehmer, dass er das nicht so kritisch sehe und finde, dass die Kinder noch am leichtesten damit zurechtkämen. Nun kommt es zu einer affektiven Eskalation. Die zweite Teilnehmerin protestiert wütend und greift den Teilnehmer laut schreiend an. Sie finde es unmöglich, wie sie hier bevormundet werde, dass sie sich mit ihrer Meinung nicht respektiert fühle und sie schon länger die Nase voll habe, wie man ihr das Recht auf eine eigene Meinung abspreche, dass sie nicht mehr gewillt sei, sich das länger bieten zu lassen. Sie wolle »verdammt noch mal« nur mit ihrer Meinung ernst genommen werden. Die erste Teilnehmerin schließt sich an und bedankt sich für diesen Ausbruch, den sie sich selbst nicht getraut habe, ihr gehe es genauso. Was sei in dieser Gesellschaft los, in der man nicht mehr seine eigene Meinung haben dürfe, ohne als Leugner abgestempelt zu werden. Sie könne einfach nicht nachvollziehen, in was für eine Angsthysterie die Gesellschaft verfallen sei, wodurch sie sich eingeschüchtert fühle und nicht mehr traue zu sagen, was sie eigentlich denke. Sie ertrage das nicht mehr und habe Angst, wohin die Gesellschaft sich in Zukunft entwickle! Es entwickelt sich nun ein Streit zwischen zwei Untergruppen, wobei die eine darauf beharrt, eine eigene, vom Mainstream abweichende Meinung vertreten zu dürfen und dafür Respekt verlangt, und die andere die Coronamaßnahmen als angemessen verteidigt. Der Streit beruhigt sich erst, als ich die Wut der beiden Teilnehmerinnen auf mich und meine Äußerung beziehe, durch die sie sich in ihren Ängsten und Sorgen um die Kinder nicht ernst genommen gefühlt hätten. Nun beginnen sie sich mit mir auseinanderzusetzen. Gruppe 2: Auch in dieser Gruppe wird im Winter 2020/21 die Coronasituation und der Lockdown in den Sitzungen aufgegriffen. Hier sind zwei männliche Teilnehmer die Protagonisten der Auseinandersetzung, wohingegen die anderen Mitglieder während den zunehmend laut geführten Auseinandersetzungen immer mehr verstummen. Der eine Teilnehmer vertitt die Auffassung, dass es sich bei der Coronaerkrankung um eine normale Grippe handele, die aus manipulativen Gründen zu einer schlimmen Erkrankung aufgebauscht werde, um die Bevölkerung willfährig zu machen. Sie solle eingeschüchtert und zur Impfung gezwungen werden. Wer wissen wolle, was mit der Impfung wirklich bezweckt werde, der solle sich bei Bill Gates und Elon Musk informieren, die Nanotechnik sei inzwischen so weit. Er werde sich auf keinen Fall impfen lassen. Der andere Teilnehmer wirft ihm vor, ein Verschwörungstheoretiker zu sein und an Realitätsverlust zu leiden, wenn er 172

Verschwörung, Wahnarbeit und schizophrene Wirklichkeit

glaube, dass alle Regierungen der Welt einem geheimen Plan folgen würden. Es entspinnt sich ein lauter Streit. Der erste Teilnehmer verwahrt sich gegen die Bezeichnung Verschwörungstheoretiker, man solle ihm richtig zuhören, er informiere sich im Internet nur bei seriösen Quellen, der andere wäre zu bequem, seinen eigenen Kopf zu benutzen, und lasse sich von den Systemmedien vernebeln. Ich muss Beruhigung einfordern und sage, dass es in der Gruppe nicht darum gehe, sich gegenseitig von politischen Positionen zu überzeugen, sondern dem anderen zuzuhören und zu verstehen, wie er zu seiner Haltung kommt. Er fragt, was es zu bedeuten hat, dass die anderen verstummen, wie sie zu der Auseinandersetzung stehen. Sie äußern nun, dass sie ein politisches Engagement ablehnen würden, weil sie es nicht richtig einordnen könnten. Sie würden den Maßnahmen auch skeptisch gegenüberstehen, seien aber vorsichtig, würden sie akzeptieren und versuchen, so weit wie möglich ihr Leben weiterzuführen. Die Hälfte der Mitglieder will sich vorerst nicht impfen lassen.

Gemeinsamkeiten und Abgrenzungen zum Wahn Mich beschäftigt die Frage, ob das Verständnis von Wahnphänomenen bei der Erklärung dieser Denkmuster weiterhelfen kann. Im Handbuch der Differentialdiagnosen DSM-IV wird zum Wahn ausgeführt: »Eine falsche Überzeugung aufgrund unrichtiger Schlussfolgerungen über die äußere Realität. Diese wird fest beibehalten trotz abweichender Ansichten fast aller anderen Personen und trotz aller unwiderlegbaren und klaren Beweise des Gegenteils. Die Überzeugung wird nicht von den Angehörigen desselben Kulturkreises oder derselben kulturellen Gruppe geteilt (ist also z. B. kein religiöser Glaubensinhalt). Wahnhafte Gewissheit tritt in einem Kontinuum auf und kann manchmal aus dem Verhalten der Person abgeleitet werden« (Herv. d. A.).

Alles Charakteristika, die zeigen, wie nahe die Phänomene, paranoides, verschwörungstheoretisches Denken und psychotische Wahnbildungen, auf der deskriptiven Ebene beieinander liegen. Ein Punkt macht den Unterschied: Der psychotisch Wahnkranke ist mit seinem Wahn allein, niemand teilt ihn mit ihm, auch nicht die Angehörigen derselben kulturellen Gruppe. Jeder Wahn ist eine individuelle Schöpfung. Das unterscheidet ihn vom verschwörungstheoretischen Denken und vom religiösen Glau173

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ben. Der Mensch mit verschwörungstheoretischem Denken teilt seine Ideen mit einer Anzahl Gleichgesinnter. Die Anhänger einer solchen Theorie entwickeln sie nicht selbst, sondern übernehmen sie in all ihren Ausgestaltungen und fügen nur selten etwas hinzu. In dieser Hinsicht gleicht verschwörungstheoretisches Denken eher dem religiösen Glauben, bei dem auch ein in sich geschlossenes System übernommen wird. Wir können Übereinstimmungen zwischen dem Erscheinungsbild des psychotischen Wahns und dem von Verschwörungstheorien feststellen: Fakten und Ereignisse werden auf spezifische Weise in Beziehung gesetzt. Es wird ein scheinbar logischer Zusammenhang konstruiert, der aktuellen, bedrohlich erlebten, aber zum gegebenen Zeitpunkt noch nicht verständlichen Geschehnissen einen scheinbaren Sinn verleiht. Dabei werden logische Widersprüche wie bei einer Religion ignoriert. Das Besondere der Sinngebung liegt darin, dass hinter den nicht verständlichen Ereignissen das Wirken einer übergeordneten – hier allerdings im Unterschied zu Religion – negativen, bösen, strafenden Macht ähnlich einer Gottes- oder Teufelsvorstellung vermutet wird. Auch das ist nahe an psychotischen Erlebnissen im Verfolgungswahn. Die Verbindung zu dieser Macht bleibt im Dunkel und kann definitionsgemäß nicht belegt werden. Dieser Zusammenhang wird, ähnlich zum Wahn, intuitiv erlebt und dann behauptet, ohne dass Zweifel diese Behauptung noch verunsichern könnten. Er wird mit unbeirrbarer Überzeugung geglaubt. Drei Beispiele von Patienten aus den Gruppen sollen helfen, persönliche Hintergründe für die Entwicklung von verschwörungstheoretischem Denken zu beleuchten.

Fallvignetten von Gruppenpatienten2 (1) Ein 63-jähriger Mann mit ostdeutschem Hintergrund, Handwerker, leidet an Ängsten und Depressionen, kränkbar mit schwacher affektiver Selbstregulation und Neigung zu aggressiven Impulsdurchbrüchen. Er ist seit Jahren arbeitslos, erhält Sozialhilfe und lebt isoliert. Der Kontakt zur Familie ist abgebrochen. Er schaut auf eine lange Geschichte beruflicher Misserfolge mit Arbeitsstellenwechseln nach der Wende zurück. Er war in der DDR gegen das System eingestellt und mit staatlichen Organen in Konflikt geraten. In dieser Zeit hatte er diskriminierende Erfahrungen durchgemacht 2

Alle Fälle wurden unkenntlich gemacht.

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Verschwörung, Wahnarbeit und schizophrene Wirklichkeit

und sich von der Wende eine Verbesserung seiner Lebenssituation erwartet, die aber ausblieb. Er reagierte gekränkt und verbittert über die empfundene Ungerechtigkeit, was eine Ablehnung der gesellschaftlichen Verhältnisse mit sich brachte. Da er sich nicht rehabilitiert fühlte und den Eindruck hatte, auch nie eine Chance gehabt und mit seiner Geschichte kein Gehör erfahren zu haben, war er der Überzeugung, dass auch die westdeutschen Vertreter der staatlichen Institutionen »heuchlerisch sind und in die eigene Tasche wirtschafteten, wie die Bonzen im Osten«. Er projiziert seine negativen Erfahrungen auf die gegenwärtigen staatlichen Autoritäten und Institutionen, die er des Versagens beschuldigt. In der Coronakrise spitzt sich diese Situation zu. Er fühlt sich manipuliert und ausgegrenzt, von den Institutionen falsch informiert, hintergangen und bedroht. Er leugnet die Bedrohung durch die »Grippe« und lässt sich mit einem ärztlichen Attest vom Masketragen befreien. Masken bezeichnet er als Maulkorb. Er reagiert während des Lockdowns im Frühjahr 2020 sehr wütend: Die DDR sei ein freier Staat gewesen gegen die »Merkel-Diktatur«. Er wolle gar nicht wissen, wer wirklich dahinterstecke, Frau Merkel sei auch nur eine Marionette! (2) Ein 55-jähriger Ingenieur aus Westberlin, seit acht Jahren arbeitsunfähig wegen chronischer Rückenschmerzen, Erschöpfung und sozialen Ängsten, hatte zuvor lange im Ausland gearbeitet. Nun lebt er zurückgezogen und im Zerwürfnis mit seiner Familie, von der er sich in einer Erbschaftsangelegenheit hintergangen fühlt. Wegen des kleinen Erbes sei ihm vom Staat die Sozialhilfe eine Weile verweigert worden, was er als kränkend erlebte. Ein Rentenbegehren war abgelehnt worden. Das hat seine Wut auf die staatlichen Institutionen und seine sozialen Ängste verstärkt, besonders während der Coronakrise. Auch für ihn ist die Covid-19-Infektion eine normale Grippe; auch er hat eine Maskenbefreiung. Er informiert sich im Internet und findet viele Informationen, die seine ablehnende Haltung zum Klimawandel und zum Umgang mit dem Coronavirus bestätigen. Er vermutet, dass die Regierung einen vormundschaftlichen Staat errichten will, in dem sie die Gedanken der Bevölkerung kontrolliert. Aus diesem Grund lehnt er die Coronaimpfung ab, denn mit ihr wolle der Staat den Bürgern einen Chip einpflanzen, um sie so manipulieren zu können. (3) Eine 43-jährige Patientin mit ostdeutschem Hintergrund aus einer Akademikerfamilie, in der sie für ihren eigenen Weg keine Anerkennung erhalten hatte und vom Vater abgewertet und zurückgesetzt wurde, lebt 175

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alleinerziehend mit zwei schulpflichtigen Töchtern, war erst Physiotherapeutin, später selbstständig als Heilpraktikerin. Sie ist wechselnd depressiv seit der Trennung vom Partner vor drei Jahren und konnte seitdem nicht mehr arbeiten. In den Monaten der Coronapandemie verschlechtert sich ihre Depression. Sie ist verzweifelt, weint viel, ertrage das nicht länger, »diese Bevormundung«. »Was machen die mit uns, warum machen die das? Die Maßnahmen sind doch völlig unverhältnismäßig, wegen einer Grippe, die Sterblichkeit wird total übertrieben! Und was sie den Kindern antun, die so lange zu Hause bleiben müssen!« Sie könne das alles nicht mehr hören, diese Panikmache, die Menschen würden total eingeschüchtert, da stimme doch etwas nicht. »Was haben die Politiker vor?« Sie wisse nicht, was sie noch glauben solle, sie könne keine Nachrichten mehr schauen, das sei doch völlige Verblödung, warum so viele Menschen das nicht sehen würden. Sie könne noch selbst denken. Das sei schlimme Propaganda und die Einschüchterung der Menschen erinnere sie an die DDR. Gaetano Benedetti (1983, S. 106) unterscheidet Wahn, der Ausdruck einer Abwehr ist, von Wahn, der Anzeichen fehlender Abwehr zu erkennen gibt. Während letzterer schwere Verläufe von Schizophrenie beschreibt, ist ersterer für unsere Fälle interessant. Bei bedrohter Ichstabilität nimmt der Wahn den Platz der labilisierten oder ausgefallenen Abwehr ein. Der Wahn ist Abwehr auf einer regressiveren Stufe. Das bedrohliche Geschehen der Außenwelt verstrickt sich mit dem Ich und die Objekte dringen mit ihren Impulsen ins Ich ein. Dies macht wiederum Angst und bleibt unverständlich. Der Wahn gibt dann Stabilität durch seine scheinbar sinnvolle Erklärung der von außen eindringenden Eindrücke. Die Hauptbedrohung besteht in einer fragilen Selbststruktur, die in Kombination mit einer geschwächten Ichregulation und einer damit einhergehenden labilen InnenAußen-Abgrenzungsfähigkeit von einer erhöhten inneren Durchlässigkeit gegenüber bedrohlichen objektbezogenen Einflüssen geprägt ist, wodurch das Selbst immer wieder von sehr ängstigender Fragmentierung bedroht ist. Das heißt, bei der Bedrohung spielt die innere Struktur und die Erfahrung der Angst vor Fragmentierung durch die Überforderung der affektiven Regulation eine zentrale Rolle. Konkrete äußere Bedrohungen können bei der Entwicklung des Wahns eine wichtige Rolle spielen, insofern sie als Auslöser eines akuten Geschehens fungieren. Bei Menschen, die zu verschwörungstheoretischem Denken neigen, spielen solche intrapsychischen Konstellationen eine untergeordnete ätio176

Verschwörung, Wahnarbeit und schizophrene Wirklichkeit

logische Rolle. Bei ihnen funktioniert das Ich und damit die »physiologische Projektion« (ebd., S. 107) noch, die es dem Betroffenen im Unterschied zum psychotisch Kranken ermöglicht, Distanz zu den bedrohlichen Ereignissen im Außen herzustellen. Beim Psychotiker bricht mit der Ichfunktion, die Innen-Außen-Grenze aufrechtzuerhalten, diese Fähigkeit zur Projektion zusammen. Die Einflüsse aus dem Außen fallen ins Innen und werden als Teil des Selbst erlebt. Dagegen besitzen Menschen mit verschwörungstheoretischem Denken, auch wenn es wahnhaft anmuten mag, noch stabile ichstrukturelle Verhältnisse, die Realitätskontrolle ist erhalten. Sie reagieren auf eine von außen kommende Bedrohung, die sie auf ihre eigentümliche Weise verarbeiten. Dabei wirkt die Ähnlichkeit zum Wahn verblüffend stark. Es gibt eine Ähnlichkeit zu Psychotikern mit entaktualisiertem Wahn, bei denen die Realitätskontrolle in allen Bereichen, die nicht den Wahn betreffen, erhalten bleibt. Eine weitere Ähnlichkeit zwischen beiden besteht in dem, was bei Wahnkranken als Wahnarbeit bezeichnet wird. Wahnhafte Ideen werden darin zu einem komplexen Wahngebäude zusammengefügt. Ausgehend von einem unbewussten Beziehungserleben, sich von den vermeintlichen oder echten bedrohlichen Geschehnissen unbewusst gemeint zu fühlen, wird den Ereignissen eine spezielle Bedeutung beigemessen, durch die diese erklärt werden sollen. Auch bei Menschen mit Verschwörungsdenken werden wie durch Wahnarbeit bestimmte Fakten und Tatsachen zusammengefügt, (um-)gedeutet und so zu einem scheinbar logischen Gebäude zusammengefügt, dass die bedrohlichen, unverständlichen Ereignisse scheinbar verständlich macht. Es ist dann eben unerträglich, dass wir zunächst nicht genau wissen, ob und wie das Coronavirus von den Fledermäusen auf den Menschen übersprang und plötzlich auf dem Markt von Wuhan auftauchen konnte und ob an diesem Ereignis vielleicht doch das Biotechnische Labor in Wuhan beteiligt war oder ob es vielleicht noch ganz anders war. So wird eine Erzählung konstruiert, die hinter den unerklärlichen Ereignissen eine manipulative Absicht der im Verborgenen operierenden, negativen Macht vermutet. Es wird eine Verbindung zu bestimmten Fakten hergestellt, wie etwa, dass China die WHO großzügig mit Geld unterstützt und eine gute Beziehung zu deren aktuellen Chef besitzt und dass Bill Gates, der schon länger medizinische Forschungs- und Impfprogramme in der ganzen Welt fördert, ebenfalls eng mit der WHO zusammenarbeitet. Es werden tatsächliche Fakten und Verbindungen mit vermuteten Absichten verknüpft und in einen narrativen Rahmen gesetzt. 177

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Wie bei Wahnkranken dient diese Form der »nichtpsychotischen Wahnarbeit« dazu, die innere Angst vor Entgrenzung zu ertragen. Sie soll dadurch gebannt werden, dass das entstehende scheinbare Verständnis der Situation die eigene Angst für rational erklärt und erträglich macht. Dies vermittelt ein Gefühl von Kontrolle.3 Ich möchte auf den bedeutsamen Fakt der narrativen Rahmung von tatsächlichen Ereignissen durch eine Verschwörungsvorstellung zurückkommen, insofern es einen Zusammenhang zu der nichtpsychotischen Wahnarbeit gibt. Nicola Gess (2021) weist in einem Essay auf die Bedeutung von Halbwahrheiten als narrative Verknüpfung von Faktischem und Fiktionalem zur Erzeugung von Plausibilität und Glaubwürdigkeit durch die scheinbare Kohärenz einer Erzählung hin. »Halbwahrheiten sind Äußerungen, die nur zu einem Teil auf tatsächlichen Ereignissen, zu einem anderen aber auf fiktiven Inhalten basieren; Äußerungen, die reale Sachverhalte übertreiben, umdeuten oder in falsche Zusammenhänge stellen; oder Äußerungen, die wesentliche Inhalte weglassen. […] Halbwahrheiten setzen, während sie sich an Tatsachen zu orientieren scheinen, diese Spekulationen frei. Während der Lügner ex negativo an die Wahrheit gebunden bleibt, öffnen Halbwahrheiten die Tür zu einem derzeit oft als ›postfaktisch‹ bezeichneten Universum, in dem die narrative Kohärenz oder die Konsensfähigkeit einer Aussage über deren Erfolg entscheidet, nicht aber die ›Unterscheidung von Wahrheit und Unwahrheit‹, die für den ›menschlichen Orientierungssinn im Bereich des Wirklichen‹ grundlegend ist« (ebd., S. 8).4

Auch der Wahn hat einen Bezug zur Realität, aus der er etwas aufgreift, das seine Aufmerksamkeit durch ein individuelles Beziehungserleben erregt. Die Produktion von Halbwahrheiten scheint mir eine Form der nichtpsychotischen Wahnarbeit zu sein. »Narrativ verfasste Halbwahrheiten haben eine größere Überzeugungskraft«, wie Gess (ebd., S. 37) schreibt, weil »Narrative diejenige Struktur [zu sein scheinen], in der wir Menschen Kausalitäten, Zeitfolgen und damit Sinn konstruieren« (Müller, 3 4

Vgl. dazu insgesamt auch den Beitrag von Florian Hessel i. d. Bd. Gess bezieht sich auf einen Text von Philipp Sarasin von 2016: https://geschichte dergegenwart.ch/fakten-was-wir-in-der-postmoderne-ueber-sie-wissen-koennen (06.04.2022).

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Verschwörung, Wahnarbeit und schizophrene Wirklichkeit

2019, S. 4). Die Frage, die sich bei der Entwicklung von Verschwörungstheorien stellt, ist, was veranlasst die Betroffenen, bestimmte reale Fakten in eine fiktionale Erzählung einzubauen? Die Erzeugung von Kohärenz und Glaubwürdigkeit scheint eine wichtige Motivation für diese Form der »Wahnarbeit« zu sein. Indem einige wenige überprüfbare Fakten in die Theorie eingebaut werden, wird Glaubwürdigkeit für den fiktiven Anteil der Gesamterzählung erzeugt, die die politisch tendenziöse Stoßrichtung begründet, nämlich die aktuell demokratisch regierende Macht zu diskreditieren. Wir müssen wohl davon ausgehen, dass es sich nicht um geplante Konstruktionen handelt, sondern eben um nichtpsychotische Wahnarbeit, die wie die psychotische Wahnarbeit dazu dient, innere Kohärenz und narzisstische Stabilität zu gewährleisten.

Wer ist anfällig für Verschwörungstheorien? Wie ist die psychische Disposition dieser Menschen, die diese spezifische Reaktion der nichtpsychotischen Wahnarbeit begründet? Wenn wir die ersten beiden zuvor beschriebenen Fälle anschauen, so handelt es sich um narzisstisch labile Männer, die privat wie beruflich Schiffbruch erlitten haben und in ihren Bemühungen um soziale Integration und Anerkennung gescheitert sind. Ihnen ist es nicht gelungen, sich etwas Eigenes aufzubauen und wirtschaftliche Unabhängigkeit zu erlangen. Stattdessen fanden sie sich in der Abhängigkeit von staatlichen Versorgungsleistungen wieder, die sie zwar als ihnen zustehend, aber demütigend erleben. In Fall 1 kamen noch politisch begründete Verwerfungen durch die deutsche Teilung hinzu, die zusätzlich ein Gefühl der ungerechten Benachteiligung verursachten. Fall 3 scheint mir anders zu sein. Diese Patientin hat zwar das Vertrauen in die Glaubwürdigkeit der Politiker und die Darstellung der Pandemie in den Medien verloren, hängt aber noch keiner Verschwörungstheorie im engeren Sinne an. Ihre Verzweiflung zeigt, dass der Grad der emotionalen Labilisierung steigt und sie sich auf einer Vorstufe befindet. Auf die drei Fälle trifft zu, dass Menschen dann zu Verschwörungstheorien neigen, wenn sie sich von kulturellem, sozialem oder ökonomischem Abstieg bedroht fühlen, oder wie im Fall der beiden Männer dieser bereits erfolgt ist. Die Betonung liegt auf bedroht fühlen: »[N]icht der reale sozioökonomische Status [ist] entscheidend, sondern wie die eigene Situa179

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tion wahrgenommen wird« (Butter, 2018, S. 122). Diese Feststellung ist wichtig, denn sie kann erklären, warum sich auch Menschen aus der Mittelschicht betroffen fühlen können: »diejenigen, die eine solche Marginalisierung fürchten und abwehren wollen« (ebd.). Es geht um Gefühle von Ungerechtigkeit, Kontrollverlust und Machtlosigkeit, also Affekte, wie sie in Zeiten der Globalisierung und des vielfachen gesellschaftlichen Umbruchs vermehrt empfunden werden. Diese erfahrene oder befürchtete Zurücksetzung wird als kränkend erlebt und produziert Ressentiments, die in Antihaltungen gegen vermeintlich verantwortliche Strukturen und Institutionen ihren Ausdruck findet. Dabei handelt es sich zuerst einmal um einen sozialen Befund, der sich immer mit der individuellen Situation verbindet. Es handelt sich bei den von mir geschilderten Fällen um Menschen, die aus schwierigen familiären Verhältnissen kommen. Im Bemühen um Anerkennung und Eigenständigkeit rebellierten sie nicht nur gegen ihre Eltern, sondern auch gegen gesellschaftliche Erwartungen und staatliche Institutionen. Dies führte zu Zurücksetzungen und verletzenden Misserfolgen im privaten und beruflichen Bereich, was letztlich eine soziale Isolation mit Gefühlen gesellschaftlicher Ungerechtigkeit und Verbitterung mit sich brachte, die sich nun auf die staatlichen Institutionen und deren Vertreter richtet. Eine leicht paranoide Reaktion kann bei jedem Menschen aus einer schwierigen, ängstigenden Situation heraus auf der Basis eines Gefühls der Benachteiligung entstehen, gerade auch als Reaktion auf echtes oder empfundenes eigenes Versagen, das abgewehrt werden muss. Es gibt also Voraussetzungen in der Persönlichkeit, die in einer besonderen Empfindlichkeit und narzisstischen Kränkbarkeit liegen, in einer misstrauischen, entwicklungspsychologisch gesprochen in einer schizoid-paranoiden Grundhaltung. Es sind Menschen, die der Autorität, ob einem Chef in Persona oder einer staatlichen Institution, misstrauisch gegenüberstehen und sich durch diese(n) auch übertragungsbedingt nicht anerkannt, vertreten oder gar geschützt fühlen können. Sie haben in ihren frühen Abhängigkeitsbeziehungen negative Erfahrungen gemacht und regredieren in bedrohlichen sozialen Situationen auf frühe Entwicklungsstufen. Gleichzeitig bleibt bei ihnen eine große Sehnsucht nach einer idealisierbaren Autorität bestehen, was sie zugleich besonders verführbar macht für populistisch und charismatisch agierende Anführer.5 5

Vgl. dazu auch die Beiträge von Felix Brauner und Hans-Jürgen Wirth i. d. Bd.

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Allgemeiner handelt es sich um gesellschaftliche Ausgeschlossenheitsund Deklassierungsgefühle, die sich mit starken Abhängigkeit- und Ohnmachtsgefühlen gegenüber der eigenen Lebensgestaltung kombinieren. Die gesamte Situation löst bei den Betroffenen große Angst aus, die durch die pandemiebedingte Bedrohung mit den Schutzmaßnahmen zur Eindämmung des Infektionsgeschehenes noch verstärkt wurde. Diese Angst muss innerlich reguliert, das heißt abgewehrt werden. Von daher ist es verständlich, dass sie in der Pandemie die Bedrohung weniger durch die Erkrankung als durch die staatlichen Gegenmaßnahmen erleben. Die Bedrohung kommt für sie von Akteuren, hier den Vertretern der politischen Institutionen, die sie in ihrem bisherigen Leben bereits als nicht unterstützend und feindselig wahrgenommen haben. Dies, in Kombination mit dem Übertragungserleben, erklärt, warum sie dies unbewusst als persönlich gegen sich gerichtet erleben. Menschen mit verschwörungstheoretischer Denkweise glauben, die Dinge zu durchschauen, weil sie besser als andere informiert seien. Dies ist emotional unterlegt von erlebten Benachteiligungserfahrungen, wie z. B. auch in der DDR (Fall 1 & 3), aus denen ein Berechtigungsgefühl resultiert, sich nun besser zu schützen. Eben weil sie die Bedrohung durchschauen würden, glauben sie, sich besser vor Manipulation schützen zu können. Sie fühlen sich nicht von der bedrohenden Macht überwältigt und vereinnahmt, wie es der Schizophrene empfindet, der akut alle Abgrenzungen verloren hat. Der Verschwörungstheoretiker fühlt sich gerade abgegrenzt und aufgrund seines Wissens nicht verführbar. Für ihn sind die anderen die Verrückten, die die Realität nicht zur Kenntnis nehmen wollen, worüber er sich nicht genug wundern kann. Er sieht sich dieser Macht gegenüber und glaubt sie durch sein Wissen kontrollieren zu können. Wie sich diese Menschen fühlen, beschreibt Benedetti (1983, S. 226) in Bezug auf den Wahn: »Der Beeinflussungswahn entspricht einem Erleben von Fremdbestimmung, die den realen Verlust einer autonomen Ichstruktur wiedergibt. Der Wahn ist die sekundäre Rationalisierung der unmittelbaren Erfahrung, jede Freiheit verloren zu haben. Wer sich innerlich determiniert erlebt, macht sich auf die Suche nach dem, der ihn von außen her lenkt. Die Entdeckung dieses phantastischen Verfolgers vermag das Gefühl der Freiheitsberaubung etwas zu dämpfen. In gewisser Weise fühlt sich der Patient dem Verfolger gegenübergestellt. Er weiß etwa, in welcher Situation er mit ihm zu rechnen hat und wie er sich mit ihm arrangieren kann.«

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Was er dabei nicht reflektieren kann, ist seine eigene Verwicklung in die Fallstricke der neuen Medien, deren Mechanismen Romy Jaster und David Lanius (2019, S. 79) beschreiben: »Informations- und Konformitätskaskaden entfalten sich besonders gut in Echokammern. […] Schließlich lässt sich kognitive Dissonanz am besten dadurch vermeiden, dass man sich ausschließlich mit Menschen umgibt, die die eigene Weltsicht möglichst weitgehend teilen. Durch die Kaskaden in Echokammern entsteht Gruppenpolarisation. Sind die Gruppen erst ausreichend polarisiert, übertrumpft Gruppenzugehörigkeit Wahrheit.«

Die Verbundenheit mit einer Gruppe zu spüren und zu demonstrieren, ist dann die weitaus stärkere Motivation, als sich genau an die Wahrheit zu halten.6

Gesellschaftstheoretischer Erklärungsversuch des nichtpsychotischen Wahns In Die Entdeckung des gesellschaftlichen Unbewussten spricht Erich Fromm von der »Bindung an Idole als Ausdruck des gesellschaftlichen Unbewussten«: »Aus der Hilflosigkeit des Menschen resultiert ein äußerst wichtiges Phänomen: Der durchschnittliche Mensch trägt unabhängig von seiner frühen Beziehung zu Mutter und Vater ein tiefes Verlangen in sich, an eine allmächtige, allweise und allumsorgende Figur zu glauben. Es geht hierbei jedoch um mehr als nur um ›Glauben‹ in dieser Beziehung; es gibt auch eine intensive gefühlsmäßige Beziehung zu diesem ›magischen Helfer‹« (Fromm, 1990, S. 64).

Die klassischen Idole und magischen Helfer waren Propheten und Götter. In der säkularisierten Welt wurden die neuen Idole der Staat, das Volk, die Nation, die gesellschaftliche Klasse, das Kapital, populistische Anführer. Fromm schreibt weiter: 6

Vgl. dazu auch die Beiträge von Carolin Engels & Sebastian Salzmann sowie Julian Kauk und Kolleg*innen i. d. Bd.

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Verschwörung, Wahnarbeit und schizophrene Wirklichkeit

»Generell gilt, dass die Gründe für eine solche Bindung entweder in den äußeren Lebensbedingungen zu suchen sind, oder in der psychischen Struktur der hiervon Betroffenen, wobei die psychische Struktur meist nur eine Funktion der äußeren Lebensbedingungen ist. Unter den äußeren Umständen sind die wichtigsten: Armut, Elend, ökonomische Unsicherheit und Hoffnungslosigkeit. Bei den subjektiven psychologischen Gründen sind zu nennen: Angst, Zweifel, vorklinische Depression, Ohnmachtsgefühle und viele neurotische und halbneurotische Phänomene« (ebd., S. 67, Herv. d. A.).

Fromm weist darauf hin, dass dieses Bedürfnis bei vielen Menschen lange latent bleiben kann und nur indirekten Ausdruck in der Lebensgestaltung findet, aber »wird das Gleichgewicht der relativen Zufriedenheit  […] durch plötzliche traumatischer Ereignisse gestört, wird das latente Bedürfnis manifest.« Explizit zählt er auch »stark Ungewissheitszustände« dazu (ebd., S. 68), wie die aktuelle Coronapandemie eine darstellt. Ich glaube nun, dass es bei Menschen, die verschwörungstheoretischen Ideen anhängen, zu einer schweren Enttäuschung an den klassischen Idolen wie Gott, Staat, Nation, gesellschaftliche Klasse und politischen Führern gekommen ist. Der magische Helfer wandelt sich durch diese Enttäuschung in ein negatives Idol, eine böse, bedrohliche Figur. Hinter der scheinbar helfenden Oberfläche der staatlichen Strukturen und ihrer politischen Vertreter wird nun eine böse Kraft vermutet. Die Maßnahmen der Regierung können von ihnen nicht mehr als Hilfe in der Pandemie wahrgenommen werden. Die Distanzierung von den demokratischen Institutionen ist die Folge. Natürlich behalten auch Menschen, die von ihren bisherigen Idolen enttäuscht sind, unbewusst das Bedürfnis nach einem magischen Helfer. Das Idol wird nun an anderer Stelle gesucht. Wie können wir das pandemiebedingt vermehrte Auftreten dieser Art des Denkens verstehen, wenn wir es als ein gesellschaftliches Phänomen und nicht als individuelle Psychopathologie einordnen? Der Diskurs über politische Themen scheint mir durch zwei Merkmale gekennzeichnet: Er wird polarisierend geführt und der Diskursraum ist fragmentiert – die Vertreter der verschiedenen Positionen sind nicht mehr im Dialog. Sei es der Klimawandel, die Einwanderung, die Energiepolitik, die Genderpolitik oder die Coronapandemie und das Impfen, es gibt jeweils Befürworter und strikte Gegner oder sogar Leugner. Beide Seiten sind meinungsstark und präsent, aber kaum mehr in einem Austausch. Die jeweilige Mittelposition ist schwach besetzt oder durch eine schweigende Mehrheit vertreten und 183

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erscheint als Kompromiss nicht mehr akzeptabel. Es entsteht der Eindruck, als müsse man sich für eine Seite entscheiden. Es gibt keine guten Mittelzustände mehr, die von beiden Seiten anerkannt und im Konflikt weiterhelfen würden. Sie stehen sich feindlich gegenüber und bezichtigen sich der Verdrehung der Tatsachen, ja der Lüge. Wer hat Recht? Das allgegenwärtige Auftauchen von »alternativen Fakten« schafft einen Zustand von Verwirrung. Immer wieder stehen sich ausschließende Interpretationen gegenüber: Fake News, »alternative Wahrheiten«, widersprüchliche, die demokratischen Institutionen verleumdende Rhetorik, die grenzverletzende, andere verächtlich machende Sprache rechter Parteien usw. Wenn dann auch politisch Verantwortliche solche sich ausschließenden »Wahrheiten« verkünden, entsteht eine psychotisch anmutende Wirklichkeit. Sie erscheint polarisiert und gespalten in unvereinbare Wahrnehmungen und Interpretationen, also schizophren und psychotisch. Das erzeugt Angst. In diesem Sinne kann eine Verschwörungsvorstellung als Versuch verstanden werden, die Angst vor innerer Fragmentierung zu bewältigen und wieder eine für das Selbst unabdingbare Kohärenz herzustellen. Die gemeinsame Grundlage von gesicherten Fakten und einem wissenschaftlichen Forschungsstand, der als wahr angenommen wird, ist durch das Internet zunehmend in Zweifel gezogen, weil es ebenso viele alternative Fakten gibt, die dem wissenschaftlich belegten Forschungsstand widersprechen. Kleine Gruppen mit entsprechend unterfütterten Meinungen und Interpretationen der Geschehnisse, die es ähnlich früher auch gab, erreichen über das Internet eine enorme Reichweite und entfalten so breitere Wirkung, verstärkt durch das Echokammerphänomen. Wenn jemand im Internet thematisch in eine Richtung sucht, erhält er durch Suchmaschinen immer mehr Hinweise auf gleichgerichtete Artikel. Falsche und offensichtlich unsinnige Informationen verschwinden nicht aus dem Internet und können weiterhin selektiv konsumiert werden. Wissenschaftlich belegte und nur behauptete Befunde existieren dort gleichwertig nebeneinander. Diese scheinbare Gleichwertigkeit führt zu einer Entwertung von Information, die sich quasi in ihr Gegenteil verkehren und durch ihr quantitatives Übermaß und ihre wertmäßige Beliebigkeit zur Desinformation wandeln. Sie stiften Verwirrung statt Sicherheit.7 Was bei diesen sehr aufgeregt, polarisierenden Diskussionen als Eindruck übrig bleibt, sind 0 und 1, sich ausschließende Positionen. Diese 7

Vgl. dazu auch die Beiträge von Martin Jay und Alexey Levinson i. d. Bd.

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äußere Spaltung der Wirklichkeit bildet sich in einer inneren Spaltung im Selbst ab. Der Zerfall der Wirklichkeit und der Wahrheit im krisenhaften gesellschaftlichen Geschehen, oder dessen, was wir für wahr halten, als eines Bezugsortes des Selbst, erscheint also in der wahnhaften Verschwörungstheorie als eine fundamentale Ausdrucksweise der gesellschaftlichen Spaltung, also ihrer Schizophrenie. Das Selbst ist nicht nur inneres Gegenüber, sondern auch Resultat und Spiegel der äußeren Wirklichkeit, also auch der Verwirrungen und Unvereinbarkeiten. Das Selbst steht in permanentem Austausch mit ihnen und bezieht sich auf diese. Wenn es keine gemeinsame Bezugsgrundlage mehr gibt, eine Rahmensetzung, einen gemeinsamen Nomos, eine gemeinsame Wahrheit, auf die wir uns alle weitgehend einigen können, wenn alle Grenzen dieses gemeinsamen Rahmens, in dem wir uns bewegen, zerfließen, dann entsteht grundlegende Angst als Basis für eine allgemeine gesellschaftliche Wahnstimmung. Alles scheint möglich, alles kann wahr sein, weil nichts mehr wahr zu sein scheint. Niklas Luhmann (2014 [1968], S. 66–68) schreibt in seinem Buch Vertrauen dazu: »Wahrheit ist das tragende Medium intersubjektiver Komplexitätsreduktion. Vertrauen ist überhaupt nur möglich, wo Wahrheit möglich ist. […] Hierbei muß jeder einzelne den Wahrheitsbezug der Orientierung des anderen voraussetzen können. Die gesellschaftlich verfügbare Komplexität ist überwältigend groß. […] Er muß, mit anderen Worten, sich auf fremde Informationsverarbeitung stützen und verlassen können. […] Dies Vertrauen kann in einer hochkomplexen Umwelt nicht mehr persönlich sein […]. Es ist typisch ein Vertrauen […] letztlich in die Funktionsfähigkeit der Wissenschaft als Handlungssystem. […] Und danach ist Autorität nicht Sache begnadeten Wissens, das nur wenigen zugänglich ist, sondern eine Sache einer gelernten, arbeitsteilig ausgeübten, spezifischen Kompetenz.«

Die Voraussetzung von funktionierender Kommunikation im Austausch über kontrovers diskutierte Problemstellungen in unser Gesellschaft ist heute infrage gestellt und wird von vielen Menschen nicht mehr vorausgesetzt. Es handelt sich um einen gesellschaftlichen Vertrauensverlust, der im Verschwörungsdenken seinen Ausdruck findet. Diese notwendige gemeinsame Fakten- und Wissensbasis einer Gesellschaft, auf die Menschen für eine kontroverse Diskussion im Dissens zurückgreifen können, ohne deren Wahrheitsgehalt selbst erst kontrollieren zu müssen, scheint für viele Men185

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schen zerstört und nicht mehr glaubhaft zu existieren. So hält Luhmann fest: »System ist dieses Wissen […] im Sinne einer Ordnung kommunikativen Verhaltens, die eine gewisse Sorgfalt und Beachtung bestimmter Regeln bei der Auswahl und Verwendung von Prämissen einer Mitteilung sicherstellt« (ebd., S. 69). Das Vertrauen in dieses Wissenssystem wird durch die allgegenwärtigen Halbwahrheiten untergraben und damit der gute Wille zu glauben, Fakten und Erkenntnisse erstmal vertrauensvoll als wahr anzunehmen. Die Menschen unterstellen dem Anderen und so auch den Autoritäten zunächst einmal nicht mehr deren gute Absicht und Verlässlichkeit in puncto Wahrheit. Sie sehen nach den Benachteiligungen und empfundenen Zurücksetzungen keinen Grund mehr, beim Gegenüber überhaupt noch von guten Absichten auszugehen. Sie gehen primär von der Unredlichkeit der Autoritäten aus. Auf diese Weise kann eine allgemeine Übereinstimmung eines common sense nicht mehr hergestellt werden. Das führt immer mehr zu gesellschaftlichen Spaltungen. Um einen gruppenanalytischen Terminus von S. H. Foulkes (1977) zu verwenden, die Großgruppenmatrix wird immer mehr von paranoiden Vorstellungen geprägt. Menschen mit der Neigung zum Denken in Verschwörungen suchen sich nun ihre eigene Community. Dabei braucht es ein gewisses dissoziatives Denken, um weiter zu glauben, sich auf ihre eignen Informationsquellen hundertprozentig verlassen zu können. Diese Informationsquellen sind Außenseiter mit Insiderwissen. Diesen können sie vertrauen, weil diese wie sie selbst zu den von der Macht Ausgegrenzten zählen. Die Tatsache, dass jemand außerhalb der Gemeinschaft steht, gibt ihnen Vertrauenswürdigkeit. Diese Menschen sehen sich selbst, ebenso wie ihre Quellen, als Opfer der Machthabenden in Wissenschaft und Politik. Es geht nur zum Teil darum, wer wirklich Recht hat. Tatsächlich ist es wohl so, dass eine gemeinsame Haltung und gemeinsames verlässliches Wissen von einer aktuell gültigen Wahrheit über den Zustand der Welt, das Zusammenleben der Menschen stabilisiert, selbst wenn sie auf wissenschaftlich nicht zu begründenden Annahme beruht. Die Weltreligionen sind die besten Beispiele dafür. Wenn nicht mal mehr naturwissenschaftliche Forschungsergebnisse zu einer gemeinsamen Datenlage und Interpretation führen, um wie viel weniger tun es politische Entscheidungen. Es handelt sich also auch um ein Kommunikationsproblem. »Wenn der Versuch scheitert, die Kommunikation mit den Mitmenschen zu erzwingen, entsteht der Wahn« (Hans Steck, 1951, zit. n. Benedetti, 1983, S. 31). Die Kommunikation zwischen in ihren politischen Haltungen polarisierten 186

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und fragmentierten Gruppen, scheint immer häufiger zu scheitern. Gerade weil mehr als jemals kommuniziert wird, könnte es sein, dass wir ein solches Kommunikationsdisaster mit dem wahnhaften Entgleisen Einzelner erleben. Mir scheint das im Zusammenhang mit folgenden Entwicklungen zu stehen: der progressiven Globalisierung, der neoliberalen wirtschaftspolitischen Entwicklung der letzten 30 Jahre, die mit ihrer antiregulativen Staatsvorstellung zu einer zunehmenden sozialen Ungerechtigkeit geführt hat und zu den beschriebenen negativen Effekten der neuen digitalen Medien. Diese Entwicklungen haben zu einer zunehmenden Spaltung der Gesellschaft geführt: in immer Reichere und Ärmere, in moralisch und unmoralisch Handelnde, in Gläubige und Ungläubige, in Geimpfte und Ungeimpfte, in Demokraten und Antidemokraten, in Identitäre und Nichtidentitäre. Auch wenn es in der Gruppenpsychotherapie zuerst um persönliche Themen und Konflikte der Teilnehmer geht, finden die genannten Differenzen und entsprechenden Themen um soziale Gerechtigkeit immer wieder Eingang in die Gruppendiskussion. Die Patienten reflektieren einen als belastend wahrgenommenen Einfluss der konflikthaften gesellschaftlichen Situation auf ihr Leben. Nicht die individuellen Menschen sind gespalten, sondern die Gesellschaft ist es wieder zunehmend. Dieses Gefühl wird unterstützt durch Fake News, in Geschichten und Anekdoten verpackte Halbwahrheiten, in schlichte Lügen, die über das Internet und die neuen Medien immer mehr Verbreitung und leider auch Anhänger finden. Luhmann (2014 [1968]) spricht von der »Kontingenz aller menschlichen Interaktion«, etwas was möglich, aber nicht notwendig ist, was bedeutet, dass Wahrheit auch immer eine gewisse Willkür innewohnen kann: »Ausdifferenzierte Kommunikationsmedien können daher nicht allein auf der schlichten Hoffnung beruhen, ›daß es schon gut gehen wird‹, sondern setzen eine Verarbeitung der Selektivität des Erlebens und Handelns voraus« (ebd., S. 73). Die neuen Medien haben dieses Gefühl der Kontingenz und der Willkürlichkeit von Wahrheit verstärkt. Wahrheit ist dadurch heute vielleicht mehr als jemals zuvor nicht nur einfach das, was ist, sondern sie ist auch immer schon infrage gestellt. Der Mensch mit Verschwörungsdenken versucht sich in dieser irritierend unübersichtlichen Situation zu orientieren. Er tut dies, indem er sich auf eine Seite schlägt. Er stellt im Extrem die eine Seite der gesellschaftlichen Spaltung, also des Konfliktes dar. So erlangt er angstreduzierende, scheinbare Eindeutigkeit. Dabei stellt er sich gegen die von der jeweils 187

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machthabenden Seite vertretene Position, den Staat und seine Institutionen mit ihren Protagonisten. Er stellt sich paradoxerweise genau gegen die, die ihm Sicherheit geben könnten, weil er ihnen nicht glaubt. Sie sind es, die er dafür verantwortlich macht, zu Recht oder zu Unrecht, dass er in seiner sozialen Position Kränkung und Abwertung erfahren hat. Er befürchtet, von ihnen wiederum in seinen Interessen nicht wahrgenommen und vertreten zu werden, und lehnt es ab, sich von ihnen abhängig zu fühlen. Es erscheint ihm geradezu verrückt, ihnen wieder zu vertrauen, er erwartet von ihnen keine gerechte Behandlung mehr. Die Entwicklung einer Verschwörungsvorstellung ist in diesem Kontext eine Autonomiebewegung, ein Akt der Selbstbehauptung und der Selbstachtung. Dabei fühlt er sich von ihnen abgespalten. Er empfindet mit ihnen keine Gemeinsamkeit mehr und glaubt nicht mehr an die Möglichkeit einer Verständigung, die ihn noch rehabilitieren könnte. Er fühlt sich verloren und isoliert. Oft ist mir in den vergangenen Jahren der Pandemie, und zwar um so mehr, je länger die restriktiven staatlichen Maßnahmen andauerten, bei Gesprächen eine Haltung begegnet, in der sich ein emotionaler Protest artikulierte: »Das geht zu weit, ich will das nicht mehr, zu viel Bevormundung und Einschränkung, ich glaube das nicht, das kann man nicht von mir erwarten, das schränkt mich zu sehr ein, das mache ich nicht mehr mit.« Oder sogar: »Das ist mein Risiko, ich will das selbst entscheiden, dann werde ich eben krank, dann sterbe ich eben.« Das geht so weit, dass Menschen, die sich schon x-mal in ihrem Leben haben impfen lassen, plötzlich der Impfung misstrauisch gegenüberstehen und diese ablehnen: »Ein so schnell erzeugter Impfstoff und nun sollen wir uns alle impfen lassen, das ist nicht vertrauenswürdig, das mache ich nicht mit.« Das zeugt von großer Verunsicherung. Worum es geht, ist die Wiedererlangung der verloren erlebten Selbstbestimmung, die Behauptung der Autonomie in einer maximal abhängig erlebten Position. Benedetti (1981, S. 32) schreibt über die Wahnkranken: »Man könnte ebenso gut sagen, dass der Kranke nicht mehr ›selbst‹ sein kann, weil er von seinen Mitmenschen in einer radikalen Weise abgespalten ist und […] dass er seine Mitmenschen nicht mehr wirklich erreichen kann, weil er in sich gespalten ist.« Während im psychotischen Geschehen die Abspaltung von der äußeren Welt ein Abbild der inneren Spaltung des Betroffenen ist, führt umgekehrt beim verschwörungstheoretischen Denken die äußere gesellschaftliche Spaltung zu einer Spiegelung derselben im Inneren. Dies führt zu Ängsten, die durch die Verschwörungstheorie intrapsychisch 188

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pseudologisch aufgehoben werden. Dies geschieht um den Preis, dass die Differenz zur Außenwelt verstärkt wird. Die Vereinbarkeit mit der Umgebung wird dem Bemühen um innere Konsistenz und Kohärenz geopfert. Die sozialen Kränkungen werden zwar reflektiert, nicht aber die traumatischen Erfahrungen früher negativer Abhängigkeitserlebnisse, die abgewehrt werden müssen. Dies hat zur Folge, dass die biografisch erlebten, frühen Kränkungen und Verletzungen verdrängt bleiben. Dass sie sich mit diesen Verletzungen nicht aussöhnen können, ist vielleicht die eigentliche Tragik für diese Menschen. Aber, wie es so leicht heißt, das Verdrängte kehrt in verwandelter Form wieder. Dies könnte uns die tieferliegende, unbewusstere Motivation erklären, warum Menschen mit Halbwahrheiten fiktive Erzählungen produzieren. Gess sagt dazu mit Bezug auf Timothy Melleys Buch Empire of Conspiracy (2000): »Melley weist hier auf eine für moderne Verschwörungstheorien grundlegende Struktur hin: Verschwörungstheoretikern gehe es vor allem darum, die Integrität des Selbst gegen die soziale Ordnung zu verteidigen. Ihre Paranoia sei ›eine Verteidigung, möglicherweise sogar ein Teil des liberal individualism‹ und eine Vision eines ›autonomen Selbst, das von der Gesellschaft belagert werde‹« (Gess, 2021 S. 83f.).

Das von Melley benutzte Bild der Belagerung des Individuums durch die Gesellschaft, scheint mir für die augenblickliche gesellschaftliche Situation besonders zutreffend. Es gibt viele gesellschaftliche Prozesse, die einen Umbruch anzeigen und eine Umdenken fordern. Ob beim Klimawandel oder bei Themen der sozialen Gleichberechtigung, dem Niedergang des Patriarchats, der Einforderung von gleichen Rechten für Minderheiten, der richtigen Ernährung und der gesunden Lebensweise, der Integration von Geflüchteten, der Neubewertung des Kolonialismus, dem Kampf gegen Rassismus und Chauvinismus oder der Cancel Culture, überall in der Gesellschaft gibt es die Forderung eines starken imperativen »Du sollst« und »Du sollst nicht«. Überall neue Verbote und Gebote, richtig und falsch. Diese Situation der Bedrängung des Einzelnen wurde durch die notwendigen restriktiven Maßnahmen in der Coronapandemie weiter verstärkt. Darauf reagieren viele Menschen aversiv. Dies mag erklären warum Menschen in Ostdeutschland, die die restriktive Seite der sozialistischen Gesellschaft des »Du sollst« in negativer Erinnerung 189

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haben, stärker ablehnend auf staatliche Vorgaben reagieren, so sehr sie auch schützend gemeint sind. Es handelt sich im Grunde um einen Konflikt der Betroffenen mit den Vertretern der politischen Macht. Das unterscheidet sie vom Psychotiker, der als solcher nicht politisch denkt. Wenn wir das Phänomen der Verschwörungstheorien also nicht wie einen Wahn Einzelner betrachten können, so können wir es nur im Kontext einer als wahnhaft verzerrt erlebten gesellschaftlichen Situation verstehen. D. h., die gespaltene gesellschaftliche Situation treibt die Menschen in eine wahnhafte innere Realität. Was wir also bräuchten, wäre eine Aufhebung oder zumindest eine Milderung des Belagerungszustandes des Individuums durch die Gesellschaft. Wie ist es möglich, einen Konsens über notwendiges gesellschaftliches Handeln z. B. in sozialen Gerechtigkeits- wie in ökologischen Fragen herzustellen, ohne in eine polarisierende gegenseitige moralische Vorwurfs- und Unterstellungshaltung zu geraten? Ist das eine gesellschaftliche Utopie? Dann wäre es eine Utopie, die wir in Angriff nehmen müssen.

Analytische Gruppentherapie unter Coronabedingungen Die staatlichen Maßnahmen zum Schutz der Bevölkerung wurden in unterschiedlichem Ausmaß in den eingangs genannten Gruppen diskutiert. Während des Lockdowns im Frühjahr 2020 unterbrachen wir die Gruppe für sechs Wochen und setzten danach, nun Masken tragend und in einem größeren Raum mit mehr Abstand, die Sitzungen fort. Während des nächsten Lockdowns ab Herbst 2020 führten wir die Sitzungen ohne Unterbrechung weiter. Anfangs gab es weitgehend Verständnis für die Maßnahmen und die Angst hielt sich in Grenzen. Nach einigen Bemerkungen zur Coronasituation konnten die Gruppen mit ihren sonstigen Themen weiterarbeiten. Doch das änderte sich während dieses Lockdowns. Die Akzeptanz der Maßnahmen begann nachzulassen. Als sich Anfang 2021 abzeichnete, dass das Ende des Lockdowns nicht abzusehen war und das kontroverse Thema der Impfungen dazukam, kam es in den Gruppen häufiger zu emotionalen Auseinandersetzungen. Die dynamische Matrix des Gruppengeschehens wurde nun mehr von den pandemiebedingten Ängsten dominiert. Die kulturelle Matrix gewann zunehmend an Einfluss auf das Geschehen. Auch die Ansichten der drei Patienten intensivierten sich und führten zu heftigen Auseinandersetzungen, die mich als Leiter forder190

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ten. Die gesellschaftlichen Spaltungen in der kulturellen Matrix bildeten sich auch in der Gruppe ab. Als Leiter machte ich meine Position deutlich: Es handelt sich um eine gefährliche Erkrankung mit schweren Verläufen, die die Maßnahmen rechtfertigten. Auch wenn die staatlichen Institutionen erst lernen mussten, mit der Situation umzugehen, und nicht alle Maßnahmen kohärent wirkten, so war und ist es weiterhin sinnvoll, sie zu befolgen und sich z. B. auch impfen zu lassen. Gleichzeitig vertrat und vertrete ich die Position, dass jeder erst einmal seine Meinung haben kann, für die er seine Gründe hat. Wir müssen die unterschiedlichen Haltungen akzeptieren und ihr Zustandekommen verstehen. Es war meine Aufgabe, die Spaltungen in den Gruppen zu begrenzen, um die Kommunikation aufrechtzuerhalten. Die Mitglieder mussten weiter miteinander reden und sich anhören. Es geht nicht darum, sich gegenseitig zu überzeugen. Wie in der Gesellschaft, so wollen wir in den Gruppen weiter miteinander sein und verstehen, dass die Kontroverse über die Pandemie nur einen kleinen Teil unseres gemeinsamen Lebens ausmacht, denn in vielen anderen Bereichen ist gegenseitiges Verständnis möglich. Dazu ist es wichtig, die persönliche Matrix stärker einzubeziehen, d. h. über die eigenen Geschichten zu sprechen, über die zugrundeliegenden biografischen Erfahrungen, die Einfluss darauf nehmen, wie wir auf die Pandemie reagieren. So war es möglich, Gemeinsamkeiten herauszuarbeiten und gegenseitiges Verständnis zu erzeugen, sodass die unterschiedlichen Positionen zur Pandemie für die Gruppenmitglieder erträglich wurden. In einem Fall (Gruppe 2) kam es trotzdem zu einer Zuspitzung, in der der Patient impulsiv die Gruppe verließ. Er ließ sich aufgrund seiner eigenen Geschichte nicht mehr integrieren, obwohl die Gruppe sein Fernbleiben bedauerte. Besonders in Gruppe  1 stellte sich eine produktive Arbeitsatmosphäre her. Durch die offene Art, wie die zwei Patientinnen ihre Bedenken darstellten, konnten auch andere Teilnehmer ihre Ängste und Bedenken offen äußern. Da keiner der Teilnehmer eine radikale Haltung einnahm, war die Konfrontation und die Spaltung in der Gruppe weniger stark, gleichwohl war es sehr emotional. Vor allem wurde die Konfusion, alles nicht genau wissen zu können, und der Vertrauensverlust in Institutionen und Wissenschaft formuliert. Hier wurde deutlicher als in Gruppe 2, wie sehr es beim Widerstand gegen die staatlichen Maßnahmen jenseits von rationalen Erwägungen, die im Einzelnen oft akzeptiert werden konnten, um das Grundbedürfnis von Selbstbestimmung und Selbstbehauptung ging, 191

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das die Teilnehmer als zutiefst bedroht erlebten, Einschränkungen, die für sie zeitweise unerträglich wurden. Die Verständigung darüber, die erlebte Solidarität und Akzeptanz, nicht verrückt zu sein, sondern ein legitimes Bedürfnis nach Selbstbestimmung zu artikulieren, bis dahin selbst das Erkrankungsrisiko zu tragen, half den Mitgliedern, die belastende Situation auszuhalten und im Gespräch zu bleiben. Literatur Benedetti, G. (1983). Todeslandschaften der Seele. Göttingen: Verlag für Med. Psychologie, Vandenhoeck & Ruprecht. Butter, M. (2018). »Nichts ist, wie es scheint.« Über Verschwörungstheorien. Berlin: Suhrkamp. Eco, U. (2021). Verschwörungen. Eine Suche nach Mustern. München: Hanser. Foulkes, S. H. (1977). Probleme der großen Gruppe vom gruppenanalytischen Standpunkt aus. In L. Kreeger (Hrsg.), Die Großgruppe (S. 27–49). Stuttgart: Klett-Cotta. Fromm, E. (1990). Die Entdeckung des gesellschaftlichen Unbewussten. Weinheim, Basel: Beltz. Gess, N. (2021). Halbwahrheiten. Zur Manipulation von Wirklichkeit. Berlin: Matthes & Seitz. Jaster, R. U. & Lanius, D. (2019). Die Wahrheit schafft sich ab. Wie Fake News Politik machen. Stuttgart: Reclam. Luhmann, N. (2014 [1968]). Vertrauen. München: UVK. Melley, T. (2000). Empire of Conspiracy. The Culture of Paranoia in Postwar America. Ithaca: Cornell UP. Müller, M. (2019). Narrative, Erzählungen und Geschichten des Populismus. Versuch einer begrifflichen Differenzierung. In M. Müller & J. Precht (Hrsg.), Narrative des Populismus (S. 1–10). Wiesbaden: Springer VS. Steck, H. (1951). Die Psychopathologie des Wahns. Schweizerisches Archiv für Neurologie und Psychiatrie, 67, 86.

Biografische Notiz

Frank-Andreas Horzetzky, Dr. med., ist Facharzt für Innere und Psychotherapeutische Medizin sowie Psychoanalytiker (NFIP, DGPT) und Gruppenanalytiker. Er arbeitet in eigener Praxis in Berlin Pankow und ist aktiv als Lehranalytiker und Supervisor der Arbeitsgemeinschaft für Psychoanalyse und Psychotherapie Berlin (APB e. V.).

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Das Verhältnis von Antifeminismus und Verschwörungsdenken Antimoderne Krisenbearbeitung in der Coronapandemie1 Rebekka Blum

In der seit Frühjahr 2020 anhaltenden COVID-19-Pandemie lässt sich in vielen Ländern eine starke öffentliche Verbreitung von Verschwörungserzählungen beobachten. In Deutschland etablierten sich bspw. die sogenannten Querdenker, die Demonstrationen organisieren, zuerst als Massendemonstrationen, später teils als vorgebliche »Spaziergänge«. Daneben bildeten sich viele weitere, teils explizit pandemieleugnende Initiativen wie die Organisation Eltern stehen auf und Mobilisierungszusammenhänge um Einzelpersonen wie etwa Bodo Schiffmann und Eva Rosen, die Ende 2020 mit Bussen durch Deutschland tourten und pandemieleugnende Inhalte verbreiteten. Im Zentrum dieser Mobilisierungen stehen  – neben der egozentrierten Ablehnung staatlicher Gesundheitsschutzmaßnahmen  – antisemitische Verschwörungserzählungen, Shoah- und NS-Relativierungen sowie rassistische Schuldzuweisungen an Chines*innen und externalisierende Deutungen über das vermeintliche Importieren des Virus durch Arbeiter*innen aus Osteuropa. Diese Phänomene wurden vor allem von zivilgesellschaftlichen Akteur*innen früh registriert und immer wieder, mit variierend nachhaltiger Wirkung, in der politischen Öffentlichkeit thematisiert. Antifeministische Mobilisierungen im Zuge der COVID-19-Pandemie hingegen wurden (noch) weniger Aufmerksamkeit gewidmet. Dabei lassen sich bei vielen der Äußerungen und Demonstrationen gegen die COVID-19-Schutzmaßnahmen regelmäßig auch antifeministische Rhetorik und Bezugnahmen sowie generell entsprechend diskriminierende, gesellschaftliche bzw. 1

Die Autorin dankt Len Schmid für den inhaltlichen und Rechercheaustausch.

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Rebekka Blum

sexuelle und geschlechtliche Vielfalt ablehnende Aussagen beobachten. Gemeinsame ideologische Bezugspunkte zwischen AntifeministInnen2 und Pandemieleugner*innen lassen die Grenzen beider Mobilisierungen zunehmend verschwimmen. Bereits ganz zu Beginn der Coronapandemie griffen antifeministische AkteurInnen die pandemische Situation auf, um gegen gleichstellungspolitische Maßnahmen zu agitieren. So behauptete bspw. der Verein Deutsche Sprache e. V. im März 2020: »In Deutschland werden Milliardenbeträge für den Genderunfug ausgegeben. Diese Gelder fehlen Krankenhäusern oder den naturwissenschaftlichen Uni-Fakultäten – zum Beispiel in der Virusforschung« (zit. n. Debionne, 2020, o. S.). Hier werden voneinander unabhängige wissenschaftliche bzw. gesellschaftliche Bereiche klassisch antifeministisch gegeneinander ausgespielt und behauptet, feministische Gleichstellungspolitik und Forschung sei schuld an der als unzureichend beschriebenen Finanzierung virologischer Forschung. Bereits im März 2019 bewarb der Verein Deutsche Sprache e. V. die Online-Petition »Schluss mit Gender-Unfug!«3 Dies zeigt: Es wurde lediglich eine bestehende antifeministische Debatte anhand der pandemischen Lage aktualisiert. Auch auf Querdenken-Demonstrationen sind immer wieder antifeministische Aussagen zu beobachten, wie am 29. August 2020 in Berlin. Hier war der Verein Rettet die Kinder aus Fürstenwalde mit einem Truck unterwegs, auf dem zu lesen war: »Gegen Zwangs-Medien-Indoktrination, Zwangs-Impfung, Zwangs-Verchippung, Zwangs-Frühsexualisierung und Zwangs-Maskierung«. Damit werden sämtliche Falschbehauptungen und Verschwörungserzählungen im Rahmen der Coronapandemie mit der in jüngster Zeit vor allem von AntifeministInnen bespielten (Verschwörungs-)Erzählung einer vermeintlichen Frühsexualisierung verknüpft (Blum & Rahner, 2020). Diese und weitere Beobachtungen waren der Anlass, das Verhältnis von Antifeminismus, Pandemieleugnung und Verschwörungsdenken genauer zu analysieren. Zunächst wird skizziert, was unter Antifeminismus 2

3

Ich nutze im Artikel verschiedene geschlechtergerechte Sprachvarianten. Grundsätzlich nutze ich den Asterisk, um Personen jenseits der Zweigeschlechtlichkeit mit zu repräsentieren. Da Antifeminismus und generell rechte Ideologie auf der Vorstellung der Zweigeschlechtlichkeit aufbaut, verwende ich für AkteurInnen aus diesem Spektrum die zweigeschlechtliche Genderung mit Binnen-I. Dies bedeutet jedoch nicht, dass nicht auch Personen jenseits der Zweigeschlechtlichkeit AntifeministInnen sein können. https://vds-ev.de/aktionen/aufrufe/schluss-mit-gender-unfug (28.01.2022).

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Das Verhältnis von Antifeminismus und Verschwörungsdenken

zu verstehen ist. Anschließend wird aufgezeigt, dass bzw. wie antifeministische Äußerungen oft von Verschwörungserzählungen geprägt sind. Anhand verschiedener Entwicklungen in der Coronapandemie und insbesondere der Initiative Eltern stehen auf lässt sich diese These verdeutlichen. Die Analyse zeigt, dass Antifeminismus und Verschwörungsdenken verschränkte Phänomene sind und es für beide Forschungsbereiche notwendig ist, die gegenseitige Durchdringung systematisch(er) in den Blick zu nehmen.

Antifeminismus Antifeminismus ist ein vielfältiges Phänomen. Mit dem Begriff lassen sich bspw. sexualisierte Hetze gegen FLINTA* (Frauen, Lesben, inter, nicht-binäre, trans*, agender Personen) im Internet, Proteste gegen Bildungspläne, die das Ziel haben, die Akzeptanz sexueller Vielfalt zu stärken, aber auch terroristische Anschläge wie in Halle und Christchurch 2019 sowie in Oslo/Utøya 2011, bei denen Antifeminismus je ein Teilmotiv war, fassen. Antifeminismus ist als grundlegende Ideologie in patriarchalen Gesellschaften zu verstehen und sichert je den aktuellen Status quo im Geschlechterverhältnis ab, indem mit einer vermeintlichen Ursprünglichkeit bzw. Natürlichkeit der Geschlechterhierarchie argumentiert wird. Insofern äußert sich Antifeminismus als Gegenbewegung zu feministischen, emanzipatorischen und gleichstellungspolitischen Errungenschaften, Forderungen und Liberalisierungen im Bereich von Geschlecht und Sexualität. Daher zählen auch jegliche Formen von LSBTQIA*-Feindlichkeit4 zu Antifeminismus, denn sowohl LSBTQIA*-Bewegungen als auch feministische Ideen und Mobilisierungen fordern das gängige Welt- und Geschlechterbild heraus, das auf normalisierten Vorstellungen von Zweigeschlechtlichkeit, Heterosexualität, Geschlechterhierarchie und der Einteilung der Welt in öffentlich-männlich-politisch und privat-weiblich-sorgend aufbaut. Dieser Geschlechterdualismus vollendet sich vielfach im Ideal der hierarchisch organisierten heterosexuellen Kleinfamilie, in der der Vater als Familienoberhaupt gilt und sowohl Frauen als auch Kinder als zu beschützend, abhängig und nicht als eigenständige Subjekte konstruiert werden. Antifeminismus ist entsprechend zum einen Kernelement (extrem) rechter Ideologien, zum 4

LSBTQIA* steht für lesbisch, schwul, bi, trans, queer, inter, agender *.

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anderen gesellschaftlich breit anschlussfähig.5 Seit den 1990er Jahren lassen sich in Kombination und Überschneidung miteinander verschiedene antifeministische Wellen erkennen, die unterschiedliche Varianten von Antifeminismus und entsprechende AkteurInnen beinhalten. So ist die in den 1990ern aufkommende und bis heute anhaltende Debatte um das Konstrukt der political correctness – diese ist stets eine Fremdzuschreibung – antifeministisch geprägt (Möller, 1999, S. 19). In jüngster Zeit wird statt political correctness zunehmend von cancel culture gesprochen, bspw. wenn insbesondere prominente Personen für diskriminierende Äußerungen kritisiert werden oder gar gefordert wird, ihnen für solche Aussagen keine Bühne zu geben. Oftmals wird dann, ob im Kontext einer behaupteten cancel culture oder political correctness, von einer vermeintlichen Meinungsdiktatur gesprochen. Ebenjene vermeintlich gecancelten Personen treten jedoch meist weiterhin prominent in der Öffentlichkeit auf und bekommen für ihre Aussagen oft weiterhin eine große Bühne.6 Seit den 2000ern mobilisieren viele AntifeministInnen gegen das sozialwissenschaftliche Genderkonzept und Geschlechterforschung (Maihofer  & Schutzbach, 2015, S. 203). Besonders viel Aufmerksamkeit und Gegenmobilisierung erfährt auch das Gleichstellungskonzept Gender-Mainstreaming. Rhetorisch werden feministische Errungenschaften wie das Frauenwahlrecht teilweise begrüßt, aber gleichzeitig betont, dass die Gleichstellung von Frauen mittlerweile erreicht und weitere Gleichstellungspolitik damit überflüssig oder gar männerdiskriminierend sei (ebd., S. 208). In diesem Zusammenhang wird, wie bspw. von der prominenten Antifeministin Birgit Kelle (2015) mit Kontakten in die CDU bis hin zu christlichen und sogenannten neuen Rechten,7 regelmäßig von »Gender-Gaga« gesprochen oder im Stile einer 5

Diese Überlegungen und auch die folgende Analyse zu Antifeminismus sind Zwischenergebnis meiner Promotion an der Universität Freiburg zu »Antifeminismus in Westdeutschland zwischen 1945 und 1990« und bauen auf meinem Buch Angst um die Vormachtstellung auf, in dem ich die Forschungsliteratur zu Antifeminismus im Kaiserreich und seit 1990 systematisch untersucht habe (Blum, 2019). 6 Ein Beispiel hierfür ist Thomas Gottschalk, der mit seinen weißen Mitdiskutant*innen im Januar 2021 für eine Rassismus und Antiziganismus bagatellisierende Episode der WDRTalkshow »Die letzte Instanz« kritisiert wurde. Trotzdem moderiert er weiterhin große Showformate (u. a. im Herbst 2021 »Wetten, dass..?«) und hat einen eigenen Podcast beim SWR. 7 https://www.lsvd.de/de/ct/652-Demo-fuer-Alle-Rechtskonservative-Kampfbegriffe-und -Akteur-innen (28.01.2022).

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Das Verhältnis von Antifeminismus und Verschwörungsdenken

männerzentrierten Variante zum Beispiel gegen Geschlechterquoten vorgebracht, dass in Deutschland mittlerweile cis Jungen und cis Männer kollektiv benachteiligt seien (Blum, 2019, S. 51–53). Insbesondere seit 2010 ist eine familienzentrierte Variante von Antifeminismus zu beobachten (Scheele, 2016, S. 6; Buschmann et al., 2017, S.  29). In Debatten wird gefordert, dass die bürgerliche Kleinfamilie, wobei hierunter lediglich die Konstellation (»deutsche/r«, weiße/r, cis) Vater-Mutter-Kind(er) verstanden wird, vor vermeintlicher Umerziehung und Sexualisierung von Kindern durch staatliche Institutionen und Feminist*innen geschützt werden müsse. Die AkteurInnen inszenieren sich dabei als VerteidigerInnen traditioneller Familien- und Geschlechterbilder, denn diese verstehen sie als natürliche bzw. je nach Ausprägung göttliche Weltordnung und als durch queere Lebensweisen existenziell bedroht (Lang, 2014). In diesem Sinne wird jegliche Infragestellung einer heteronormativen und cis-geschlechtlichen Gesellschaftsordnung als Katastrophe dargestellt. Diese Vorstellung ist klar als Fundament des rechtsideologischen Konstrukts der (Volks-)Gemeinschaft zu verstehen (Cizek, 2021, S. 79f.). Darüber hinaus tritt Antifeminismus regelmäßig »in Verbindung mit anderen Formen (der Rechtfertigung) von Ablehnung, Hass und Gewalt, insbesondere Antisemitismus« auf (Hessel  & Misiewicz, 2020, S.  170). Antifeminismus und Antisemitismus bildeten sich je als Ressentiments gegen egalitäre Versprechen einer liberalen und pluralistischen Moderne im Laufe des 19. Jahrhunderts heraus (ebd.). Es lässt sich festhalten, dass Antifeminismus in Zeiten von Veränderungen und Krisen verstärkt auftritt, insbesondere wenn gesellschaftliche Routinen und Sicherheiten infrage gestellt werden. Im Zuge dieser Veränderungen wird von einigen AkteurInnen verstärkt an vermeintlich gesellschaftlichen »Wahrheiten« wie Zweigeschlechtlichkeit festgehalten bzw. gegen vielfältige Lebensweisen mobilisiert (Blum, 2019, S. 112).

Verschwörungsdenken und Verschwörungserzählungen Diese Ausführungen deuten bereits an, dass in Bezug auf Logik, Hintergrund und Wirkungsweise Überschneidungen zwischen Antifeminismus und Verschwörungsdenken auszumachen sind. Verschwörungserzählungen zeichnen sich dadurch aus, dass im Denken ihrer Anhänger*innen nichts 197

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durch Zufall geschieht, nichts ist, wie es scheint, und alle – medizinischen, politischen und gesellschaftlich bedeutsamen – Entwicklungen werden als sinnhaft miteinander verbunden gesehen (Decker et al., 2020, S. 291). Dabei wird oft einer Gruppe personalisierend gesellschaftliche Macht unterstellt und behauptet, sie sei für gesellschaftliche Prozesse verantwortlich (RIAS Bayern, 2021, S. 4). Verschwörungserzählungen sind darüber hinaus von einer manichäischen Welterklärung geprägt, also der Einteilung der Welt in Gut und Böse, wobei in aktuellen Verschwörungserzählungen oftmals das als tugendhaft konstruierte Volk einer als korrupt behaupteten vermeintlichen Elite gegenübergestellt wird. Durch diese Vorstellung – es gebe eine kleine Machtelite, die alle gesellschaftlichen Entwicklungen kontrolliere – sind Verschwörungserzählungen eng mit antisemitischen Ressentiments verknüpft (Hammel, 2020).8 Es ist zu beobachten, dass Verschwörungserzählungen in gesellschaftlichen Krisenzeiten besonders Auftrieb bekommen. Denn sie stillen in einer komplexen Situation das Bedürfnis nach Kontrolle und den Wunsch nach überschaubaren Erklärungen, indem komplexe gesellschaftliche Prozesse nicht auf soziale Bedingungen des Handelns zurückgeführt werden (Decker et al., 2020, S. 283, 287) und stattdessen klare Antworten bieten, wen es in den Augen der Verschwörungsgläubigen zu bekämpfen gilt (RIAS Bayern, 2021, S. 12). Studien zeigen, dass Anhänger*innen von Verschwörungserzählungen ihre eigene wirtschaftliche und soziale Situation als sehr schlecht und oftmals bedroht einschätzen, unabhängig davon, ob dies sozial-strukturell zutrifft (Decker et al., 2020, S. 289f.). Aus dieser vermeintlichen bedrohlichen Lage ziehen Anhänger*innen von Verschwörungserzählungen die Legitimation für ihr Handeln bis hin zu Gewalt und Vernichtungswünschen (RIAS Bayern, 2021, S. 11).9

Verhältnis von Antifeminismus und Verschwörungsdenken Nichts ist wie es scheint, oder hidden agenda

Dass antifeministische Rhetoriken und Strategien oftmals von Verschwörungsdenken geprägt sind, lässt sich sehr deutlich anhand der häufig von 8 9

Vgl. dazu auch den Beitrag von Florian Hessel i. d. Bd. Vgl. dazu insgesamt auch die Beiträge von Martin Jay, Mischa Luy, Frank-Andreas Horzetzky sowie Carolin Engels & Sebastian Salzmann i. d. Bd.

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Das Verhältnis von Antifeminismus und Verschwörungsdenken

AntifeministInnen genutzten Erzählung erkennen, dass es bei gleichstellungspolitischen Maßnahmen wie dem Gender-Mainstreaming nur vordergründig um Gleichstellung gehe. Als ob eine geschlechtergerechte Gesellschaft nicht für sich stehend ein Ziel sein könne, wird behauptet, dass die theoretischen Hintergründe und eigentlichen Ziele im Sinne einer hidden agenda verschleiert würden. Denn eigentlich ginge es Feminist*innen darum, die Biologie abzuschaffen, um neue Herrschaftsverhältnisse zugunsten von Frauen oder auch queeren Personen zu errichten (Kiepels, 2013, S.  44–46). Ganz dieser Logik verhaftet, werden Feminist*innen oft als übermächtig und Feminismus als totalitäres Regime dargestellt (Roßhart, 2008, S.  48). Auch Kelle bedient sich freimütig klassischer Verschwörungsrhetorik, wenn sie gegen Akteur*innen hetzt, die sich für sexuelle und geschlechtliche Vielfalt einsetzen: »In den Augen der Strippenzieher an der Gender-Front stören Eltern nur noch bei der Umformung ihrer Kinder zum neuen Menschen« (zit. n. Fedders, 2018, S. 222). In ähnlicher Weise wird Maßnahmen zur Förderung der Akzeptanz sexueller Vielfalt unterstellt, es gehe darum, Kinder umzuerziehen und zu frühsexualisieren (Teidelbaum, 2015, S. 6). Auch Anhänger*innen von Verschwörungserzählungen in der Coronapandemie vermuten hinter den Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie eine hidden agenda. Sie gehen oftmals davon aus, den politisch Verantwortlichen ginge es nur vordergründig um die Eindämmung – dahinter steckten viel mehr Pläne, (mindestens) die Grundrechte der Menschen langfristig einzuschränken (Hammel, 2020). Mächtige Minderheit – unterdrückte Mehrheit

Auch die für antifeministische Mobilisierungen typische Gegenüberstellung einer gesellschaftlichen Mehrheit, die durch eine kleine elitäre Minderheit unterdrückt werde, entspricht der Logik von Verschwörungserzählungen (Benz, 2007, S. 15). In diesem Sinne wurde in der Debatte um Gender-Mainstreaming oftmals die Befürchtung vorgebracht, dass durch eine feministische Übermacht eigene, »normale« Ansichten zu einer unterdrückten Minderheitenmeinung gemacht würden (Roßhart, 2008, S. 49). Auch bei den Protesten der Demo für alle gegen die Neufassung des Bildungsplans in Baden-Württemberg 2014/15, der zum Ziel hatte, die Akzeptanz sexueller Vielfalt als Querschnittsthema zu 199

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verankern, zeigt sich diese Logik. AkteurInnen der Demo für alle verunglimpften das pädagogische Ziel der Akzeptanz vielfältiger Lebensweisen als »Frühsexualisierung« und kombinierten dies mit Protesten gegen die Öffnung der Ehe für gleichgeschlechtliche Paare (Billmann, 2015). Darüber hinaus erklärten Teilnehmende der Demo für alle in Stuttgart, sie würden sich als heterosexuelle Mehrheit von Gruppen, die sich gegen die Diskriminierung homosexueller und queerer Personen einsetzen, diskriminiert fühlen (Teidelbaum, 2015, S. 9). In ähnlichem Stil war in der Debatte zu politicial correctness nicht selten von einer »political-correctness-Diktatur« die Rede (Auer, 2002, S. 295). Aktuell wird insbesondere im Stile eines familienzentrierten Antifeminismus behauptet, heterosexuelle Familien wären bedroht, wenn wie in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung am 3. September 2020 geäußert wird: »Die klassische Familie wird zum Ausnahmefall. Politisch Verantwortlichen fehlt der Mut zum Widerspruch gegen die Transgenderpropaganda in Kindertagesstätten und Kindergärten« (Ahrbeck & Felder, 2020, S. 8). Übermächtiger Feminismus

Von vielen AntifeministInnen wird ein »Staatsfeminismus« bzw. ein feministisches staatliches Regime imaginiert. So wird sich in einer »Die-da-oben«-Rhetorik über staatliche Bevormundung beklagt und beanstandet, dass Maßnahmen wie Gender-Mainstreaming reine Verschwendung von Steuergeldern seien (Gesterkamp, 2010, S.  6). Öffentliche Diskussionen über Gewaltverhältnisse in Familien werden in diesem Denken als Eindringen in die private Sphäre dargestellt (Müller, 2011, S. 79). Ganz im Sinne einer imaginierten Diktatur wird behauptet, Deutschland sei eine »Femokratie«, also ein feministisches Regime, und auch die Medien würden von Feminist*innen kontrolliert (Rosenbrock, 2012, S. 59). Hierbei zeigt sich Antifeminismus regelmäßig von antisemitischen Codes und Verschwörungserzählungen durchdrungen (Blum, 2019, S. 92–97). So beschreibt Fedders (2018, S. 224), dass AutorInnen der extrem rechten Publikation Compact Feminismus als »jüdisches Projekt« behaupten und eine vermeintlich reale Person, Nicholas Rockefeller, zitieren – wobei Fedders betont, dass der Nachname Rockefeller ähnlich wie der der Rothschilds als Code auf eine »einflussreiche jüdische Elite« verweisen soll: 200

Das Verhältnis von Antifeminismus und Verschwörungsdenken

»Der Feminismus ist unsere Erfindung aus zwei Gründen. Vorher zahlte nur die Hälfte der Bevölkerung Steuern, jetzt fast alle, weil die Frauen arbeiten gehen. […] Indem wir die Frauen gegen die Männer aufhetzen und die Partnerschaft und die Gemeinschaft der Familie zerstören, haben wir eine kaputte Gesellschaft aus Egoisten geschaffen, die arbeiten (für die angebliche Karriere), konsumieren (Mode, Schönheit, Marken), dadurch unsere Sklaven sind und es dann auch noch gut finden« (zit. n. ebd.).

Diese Erzählung findet sich auch in zahlreichen Internetforen, in denen behauptet wird, die »Rockefellers und Rothschilds haben den Feminismus erfunden, um die Familie und die Mann-Frau-Beziehung zu vergiften« (zit. n. ebd., S. 225). Besonders drastisch zeigt sich die Gefahr von Verschwörungserzählungen anhand der von rassistischen, antisemitischen und antifeministischen Ressentiments durchdrungenen Verschwörungserzählung eines »großen Bevölkerungsaustausch« oder auch einer vermeintlichen »Umvolkung«. Anhänger*innen dieser Verschwörungserzählung glauben, es gebe einen geheimen Plan, die als homogen und weiß konstruierte (einheimische) Bevölkerung durch eine geringe Geburtenrate und durch Einwanderung – insbesondere von Menschen aus sogenannten islamischen Ländern – zu unterwandern und »auszutauschen« (Haas, 2020, S. 6). Hinter diesem Plan werden je nach Erzählung und Ausprägung antisemitische Feindbilder und Codes behauptet, wie »George Soros«, die »Vereinten Nationen«, »Globalisten« oder ganz unverschleiert »die Juden« (vgl. auch Hessel & Misiewicz, 2020, S. 175ff.). Bereits der ersten Frauenbewegung wurde vorgeworfen, für einen vermeintlichen Bevölkerungsrückgang verantwortlich zu sein. Diese Behauptung und Angst waren bereits um 1900 weitverbreitet (Planert, 1998, S. 113–15). Die tödlichen Folgen dieser Verschwörungserzählungen zeigen sich anhand des antisemitischen und rassistischen Terroranschlags am 9. Oktober 2019 in Halle, als der Täter an Jom Kippur, dem höchsten jüdischen Feiertag, versuchte, mit Waffengewalt in die Hallenser Synagoge zu gelangen, um dort ein Blutbad anzurichten. Als ihm dies nicht gelang, erschoss er Jana L. direkt vor der Synagoge und Kevin S. im nahe gelegenen Imbiss »Kiez-Döner« und verletzte mehrere Personen auf der Flucht schwer. Der Attentäter begründete seinen Anschlag in seinem während der Tat gefilmten Video auch ganz im Sinne der Erzählung des vermeintlich »Großen Austauschs« damit, dass der Feminismus Schuld an der in seinen Augen zu niedrigen Geburtenrate weißer Menschen sei, was 201

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zu Masseneinwanderung führe. Und er vervollständigte dieses Verschwörungsdenken, Schuld daran seien die Juden. Die Verschwörungserzählung eines »Großen Austauschs« war bereits bei weiteren rechten und rassistischen Attentaten wie in Oslo/Utøya 2011 und in Christchurch 2019 ein zentrales Motiv (u. a. Sanders, 2020). Krise und Komplexitätsreduktion

Weitere Verschränkungen von Antifeminismus und Verschwörungserzählungen zeigen sich in der Funktion der Komplexitätsreduktion. So lässt sich beobachten, dass Antifeminismus insbesondere in Zeiten von gesellschaftlichen Veränderungen erstarkt, bspw. im Zuge zunehmender Geschlechtergerechtigkeit und Akzeptanz für vielfältige und queere Lebensweisen. Dies kann insbesondere bei cis Männern, die bislang eine gegenüber cis Frauen und queeren Personen gesellschaftlich privilegierte Position innehatten, zu Ängsten vor einem Statusverlust führen, die von AntifeministInnen mit Schuldzuweisungen an andere, in diesem Fall Feminist*innen bewältigt werden (Blum, 2019, S. 112). Feminismus wird auch deshalb als Feindbild herangezogen, da der gleichberechtigte Zugang zu Erwerbsarbeit stets eine zentrale Forderung von Feminist*innen war. Dabei ist es irrelevant, dass das (mit hegemonialen Männlichkeitsvorstellungen verbundene) Alleinernährermodell vor allem aufgrund von Aktivierungsstrategien wie Hartz IV heute sichtbar erodiert ist (Motakef et al., 2015, S.  43–47). Gerade in Zeiten, in denen gesellschaftliche »Wahrheiten« wie die vermeintliche Natürlichkeit geschlechtlicher Arbeitsteilung oder Zweigeschlechtlichkeit infrage gestellt werden, erstarken Abwehrmechanismen und Gegenmobilisierungen. Dabei wird deutlich, dass schon die Vorstellung einer vermeintlichen Ursprünglichkeit oder Natürlichkeit sozialer und gesellschaftlicher Verhältnisse, wozu das Geschlechterverhältnis klar zu zählen ist, eine deutliche Komplexitätsreduktion bedeutet und als stabilisierende Ideologie für patriarchale Verhältnisse betrachtet werden muss. Antimodernes Denken

An der Behauptung einer vermeintlichen Natürlichkeit und Ursprünglichkeit der Geschlechterverhältnisse  – AntifeministInnen argumen202

Das Verhältnis von Antifeminismus und Verschwörungsdenken

tieren oft mit einem alltäglichen Geschlechterwissen und leiten aus aktuellen Geschlechterverhältnissen deren Natürlichkeit und Ursprünglichkeit ab (Blum, 2019, S. 115) – lassen sich weitere Überschneidungen zu Verschwörungsdenken erkennen. Denn insbesondere in esoterisch orientierten Milieus, die oftmals von Verschwörungserzählungen durchdrungen sind, findet regelmäßig ein positiver Bezug auf »altes Wissen« und vermeintlich ursprüngliche Lebensweisen statt.10 Es wird eine Zeit idealisiert, in der der Weltzugang weniger abstrakt war und dadurch eine konkretere Handlungsfähigkeit versprach. So habe die Aufklärung durch Säkularisierungsprozesse zu einer »Entzauberung und Entspiritualisierung« der gesellschaftlichen Verhältnisse geführt (Decker at al., 2020, S.  294). Die Entstehung des Feminismus bzw. emanzipatorischer Bewegungen insgesamt, die gesellschaftliche Gleichberechtigung und Gerechtigkeit anstreben, kann in diesem Sinne als weitere »Entzauberung« betrachtet werden. Diese Idealisierung von (imaginierten) vergangenen Verhältnissen baut auf naiven Vorstellungen von Natürlichkeit auf und ist als antimodernes Denken zu verstehen, da Konzepte wie Säkularisierung und Gleichberechtigung abgelehnt werden. Auch die Gegner*innenschaft zum Impfen, die auch im Pandemieleugner*innenspektrum auszumachen ist, baut auf einer Idealisierung von Ursprünglichkeit und Natürlichkeit auf. Impfen wird hier als Widerspruch zur natürlichen Immunisierung und Ausdruck von modernen Wissenschaften, die als gesellschaftszersetzend und gefährlich betrachtet werden, gesehen (Krauss, 2021).11 Breite Anschlussfähigkeit Die Mobilisierungen gegen die Maßnahmen zur Eindämmung der COVID-19-Pandemie machen deutlich, dass Verschwörungsdenken als ideologischer Kitt für verschiedene politische Milieus dienen kann (Decker et al., 2020, S. 283). Sicherheitsbehörden tun sich mit der Einordnung der Proteste schwer, denn durch ihr Extremismusverständnis fehlt ihnen der analytische Blick für reaktionäre Mobilisierungen aus der sogenannten gesellschaftlichen Mitte heraus (Denk et al., 2021, S.  10). Bei allen Hinweisen auf eine gesellschaftlich breite Anschlussfähigkeit von Verschwörungserzählungen ist gleichzeitig zu beachten, dass Verschwörungsdenken unter Menschen mit rechten Einstellungen, Af D-Wählenden oder Nichtwähler*innen besonders stark ausgeprägt 10 Vgl. dazu auch den Beitrag von Nora Feline Poesl i. d. Bd. 11 Vgl. dazu auch den Beitrag von Hans-Jürgen Wirth i. d. Bd.

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ist (Decker et al., 2020, S. 289). Dies liegt auch daran, dass in rechten Ideologien die Gemeinschaft per se als apokalyptisch bedroht gilt (Cizek, 2021, S.  82). Ähnlich wie bei den sogenannten Querdenken-Protesten beteiligen sich an antifeministischen Mobilisierungen AkteurInnen aus einem breiten politischen Spektrum. Antifeminismus kann als ideologisches Bindeglied konservativer, reaktionärer, maskulinistischer 12 und religiös-fundamentalistischer bis hin zu (extrem) rechten Milieus gesehen werden und fungiert als Türöffnerideologie13 in die (extreme) Rechte. Eindrucksvoll zeigte sich dies bei den Protesten gegen den Bildungsplan in Baden-Württemberg, aber auch an den fortlaufenden Debatten um Gender-Mainstreaming und Gender Studies. Hier agieren AkteurInnen aus den verschiedenen Strömungen als gegenseitige StichwortgeberInnen (Lang, 2014). Die Argumentationen erweisen sich hier als sehr flexibel und werden teilweise strömungsübergreifend verwendet. So argumentierten christliche AntifeministInnen teils mit einer vermeintlichen göttlichen Ordnung, nehmen je nach Kontext aber auch Bezug auf naturwissenschaftliche Ansätze (Blum, 2019, S. 111).

Antifeminismus und Verschwörungsdenken in der Coronapandemie Antifeministische Äußerungen – auch, aber nicht nur in Kombination mit Verschwörungsdenken – zeigen sich häufig in der Coronapandemie. So unterstreicht die medizinisch unhaltbare Behauptung, Coronaimpfungen würden Frauen unfruchtbar machen, deutlich, welche Rolle Frauen in verschwörungsgläubigen und antifeministischen Strukturen zugeschrieben wird: nämlich die der sich reproduzierenden Familienmutter. Diese Erzählung ermutigte darüber hinaus ein Mitglied des mas12 Mit dem Begriff Maskulinismus werden Gruppen und Bewegungen bezeichnet, die auf einer Ideologie der männlichen Überlegenheit aufbauen und die Aufrechterhaltung patriarchaler Machtverhältnisse zum Ziel haben (Claus, 2014, S. 18). 13 Die Formulierung »Antifeminismus als Türöffnerideologie in die autoritäre und extreme Rechte« ist im Austausch mit Juliane Lang entstanden, als wir auf der Suche waren nach einer Alternative zur häufig verwendeten Formulierung »Antifeminismus als Einstiegsdroge in extrem rechtes Denken«. Mit dieser Formulierung wollen wir die gesellschaftliche Verankerung antifeministischen und queerfeindlichen Denkens aufzeigen und Antifeminismus als Bestandteil gesellschaftlicher Geschlechterverhältnisse benennen.

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Das Verhältnis von Antifeminismus und Verschwörungsdenken

kulinistischen und antifeministischen Online-Forums wgvdl (»Wieviel ›Gleichberechtigung‹ verträgt das Land?«) zu rassistischen, verschwörungsideologischen Aussagen. Er forderte, dass geflüchtete Frauen zuerst geimpft werden; so könne die »Umvolkung« gestoppt werden.14 Ein weiterer Hinweis für die Verschränkung von antifeministischen und pandemieleugnenden AkteurInnen ist Eva Herman, ehemalige Tagesschausprecherin und prominente Antifeministin mit Verbindungen weit ins rechte Milieu. Ihr Telegram-Kanal ist mit knapp 210.000 Mitgliedern (Stand: Januar 2022) einer der reichweitenstärksten Kanäle des Pandemieleugner*innenspektrums. Sprechen im Namen der Kinder

Viele antifeministische und rechte AkteurInnen sehen  – im Sinne des klassisch verschwörungsideologischen Dogmas »Nichts ist, wie es scheint« – in der Coronapandemie eine heimliche Strategie. Regelmäßig wird dies verknüpft mit der Behauptung, im Namen von Kindern zu sprechen, um gegen politische Bewegungen und Maßnahmen zu agieren, die den eigenen Ansichten widersprechen (Blum & Rahner, 2020). Oft wird das Bedrohungsszenario einer vermeintlichen Kindeswohlgefährdung bzw. eines drohenden Kindesentzugs heraufbeschworen. So setzte bspw. der AfD-Kreisverband Stuttgart im August 2020 den Mythos in Umlauf »Corona-Irrsinn: KINDESENTZUG droht«15 und unterstellte, dass der Staat Kinder ihren Eltern (durch gesundheitliche u. a. Aufklärung) entfremden und (bei verweigerten Masken, Behandlung etc.) entziehen würde. Analysiert man antifeministische Bezugnahmen in der Szene der Pandemieleugner*innen, ist es notwendig, einen besonderen Blick auf die Initiative Eltern stehen auf (ESA) zu legen, die sich im Mai 2020 zusammenfand, organisatorisch der Pandemieleugner*innenszene zuzuordnen ist und bundesweit Untergruppen hat. ESA geht es nicht nur um einen Protest gegen die Maßnahmen, die als Kindesmisshandlung ohne rechtliche Grundlage dargestellt werden. Vielmehr ist ihr Ziel die Etablierung reaktionärer und rechter Diskurse im Kontext von Esoterik und 14 https://wgvdl.com/forum3/index.php?id=111712 (28.01.2022). 15 twitter.com. https://twitter.com/AfDStuttgart/status/1292670407074623489 (28.01.2022).

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Pädagogik. Ihr Ziel sind keine solidarischen Lösungen, denn die Langzeitfolgen von Coronainfektionen sind nicht ausreichend erforscht und fehlende gesellschaftliche Schutzmaßnahmen bedeuten besonders hohe Risiken für Kinder mit Vorerkrankungen. Statt entsprechend Schutzmaßnahmen wie Luftfilter, Masken und Tests an Schulen und Kitas zu fordern, kanalisiert ESA ihre Empörung durch das Verbreiten von Verschwörungserzählungen und in der Vernetzung mit weiteren Pandemieleugner*innen (Denk et al., 2021, S.  23–25). Für Lehrkräfte und Schulleitungen ist es aufgrund des oftmals harmlosen Auftretens und der Symbolik äußerst schwierig, zwischen legitimen Bedenken und Strategien von Pandemieleugner*innen zu unterscheiden (ebd., S. 10 und 18). Dabei muss das Phänomen ernst genommen werden: In der Pandemie nahmen die Konfliktsituationen an Schulen deutlich zu. Über 80 % der Gewalttaten dort gingen von Eltern aus (ebd., S. 25). Dies macht deutlich, dass ESA das vermeintliche Sprechen im Namen der Kinder nutzt, um ihre eigene Agenda durchzusetzen. Dabei bringen sie ihre Kinder in stetige Loyalitätskonflikte und riskieren deren soziale Isolation (ebd., S. 31). Unter dem Deckmantel der Kritik und einem vermeintlich harmlosen Auftreten schürt ESA Hass. So stellt ESA bspw. Kinderschuhe vor Rathäusern auf, um gegen staatliche Maßnahmen zu protestieren.16 Dies erinnert an Aktionen von selbsternannten Lebensschützern17, die Kinderschuhe als Symbol für abgetriebene Föten auf öffentlichen Plätzen abstellen und kann als Relativierung der Shoah gesehen werden. Denn Kinderschuhe werden oft symbolisch zur Darstellung der großen Zahl von jüdischen Kindern und Kindern anderer verfolgter Gruppen genutzt, die während des Nationalsozialismus ermordet wurden und deren Schuhe gesammelt und dann zur Wiederverwertung nach Deutschland zurückgeschickt wurden (Mass, 2021). Indirekt wird so die Situation 16 https://elternstehenauf.de/was-ist-ein-schuh-wer-antisemitismus-sucht-der-findet (28.01.2022). 17 Lebensschützer ist die Eigenbezeichnung von christlich fundamentalistischen GegnerInnen von Schwangerschaftsabbrüchen, die bspw. bei den jährlich stattfindenden Märschen für das Leben auftreten, Schwangerschaftsabbrüche als Mord darstellen, als Schwangerschaftskonfliktberatungsstellen inszenierte »Beratungsstellen« betreiben, in denen Schwangere ausschließlich zu einem Austragen der Schwangerschaft beraten werden, und teilweise vor Schwangerschaftskonfliktberatungsstellen Mahnwachen abhalten.

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der maskentragenden Kinder mit dem Leiden und der Verfolgung jüdischer Kinder während der Shoah verglichen. Die Instrumentalisierung des Kindeswohls hat auf Erwachsene als eine kulturell etablierte Chiffre eine viel größere Sogwirkung als auf Kinder (Denk et al., 2021, S. 37) – zentral legitimiert die Verwendung die eigene Opferinszenierung und die Behauptung, in einer »Corona-Diktatur« zu leben (ebd., S. 19). Die Verschränkung von ESA mit antifeministischen Milieus wird besonders deutlich, wenn man beachtet, dass ESA regelmäßig Posts der schon vorgestellten Demo für alle aufgreift, auch ohne spezifischen Pandemiebezug, und dass ESA auch in der verwendeten Bildsprache große Überschneidungen zu Demo für alle aufweist.18 Darüber hinaus postete eine Initiatorin von ESA am 20. Januar 2021 eine Linksammlung, in der es in ihren Worten unter anderem um die »perversen Grundlagen der Frühsexualisierung« ging, und behauptete: »Grüne fordern Legalisierung von Sex mit Kindern«.19 Dies sind dieselben Narrative, die auch die Demo für alle seit Jahren nutzt, um ihre eigenen politischen Haltungen mit Verschwörungserzählungen zu verknüpfen und moralisch aufzuladen, indem sie vorgeben, im Namen »unserer Kinder« zu sprechen, zuletzt auf ihrer Infobustour im Vorfeld der Bundestagswahl 2021 mit dem Ziel, »die Grünen zu verhindern«.20 Eine kontinuierliche Betrachtung der Chatgruppen und Infokanäle von ESA zeigt, dass dies keine Ausnahme ist. Darüber hinaus tauschten sich AkteurInnen der Demo für alle im Dezember 2021 mit Christin, der Vorsitzenden von ESA, in einem gemeinsamen Podcast publikumswirksam zu antifeministischen und pandemieverharmlosenden Inhalten aus (Burg, 2021). Das vermeintliche Sprechen im Namen »der Kinder« ist auch auf Querdenken-Demonstrationen ein beliebtes Mittel. So waren auf einer Demonstration in Stuttgart am Karfreitag 2021 viele Teilnehmende zu sehen, die eine vermeintliche Kindeswohlgefährdung durch Coronaschutzmaßnahmen behaupteten und dabei so weit gingen, die Schutzmaßnahmen als »Terror gegen unsere Kinder« zu bezeichnen. Eine 18 So teilte ESA eine Petition der Demo für alle mit dem Label »Familienschutz«. Bebildert war der Artikel mit der symbolischen Darstellung einer heterosexuellen Kleinfamilie, die stark an das Logo der Demo für alle erinnert. https://elternstehenauf.de/kinderrechte -in-unser-grundgesetz (21.01.2022). 19 https://t.me/eltern_stehen_auf/1229 (21.01.2022). 20 twitter.com. https://twitter.com/demofueralle/status/1441155500435853312 (28.01.2022).

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Demonstration in Hamburg im Januar 2022 lief unter dem Motto: »Das Maß ist voll – Hände weg von unseren Kindern«.21 Der oftmals verwendete Slogan »Schützt unsere Kinder« erinnert dabei auch an Kampagnen der Af D oder der Identitären, die sich um einen angeblichen »Frauenschutz« drehen. Frauen werden hierbei ähnlich wie Kinder in den zuvor erwähnten Beispielen zu schützenswerten und schutzbedürftigen Objekten gemacht, denen kein Raum für eigenes Agieren bleibt. Dies entspricht dem antifeministischen Weltbild, das nicht nur als Dyade zwischen cis Mann und cis Frau, sondern als eine Trias zu verstehen ist: der Mann als für die Öffentlichkeit zuständiges politisches Subjekt, der die Frau, die im privaten Raum bleiben soll, und Kinder, die (noch) keine vollwertigen politischen Subjekte sind, beschützen muss. Die Frau als schützende »Löwenmutter«

Neben der in antifeministischer und rechter Tradition stehenden Forderung »Schützt unsere Kinder« positioniert sich ESA auch weiter klassisch antifeministisch. So behaupten sie, dass der Mutterinstinkt durch den Feminismus unterdrückt werde, und transportieren ein konservatives bis reaktionäres Familienbild. In ihren Beiträgen zeichnet sie Frauen vor allem in einer Rolle als aufopferungsvolle Mutter, die für ihr Kind kämpft.22 Das Bild der tränenreichen Frau, die eine starke Schulter zum Anlehnen braucht, spricht insbesondere Männer an, die so einen vermeintlichen Beschützerinstinkt aktiviert sehen sollen. Für Frauen können diese antifeministischen Erzählungen attraktiv sein, weil es zu einer Aufwertung spezifischer Weiblichkeitsvorstellungen und Mütterlichkeitsbilder führt und damit das Engagement  – und die nicht entlohnte Arbeit – von Frauen in ihrer Rolle als Mutter legitimiert (Denk et al., 2021, S. 26). Auch seitens AkteurInnen der Demo für alle und der »Frauenbustour« im November und Dezember 2020 wurde das Bild 21 https://www.ndr.de/nachrichten/hamburg/Wieder-Demo-gegen-Corona-Massnahmen -in-Hamburg,corona9804.html (28.01.2022). 22 Symbolisch ist hier das Bild einer Mutter, die ihr Kind beschult und über das Kind einen Schutzschild hält, während auf sie brennende Pfeile und auf das Kind Spritzen geworfen werden; geteilt am 10.11.2021 im Chat von ESA Baden-Württemberg https://t.me/ ElternStehenAufBadenWuerttemberg/19109 (21.01.2022).

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von »Löwenmüttern« gezeichnet, die unter widrigsten Bedingungen ihr Kind vor den schlechten Einflüssen der Politik und insbesondere der Coronamaßnahmen schützen würden. Die »Frauenbustour« war angelehnt an die Bustour von Bodo Schiffmann und verbreitete coronaverharmlosende Inhalte. Sie bediente dabei geschlechterdualistische Diskurse und stellte insbesondere Mütter als hauptsächlich Sorgeverantwortliche dar. So war auf der Website der »Frauenbustour« kurzzeitig angekündigt, mit weiblicher Power einen Koffer voll Lösungen für die schwere Zeit der Pandemie mitzubringen. Der Bus wurde jedoch – anders als der von Schiffmann – innerhalb der Pandemieleugner*innenszene eher belächelt, was auf den Sexismus innerhalb der Szene schließen lässt (Blum & Schmid, 2021). Die aufwertende Deutung der ungleichen Verteilung von Care- und Reproduktionsarbeit und der Privatisierung gesellschaftlicher Auswirkungen ermöglicht eine Gegenerzählung zu der (feministischen) Kritik an einer gesellschaftlichen Retraditionalisierung geschlechtlicher Arbeitsteilung in der Coronapandemie. Denn das gehört auch zur gesellschaftlichen Realität: Die staatlichen Pandemiemaßnahmen, insbesondere die Lockdowns, haben Lebensgemeinschaften mit Kindern und zu pflegenden Angehörigen stark belastet und alleingelassen. Hier wurden stets individuelle und in der Konsequenz oft eine Retraditionalisierung begünstigende Lösungen gefunden (Kohlrausch & Zucco, 2020). ESA und Demo für alle bieten hier eine positive Selbstdeutung der frustrierenden Erfahrungen an. Insgesamt teilen Pandemieleugner*innen wie AntifeministInnen die Ablehnung staatlicher Maßnahmen und Einflüsse insbesondere auf den privaten Raum und glorifizieren die heterosexuelle Kleinfamilie. Diese wird als unpolitischer Raum angesehen, der nicht nur in der Pandemie, aber hier besonders vor äußeren Einflüssen geschützt werden müsse.

Ausblick Die Analyse zeigt, dass AntifeministInnen und Anhänger*innen von Verschwörungserzählungen ein antimodernes, das heißt gesellschaftlich liberale und pluralistische Verhältnisse ablehnendes Weltbild teilen, das auf binärem Denken aufbaut und Komplexitätsreduktion zum Ziel hat. Dies verwundert auch insofern nicht, wenn man sich vergegenwärtigt, 209

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dass antifeministische Erzählungen ohnehin stets eng mit verschwörungsideologischen Inhalten verschränkt sind. Wie Verschwörungserzählungen sind antifeministische Ressentiments insbesondere in Zeiten von gesellschaftlichen Veränderungen mobilisierbar. Auf Verunsicherung, sei es die Erweiterung von Liebes- und Lebensentwürfen oder die COVID-19-Pandemie, wird mit einer Sündenbockrhetorik, Aggression und Menschenfeindlichkeit reagiert. Wie die Entwicklungen seit Frühjahr 2020 zeigen, entstehen in der Kombination von Antifeminismus und Verschwörungserzählungen breite Bündnismöglichkeiten, die auf einem geteilten konservativen bis reaktionären Frauen- und Familienbild aufbauen und die Idealisierung und das Festhalten an Vergangenem beinhalten. Die Gefahr für die Zukunft muss insbesondere darin gesehen werden, dass (weitere) Bündnisse entstanden sind, die bei zukünftigen krisenhaften Anlässen reaktiviert werden können. Antifeminismus wirkt hier als verbindende Ideologie zwischen verschiedenen politischen Strömungen und sozialen Milieus. Daher halte ich es sowohl in Bezug auf präventive Maßnahmen als auch die weitere Forschung für notwendig, die Verschränkung von Antifeminismus und Verschwörungserzählungen in Zukunft noch systematischer und weiter empirisch zu untersuchen. Als gesellschaftliche Prävention gegen Verschwörungserzählungen ist darüber hinaus auf Empfehlungen unter anderem der Fachstelle RIAS Bayern zu verweisen, dass ein (früh) erlernter Umgang mit Unsicherheit und ein fehlerfreundliches Umfeld dem Glauben an Verschwörungserzählungen entgegenwirken kann: »Starke Persönlichkeiten […], die mit Unsicherheit souverän umgehen, Fehler eingestehen, komplexe Zusammenhänge als solche anerkennen können und nicht auf alles einfache Antworten suchen, sind deshalb tendenziell besser davor gefeit, Verschwörungserzählungen zu glauben« (RIAS Bayern, 2021, S. 13).23 Zu dieser Prävention gehört auch eine vielfaltsakzeptierende Pädagogik, auch im Bereich von Geschlecht und sexueller Vielfalt, die schon qua Ansatz einem Denken in Binaritäten entgegensteht. Eine Erziehung und Pädagogik, die sich im Sinne Theodor W. Adornos daran orientiert, »ohne Angst verschieden sein zu können«, lässt sich stets als Prävention gegen antifeministische, rechte und auf Verschwörungserzählungen basierende Welterklärungen verstehen. 23 Vgl. dazu auch den Beitrag von Melanie Hermann, Jan Rathje & Florian Eisheuer i. d. Bd.

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Biografische Notiz

Rebekka Blum ist Soziologin und promoviert an der Universität Freiburg mit einem Stipendium der Rosa-Luxemburg-Stiftung zu »Antifeminismus in Westdeutschland zwischen 1945 und 1990«. Sie ist Mitglied im femPI-Netzwerk (feministische Perspektiven und Intervention gegen die [extreme] Rechte) und arbeitet als Lehrbeauftragte, Publizistin und politische Bildnerin zu den Themen Antifeminismus, Verschwörungserzählungen und extreme Rechte.

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Von Verschwörungsideologien, Vernetzungsstrategien und Vernichtungsphantasien Digitale soziale Netzwerke, »alternative Heilmethoden« und Esoterik in der Covid-19-Pandemie Nora Feline Pösl

Vorwort Auf Plattformen wie Facebook, YouTube, Twitter und Telegram existiert bereits seit vielen Jahren eine kaum überschaubare Anzahl an Gruppen und Akteur*innen, die unwissenschaftliche Behauptungen zu Esoterik, alternativen Heilmethoden oder angeblichen alternativen Energiegewinnungssystemen verbreiten, die sie mit verschwörungstheoretischen Inhalten sowie teils rassistischen oder antisemitischen Ideologien verbinden. Durch Netzwerkeffekte (online- und offline) können Filterblasen entstehen, in denen Verschwörungsideologien als legitimes Wissen gelten, während widersprüchliche Meinungen diffamiert und abgewehrt werden, wodurch eine Abgrenzung nach außen stattfindet. Seit Beginn der Covid-19-Pandemie vernetzen sich Anhänger*innen von sog. alternativen Heilmethoden und Verschwörungsideologien nicht nur verstärkt in sozialen Netzwerken, sie gehen auch gemeinsam auf die Straße, um gegen die Infektionsschutzmaßnahmen zu protestieren. Durch soziale Netzwerkeffekte verstärkt sich die Verbreitung von Verschwörungsideologien, Filterblasen und Abgrenzungsprozesse erzeugen kollektiv Gruppenidentifikationen. Die Idee sich vom angeblichen gesellschaftlichen Mainstream, den »Schlafschafen« abzuheben und im Gegensatz zu diesen verstanden zu haben, was wirklich passiert, befriedigt das Bedürfnis nach Einzigartigkeit und erhöht das Selbstwertgefühl.1 Gleichzeitig eröffnet sich ein Markt an dubiosen Produkten, die als Wundermit1

Vgl. dazu auch die Beiträge von Florian Hessel, Frank-Andreas Horzetzky, sowie Carolin Engels & Sebastian Salzmann i. d. Bd.

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tel gegen Corona, zur »Ausleitung« von Impfstoffen oder zum Schutz vor Geimpften vertrieben werden. Zudem ist das Einwerben von Spendengeldern zur Organisation des vermeintlichen Widerstands eine einfache Einnahmequelle geworden, auf die sich diverse Akteur*innen schnell gestürzt haben. Es folgte eine rasante politische Radikalisierung innerhalb der Querdenken-Gruppierungen: Morddrohungen, Angriffe auf Journalist*innen und Polizist*innen, Anschläge auf Impfzentren bis hin zum Mord an einem Tankstellenmitarbeiter in Idar-Oberstein, der erschossen wurde, weil ein Coronaleugner Mord als gerechtfertigten Widerstand empfand gegenüber der Aufforderung, eine Maske zu tragen, und laut eigener Aussage ein Zeichen setzen wollte. In Chatgruppen von Coronaleugner*innen wird zu neuen »Nürnberger Prozessen« aufgerufen und die Gleichsetzung des Umgangs mit Ungeimpften mit dem Holocaust ist in diesen Kreisen normalisiert worden. Wie konnte es dazu kommen, dass sich heterogenen Gruppenzusammenhänge aus Anthroposoph*innen, Heilpraktiker*innen, Verschwörungsgläubigen, Rechtspopulist*innen und anderen Personengruppen bilden, und vor allem: Was bedeutet das für die demokratische Gesellschaft? Darauf versucht dieser Beitrag Antworten zu finden. Vor der Covid-19-Pandemie waren das Thema Verschwörungsideologien und deren Zusammenhänge mit »alternativen Heilmethoden« und esoterischen Glaubensvorstellungen eher ein Nischenthema. Zwar sind pseudomedizinische Verfahren in Deutschland weitverbreitet, die Homöopathie erfreut sich weiterhin großer Beliebtheit und Behandlungen durch Heilpraktiker*innen oder Osteopathie sind lukrative Geschäftszweige, da sie von manchen Krankenkassen sogar übernommen werden. Doch dass hier ideologische Verknüpfungen zu Verschwörungserzählungen gegeben sind, wurde von Forschung und Öffentlichkeit bislang wenig beachtet. Dies hat sich im Zuge der sog. »Querdenken-« oder »Coronaleugner*innen«-Demonstrationen verändert: Plötzlich zeigte man sich schockiert, wie es dazu kommen konnte, dass z. B. die Nachbar*innen aus vermeintlich links-alternativen Milieus mit Reichsbürger*innen und rechtspopulistischen Verschwörungsideolog*innen zusammen auf die Straße gehen. Diejenigen, die sich bereits zuvor mit dem Themenkomplex beschäftigt hatten, waren jedoch kaum überrascht  – vielmehr zeigte sich nun, was abzusehen war: Ideologien, die untereinander Parallelen aufweisen, kulminieren im Zuge einer Krise, als Weg aus der eigenen Ohnmacht und Verantwortung werden Verschwörungsideologien laut, es bilden sich Konglomerate an Gruppen, die vermeintlich nicht zusammengehören, 216

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aber faktisch über ihre Argumentationsstrukturen und ideologischen Hintergründe bereits zuvor miteinander verbunden waren. Solche Prozesse kollektiver und individueller Identitätsbildung über verschwörungsideologische Gruppenzusammenhänge können zu einer Radikalisierung der Teilnehmenden führen, da sie Gefahr laufen, in ein geschlossenes verschwörungsideologisches Weltbild abzudriften, in dem der Wissenschaft, Presse und Politik per se eine Zugehörigkeit zu einer großen Weltverschwörung zugeschrieben wird, während sich die Gruppierung selbst als Widerstand gegen ein vermeintlich diktatorisches (Impf-)Regime imaginiert und inszeniert. Eine solche Radikalisierung zeigt sich aktuell in zahllosen Holocaustrelativierungen, Hassnachrichten sowie in der zunehmenden Gewalt, die aus dem Spektrum der Coronaleugnenden erwächst.

Verbreitung von Verschwörungsideologien zu Covid-19 weltweit Im Zuge der Covid-19-Pandemie verbreiteten sich über soziale Medien weltweit »Fake News« und Verschwörungsideologien zur Entstehung, der Gefährlichkeit und der Existenz des Coronavirus, wie auch zu den Coronaimpfungen (Ghaddar et al., 2022; Naeem et al., 2021), sodass die WHO (2020) von einer »Infodemic« von Fehlinformationen sprach. Solche »Informations-Pandemien« zeichnen sich durch einen Überfluss an Informationen aus, der es schwierig macht, vertrauenswürdige Quellen von Fehlinformationen zu unterscheiden; sie wurden bereits bei vorherigen Epidemien wie dem SARS-Ausbruch 2003 und beim Ebola-Ausbruch in der Demokratischen Republik Kongo 2019 beobachtet (Ghaddar et al., 2022).2 Die Zunahme von Verschwörungsideologien im Zuge der Covid19-Pandemie und ihr Einfluss auf die Wahrnehmung von Medizin, Gesundheitsbehörden und den Gesundheitssektor an sich wurde von MarieJeanne Leonard und Frederick L. Philippe von der Université du Québec à Montréal in Kanada untersucht. Sie betrachten Verschwörungsvorstellungen als »public health concern«, da sie zu einem Misstrauen gegen die Wissenschaft und Autoritäten im Gesundheitsbereich und der Politik an sich und darüber zu einer gewaltvollen Radikalisierung führen können (Leonard & Philippe, 2021). Eine solche Radikalisierung lässt sich, wie 2

Vgl. auch den Beitrag von Julian Kauk und Kolleg*innen i. d. Bd.

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bereits im Vorwort angerissen, auch in Deutschland beobachten, wie im weiteren Verlauf noch thematisiert werden wird. Salman Bin Naeem, Rubina Bhatti und Aqsa Khan von der Islamia University of Bahawalpur in Pakistan arbeiteten 2020 zu den drei Ebenen der Desinformation prominente Beispiele heraus: So sei auf der Ebene der Falschbehauptungen verbreitet worden, das Coronavirus sei über Moskitostiche übertragbar; Kuhurin, Methanol oder Ethanol seien Heilmittel gegen Covid; oder dass bestimmte soziale Gruppen (wie Muslime in Indien) für die Verbreitung verantwortlich seien (Naeem et al., 2021). Zweitens seien Verschwörungserzählungen auch durch zentrale politische Akteure verbreitet worden; als Beispiel werden die Behauptungen Donald Trumps genannt, der sagte, das Virus sei in China gezielt gezüchtet worden, woraufhin in China verbreitet worden sei, die US-Armee habe Covid-19 nach Wuhan gebracht (ebd.). Auch bekannte Verschwörungsideolog*innen hätten den Diskurs befeuert, wie bspw. David Icke, der davon ausgehe, dass 5G-Mobilfunktechnologien für die Pandemie verantwortlich seien, ein Verschwörungsmythos, der auch in Deutschland weite Verbreitung fand (ebd.). Auf diese und weitere Verschwörungserzählungen wird im Folgenden vertieft eingegangen. Als drittes Feld benennen die Autor*innen die pseudomedizinischen, vermeintlichen Behandlungsmethoden, die ebenfalls in diesem Beitrag eine zentrale Rolle spielen: Homöopathie, sog. alternative Heilmethoden, Phytomedizin und traditionelle »Heilmittel« seien in Afghanistan, Bangladesch, Indien, Iran und Pakistan weit verbreitet und seien auch gegen das Coronavirus als wirksame Präventions- oder Behandlungsmethoden propagiert worden (ebd.). Um die ideologischen Zusammenhänge zu verstehen, folgen zunächst einige Worte zu den grundliegenden Verflechtungen von Esoterik und sog. alternativen Heilmethoden mit antisemitischen und rassistischen Verschwörungserzählungen.

Querdenken-Querfront: Das Milieu der Coronaverschwörungspropaganda in Deutschland Bereits in der im April 2019 erschienenen, repräsentativen Mitte-Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung zeigte sich, dass eine Verschwörungsmentalität in der deutschen Bevölkerung in großen Teilen vorhanden ist: Insgesamt 218

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stimmten 38,5 % der Befragten entsprechenden Aussagen zu (Zick et al., 2019). Fast die Hälfte der Bevölkerung glaube, dass »geheime Organisationen großen Einfluss auf politische Entscheidungen haben« (Rees & Lamberty, 2019, S. 210) und rund ein Drittel denke, dass »Politiker*innen und andere Führungspersönlichkeiten […] nur Marionetten dahinterstehender Mächte« seien (ebd., S. 213). Bei 74,7 % der Personen, bei denen sich eine Verschwörungsmentalität zeigte, liege auch ein Misstrauen in die Demokratie vor (Vergleichsgruppe ohne Verschwörungsmentalität: 48,3 %). Auch Gewaltbereitschaft und -billigung seien bei dieser Gruppe höher ausgeprägt. Die Autor*innen betonen zudem, dass der Glaube an Verschwörungserzählungen häufig mit antisemitischen Einstellungen einhergehe (ebd.). Lamberty und Imhoff (2018) haben in einer weiteren Studie zudem untersucht, ob eine Verschwörungsmentalität mit einer Präferenz für Alternativmedizin einhergehe. Sie konnten – noch vor dem Ausbruch der Coronapandemie – eine starke Korrelation feststellen: Je höher die Verschwörungsmentalität einer Person, desto stärker befürwortet diese Person alternative Heilmethoden und lehnt konventionelle Medizin ab. Gerade in Krisenzeiten steigt die Neigung zum Glauben an Verschwörungserzählungen. Die esoterisch-verschwörungsideologischen Strukturen, die bereits vor der Covid-19-Pandemie existierten, wurden im Zuge der Diskussionen um Maßnahmen und Einschränkungen zum Zugpferd einer Sammelbewegung, deren Größe innerhalb von zwei Jahre stark gewachsen ist und in der sich die soeben beschriebenen Zusammenhänge gegenseitig verstärkt haben. Die im November 2021 erschienene Studie Quellen des »Querdenkertums« von Nadine Frei und Oliver Nachtwey (2021) beleuchtet die Strukturen der Bewegung, jedoch liegt der Fokus auf BadenWürttemberg. Da sich die Ausrichtung und Zusammensetzung der Querdenken-Gruppierungen lokal stark unterscheidet, wird somit nur ein Teil der heterogenen Protestbewegung intensiv beleuchtet. Gerade in BadenWürttemberg sei der Anteil der Personen, die aus dem linksalternativen Milieu sowie dem Spektrum der Anthroposophie- und Esoterik-Anhänger*innen stammen, besonders hoch, während im Osten das Pegida-Spektrum aus AfD-Anhänger*innen und anderen rechtsextremen Akteur*innen die Querdenkenszene prägten. Ab März 2020 begannen verschiedene Gruppierungen, sich zu sog. Hygiene-Demonstrationen zusammenzufinden, um gegen die Coronaschutzmaßnahmen zu protestieren. In Stuttgart bildete sich die Initiative »Querdenken 711« um Michael Ballweg, die am 18. April 2020 die erste 219

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Demonstration als »Mahnwache für das Grundgesetz« durchführte (ebd.) Von anfangs rund 80  Personen im März wuchs die Zahl der Demonstrant*innen auf bis zu 15.000 Teilnehmende am 9. Mai 2020 in Stuttgart stetig an. In ganz Deutschland gründeten sich weitere Querdenken-Ableger, die in ihren Städten gegen die Coronamaßnahmen demonstrierten (ebd.). Am 29. August 2020 gingen ca. 40.000 Menschen in Berlin gegen die Infektionsschutzmaßnahmen auf die Straße, dabei versuchte ein Teil der Demonstrant*innen, das Reichstagsgebäude zu stürmen. Redebeiträge kamen sowohl von Attila Hildmann, der seine Karriere als veganer Koch zugunsten antisemitischer Verschwörungsideologien aufgab, von bekannten Verschwörungsideologen wie Oliver Janich, der schon weit vor der Pandemie auf YouTube rechte Verschwörungsnarrative verbreitete, als auch von Heilpraktiker*innen und homöopathischen Ärzt*innen. Es kam zu Angriffen auf Polizist*innen und Journalist*innen; die Veranstaltung wurde letztlich wegen Verstößen gegen die Infektionsschutzmaßnahmen aufgelöst. Die Bilder der Reichskriegsflaggen und Regenbogenfahnen schwenkenden Masse illustrieren seitdem sinnbildlich die vermeintlich widersprüchliche Heterogenität der Querdenken-Protestierenden (vgl. Rosenfelder, 2020). Holocaustrelativierungen wie der sog. Judenstern mit den Worten »nicht geimpft« sind auf nahezu jeder Querdenken-Demonstration zu sehen. Öffentlich präsente Wissenschaftler*innen werden mit Nazis verglichen: Es gab z. B. Aufkleber mit den Worten »trust me, I’m a doctor«, die den Virologen Christian Drosten neben Josef Mengele zeigen, dem Lagerarzt von Auschwitz, der Experimente an KZ-Insass*innen durchführte und Selektionen vornahm. Solche Vergleiche sind Ausdruck eines Projektionsmechanismus, durch den die politischen Gegner*innen als auch die Wissenschaft an sich durch das Framing als Nazitäter*innen delegitimiert und man selbst gleichzeitig als verfolgte Opfer stilisiert werden soll, die sich gegen die angebliche Unterdrückung der »Coronadiktatur« zur Wehr setzten (Balandat et al., 2021). Hierdurch kann über diese Abgrenzung nach außen das Gefühl von kollektiver Identität erzeugt und das eigene Handeln als Widerstand gegen ein vermeintlich »faschistisches Impfregime« imaginiert werden. Der »Querdenken 711«-Organisator Michael Ballweg ist breit vernetzt, er pflegt sowohl Verbindungen ins Reichsbürger*innen- und QAnon-Milieu, als auch zur linksalternativen Esoterik-Szene und zu anthroposophischen Akteur*innen in der Region. Durch seine Netzwerkarbeit gelang es Ballweg, die Querdenken-Bewegung zügig zu professionalisieren und über Spenden zu monetarisieren (Frei & Nachtwey, 2021; Speit, 2021). 220

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Als weitere Strategie der Etablierung benennen die Autor*innen der Baseler Querdenken-Studie die Institutionalisierung von Querdenken in Form von Parteien: Zunächst wurde die Partei »Widerstand 2020« gegründet, aus der sich dann die Parteien »Wir 2020« und »dieBasis« entwickelten (Frei & Nachtwey, 2021). Letztere trat sowohl bei den Baden-Württembergischen Landtagswahlen an, bei denen sie 1 % erreichte, als auch bei den Bundestagswahlen 2021, wo sie bundesweit 1,4 % der Zweitstimmen und innerhalb Baden-Württembergs 1,9 % erhielt (ebd.). Die Ziele von »dieBasis« sind unter anderem die Abschaffung der Coronamaßnahmen, insbesondere der Maskenpflicht, wie auch eine »freie Impfentscheidung« und das Recht auf ein »vielfältiges Gesundheitswesen«, in dem »Gesundheit, Prävention, Selbstbestimmung und Eigenverantwortung vor Profit« stünden, weshalb sich »die Partei dieBasis auch klar zum Heilpraktiker*innenberuf, der Homöopathie und zu anderen traditionellen Therapieverfahren« bekenne (DieBasis, 2021). Bereits im Vorfeld der Bundestagswahl 2021 wurden Behauptungen eines angeblichen Wahlbetrugs verbreitet, in einschlägigen Telegram-Gruppen war zwischenzeitlich von einem Wahlerfolg der Basispartei von rund 20 %-Punkten ausgegangen worden, ermittelt durch Umfragen in entsprechenden Telegramgruppen. Auch auf Twitter wurde die Verschwörungserzählung einer Manipulation der Wahl verbreitet. Die AfD habe laut deren Anhänger*innen angeblich ebenfalls mehr Stimmen bekommen, als offiziell gezählt worden seien, da es nicht sein könne, dass sie nur 11 %-Punkte erzielte (Klatt, 2021). Die Bildung solcher Querfrontstrukturen im Online- und OfflineRaum im Sinne von Gruppierungen, die sich aus Personen mit ursprünglich linker und rechter politischer Ausrichtung zusammensetzen und die sich über verschwörungsideologische Inhalte verbinden, war bereits 2014 zu beobachten, in Form der »Montagsmahnwachen für den Frieden«, bei denen Akteure wie Ken Jebsen und Jürgen Elsässer bereits eine zentrale Rolle spielten (vgl. Hammel, 2015), die auch jetzt den verschwörungsideologischen Diskurs um Covid-19 mitprägen. Rechtspopulistische Akteure wie Jürgen Elsässer, der das Compact-Magazin herausgibt, Götz Kubitschek sowie der rechtsextreme Kopp-Verlag und Verschwörungsideologen wie Oliver Janich, Michael Friedrich Vogt oder Ken Jebsen erzeugen seit Jahren eine gezielte Vermischung von gesundheitsbezogenen Themen wie Ernährung, Impfskepsis oder sog. alternativen Heilmethoden mit Verschwörungsideologien sowie antisemitischen und rassistischen Ideologien und »Brauner Esoterik«, die sie auf verschiedenen Plattformen sowohl online 221

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als auch offline verbreiten. Ken Jebsen hat sein Format an Alex Jones angelehnt und ist ebenfalls bereits seit rund zehn Jahren in diesem Spektrum aktiv. Nachdem er 2011 beim RBB wegen Holocaustleugnung gekündigt wurde, betrieb er seit 2012 den YouTube-Kanal KenFM, auf dem er diverse Verschwörungserzählungen verbreitete. Seit August 2020 bis zum aktuellen Zeitpunkt zu Beginn des Jahres 2022 ebbten die Proteste gegen die Coronamaßnahmen und seit Anfang 2021 gegen die Coronaimpfungen nur zwischenzeitlich im Sommer 2021 geringfügig ab, als die Inzidenzen niedrig waren und Covid-19 medial in den Hintergrund geriet. Stattdessen ließ sich seit der Diskussion um eine Impfpflicht ab Herbst 2021 eine Radikalisierung beobachten: Die Demonstrationen wurden aggressiver, die Angriffe auf Polizist*innen und Pressevertreter*innen häuften sich (Bayrischer Rundfunk, 2022; Livshits, 2022; ntv, 2021), es kam vermehrt zu Anschlägen auf Impfzentren, Testzentren und zugehöriges Gesundheitspersonal (Fieber, 2021; Naumann & Kamann, 2021).

Digitale soziale Netzwerke und ihre Dynamiken Michel Maffesoli prägte den Begriff des Neotribalismus, er beschreibt damit Subkulturen mit eigenen sozialen Normen und Ritualen, die sich über ihren Auftritt nach außen hin manifestieren und durch affektive Bindungen aneinander vergemeinschaften. Für virtuelle Gemeinschaften, die nach diesem Prinzip funktionieren, hat sich der Begriff E-Tribes (electronic tribes) durchgesetzt ( Janowitz, 2009). Diese Online-Communities können als Formen posttraditionaler Vergemeinschaftung verstanden werden: Sie zeichnen sich durch Netzwerkstrukturen aus, die über ein gemeinsames Thema (z. B. die Ablehnung von Maßnahmen, Coronaleugnung oder die Impfpflicht) und/oder über Emotionen miteinander verbunden sind und sich häufig situationsbedingt oder affektgesteuert bilden (ebd.). Durch Netzwerkeffekte in sozialen Medien können Filterblasen entstehen, in denen Verschwörungsvorstellungen als legitimes Wissen gelten, während eine Abgrenzung nach außen stattfindet, wodurch kollektive Gruppenidentitäten verstärkt werden (González-Padilla & Tortolero-Blanco, 2020; Pösl, 2020). Dies wird verstärkt durch zentrale Akteur*innen, die eine hohe Reichweite auf Social Media-Plattformen haben und alternativmedizinische Themen sowie esoterische Weltanschauungen mit antisemitischen und rassistischen Verschwörungsmythen verbinden (Pösl, 2020). 222

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Seit dem islamistischen Terroranschlag am 11. September 2001 und der breiten Verfügbarkeit des Internets lässt sich eine Popularisierung von Verschwörungserzählungen feststellen. Seit der Gründung der Website »info wars.com« durch Alex Jones, der auch auf YouTube diverse verschwörungsideologische Inhalte verbreitete,3 haben sich Netzwerke und Plattformen etabliert, die Verschwörungsideologien zu aktuellen Ereignissen, aber auch häufig zu Themen wie Esoterik, angeblichen alternativen Heilmethoden u. a. Beiträge verbreiten. Auf Plattformen wie Facebook und YouTube existierte bereits vor der Pandemie eine kaum überschaubare Anzahl an Gruppen und Akteur*innen, die ungesicherte Quellen zu alternativen Heilmethoden oder »Energiegewinnungssystemen« verbreiten, die sie mit rassistischen oder antisemitischen verschwörungsideologischen Inhalten wie bspw. der Reichsbürger*innenideologie verbinden (Bundesamt für Verfassungsschutz, 2018). Plattformen und zentrale Akteur*innen

Während die Verbreitung verschwörungsideologischer Inhalte in sozialen Netzwerken, insbesondere auf YouTube, vor der Coronapandemie tendenziell algorithmisch befördert wurde (Pösl, 2020; Ribeiro et al., 2019), kam es im Zuge der massiven Welle an Fehlinformationen und Verschwörungstheorien zu Covid-19 durch sozialen und politischen Druck zu verstärkten Bestrebungen der Netzwerkbetreibenden, den Desinformationskampagnen entgegenzuwirken. So begann bspw. Twitter, Fake News zu Corona als unseriös einzustufen und als Desinformationen zu kennzeichnen, geprüfte Gesundheitsinformationen prioritär anzuzeigen und bei wiederholten Verstößen gegen die Richtlinien auch Accounts zu sperren, die gezielt Fehlinformationen verbreiten, zu Gewalt aufrufen oder Hassnachrichten versenden. YouTube sperrte ebenfalls diverse Kanäle, wie z. B. den Videokanal von Ken Jebsen, KenFM, und passte seine Algorithmen an. Dies führte (insb. in Deutschland) in Teilen zu einer Verlagerung der Kommunikation und Mobilisierung auf den Messengerdienst Telegram (Frei & Nachtwey, 2021), der keinerlei inhaltsbezogenen Regulation unterliegt. Dennoch findet auch auf Plattformen wie Twitter, Instagram und Facebook weiterhin eine verschwörungsideologische Desinformationsverbreitung, Vernetzung und Mobilisierung statt. 3

Vgl. dazu auch den Beitrag von Deborah Wolf i. d. Bd.

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Jedoch gibt es deutliche Unterschiede zwischen den digitalen sozialen Netzwerken, die durch die jeweilige Struktur, aber auch die Nutzung der Akteur*innen bedingt sind. Um alle Plattformen und ihre Strukturen zu beleuchten, fehlt an dieser Stelle der Platz, daher wird beispielhaft auf die unterschiedlichen Dynamiken auf Twitter und Telegram eingegangen  – zum einen, weil sie sich stark unterscheiden, zum anderen, weil auf diesen beiden Plattformen über die API (application programming interface) die Inhalte exportiert und ausgewertet werden können, während dies bei Instagram und Facebook nicht der Fall ist. Auf Telegram gibt es die Möglichkeit, Kanäle zu erstellen, die unidirektional sind, also in denen nur die Person, die den Kanal erstellt hat, Inhalte posten kann, oder Gruppen einzurichten, in denen alle Personen etwas schreiben und kommentieren können. Die zentralen Akteur*innen aus dem verschwörungsideologischen Coronaleugnungs- und Maßnahmenverweigerungsspektrum haben primär Kanäle, in die sie selbst Sachen posten bzw. Links zu Artikeln oder Beiträge aus anderen Kanälen teilen. Einige Personen, wie bspw. Bodo Schiffmann, ehemaliger HNO-Arzt und Querdenken-Mitorganisator, betreiben zusätzlich Gruppen, in denen sie selbst wenig aktiv sind, in denen sich jedoch die Community austauschen kann (CeMAS, 2021). Diese Gruppen werden meist durch einige Admins moderiert, die in dieser Position auch Personen aus dem Chat entfernen oder sie verwarnen können. Solche Ausschlüsse von einzelnen User*innen aus den Gruppen werden häufig vorgenommen, sobald von diesen Kritik geäußert oder zu Behauptungen skeptisch nachgefragt wird. Hierdurch entstehen Gruppen, in denen ein geschlossenes verschwörungsideologisches Narrativ vorherrscht, da jeglicher Widerspruch mit dem sozialen Ausschluss aus dem vermeintlichen Kollektiv geahndet wird. Insgesamt wird auf Telegram deutlich offener zu Gewalt aufgerufen, auch Volksverhetzung und Holocaustleugnung wird nicht durch Telegram reguliert und kann dementsprechend dort ungestört stattfinden (Wiebe, 2022). Auf Twitter findet hingegen ein reger Austausch verschiedener sozialer Gruppen mit gegensätzlichen Meinungen und Haltungen statt, da über die Suche nach Schlagworten oder Hashtags jeder öffentliche Tweet einsehbar und kommentierbar ist (außer, die Kommentarfunktion wurde bewusst eingeschränkt). Dies führt eher zu einem Schlagabtausch gegensätzlich argumentierender Akteur*innen und Gruppen, wobei über die gemeinschaftliche Beschäftigung mit dem »gegnerischen Lager« zwischen den Vertreter*innen einer bestimmten Gesinnung ebenfalls das Gefühl sozia224

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ler Gruppenidentität und Vergemeinschaftung erzeugt werden kann, bei gleichzeitiger Abgrenzung gegenüber den »gegnerischen« Akteur*innen. Eine weitere Spielart ist die Übernahme von Hashtags der opponierenden Gruppen, um diese mit dem eigenen Narrativ zu besetzen. Worthäufigkeitsanalysen auf Twitter

Um Beziehungsnetzwerke strukturell zu untersuchen und davon ausgehend auf abstrakte soziale Strukturen und Rollenkonfigurationen auf gesellschaftlicher oder Community-Ebene zu schließen ( Jansen, 2003), können soziale Netzwerkanalysen durchgeführt werden. Für den vorliegenden Beitrag wurden Auswertungen von Worthäufigkeiten in Bezug auf die Thematik der Coronamaßnahmen und im Speziellen den Impfungen durchgeführt. Hierzu wurden mittels der Software Netlytic seit April 2020 kontinuierlich Daten auf Twitter zu unterschiedlichen Hashtags und Suchbegriffen erhoben, die als relevant für den aktuellen Diskurs identifiziert wurden, weil sie bspw. in den Trends erschienen. Hierfür wurde ein neuer Twitteraccount angelegt und den bekannten zentralen Akteuren Ken Jebsen und Oliver Janich gefolgt, anschließend wurden über die algorithmischen Empfehlungen von Twitter Follower*innen hinzugefügt. Über Netlytic können pro Datenset 100.000 Tweets gespeichert werden, die Datenerhebung erfolgt alle 15 Minuten automatisiert. So können für einen gewissen Zeitraum zu definierten Suchbegriffen Daten erhoben werden. Für die im Folgenden vorgestellten Datensets wurden die Datensets in bestimmte Zeiträume aufgeteilt, um Veränderungen bei den meistgenutzten Begriffen zu erkennen. Vom 30. April 2020 bis zum 30. April 2021 wurden 46.417 Tweets erhoben, die erste Suche startete zu den Begriffen »Corona«, »#Lockdown«, »#covid-19«, »#coronavirus« und »Plandemie« (mit Oder-Verknüpfungen), da dies zu dem Zeitpunkt die häufigsten genutzten Hashtags bzw. Begriffe in diesem Themenfeld auf Twitter waren. An den Häufigkeiten der meistbenutzten Hashtags und Begriffe lassen sich erste Schwerpunkte der Debatte sowie auch zentrale Akteur*innen ablesen: Ken Jebsens Account »@TeamKenFM« etwa wurde innerhalb dieses ersten Jahres 11.059-mal erwähnt. Der Großteil dieser Tweets bezieht sich auf das Thema Coronamaßnahmen, die Tweets an Ken Jebsen 225

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benutzen häufig gleichzeitig die Begriffe »#coronadiktatur« (n=1.236), sprechen von der »New World Order« (»#NWO«, n=615)) und dem »#GreatReset« (n= 1.465) im Kontext der Pandemie, die sie als »#Plandemie« (n=1.090) bezeichnen. Ebenfalls häufig werden die Querdenken-Akteure Michael Ballweg (»@michael_ballweg«, n=995) und Wolfgang Wodarg (»@wodarg«, n=1.014) adressiert. Dr. Wolfgang Wodarg ist Mediziner, er verbreitet seit Beginn der Pandemie das Narrativ, dass alles »Panikmache« bzw. Covid19 wie die Grippe sei und es keine Übersterblichkeit gäbe. Hierzu gibt er häufig verfälschte oder falsch interpretierte Ausschnitte aus Studien und Statistiken wieder. Er behauptete auch, die Impfung mache unfruchtbar (Psiram, 2022). Unter »#BillGates« (n= 1.092) finden sich zahlreiche antisemitische Verschwörungsmythen, es wird von der »NWO« und einer angeblichen Diktatur gesprochen, die bereits zu diesem Zeitpunkt schon mit dem »#Impfzwang« verbunden werden. Das Datenset wurde dann im August 2020 durch die Hashtags, die sich in den bisher erhobenen Posts als relevant darstellten, ergänzt. Die Suchbegriffe waren seitdem bis zum jetzigen Zeitpunkt: »#impfzwang« OR »#impfdiskriminierung« OR »#impfdiktatur« OR »#IchMachDaNichtMit« OR »#Maulkorbzwang« OR »#CoronaDiktatur«. Vom 30.  April 2021 bis 21.  September 2021 wurden insgesamt N= 53.601 Tweets erhoben, somit fielen in den fünf Monaten mehr Tweets zu den Begriffen an als in dem ganzen Jahr davor. Ab dem Moment, als im August 2021 seitens der Politik in Deutschland begonnen wurde, entgegen der vorherigen Aussagen über eine mögliche Impfpflicht zu diskutieren, gab es einen erheblichen Peak in der Häufigkeit der Debatte um Impfungen. Im Zeitraum Mai bis September 2021 wurden 39.099 Tweets zum Hashtag »#Impfzwang«, 14.622 zu »#impfpflicht« und 8.072 zu »#impfdiskriminierung« verfasst. Doch auch geschichtsrevisionistische Schlagworte wie »#Impffaschismus« und »#Impfapartheid« werden genutzt, die den tatsächlichen Faschismus und das rassistische Apartheitsregime in Südafrika verharmlosen. Der hier als Abbildung 1 abgedruckte Post illustriert beispielhaft die inflationäre, geschichtsrevisionistische Nutzung von Begriffen wie Genozid, vermengt mit Forderungen nach einer Todesstrafe gegenüber denjenigen, die für eine Impfpflicht sind. Solche Aussagen sind auch auf Twitter kein Einzelfall, bei Telegram sind sie sogar üblicher Umgangston (Bautze, 2021). 226

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Abb. 1

Die Diskussion um die Impfung bleibt auch im Zeitraum von September 2021 bis Januar 2022 mit 40.449 Posts zu »#Impfzwang« das zentrale Thema, zudem ist die Anzahl der Tweets zu dem Themenkomplex insgesamt noch einmal deutlich gestiegen (N=85.526). Weiter wird der Tonfall trotziger und aggressiver, wie sich an Hashtags wie »#ImpftEuchInsKnie« ablesen lässt (n=24.279). Zudem wird versucht, Angst vor der Impfung zu verbreiten, indem Geschichten von angeblichen Todesfällen im Nachgang einer Impfung unter dem Hashtag »#ploetzlichundunerwartet« verbreitet werden (n=6.235). Dieser Hashtag und das zugehörige Narrativ von angeblichen Impftoten werden im Februar 2022 weiterhin stark bespielt, wie die Worthäufigkeitsanalyse zeigt, sind es allein im Januar 2022 rund 16.968 Posts zu dem Hashtag in dieser Schreibweise, hinzu kommen weitere 11.115 Posts zu »#plötzlichundunerwartet« (mit ö). Das Thema Impfungen war bereits vor der Coronapandemie ein beliebter Einstiegspunkt für Verschwörungserzählungen, insbesondere aus dem Spektrum von Personen, die eher alternativen Heilmethoden zugeneigt sind (Hoffman et al., 2019; Jolley & Douglas, 2014; Pösl, 2020). In der Covid-19-Pandemie speiste sich ein nicht unwesentlicher Anteil der Personen ebenfalls aus esoterisch-alternativmedizinischen Gruppierungen.

Von Esoterik, »alternativen Heilmethoden« und dem Hang zu Verschwörungsideologien Welche ideologischen Zusammenhänge und Parallelen zwischen Esoterik, dem Glauben an sog. alternative Heilmethoden und Verschwörungserzählungen bestehen, wird nicht erst seit der Covid-19- Pandemie diskutiert und erforscht. Der Begriff der Esoterik entstammt dem Altgriechischen (ἐσωτερικός [esōterikós]: innerlich/nach innen gerichtet) und bezeichnete im späten 18. und 19. Jahrhundert Europas eine Art elitäre Geheimlehre in Abgrenzung zum exoterischen Wissen, das allgemein zugänglich ist. Ursprünglich bezieht sich Esoterik auf Riten und Gebräuche, die im Geheimen stattfinden und nur einem inneren Kreis an Personen zugänglich sind (Strube, 2017; Hanegraaff, 227

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2012). Heutzutage wird der Begriff der (westlichen) Esoterik synonym zu Okkultismus als Sammelbegriff für mystizistische, heterodoxe Weltanschauungen, Lehren und Praktiken verwendet, die auf die spirituelle Entwicklung des Menschen durch Erkenntnisse über das vermeintlich vollkommene, verborgene Wissen über das Übersinnliche und Geistige abzielen (Christiansen et al., 2006; Strube, 2021; von Stuckrad, 2010). Die westliche Esoterik greift auf diverse Traditionen der mystischen Philosophie, spirituelle und religiöse Traditionen sowie auf spiritistische, alchemistische Praktiken, Astrologie und magisches Denken zurück (Bergunder, 2008; Hanegraaff, 2012; von Stuckrad, 2010) und bildet so eine spezifische Denkform (Hanegraaff, 2006). Die moderne westliche Esoterik umfasst diverse Glaubensansichten und Verfahren, die gemeinsam haben, dass sie nicht evidenzbasiert, nicht reproduzierbar und somit mit wissenschaftlichen Methoden nicht belegbar sind (Christiansen et al., 2006; Zinser, 2006). Beispiele moderner westlicher Esoterik sind Praktiken wie Kartenlegen, Hellsehen, Wahrsagen, das Pendeln, die Edelsteintherapie (Iwersen, 2001; Zinser, 2009). Zahlreiche sog. alternative Heilmethoden, die auf der behaupteten Heilkraft durch geistige Kräfte (»Geistheilung«) basieren, lassen sich in diesen Bereich einordnen (Prang, 2014; Zinser, 2009). Zentral im esoterischen Denken ist zum einen das Analogieprinzip, das annimmt, dass überall im Universum die gleichen Gesetzmäßigkeiten herrschten und bspw. die Planetenkonstellation, Sonne und Mond nicht nur einen Einfluss auf den menschlichen Organismus hätten, sondern sich sogar auf den Körper übertragen ließen (Herz=Sonne, Gehirn=Mond etc.) (Lambeck, 2014). Zum anderen ist im esoterischen Weltbild die Annahme elementar, dass es eine geistige Ebene gebe, die getrennt von Materie sei und somit außerhalb des körperlichen Daseins existiere und es somit auch eine Art Universalwissen gebe, auf das auf geistiger Ebene zurückgegriffen werden könne, zumindest der Kreis der spirituellen Personen (ebd.). Die von Blavatsky und Steiner vertretenen westlichen Vorstellungen von Karma und Reinkarnation als Mittel zur spirituellen Entwicklung bis hin zur Erleuchtung sowie die Idee einer geistigen, kosmischen Welt, bevölkert mit übernatürlichen Wesenheiten, die nur einem eingeschränkten Kreis an Personen Auskunft gäben, bilden einen weiteren Grundpfeiler des noch heutzutage kursierenden esoterischen Denkens. Die Vorstellungen von Reinkarnation, Karma und den verborgenen kosmischen Kräften in der westlichen Esoterik (bei Steiner und Blavatsky) entstanden im gleichen historischen Kontext wie der rassistische Antisemi228

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tismus und der völkische Nationalismus des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts, sie wurden daher bereits von Beginn an in Teilen mit antisemitischen und rassistischen Ideologien verknüpft (ebd.; Sebastiani, 2021; Steiner, 1987). Sowohl die Esoterik als auch der völkische Nationalismus mit seiner rassistisch aufgeladenen »Blut und Boden«-Ideologie können als antirationale Reaktionen auf die Moderne, als eine Abwehr der Aufklärung und der rationalistischen »Entzauberung der Welt« mittels Rückzugs in ein traditionalistisches, magisches Denken, ins Mythische, Irrationale und Übersinnliche eingeordnet werden. Antisemitische Narrative lassen sich problemlos in ein esoterisches Weltbild einfügen, wie die sog. Ariosophie und »Blut und Boden«-Mystik des angeblichen Germanentums im Nationalsozialismus, aber auch neuere Ableger der Esoterik zeigen, z. B. die völkische AnastasiaSiedlungsbewegung. Diese Ausprägung der völkisch-nationalistisch aufgeladenen Esoterik wird auch als rechter Okkultismus oder »Braune Esoterik« bezeichnet (Klump, 2001). Die vermeintliche Rückbesinnung auf die Naturverbundenheit und die Abwendung von materialistischen Sichtweisen auf die Gesellschaft stellen Anknüpfungspunkte für völkische Ideologien, Nationalismus und (wissenschaftsfeindliche) Verschwörungsideologien dar, wie sich auch an Zusammenschlüssen von Anthroposoph*innen, Heilpraktiker*innen, Reichsbürger*innen und Verschwörungsideolog*innen mit diversen rechtspopulistischen oder offen rechtsradikalen Gruppierungen bei den sog. Querdenken-Protesten gegen die Infektionsschutzmaßnahmen in der Covid-19-Pandemie zeigte. Für die von Rudolf Steiner im späten 19. Jahrhundert begründete Anthroposophie ist die Menschheitsgeschichte eine stufenweise Entwicklung, die menschliche Entwicklung auf der Erde sei in sieben »Wurzelrassen« mit je sieben Unterrassen angelegt; die fünfte, die sog. arische Wurzelrasse mit der »nordisch-germanischen Unterrasse« sei vom Jahr 1415 bis 3573 zur Führung der Menschen auserkoren (Bierl, 2015; Sebastiani, 2021). Schwarze Menschen würden »Licht und Wärme vom Weltenraum aufsaugen« (Steiner, zit. n. Höfer, 1993, S. 8f.), wodurch die Haut dunkel werde. Aufgrund dieser Hitze seien Schwarze Personen trieb- und instinktgesteuert, während die Weißen »Arier« (sic!) vernunftgeleitet und rational seien (Bierl, 2015). Steiner reproduziert somit rassistische Stereotype unzivilisierter, triebhafter Schwarzer Menschen und zivilisierter, kultivierter, Weißer Personen, denen er zudem eine kosmisch vorbestimmte Führungsposition zuschreibt. Steiner hatte zudem antisemitische Tendenzen, er betrachtet das Judentum als eine unterentwickelte Vorstufe des Christentums, die durch die Geburt Jesu ab229

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geschlossen worden sei, wodurch das Judentum keine Berechtigung in der heutigen Zeit mehr habe (ebd.; Wagner, 2013). Chantal Magnin und Marianne Rychner (1999) setzen sich ebenfalls mit der Frage auseinander, weshalb rechtes oder antisemitisches Gedankengut in esoterischen Kreisen immer wieder auf fruchtbaren Boden fällt; hierbei stoßen sie bspw. auf die Parallele der Konstrukte der »kosmischen Kräfte« und des »ewigen Juden«. Beiden werde eine Allmacht zugeschrieben, die die Geschicke der Menschen leite und sie somit einer gewissen Ohnmacht ausliefere (ebd.). Hinzu kommt jedoch noch die Annahme, dieses Ohnmachtsgefühl durch ein spirituell hoch entwickeltes Denken lenken zu können, also entsteht eine Ambivalenz von Ohnmacht und Allmacht. Das kann zu einem Überlegenheitsgefühl gegenüber den Personen führen, die nicht an die esoterische Weltanschauung glauben, da diese laut dieser Denkweise »die Wahrheit« nicht erkennen würden, wodurch wiederum eine Abgrenzung entsteht (ebd.). Diese Projektion und Zuschreibung von Steuerungsmacht entbindet scheinbar von eigener Verantwortung, ein Motiv, das wir in der Coronapandemie besonders deutlich beobachten konnten. Impfskepsis als Anknüpfungspunkt für alternative Heilmethoden, antisemitische Verschwörungsmythen und politische Agitation

Die Ablehnung von Impfungen ist kein neues Phänomen, auch Verschwörungserzählungen zu Impfungen gibt es im Grunde bereits, seit es Impfungen gibt. Dies zeigt der Historiker Malte Thießen in einem 2013 erschienenen Beitrag am Beispiel Deutschlands auf: Im Deutschen Kaiserreich wurde 1874 durch das »Reichsimpfgesetz« eine Impfpflicht (mit Androhung körperlicher Zwangsdurchführung) für die Pockenschutzimpfung eingeführt, die in der Weimarer Republik beibehalten wurde. Unterschiedliche politische Kräfte hätten damals die Frage nach dem Impfzwang genutzt, so Thießen, um sich politisch zu positionieren, wie im Falle der Sozialdemokrat*innen, denen es um sozialpolitische Profilierung ging, oder durch die katholische Zentrumspartei, indem persönliche Freiheitsrechte betont worden seien. Andere Gruppierungen lehnten Impfungen generell ab, wie der »Deutsche Reichsverband zur Bekämpfung der Impfung«, bei dem laut Thießen 300.000 Mitglieder organisiert gewesen seien, die Druckwerke gegen die Impfung herausgegeben und »Volksversammlungen gegen den Impfwahn« (ebd., S. 43) 230

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durchgeführt hätten. Das Milieu der impfskeptischen Personen sei heterogen gewesen: »Unter der Fahne des ›Impfgegners‹ fanden sich Lebensreformer und Sozialmediziner ebenso zusammen wie Naturheilkundler, Kulturkritiker oder Fortschrittspessimisten, die ›der‹ Schulmedizin, ›dem‹ Ärztestand sowie der staatlichen Gesundheitspolitik den Kampf ansagten« (ebd.). Hier zeigen sich deutliche Parallelen zum Spektrum der heutigen Impfgegner*innen, das sich bereits vor der Coronapandemie aus Anhänger*innen alternativer Heilmethoden und Kritiker*innen der konventionellen Medizin speiste, die sich – häufig verbunden mit Fortschritts- und Wissenschaftsfeindlichkeit – auf angebliche Impfschäden beriefen und Impfungen als per se negativ betrachteten. Beth L. Hoffman und ihre Kolleg*innen untersuchten die Intentionen von Impfkritiker*innen mittels qualitativer Netzwerkanalyse von Facebook-Einträgen und fanden vier zentrale Motive für Impfskepsis: 1. ein mangelndes Vertrauen in die Wissenschaft, 2. die Bevorzugung von Alternativmedizin, 3. die Sorge über Inhaltsstoffe und Nebenwirkungen und 4. der Glaube an eine Verschwörungserzählung, die davon ausgeht, dass gezielt durch Regierungen oder andere Institutionen Informationen über die Gefahren des Impfens zurückgehalten werden, dass Viren gar nicht existieren oder dass Impfungen bewusst zur Schädigung der Bevölkerung eingesetzt würden (Hoffman et al., 2019). Entsprechende Verschwörungsmythen habe es bereits zum Pockenimpfstoff gegeben, so sei die Impfung von NS-Ideologen wie Julius Streicher als »Rassenschande« deklariert worden, verbunden mit der Behauptung, die Impfpflicht sei maßgeblich durch jüdische Abgeordnete beschlossen worden, um Kontrolle auszuüben (Thießen, 2013). In diesem historischen Kontext entstand auch der Begriff der »verjudeten Schulmedizin«, auf den sich noch heute antisemitische Verschwörungsideologien sowie rechtsesoterische pseudomedizinische Konzepte wie die »Germanische Neue Medizin« nach Geert Hamer berufen (Pöhlmann, 2021; Psiram, 2020), um Wissenschaftsfeindlichkeit und Impfskepsis zu schüren. Dennoch wurde die Impfpflicht im Nationalsozialismus nicht ausgesetzt, sondern lediglich gelockert; stattdessen wurde an die »Volksgesundheit« appelliert, um die Impfquote zu erhöhen (Thießen, 2013). Im Zuge der Covid-19-Pandemie hat die Verbreitung antisemitischer Verschwörungsbehauptungen noch stärker zugenommen, so wird auf die angebliche »jüdische Weltverschwörung« rekurriert, häufig personalisiert und codiert, indem Personen wie George Soros, Bill Gates oder »die 231

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Rothschilds« als Teil der vermeintlichen Verschwörung deklariert werden (Balandat et al., 2021; Pösl, 2020). Häufig beruft man sich hierbei auf die Protokolle der Weisen von Zion, eine antisemitische Propagandaschrift, die davon ausgeht, dass es ein »Weltjudentum« gebe, das anstrebe, die Weltherrschaft zu übernehmen (Sammons, 2017; Wippermann, 2007). Der Text wurde erstmals 1903 im zaristischen Russland veröffentlicht und ist bereits 1921 als Erfindung entlarvt worden (Wippermann, 2007), dennoch ist er bis heute die Grundlage diverser Verschwörungsideologien. Auch das Verschwörungsnarrativ der »New World Order (NWO)« basiert darauf, dass das imaginierte Kollektiv des »Weltjudentums« bereits alle mächtigen Institutionen, z. B. die UNO, die CIA, die Bilderberg-Konferenz, die Pharmaindustrie, die WHO und diverse andere Gremien unterwandert habe (Baldauf, 2015) und im Geheimen Wirtschaft, Wissenschaft, Politik und Medien kontrolliere. Die Verbindung von Impfskepsis, Esoterikglauben und antisemitischen Verschwörungsideologien ließ sich bei den Demonstrationen gegen die Coronamaßnahmen gut beobachten: Einerseits wird Bill Gates, »den Rothschilds« und den geheimen »Eliten« die Schuld an der Pandemie bzw. an den Maßnahmen zugeschrieben, die Impfung wird als Mittel der Bevölkerungskontrolle oder sogar -dezimierung betrachtet, während gleichzeitig propagiert wird, dass ein gutes Immunsystem, Spiritualität und sog. alternative Heilmethoden die Lösung gegen Corona seien (vgl. Balandat et al., 2021; Frei & Nachtwey, 2021). So kann die Impfskepsis sowohl ein Anknüpfungspunkt für antisemitische Verschwörungsideologien sein als auch für sog. alternative Heilmethoden, die wiederum den Glauben an Verschwörungsideologien begünstigen können. Alternative Heilmethoden und Esoterik als Einstieg in den Verschwörungsglauben

Bei einem Großteil der Anhänger*innen von Esoterik und »alternativen Heilmethoden« ist eine Skepsis gegenüber konventioneller Medizin vorhanden, die zu einem grundsätzlichen Misstrauen und einer Wissenschaftsfeindlichkeit führen kann. Der Studie von Pia Lamberty und Roland Imhoff (2018) zufolge liegt, wie bereits zitiert, eine starke Korrelation zwischen einer Verschwörungsmentalität, der Befürwortung »alternativer Heilmethoden« und der Ablehnung von konventioneller Medizin vor. Diese Ablehnung von 232

Von Verschwörungsideologien, Vernetzungsstrategien und Vernichtungsphantasien

konventioneller Medizin geht häufig mit einer prinzipiellen Wissenschaftsfeindlichkeit einher, die gepaart mit einer esoterisch geprägten Vorstellung eines Gut-Böse-Dualismus und dem Wunsch nach Komplexitätsreduktion ein Anknüpfungspunkt für Verschwörungsideologien sein kann (Pösl, 2020). Die Ablehnung von Impfungen aus Angst vor Impfschäden korreliert bspw. stark mit dem Glauben an Alternativmedizin und Esoterik (Hoffman et al., 2019; Jolley & Douglas, 2014). Häufig geht diese Angst auf die Verschwörungserzählung zurück, dass »die Pharmaindustrie« und »die Medizin« bewusst und gezielt durch Impfungen Schaden anrichten oder die Bevölkerung manipulieren wollen. Die Pharmaindustrie (»Big Pharma«) wird als rein profitorientierte Lobby dargestellt, die aus finanziellen Vorteilen Schäden an der Bevölkerung in Kauf nimmt und von dahinterstehenden Mächten gezielt genutzt wird, um die Menschen zu vergiften (Hoffman et al., 2019; Jolley & Douglas, 2014). Demgegenüber wird die Alternativmedizin häufig als sanft, »natürlich« und nicht profitorientiert dargestellt (Grams, 2018). So werden Esoterik und die angeblichen Wirkprinzipien sog. alternativer Heilmethoden als von der Pharmaindustrie und Wissenschaft angeblich unterdrücktes Wissen stilisiert. Durch diesen Gut-Böse-Dualismus wird ein klares Feindbild konstruiert, das für alle sozialen und persönlichen Probleme und Ängste verantwortlich gemacht werden kann. Eine reale oder imaginierte Personengruppe wird als Sündenbock konstruiert und für sämtliche Probleme in der Welt verantwortlich erklärt, hierbei wird häufig auf den Mythos der »jüdischen Weltverschwörung« rekurriert (Pösl, 2020).

Fazit und Ausblick Die Betrachtung der Strukturen im Kontext von Querdenken zeigt, wie schnell Personen innerhalb einer Krise ein geschlossenes verschwörungsideologisches Weltbild entwickeln können und wie sich eine Radikalisierung einer nicht unerheblichen Gruppe von Menschen innerhalb dieses Diskurses vollzieht, die aus verschiedenen gesellschaftlichen Strömungen kommen: Aus dem Spektrum der Alternativmedizin und Anthroposophie, aus dem Milieu der extremen Rechten und »Wutbürger*innen«, die rechtskonservativen »Lebensschützer*innen« und öko-esoterischen völkischen Bewegungen (Naumann & Kamann, 2021; Speit, 2021). Die Neigung zu Wissenschaftsfeindlichkeit, Verschwörungsideologien, zum Antisemitismus und zu antidemokratischen Einstellungen, die bereits vor 233

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der Pandemie innerhalb der Gesellschaft verankert waren, stellen hierbei einen wichtigen Anknüpfungspunkt dar (Pösl, 2020; Speit, 2021). Teilweise wachsen in dieser Bewegung Gruppierungen zusammen, die bereits vorher ideologische Parallelen hatten (Pöhlmann, 2021).4 Der Glaube an Verschwörungsideologien in der Pandemie hat mehrere Funktionen: Indem das Virus oder seine Folgen verharmlost, verleugnet oder als Teil einer Verschwörung konstruiert werden, können sowohl die Einschränkungen als illegitim und unnötig dargestellt als auch die vermeintliche Verschwörung für die ganze erfahrene Misere verantwortlich gemacht werden. So wird die eigene Verantwortung, sich und vor allem die Mitmenschen vor einer Infektion zu schützen, abgegeben. Ein klares Feindbild zu haben, darüber die Infektionsschutzmaßnahmen als unnötig oder sogar als absichtsvolles Mittel der Bevölkerungsgängelung und Freiheitseinschränkung darzustellen und die Infektionsschutzmaßnahmen deswegen nicht befolgen zu müssen, kann einfacher sein, als sich mit der Ohnmacht in einer globalen Pandemie und damit verbundenen Maßnahmen abzufinden und vor allem sich selbst einzuschränken. Hierdurch wird die Komplexität der Gesamtsituation für die einzelne Person reduziert und die Verantwortung abgegeben. Gleichzeitig wird auch in dieser konkreten Krisensituation über die Abgrenzung gegenüber den Menschen, die nicht an die Verschwörungsideologien glauben, das Gefühl von Überlegenheit generiert, es »durchschaut« zu haben im Gegensatz zu den »Schlafschafen«. Das Misstrauen gegenüber der Medizin, den Medien und der Politik vereint die Gruppen in ihrer Ablehnung gegenüber dem sog. Mainstream (Naumann & Kamann, 2021). Hierüber wird Identität konstruiert, gleichzeitig entsteht durch die Vernetzung mit anderen und die gemeinsamen Demonstrationen das Gefühl von Gruppenzugehörigkeit. Zudem wird das Ohnmachtsgefühl kompensiert und die eigene Position aufgewertet, indem sich die Coronaleugner*innen als Widerstand gegen ein vermeintlich diktatorisches Regime wähnen und inszenieren, der für die Freiheit kämpft (Speit, 2021). Leider ist nicht davon auszugehen, dass sich das daraus resultierende gesellschaftliche Problem der antidemokratischen Radikalisierung, die von rechtsextremen Populist*innen vorangetrieben wird, nach der Pandemie von selbst lösen wird. Personen, die bereits ein geschlossenes verschwö4

Vgl. dazu auch die Beiträge von Rebekka Blum, Hans-Jürgen Wirth sowie Melanie Hermann, Florian Eisheuer & Jan Rathje i. d. Bd.

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Von Verschwörungsideologien, Vernetzungsstrategien und Vernichtungsphantasien

rungsideologisches Weltbild haben und daraus Identität gewinnen, argumentativ davon zu überzeugen, dass die Ansichten unwahr sind, ist schwer möglich. Jeglicher Gegenbeweis, mag er noch so evidenzbasiert sein, wird als Teil der Verschwörung betrachtet werden. Daher ist zu befürchten, dass sich die Gruppen und Personen, die sich im Zuge der Pandemie radikalisiert haben, nach der Pandemie anderen Themen zuwenden – Themen, die von den zentralen rechtspopulistischen, verschwörungsideologischen Akteur*innen, von denen in diesem Beitrag nur ein kleiner Teil erwähnt wurde, gezielt gesetzt werden können. Wohin diese Entwicklung geht, sollte unbedingt weiter beobachtet werden. Die Klimakrise sowie das Thema Migration werden mit großer Wahrscheinlichkeit dazugehören, was weitere Anknüpfungspunkte für Zielgruppen im rechtskonservativen Milieu bietet. Zahlreiche Akteur*innen, sowohl in der rechtskonservativen Medienlandschaft als auch in digitalen sozialen Netzwerken, sind bereits dabei, diesen Diskurs zu bedienen und den Rahmen des Sagbaren noch stärker auszudehnen, als es ohnehin bereits durch Wissenschaftsfeindlichkeit, rechte Verschwörungsideologien, Holocaustrelativierung und Antisemitismus in den letzten Jahren geschehen ist. Literatur Balandat, F., Schreiter, N. & Seidel-Arpaci, A. (2021). Die Suche nach den »Schuldigen«. Antisemitismus als zentrales Ideologieelement bei den Coronaprotesten. In M. Meisner & H. Kleffner (Hrsg.), Fehlender Mindestabstand. Die Coronakrise und die Netzwerke der Demokratiefeinde (S. 102–108). Freiburg: Herder. Baldauf, J. (2015, 14.10.). Jüdische Weltverschwörung, UFOs und das NSU-Phantom https:// www.bpb.de/politik/extremismus/rechtsextremismus/210327/juedische-weltver schwoerung-ufos-und-das-nsu-phantom (19.04.2022). Bautze, L. (2021). Hetze per Telegram. Holocaustleugnung, Volksverhetzung, Aufrufe zur Gewalt – das alles ist in vielen Telegram-Kanälen zu finden. Viele Social-Media-Nutzer sind inzwischen auf dem Messengerdienst aktiv. Schwäbisches Tagblatt, 21.01.2022. https://www.tagblatt.de/Nachrichten/Hetze-per-Telegram-487076. html (16.04.2022). Bayrischer Rundfunk (BR24) (2022). Angriffe auf Journalisten: Schutz bei Corona-Demos verstärkt. BR24, 19.02.2022. https://www.br.de/nachrichten/deutschland -welt/schutz-fuer-journalisten-bei-corona-demos-verstaerkt,Sxsh6Uv (19.04.2022). Bergunder, M. (2008). Was ist Esoterik? Religionswissenschaftliche Überlegungen zum Gegenstand der Esoterikforschung. In M. Neugebauer-Wölk & A. Rudolph (Hrsg.), Aufklärung und Esoterik. Rezeption, Integration, Konfrontation (S. 477–507). Tübingen: Niemeyer.

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Biografische Notiz

Nora Feline Pösl, M. A., ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Fakultät für Sozialwissenschaften der Ruhr-Universität Bochum und promoviert zu den Zusammenhängen von sog. Alternativmedizin, Verschwörungstheorien und rechten Ideologien. Sie forscht zudem quantitativ zu Demokratie- und Partizipationsvorstellungen im Kontext Schule und arbeitet allgemein zu Strukturen sozialer Ungleichheit, auch mit Blick auf die gesundheitliche Versorgung von vulnerablen Gruppen.

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Verschwörung audiovisuell gedacht Alex Jones’ The 9/11 Chronicles1 Deborah Wolf

Einleitung 9/11-Verschwörungstheorien sind heterogen: Die meisten unterstellen auf die eine oder andere Weise eine Mitschuld der US-Regierung, aber auch die Beteiligung von Freimaurer*innen oder sogar Aliens wird diskutiert.2 Obwohl längst nicht alle Anhänger*innen »genuine hardcore believers« sind (Knight, 2000, S. 244), sind Verschwörungstheorien zu diesem Ereignis weit verbreitet (Knight, 2008, S. 165). Das überrascht nicht, markieren die Anschläge doch eine weitreichende Zäsur – entsprechend sind auch die Verschwörungstheorien meist hochgradig politisch. 9/11 mag sich auch deshalb für konspirationistische Narrative anbieten, weil es sich um ein Medienereignis (Weichert, 2006, S. 44ff.) handelt: Realitätskonstruktionen sind in besonderem Maße medial geprägt und entsprechend erscheinen Glaubwürdigkeitszuschreibungen zunehmend angreifbar. Zusammen mit der kollektiven Schockerfahrung entsteht ein Nährboden, auf dem oppositionelle Erzählungen gedeihen. Zur Reichweitensteigerung dürfte beigetragen haben, dass sich in der Zeit der Aufarbeitung des Ereignisses partizipative Onlinemedien durchsetzten und somit Wege für die Verbreitung alternativer Diskurspositionen eröffneten. Der vorliegende Aufsatz nähert sich dem Phänomen Verschwörungsdenken aus einer medienwissenschaftlichen Perspektive. Im Zentrum steht 1 2

Der ursprünglich in psychosozial 1/2020 erschienene Text wurde für diese Ausgabe durchgesehen und überarbeitet. In diesem Artikel werden stellenweise Verschwörungstheorien wiedergegeben. Diese sind nicht mit den Auffassungen der Autorin gleichzusetzen.

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Deborah Wolf

der Film The 9/11 Chronicles Part One: Truth Rising (2008). Als qualitative Arbeit und detaillierte Fallstudie schlüsselt er den Film nach Motiven auf. Untersucht werden soll ihre Funktion für das Verschwörungsdenken, wobei Erkenntnisse aus der interdisziplinären Forschung zu Verschwörungstheorien herangezogen werden. Verschwörungsdenken meint hier die Art und Weise, wie die Sachverhalte interpretiert und in Verbindung zueinander gebracht sowie in eine Gesamterzählung eingepasst werden. Um sich dem zu nähern, wird auf die dramaturgisch-narrative sowie audiovisuell-ästhetische Umsetzung fokussiert, weniger auf die konkreten Inhalte einzelner Verschwörungstheorien. Im Sinne eines semiopragmatischen Ansatzes wird nach im Film angelegten Wirkungspotenzialen gefragt. Semiopragmatische Arbeiten unterscheiden sich insofern von rein textuellen Analysen, dass davon ausgegangen wird, dass Affekt und Bedeutung nicht fest in den Text eingeschrieben sind, sondern während der Lektüre produziert werden (Odin, 1995, S. 213). Der Ausgangspunkt der Untersuchung ist keine empirische Person, sondern eine Stelle im Kommunikationsmodell, an der Impulse ankommen und weiterverarbeitet werden (ebd., S. 218). An dieser Stelle positioniert sich auch die Forscherin, die jene Impulse aufgreift und angelegte Bedeutungspotenziale herausarbeitet. Dies geschieht im Wissen darum, dass es sich eben um Potenziale handelt – ob diese sich empirisch tatsächlich entfalten, wäre Gegenstand einer Folgeuntersuchung. Auf den Punkt bringt es der Entwickler der Semiopragmatik, Roger Odin (2006 [1984], S.  273), wenn er betont, es handle sich um eine »Semiologie der Lektüre«, nicht »der Realisation«. Bei der Sinnproduktion werden teils vorgefertigte Modi abgerufen (Odin, 2019 [2011], S. 47; 2022) – dementsprechend zielt auch diese Fallstudie nicht auf eine individuelle Interpretation, sondern betrachtet den Film vor der Folie des verschwörungstheoretischen Diskurses. Untersucht wird, wie im Verschwörungsdenken verankerte Sinnbedürfnisse und Affektlandschaften angesprochen werden, weshalb an betreffenden Stellen auf einschlägige Forschungsergebnisse verwiesen wird. Das Verschwörungsdenken gibt in diesem Fall also den kulturellen Kontext (»cultural constraint«; Odin, 1995, S. 213) vor, vor dessen Hintergrund Filme rezipiert werden. Das »Weltwissen der Zuschauer« (Kessler, 1998, S. 73) ist in der hier untersuchten Lektüre wesentlich geprägt vom Verschwörungsdenken.3 3

Vgl. dazu auch die Aufsätze von Alexey Levinson, Florian Hessel sowie Carolin Engels & Sebastian Salzmann i. d. Bd.

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Verschwörung audiovisuell gedacht

Wie die Semiopragmatik betont, ist die (textuelle) Analyse einzelner Filme (mit hergebrachten Instrumentarien) nach wie vor vielversprechend, denn der Text selbst gibt natürlich weiterhin wesentliche Impulse für die Bedeutungs- und Affektproduktion (Odin, 2019 [2011], S.  40f.,  155). Mittels Belohnungsversprechen und Bestrafungsandrohungen forciert er eine gewissermaßen hegemoniale Lektüre (Odin, 1995, S. 220) und gibt entsprechende Anweisungen (Odin, 2006 [1984], S. 266). Um jene Strukturen nachzuvollziehen, ist wiederum der Blick auf das Verschwörungsdenken hilfreich. Der Gegenstand der semiopragmatischen Analyse sind die Einschreibungen der Strukturen in den jeweiligen Film selbst (ebd., S. 272). Methodisch steht also die Analyse des Films im Vordergrund. Strukturiert wird sie durch das Herausarbeiten einschlägiger Motive – gemeint sind »perzeptive[ ], narrative[ ] und abstrakt-konzeptuelle[ ] Einheiten«, die durch wechselseitige Bezüge geprägt sind (Eugeni, 2002, S. 116). Daneben ist die – zumindest knappe – Behandlung von Hintergründen und Distributionsstrukturen unabdingbar. Die Hinzunahme von Paratexten und Kontexten empfiehlt Odin (2019 [2011], S. 33), um dem zentralen Konzept des zu untersuchenden »Kommunikationsraums« gerecht zu werden. Als Beispiel wurde The 9/11 Chronicles Part One: Truth Rising gewählt, weil der Film eine weitverbreitete Verschwörungstheorie thematisiert und von der einflussreichen Szenegröße Alex Jones produziert wurde. Der Film, der die Inszenierung einer Community zentral stellt, arbeitet verstärkt mit Interviews, wodurch die verbale Vermittlung im Vordergrund steht. Dadurch sind die Motive besonders deutlich zu erkennen, ästhetische Strategien hingegen oftmals subtiler, dadurch aber nicht weniger wirkungsvoll – weshalb es besonders wichtig erscheint, sie wissenschaftlich zu untersuchen.

Strukturdaten, Distribution und Aufbau Dokumentarfilme werden für zeitgenössische Diskurse des Verschwörungsdenkens zu einer zunehmend zentralen medialen Form (Butter, 2018, S. 76), deren Affordanzen Michael Butter anhand der Filmreihe Loose Change (2005–2009) umreißt (ebd., S. 74–77). Filme, die wie Loose Change Verschwörungstheorien über 9/11 zum Thema haben, knüpfen an die Schockund Verunsicherungserfahrungen der Anschläge an. Medienwissenschaftler Thomas Nachreiner (2013, S. 196) vermutet gar, »dass die primär audiovisuelle Erfahrung des Ereignisses auch bevorzugt Techniken der audiovisu241

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ellen Ereignisverarbeitung Vorschub leistet«. Das vielfach diagnostizierte kulturelle Trauma wird in der Folge in verschiedenen faktualen wie auch fiktionalen Diskursen immer wieder reproduziert (Wolf, 2021, S. 312). Insbesondere für mediale Repräsentationen des Verschwörungsdenkens, die grundsätzlich als Reaktion auf medial mitgetragene, gesellschaftliche wie semiotische Krisen und Verunsicherungen (Leone et al., 2020, S. 45) verstanden werden können, muss dieser Zusammenhang betont werden. Verschwörungserzählungen in filmischer Form können als Teil komplexer diskursiver Verflechtungen verstanden werden, wechselseitige Einflussnahmen ästhetischer und narrativer Muster sind zu beobachten. Insofern kann The 9/11 Chronicles als ein Knotenpunkt und Repräsentant einer spezifischen, aber nicht isolierten Strömung betrachtet werden. Bei The 9/11 Chronicles handelt es sich um einen 2008 erschienenen Dokumentarfilm.4 Regie führte der bekannte US-Verschwörungstheoretiker Alex Jones, der für seine aggressive Rhetorik und die Nähe zum 2016 gewählten, durch populistische Positionen auffallenden ehemaligen USPräsidenten Donald Trump bekannt ist (Muirhead & Rosenblum, 2018, S. 51ff.). Der Film weist eine Länge von 115 Minuten auf. Anders, als es der Titelzusatz »Part One« vermuten ließe, existiert keine Fortsetzung. Charakteristisch für die Distribution ist ihre Dezentralität. Unter anderem gibt es einen kostenfreien Stream auf Jones’ Website Prisonplanet. Im Store der ebenfalls von Jones betriebenen Seite Infowars kann eine DVD erworben werden, ebenso beim Onlinehändler Amazon. Darüber hinaus gibt es eine Vielzahl weiterer Distributionswege, etwa Uploads auf YouTube5 (die nicht autorisiert sind, da die offiziellen Kanäle Jones’ gesperrt wurden).6 4

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Der Begriff »Dokumentarfilm« bezieht sich hier in Abgrenzung zum fiktionalen Film auf das Selbstverständnis und den Anspruch des Films, über »die Realität« zu berichten, und impliziert keine Stellungnahme der Autorin über den Wahrheitsgehalt des im Film Dargestellten. Die YouTube-Uploads wurden für die ursprüngliche Fassung des Beitrags erhoben. Mittlerweile ist die Plattform vermehrt dazu übergegangen, verschwörungstheoretische Inhalte zu löschen. https://www.amazon.de/11-Chronicles-Part-Truth-Rising/dp/B001G77R5C/ref=sr_1_ fkmr0_1?__mk_de_DE=ÅMÅŽÕÑ&keywords=The+9%2F11+Chronicles+Part+One%3 A+Truth+Rising&qid=1569252732&s=gateway&sr=8-1-fkmr0 (23.09.2019); https://www. infowarsstore.com/truth-rising-the-9-11-chronicles-part-one-dvd.html (23.09.2019); http://tv.infowars.com/index/display/id/366 (23.09.2019); https://www.youtube. com/results?search_query=The+9 %2F11+Chronicles+Part+One %3A+Truth+Rising (23.09.2019).

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Verschwörung audiovisuell gedacht

The 9/11 Chronicles hebt sich insofern von anderen Filmen ab, als dass es weniger um die Verschwörungstheorie selbst geht und mehr um die Verschwörungstheoretiker*innen bzw. die Wirkung und Verbreitung der Erzählung. Protagonist*innen des Films sind verschiedene Verschwörungstheoretiker*innen, die ihre Geschichten erzählen und bei diversen Aktionen gezeigt werden (sie werden in der nachfolgenden Analyse auch als Aktivist*innen bezeichnet). Zu Beginn des Films sind diese in New York City angesiedelt. Im Mittelteil werden vermeintliche Verschwörer*innen bei Diskussionsveranstaltungen konfrontiert oder auf der Straße abgepasst, später finden die Aktionen dann an öffentlichen Orten wie Einkaufsgeschäften oder Büchereien statt. Eine besondere Stellung hat ein junger Mann namens Luke Rudkowsky. Heute ist Rudkowsky mit seiner Organisation We Are Change eine einflussreiche Größe im rechten, verschwörungstheoretischen Milieu.7 Er ist nicht nur an vielen der Aktionen federführend beteiligt, sein Werdegang als Verschwörungstheoretiker gibt die Dramaturgie des Films vor – zumindest grob, denn insgesamt handelt es sich um eine eher lose Sammlung von Sequenzen, die den auf 9/11-Verschwörungstheorien beruhenden Aktivismus als gemeinsames Thema haben. Der Film wird eröffnet mit einer Montage, die einzelne Szenen aus dem späteren Film zeigt, sodass die Leitmotive eingeführt und die Stoßrichtung vorgegeben werden. Es folgt bei diversen Aktionen entstandenes Material, das um 9/11-Aufnahmen und anderes Archivmaterial sowie Interviewsequenzen ergänzt wird. Den Höhepunkt stellt eine nächtliche Demonstration am Times Square dar, die in eine mehrtägige Aktion eingebunden ist. Den Ausklang bildet eine Gedenkveranstaltung für bei den Anschlägen verstorbene Sicherheitskräfte und Ersthelfer*innen. Schließlich endet der Film mit einer Schrifteinblendung und einem Abspann, der neben der Nennung der Beteiligten auch weiteres Filmmaterial im Splitscreen zeigt.

Analyse Kollektive Unsicherheit

Verschwörungstheorien gewinnen immer dann an Einfluss, wenn sich in der Gesellschaft ein Klima der Unsicherheit ausbreitet (Knight, 2000, S. 40). 7

https://wearechange.org (21.09.2019).

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Sie sind häufig Reaktionen auf kollektive oder individuelle Ängste (ebd., S.  18). Gerade die politischen Veränderungen nach 9/11  – von innenpolitischen Maßnahmen wie den Patriot und Freedom Acts über Kriege im Nahen Osten – sowie das durch die Schockerfahrung ausgelöste kulturelle Trauma (Muller, 2017) schaffen einen günstigen Nährboden. Auch The 9/11 Chronicles schlägt bewusst in diese Kerbe und etabliert schon zu Anfang ein passendes Leitmotiv: Krankheiten, die durch die Luftverschmutzung im Zusammenhang mit den Anschlägen ausgelöst worden seien. Die Regierung habe jene verschwiegen, sodass vor allem Ersthelfer*innen keine ausreichenden Schutzmaßnahmen hätten treffen können. Eine Verunsicherungserfahrung, die Verschwörungsdenken auf fruchtbaren Boden fallen lässt, wird abgerufen, indem Filmmaterial vom 11. September 2001, vor allem aus Manhattan, gezeigt wird. Bereits die Bildinhalte wirken verstörend – fliehende Menschen, Staub, Trümmer und nicht zuletzt die zusammenstürzenden Türme sowie die Verwüstung an Ground Zero.8 Daneben werden mit einem ähnlichen Effekt nicht näher definierte Aufnahmen aus Kriegsgebieten eingesetzt (TC 0:47:18).9 Die Materialästhetik verstärkt diesen Eindruck: Oft sind die Bilder verwackelt – nicht nur ist das Gezeigte dadurch unübersichtlich, auch wirkt die Ästhetik als Verweis auf den bedrohlichen Entstehungskontext authentifizierend. Immer wieder werden solche Bilder zwischengeschnitten, um die verschwörungstheoretische Aussageabsicht in diesem Rahmen umso wirksamer zu machen. Nicht selten wirken in der Postproduktion zugefügte Effekte wie passende Musik verstärkend. Signifizierung von Ängsten – Personifizierung der Verschwörung

Verschwörungstheorien sind attraktive Deutungsangebote, vor allem für Menschen, die sich einer (vermuteten) existenziellen Bedrohung ausgesetzt sehen (Maaz, 2001, S. 35), denn sie machen diffuse Ängste darstellbar (Krause et al., 2011, S. 33). Die Signifizierung besteht darin, jene Ängste zu konkretisieren und eine zugehörige mediale Repräsentation auszugestalten, sodass sie weniger diffus und entsprechend besser handhabbar werden. Diese Funktion trägt dazu bei, die existenziellen, epistemischen 8 9

Eine Analyse der symbolischen/affektiven Wirkung liefert Redfield (2007). Alle Timecode-Angaben beziehen sich auf diese Version von The 9/11 Chronicles (USA 2008): http://tv.infowars.com/index/display/id/366 (23.09.2019).

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Verschwörung audiovisuell gedacht

und sozialen Motive anzusprechen, die hinter der Akzeptanz von Verschwörungsbehauptungen stehen (Douglas et al., 2020).10 Signifizierung geschieht vor allem dadurch, die Verschwörung zu personifizieren, ihr ein Gesicht zu geben – eine Strategie, die im Zusammenhang mit fiktionalen Verschwörungsfilmen erkannt wurde (Taylor, 2017, S. 422) und sich offenbar in ihrem faktualen Pendant wiederfindet. In The 9/11 Chronicles sind es vor allem Politiker*innen, die angeprangert werden. Bereits in der Exposition ist Bill Clinton zu sehen (TC 0:02:07), danach rückt vor allem George W. Bush in den Fokus. Ihm wird verbal die Verantwortung für die Anschläge zugesprochen, zusätzlich ist er auch visuell präsent. Während der Ausführung bezüglich der angeblichen Schuld der damaligen US-Regierung am Zusammensturz der Twin Towers wird eine Aufnahme eingeblendet, in der Bush verschmitzt lächelt (TC 0:41:42). Es geht hier offensichtlich nicht um konkrete Aussagen oder politische Handlungen Bushs, sondern einzig um die Personifizierung der Verschwörung. Banker*innen sind eine weitere Gruppe, die in vielen Verschwörungserzählungen, und so auch in The 9/11 Chronicles, als Sündenbock fungiert. Besonders dieser Art der Signifizierung liegt eine Nähe zu den für das Verschwörungsdenken typischen antisemitischen Sinnkonstruktionen inne ( Jaecker, 2005). Die Personifizierung konkretisiert sich, als gegen Ende des ersten Viertels Rudkowsky von seiner Entscheidung berichtet, alle angeblich Verantwortlichen persönlich zu konfrontieren. Bereits an dieser Stelle werden in dichter Abfolge Personen benannt und eingeblendet. Im Anschluss werden bei den entsprechenden Aktionen entstandene Aufnahmen gezeigt. Neben dem Bankier und Lobbyisten David Rockefeller sind es vor allem Politiker*innen – darunter Barack Obama, Hillary Clinton, John McCain, Nancy Pelosi und der 2001 amtierende Bürgermeister New York Citys, Rudolph Giuliani, den Rudkowsky nach eigenen Aussagen innerhalb eines Jahres elfmal bei öffentlichen Auftritten konfrontierte (TC 0:33:15). Bemerkenswert ist, dass sie aus sehr unterschiedlichen politischen Lagern stammen. Das entscheidende Merkmal ist die Zugehörigkeit zu einer »Elite«. Unter anderem resultiert aus diesem Antielitismus die Verbindung von konspirationistischen Denkweisen und Populismus (Butter, 2018, S. 172). Teilweise ist nicht einmal eine unmittelbare Verbindung zu 9/11 erkennbar, die Argumentation erscheint hochgradig assoziativ, wie in einer Passage, die Arnold Schwarzenegger in den Mittelpunkt stellt. Wir hören, wie er mit Sätzen wie »You said you loved 10 Vgl. dazu auch den Beitrag von Frank-Andreas Horzetzky i. d. Bd.

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Hitler« angegangen wird, während visuell eine Montage aus unter anderem Schwarzenegger auf dem Cover des TIME Magazine (wegen einer verdächtigen Gürtelschnalle), Heinrich Himmler, einer Flagge mit Hakenkreuz und Logo der Waffen-SS sowie dem jungen Schwarzenegger in Baywatch-Montur beim Zeigen des Hitler-Grußes (vermutlich eine Fotomontage) zu sehen ist; dabei erklingt epische Opernmusik (TC 1:10:44). Personifizierung von Verschwörungstheoretiker*innen

Neben den Verschwörer*innen werden auch die Verschwörungstheoretiker*innen als ihre Gegenspieler*innen und Protagonist*innen des Films personifiziert – ein Vorgehen, das individuelle Agency betont und auch in fiktionalen Verschwörungserzählungen wie Spielfilmen, Romanen etc. beobachtet werden kann (Fenster, 2008, S. 121f.). Leitfigur ist erneut Rudkowsky. Er tritt nicht nur selbst als Aktivist auf, sondern führt durch den Film und bietet als kommentierende Instanz den Zuschauer*innen vorgefertigte Bewertungen an. Der Film inszeniert seinen persönlichen Werdegang als Verschwörungstheoretiker. Dazu wird zunächst ein anderer Mann namens Dan Wallace vorgestellt. Am Anfang sehen wir Wallace selbst bei Protestaktionen und wie er wiederum seine persönliche Geschichte erzählt – sein Vater war Feuerwehrmann und starb bei den Anschlägen, daher sei ihm ganz besonders an der Aufklärung gelegen (TC 0:15:15). Wenig später im Film berichtet Rudkowsky von Wallace’ Tod, von seiner Trauer um einen Freund (TC 0:20:22) und davon, wie er daraus eine persönliche Motivation für seine verschwörungstheoretische Agenda zog (»I have to do it for Dan Wallace«; TC 0:23:23). Daneben spielt Alex Jones eine wichtige Rolle. Als populärer Vertreter und Szenegröße inszeniert er sich dennoch bewusst volksnah, wenn er etwa während einer Demonstration inmitten der anderen Demonstrant*innen gezeigt wird, wo man ihn freundschaftlich mit »Hey man« und Handschlag begrüßt (TC 0:34:50). Weitere im Film vorkommende Aktivist*innen bleiben ebenfalls nicht anonym. Mindestens wird ihr Name genannt, oft wird darüber hinaus auch ihre persönliche Geschichte erzählt, meist unter Nutzung pathetischer Inszenierungslinien. Häufig sind sie Ersthelfer*innen (hier besteht ein Bezug zum Held*innen-Motiv, s. u.) oder Angehörige bei den Anschlägen Verstorbener, die von ihrem Leid berichten, wodurch gesellschaftlich anerkannte Gemeinplätze und geteilte Werte im Sinne einer Legitimierungsstrategie 246

Verschwörung audiovisuell gedacht

produktiv gemacht werden. Beispiel dafür ist John Feal (TC 0:59:17). Feal war bei den Anschlägen als Ersthelfer im Einsatz und engagiert sich nun als Organisator der nach ihm benannten »Feal Good Foundation« für Menschen, die wie er unter den gesundheitlichen Folgen des Einsatzes leiden. Besonders herausgestellt wird, dass Feal eine Niere gespendet hat. Die schon in Wortwahl und Intonation pathetisch vorgetragene Inszenierung als Held wird unterstützt durch die ästhetische Gestaltung, in der visuell Zeitlupen und weiche Schnitte mit langen Schwarzblenden zum Einsatz kommen. Musikalisch wird die Szene von ein- und aussetzenden, dunklen Streicherklängen begleitet. Als Interviewsetting dient die einfach möblierte Wohnung Feals, was eine sehr persönliche Rahmung etabliert. Das spiegelt sich auch in der Kameraarbeit: Feal wird in emotionalisierender Aufsicht gezeigt. Die Einstellungsgröße wechselt im Laufe des Interviews von einer Nah- zu einer Großaufnahme, womit die sich aufbauende Nähe auch visuell nachvollzogen wird. Allein durch ihre Kleidung und Sprache inszenieren die Verschwörungstheoretiker*innen eine Abgrenzung von den Vertreter*innen der Elite.11 Besonders deutlich zeigt sich dies in einer Sequenz, in der John Schroeder von seinen Erlebnissen während der Anschläge berichtet (TC  0:53:43). Schroeder wird in einer Bauchbinde kooperativ als »9/11 Firefighter/Survivor/First Responder« eingeführt. Er steht vor der New Yorker Skyline, ist einfach gekleidet und zeichnet sich durch starken Soziolekt aus. Dies fällt vor allem im Kontrast zu dem unmittelbar vorher platzierten Interview mit dem Experten Richard Gage auf (s. u.). Schroeders Ausführungen werden filmisch unterstützt durch eine Parallelmontage mit 9/11-Aufnahmen, die durch die Art der Montage wie eine filmische Umsetzung von Schroeders persönlicher Erinnerung wirken. Somit wird das Erzählte nicht nur sensuell repräsentiert und dadurch als Immersionsfläche angeboten, sondern steht zugleich als affektiver Beleg für die Tatsächlichkeit des Gesagten ein. Auch wenn die Materialästhetik auf den Eindruck von Unmittelbarkeit und Glaubwürdigkeit abzielt, so wirken doch der Schnitt und die eingefügte Musik rezeptionssteuernd. Bemerkenswert ist auch eine Szene am Strand, in der Frauen in Badebekleidung kritische Fragen über die Anschläge in die Kamera sprechen (TC 1:03:43). Neben der Inszenierung als einfache Leute dürfte hier auch die affirmative Glaubwürdigkeits11 Zu der Verbindung von Verschwörungstheorie, Populismus und dem Leitmotiv der »common people« vgl. Uhlig & Wolf (2020).

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steigerung durch Sexualisierung und Rückgriff auf gängige Schönheitsideale eine Rolle gespielt haben. Dieses Vorgehen überrascht weniger in der Sache, wohl aber im Mangel an Subtilität. Eine herausgehobene Rolle spielen solche Verschwörungstheoretiker*innen, die selbst aus Bildungs- und anderen Eliten stammen. Sie können als Gewährsleute fungieren und werden oft zu regelrechten Stars der Szene (Butter, 2018, S. 62f.), was zunächst im Gegensatz zur Inszenierung als »einfache Leute« zu stehen scheint – sich im Selbstverständnis der Verschwörungstheoretiker*innen allerdings nicht als auflösungsbedürftige Ambivalenz darstellt. In The 9/11 Chronicles nimmt Richard Gage, Architekt und Gründer der Organisation Architects and Engineers for 9/11 Truth, eine solche Rolle ein (TC 0:50:10). Gage wird nach Erklärungen für den Zusammensturz der Türme gefragt. Zunächst aber legt er dar, woher seine Expertise kommt (er ist seit vielen Jahren als Architekt tätig) – ein typisches Setting für Expert*innen in Dokumentarfilmen. Ebenfalls typisch ist, dass immer wieder fotografische Bewegtbilder mit entsprechenden Bildmarkierungen mit Blick auf ihre evidenzevozierenden Effekte zwischengeschnitten sind. Auch werden im Laufe des Films verschiedene Prominente, darunter Filmemacher Michael Moore (TC 1:04:54), als Aushängeschilder angeführt. Vertreter*innen der Staatsmacht

Polizist*innen und Sicherheitskräfte werden in The 9/11 Chronicles als Vertreter*innen der Staatsmacht inszeniert. Gleich in der eröffnenden Passage sehen wir uniformierte Polizist*innen, die sich gegen die Verschwörungstheoretiker*innen richten (TC 0:00:23). Bei einer im ersten Teil des Films gezeigten Aktion der Aktivist*innen am wiederaufgebauten Word Trade Center 7 (im Folgenden WTC 7) gibt es den Sonderfall, dass Sicherheitskräfte zugegen sind, die sich – laut Aussage der dort protestierenden Aktivisten – als Polizeibeamte ausgeben und mit Festnahme drohen (TC 0:26:50). Sie fordern, die mitgebrachte Kamera auszuschalten, worin eine Verflechtung mit dem Motiv »Einsatz von Medientechnologie« sichtbar wird (s. u.). Einer der Männer erwähnt den Namen Larry (»Larry is not gonna like that«). Rudkowsky berichtet in einem nachträglich eingesprochenen Interview, der Sicherheitsmann habe ihn später zur Seite genommen und in diesem nicht aufgezeichneten Gespräch habe er erfahren, 248

Verschwörung audiovisuell gedacht

sie hätten ihre Anweisungen direkt von Geschäftsmann Larry Silverstein erhalten (TC  0:27:23).12 Hier soll wohl aufgezeigt werden, dass die Sicherheitskräfte tatsächlich mit den Eliten/Verschwörer*innen unter einer Decke stecken. In einer späteren Sequenz wird Rudkowsky von einer Diskussionsveranstaltung entfernt. Er erzählt den Sicherheitskräften von befreundeten Polizist*innen und Ersthelfer*innen, die von der Verschwörung unmittelbar betroffen seien. Wie es scheint, zeichnen die Verschwörungstheoretiker*innen ein Bild, in dem die Polizei als Institution zwar von der Verschwörung kontrolliert wird, die einzelnen Polizist*innen aber unwissend sind und grundsätzlich von der vermeintlich »guten Sache« überzeugt werden könnten. Ähnliches zeigt sich an späterer Stelle, als Aktivisten in eine Polizeikontrolle geraten. Sie versuchen, Überzeugungsarbeit zu leisten, indem sie den Polizisten einen verschwörungstheoretischen Dokumentarfilm nachdrücklich empfehlen; diese reagieren nicht uninteressiert (TC 1:19:18). Bei einer anderen Aktion begegnen die betreffenden Aktivisten wiederum einem Polizisten, der in diesem Fall höflich auftritt, was im anschließenden Interview sehr gelobt wird (TC 1:32:31). Auch bei der Gedenkveranstaltung, die den Abschluss des Films bildet, wird unter anderem Polizist*innen gedacht, sie werden als Held*innen sehr respektvoll und kooperativ inszeniert (TC 1:44:47). Massenmedien

(Massen-)Medien haben einen zentralen Platz im Verschwörungsdenken, wobei ihnen im Vergleich zu anderen Gesellschaftsbereichen eine herausgehobene Rolle zukommt. Ihr Einfluss auf Bedingungen der Wissens- und Wahrheitsgenese macht sie zu einer Art Metagegenstand, zumal auch die Verschwörungstheorien selbst davon betroffen sind (Nachreiner, 2013, S. 174f.; Seidler, 2016, S. 72f.). So wird auch in The 9/11 Chronicles heftig 12 Interessant ist die Silverstein-Passage auch in Sachen Personifizierung: Zwischendurch wird eine Aufnahme von Silverstein eingeblendet, sodass die Zuschauer*innen ein Gesicht zum Namen haben. Silverstein wird im Bild markiert  – dies scheint keinen unmittelbaren Zweck zu erfüllen, da er die einzige zu sehende Person ist. Hier geht es wohl eher darum, durch den Einsatz tradierter Dokumentarfilm-Marker per se affektiv Glaubwürdigkeitseffekte zu erzeugen.

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gegen die Mainstreammedien polemisiert. Vor allem ist es das Fernsehen, was nicht zuletzt daran liegen wird, dass es für die Berichterstattung zu 9/11 als Leitmedium fungierte. Auch hier wird das Motiv bereits in der anfänglichen Montage eingeführt, indem ein Fernsehdreh gezeigt wird. Bei der ersten Protestaktion ist dann ein NBC-Reportageteam vor Ort. Der Produktionsapparat – Kameras, Mikrofone, Kameramann, Reporter und Techniker*innen – wird durch die Aufnahmen der Aktivist*innen sichtbar gemacht, sodass sich der Blick auf die Hinterbühne eröffnet. Aktivist Wallace (s. o.) gerät in einen Streit mit dem arrogant wirkenden Reporter und beschuldigt ihn der Manipulation: »If you can go on your news channels and manipulate people’s thoughts, we can do it, too. How about that?« (TC 0:16:42). Auch während Rudkowsky und Konsort*innen die Vertreter*innen der Elite konfrontieren, werden immer wieder kurze Ausschnitte aus Fernsehnachrichten zwischengeschnitten, die entweder die zu widerlegende »offizielle Version« abrufen und vermeintliche Widersprüchlichkeiten darin aufzeigen oder den wenig respektvollen Umgang der Massenmedien mit den Verschwörungstheoretiker*innen belegen sollen, die in betreffenden Szenen mit abwertenden Bezeichnungen versehen werden (TC 0:38:07). Eine Sichtbarmachung des Produktionsapparats erfolgt auch während der Demonstration, die den dramaturgischen Höhepunkt des Films darstellt. Vor Ort finden Live-Aufnahmen des Senders FOX statt. Ziel der Demonstrant*innen ist es, diese Aufnahmen mit lauten »9/11 was an inside job«Sprechchören zu stören. Das Gelingen wird als großer Erfolg gefeiert, der Film zeigt Mitschnitte der Sendung, in denen der Moderator auf die Demonstrationen hinweist. Die Aufnahmen der Aktivist*innen zeigen auch diesen Moderator als arroganten Vertreter der Medienindustrie, der den Demonstrant*innen den Mittelfinger zeigt (TC 1:37:18). Einsatz von Medientechnologie durch Verschwörungstheoretiker*innen

In ihrer Selbstinszenierung stellen die Verschwörungstheoretiker*innen ein Gegengewicht zu den Massenmedien her, indem sie selbst niedrigschwellige Medientechnologie zum Einsatz bringen. Passend dazu wird gezeigt, wie die vermeintlichen Verschwörer*innen versuchen, dies zu verhindern. Bereits in der Anfangsmontage hält ein Polizist die Kamera der Demons250

Verschwörung audiovisuell gedacht

trant*innen zu (TC 0:00:23). Immer wieder lassen Polizist*innen Aussagen wie »Turn the camera off« (TC 0:02:31) vernehmen – hier fungieren die angeblichen Verschwörer*innen und ihre Kompliz*innen als aktive Gegenspieler*innen der Aktivist*innen und gleichzeitig gilt die scheinbar mitschwingende Angst vor dem Gefilmtwerden als Hinweis, dass geheime und böse Machenschaften vor sich gehen. Neben dem Filmen ist natürlich auch die Distribution von Bedeutung, wobei das Internet eine zentrale Rolle spielt (Seidler, 2016, S. 68ff.; Nachreiner, 2013, S. 174; Butter, 2018, S. 186ff.). Bei bzw. nach einer Protestveranstaltung im Zuge eines Auftritts des Politikwissenschaftlers und Diplomaten Zbigniew Brzezinski filmt sich Rudkowsky selbst. Er adressiert direkt das zu dem Zeitpunkt nicht zugegene, aber für die spätere »Aufführung« des Films erwartete Publikum: »Hope you guys enjoy the footage« (TC  0:24:42). In der nachträglichen Kommentierung beschreibt er das Verbreiten des Materials als Teil der verschwörungstheoretischen Agenda, wobei er das Internet explizit erwähnt und die kämpferische Seite seines Daseins als Verschwörungstheoretiker starkmacht: »It was a huge victory getting the footage out […] and getting hundreds of thousands of likes on YouTube and the whole internet« (TC 0:24:49). Bei der Aktion am wiederaufgebauten WTC 7 fordert erneut ein Sicherheitsmann, die Aktivisten sollten die Kamera ausstellen. Der beteiligte Rudkowsky sagt im Nachhinein: »The only thing that really protected me from being set up was a video camera and with that video camera I was able to show the world what’s really going on and how these guys are so criminal« (TC 0:29:49). Hier wird die zuvor erwähnte angenommene Angst der angeblichen Verschwörer*innen vor der dokumentierenden Funktion der Medientechnologie mitreflektiert. An einer Stelle wird diese Konstellation auch als bestätigende Fremdzuschreibung inszeniert: Comedian Rosie O’Donnell sagt während einer öffentlichen Veranstaltung (wie es scheint eher in Bezug auf das Engagement für Ersthelfer*innen und die Angehörigen der Verstorbenen anstatt direkt über die Verschwörungstheorie): »[A]nd with that little video camera; that’s the new way that America is gonna be equalized. So keep doing it« (TC 1:31:20). Neben der dramaturgischen und verbalen Verhandlung der Rolle von Medientechnologien sind entsprechende Geräte auch visuell präsent, etwa während einer Protestaktion, wo ein Schwenk über das Publikum zeigt, wie viele der Anwesenden Kameras und Handys hochhalten, um zu filmen (TC 0:39:56). Distributionsmedien bleiben auch nicht außen vor: Häufig 251

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sind weiterführende Websites in Bauchbinden eingeblendet, der Aufbau der Plattform YouTube wird referenziert. Die Zusammenstellung/Inszenierung unterschiedlicher Medien ist hier interessant, wie in einer Sequenz besonders deutlich wird: Zuvor wurde gezeigt, wie ein Verschwörungstheoretiker den Schauspieler Danny Bonaduce in der Öffentlichkeit auf vermeintliche Unstimmigkeiten der »offiziellen Version« von 9/11 anspricht. Der ursprünglich skeptische Bonaduce berichtet nun in einer Internetradioshow, wie er doch überzeugt wurde – durch einen YouTube-Upload des Gesprächs und die Reaktionen darauf. Betreffender Upload wird im Interface der Plattform gezeigt, während gleichzeitig (medial mittelbar, durch die Wiedergabe der Radioshow im Film) die Wirkung dargelegt wird (TC 1:13:17). Patriotismus

Verschwörungstheorien nehmen häufig eine patriotische Rahmung vor (Knight, 2008, S. 175f.). The 9/11 Chronicles ist diesbezüglich besonders deutlich und führt das Motiv schon am Anfang ein. In der eröffnenden Montage ruft jemand: »We are here to defend America!« (TC 0:01:27) und wenig später: »That [asking questions] is what a patriot does, what a true American does« (TC 0:08:17). In der Thematisierung des vermeintlichen Versäumnisses der Regierung, über die Luftverschmutzung zu berichten, wird der Satz »They told the American people […]« verwendet. Neben der Betonung des Amerikanischen werden die Kritik an Eliten und die Selbstinszenierung als »einfache Leute« stark gemacht; die Motive greifen ineinander. So wird auch der ehemalige Notenbankchef Alan Greenspan bei einem Auftritt beschimpft: »He is destroying our country […] he is not a true American citizen« (TC 1:24:37). Die Feuerwehrleute und Ersthelfer*innen werden wiederholt als Held*innen inszeniert, womit ein Motiv bedient wird, das auch in der Mainstreamberichterstattung präsent ist (Becker, 2013, S.  279ff.). Die patriotische Selbstinszenierung erfolgt auch in Abgrenzung zu anderen, etwa bei der Aktion am WTC 7: »We are not terrorists, we are Americans« (TC 0:28:44) oder in einer späteren Sequenz: »This is not Nazi Germany, this is not Soviet Russia, this is the United States of America« (TC 1:19:07). Hier soll auf die Meinungsfreiheit und das Recht zu demonstrieren verwiesen werden. Ein solcher Rückgriff auf geteilte Werte, die als 252

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spezifisch amerikanische und schützenswerte Errungenschaften dargestellt werden, erfolgt häufig. Das bestätigt die Feststellung, dass Verschwörungstheorien eine bedrohte gesellschaftliche Ordnung bewahren wollen (Butter, 2018, S. 175ff.), wobei der Angriff durch die Verschwörer*innen in diesem Fall aus dem Inneren der Gesellschaft heraus erfolgt (zur Klassifizierung von Verschwörungstheorien, ebd., S. 29ff.). Visuell sind es Nationalsymboliken wie die Freiheitsstatue, die New Yorker Skyline (besonders prekär durch das Fehlen der ikonischen Twin Towers) oder die stets präsenten Stars-and-Stripes-Flaggen, die die patriotische Rahmung mittragen.

Fazit Der Film hält ein Konglomerat aus verschiedenen Motiven bereit, die dem Verschwörungsdenken entsprechen und eng miteinander verwoben sind. Es konnten sieben Leitmotive herausgearbeitet werden: kollektive Unsicherheit, Signifizierung von Ängsten, Personifizierung von Verschwörungstheoretiker*innen, die Rolle der Vertreter*innen von Staatsmacht sowie Massenmedien, der Einsatz von Medientechnologie und Patriotismus. Die Einordnung der Beobachtungen in diese Kategorien stellt dabei eine für die Analyse produktive Aufschlüsselung dar – wenngleich sie eng verzahnt sind und viele Aspekte/Szenen sich in mehrere der Bereiche einordnen ließen. Der Patriotismus etwa soll das Vorgehen legitimieren und wird in die übrige Erzählung motivübergreifend eingewoben. Die Signifizierung von Ängsten ist eine Strategie, die auf die Erfahrung kollektiver Unsicherheit reagiert. Das Verfahren der Personifizierung der Verschwörer*innen kommt erst zu voller Geltung, wenn sie in antagonistische Beziehung zu den Verschwörungstheoretiker*innen gesetzt werden, also die Schaffung eines klaren Feindbilds bedeutet. Massenmedien und staatliche Institutionen wie die Polizei gelten gleichermaßen als von der Verschwörung kontrolliert, der Einsatz von Medientechnologie durch die Verschwörungstheoretiker*innen wird als Gegenstrategie dargestellt. Die Bezugnahme auf Massenmedien ist von Ambivalenzen geprägt, ist doch gerade der Produzent des Films, Alex Jones, eine prominente Figur sowie Betreiber reichweitenstarker Kanäle und scheint zu denjenigen Verschwörungstheoretiker*innen zu gehören, die durchaus auf das Erreichen des gesellschaftlichen Mainstreams abzielen (ebd., S. 157f.). Die gezeigten Aktionen scheinen sich aller Kritik zum Trotz an massenmedialer Wirkung zu 253

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orientieren. Auch wenn das Ermächtigungsmoment gerade im Stören des Betriebs besteht, kommen die Aktivist*innen doch nicht umhin, bestehenden Strukturen Raum zu geben, ebenso wie sie für die möglichst überzeugende Vermittlung ihrer Inhalte auf tradierte, etwa aus Dokumentarfilmen stammende Codes zurückgreifen (müssen), die gerade auch durch ihre Vertrautheit erwünschte Wirkungspotenziale bereithalten. Nicht nur in diesem Film zeichnet sich Verschwörungstheorie dadurch aus, ein in sich geschlossenes und (über-)kohärentes Weltbild anzubieten ( Jaecker, 2005, S. 15ff.). Die Motive werden vielfach explizit verhandelt und ästhetisch repräsentiert – oft geht es jedoch weniger um konkrete Inhalte und mehr um eine affektive Verknüpfung. Unterstützt wird das Verschwörungsdenken durch die ästhetische Gestaltung. Sie zielt auf einen Unmittelbarkeitseindruck ab, der Glaubwürdigkeit verleihen soll. Der Einsatz von Postproduktionseffekten scheint im Widerspruch zu dieser Strategie zu stehen, wird aber offenbar nicht als Kontingenz wahrgenommen. Sie unterstützen vor allem die Vermittlung einer Unsicherheitserfahrung, auf Basis derer die verschwörungstheoretische Aussageabsicht zur willkommenen Sinnstiftungsmöglichkeit wird. Auch tradierte dokumentarische Authentizitätsmarker wie Markierungen in fotografischen Bewegtbildern scheinen weniger über eine inhaltliche Komponente zu funktionieren und mehr über Affekte. Auch die Montage arbeitet dem zu, indem sie den filmischen Raum als unübersichtlich erscheinen lässt. Häufig sind bspw. die Sprecher*innen zu hören, bevor sie im Bild erscheinen. In Verbindung mit schnellen Montagen, begleitet von häufig dissonanter oder anderweitig emotionalisierender Musik kann es schnell zu Überforderungs- oder Überreizungseffekten kommen. Der Stress, dem Rezipient*innen ausgesetzt sind, macht sie potenziell empfänglich für die verschwörungstheoretische Botschaft. Jene wird, vor allem wenn es um affektive Glaubwürdigkeitssteigerung etwa durch das Aufrufen geteilter Werte geht, durch eine ruhigere Gestaltung unterstützt (weiche Schnitte, lange Schwarzblenden etc.). Ein entscheidendes Charakteristikum von Verschwörungsdenken ist der Wunsch, zu überzeugen – aus diesem erwächst der Einsatz persuasiver Strategien, die gerade im Audiovisuellen das kausallogische Argumentieren zurückstellen und auf affektive Affirmation zielen. Verschwörungstheoretische Filme und Videos weisen eine wiederkehrende Kombination gestalterischer Mittel auf, die in einer spezifischen verschwörungstheoretischen Ästhetik resultiert. Dazu gehört an erster Stelle die Produktivmachung tradierter Dokumentarfilmmarker, die die Aktivierung eines dokumentarisie254

Verschwörung audiovisuell gedacht

renden Lektüremodus anregt (Odin, 2006 [1984], S. 268). Dazu gehören Voice-Over, Grafiken, Tabellen, Schwarz-Weiß-Aufnahmen sowie Interviews mit Augenzeug*innen, Expert*innen und Insider*innen. Daneben gibt es aber auch Inszenierungsweisen, die eine ästhetische Gestaltungsabsicht auf eine Art in den Mittelpunkt stellen, die der Authentifizierung eher entgegenwirkt – etwa durch den Einsatz plakativer Stilmittel. Die oft amateur*innenhafte Anmutung scheint dabei nicht nur technischen und könnerischen Einschränkungen geschuldet zu sein, sondern auch eine bewusste Abgrenzung zum massenmedialen Mainstream darzustellen – letzterer gilt schließlich als von den Verschwörer*innen kontrolliert und somit unglaubwürdig. Weiterhin zu beobachten ist die affirmative Unterstützung der Argumentation durch ästhetische Mittel. So wird etwa, wenn der Zusammenhang eigentlich divergenter Ereignisse herausgearbeitet werden soll, dies durch das Herstellen von Ähnlichkeit der ästhetischen Repräsentation unterstützt. Auch wirken die Steigerung der Schnittfrequenz sowie eine sehr hohe Informations- und Motivdichte in einigen Passagen der semantischen Verarbeitung eher entgegen. Im Vordergrund steht dann eher Affekt als Argument sowie dass die Zuschauer*innen durch Überforderungs- und Überreizungstaktik empfänglich gemacht werden sollen für die verschwörungstheoretische Botschaft – die dann passenderweise unter Zurücknahme solcher Reize und häufig mittels Suggestivfragen vermittelt wird (für entsprechende Fallstudien, vgl. Wolf, 2019, 2020). In seiner audiovisuellen Form zeichnet sich Verschwörungsdenken dann gerade durch die Kombination kausallogischer Argumentation und affektiver Reize aus. Trotz der Priorisierung der verbalen Vermittlung in The 9/11 Chronicles scheinen solche ästhetischen Strategien teilweise auf. In der vorliegenden Fallstudie zeigen sich allgemein drei Eigenschaften von Verschwörungsdenken: 1. Die auftretenden Motive sind stark miteinander verflochten. 2. Wenngleich der Wunsch nach Kohärenz als wesentliche Motivation für Verschwörungsdenken beschrieben wurde (Butter, 2018, S. 105ff.), weisen die Narrative durchaus Ambivalenzen auf, die allerdings nicht als auflösungsbedürftig wahrgenommen werden, solange sie dem stabilen manichäischen Weltbild nicht entgegenwirken. Dies scheint zusammenzuhängen mit Michael Butters Feststellung, dass sich Verschwörungsdenken zwar durchaus durch Komplexitätsreduktion auszeichnet, wenn es um soziale Realität geht, auf semiotischer Ebene aber eher Komplexität produziert (ebd., S. 59f.). 3. Es fällt die enge Verbindung von semantischer Bedeutungsproduktion und affektiven Reizen auf, die sich in 255

Deborah Wolf

der Nutzung der Audiovisualität manifestiert. Besonders beachtlich ist das, weil sich gerade Verschwörungstheorien gern den Anschein von Rationalität, Objektivität und Wissenschaftlichkeit geben (ebd., S. 57f.). Die Analyse will einen Beitrag zum Verständnis von Verschwörungsdenken leisten, indem sie der – in gegenwärtigen Zusammenhängen besonders relevanten (ebd., S. 76) – audiovisuellen Form Beachtung schenkt. Durch den Zuschnitt als Fallstudie konnten spezifische Strategien detailliert herausgearbeitet werden und werden möglicherweise Impulse für zukünftige Forschung gegeben. Literatur Becker, A. (2013). 9/11 als Bildereignis: Zur visuellen Bewältigung des Anschlags. Bielefeld, Berlin: transcript. Butter, M. (2018). »Nichts ist, wie es scheint«: Über Verschwörungstheorien. Berlin: Suhrkamp. Douglas, K., Cichocka, A. & Sutton, R. M. (2020). Motivations, Emotions and Belief in Conspiracy Theories. In M. Butter & P. Knight (Hrsg.) Routledge Handbook of Conspiracy Theories (S. 181–192). Abingdon, New York: Routledge. Eugeni, R. (2002). Von der themenzentrierten Analyse zur Soziosemiotik des filmischen Texts. montage AV, 11(2), 113–121. Fenster, M. (2008). Conspiracy Theories: Secrecy and Power in American Culture. 2., korr. u. erw. Aufl. Minneapolis: Univ. of Minnesota Press. Jaecker, T. (2005). Antisemitische Verschwörungstheorien nach dem 11. September: Neue Varianten eines alten Deutungsmusters. Münster: LIT. Kessler, F. (1998). Fakt oder Fiktion? Zum pragmatischen Status dokumentarischer Bilder. montage AV, 7(2), 63–78. Knight, P. (2000). Conspiracy Culture: From the Kennedy Assassination to the X-Files. London: Routledge. Knight, P. (2008). Outrageous Conspiracy Theories: Popular and Official Responses to 9/11 in Germany and the United States. New German Critique, 103: Dark Powers: Conspiracies and Conspiracy Theory in History and Literature, 165–193. Krause, M., Meteling, A.  & Stauff, M. (2011). Einleitung. In M.  Krause, A.  Meteling  & M.  Stauff (Hrsg.), The Parallax View: Zur Mediologie der Verschwörung (S.  9–42). München: Fink. Leone, M., Madisson, M. & Ventsel, A. (2020). Semiotic Approaches to Conspiracy Theories. In M. Butter & P. Knight (Hrsg.), Routledge Handbook of Conspiracy Theories (S. 43–55). Abingdon, New York: Routledge. Maaz, H.-J. (2001). Zur Psychodynamik von Verschwörungstheorien: Das Beispiel der deutschen Vereinigung. In U. Caumanns & M. Niendorf (Hrsg.), Verschwörungstheorien. Anthropologische Konstanten  – historische Varianten (S.  31–36). Osnabrück: Fibre.

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Biografische Notiz

Deborah Wolf ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Medien- und Kulturwissenschaft der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Zuvor war sie am Graduiertenkolleg »Faktuales und fiktionales Erzählen« der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg tätig. Sie promoviert zur Ästhetik, Narrativität und diskursiven Verortung von filmischen 9/11-Verschwörungserzählungen.

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#flattenthecurve Wie begrenzen wir die Welle von Falschinformationen und Verschwörungserzählungen in digitalen sozialen Netzwerken? Julian Kauk, Helene Kreysa, Anne Voigt & Stefan R. Schweinberger

Im Frühjahr 1978 kam es auf einer Internatsschule im Norden Englands zu einem Influenzaausbruch (Anonymous, 1978), wobei vermutlich ein Schüler das Virus nach den Weihnachtsferien in die Schule eingetragen hatte. Die infizierten Schüler klagten über Müdigkeit und Kopfschmerzen und entwickelten teils hohes Fieber. Von den 763 Schülern wurden im Laufe des Ausbruchs insgesamt 512 krank, sodass sie einige Tage das Bett hüten mussten. Abbildung 1 (links) zeigt die zeitliche Dynamik dieser Epidemie: Die Anzahl der bettlägerigen Schüler (»confined to bed«) stieg rasch und exponentiell an bis zu einem Höhepunkt nach sieben Tagen. Danach flachte das Infektionsgeschehen sichtbar ab, um am 13. Tag völlig zum Erliegen zu kommen.

Abb. 1: (links) Influenzaausbruch in nordenglischer Internatsschule; (rechts) Infektionsdynamik während des Ausbruchs (Anonymous, 1978)

Solche wellenförmigen Verläufe von Infektionszahlen sind charakteristisch für Epidemien und wurden so auch bei Ausbrüchen anderer Pathogene wie etwa SARS-CoV-2 beobachtet (European Centre for Disease Prevention 259

Julian Kauk, Helene Kreysa, Anne Voigt & Stefan R. Schweinberger

and Control, 2021). Die Auswirkungen der durch SARS-CoV-2 verursachten Pandemie beschränken sich jedoch nicht auf biologische Infektionen von Individuen, sondern erstrecken sich bis in deren soziale Interaktionen und kognitive Verarbeitung: Tedros Adhanom Ghebreyesus, Generalsekretär der Weltgesundheitsorganisation WHO, sprach erstmals am 28. März 2020 von einer Infodemie (»infodemic«), die die faktische COVID-19-Pandemie begleite (s. The United Nations Department of Global Communications, 2020). Eine solche Infodemie ist laut der WHO eine Situation, in der beim Ausbruch einer Krankheit ein Übermaß an (u. a.) falschen bzw. irreführenden Informationen vorhanden ist, sowohl im digitalen als auch im physischen Raum (s. WHO, 2021; vgl. auch Cinelli et al., 2020). Die Verwendung dieses Begriffs im Zuge der COVID-19-Pandemie hat selbst einen historischen Charakter, denn der Begriff scheint erstmals 2002/03 während der SARS-CoV1-Pandemie durch den Journalisten David Rothkopf in einer Kolumne der Washington Post genutzt worden zu sein (Merriam-Webster, 2020). Auch wenn sich der Begriff Infodemie nicht per se nur auf Falschinformationen und Verschwörungserzählungen bezieht, so ist es doch genau diese Form der »Information«, die die WHO und andere Organisationen im Zuge der COVID-19-Pandemie vor substanzielle Herausforderungen gestellt hat: Allein 2020 konnten mehr als 5.500 COVID-19-bezogene Falschnachrichten identifiziert werden, wobei verschiedene Länder und Regionen es jeweils mit unterschiedlichen (falschen oder irreführenden) Narrativen zu tun hatten (s. Siwakoti et al., 2021). So kursierten in den USA neben Falschinformationen zum Ursprung von SARS-CoV-2 oder Arzneimitteln und Impfungen gegen COVID-19 v. a. politisierte Falschinformationen. Dem Demokraten und 44. Präsidenten der Vereinigten Staaten, Barack Obama, wurde etwa unterstellt, er habe die Freigabe von 3,8 Millionen US-Dollar an ein Labor in Wuhan, China, autorisiert. Nachweislich gingen davon jedoch 2,8  Millionen US-Dollar an eine Nichtregierungsorganisation in den USA, und nur 0,6 Millionen US-Dollar wurden dem Labor in Wuhan im Rahmen einer wissenschaftlichen Kooperation zugeteilt (s. Fichera, 2020). Auch in Europa verbreiteten sich Falschinformationen zum Ursprung von SARS-CoV-2 und zu Heilmitteln gegen COVID-19. Das meist genutzte Narrativ bezog sich hier hingegen auf Falschinformationen über (Schutz-)Maßnahmen, die Regierungen in Europa verhängten. So soll Ursula von der Leyen, Präsidentin der Europäischen Kommission, die Arbeitnehmer*innen in der Europäischen Union angeblich dazu aufgerufen haben, zur Entlastung der Unternehmen auf ihren Lohn zu verzichten. 260

#flattenthecurve

Von der Leyen hat jedoch nie zum Lohnverzicht aufgerufen und der initiale Facebook-Beitrag war fingiert (s. Hoffmann, 2020).

Wie Modelle der Infektionsepidemiologie helfen können, die Verbreitung von Falschinformationen in digitalen sozialen Netzwerken zu verstehen Doch was hat die Verbreitung von Falschinformationen gemein mit der Verbreitung einer Infektionskrankheit wie Influenza oder COVID-19? Eine erste Antwort auf diese komplexe Frage könnte ein Kommentar aus dem Jahre 1964 liefern, den D. J. Daley und D. G. Kendall im Fachjournal Nature publizierten. Epidemiologen nutzen zur Beschreibung der Dynamik von Infektionskrankheiten sogenannte »(epidemic) compartmental models«. Solche Modelle basieren auf der Annahme, dass Individuen in einer Population bestimmten Kompartimenten (»compartments«, zu Deutsch etwa »Abteile«), d. h. (Sub-)Gruppen, zugewiesen werden können, und dass die Zugehörigkeit zu diesen Kompartimenten einer zeitlichen Dynamik unterliegt. Mit Blick auf den Influenzaausbruch in der nordenglischen Internatsschule könnte man also folgende Kompartimente definieren: Es gibt Schüler, die »suspectible«, d. h. durch das Virus ansteckbar sind (»susceptible individuals«, S). Weiterhin gibt es Schüler, die infiziert sind und andere ansteckbare Schüler anstecken können (»infected individuals«, I), und Schüler, die nach einer Infektionsperiode genesen bzw. aufgrund von Immunität nicht (mehr) infiziert werden können (»removed individuals«, R). Mittels eines solchen SIR-Modells lässt sich nun die Infektionsdynamik in dieser Schule beschreiben: Während initial fast alle Schüler ansteckbar sind, so nimmt die Zahl der ansteckbaren Schüler im weiteren Verlauf ab, da sich zunehmend mehr und mehr Schüler anstecken. Gleichzeitig nimmt die Zahl der genesenen Schüler zu, da infizierte Schüler nach einer bestimmten Infektionsperiode wieder genesen. Abbildung 1 (rechts) zeigt die Anzahl der Schüler in den Kompartimenten S, I und R über die Zeit. Daley und Kendall (1964) hatten nun die Idee, dass durch eine Reinterpretation dieser Kompartimente ein Modell entstehen könnte, das auch die Verbreitung von Gerüchten in einer Population zu beschreiben in der Lage ist. Hierbei nahmen sie an, dass ansteckbare Individuen (Kompartiment S) Personen seien, die noch nicht von einem Gerücht gehört haben. Infizierte Individuen (Kompartiment I) seien Personen, die aktiv ein Gerücht ver261

Julian Kauk, Helene Kreysa, Anne Voigt & Stefan R. Schweinberger

Tab. 1: Reinterpretationen des SIR-Modells für Gerüchte und Falschinformationen auf Twitter Kompartimente Anwendungsbereich

N

S

Epidemiologie

vollständige Population

ansteckbar mit einer infiziert Infektionskrankheit

entfernt aufgrund von Immunität

Gerüchte (Daley & Kendall, 1964)

vollständige Population

Gerücht noch nicht gehört

Gerücht aktiv verbreiten

Gerücht nicht mehr aktiv verbreiten

Falschinformationen auf Twitter (Kauk et al., 2021)

alle aktiven TwitterNutzer*innen

noch keinen (inkorrekten) Tweet gepostet

(inkorrekten) Tweet gepostet

Falschinformation ist vergessen/aus dem Sinn/korrigiert

I

R

breiten, während »genesene« Individuen (Kompartiment R) dies nicht mehr tun. Im Wesentlichen passten Daley und Kendall das SIR-Modell also insofern an, dass anstatt einer biologischen Infektion mit einem Pathogen eine »mentale Infektion« des kognitiven Systems mit einer (inkorrekten) Information erfolgt. Die (metaphorische) Analogie einer biologischen Infektion zur Entstehung irrationaler Überzeugungen impliziert keine Pathologisierung und genügt natürlich nicht, um komplexe Prozesse im menschlichen Gehirn zu beschreiben. So ist etwa die Annahme einer Genesung nach einer bestimmten Infektionsperiode wenig realistisch, da nicht ohne Weiteres davon ausgegangen werden kann, dass das kognitive System über so etwas wie ein Immunsystem verfügt, das irrationale Überzeugungen kuriert. Nichtsdestotrotz ist es eine plausible Annahme, dass mit irrationalen Überzeugungen »infizierte« Individuen nach einer gewissen Zeitspanne das Interesse an der Sache verlieren, korrekte Informationen berücksichtigen oder gar die irrationalen Überzeugungen vergessen (Kauk et al. 2021; Peri et al., 2020). Ein in diesem Sinne reinterpretiertes SIR-Modell kann nun ebenso auf digitale soziale Netzwerke wie Twitter oder Facebook übertragen werden. Im Hinblick auf Twitter wäre es demnach sinnvoll, anzunehmen, dass ansteckbare Nutzer*innen (Kompartiment S) noch keinen entsprechenden Tweet abgesetzt haben, während »infizierte« Nutzer*innen (Kompartiment I) dies getan haben. Tabelle 1 fasst zusammen, wie das SIR-Modell modifiziert werden kann, um auch für die Verbreitung von Gerüchten oder Falschinformationen auf Twitter zu gelten. In dem vorliegenden Bei262

#flattenthecurve

trag werden wir ein solches SIR-Modell nutzen, um die Verbreitung einer spezifischen Verschwörungserzählung auf Twitter zu beschreiben und um zu evaluieren, als wie wirksam bestimmte Gegenmaßnahmen (z. B. FactChecking) einzuschätzen sind, die die Verbreitung der Verschwörungserzählung hätten eindämmen können. Im folgenden Abschnitt werden wir zunächst jedoch die spezifische Problematik von Falschinformationen in digitalen sozialen Netzwerken näher erläutern.

Falschinformationen in digitalen sozialen Netzwerken: Ein fundamentales Problem Die Bedeutung von Falschinformationen und deren Potenzial, Vertrauenspotenziale und soziale Kohäsion zu untergraben, sind in den letzten Jahren ins öffentliche Bewusstsein gerückt.1 Betrachtet man etwa die Wahlprogramme der im Bundestag vertretenen Parteien für die Bundestagswahl 2021, so sprachen alle Parteien bis auf die Alternative für Deutschland das Problem explizit an und forderten mitunter (inter-)national organisierte Anstrengungen zur Abwehr von Falschinformationen. Zum Vergleich: In den Wahlprogrammen zur Bundestagswahl 2017 wiesen lediglich die Sozialdemokratische Partei Deutschlands und Bündnis 90/Die Grünen auf Falschinformationen hin, und zur Bundestagswahl 2013 tauchte das Thema in keinem der Wahlprogramme auf. Die Gefahr, die von Falschinformationen ausgeht, ist keineswegs neu: Schon 2012 warnte das Weltwirtschaftsforum in seinem jährlichen Global Risks Report davor, dass proaktiv, absichtsvoll und skaliert digital verbreitete Falschinformationen ernsthafte Konsequenzen für Gesellschaften und deren soziale Strukturen haben könnten. Knapp eine Dekade später ist das Phänomen sowohl in der Gesellschaft wie auch in der wissenschaftlichen Literatur ungleich präsenter, wobei insbesondere gesellschaftliche Großereignisse und Krisen wie die Präsidentschaftswahl 2016 in den USA, die Klimakrise oder die COVID-19-Pandemie die Relevanz von Falschinformationen verdeutlicht haben (z. B. Allcott & Gentzkow, 2017; Tasnim et al., 2020). Digitale soziale Netzwerke können hierbei sowohl als Spiegelbild als auch Multiplikator der Verbreitung von Falschinformationen betrachtet werden (s. z. B. Allcott & Gentzkow, 2017; Allcott et al., 2019; Cinelli et 1

Vgl. dazu auch die Beiträge von Felix Brauner und Hans-Jürgen Wirth i. d. Bd.

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Julian Kauk, Helene Kreysa, Anne Voigt & Stefan R. Schweinberger

al., 2021; Lazer et al., 2018). In einer umfangreichen Studie konnten in diesem Zusammenhang Vosoughi et al. (2018) zeigen, dass Falschnachrichten auf Twitter im Vergleich zu korrekten Nachrichten eine verstärkte Verbreitungsdynamik aufweisen. Die Autoren wiesen darauf hin, dass sich Falschnachrichten schneller, tiefer und weiter verbreiten als korrekte Nachrichten. In einer anderen Studie fanden Shin et al. (2018) zudem heraus, dass inhaltlich nicht zutreffende politische Gerüchte auf Twitter nach einem initialen Verbreitungshöhepunkt wiederaufflammen können, während für zutreffende kein solches Muster beobachtet wurde. Beide Befunde können als Evidenz für eine tiefgreifende Durchdringung von digitalen sozialen Netzwerken mit Falschinformationen betrachtet werden. Aber warum bieten digitale Netzwerke eine solch herausragende Bühne für Falschinformationen? Auch die UNESCO, die in regelmäßigen Berichten die Freiheit der Presse und die Entwicklung der Medien untersucht, sieht digitale soziale Netzwerke als Katalysatoren in der Entstehung von Falschinformationen (Stremlau et al., 2018). In ihrem 2018 veröffentlichten Bericht wird argumentiert, dass aufgrund ihrer Programmarchitektur und aufgrund des zugrundeliegenden Geschäftsmodells die Verbreitung von hervorstechenden (»click-worthy«) Inhalten gefördert wird. Weiterhin ist die Bildung von »Echokammern«, d. h. relativ geschlossenen Systemen von Nutzern*innen, in denen die eigenen Überzeugungen verstärkt und konträre Überzeugungen unterdrückt werden, ein prominentes Phänomen in digitalen sozialen Netzwerken. Cinelli et al. (2021) zeigten in diesem Zusammenhang, dass das Ausmaß der Aggregation von Nutzer*innen in solch homogenen Clustern plattformspezifisch ist, wobei v. a. auf Facebook und Twitter Nutzer*innen weniger durchmischt zu sein scheinen als in anderen entsprechenden Netzwerken.2

Die 5G-Verschwörungserzählung und ihre Verbreitung in digitalen sozialen Netzwerken Im Folgenden zeigen wir exemplarisch, wie sich eine bestimmte Verschwörungserzählung – die sogenannte 5G-Coronavirus-Verschwörungserzählung – während eines umgrenzten Zeitraums auf einer bestimmten Plattform – Twitter – ausbreitete, und wir analysieren, welche Gegenmaß2

Vgl. dazu insgesamt auch den Beitrag von Nora Feline Poesl i. d. Bd.

264

#flattenthecurve

nahmen zu welchen Zeitpunkten dazu beigetragen hätten, diese Verbreitung möglicherweise einzudämmen. »5G« ist ein in vielen Sprachen verwendetes Kürzel für die fünfte Generation des Mobilfunks, einen technischen Standard, der auf hochfrequenten elektromagnetischen Feldern beruht. 5G basiert auf dem bisher gültigen LTE-Standard und nutzt das Funknetz, um große Datenmengen zwischen ortsfesten Sendeanlagen und mobilen Endgeräten (insb. Smartphones) auszutauschen. Während beim klassischen Radio nur wenige große Masten genügen, um ganze Regionen abzudecken, benötigt das Mobilfunknetz viele relativ kleine »Zellen«, deren Sender üblicherweise auf erhöhten Gebäudefassaden und -dächern, Hinweisschildern oder auch auf eigens dafür aufgestellten Masten installiert werden (s. Umweltministerium NRW, 2020). Sorgen wegen möglicher gesundheitlicher Schäden durch Strahlungsbelastung sind seit Einführung der ersten Mobilfunkgeräte immer wieder geäußert worden und dahingehende Falschinformationen wurden mit jeder neuen Mobilfunkgenerationen in ähnlichen Verschwörungserzählungen ebenfalls immer wieder neu verbreitet. Zum Teil basieren diese Befürchtungen vermutlich auf dem Missverständnis, dass die von Mobiltelefonen im nicht-ionisierenden Bereich des elektromagnetischen Spektrums genutzten Radiowellen mit radioaktiver Strahlung verwechselt werden, die Krebs erzeugen kann (Rahman, 2020). Das deutsche Bundesamt für Strahlenschutz wertet seit Jahren die intensive Forschung zu möglichen Zusammenhängen zwischen Mobilfunknutzung und Krebs aus, findet aber keine Evidenz dafür, solange die geltenden Grenzwerte eingehalten werden (Bundesamt für Strahlenschutz, 2022a, b; s. a. Rowley & Mazar, 2021; WHO, 2020a). De facto liegt die Strahlenbelastung auch von den für 5G genutzten Kleinsendern erheblich unter diesen Grenzwerten und ist auch deutlich geringer als die Strahlungsbelastung durch andere gängige mobile Endgeräte. Neben Befürchtungen, dass 5G krebserregend sein könnte, kursierten auch vor der COVID-19-Pandemie Behauptungen, wonach etwa Vögel oder Bäume durch Sendemasten in ihrer Nähe Schaden genommen hätten. Auch diese Meldungen dürfen als widerlegt gelten (Rousseau, 2020). Vor diesem Hintergrund bestehender Technologieskepsis und Falschinformationen fielen Anfang 2020 der großflächige Ausbau des 5G-Netzes weltweit, die Meldung, dass sich der chinesische Mobilfunkkonzern Huawei am Ausbau der 5G-Mobilfunkinfrastruktur in Großbritannien beteiligen durfte und die weltweite Ausbreitung von SARS-CoV-2 zeit265

Julian Kauk, Helene Kreysa, Anne Voigt & Stefan R. Schweinberger

lich zusammen. In einer lesenswerten Analyse entsprechender Posts auf Facebook zeichnen Bruns et al. (2020) nach, wie sich zwischen Januar und April 2020 die Gerüchte weiterentwickelten und wer zu welcher Zeit welche Nachricht verbreitete (für eine ähnliche Untersuchung auf Twitter s. Ahmed et al., 2020). U. a. wurde (unzutreffend) behauptet, dass die chinesische Metropole Wuhan, der wahrscheinliche Ursprungsort von SARS-CoV-2, eine der ersten vollständigen Abdeckungen durch ein 5GNetz hatte. Ebenso wurde propagiert, dass 5G grippeähnliche Symptome verursachen könne, das Immunsystem schwäche, Sauerstoff zerstöre oder sogar, dass die COVID-19-Pandemie einer »globalen Elite« nur als Vorwand diene, um bspw. einen Mikrochip zu implantieren. Dieser würde anschließend durch 5G-Strahlung aktiviert. Schließlich griff die Verschwörungserzählung aus den digitalen Netzwerken in die physische Realität über, indem in mehreren Ländern (vermeintliche) 5G-Masten angezündet oder beschädigt und technische Installationsteams von Mobilfunkunternehmen tätlich angegriffen wurden. Diese Angriffe erscheinen besonders perfide in einer Situation, in der sowohl die Gesundheitssysteme wie auch das öffentliche Leben ausgesprochen stark auf funktionierende Kommunikationsnetze angewiesen waren. Spätestens zu diesem Zeitpunkt warnten daher Regierungen, öffentliche Einrichtungen und andere Autoritäten vor der destruktiven Qualität der Verschwörungserzählung, die jeder wissenschaftlichen Grundlage entbehrt. So verbreiteten die Vereinten Nationen am 22. April 2020 eine Pressemitteilung, die jegliche ursächliche Verbindung zwischen 5G und der COVID-19-Pandemie bestritt (UN, 2020). Die WHO (2020b) nahm einen diesbezüglichen Faktencheck in ihre »COVID-19 mythbusters« auf.

Parallelen zwischen der Verbreitung der 5G-CoronavirusVerschwörungserzählung und Infektionskrankheiten Zur Verbreitung der 5G-Coronavirus-Verschwörungserzählung wurden von Twitter-Nutzer*innen spezifische Hashtags genutzt, um auf die 5GVerschwörungserzählung aufmerksam zu machen. Dazu gehörten Hashtags wie »#5gcoronvarius«, »#5gvirus« oder »#wuhan5g« (s. Abb. 2, links). Obwohl sich die genannten Hashtags zum Teil auf unterschiedliche Ausgestaltungen der 5G-Coronavirus-Verschwörungserzählung beziehen, so ist diesen doch gemein, dass ein ursächlicher Zusammenhang zwischen 266

#flattenthecurve

der pandemischen Ausbreitung von SARS-CoV-2 und dem weltweiten Ausbau des 5G-Mobilfunkstandards postuliert wird. Wir identifizierten die zehn meist genutzten Hashtags, um daraus Zeitreihendaten über die Verbreitung der 5G-Coronavirus-Verschwörungserzählung zu gewinnen, wobei wir die Häufigkeit, mit der diese Hashtags an einem bestimmten Tag genutzt wurden, als Inzidenz bezeichnen. Insgesamt wurden die von uns ausgewählten Hashtags mehr als 5.000-mal auf Twitter genutzt.

Abb. 2: (links) absolute Häufigkeit der genutzten Hashtags auf Twitter; (rechts) wellenförmige Verbreitung der 5G-Coronavirus-Verschwörungserzählung auf Twitter (adaptiert nach Kauk et al., 2021)

Abbildung 2 (rechts) zeigt, dass auch die Verbreitung der 5G-CoronavirusVerschwörungserzählung auf Twitter wellenförmig verlief, d. h. während anfangs (Ende Januar 2020) noch wenige entsprechende Tweets abgesetzt wurden, steigerte sich die Anzahl rapide im weiteren Verlauf, um letztlich nach einem Maximum (Anfang April 2020) wieder abzunehmen. Abbildung 2 (rechts) zeigt auch, dass nach dem initialen Verbreitungshöhepunkt ein weiteres, kleineres Maximum auftrat, das als Evidenz für die von Shin et al. (2018) formulierte Hypothese gewertet werden kann, dass falsche Nachrichten auf Twitter nach dem Rückgang der ersten Verbreitung wiederauftauchen. Wie in dem Beispiel der englischen Internatsschule nutzten wir zur Modellierung der Verbreitung der 5G-Coronavirus-Verschwörungserzählung auf Twitter ein SIR-Modell, wobei wir dieses entsprechend des veränderten Anwendungsbereichs neuinterpretierten (s. Tab. 1). Unser SIR-Modell zeigte eine statistische Passung auf die Daten. Daher kann von gewissen Parallelen in der Verbreitung von Infektionskrankheiten und der 5G-Coronavirus-Verschwörungserzählung ausgegangen werden (eine ausführliche Beschreibung des methodischen Vorgehens für diese und alle weiteren Analysen findet sich in Kauk et al., 2021). 267

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Wie hätte man die Verbreitung der 5G-Verschwörungserzählung begrenzen können? Retrospektiv drängt sich die Frage auf, welche Gegenmaßnahmen die »Welle« und damit die Verbreitung der 5G-Coronavirus-Verschwörungserzählung hätten stoppen können. Generell hat sich das Engagement der Plattformbetreiber in den letzten Jahren und insbesondere im Zuge der COVID-19-Pandemie in dem Sinne verstärkt, dass mehr und mehr Maßnahmen ergriffen werden, um Falschinformationen entgegenzuwirken. Hier setzen digitale Netzwerke wie Facebook oder Twitter v. a. auf das sogenannte Fact-Checking und das Löschen von problematischen Posts (s. z. B. Facebook Inc., 2021; Roth & Pickles, 2020). Fact-Checking meint hier typischerweise eine Situation, in der ein inkorrekter Post mit einem Warnhinweis versehen und geprüfte Informationen dem Post angehängt werden oder auch im Vorfeld an Nutzer*innen herangetragen werden. Zwar gibt es durchaus Literatur zu den Effekten von Fact-Checking auf die Überzeugungen von Individuen (s. z. B. Porter et al., 2018; Walter et al., 2020), jedoch ist weitgehend unbekannt, wie effektiv solche Gegenmaßnahmen die Verbreitung von Falschinformationen insgesamt, d. h. im Hinblick auf die zuvor modellierte Verbreitungskurve, unterbinden können. Um die Effekte solcher Gegenmaßnahmen zu simulieren, erweiterten wir das SIR-Modell um drei Komponenten: Fact-Checking, das Löschen von Tweets sowie eine Reaktionszeit, d. h. eine zeitliche Verzögerung bis die Gegenmaßnahmen implementiert werden. Wir nahmen hierbei an, dass Fact-Checking dazu führen würde, dass für die 5G-Coronavirus-Verschwörungserzählung empfängliche Nutzer*innen (Kompartiment S) mit einer bestimmten Rate in das Kompartiment R wechseln, d. h. ein bestimmter Anteil so nicht mehr durch die 5G-Coronavirus-Verschwörungserzählung »infiziert« werden würden. Weiterhin nahmen wir mit Blick auf das Löschen von Tweets an, dass Twitter mit einer definierten Rate »infizierte« Nutzer*innen und deren Posts entfernen könne, womit diese nicht mehr »ansteckend« für empfängliche Nutzer*innen sind. Um dem Umstand Rechnung zu tragen, dass die jeweilige Plattform in der Regel verzögert auf das Auftreten von Falschinformationen reagiert, haben wir zwischen einer frühen und einer späten Reaktion unterschieden. Erstere meint hierbei, dass Twitter relativ kurz nach dem Auftauchen der 5G-Coronavirus-Verschwörungserzählung mit Gegenmaßnahmen begonnen hätte, wohingegen bei Letzterer 268

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die Gegenmaßnahmen erst relativ kurz vor dem Verbreitungshöhepunkt angewandt worden wären. Wie unsere Simulationen (Kauk et al., 2021) nahelegen, wäre Fact-Checking insbesondere im frühen Stadium der Verbreitung der 5G-CoronavirusVerschwörungserzählung ein wirkungsvolles Instrument, während es später erheblich an Wirksamkeit verliert (s. Abb. 3, obere Zeile). Das Löschen von Tweets hingegen ist weniger zeitkritisch und wäre damit auch noch eine effektive Intervention in einem späten Stadium der Verbreitung, jedoch scheint es nicht so wirkungsvoll zu sein wie Fact-Checking (s. Abb. 3, mittlere Zeile). Allerdings hat das Löschen von Tweets (zumindest bei einer frühen Reaktion) einen weiteren positiven Effekt: Der Verbreitungshöhepunkt wird verzögert, womit auch andere Gegenmaßnahmen, wie z. B. Fact-Checking, mehr Zeit erhalten würden, ihre Wirkung zu entfalten. Dies lässt sich auch in Abbildung 3 (untere Zeile) erkennen, wo beide Gegenmaßnahmen kombiniert werden: Wird früh reagiert, so lässt sich die Kurve nahezu vollständig abflachen, während bei einer späten Reaktion zumindest eine gewisse Schadenbegrenzung möglich ist. Abschließend lässt sich also festhalten, dass durch die Betreiber digitaler sozialer Netzwerke möglichst frühzeitig mit Fact-Checking begonnen werden sollte, während das Löschen von Posts zwar insgesamt weniger wirksam, aber dafür auch weniger abhängig vom Zeitpunkt der Anwendung zu sein scheint. Wie effektives Fact-Checking inhaltlich aussehen sollte, um möglichst wirksam zu sein, ist Gegenstand der folgenden Abschnitte.

Abb. 3: Effekte der Gegenmaßnahmen auf die Kurve (Simulationen adaptiert nach Kauk et al., 2021)

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Widerlegen, aber richtig: Effektives Fact-Checking in digitalen sozialen Netzwerken Falschinformationen in digitalen sozialen Netzwerken zu erkennen, ist nicht trivial. Fact-Checking kann hierbei die Auswirkungen von Falschinformationen auf die Überzeugungen der Rezipient*innen verringern, wobei Studien je nach Art der Falschinformation und Form des Fact-Checkings einen unterschiedlichen Wirksamkeitsgrad feststellen (Courchesne et al., 2021). Zudem hat sich gezeigt, dass beim sogenannten »Continued Influence Effect« Falschinformationen selbst nach einer akzeptierten Korrektur kognitive Prozesse beeinflussen können (O’Rear & Radvansky, 2020). FactChecking scheint diesen Effekt zwar nicht zu beseitigen, aber es verringert mit hoher Wahrscheinlichkeit dessen Intensität (Gordon et al., 2019). Eine gängige Form des Fact-Checkings in digitalen sozialen Netzwerken ist, wie bereits erwähnt, das Einsetzen von Warnhinweisen. Dabei ist deren Ausgestaltung von großer Bedeutung, da sie je nach Design und Inhalt unterschiedliche Effekte erzielen können. Für eine wirksamere Widerlegung von Falschinformationen sind spezifische und in sich kohärente Warnhinweise und Informationen ratsam, statt den Post lediglich als inkorrekt zu kennzeichnen (Chan et al., 2017). Bei der Widerlegung einer Falschinformation ist es sowohl für professionelle Faktenchecker*innen als auch Nutzer*innen digitaler sozialer Netzwerke ratsam, einem bestimmten »Fahrplan« zu folgen (s. Lewandowsky et al., 2020): Zunächst sollte man mit der Erwähnung des Fakts beginnen, wenn möglich auf einfache und plausible Art und Weise. Es folgt die Falschinformation, die nur einmal erwähnt werden sollte und vor der man am besten vor der Nennung warnt. Im Anschluss ist es empfehlenswert, darzulegen, inwieweit die Falschinformation in die Irre führt. Abschließend wird nochmals der Fakt bestätigt. Eine Bereitstellung korrekter Informationen zu einem möglichst frühen Zeitpunkt nach Auftreten der Falschinformation ist generell empfehlenswert (Kauk et al., 2021), wenngleich sie die Auswirkungen von Falschinformationen nicht komplett eliminieren kann. Eine Metaanalyse von Walter und Tukachinsky (2020) kommt ebenfalls zum Ergebnis, dass Korrekturen dann weniger erfolgreich sind, wenn eine größere Zeitspanne zwischen Falschinformation und Korrektur verstrichen ist, und auch wenn die Falschinformation vor einer Korrektur häufiger wiederholt wurde. In anderen Situationen, und wo dies möglich ist, sollte angestrebt werden, dass die Quelle der Korrektur dieselbe ist (oder zumindest dersel270

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ben wahrgenommenen Ingroup angehört) wie die Quelle der Falschinformation. Um ein Beispiel zu nennen: Die Falschmeldung, dass Autismus durch Impfungen verursacht werden könne, wurde 1998 durch eine Publikation eines britischen Mediziners in der Zeitschrift The Lancet ausgelöst. Die Studie konnte in vielen umfangreichen und sorgfältigen Versuchen nie repliziert werden, wurde 2010 als fehlerhaft enttarnt und zurückgezogen, der Autor wurde mit Berufsverbot belegt. Trotzdem hält sich diese Falschinformation noch immer hartnäckig in digitalen sozialen Netzwerken und viele Eltern scheinen für sie empfänglich zu sein. Um einer auf solchen Falschinformationen beruhenden Anti-Impf-Kampagne zu begegnen, dürfte eine faktische Aufklärung durch medizinische und psychologische Expert*innen wenig effizient sein; besser könnte es hier sein, Eltern von Kindern mit Autismus zu Wort kommen zu lassen, die Impfungen befürworten (ebd.). Falls solche Ingroup-Korrekturen nicht möglich sind, empfehlen Walter und Tukachinsky unter bestimmten Bedingungen sogar explizit, die Quelle der Falschinformation als voreingenommen und nicht konstruktiv zu »diskreditieren«. Damit Fact-Checking überzeugend ist, braucht es Vertrauen in die Quelle der Korrektur; dieses ist jedoch häufig defizitär (Brandtzaeg  & Følstad, 2017; Saltz et al., 2021). So äußern manche Rezipient*innen Zweifel an der Integrität der Faktenchecker*innen und werfen ihnen eine politische Agenda vor; um das Vertrauen in deren Arbeit zu erhöhen, sollten Faktenchecker*innen ihre Geldquellen und Arbeitsprozesse transparent darstellen (Brandtzaeg & Følstad, 2017). Yang et al. (2021) fanden heraus, dass Faktenchecker*innen im Vergleich zu Nutzer*innen, die Falschinformationen verbreiten, über deutlich weniger verzweigte und zentralisierte Netzwerke verfügen, weshalb sie ihre Aktionen strategisch besser koordinieren und ihre Verbindungen diversifizieren sollten. Darüber hinaus sind Korrekturen, die sich über mehrere digitale soziale Netzwerke erstrecken, eine vielversprechende Methode zur Reduktion von Falschinformationen (Zhao, 2019). Neben dem »kurativen« Ansatz von Faktenchecker*innen sollte die Medienkompetenz von Nutzer*innen digitaler sozialer Netzwerke gestärkt werden; dazu zählt u. a., bereitgestellte Informationen langsamer zu erfassen, um ihre Plausibilität beurteilen zu können, Posts auf ihre Richtigkeit zu überprüfen, bevor man sie weiterverbreitet (Hinze et al., 2014; Sinatra & Lombardi, 2020), und weitere Quellen zu Rate zu ziehen (Lewandowsky et al., 2020). Falschinformationen zeigen häufig Signaturen, wie 271

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etwa eine fehlerhafte Argumentationstechnik oder eine selektive Auswahl von Quellen. Die Fähigkeit, solche Signaturen zu erkennen, ist in diesem Zusammenhang elementar wichtig. Neben professionellen Faktenchecker*innen haben Nutzer*innen durchaus die Möglichkeit, innerhalb der digitalen sozialen Netzwerke Falschinformationen etwas entgegenzusetzen (ebd.; Bruns et al., 2020). Problematisch kann es allerdings sein, z. B. einen als skurril oder empörend empfundenen Tweet mit demselben Hashtag an Gleichgesinnte zu retweeten. So stammten bspw. bis zu zwei Drittel der von Ahmed et al. (2020) analysierten Tweets mit dem Hashtag »#5gcoronavirus« gar nicht von Unterstützer*innen der Verschwörungserzählung (also den eigentlich »Infizierten« in der Terminologie des SIR-Modells). Die auf diese Weise künstlich gesteigerte Häufigkeit einer Falschinformationen durch Berichterstattung oder Distanzierung kann unter Umständen also dazu führen, ein relativ obskures Randphänomenen in den digitalen sozialen Netzwerken in das Zentrum öffentlichen Interesses zu rücken (Benkelman, 2019; Bruns et al., 2020; Phillips, 2018; s. a. Bruns et al., 2021). Dennoch sollte jede*r die Möglichkeit nutzen, Falschinformationen konsequent und auf wissenschaftlicher Basis entgegenzuwirken. Nur gesamtgesellschaftliche Anstrengungen – und hierbei sind weitere ernsthafte Bemühungen seitens der digitalen sozialen Netzwerke unbedingt miteingeschlossen – werden dazu führen, dass das zum Teil ungleich balancierte (Informations-)Ökosystem wieder ausgeglichener wird.

Wie Erkenntnisse der Kognitionspsychologie gesellschaftliche Bemühungen unterstützen können Wie wir aus der jüngeren Literatur und unseren eigenen Analysen gesehen haben, ist die Verbreitung von Falschinformationen in digitalen sozialen Netzwerken zwar nicht vollständig vorhersagbar, sie scheint aber doch gewissen Gesetzmäßigkeiten zu folgen. Diese korrespondieren typischerweise gut mit den bekannten psychologischen Mechanismen von Kognition und Emotion, die im Kontext der Forschung zur Entwicklung von Überzeugungen (»belief formation«) sowie der Funktion des Gedächtnisses identifiziert wurden. Gleichzeitig können durch Rückgriff auf entsprechende Modelle dieser Mechanismen auch Hypothesen zu wirksamen Maßnahmen zur Eindämmung solcher Verschwörungserzählungen entwickelt und schrittweise getestet werden. 272

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Die programmatische Arbeit von Endsley (2018) ist ein gutes Beispiel dafür, wie die Charakteristika von (Des-)Informationsattacken mit dieser Perspektive systematisiert und besser verstanden werden können: Aufmerksamkeiterregender Information kommt dabei – häufig im Titel eines Beitrags – eine Schlüsselrolle zu, da hervorstechende Inhalte im Vergleich zu sachlich-nüchternen Beiträgen bessere Chancen haben, den – durchaus auch ökonomischen – Wettbewerb um selektive Aufmerksamkeit der Betrachter*innen zu gewinnen. Früh verfügbare Inhalte zu einem Thema wirken zudem wie ein mentaler Anker – ihnen wird mehr Gewicht beigemessen als später verfügbaren, und sie können die Selektion eines internen Modells bewirken, anhand dessen Betrachter*innen später neue Inhalte einordnen. Der bekannte »confirmation bias« bewirkt zudem, dass Betrachter*innen zusätzliche Inhalte eher aufnehmen, wenn diese bereits geteilte Haltungen und Annahmen bestätigen, als wenn sie dies nicht tun (vgl. hierzu auch Hameleers & van der Meer, 2020). Gedächtnisforscher*innen unterscheiden zwischen Erinnerungen im Sinne der Wahrnehmung einer Vertrautheit (»familiarity«) mit Inhalten oder Stimuli und solchen Erinnerungen, in denen die Betrachter*innen genauere kontextuelle Details sowie Zeitpunkt und Situation angeben können, in der sie die Inhalte aufgenommen haben. Wiederholt wahrgenommene Stimuli werden tendenziell emotional positiver empfunden und dieser reine Vertrautheitseffekt der Wiederholung wird in (Des-)Informationsattacken leider bewusst genutzt (vgl. auch Berinsky, 2017). Aus der psychologischen und soziologischen Gedächtnisforschung wissen wir zudem, dass Erinnerung als fundamental rekonstruktiver Prozess verstanden werden sollte (Roediger & McDermott, 1995; s. a. Bartlett & Burt, 1933; Halbwachs, 1967): Unsere subjektiven Erinnerungen kommen nicht ausschließlich durch das tatsächlich aufgenommene Erlebnis zustande, sondern können auch durch einen kontinuierlichen Prozess der Rekonstruktion modifiziert werden. In ihrem Zusammenwirken dürften diese Prozesse für zahlreiche »false memory« Phänomene mitverantwortlich sein. Wir empfehlen hier ebenfalls, Geschwindigkeit als wichtigen Faktor für Debatten in digitalen sozialen Netzwerken stärker zu berücksichtigen. Insbesondere empfehlen wir Maßnahmen, die zugunsten sorgfältiger Überlegungen die Geschwindigkeit aus Debatten in digitalen sozialen Netzwerken nehmen. Hier könnte im Vergleich zum bloßen Klicken eines »Like«- oder »Retweet«-Buttons schon hilfreich sein, dass etwas 273

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umfangreichere und zeitaufwändigere Mechanismen eine sorgfältigere Beschäftigung mit den Inhalten begünstigen oder sogar erfordern, bevor Inhalte geteilt oder weiterverbreitet werden. Eine ganz neue Studie (Bago et al., 2020) zeigt, dass eine schnelle, intuitive und mutmaßlich emotionale Verarbeitung von »headlines« in digitalen sozialen Netzwerken eine wichtige Rolle bei der Entwicklung von Überzeugungen für Falschinformationen spielt und dass viele dieser falschen Überzeugungen durch überlegte Antworten ohne Zeitdruck nicht auftreten. Bago et al. zufolge sind alle Maßnahmen hilfreich, die Menschen zu kritischem und sorgfältigem Denken anregen. In einer ebenfalls wichtigen Arbeit betont Reyna (2021) allerdings zusätzlich, dass wissenschaftliche Kommunikation nicht nur Fakten, sondern auch Integrität und Werte betonen sollte, und insofern auch Emotionen aktiv berücksichtigt werden sollten.3 Ihrer »Fuzzy-trace theory« (dt. etwa: verschwommene Gedächtnisspuren-Theorie) zufolge wird die kognitive Repräsentation des Hauptinhalts (»gist«) einer Nachricht aus Details destilliert, ist aber von zentraler Bedeutung für die Entwicklung stabiler und faktenbasierter Überzeugungen. Ein sehr interessanter Ansatz findet sich auch in auf der InoculationTheorie beruhenden Versuchen, Menschen gegen Falschinformationen zu »impfen«: Maertens et al. (2021; vgl. auch Roozenbeek et al., 2020) zeigten, dass Proband*innen, die das »Bad News Game« gespielt hatten, anschließend weniger anfällig gegenüber Falschinformationen waren als jene, die ein Kontrollspiel (Tetris) gespielt hatten. Das Bad News Game ist ein Onlinespiel, in dem die Spieler*innen systematisch mit Techniken konfrontiert werden, die häufig in der Produktion von Falschinformationen angewandt werden. Ein protektiver Effekt dieser »Inokulation« bzw. erfahrungsgestützten Aufklärung konnte bei regelmäßiger Testung noch nach drei Monaten nachgewiesen werden, ließ aber ohne Testung bereits nach zwei Monaten nach. Andere neue Studien zeigen auch individuelle Unterschiede in der Anfälligkeit für Falschinformationen, die möglicherweise mit der Präferenz für elaboratives Denken korrelieren (Newman et al., 2020). Wir halten auch die bloße Anerkennung der Tatsache für wichtig, dass alle Menschen (und damit auch man selbst) unter geeigneten Bedingungen anfällig für Falschinformationen sein können. Somit erscheint insgesamt eine Kombination aus Erfahrung (im Sinne von Learning by 3

Vgl. dazu wie zum Zusammenhang insgesamt auch den Beitrag von Melanie Hermann, Jan Rathje und Florian Eisheuer i. d. Bd.

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Doing) mit und Informationen über Mechanismen der Wirkung von Falschinformationen als empfehlenswert, um eine »gesunde«, reflektierte Skepsis zu fördern. Literatur Ahmed, W., Vidal-Alaball, J., Downing, J. & Seguí, F. L. (2020). COVID-19 and the 5G conspiracy theory: Social network analysis of twitter data. Journal of Medical Internet Research, 22(5). https://doi.org/10.2196/19458 Allcott, H. & Gentzkow, M. (2017). Social media and fake news in the 2016 election. Journal of Economic Perspectives, 31(2), 211–236. Allcott, H., Gentzkow, M. & Yu, C. (2019). Trends in the diffusion of misinformation on social media. Research and Politics, 6(2). https://doi.org/10.1177/2053168019848554 Anonymous (1978). Influenza in a boarding school. British Medical Journal, 1(March). Bago, B., Rand, D. G. & Pennycook, G. (2020). Fake News, Fast and Slow: Deliberation Reduces Belief in False (but Not True) News Headlines. Journal of Experimental Psychology-General, 149(8), 1608–1613. Bartlett, F. C.  & Burt, C. (1933). Remembering: A Study in Experimental and Social Psychology. British Journal of Educational Psychology, 3(2). https://doi. org/10.1111/j.2044-8279.1933.tb02913.x Benkelman, S. (2019). The Sound of Silence: Strategic Amplification. https://www.amer icanpressinstitute.org/publications/reports/strategy-studies/the-sound-of-si lence-strategic-amplification (11.01.2022). Berinsky, A. J. (2017). Rumors and Health Care Reform: Experiments in Political Misinformation. British Journal of Political Science, 47(2), 241–262. Brandtzaeg, P. B. & Følstad, A. (2017). Trust and distrust in online fact-checking services. Communications of the ACM, 60(9), 65–71. Bruns, A., Harrington, S. & Hurcombe, E. (2020). ›Corona? 5G? or both?‹: the dynamics of COVID-19/5G conspiracy theories on Facebook. Media International Australia, 177(1). https://doi.org/10.1177/1329878X20946113 Bruns, A., Hurcombe, E. & Harrington, S. (2021). Covering Conspiracy: Approaches to Reporting the COVID/5G Conspiracy Theory. Digital Journalism. https://doi.org/1 0.1080/21670811.2021.1968921 Bundesamt für Strahlenschutz (2022a). Deutsches Mobilfunk Forschungsprogramm (DMF). http://www.emf-forschungsprogramm.de (11.01.2022). Bundesamt für Strahlenschutz (2022b). Strahlenschutz beim Mobilfunk. https://www. bfs.de/DE/themen/emf/mobilfunk/mobilfunk_node.html (11.01.2022). Chan, M. S., Jones, C. R., Hall Jamieson, K.  & Albarracín, D. (2017). Debunking: A Meta-Analysis of the Psychological Efficacy of Messages Countering Misinformation. Psychological Science, 28(11). https://doi.org/10.1177/0956797617714579 Cinelli, M., de Francisci Morales, G., Galeazzi, A., Quattrociocchi, W. & Starnini, M. (2021). The echo chamber effect on social media. Proceedings of the National Academy of Sciences of the United States of America, 118(9). https://doi.org/10.1073/ pnas.2023301118

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#flattenthecurve

Biografische Notizen

Julian Kauk, M. Sc., ist Psychologe und promoviert am Lehrstuhl für Allgemeine Psychologie der Friedrich-Schiller-Universität Jena zu Verbreitungsmechanismen von Falschinformationen in digitalen sozialen Netzwerken. Helene Kreysa, Dr., Dipl.-Psych., M. A., forscht und lehrt in der Allgemeinen Psychologie der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Als Psycholinguistin interessiert sie sich u. a. für Kommunikationsprozesse und die Rolle von Vertrauen in Personen bzw. Nachrichtenquellen. Anne Voigt, B. A., ist Journalistin, Kommunikations- und Sozialwissenschaftlerin. Sie studiert Psychologie an der Friedrich-Schiller-Universität Jena und war über 15 Jahre als Moderatorin für private und öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalten tätig. Stefan R. Schweinberger Prof. Dr., ist Professor für Allgemeine Psychologie und Kognitive Neurowissenschaften an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Er und sein Team erforschen kognitive, soziale und neuronale Prozesse der Personenwahrnehmung und menschlichen Interaktion.

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»Und dann habe ich mir überlegt, warum hörst du denn nichts darüber?« Zum Zusammenhang von Verschwörungsdenken und Preppen Mischa Luy

Einleitung Sogenannte »Prepper« betreiben eine Krisenvorsorgepraxis. In medialen Darstellungen und weitverbreiteten Vorstellungen erscheint der prototypisch männliche Prepper als soziophober Sonderling mit Verschwörungsmentalität und einem Hang zur apokalyptischen bis rechten Weltanschauung. Er wird dort als übermäßig besorgt und verängstigt, dabei teils bis ins Pathologische tendierend, porträtiert.1 Diese Vorstellungen haben ihren Ausgang mitunter bei realen Prepper*innen und Survivalist*innen: Im US-amerikanischen Kontext sind es die Verbindungen der Survivalistszene mit dem militia movement, fundamentalistischen, christlichen Sekten und dem selbsterklärten Survivalisten und Rechtsterroristen Timothy McVeigh (Coates, 1988; Barkun, 1986; Lamy, 1996, S. 14ff.; Mulloy, 2004; Mitchell, 2004); für den deutschen Kontext waren insbesondere die Aufdeckungen rund um die Gruppe »Nordkreuz« (vgl. Kaul et al., 2018; Erb et al., 2019) prägend für die öffentliche Wahrnehmung der Prepperszene. Thematisiert werden dabei auch immer wieder Affinitäten von Verschwörungsdenken, Rechtsextremismus und Preppern bzw. Survialisten. Anhand zweier Interviews und auf Basis von Recherchen in Telegramgruppen sollen Hypothesen über die wechselseitige Affinität und Anschlussfähigkeit von Preppen und Verschwörungsdenken formuliert 1

Beispiele derartiger Darstellungen von Preppern und Survialisten sind die Computerspiele Far Cry 5 und Mr Prepper. Weiterhin exemplarisch der Spielfilm The Decline (2020) sowie streckenweise die National Geographic Reality TV-Serie Doomsday Prepper (2012) oder die Folge »Demokratie stirbt in Finsternis« (2018) der ARD-Krimiserie Polizeiruf 110.

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werden. Es soll dabei gezeigt werden, wie Verschwörungsdenken zum einen handlungsanleitend wirken kann und zum anderen als inter- und intrasubjektive Plausibilisierung der Praxis des Preppens dient. Darüber hinaus wird darauf eingegangen, in welchen Punkten Verschwörungsdenken und Preppen sich hinsichtlich ihrer psychosozialen Funktion ergänzen.

Empirische Basis Die hier untersuchten Interviews sind Teil von 14 Interviews, die im Zeitraum von 2017 bis 2020 geführt wurden. Von den 14  Interviewten formulierte nur eine Person explizite Verschwörungsvorstellungen. Bei zwei weiteren Interviews finden sich Andeutungen und Argumentationen, die strukturelle Ähnlichkeiten zu Verschwörungsdenken aufweisen. Das geringe Vorkommen von Verschwörungsdenken liegt sicherlich auch daran, dass die Interviewten über Gesuche in Facebookgruppen akquiriert wurden, sich daher besonders misstrauische Prepper*innen nicht gemeldet haben (dürften). In Anbetracht empirischer Forschung, die auf den Zusammenhang von Misstrauen und Verschwörungsdenken verweist (vgl. Jolley et al., 2020, S. 231ff.),2 könnte hier ein Bias vorliegen, da Prepper*innen mit Verschwörungsmentalität höchstwahrscheinlich einer Beforschung skeptisch gegenüberstehen. In den untersuchten Facebookgruppen werden politische Diskussionen meist aktiv unterbunden, die Kommunikation beschränkt sich stattdessen hauptsächlich auf den Austausch über Strategien, Techniken, Gegenstände, Ausrüstungsmaßnahmen und Szenarien. In meinem Feldzugang ist mir Verschwörungsdenken daher nur gelegentlich in Facebookgruppen begegnet. Ein expliziter und unmoderierter Austausch über politische, vor allem politisch rechte Inhalte findet sich dagegen in Preppergruppen beim Instantmessenger Telegram.3 Bspw. in der Telegramgruppe »Überlebensgruppe Chat« (310  Mitglieder am 23.2.21, 363  Mitglieder am 18.3.21, 584 Mitglieder am 10.1.22) vermischen sich auf Preppen bezogene Diskussionsinhalte und mit Inhalten, die sich um Coronaleugnung und Impfgegnerschaft drehen. Beiträge, die antisemitische und rassistische Gehalte aufwei2 3

Vgl. dazu auch die Beiträge von Felix Brauner und Hans-Jürgen Wirth i. d. Bd. Das Ausweichen von Gruppen aus dem rechten und verschwörungsideologischen Spektrum von Facebook hin zu Telegram ist ein seit einiger Zeit zu beobachtender Trend (Lüdecke, 2020, S. 15).

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sen, finden sich hier ebenfalls. Über den tatsächlichen Verbreitungsgrad und Stellenwert von Verschwörungsdenken innerhalb der Preppercommunity kann jedoch auf dieser Basis keine Aussage getroffen werden.

Kurze Geschichte des Preppens: Ausprägungen und Praxis Auf den ersten Blick erscheint die Definition von Preppen simpel. Der semantische Gehalt referiert auf das englische Verb to prepare oder to be prepared – »sich vorbereiten,« »vorbereitet sein«. Im heutigen Phänomen des Preppens laufen zwei Stränge zusammen. Zum einen ist dies der Strang des survivalism, d. h. Wissensbestände und Techniken, die das eigene Überleben in Notsituationen absichern sollen. Dessen Genese reicht bis ins 19. Jahrhundert zurück. Im Kontext der Kolonialisierung entstehen neben exotistischen Reiseberichten auch Reisehandbücher und -manuale, die »Überlebenswissen« kompilieren (vgl. Kornmeier, 2011; Schönthaler, 2016). Der zweite Strang ist das Dispositiv der Vorbeugung, zu dem auch die preparedness gehört. Dies umfasst ein Ensemble von Wissens- und Handlungsformen, Techniken, Praktiken, Verfahrensweisen sowie Denkmustern und Logiken, denen gemein ist, dass sie darauf abzielen, eine unerwünschte Zukunft zu verhindern, unwahrscheinlicher oder zumindest besser handhabbar zu machen (vgl. Ewald 1993, 1998; Lakoff, 2007; Bröckling 2012, 2017; Anderson, 2010). Seinen historischen Ursprung hat die Semantik der Preparedness im Nachdenken über die völlige neue Bedrohung eines atomaren Krieges mit präzedenzloser Zerstörungskraft in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Preparedness war Teil US-amerikanischer, strategischer Überlegungen, die auf eine konstante Herstellung von Bereitschaft, eine »homefront preparedness« für den Fall eines sowjetischen nuklearen Angriffs zielte (vgl. Sherry, 1977; Garrison, 2006). Formal ist Preparedness eine auf Zukunft bezogene antizipatorische Handlungsform und ein »Zeitschema«. Preparedness zielt nicht darauf, das Eintreten eines Ereignisses zu verhindern, indem man ihm zuvorkommt, sondern darauf, dessen Folgen – primär für das Individuum und die Gruppe – zu begrenzen oder besser mit diesen zurechtzukommen (vgl. Bröckling, 2017). Der Neologismus Prepper, so die bisher von mir verwendete idealtypische Arbeitsdefinition, bezeichnet: »Menschen die sich gezielt auf das Eintreten einer menschgemachten Katastrophe oder das Eintreten einer Naturkatastrophe und einen daraus folgen-

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den Kollaps der gesellschaftlichen Infrastruktur vorbereiten. Die Vorbereitungen können Wissensbestände, Praktiken, Techniken, Geisteshaltungen sowie Objekte umfassen und zielen darauf, das eigene Überleben während und nach der Katastrophe, ohne institutionelle und fremde Hilfe abzusichern« (Luy, 2017, S. 8).

Empirisch bestätigt sich dies, insoweit alle von mir interviewten Prepper*innen dieses Ziel verfolgen. In der Auseinandersetzung mit den Selbstverständnissen, den konkreten lebensweltlichen Realisierungen der Akteur*innen, ihrer individuellen Aneignung und Deutung dieses Wissens, ergibt sich jedoch ein facettenreicheres und polyvalenteres Bild der Praxis. Preppen umfasst ein breites Spektrum an Ausprägungsformen, die sich in Quantität der Bevorratung und Qualität des technischen und organisatorischen Niveaus unterscheiden. Weiterhin lassen sich die Prepper*innen hinsichtlich ihrer strategischen Herangehensweisen, ihrer Motivationen und den antizipierten Katastrophenszenarien differenzieren. Die Interviews beinhalten Artikulationen von Überzeugungen und Begründungen für das eigene Tun. Bemerkenswert sind hier die vielschichtigen inter- und intrasubjektiven Begründungsmuster der Interviewten. Ein zentrales Motiv der Begründungen, ist das Verhandeln von Erfahrungen und Erwartungen, die sich im Spannungsfeld von Mangel und Suffizienz bewegen.4 Drei wiederkehrende narrative Referenzebenen lassen sich dabei identifizieren: 1. biografische Begründungen, 2. Ereignisbegründungen, 3. hypothetische Narrative. Biografische Begründungen beziehen sich auf individuelle Erfahrungen aus erster Hand. Das können miterlebte biografische Widerfahrnissen sein, die besonders einprägsam waren. Exemplarisch können dafür etwa eine Stationierung in Afghanistan, das Eingeschneitsein auf einer Autobahn oder das Miterleben eines Terroranschlags stehen. Erfahrungsgehalte also, in denen es unter anderem um Gefühle der Deprivation von Handlungsmacht, um einen (empfundenen) Mangel an Sicherheit oder sogar um Gefühle des Bedrohtseins geht. Ebenso sind durch die Eltern und Großeltern intergenerational weitergebene Erfahrungsbestände des Mangels Bestandteil des biografischen Referenzrahmens. Z. B. können dies spezi4

Vondung (1988, S. 65) beschreibt die Spannung zwischen beiden Polen als menschliche Grunderfahrung und apokalyptische Narrative als eine Form der sinnstiftenden Verarbeitung dieser Erfahrung.

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fische Erfahrungen der deutschen Kriegs- und Nachkriegsgeneration sein. Diese verschiedenen Erfahrungen werden in manchen Interviews als Teil eines Prozesses beschrieben, der hin zu einem verstärkten Bewusstsein für individuelle und gesellschaftliche Vulnerabilität führt. Konstitutiv für die Herausbildung der Vorbereitungspraxis sind zudem sozialisatorische Prozesse und familiäre Lebensformen. Dazu gehören elementare Kindheitserfahrungen wie bspw. eine Erziehung hin zur Selbstfürsorge und Selbstständigkeit, oder dass es der Familie dank Vorratshaltung nie an etwas mangelte, hier also eine Grunderfahrung der (aktiv hergestellten) Suffizienz vorherrschte. Vorratshaltung erscheint hier als gewohnheitsmäßige, normalisierte Lebensform, die mit dem jetzigen Preppen parallelisiert wird. Weiterhin finden biografische Selbstverortungen in Form von beruflichen Werdegängen statt, unter anderem um hierdurch einen Expert*innenstatus deutlich zu machen und sich als Sachautorität zu positionieren. Der zweite Referenzrahmen sind Ereignisbegründungen. Sie beziehen sich auf Erfahrungen aus zweiter Hand. Dies können historische Ereignisse, Dokumentationen, Nachrichten oder Erzählungen und Auskünfte anderer Menschen sein. Der geschichtliche Erfahrungsraum wird danach befragt, wie sich Menschen, Institutionen und Gesellschaften in Notsituationen wie Katastrophen, Kriegen und Zuständen des Mangels verhalten haben sowie welche Schadensausmaße es gab und welche Vulnerabilitäten sich hierbei gezeigt haben. Ebenso wird auf Geschehnisse verwiesen, bei denen sich Vorsorgemaßnahmen als nützlich erwiesen haben. Beim dritten Referenzrahmen handelt es sich um hypothetische Narrative und Erwartungen in Form von Zukunftsnarrativen5, die einen Möglichkeitsraum imaginativ ausloten und thematisieren, wie man sich zu dieser Zukunft verhält. Die Szenarien umfassen eine zeitliche und räumliche Dimension, d. h. sie werden als zeitliche Abfolge gedacht, die unterschiedliche räumliche Ausmaße und Intensitäten annehmen können. Sie oszillieren dabei zwischen einem Denken in Kontingenz, der Frage nach dem »Was wäre, wenn?« und einer Begrenzung eben jener Kontingenz, indem in einer Art »worst-case Heuristik« und Szenariotechnik6 die mög5

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Die hypothetischen Zukunftsnarrative und Erwartungen sind aber nicht nur Ausdruck persönlicher Erfahrungen, Ängste, Interessen und Wertvorstellungen, sie verweisen auf kollektives, kulturell geteiltes Wissen und Vorstellungen von Zukunft (vgl. Horn, 2014). Das angewendete Verfahren weist strukturelle Ähnlichkeiten mit den im Kalten Krieg aufgekommenen Szenariotechniken auf, die von den Futurologen Kahn & Wiener (1967,

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liche Verkettung von Ereignissen reflektiert wird und so zugleich andere Möglichkeiten ausgeschlossen werden (sollen). Sie dienen ebenfalls der intra- und intersubjektiven Plausibilisierung der Praxis, indem sie aufzeigen, dass es sinnvoll und rational ist, sich vorzubereiten. Die Szenarien fungieren weiterhin als Prüfstein und Mittel zur Aushandlung der qualitativen und quantitativen Ausformung der Praxis. Idealtypisch und »einseitig gesteigert« im Sinne Max Webers lassen sich zwei grundlegende Typen von Prepper*innen unterscheiden,7 der »adaptive Prepper« und der »konservativer Prepper«. Adaptive Prepper*innen betreiben ihre Vorsorgepraxis kompetenzorientiert, d. h. ihr Augenmerk liegt auf dem Erlernen von Wissensbeständen wie Techniken und Kompetenzen sowie auf der Steigerung körperlicher Fitness. Sie versuchen die materiellen Vorbereitungen auf ein Minimum zu reduzieren, um gerade noch die Grundbedürfnisse abdecken zu können. Das Überleben steht im Vordergrund. Die technischen Mittel sind dabei einfach gehalten und weisen ein geringes technologisches Niveau auf. Große Lagermengen und eine Vielzahl an technischen Gerätschaften würden das Ziel einer erhöhten Agilität, Mobilität und Flexibilität konterkarieren, denn adaptive Prepper*innen verfolgen eine »bug out«-Strategie. Für die Flucht aus dem Wohnort in weniger dicht besiedelte Gebiete wie Wälder oder zu einem Safehouse gelten diese Attribute als unabdingbar. Sie passen sich an ihre Umgebung an und versuchen in der Natur zu überleben, sie weisen daher eine hohe Affinität zu Survivalund Outdooraktivitäten auf. Preppen hat hier starke empraktische Züge und wird zu einer alltäglichen, integrierten Lebensführung, die bspw. das konstante Tragen von sogenannten EDCs (Every-Day-Carry) beinhaltet.8 Die Wahl dieser Strategie beruht unter anderem auf der Prämisse, so den

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S. 262) gefasst werden als »attempts to describe in some detail a hypothetical sequence of events that could lead plausibly to the situation envisaged«. Diese Typen, wie es der Begriff des Idealtyps schon anzeigt, treten so in Reinform selten auf. Zwischen beiden Polen gibt es eine große Spannbreite an Abstufungen und viele Prepper*innen nutzen Bestandteile beider Strategien oder ergänzen beide. Sie wägen situational ab, welches Szenario welche Strategie nötig macht und welche Maßnahmen zum Tragen kommen müssen. Auch tragen konservative Prepper*innen manchmal durchaus EDCs und erlernen Techniken. Gängige EDCs sind vor allem spezielle Gegenstände, die eine Reihe von Werkzeugen und Funktionen, ähnlich eines Taschenmessers, vereinen: integrierter Kompass, leichtes aber gleichzeitig sehr zugfestes Paracordband, Messer, Schraubenzieher, Feuerstein etc.

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zwangsläufigen Konfrontationen mit Konkurrent*innen aus dem Weg gehen zu können, eine Bewaffnung zur Selbstverteidigung hat daher geringeren Stellenwert. Konservative Prepper*innen verlassen sich demgegenüber in hohem Maße auf Technik und gründen ihre Vorbereitungspraxis mit hohem finanziellem Aufwand auf komplexe technische Gerätschaften. Dies reicht von niedrigschwelligen Maßnahmen wie einer gesteigerten Bevorratung mit Lebensmitteln über die Anschaffung von Stromgeneratoren bis hin zum Ausheben von eigenen Bunkern. Das konservative Moment liegt im Moment einer unbedingten Aufrechterhaltung eines gewohnten Lebensstandards, wie einer kontinuierlichen Versorgung mit fließendem Wasser und elektrischem Strom – Dinge also, die über das reine Überleben hinausgehen. Die verfolgte Strategie ist ein »bug in«, ein Einbunkern und Ausharren im gut ausgebauten Haus oder der Wohnung. Durch die Redundanz der Versorgungssysteme können längere Zeiträume überbrückt werden, teils sind die Maßnahmen von einem starken Selbstversorgungsund Autarkiegedanken geleitet. Aufgrund der geringeren Mobilität und der zu schützenden Vorräte gibt es bei diesem Typus eine stärkere Betonung von Bewaffnung. In der empirischen Praxis, so lässt sich jedoch auf Basis der Interviews konstatieren, ist die handlungsanleitende Semantik des Preppens bei vielen Prepper*innen nicht (mehr) nur auf den Kontext einer Katastrophe zu begrenzen. Die Maßnahmen zielen in manchen Fällen nicht mehr rein auf die Bewältigung einer weitreichenden Katastrophe im eigentlichen Sinn, sondern auf ein allgemeines Vorbereitetsein. Preppen erscheint als die Vorbereitung auf jegliche missliche Lage, auf Erwartungen jeglichen Mangels. Das häufig angeführte Credo »Besser haben und nicht brauchen als brauchen und nicht haben« beschreibt diese Verschiebung treffend, sie lässt sich auf alle Lebensbereiche ausweiten.9 So zählt für einige Prepper*innen die Vorratshaltung der Großeltern oder auch schon das Mitführen eines Ersatzreifens als Preppen. Prepperaffine Praktiken und Gegenstände garantieren dann bei alltäglichen Herausforderungen wie dem Öffnen eines Pakets mit dem EDC-Messer oder bei persönlichen Notfällen wie dem Liegenbleiben mit dem Auto gleichermaßen die Handlungsfähigkeit. Preppen nimmt dort Züge einer Lebensführung an, d. h. ein systematischer 9

Diese Verschiebung und Ausweitung ist Teil einer »expansiven Dynamik« bei der die Praxis einer Steigerungs- und Optimierungslogik folgt (vgl. Luy, 2021).

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Lebensvollzug entlang der Prinzipien von Handlungsfähigkeit, Unabhängigkeit und eines stets autonomen Subjekts (vgl. Jaeggi, 2014).

Verschwörungsdenken und Preppen: Empirische Verknüpfungen Das Verhältnis von Verschwörungsdenken und Preppen kann auf Basis des zuvor beschriebenen empirischen Materials veranschaulicht werden. Auf die Frage, welche Szenarien von dem Interviewten in Betracht gezogen werden, folgt ein längerer Gesprächsteil, in dem Herr A. auf die geopolitische Lage zu sprechen kam:10 »Ich hatte ja vorhin die NATO angesprochen, diesen Gürtel, der sich immer enger um Russland zieht, und Putin ist da meines Erachtens eigentlich noch relativ ruhig und unglaublich entspannt. Also der federt vieles ab, aber das spricht schon dafür, dass einfach gewollt ist, dass hier so eine Konfrontation auch in Europa stattfindet. Auch da gibt es Leute, die sagen, naja, das ist schlussendlich von profitierenden Kreisen auch in den USA gewollt. Da kommt dann, jaja, das sind Verschwörungstheorien und so weiter, aber ich finde, man muss es eigentlich recht wissenschaftlich betrachten. Also jede Verschwörungstheorie ist eine Theorie, die man dann verifizieren oder falsifizieren kann, oder dass man sagt, naja ich habe jetzt nicht alle Fakten. Ich kann nur sagen, Stichwort Chemtrails oder so, ich weiß nicht, ob es stimmt, aber ich kann auch nicht definitiv sagen, dass es nicht stimmt. Also, dass muss man glaube ich immer relativ nüchtern betrachten und da gibts halt schon viele Punkte, die dann dafürsprechen, dass es doch massiv Menschen gibt, die massiv Kapital angesammelt haben. Die halt viel Geld haben, viel Macht und denen Konzerne gehören im militärisch-industriellen Bereich. Denen dann auch viele Presseorgane gehören und ja, da ist eigentlich nur folgerichtig, dass man sagt, naja, wenn denen ein Krieg gut tut in der Kasse, dann ist es ein Indiz dafür und eine Motivation, Krieg anzufangen, und das kann ich natürlich, wenn ich militärisch industrielle Unternehmen habe, als 10 Das Interview wurde 19.11.17 im Rahmen meiner an der Ruhr-Universität Bochum eingereichten Masterarbeit: »It’s The End Of The World As We Know It (And I Feel Fine): Prepper als Risikosubjekte einer reflexiven Moderne« am Arbeitsplatz des Interviewten geführt. Alle Interviewausschnitte wurden zur besseren Lesbarkeit sprachlich bereinigt.

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Inhaber über verschiedene Strukturen. Wenn ich dann noch die Pressemöglichkeit habe, die Staaten aufeinander zu hetzen, ja, kann man sich schon vorstellen, dass es die Leute machen. Wenn man auch sieht, wie damals Hitler finanziert wurde, Kriege in aller Welt finanziert werden von wem auch immer, dann weiß man, dass es gemacht wurde, das ist ja ein historisches Faktum und warum soll sich jetzt alles ändern? Geschichte wiederholt sich oft.«

Es finden sich hier Merkmale einer Minimaldefinition von »Verschwörungstheorien«: Eine Gruppe habe sich verschworen, um aus dem Verborgenen gezielt Einfluss auf das Weltgeschehen zu nehmen. Hierzu sind sie mächtig genug und tun dies aus Profitgier zum Leidwesen der Mehrheit (vgl. Barkun, 2013, S. 3ff.).11 Der Erfahrungsraum vergangener Geschichte, aktuelle Entwicklungen und der Erwartungshorizont zukünftiger Szenarien werden gleichermaßen unter Einbezug des Schemas der »Verschwörung« gedeutet. Historische Sinnbildung im Modus eines Geschichtsbewusstseins, d. h. die Konstruktion von zeitlicher Kontinuität und die Relationierung zeitlicher Ebenen (vgl. Bruner, 1998), findet primär über eine Personalisierung statt.12 Wenn bereits in der Vergangenheit negative Ereignisse durch das verborgene Wirken einiger Mächtigen erklärt werden können und dies zum Vorteil jener Mächtigen gereicht hat, liegt die Vermutung nahe, dass es jederzeit wieder so kommen könnte und auch kommen wird. Das hier vorgefundene Geschichtsbild, das unter anderem im Verschwörungsdenken wirkmächtig ist (vgl. Groh, 1987), ist bestimmt von einer personenzentrierten, komplexitätsreduzierenden Perspektive, in der Ereignisse als Ergebnis intentionaler Planung gelten und in der ein linearer Kausalzusammenhang angenommen wird, in dem vermeintlich klare Ursachen bzw. Verursacher*innen und deren Wirkung benannt werden können. Geschichte ist dann nicht Produkt eines (rekonstruktiv zu erschließenden) Zusammenhangs von Prozessen, Diskursen und Strukturen, die den Rahmen für Handlungen und kontingente Ereignisse bilden, sondern ist der (Über-)Macht von Personen(-gruppen) vermeintlich zuschreibbar. 11 Der Interviewte nutzte dafür Umwegkommunikation und die abstrahierende Chiffre »profitierende Kreise«, auf Nachfrage führte Herr A aus, »dass eben viele dieser sehr wohlhabenden Familien auch zumindest jüdischer Herkunft sind oder jüdischen Glaubens«. 12 Vgl. dazu den Beitrag von Florian Hessel i. d. Bd.

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Ein in meinen Daten wiederkehrendes Phänomen, das mittels der Grounded Theory Methodologie vorläufig als »Gefahren- und Vulnerabilitätsbewusstsein« kodiert wurde, ist eine verstärkte Beschäftigung der Prepper*innen mit individueller und gesellschaftlicher Vulnerabilität wie auch mit Fragen der Kontingenz. Es findet ein gedanklicher Bruch mit einer idealisierten Lebenswelt und der »natürlichen Einstellung« (vgl. Schütz & Luckmann, 1979) statt. Das »Ich-kann-immer-wieder« und »Und-so-weiter« (ebd., S. 42) wandelt sich zum »Was-wäre-wennnicht-immer-so-weiter?« Der Zugriff auf Lebenswelt, Gesellschaft und Geschichte geschieht unter dem Vorzeichen der Deutungsschemata von Gefahr und Vulnerabilität, die lebensweltliche Realität nun nicht nur strukturieren, sondern teils auch erst miterzeugen. François Ewald (1993, S. 210) stellt für das Konzept des Risikos etwas ähnliches fest: »An sich ist nichts ein Risiko, es gibt kein Risiko in der Realität. Umgekehrt kann alles ein Risiko sein, alles hängt ab von der Art und Weise, in der man die Gefahr analysiert, das Ereignis betrachtet.« Das Gefahren- und Vulnerabilitätsbewusstsein lässt sich mit Ludwik Flecks (1980 [1935], S. 130) Begriff des Denkstils als ein »gerichtetes Wahrnehmen, mit entsprechendem gedanklichen und sachlichen Verarbeiten des Wahrgenommenen« fassen, mit dem Muster der Selektion, Bewertung und Verarbeitung von Informationen einhergehen. Vermittelt ist dies, wenn auch nicht bei allen Prepper*innen, über die Einbindung in Strukturen einer Szene.13 In den Interviews analysieren die Prepper*in13 Szene ist hier zu verstehen als eine Form von posttraditionaler Vergemeinschaftung und als thematisch fokussiertes soziales Netzwerk, das einigermaßen durchlässig ist (Hitzler  & Niederbacher, 2010; Nagel, 2018). Es finden sich Grundzüge einer »SzeneKultur« mit spezifischen Wissensbeständen, Sprachspielen, Verhaltensweisen, Praktiken, Narrativen und Zukunftsvorstellungen. Obwohl die Interaktionen der Prepperszene vornehmlich über digitale Medien geschehen (es gibt auch lokale Preppergruppen, kleinere Überlebensgemeinschaften, Workshops und Messen) und daher asynchron und nicht vis-a-vis ablaufen, so können die Gruppen im Sinne Mannheims (1980, S. 231) als »konjunktive Erfahrungsräume« beschrieben werden (man könnte im Fall der Prepper*innen hinzufügen, es finden sich hier zudem »konjunktive Erwartungshorizonte«). Anzutreffen sind kollektiv geteilte Vorstellungen von prävalenten Gefahren, wiederkehrende Szenarien und Einschätzungen über menschliches Verhalten im Katastrophenfall. Schlagwörter wie »Blackout« reichen aus, damit allen Gruppenmitgliedern direkt klar wird, worum es geht bzw. gehen soll, ohne dass die Szenarien weiter expliziert werden müssen. Diskutiert wird dann nicht mehr über die Möglichkeit an sich und wie diese aussieht, sondern v. a. über zu treffende Maßnahmen. Ein intuitives Verstehen ist

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nen bspw. die örtlichen Gegebenheiten ihres Wohnorts hinsichtlich der Vulnerabilitäten der Wasser- und Energieversorgunginfrastruktur. Sie überlegen, welche Straßen blockiert sein könnten. Neben solchen im Nahumfeld suchen sie zudem weltweit nach argumentationsstützenden Ereignissen. Der Tendenz nach werden dabei eher Informationen wahrgenommen, in denen es um Gefahren geht und die die eigene Praxis und Weltsicht plausibilisieren, es finden sich damit Züge eines Confirmation Bias. Ein Beispiel für die Deutung von Informationen im Modus des Vulnerabilitätsbewusstseins ist der 2013 dem Bundestag vorgelegte »Bericht zur Risikoanalyse im Bevölkerungsschutz 2012«. Dieser Bericht wurde gemäß § 18 Abs. 1 Satz 1 des Zivilschutz- und Katastrophenhilfegesetz vom Bund in Zusammenarbeit mit den Bundesländern vorgelegt und hat als Aufgabenstellung die Beantwortung der Frage: »Wie kann der Staat eine bedarfs- und risikoorientierte Vorsorge- und Abwehrplanung im Zivil- und Katastrophenschutz gewährleisten«.14 Im Bericht werden zwei hypothetische Katastrophenszenarien entfaltet, eines der beiden ist das einer »Pandemie durch Virus Modi-SARS«. Prognostiziert werden dabei die Eintrittswahrscheinlichkeit sowie kurz-, mittel- und langfristiges Schadensausmaß an Menschen, Umwelt, Volkswirtschaft und immateriellen Parametern. Für manche Prepper*innen haben diese Informationen eine handlungsmotivierende Valenz. Sie deuten den Bericht als Hinweis darauf, dass die Gefahrenlage besonders real und akut ist. Der Bericht wirkt rückblickend von der Warte einer anhaltenden COVID-19-Pandemie beinahe prophetisch. Von Prepper*innen mit Verschwörungsmentalität wird dieser daher nicht nur als Aufruf zum (vorbereitenden) Handeln, sondern als »Drehbuch« einer geplanten und herbeigeführten Pandemie, an deren Ende die Errichtung einer Diktatur und die Etablierung einer »New World Order« stünde. Die in Relation zur Gesamtbevölkerung Deutschlands niedrigen Mitgliederzahlen der Facebook- und Telegram-Gruppen zur Thematik Preppen lassen vermuten, dass die meisten Bundesbürger*innen, sofern sie den Bericht überhaupt zur Kenntnis genommen haben, daraufhin keine ambitionierte Krisenvorsorgepraxis gegründet haben. aufgrund von geteilten Erlebniszusammenhängen und weltanschaulichen Momenten möglich (vgl. Bohnsack, 1999, S. 67). 14 https://dserver.bundestag.de/btd/17/120/1712051.pdf, S. 2 (15.02.2022).

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Die im Modus eines verstärkten Vulnerabilitätsbewusstseins in den Fokus gerückten Gefahren und Szenarien sind erklärungs- und deutungsbedürftig, hier kann die epistemische Funktion von Verschwörungsdenken greifen. Das Denken in Verschwörungen benennt vermeintliche Urheber*innen und Ursachen der ausgemachten Gefahren und der persönlichen wie gesellschaftlichen Vulnerabilität, dies validiert und perpetuiert die Gefahren wiederum. Verschwörungsdenken kann so das Vulnerabilitätsbewusstsein bestärken und die Katastrophen- und Krisenszenarien speisen, zugleich wird hierdurch die Praxis selbst plausibilisiert und mit Sinn ausgestattet. Verschwörungsvorstellungen können also Bestandteil der handlungsanleitenden Pragmasemantik des Preppens sein. Denkbar ist jedoch auch, dass umgekehrt Menschen mit Verschwörungsmentalität zu Prepper*innen werden, um einen praktischen Umgang mit den im Verschwörungsdenken wahrgenommen Bedrohungen zu finden.15 Bei manchen Prepper*innen sind die Verschwörungserzählungen und Katastrophenszenarien in ein größeres Krisennarrativ eingebunden, das von einem allgemeinen Gefühl, in unsichereren und schlechteren Zeiten zu leben, geprägt ist. Herr A. versucht, einen gesellschaftlichen Abstieg und allgemeine Desintegration anhand einer ganzen Reihe von lokalen und globalen, politischen, sozialen und ökonomischen Symptomen zu exemplifizieren: ein labiles Finanzsystem, Zuspitzung der Konfrontation zwischen der NATO und Russland, steigende Kriminalität und eine drohende »Überfremdung« durch Migration. In der kulturpessimistischen Zeitdiagnostik, dem Krisenbewusstsein, dem Gefühl von sozialer Desintegration und dem Entwerfen dystopischer Zukünfte oder auch dem Beschwören eschatologisch aufgeladener apokalyptischer Semantiken ähneln sich manche Formen von Verschwörungsdenken, Antisemitismus, rechten Weltanschauungen und Preppernarrativen. In der Krise als Deutungsschema steckt semantisch ein Aufruf zum Handeln, da die Krise einen Verlaufsprozess markiert, in der eine Entscheidung über den positiven oder negativen Ausgang des Verlaufs bestimmt (vgl. Koselleck, 1976, Sp. 1235–1245). Man denke z. B. an die (nicht verwirklichte) Vorstellung der verschwörungsideologischen Q-Anon-Bewegung, es stünde eine Schicksalsschlacht an, in der Donald Trump den Sumpf des »Deep 15 Dies wäre eine lohnende Fragestellung für weitere empirische Forschung. Vgl. zur alltäglichen Mobilisierung von Verschwörungserzählungen insgesamt den Beitrag von Carolin Engels & Sebastian Salzmann i. d. Bd.

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State« trocken und den satanistischen, pädophilen Kinderhändlerringen der »globalen, liberalen Elite« das Handwerk legen würde (vgl. Cosentino, 2020, S. 72). Verschwörungsdenken und Krisennarrative können insbesondere dann einen affektmobilisierenden und gewaltlegitimierenden Effekt entfalten, wenn sie ein Gefühl von persönlicher und kollektiver Bedrohung evozieren können. Gewalt erscheint dann als legitimes Mittel der Notwehr. Noch einmal stärker ist der gewaltmotivierende Appellcharakter, wenn mit der Vernichtung des Anderen ein weltanschaulich eingebettetes eschatologisches Heils- und Erlösungsversprechen einhergeht (vgl. Goldhagen, 1976). Die in rechtsextremen Kreisen einflussreichen und für den NSU instruktiven Turner Diaries (1978) beschreiben bspw. fiktional einen revolutionären »Racewar« gegen ein »Zionist Occupation Government« und ethnische Minoritäten. Der Autor bedient sich dabei, neben apokalyptischen Deutungsmustern, auch der Beschreibung von Techniken aus dem Survivalism und der Guerillakriegsführung (vgl. Berger, 2016). Theodor W. Adorno (2019, S. 19) verweist in diesem Sinne auf den Doppelcharakter eines »Antizipieren des Schreckens« in rechten Weltanschauungen. Zum einen wird das hierin enthaltene affektmobilisierende und handlungsmotivierende Moment strategisch genutzt, um sich als Lösung der Krise zu inszenieren; zum anderen sieht Adorno das Beschwören von Krisen als Ausdruck eines den Propagandisten wie deren Anhängerschaft innewohnenden unbewussten Wunsches nach der »sozialen Katastrophe« (ebd.).16 Dem neuen Rechtsradikalismus (nach 1945) attestiert Adorno keinen tatsächlichen Wunsch einer »Veränderung der gesellschaftlichen Basis«, sodass nur der »Untergang des Ganzen« bei gleichzeitigem Überleben der Eigengruppe bleibt (ebd., S. 20).

Die Welt als gefährlicher Ort Was im zuvor beschriebenen Vulnerabilitätsbewusstsein und in den Krisennarrativen durchscheint, ist ein Weltbild, in dem gute Menschen und deren 16 Für Adorno bedeutet dies jedoch keine völlig subjektivistische, undialektische Auflösung des Phänomens, sondern dies ist selbst vermittelt mit der kapitalistischen Totalität, die systematisch Krisen produziert und in der sich die gesellschaftlichen Funktionsträger konstant mit ihrer Austauschbarkeit konfrontiert sehen.

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Lebensweise, von bösen Menschen bedroht werden (vgl. Altemeyer, 1988; Duckitt, 2001; Duckitt et al., 2002): ein »Belief in the world as a dangerous place or as a competitive jungle« (Lantian et al., 2020, S. 161). Empirische Forschung legt nahe, dass Menschen, die diesen Glauben hegen, eher dazu neigen, Menschen generell als gefährlich und als Konkurrent*innen zu bewerten und selbst eine höhere Anfälligkeit für Verschwörungsvorstellungen zu haben (vgl. Leone et al., 2017).17 Die unter Prepper*innen weit verbreitete Einschätzung, dass im Katastrophenfall zwangsläufig mit Plünderungen zu rechnen sei (die Annahme wird in 13 von 14 der geführten Interviews kommuniziert und ist ungebrochen populär in Gruppen auf digitalen Plattformen), fügt sich in dieses Weltbild ein. Es kursieren dabei Einschätzungen von bereits 48 bis 72 Stunden, die es dauern würde, bis der Post-hoc-Zustand der Katastrophe in einen Naturzustand des homo homini lupus mit Plünderungen, Morden und Vergewaltigungen übergeht. 18 Gewalt wird dabei mitunter zur entscheidenden Wesensbestimmung des Menschen stilisiert, die insbesondere unter verschärften Bedingungen der Krise hervortritt (vgl. Horn, 2014), wenn die – durch das staatliche Gewaltmonopol hergestellte – soziale Kohäsion ihre Bindungskraft einbüßt. Hier wird eine Situation der Anomie gesehen, in der jeder Mensch potenzielle Konkurrenz bedeuten kann und in der nur noch auf die primordialen Bünde der Familie und den Selbstschutz vertraut werden könne. Eine Selbstbewaffnung findet sich bei 11 der 14 Interviewten, wobei 7 im Besitz von Schusswaffen sind. Manche der Interviewten betonen allerdings, dass die Waffen nicht speziell für die Selbstverteidigung angeschafft wurden, sondern im Rahmen eines Jagdscheins oder als Sportschütze erworben wurden. 17 Die Autoritarismusforschung verweist auf eine Korrelation von diesem Glaubenssystem mit autoritären und sozialdominanten Einstellungen (vgl. Duckitt et al., 2002). 18 Anzumerken ist hier, dass katastrophensoziologische Forschung diese deterministische Einschätzung entweder als Mythos ablehnt oder zumindest stärker auf eine entsprechende Differenzierung und Perspektivierung pocht. Ob es etwa konkret zu Plünderungen kommt, hängt von einer ganzen Reihe sozialer Bedingungen ab. Hierzu gehören örtliche Sozialstrukturen und ob es sich um eine Katastrophe größeren oder kleineren Ausmaßes handelt. Ein Unterschied besteht weiter darin, ob es sich um eine durch Naturgewalten induzierte Katastrophe oder um soziale Unruhen handelt. Zu betonen ist zudem, dass es in keinem der von Quarantelli (2003, S. 28; 2007, S. 4) untersuchten Fällen zu Plünderungen von privaten Häusern gekommen ist. Des Weiteren wird auf kulturelle und psychologische Faktoren verwiesen (vgl. Zhou, 1997).

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Zur Rolle von Misstrauen im Verschwörungsdenken und Preppen Anhand eines weiteren Interviewausschnitts soll das zuvor Beschriebene verdeutlicht sowie das Ineinandergreifen von Preppen und Haltungen des Misstrauens veranschaulicht werden. Es finden sich in diesem Interview keine expliziten Verschwörungsvorstellungen, jedoch Passagen, die tendenziell anschlussfähig für Verschwörungsdenken sind. Das folgende Zitat ist die Antwort auf den Eingangsstimulus des narrativen Interviews. Auf die Frage hin, wie er zum Preppen gekommen ist, führte der Herr B. aus: »Ja, wie hat das angefangen? Das ist eine gute Frage, ich wollte mir fürs Camping Einmannpakete, diese Verpflegungspakete von der Bundeswehr besorgen und ein Freund von mir, der ist noch da. Da konnte man die immer aus Restbeständen aufkaufen und irgendwann sagte der zu mir, das ist gerade schwierig, haben wir nichts mehr. Die ganzen Bunker, die wir haben, die werden wieder damit ausgestattet. Ich sag warum? Ist ja eigentlich alles vorbei? Sagt der, ja ist gerade ein bisschen schwierig, aber da ist halt nicht dranzukommen, und dann habe ich angefangen, mal mit der ganzen geopolitischen Lage so ein bisschen mich zu befassen, was man normalerweise so, also zwei Kinder zu Hause und Frau und Hund und Garten und so, macht man ja eigentlich nicht. So und dann kamen immer mehr so Sachen, wo ich dann sagte, da wird man hellhörig und dann habe ich einfach gesagt, vielleicht ist ein bisschen Vorsorge besser wie gar nichts zu machen. Ja, und je mehr man dann in die Materie reingeht, umso infizierter wird man davon sag ich jetzt mal.«19

Die Information einer Neubestückung von Bunkern lässt unterschiedliche Deutungen und Bewertungen zu, der Interviewte begegnete ihr mit Misstrauen und sie löste eine Irritation bei ihm aus, da dies trotz des lang zurückliegenden Endes des Kalten Krieges geschah. Die hierin liegende Ambiguität sorgte für ein Bedürfnis nach Klärung, da er hinter diesem Vorgang etwas Verborgenes und tendenziell Bedrohliches vermutete. Es veranlasste ihn zu einer verstärkten Suche nach entsprechend relevanten Informationen und nach möglichen Ursachen und Gefahren. Er vermutete die Ursache in der »geopolitischen Lage«, für die er konstatierte: 19 Das Interview wurde am 30.11.18 geführt.

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»Dass es überall kriselt, ist ja bekannt, ich meine man sieht es ja überall in den Medien, jetzt zum Beispiel ganz aktuell Ukraine. Und dann habe ich mir überlegt, warum liest man denn in den Medien oder warum hörst du denn nichts darüber, sondern nur interne Kreise? Und dann habe ich mich mal ein bisschen bei alternativen Medien schlau gemacht.«20

Selektiert wurden also jene Informationen, die für eine Gefahr sprechen, und eine solche wurde in Form des Ukrainekonflikts (ab 2014/15) gefunden. Abgeleitet wurde aus dieser geografisch eher entfernten Gefahrenlage eine unmittelbare Bedrohung im Nahfeld, die den Interviewten zum Schluss kommen ließ, eine Vorsorgepraxis beginnen zu müssen: »vielleicht ist ein bisschen Vorsorge besser wie gar nichts zu machen«. Der Blick für die Gefahr mischte sich hier mit dem Misstrauen als einem Modus der »Welterfassung« (Reemtsma, 2008, S. 37). Für Herrn B. ist der Sachverhalt der (angeblichen) Neubestückung von Bunkern ein Indiz dafür, dass der Bevölkerung Informationen vorenthalten werden. Im Interview mit ihm gibt es mehrere Stellen, in denen es um Misstrauen gegenüber Politik, Medien und Institutionen ging: »Wenn man jetzt einmal weiß, was alles so in den Nachrichten erzählt wird und was vielleicht mal anders dargestellt wird, muss ja nicht gleich falsch sein, aber was vielleicht anders dargestellt wird, zu – keine Ahnung – zu Medienzwecken, weil die eine bestimmte Richtung haben oder so. Wenn man sich darüber unterhalten hat, was das alles falsch läuft, und dann kam so das Denken wie man dann eigentlich als Bürger, ich sag es mal, ganz glimpflich verarscht wird, dann ist es mir doch schon besser, wenn ich meine Sicherheit in die eigene Hand nehme, sozusagen.« »So, und weil das einfach zu viel wurde, habe ich mir gedacht, jetzt musst du einfach mal, ich sag mal. Und dann auch so ein Ding und kurz, oder ein Jahr später kam das raus, dass unsere Bundesregierung sagt, wegen dem hier Katastrophenschutzgesetz, man sollte ja bevorraten. Warum sagen die das auf einmal? Hat Jahrzehnte nie einer drüber gesprochen und dann denke ich mir immer, wenn auf einmal unsere Bundesregierung mit so einem Tipp aus 20 Gängige Medien berichten Herrn B. zufolge nicht wahrheitsgemäß. Die Nachfrage was die angesprochenen »alternativen Medien« genau seien, wollte er nicht beantworten.

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der Hufe kommt, ist es wahrscheinlich schon schlimmer, wie die uns erzählen wollen. So also muss man für sich selber sorgen.« »Ich finde, man muss ja irgendwie ein bisschen Vertrauen in seine Regierung haben, zu sagen: Pass mal auf, die haben wir irgendwann mal gewählt, und wenn irgendwas passiert, bevor irgendwas passiert, die werden das schon ordentlich machen und das ist allgemein ein bisschen ins Hintertreffen geraten.«

Es findet sich hier ein spezifischer epistemic distrust gegenüber politischen Akteur*innen, »etablierten« Expert*innen und Medien, vertraut wird hingegen »alternativen Medien«. Diese Tendenz lässt sich auch beim Verschwörungsdenken empirisch feststellen (vgl. Imhoff et al., 2018). Misstrauen gegenüber Expert*innensystemen und staatlichen Institutionen äußert sich bei manchen Prepper*innen, dies klang bei Herrn B. ebenfalls an, als ein vermindertes Vertrauen in die Zuverlässigkeit dieser Personen und Systeme bis hin zu einer Diagnose der Dysfunktionalität. Da Sicherheit – nach den selbst definierten Parametern – von diesen nicht im ausreichenden Maße garantiert werden kann, wird versucht, selbst zu Expert*innen zu werden, Sicherheit selbst in die Hand zu nehmen. Das Streben nach einer größeren Unabhängigkeit von Institutionen und Expert*innen kann unterschiedlich stark ausfallen, ein ausgeprägteres Bestreben kann längerfristige Selbstversorgungs- und Autarkiepläne umfassen. Hierbei wird der Aufbau von parallelen privaten Versorgungsinfrastrukturen für Energie, Nahrung und Wasser angestrebt. Nicht nur ein Misstrauen in staatlich-politische Leistungsfähigkeit, sondern eine offene Ablehnung staatlicher Institutionen, findet sich bei Prepper*innen mit geschlossenem verschwörungsideologischem Weltbild und rechter Weltanschauung.21 Bspw. wurde das Ahrtal-Hochwasser 2021 von manchen Prepper*innen als Bestätigung für die vermutete Überforderung des Krisenmanagements staatlicher Institutionen gesehen, für Prepper*innen mit Verschwörungsmentalität war das Hochwasser gar Ergebnis einer gezielten Manipulation des Wetters durch den Staat.22 Das 21 Dies ist z. B. bei Reichsbürger*innen (vgl. Speit, 2017) und Souveränist*innen (vgl. Rathje, 2017) der Fall, die Überschneidungen mit der Prepperszene aufweisen. 22 In einer Prepper-Telegramgruppe wurde sich diesbezüglich auf ein verschwörungsideologisches Nachrichtenportal bezogen, das titelte: »Die Ungereimtheiten der Flutkatastrophe 2021 werden aufgedeckt«. https://www.kla.tv/19752 (17.02.2022).

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ausgeprägte Misstrauen gegenüber Institutionen, Eliten und Politik wird in einer ganzen Reihe an empirischen Forschungen zu Verschwörungsdenken stark gemacht (vgl. Goertzel, 1994; Abalakina-Paap et al., 1999; Imhoff et al., 2018). Hierin ist eine weitere Schnittstelle zwischen Preppen und Verschwörungsdenken zu sehen.23

Selbstwirksamkeitserwartung und politische Entfremdung Beide Interviews lassen sich als Artikulationen wahrgenommenen Mangels an Wahrheits- und Sicherheitsempfinden, Demokratie und Volkssouveränität sowie existenzieller Sicherheit lesen. Von der Regierung fühlt man sich im Stich gelassen, geschichtliche Ereignisse und deren Konsequenzen sind der demokratischen politischen und individuellen Einflussnahme entzogen. Die empfundene Deprivation tangiert, so lässt sich für das Interview von Herrn A. konstatieren, Aspekte politischer Entfremdung. Empfundene individuelle Machtlosigkeit ist eine gängige Erklärungsvariable in der Forschung zu Verschwörungsvorstellungen (vgl. Imhoff & Bruder, 2014; Imhoff et al., 2018). Verschiedene deprivationstheoretische Ansätze der Rechtspopulismustheorie gehen in eine ähnliche Stoßrichtung, zielen dabei aber vor allem auf eine empfundene politische Ohnmacht und das Gefühl von politischer und kultureller Entfremdung bzw. des Abgehängtseins sowie auf eine empfundene mangelnde Anerkennung ab (vgl. Decker et al., 2013, S. 98; Spier, 2010; Jörke & Selk, 2017). Aus der Perspektive einer Deprivationshypothese werden vor allem die kompensatorischen psychosozialen Funktionen von Verschwörungsdenken stark gemacht. Es wird auf den epistemischen, existenziellen, emotionalen und sozialen Zugewinn, den ein Glauben an Verschwörungen für das Individuum erbringt, rekurriert (vgl. Douglas & Sutton, 2018; Douglas et al., 2020, S. 181ff.). Zugleich verweisen empirische Forschungen auf einen Bumerangeffekt, bei dem sich die »positiven« psychischen Effekte des Verschwörungsglaubens ins Gegenteil verkehren bzw. negative Konsequenzen haben, indem sie ne23 Wie zuvor gezeigt beschränkt sich das Misstrauen nicht nur auf eine institutionelle und politische Dimension, interpersonales Misstrauen spielt bei manchen Prepper*innen ebenfalls eine Rolle. Empirische Forschungen legen einen sich wechselseitig verstärkenden Zusammenhang von interpersonalem Misstrauen und Verschwörungsdenken nahe (vgl. Lantian et al., 2020, S. 157).

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gative Emotionen sogar verstärken. Hierzu gehören die Reduzierung von Vertrauen (vgl. Einstein & Glick, 2015; Jolley & Douglas, 2014, Jolley et al., 2019) und ein gesteigertes Gefühl von »powerlessness, disillusionment, uncertainty, mistrust and anomie« ( Jolley et al., 2020, S. 233). Wo es um soziale Gratifikation geht, treffen sich Preppen und Verschwörungsdenken ebenfalls. Beide können einen Distinktionsgewinn, die Befriedigung eines Bedürfnisses nach Einzigartigkeit und eine Selbstaufwertung mit sich bringen (vgl. Lantian et al., 2017). So erachten manche Prepper*innen die Mehrheitsgesellschaft als zu naiv und bequem oder gar als verantwortungslos, wie auch Herr B: »Und wenn da jetzt irgendwelche Leute mit drei oder vier Kindern sind, die dann irgendwie am Hungertuch nagen, weil die auf nichts vorbereitet sind, wo ich dann immer sage: Schade um die Kinder, aber Schuld sind die Eltern.« Man selbst hingegen sieht sich als informiert, realistisch und als im Katastrophenfall überlegen, so auch Herr C: »Für mich ist ein Prepper einfach einer, der sich einen Kopf gemacht hat, was könnte passieren und was kann ich dagegen tun, ja? Im Endeffekt, wie schaffe ich es mit einem fetten Grinsen rauszugehen und am besten noch 10 Kilo mehr auf den Rippen zu haben danach, ja. Während alle anderen verhungert sind.«24

Ein weiteres Moment für die Attraktivität des Preppens, so zeigen die vorläufigen Ergebnisse bereits an, ist, dass es als eine soziokulturell vermittelte, proaktive Form von Coping gefasst werden kann (vgl. Zaumseil et al., 2014, S. 15; Aspinwall et al., 2005; Aspinwall, 2010). Es verhindert bzw. dämpft eine belastende Stresserwartung – Stress, der entstehen würde, falls man in der zukünftigen potenziellen Situation der Katastrophe nicht vorbereitet wäre. Zusätzlich mindert es Stress im Hier und Jetzt, indem es innere und äußere Ressourcen der Resilienzsteigerung bereitstellt, die zu einer positiven Selbstwirksamkeitserwartung25 beitragen. Hierdurch können negative Gefühle der Unsicherheit und des Bedrohtseins reduziert werden. Auch hin24 Das Interview wurde am 13.10.2018 geführt. 25 »Perceived self-efficacy is defined as people’s beliefs about their capabilities to produce designated levels of performance that exercise influence over events that affect their lives. Self-efficacy beliefs determine how people feel, think, motivate themselves and behave. Such beliefs produce these diverse effects through four major processes. They include cognitive, motivational, affective and selection processes« (Bandura, 1994, S. 71).

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sichtlich dieser emotionalen und existenziellen Kompensation treffen und ergänzen sich Preppen und Verschwörungsdenken (vgl. Douglas et al., 2020, S. 183–186). Im Unterschied zu Verschwörungsdenken (vgl. ebd., S. 182) hat Preppen keine explanativ-epistemische Funktion für soziopolitische Ereignisse, da es im Kern nicht durch Personalisierung von struktureller und abstrakter Herrschaft Schuldige benennen muss, es beinhaltet aber eine Deutungs- und Sinnstiftungsfunktion, insofern Krisen und Katastrophen als individuell zu bewältigende Herausforderungen interpretiert werden können, für die Preppen eine praxisorientierte Antwort bereithält. Eine, noch weiter zu erforschende These ist, dass Preppen da ansetzen kann, wo Verschwörungsdenken nicht (mehr) ausreichend existenzielle und emotionale Kompensation bereitstellt. Holzschnitzartig wäre Preppen dann eine Möglichkeit, praktisch auf eine gefühlt gefährliche Welt zu reagieren, während Verschwörungsdenken auf die vermeintliche Beantwortung der Frage zielt,26 warum die Welt ein gefährlicher Ort ist und welche Ursachen Krisen haben. Ein Verschwörungsglaube wie auch Antisemitismus »offeriert« in den Worten des Historikers Reinhard Rürup (1987, S. 91) »ein Erklärungsmodell für die nicht verstandenen Entwicklungstendenzen der bürgerlichen Gesellschaft und suggeriert damit zugleich Lösungsmöglichkeiten für die wirtschaftliche, politische und kulturelle Krise der Gegenwart. Er bietet das Zerrbild einer Gesellschaftstheorie.« Preppen und Verschwörungsdenken müssen nicht zwangsläufig zusammen auftreten, jedoch sind sie miteinander kompatibel und ergänzen sich potenziell. Beide sind Reaktionsmöglichkeiten auf wahrgenommene Krisenerscheinungen, Ohnmachtserfahrungen und eine als gefährlich wahrgenommene Welt. In Anbetracht der anhaltenden Coronapandemie, des Angriffs Russlands auf die Ukraine und steigender Energiepreise ist daher ein Zuwachs der Szene denkbar. Weiter zu beobachten ist, ob es auch Potenzial für eine mögliche Radikalisierung und Ausdifferenzierung von Teilen der Szene gibt, insbesondere dann, wenn diese Überschneidungen mit dem Querdenkenmilieu, rechtsextremen Strukturen und der Reichsbürger*innenszene aufweisen. 26 Freilich soll hiermit nicht unterschlagen werden, dass Verschwörungsdenken, gerade wenn es mit einem antisemitischen Weltbild einhergeht, nicht auf einer rein kognitiven und affektiven Ebene verbleibt. (Rechtfertigung von) Gewalt war und ist, wie auch zahlreiche Beiträge i. d. Bd. an vielen Stellen verdeutlichen, häufig mit Verschwörungsdenken eng verwoben.

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Biografische Notiz

Mischa Luy, M. A., ist Sozialwissenschaftler und promoviert am Lehrstuhl für Sozialtheorie und Sozialpsychologie an der Ruhr-Universität Bochum zum Geschichts- und Gesellschaftsverständnis der deutschen Prepperszene. Er ist Stipendiat der Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur und wissenschaftlicher Berater beim Modellprojekt »#kopfeinschalten – Kritisch gegen Verschwörungsdenken«.

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Zur »alltäglichen« Integration und Mobilisierung von Verschwörungsideologien1 Carolin Engels & Sebastian Salzmann

Einleitung Die unterschiedlichsten Verschwörungsideologien und -erzählungen2 erfahren gegenwärtig in verschiedenen Variationen eine enorme Verbreitung und mithin breite Akzeptanz (zur Einführung s.  Hepfer, 2016; Hessel, 2020). Geradezu beiläufig können im alltäglichen Gespräch Bemerkungen fallen, die deutlich machen, dass das Politikverständnis des Gegenübers von verschwörungsideologischen Elementen affiziert ist  – ohne immer direkt ein geschlossenes Weltbild zu präsentieren  –, das insbesondere Wirtschaft und Politik als »planvoll« gelenkt imaginiert. Verschwörungsideologien umfassen in unserer Analyse drei Ebenen: eine individuell-intrapsychische, eine interaktionszentrierte und eine ob1

2

Der ursprünglich in psychosozial 1/2020 erschienene Text wurde für diese Ausgabe geringfügig überarbeitet und ergänzt. Wir danken Matthias Pauge und den anonymen Gutachter*innen einer früheren Version des Beitrags für wichtige Hinweise und kritische Anmerkungen. In der Regel vermeiden wir den geläufigeren Begriff »Verschwörungstheorie«, da hier eine Diskutierbarkeit der darin behaupteten Zusammenhänge impliziert wird, die im Umgang mit dem Phänomen selten zielführend ist. Im Begriff der Ideologie bleibt das Moment der Bewusstsein- und Wahrnehmungsbezogenheit mithin am besten erhalten. Salzborn (2017, S. 120) wiederum weist darauf hin, dass ihr Anspruch gerade kein theoretischer, sondern ein praktischer ist, der die Vorstellung der Wirklichkeit den eigenen Bedürfnissen anzupassen versucht. Im Rahmen der vorliegenden Arbeit ist dieser destruktive Impuls der Verschwörungsideologie – bzw. der ihr zugrundeliegenden Erzählung – von zentraler Bedeutung (vgl. Hessel, i. d. Bd.).

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Carolin Engels & Sebastian Salzmann

jektivierende Ebene, die das Verhältnis des Subjektes zur wahrgenommenen gesellschaftlichen Wirklichkeit bezeichnet. Auf persönlicher Ebene spielen verschwörungsideologische Elemente und Versatzstücke eine nicht immer lebensbestimmende, aber augenscheinlich immerhin ordnungsund sinnstiftende Rolle. Dabei fällt auf, dass die entsprechenden Elemente nicht zwingend als Teil einer wahnhaften Verarbeitung der Realität auftreten,3 sondern für gewöhnlich als kulturell verfügbare und sozial vermittelte Wissensbestände in das alltägliche Erleben integriert werden. Diese Integration hat nicht zuletzt Auswirkungen auf die individuelle gesellschaftliche Selbstverortung sowie die soziale Interaktion. Vor dem Hintergrund dieser Annahme treffen wir anhand von Interviews Aussagen über die (sozial-)psychologische Funktion von Verschwörungsideologien und die Art und Weise ihrer individuellen »Mobilisierung«. Dies erfolgt auf der Grundlage von vier Interviews, die nicht allein dazu dienten, Zustimmung oder Ablehnung abzufragen, sondern das Sprechen über Verschwörungsideologien sowie deren Verwendung in den Mittelpunkt stellen. Der Ausgangspunkt der Interviews war das Interesse, mehr darüber herauszufinden, a) auf welche Weise die individuelle Situation mit gesellschaftspolitischen Prozessen (und den vermeintlichen »Verschwörungen«) verknüpft wird und b) welche (sozialpsychologischen) Funktionen Verschwörungsideologien in diesem Zusammenhang spielen. Schließlich: Was macht c) die psychosoziale Attraktivität derartiger Konstrukte aus? Im Mittelpunkt steht dabei die (konflikthafte) Grundstruktur des Individuums und dessen Auseinandersetzung mit der eigenen Umwelt, die, wie im Folgenden beschrieben, unterschiedlich auf Krisen und Herausforderungen reagieren kann. Die psychologisch relevante und sozial wie kulturell einflussmächtige Funktionalität des Verschwörungsdenkens wird vor diesem Hintergrund als Element einer Individuation erkennbar, die sich mitunter im sozialen »Abseits« manifestiert. Unser Ziel ist es, Anknüpfungspunkte für zukünftige Forschung und Präventionsprojekte aufzuzeigen, die auch das Wie der Verschwörungsideologie ins Zentrum rücken. 3

Obwohl der Glaube an eine Verschwörung mit klinisch diagnostizierbaren Störungen einhergehen kann, weisen wir an dieser Stelle auf die Gefahr hin, die mit der grundsätzlichen Pathologisierung des Verschwörungsdenkens einhergeht. Abgesehen davon, dass etwa psychotische Episoden oder Wahnvorstellungen nicht mit einer emotional gestützten und ggf. verzerrten Wahrnehmung gesellschaftlicher Ereignisse zu vergleichen sind, dient die Pathologisierung nicht selten der Stigmatisierung und Delegitimierung politisch unliebsamer Ansichten.

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Zur »alltäglichen« Integration und Mobilisierung von Verschwörungsideologien

Zwischen Individuation und Abgrenzung Das »Misstrauen« des Individuums

Verschwörungsideologien sind keinesfalls nur ein Problem der »Anderen« oder einer einzelnen Gruppe, sondern stellen ein gesamtgesellschaftliches Problem dar – auch wenn im Zuge (identitäts-)politischer Auseinandersetzungen mitunter das Gegenteil behauptet wird. Die Ursachen für die Bereitschaft, an Verschwörungserzählungen zu glauben, im Individuum und seiner psychischen Verfasstheit zu suchen, ist ein Anliegen (nicht nur) der psychologischen Forschung, wobei insbesondere quantitative oder rein theoretische Arbeiten das Feld bestimmen (Bartoschek, 2015; Abalakina-Paap et al., 1999; Neumann, 2010; van Prooijen et al., 2015; Imhoff & Bruder, 2014; zur Kritik vgl. Raab et al., 2013). Sie bieten dabei Anknüpfungspunkte für das Verstehen der individuellen Motivationen im Zusammenspiel mit soziokulturellen Zusammenhängen. Zentral ist hierbei der Prozess der Individuation mitsamt seinen Krisen, der »naturgemäß« nicht reibungslos abläuft, jedoch nicht notwendigerweise zu jener Abgrenzung führt, die für in Verschwörung denkende Individuen geradezu charakteristisch ist. Das heterogene Feld der Verschwörungsideologien und ihrer »Anhänger*innen« macht es unmöglich, psychische Dynamiken der Gesamtheit dieser Personen kategorisch zuzuschreiben. Ein*e Anhänger *in der 9/11 was an inside job-»Theorie« unterscheidet sich höchstwahrscheinlich in vielen Merkmalen und der intrapsychischen Dynamik von einer anderen Person, die dieselbe »Theorie« vertritt – diese Überzeugung jedoch durch ein »Wer-weiß-das-schon-wirklich« abmildert. Auch in dem Ausmaß, in dem die Personen sich damit gedanklich, emotional, handelnd und verhaltensmäßig auseinandersetzen, sind große interindividuelle Diskrepanzen zu erwarten. Eine quantitative, fragebogengeleitete Abfrage einzelner Theorien kann somit nie der inhaltlichen Materie und psychischen Funktion gerecht werden, sondern dient der Generierung demografischer und statistischer Zahlen, wie Raab und andere (2013, S. 2) bereits angemerkt haben. Quantitative Forschung kann also in einem Großteil der Fälle Hinweise liefern, die jedoch weiter exploriert werden müssen. Die allgemeinen Erkenntnisse zu Verschwörungsideologien und ihren Funktionsweisen können hier nicht umfassend, aber zumindest im Rahmen einer Auswahl angedeutet werden. Relevante Aspekte bezüglich der Verbreitung verschiedener Verschwörungsideologien finden sich bspw. bei Bartoschek (2015), der in Erfahrung 307

Carolin Engels & Sebastian Salzmann

bringen konnte, dass Personen, die an eine Verschwörungsideologie glauben, mit großer Wahrscheinlichkeit auch andere Verschwörungsideologien für wahr halten, die sich sogar im Widerspruch zur ersten befinden können (vgl. Goertzel, 1994; Neumann, 2010). Die Mobilisierung von Verschwörungsideologien führt dazu, dass die Realität (oder die gesellschaftlich gemeinhin akzeptierte Wahrnehmung sozialer Wirklichkeit) in der Regel infrage gestellt oder sogar ein »fundamentales Misstrauen« ( Jaworski, 2001, S. 18) an ihr zum Ausdruck gebracht wird (vgl. dazu Suntrup, 2018).4 Dieses Misstrauen scheint nicht nur individuelle Folgen zu haben. Eine Konfrontation mit Verschwörungserzählungen kann auch zu einer signifikant niedrigeren Bereitschaft führen, sich in der Politik zu engagieren, was über das Gefühl von political powerlessness mediiert wird (Jolley & Douglas, 2014). Somit kann auch das allgemeine politische Interesse zurückgehen, wenn das Vertrauen in die Gesellschaft und Politik nachlässt, dem ein Gefühl politischer Handlungsunfähigkeit vorausgeht. Zugleich findet hier eine Verschiebung statt, wodurch die Unzufriedenheit mit dem einheitlich wahrgenommenen Bereich der Politik zu einer Absetzung, mithin zu einer fundamentalen Oppositionshaltung führen kann. Hier stellt sich die Frage nach der psychischen Disposition, die die Herausbildung dieser Haltung begünstigen kann. Maaz (2001, S. 32) beschreibt in seiner Arbeit die psychodynamisch relevanten Grundlagen von Verschwörungsideologien. Er sieht insbesondere die Kindheit als eine prägnante Phase der Entwicklung, in der die Anfälligkeit für Verschwörungsideologien entstehen kann. Er vermutet eine Ich-Schwäche, deren mögliche Bedingungen er skizziert: Frühe Beziehungsstörungen zur Mutter, eine Abwertung, Ablehnung und Objektifizierung durch die Eltern stellen die »Daseinsberechtigung« des Kindes infrage, das sich schließlich entfremdet fühlt. Im weiteren Leben findet der so angelegte Spannungszustand und vor allem die »verleugnete innerseelische unbewusste Unsicherheit« dann den »bewusstseinsfähige[n] Anker der Bedrohung« in der Außenwelt (ebd.). Dabei können Krisen für die Bereitschaft, Verschwörungsideologien zu mobilisieren, eine wesentliche Rolle spielen und an eine in der Kindheit gelegte Grundlage anknüpfen. Kritische Lebensereignisse treten in jeder Biografie auf und gehen häufig mit einer Veränderung der bestehenden Lebenssituation einher, die die Person dazu zwingt, bewältigende und anpassende Maßnahmen zu ergreifen (Hermann, 2014; Filipp & Aymanns, 4

Vgl. dazu auch die Aufsätze von Felix Brauner und Hans-Jürgen Wirth i. d. Bd.

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Zur »alltäglichen« Integration und Mobilisierung von Verschwörungsideologien

2018).5 Krisen können eine Regression in mentalen Prozessen möglich machen und primitivere Ideenfindung und damit auch Verschwörungsdenken auslösen (Zonis  & Joseph, 1994, S.  447). Groh (1992, S.  276) sieht den Glauben an Verschwörungsideologien daher unter anderem als Folge »einer Häufung krisenhafter Phänomene«, die häufig nicht aus eigener Kraft zu bewältigen seien. Auch Gefühle der Exklusion aus der eigenen Gruppe können über die Suche nach Bedeutung zur Mobilisierung von Verschwörungsideologien führen (Graeupner & Coman, 2017). Das Individuum wird auf diese Weise versuchen, ein Gleichgewicht zwischen Innen und Außen wiederherzustellen, um die eigene Handlungsfähigkeit abzusichern (vgl. Boesch, 2005, S. 235). Verschwörungsideologien können gewährleisten, dass Gefühle der Unsicherheit sowie der Ambivalenz verringert und widersprüchliche Informationen darüber hinaus geglättet werden. Gleichzeitig wird ein subjektives Gefühl der Kontrolle erhöht und der Anschluss innerhalb einer eigenen Gruppe hergestellt und/oder gewährleistet (Douglas et al., 2017). Douglas und andere (ebd.) vermuten daher, dass auf diese Weise epistemische, existenzielle und soziale Motive befriedigt werden. Sie scheinen demnach als Werkzeug der Individuation und einer Abkehr von der Seite der »Anderen«, also von denjenigen, die als Teil einer Verschwörung oder als naiv und gutgläubig betrachtet werden, fungieren zu können (Raab et al., 2013). Die eigenen Werte werden hierbei explizit ausgedrückt und geben der Person einen Platz im sozialen Gefüge, der abseits von anderen Überzeugungen stehen will (ebd., S. 2). Dort findet sich jedoch gleichzeitig ein Anschluss an andere Individuen, die die eigene Meinung mehr oder weniger teilen – mitunter aber auch erst einen Anreiz stellten, Verschwörungserzählungen zu akzeptieren, um Teil einer Gruppe von »Auserwählten« zu werden. Es wird insgesamt deutlich, dass krisenhafte Situationen und eine in der Kindheit gelegte psychische Disposition den »Glauben« an Verschwörungserzählungen begünstigen können. Daraus könnte man auch schließen, 5

Beispiele für entsprechende Ereignisse können ein Schulwechsel, die Scheidung der Eltern, schwerwiegende Erkrankungen, Arbeitsplatzverlust, Trennung/Scheidung/Tod von Partner*in oder Kind sowie allgemein Traumata sein (Hermann, 2014). Auch Entwicklungsaufgaben können Krisen auslösen. Der Umgang mit diesen Krisen ist entscheidend. Nicht selten führen die Ereignisse zu einer (psycho-)somatischen Reaktion, die auch als Auslöser für weitere Krankheiten oder Störungen fungieren kann (Jenness et al., 2019).

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Carolin Engels & Sebastian Salzmann

dass dieser »Glaube« flexibel einsetzbar ist, also in verschiedenen Situationen, Lebensphasen verschiedene Formen annehmen kann. Diese Feststellung schließt an die Annahme an, dass Menschen aus verschiedenen Gründen Verschwörungserzählungen rezipieren und integrieren.6 Eine bewusste Abgrenzung kann schließlich das Ergebnis eines langwierigen Prozesses sein, den das Subjekt als Reaktion auf die eigene Ausgrenzung in Gang gesetzt hat (s. dazu Graeupner & Coman, 2017). Die Erfahrung des Widerstands, auf den man aus verschiedensten Gründen gestoßen ist, wird dabei als Agieren einer manipulierten, feindselig gestimmten Umwelt begriffen, die man schließlich »durchschaut« habe. Hier zeigt sich bereits das isolierende Moment im Kern verschwörungsideologischer Annahmen, die ein bewusstes, unheimliches Wirken »hinter den Dingen« vermuten. Derartige Reaktionen – so unsere These – lassen den Individuations- zu einem Desintegrationsprozess werden, der Gesellschaft als gemeinsame Aufgabe verkennt. »Alltagsverschwörer« im Kontext

Im Rahmen einer wissenssoziologischen Annäherung an das Themenfeld Verschwörungsideologie weisen Anton und andere (2014) darauf hin, dass die sozialwissenschaftliche und psychologische Forschung – exemplarisch dokumentiert in Titeln wie etwa Hofstadters The Paranoid Style in American Politics (1996 [1964]) – eine verschwörungsideologisch geprägte Einstellung als das Ergebnis der Aufnahme und Verarbeitung »falschen Wissens« im Zuge von Überforderung, Angst- und Kontingenzbewältigung betrachtet. Der damit einhergehenden Disqualifizierung von Meinungen, die vom sogenannten gesellschaftlichen Konsens abweichen, möchten die Autoren begegnen, indem sie Verschwörungsideologien im Kern als durch eine »antagonistische Beziehung zu anerkannten Wirklichkeitsbestimmungen« geprägt charakterisieren (Anton et al., 2014, S. 13).7 Obwohl sich diese Beziehung mithin durch eine sehr klare Präferenz manichäischer Weltbilder auszeichnet, das heißt keine rein zufällig erfolgte, sondern eine sozialpsychologisch durchaus analysierbare Wahl darstellt, ist die kritische Ausführung der Autoren zu ergänzen: Die Auseinandersetzung mit dem Phänomen »Verschwörungstheoretiker*in« darf nicht zu dessen 6 7

Vgl. dazu auch die Beiträge von Mischa Luy und Rebekka Blum i. d. Bd. Vgl. dazu den Aufsatz von Martin Jay i. d. Bd.

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Zur »alltäglichen« Integration und Mobilisierung von Verschwörungsideologien

Mystifizierung beitragen, da nicht von »specific cases« oder Idealtypen (Raab et al., 2013, S. 1; 2017, S. XIX) ausgegangen werden kann. Vielmehr zeigen die Ergebnisse der Leipziger-Autoritarismus-Studie 2018, dass 51,8 %, also über die Hälfte der untersuchten Stichprobe, die Aussage »Politiker und andere Führungspersönlichkeiten sind nur Marionetten der dahinterstehenden Mächte« (Decker & Brähler, 2018, S. 123) nicht für falsch halten. Im Hintergrund steht hierbei die Annahme einer entsprechenden »Mentalität« (Moscovici, 1987), die auf eine Bereitschaft verweist, dieser und ähnlichen Aussagen zuzustimmen. Bereits im vorangegangenen Abschnitt haben wir betont, dass die Mobilisierung – ähnliches gilt für eine umfassendere Integration  – von verschwörungsideologischen Inhalten durch Individuen flexibel erfolgt. Heitmeyer (2018, S. 320) verbindet die Mobilisierung entsprechender Inhalte zur Erreichung individueller Ziele mit seiner Theorie sozialer Desintegration, die häufig mit (empfundenen oder realen) Anerkennungsdefiziten und -gefährdungen einhergehe (ebd., S. 158; vgl. Straub & Salzmann, 2021). Für uns stellte sich daher die Frage, wie diese und ähnliche Formen gesellschaftlicher Desintegration in den Interviews ihren Niederschlag finden würden. Diese Desintegration erfolgt dabei durchaus kontextbezogen und relational. So wie Kruglanski und Webber (2014, S. 380) die Bedeutung der Suche nach Bedeutsamkeit für die politische Radikalisierung von Individuen betonen, verstehen wir die kontextabhängige Desintegration als das Ergebnis einer durch das Individuum vollzogenen Neuorientierung, die nicht nur als bloße »Abgrenzung« verstanden werden kann. Gleichzeitig wirkt sie als identitätsstiftende und somit stabilisierende Ausschaltung von Ambivalenz (vgl. Salzborn, 2017, S. 120). Diese Abgrenzung ist zugleich das Ergebnis einer bestimmten Wahrnehmung von Politik und Wirtschaft, die »›aloof‹ from the subject« zu existieren scheint (Adorno, 2003 [1950], S. 187), wie es in den Studies in the Authoritarian Personality bereits heißt. Der Autor weist zudem darauf hin, dass das Individuum zugleich den Zwängen einer Sphäre unterworfen ist, die ihm als ein fremder und unzugänglicher Bereich erscheint (ebd., S. 344f.). Vor diesem Hintergrund vollzieht sich auch die Integration verschwörungsideologischer Inhalte in den Bereich der Identität, zu deren Aufrechterhaltung sie mobilisiert werden (vgl. Straub, 2016, S. 142f.). »Verschwörungen« umgibt ein Nimbus. An ihnen klebt eine Widersprüchlichkeit und eine Undurchsichtigkeit, die sie – nicht nur (aber auch) für die Forschung – attraktiv machen (vgl. Raab et al., 2017, S. VI). Aufgrund dessen und aufgrund ihrer technisch bedingt zunehmenden Ver311

Carolin Engels & Sebastian Salzmann

breitung über soziale Medien und andere interaktive Kanäle oder Messengerdienste sind sie darüber hinaus jederzeit verfügbar8 und bieten in einer Welt, in der nichtöffentliche Absprachen unbestritten existieren und in der politische, ökonomische und weitere gesellschaftliche Vorgänge nicht immer ohne Weiteres zu verstehen sind, verlockende Anreize, um ein wenig Ordnung in eine unübersichtliche Welt zu bekommen (zur Funktion von Erzählungen in sozialen Konflikten s. a. Salzmann, 2021). Dass diese Gesellschaft also zugleich jene psychische Disposition hervorbringt, die den Wunsch nach einer Erklärung – oder grundsätzlicher: Veränderung – mit sich bringt, muss kaum noch einmal wiederholt werden.9

Symptome der Desintegration: Empirische Zugänge zum Verschwörungsdenken Um der Frage nachzugehen, warum eine (teil- und schrittweise) Integration der Verschwörungsideologien stattfindet und wie eine entsprechende Mobilisierung verschwörungsideologischer Elemente aussehen kann, wurden 2018 im Rahmen eines explorativ angelegten Versuchs vier problemzentrierte Interviews durchgeführt (s. dazu Witzel, 2000). Die Interviewten, im Folgenden als A (m), B (w), C (m) und D (m) bezeichnet, wurden über Aushänge und durch Vermittlung rekrutiert und im Laufe des Interviews gefragt, inwiefern sie (»alternative«) Meinungen bestimmten »offiziellen« Verlautbarungen gegenüber bevorzugen, aber auch, wie sie Möglichkeiten politischer Partizipation insgesamt beurteilen. Das Ziel der Befragung, etwas über die individuelle Bereitschaft zu erfahren, Verschwörungserzählungen aufzugreifen, wurde im Anschluss offengelegt. Die Interpretation des Materials arbeitet dementsprechend manifeste und latente Kommunikationsinhalte vor dem Hintergrund der theoretischen Vorüberlegungen schlaglichtartig heraus; sie basiert auf einer vorangegangenen qualitativen Inhaltsanalyse des Materials, wobei die Kategorienbildung einem induktiven Vorgehen gefolgt ist (Mayring, 2015; zum Vorgehen s. a. Stamann et al., 2016; Ritsert, 1975). Zur teilweisen Strukturierung der Befragung diente aufgrund des theoretischen Vorverständnisses – trotz der damit einhergehenden Schwierigkeiten – 8 9

Vgl. dazu auch die Beiträge von Nora Feline Pösl, Deborah Wolf sowie Julian Kauk et al. i. d. Bd. Vgl. dazu auch den Beitrag von Martin Jay i. d. Bd.

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Zur »alltäglichen« Integration und Mobilisierung von Verschwörungsideologien

ein Leitfaden (s. a.  Rosenthal, 2014, S.  141f.). Dies erleichterte zunächst einmal die Thematisierung vergleichbarer Ereignisse und Zusammenhänge und ermöglichte darüber hinaus einen »sanften« Einstieg. Im Mittelpunkt des Interesses steht für uns dabei die Bedeutung von Verschwörungserzählungen für die Befragten. Die Reduktion des Materials ermöglichte die Bestimmung einzelner Elemente und Kategorien zur tiefergehenden Analyse. Wie werden komplexe gesellschaftliche Ereignisse (womöglich) unter Zuhilfenahme verschwörungsideologischer »Erklärungen« subjektiv gedeutet – und warum? Welche persönlichen Faktoren begleiten die Bereitschaft der Befragten? Die Interpretation des Materials erfolgt unter spezifischen Foki, die den drei Kategorien entsprechen: Kohärenzgefühl/ Ohnmacht, Integrationsvermögen/Abgrenzung, Komplexität/Auflösung. Diese finden sich auch in den vorangegangenen Überlegungen wieder und gliedern die nachfolgende Darstellung. Wir verstehen die ermittelten Aspekte keineswegs als alleinige und ausschließliche Merkmale verschwörungsideologischen Denkens und Argumentierens. Sie dienen als Ausgangspunkt einer Annäherung an Verschwörungserzählungen, denen im Rahmen der politischen Selbstverortung – und also auch der damit verbundenen Wirkmächtigkeit – eine wichtige Funktion zukommt. Bei der Auswahl des Materials wurde dieser exemplarische Charakter berücksichtigt. Den einzelnen Aspekten ist ferner eine »Durchlässigkeit« eigen, die Querverbindungen zulässt oder sogar erforderlich macht. Kohärenzgefühl/Ohnmacht

Der Gebrauch verschwörungsideologischer Versatzstücke hängt für den*die Einzelne*n mit deren Attraktivität für die Gewährleistung der eigenen Handlungsfähigkeit und -kompetenz zusammen. Die Abwehr von Gefühlen bloßer Ohnmacht oder ohnmächtigen Reagierens hängt dabei eng mit der aktiven Schaffung kohärenter Zusammenhänge zusammen (vgl. Fromm, 1937, S. 114f.). Dieser Prozess taucht im Interviewmaterial mithin als ein Prozess einer »Offenlegung« auf. »Also ich habe schon ganz früh angefangen, ganz viele Dinge irgendwie zu hinterfragen und ich habe mich dann auch irgendwann sehr schnell für die Philosophie interessiert. Also Philosophie war so das, was ich dann irgendwann entdeckt hab, allerdings dann auf der Realschule (kurze Pause)

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Carolin Engels & Sebastian Salzmann

und da habe ich dann gemerkt, okay, es gibt anscheinend so eine Handvoll Menschen auf der Welt, die auch genauso viel nachdenken und genauso viel hinterfragen wie ich und dann habe ich mich da so ein bisschen verstanden gefühlt« (B 70–77).

Deutlich wird hier zunächst, dass dem »Hinterfragen« ein soziales, auf Anschluss abzielendes Moment innewohnt. Eine Gruppe – eine »Handvoll Menschen auf der Welt«, scheint so zu sein, wie das Individuum sich selbst begreift: nachdenkend und hinterfragend. Daraus entsteht ein Gefühl des Anschlusses und des Verständnisses; die Ohnmacht wirkt weniger erdrückend. Das Ende des Zitats lässt darauf schließen, dass der beschriebenen »Entdeckung« eine Phase vorangegangen ist, in der die Befragte sich unverstanden gefühlt hat. Das »Hinterfragen« zahlreicher »Dinge« scheint diese Situation aufgelöst zu haben, insofern es die Konturen einer Weltsicht offenbart hat, in der es möglich wird, hinter dem, was vormals keinen Sinn zu haben schien, eine potenziell andere Wahrheit zu vermuten. Aufgrund der individuell erlebbaren Ohnmacht schätzt einer der Befragten wiederum den Einfluss einzelner Bürger*innen als »nahezu bei null« ein (C 448f.). Weiterhin bleiben viele Aussagen häufig diffus und bieten nur konkrete Motive wie etwa Macht und Geld: »Ich würde das einfach auf die Kreise beziehen, die mir nicht bekannt sind, aber die halt ihre finanziellen Vorteile aus den Ereignissen ziehen können und wollen« (D 309). Diese Kohärenz steht im Zusammenhang mit dem Erleben einer Inkongruenz des Selbst im Verhältnis zur Umwelt, der man sich geradezu ausgesetzt fühlt. Person B äußert ferner, dass sie von ihren Eltern, die sie als »ganz anders« (B 66) und »nicht hinterfragen[d]« (B 67) bezeichnet, nicht auf eine Waldorfschule geschickt wurde und unter der »normalen« Schule zu leiden hatte. »[Wo] die Schüler einfach in so einen, in so einen kleinen Rahmen gepresst werden, in dem sie sich entfalten sollen, mit ganz wenig Freiraum und das waren dann einfach so sag ich mal, ja, die Resultate davon, wenn ich mich nicht richtig konzentrieren kann oder soll ja auch mit der Migräne zusammenhängen, mit der neurologischen Erkrankung« (B 161–166).

Bereits zu Beginn des Interviews verweist die Befragte auf das befreiende Gefühl, das mit dem Hinterfragen »vermeintlicher Gewissheiten« einher314

Zur »alltäglichen« Integration und Mobilisierung von Verschwörungsideologien

ging. Die eigene (behauptete) Andersartigkeit erhält einen nachträglichen Sinn.10 Hier zeigen sich bereits Anfänge einer selbstgewählten Abgrenzung, die mit der Herstellung kohärenter Zusammenhänge einhergehen und die das Selbst mit seiner Umwelt in einen sinnvollen Gesamtzusammenhang zu bringen versucht. Integrationsvermögen/Abgrenzung

Das Verhältnis von Integrationsvermögen und Abgrenzung ist hinsichtlich der sozialen Bedeutung von Verschwörungsideologien von zentraler Bedeutung. Es schwankt zwischen Akzeptanz, pragmatischer Bezugnahme und der Suche nach Alternativen, Widerstand sowie dem Vorhandensein einer »Wende«. »Ja, bei mir hat sich halt einfach so eine extreme Wende, also es ist einfach irgendwann, hat sich einfach so viel bei mir verändert, weil ich immer mehr dahintergekommen bin. Moment mal, das und das wird irgendwie so gemacht, aber irgendwie passt das nicht zu mir, und ja, aber irgendwie war es letztendlich, wenn ich so zurückdenke, vor allem so die Pubertät und so, das war so sehr, eine sehr intensive Zeit« (B 110–115).

Die zweite Ausprägung des Fokus findet sich an dieser Stelle eines Individuationsverlaufs, in dem die elterlichen und gesellschaftlichen Werte und Vorstellungen zunächst abgelehnt und durch einen anderen Lebensentwurf ersetzt werden: »[I]ch wollte alternativ sein, und ja, ich bin jetzt Emo, ja, ich bin jetzt Punk und heute bin ich Hippie« (B 118). Die Beschäftigung mit Verschwörungserzählungen ermöglichte es der Befragten, die subjektiv empfundene »Unangepasstheit« im Nachhinein sinnvoll einzuordnen – und sogar einen Gewinn aus ihr zu ziehen. Zugleich wird die Integration verschwörungsideologischer Momente als Teil einer Individuation sichtbar, die sich insbesondere als Prozess der beginnenden, fortschreitenden Abgrenzung darstellt. Die Mobilisierung entsprechender Inhalte liefert geradezu die Legitimierung der eigenen 10 Zum psychoanalytischen Konzept der Nachträglichkeit verweisen wir auf Kirchhoff (2009).

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Haltung, die sich durch Verhärtung auszeichnet und sich dem Dialog zu entziehen versucht. Der Wunsch nach einer unbedingten Andersartigkeit führt in die selbstgewählte Isolation, aber auch in den Bereich politischer Selbstverortung. Die eigenen Erfahrungen werden zum Anlass für eine grundsätzliche Skepsis genommen, denn Person B möchte »dem System wirklich ganz bewusst widersprechen« (B 634). Es findet eine bewusste Abgrenzung von einem Zusammenhang ab, der für die Übel der Welt verantwortlich gemacht wird, dem kaum noch zu trauen ist, weshalb sich auch Person C ein »relativ eigenes Bild« (C 354) vom 11. September 2001 und den USA gemacht hat. Hier zeigt sich zudem, dass es weniger um ein kritisches Hinterfragen gesellschaftlicher Zusammenhänge, sondern um eine Einteilung der Welt in »Gut« und »Böse« geht. Die Annahme konspirativer Machenschaften dient dabei der Stabilisierung der eigenen Position, wie es zugleich ein Moment der tatsächlichen, das heißt sozial wirksamen Desintegration des Individuums darstellt – selbst im Falle eines nicht vollständig abgedichteten, ideologisch begründeten Weltbildes. Auch auf der persönlichen, emotionalen Ebene findet sich immer wieder eine Abgrenzung von dem, was andere Menschen ausmacht: »Das sind so Themen wirklich, mit denen muss sich jeder Mensch dann auseinandersetzen. Das ist für mich einfach, ich habe das Gefühl, dass ich sowas dann noch viel intensiver empfinde als andere Menschen« (B 299–302). Hier scheint sich für das Subjekt ein psychischer »Gewinn« abzuzeichnen, der die Abgrenzung zu den Mitmenschen durch Überhöhung des eigenen Selbst legitimiert. So heißt es auch: »[I]ch geh’ durch die [XY-Straße] und denk mir, boah, seid ihr alle bescheuert sozusagen, ganz krass jetzt mal formuliert« (B 532–534). Die »offizielle Sichtweise« (Raab et al., 2017, S. VII) gesellschaftlich relevanter Ereignisse und entsprechende Schuldzuweisungen werden ebenfalls anders »interpretiert«: »[A]ber ich interpretiere die Schuldigen anders, also für mich sind die Schuldigen andere Leute, als die, die offiziell so genannt werden. Und die Schuldigen sind halt die Elite. Ne?« (B 389–391). Die Fähigkeit, Gemeinsamkeiten festzustellen und Widersprüche in das eigene Nachdenken über Gesellschaft zu integrieren, wird einer Weltsicht geopfert, in der die Schuldigen bereits erkannt und jedes Widerwort als wertlos betrachtet wird. Durch Abgrenzung wird der*die Einzelne narzisstisch gestärkt, zugleich bietet sie Anschluss an eine Gruppe, eine »Handvoll Menschen«, die als überlegen betrachtet werden. 316

Zur »alltäglichen« Integration und Mobilisierung von Verschwörungsideologien

Komplexität/Auflösung

Die Wahrnehmung der gesellschaftlichen Wirklichkeit spannt sich in der Perspektive des Individuums zwischen undurchdringlicher Komplexität und Transparenz auf. Die Auflösung der dabei notwendig entstehenden Dissonanz manifestiert sich in der Zersetzung von Ambivalenz. Konkretisierung und eindeutige Schuldzuweisungen sind die Folge. Demgegenüber kann auch das Aushalten von Widersprüchen und ambivalent beurteilbaren Situationen stehen. »Oder die haben sich halt gedacht, ja gut, jetzt nutzen wir die Chance oder haben es eben selber inszeniert, das, keine Ahnung, was das angeht ist es halt glaub ich schwierig, was man glauben soll, also ich würde nicht sagen, dass (kurze Pause) die insz- die USA das inszeniert hat, aber (kurze Pause) ich bin mir halt eben nicht zu hundert Prozent sicher, das ist halt das Ding« (A 566–570).

Eine markante Formulierung schließt dieses Zitat ab. »Nicht zu hundert Prozent« sicher sein zu können, spricht für eine Unüberschaubarkeit, mit der der Befragte umzugehen versucht, ohne sich festlegen zu wollen. Die Auflösung entsprechender Situationen drängt bei einer anderen Befragten zur konkreten Benennung: »Da wären wir jetzt wieder beim Thema Marionetten, also, ich sag mal so, dass die Politiker, die jeder ungefähr oder viele mit Namen kennen, das sind die Marionetten und die Lobbyisten sind die ausführenden Hände, ausführenden Kräfte der Elite, wenn man so will. Weil was letztendlich alles im Lobbyismus stattfindet, das hat nichts mit Demokratie oder wirklich gemeinsamem Entscheiden zu tun« (B 600–605).

Die Auflösung beendet hier die Konfusion und nimmt die diffuse Angst vor der in den gesellschaftlich-politischen Strukturen nicht immer bzw. selten unmittelbar erfahrbaren Selbstwirksamkeit, die im letzten Teilsatz klar zum Ausdruck gebracht wird. Verschwörungsideologien liefern ein Grundmuster für die Beurteilung der Umwelt, das primär mit den emotionalen Bedürfnissen kompatibel sein muss und in der Tat ein Gefühl von Souveränität erzeugen kann. Entsprechend beurteilt man schließlich diejenigen, die man als Wurzel allen Übels erkannt hat: »[D]as erste Wort, was mir in den Kopf kommt ist 317

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eins meiner Hasswörter überhaupt. Lobbyismus ist meines Erachtens nach das größte Problem, was wir in der Politik aktuell haben« (C 312–314). Hier identifiziert der Befragte eine Gruppe, die er als die Gruppe der »Schuldigen« schlechthin bezeichnet. Auch hier zeigt sich, dass es nicht um eine (vielleicht sogar berechtigte und begründbare) Kritik an sozialen Missständen geht, sondern um die konkrete Bezeichnung des eigentlichen Übels, gegen das sich zugleich der Affekt richtet. Ebenso heißt es: »Mir ist das vollkommen egal, wie die Leute heißen, im Endeffekt ist es für mich eine relativ logische Schlussfolgerung, dass die Allerreichsten dieser Welt natürlich auch alles tun, um das zu bleiben« (C 437–439). Verschwörungsideologien dienen an dieser Stelle nicht nur der individuellen »Absicherung«, sondern stellen, in ihrem sozialen und kulturellen Kontext betrachtet, eine Form von Desintegration dar, die sich als Konsequenz eines diffusen Unbehagens, das eher einer »Ahnung« entspricht, artikuliert: »Ich denke, dass eine Transparenz nicht in allen Bereichen vorhanden ist und auch durchaus nicht erwünscht ist.//I: Nicht erwünscht?//Also nicht ehm von mir erwünscht, sondern von denen, die in der Transparenz zu sehen wären« (D 231–234). Das Material stellt folglich auch eine Repräsentation einer sukzessiven Desintegration dar, die die letzte Konsequenz des hier thematisierten »Denkens« darstellt. Mit dieser Aussage soll keineswegs jede Äußerung diskreditiert werden, die politische Ereignisse kritisch kommentiert und hinterfragt. Es lässt sich jedoch durchaus eine Trennlinie ziehen zwischen einer Kritik, die einen kritischen Umgang mit der eigenen, widersprüchlichen Involviertheit in gesellschaftliche Prozesse aushält, und einer Erklärung, die gerade diese selbstkritische, notwendig ambivalente Komponente abwehrt. Des Weiteren geht die Mobilisierung von Verschwörungsideologien mit einem praktischen Impuls einher, der eine gemeinschaftliche Aushandlung unmöglich macht. »[I]ch habe so die Vorstellung, dass wir alle so so unglücklich werden müssen, dass wir wirklich so richtig aufwachen und denken, so jetzt geh ich auf die Straße und jetzt laufe ich wirklich irgendwie mit Axt und, also wirklich mit meinen Waffen rum, um mich zu verteidigen. Ich will das nicht mehr und so wirklich dieses Absolute- absoluter Widerstand, ne, dass nur das irgendwie Sinn macht, ne?« (B 638–643).

Das Individuum hat keine Struktur mehr, die es hält, und überlässt sich seinen Affekten. Nicht jedes Hinterfragen vermutet eine Verschwörung zersetzender 318

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Kräfte. Es zeigt sich jedoch, dass Personen, die aufgrund ihrer emotionalen Bedürfnisse für entsprechende Ideologien anfällig sind, diese mobilisieren, um einerseits der eigenen Ohnmacht zu begegnen, aber auch um andererseits einem Impuls zu folgen, der – vielleicht aus nachvollziehbaren Gründen – auf eine Veränderung gesellschaftlicher Zusammenhänge hin orientiert ist, diese jedoch zentral über die Mobilisierung aggressiver Affekte herbeiführen möchte. Es geht folglich nicht um einen Prozess der demokratischen, gemeinschaftlichen Arbeit an gesellschaftlich relevanten Fragen, sondern letztlich um einen Feldzug gegen diejenigen, die man als Problem »erkannt«, dämonisiert und in einen abseitigen Bereich der Konspiration verwiesen hat.

Abschließende Betrachtung Die Art und Weise, in der Verschwörungsideologien thematisiert  – das heißt auch unbewusst »mobilisiert« – werden, lässt sich im Hinblick auf drei Ebenen betrachten und analysieren, die bei diesem Vorgang zum Tragen kommen: eine individuell-intrapsychische, eine interaktionszentrierte und eine objektivierende Ebene, die das Verhältnis des Subjektes zum »Anderen« respektive zur wahrgenommenen gesellschaftlichen Wirklichkeit beschreibt, deren Repräsentation die Rede von der »Verschwörung« darstellt. Auf all diesen Ebenen spielen zentrale Aspekte der Integration und Mobilisierung von verschwörungsideologischen Inhalten und Versatzstücken eine Rolle, die in ihrer Gesamtheit die innere wie die äußere Abkehr und Desintegration der*des Einzelnen aus einem zunehmend feindlich wahrgenommenen, vielleicht sogar dämonisierten gesamtgesellschaftlichen Zusammenhang markiert. Die Interviews machen deutlich, dass die Mobilisierung von Verschwörungserzählungen das Selbst entlastet, insofern eine selbstgewählte »Opferhaltung« sukzessive zementiert, rationalisiert und schließlich zur Aufrichtung einer neuen Position der Stärke nutzt. Die Frage nach der Beurteilung von Verschwörungsideologien lässt sich hier noch einmal aufgreifen: Eine Kritik von sozialen Zusammenhängen, die deren innere Widersprüchlichkeiten ins Auge fasst, lässt sich in vielerlei Hinsicht vom Verschwörungsdenken abgrenzen, da durch dieses ja erstens gerade nicht mehr die eigene Involviertheit thematisiert und zweitens jede Widersprüchlichkeit dadurch aufzulösen versucht wird, dass es diese selbst als »planvoll« herbeigeführt betrachtet. Für uns ist dabei insbesondere ein Punkt entscheidend: Verschwörungsideologien werden nicht, wie es oft scheint, lediglich von Personen 319

Carolin Engels & Sebastian Salzmann

aufgegriffen, die bestimmte Merkmale tragen und sich stark von anderen Personen unterscheiden, sondern liegen als flexible Ressource bereit, als Bestandteil des common sense und des kulturell verfügbaren Wissens. Das ihnen zugrundeliegende Bedürfnis, gesellschaftliche Missstände nicht als gegeben anzusehen, sondern die ihnen zugrundeliegenden Strukturen zu verstehen und zu kritisieren, wird an dieser Stelle nicht attackiert. Vielmehr geht es um die Weise, in der Verschwörungsideologien dieses Bedürfnis bedienen, in dem sich (selbst im »Anfangsstadium«) ein zutiefst antidemokratisches Element zu erkennen gibt, das Gemeinsamkeit im Vorhinein ablehnt oder nur für den eigenen Kreis der »Auserwählten« zulässt. Dies machen auch die Suchbewegungen der Befragten deutlich, die in der zumeist eindeutigen Beurteilung gesellschaftlicher Gemengelagen enden. Es entsteht ein Kontinuum im Verschwörungsdenken; von Verschwörungsideolog*innen, die sich eingehend mit den Erzählungen beschäftigen und in gewisser Weise schon ein geschlossenes Weltbild in sich tragen, das sich nur noch schwer oder gar nicht auflösen lässt, zu Personen, die im Alltag, am Stammtisch oder in privaten Gesprächen über Politik und Wirtschaft die genannten Sphären als ein einziges Betätigungsfeld konspirativer Machenschaften charakterisieren, sich jedoch nicht ausführlich mit den einschlägigen »Theorien« vertraut machen. Insbesondere letztere Personen sind als Symptom einer vielschichtigen Entfremdung von demokratischen Prozessen, Abläufen und Institutionen zu verstehen, die sich auch in der Adaption populistischer oder verschwörungsideologischer Erzählungen ausdrückt (Schäfer & Zürn, 2021). Verschwörungserzählungen sind ein zentraler Bestandteil antidemokratischen und antiliberalen Denkens, gerade weil sie das Agieren demokratischer Gesellschaften nicht als Ergebnis (auch konflikthafter) Aushandlungsprozesse darstellen, sondern als vermeintlich totalitäres, »gelenktes« Handeln »fremder Mächte«, die als dem eigenen Selbst, der eigenen Gruppe feindlich gesinnt vorgestellt werden. Viel zu oft wird das Phänomen »Verschwörungstheorie« mit allerlei Skurrilität in Verbindung gebracht – wohingegen wir die zentrale Funktion der Distanzierung zur Gesellschaft hervorheben wollen sowie die Weigerung, die eigene Rolle in dieser wahr- bzw. anzunehmen.11 Vielmehr wird die mit dieser Rolle verbundene individuelle Verantwortung nicht als 11 Dieser Text erschien zuerst zu Beginn des Jahres 2020 – und somit kurz vor der COVID19-Pandemie, in deren Verlauf die polarisierende und desintegrierende Wirkung von Verschwörungserzählungen zunehmend ins öffentliche Bewusstsein drang.

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Biografische Notizen

Carolin Engels, M. Sc., studierte Psychologie an der Universität Witten/Herdecke. Aktuell absolviert sie ihre Ausbildung zur psychologischen Psychotherapeutin bei der Psychoanalytischen Arbeitsgemeinschaft Köln-Düsseldorf. Sebastian Salzmann, M. A., ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Fakultät für Sozialwissenschaft der Ruhr-Universität Bochum und forscht dort zu Antisemitismus in schulischen Kontexten sowie zu sozialen Konflikten im kommunalen Raum. Als Mitglieder von Bagrut. Verein zur Förderung demokratischen Bewusstseins e. V. arbeiten sie unter anderem zu den Themen Antisemitismusprävention und Demokratieförderung.

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Moderne Hexereivorstellungen und Antisemitismus Zwei Verschwörungsmythen im europäisch-westafrikanischen Vergleich1 Felix Riedel

Einführung Die historische und geografische Verbreitung von Hexereivorstellungen spricht für eine universelle Faszination mit okkulten Verschwörungen. Insbesondere im subsaharischen Afrika sind heute Gerüchte mit okkulten Inhalten stark präsent.2 Fantasien über kannibalische Sekten, seelenfressende Hexen, Geldzauberei und Geheimkulte durchziehen die Medienlandschaften und sind fast flächendeckend anzutreffen. Dabei gehen sie weit über eine Reaktion auf reale politische Verschwörungen hinaus, auch wenn sie durch diese begünstigt werden (vgl. Stewart & Strathern, 2004). Für die Forschung über kollektive Gewalt ist von Interesse, welche Bausteine und Muster von Verschwörungsfantasien kulturübergreifend wirken. So lassen sich Hybridisierungen von Verschwörungsmythen und ihre Ausbreitung im globalen Kontext frühzeitig abschätzen und wirksame Gegenstrategien entwerfen. Von realen Verschwörungen und realistischen Verschwörungshypothesen unterscheide ich die hier besprochenen Verschwörungsfantasien und die als Erzählung vorgelegten Verschwörungsmythen dadurch, dass man von Theorien nur sprechen kann, wenn eine Realitätsprüfung noch möglich ist. Prüfmerkmale sind die kolportierte 1 2

Der ursprünglich in psychosozial 1/2020 erschienene Text wurde für diese Ausgabe durchgesehen und überarbeitet. Der folgende Text ist eine Zusammenfassung und Fortführung meiner früheren Thesen (Riedel, 2008) vor dem Hintergrund des in den vergangenen 12 Jahren dazugewonnenen Materials.

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Felix Riedel

Reichweite der Verschwörung (»Weltverschwörung«) oder eine unrealistische Zahl von an der Verschwörung Beteiligten (9/11) oder magische, irreale Aspekte der Tat (Hexerei, Gottesmord, Hostienschändung) – aber auch die (fehlende) Bereitschaft, aus Unwissen vorgelegte Theorien unter dem Druck von Fakten zu verwerfen. Verschwörungsfantasien und ihre propagandistische Vergesellschaftung über Gerüchte, Reden und Medien sind eine Bedingung von kollektiver Gewalt. Der Feind im Inneren und die dagegen inszenierte Notwehr fachen Vernichtungswünsche an. Die am stärksten durch Diffusion globalisierte und historisch stabilste Verfolgungsideologie ist der Antisemitismus: von Europa über die islamische Welt bis Japan und Südamerika fand und findet der Mythos einer Weltverschwörung Zuspruch, der konkret Jüdinnen und Juden für abstrakte Vorgänge verantwortlich macht. Die andere global verbreitete und in unterschiedlichsten Kulturen und Zeiten anzutreffende Verfolgungsideologie bilden Hexereivorstellungen, die Menschen im Nahbereich für meist konkrete Vorgänge wie Tod oder Krankheit bezichtigen. Hexereivorstellungen sind durch Konvergenz (gleichförmige, aber unabhängige Entstehung an unterschiedlichen Orten) entstanden, Antisemitismus durch Diffusion (Verbreitung durch Kulturkontakt). Die bemerkenswerte historische Stabilität beider Phänomene begründet sich aus der Dramaturgie des Mythos. Kulturübergreifend gleichen sich die ontogenetischen Zwänge, aus denen zwangsläufig bestimmte Dramen entstehen: die Geburt, die Ablösung von der Mutterbrust, die Reinlichkeitserziehung, der Zwang zur sozialen Konformität und die damit einhergehenden Konflikte. Die eigene orale Aggression wird als dämonischer Kannibalismus der Eltern projiziert, um die Frustration über reale Machtlosigkeit und Strafangst zu vermeiden. Ritueller Kindsmord, Kannibalismus und Verrat der engsten Vertrauten sind die Vorwürfe, die daraus entstehen. Mit weiteren Entwicklungsstufen kommen analer Sadismus und ödipale Wut hinzu. Unter dem Druck von narzisstischen Idealen und Spaltungen entsteht das Repertoire von Konflikten, auf denen Verschwörungspropaganda aufbaut.3 Die universalen Ängste und Traumata werden in ihr gezielt angesprochen und durch Reize verstärkt. Zentral dafür ist das Angebot der straflosen Regression in Aggression. Problematisch ist insbesondere, wenn die Regeln, die dem Kind aufgenötigt werden, nicht rational nachvollzogen werden können, sondern 3

Zu einer ausführlichen Theorie dieser Prozesse s. Grunberger & Dessuant (2000).

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Moderne Hexereivorstellungen und Antisemitismus

nur aus Strafangst anerkannt werden. Dies begünstigt die pathische Projektion, in der sich versagter Wunsch und eigene Strafangst in Straflust am fremden Objekt verwandeln. Max Horkheimer und Theodor W. Adorno (1969 [1947], S. 202) machten dieses Modell zum Zentrum ihrer Analyse des Antisemitismus: »Die psychoanalytische Theorie der pathischen Projektion hat als deren Substanz die Übertragung gesellschaftlich tabuierter Regungen des Subjekts auf das Objekt erkannt. Unter dem Druck des Über-Ichs projiziert das Ich die vom Es ausgehenden, durch ihre Stärke ihm selbst gefährlichen Aggressionsgelüste als böse Intentionen in die Außenwelt und erreicht es dadurch, sie als Reaktion auf solches Äußere loszuwerden, sei es in der Phantasie durch Identifikation mit dem angeblichen Bösewicht, sei es in der Wirklichkeit durch angebliche Notwehr. Das in Aggression umgesetzte Verpönte ist meist homosexueller Art. […] Die pathische Projektion ist eine verzweifelte Veranstaltung des Ichs, dessen Reizschutz Freud zufolge nach innen unendlich viel schwächer als nach außen ist: unter dem Druck der gestauten homosexuellen Aggression vergißt der seelische Mechanismus seine phylogenetisch späteste Errungenschaft, die Selbstwahrnehmung, und erfährt jene Aggression als den Feind in der Welt, um ihr besser gewachsen zu sein.«

Weil die gesamte Palette an denkbaren psychologischen Ambivalenzen beteiligt sein kann, kann dieses Modell kulturübergreifend und in allen Individuen in unterschiedlicher, kulturell bedingter Intensität angetroffen werden. Die Verschwörungspropaganda erzeugt eine künstliche Strafangst, in der die »angebliche Notwehr« umso dringlicher erscheint, als der Feind im Nahbereich verortet wird. Gratifikation erzeugt dann nicht nur das Ausleben des Sadismus in der Identifikation mit dem imaginierten Aggressor, sondern auch das Abflauen von Strafangst im Kollektiv: »Die Flucht in eine Massenpsychose ist demnach nicht nur Flucht vor der Realität, sondern auch vor dem individuellen Wahnsinn. […] Der antisemitische Massenmensch kommt erstmals im Leben zu einer vorübergehenden Lösung seines latenten Ambivalenzkonflikts mit den Eltern. Durch Teilhabe am Kollektiv-Ich der Masse kann er die veräußerlichte elterliche Gewalt in zwei Teile spalten: in den Führer, den er liebt, und in den Juden, den er haßt« (Simmel, 2002 [1946], S. 73).

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Antisemitismus und Hexereivorstellungen ermöglichen die Projektion einer fiktiven Übermacht: die kannibalischen Hexenzirkel der afrikanischen Mythen und die »Weisen von Zion« mit ihren antiken und mittelalterlichen Pendants (vgl. Tarach, 2022). Diese Projektion funktioniert, wenn grenzenlose Übermacht mit der realen, äußersten Ohnmacht der jeweils Beschuldigten einhergeht. Vernichtbarkeit und Nicht-Schlüssigkeit werden zum Maßstab für die Wirkung von Propaganda: »Die Wut entlädt sich auf den, der auffällt ohne Schutz« (Horkheimer & Adorno, 1969 [1947], S. 180). Die Opfer können die grotesken Anschuldigungen nicht durch Verhaltensänderungen beeinflussen. Jüdinnen und Juden werden für ihre Religion und Atheismus, für Kapitalismus und Kommunismus und auch für den Antisemitismus zugleich verantwortlich gewähnt (vgl. von Brentano, 1965, S. 49). Und Hexen sind im ghanaischen Film mitunter liebevolle Mütter oder Väter, die sich mit anderen Hexen verschwören, um ihre Kinder zu »ernten«, sobald sie erwachsen werden (Riedel, 2016). In beiden Fällen zielt die Verfolgung nicht zwangsläufig auf ein deviantes Verhalten ab, das etwa mit der Aufgabe der Religion oder der politischen Aktivität oder durch Anpassung zu vermeiden wäre. Die Verfolgungspraxis hat sich vom Handeln und von Merkmalen der Opfer weitgehend abgelöst. Das Leitmotiv ist das der »Heimtücke« durch »imaginary foes« (vgl. Loewenthal, 1990 [1949]). Dieses Muster verbindet Antisemitismus und Hexenjagden als Geschwisterideologien. Übergänge sind für Europa gut belegt: etwa das Bild des Hexensabbats, die Figur der Hexensynagoge (Behringer, 2004, S. 60ff.), die Imago des jüdischen Zauberers (Silbermann, 1981, S.  26; Horkheimer & Adorno, 1969 [1947], S. 195), die Verbrennung des Talmud als Anleitung zur Hexerei (Poliakov, 1992 [1976], S. 55f.), die Verschmelzungen von antisemitischen Verschwörungsfantasien und Zaubereivorwürfen (vgl. Ginzburg, zit. n. Stewart & Strathern, 2004, S. 148f.; Behringer, 2004, S. 60ff.) und letztlich die Täterschaft sowohl von Pogromen als auch Hexenjagden durch Dominikanermönche (Trevor-Roper, 1969, S. 33). Die historische Anfälligkeit für Dämonologien resultierte, wie das Beispiel Martin Luther illustriert, häufig auch in der Bereitschaft zum Antisemitismus und umgekehrt. Die Nähe von modernen Hexenjagden und Antisemitismus wurde in der Ethnologie regelmäßig registriert. Andrew Sanders (1995, S. 8) spricht Hexenjagden eine Schlüsselfunktion zum Verständnis von Antisemitismus und anderen Verfolgungsideologien zu: 328

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»Knowledge of how witches were selected in non-industrial societies helps us to have an understanding of the selection of the more ›secular‹ scapegoats of our time: Hitler’s selection of the ›Jews‹ and other minorities; Stalin’s search for ›Trotskyites‹; McCarthy’s search for ›communists‹. It may help us understand most of the current European political concern with ›immigrants‹.«

Ihm zufolge weisen weder die Stereotype über ethnische Minderheiten noch über Gewerkschaften die Komplexität der Hexenjagden auf. Allerdings würden in Zeiten der Krisen oder sozialen Spannungen alle Stereotypen ineinander übergehen und Minderheiten für die Widersprüche der Gesellschaft verantwortlich gemacht. Für Sanders sind afrikanische Hexenjagden wie auch der Antisemitismus besondere Formen einer allgemeineren Kategorie der »Hexenjagd«, die »Hexen-Imago« ist das ultimative Konglomerat der Ressentiments und Stereotypien (ebd., S. 21, 52, 207ff., 211). Geoffrey Parrinder (1963) kommt dieser Überlegung sehr nahe. Er stellt afrikanische Ideen des Ritualmordes auf eine Stufe mit europäischen Ideen über antisemitische Ritualmorde und Hexerei (ebd., S. 174). »Society suffers from neuroses as do individuals. To clear itself free from guilt society looks about for scapegoats on which to lay its faults. During the middle Ages the Jews, and later the witches, were the scapegoats at whose doors society laid the blame for the terror of the recurrent plagues and the continuing high child mortality. In the twentieth century, the Nazis blamed the German defeat in war upon the still helpless Jews and butchered them with unparalleled barbarity. The modern massacres of Jews are strictly comparable to witch-hunting« (ebd., S. 202; vgl. S. 9, 174).

Ähnliche Positionen finden wir bei Max Gluckman, Rebecca Cardozo, Clyde Kluckhohn, H. R.  Trevor-Roper und Barbara Multhaupt (vgl. Riedel, 2008, S. 93). Jedoch werden in der Ethnologie die Vergleiche auch seriell unscharf und vage. Stephen Ellis schlägt eine »vergleichende Soziologie der Schuldbockprojektionen« vor, die Hexenjagden, die McCarthy-Ära, die stalinistischen Schauprozesse und Ausländerfeindlichkeit umfassen solle (zit. n. Ter Haar, 2007, S. 32f.; vgl. Parrinder, 1963, S. 202). Eine ähnlich grobe Verallgemeinerung nimmt das Moral-Panics-Theorem (Goode & Nachman, 2009 [1994]) vor, unter das viele afrikanische Verschwörungsfantasien und 329

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Gerüchtezirkel heute gefasst werden. Die McCarthy-Ära, der Stalinismus und viele andere politische Hetzjagden nahmen jedoch (vermeintliche) Agent*innen realer, konkurrierender und mächtiger politischer Systeme ins Visier. Im Gegensatz zu den Hexereivorstellungen wie auch zum Antisemitismus waren diese politischen Verfolgungen nicht auf magische Konstruktion angewiesen (vgl. Ellis; zit. n. Ter Haar, 2007, S. 32f.). Interessant ist, dass die politische »Hexenjagd« heute vor allem von Vertreter*innen der neuen Rechten beklagt wird: Bekanntestes Beispiel ist Donald Trumps Lamento über »Hexenjagden« gegen ihn.4 Allen Beispielen liegt die Annahme zugrunde, bei den paroxystisch auftauchenden Phänomenen handele es sich um gesellschaftliche Krisenreaktionen, in denen ein Projektionsmechanismus, der sogenannte »Sündenbock-Komplex«5 greife. Diese »social-malaise«-Theorie wurde vielfach vom Material widerlegt (vgl. Christina Larner, zit. n. Stewart & Strathern, 2004, S. 156f.; vgl. Riedel, 2016). Ein konkreter Zusammenhang spezifischer Krisen mit spezifischen Verfolgungen ist nur selten stichhaltig belegt. Häufig ist, dass Hexenjagden vormals friedliche Menschen aufwiegeln oder Menschen vertreiben, die ökonomische oder soziale Stützen der Gesellschaft sind (ebd., S. 290ff.). Verschwörungsmythen dienen dazu, künstliche Krisen zu erzeugen und vor allem die ausgewählten Opfer in Krisen zu stürzen.

Ritual und Ritualmord Eben nicht reales, sondern fantasiertes Verhalten prangern Verschwörungsmythen an. Der Ritualmordvorwurf ist daher der eigentliche Kern des Antisemitismus und der modernen Hexereivorstellungen (vgl. Adorno, 2002 [1946], S. 160; Trevor-Roper, 1969, S. 41). Die Charakteristik der antisemitischen Ritualmordlegende hat sich von den christlichen Projektionen hin zu arabisch-islamischen Versionen und Codierungen verlagert (s. Scheit, 1999; Lewis, 1989, S. 142f.). Afrikanische Ritualmordlegenden haben sich ebenfalls als flexibel erwiesen: Die Vorstellung vom Verzehren 4 5

Vgl. den Aufsatz von Martin Jay i. d. Bd. Die populäre Rede vom »Sündenbock-Mechanismus« stellt eine verfälschte Interpretation der ursprünglichen Sündenbock-Praxis dar, die gerade eine Reflexion auf die eigene Schuld an den dem Ziegenbock aufgeladenen Sünden beinhaltet (vgl. Fenichel, 2002 [1946], S. 38).

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des spirituellen Leibes durch einen Hexenzirkel in nächtlichen Orgien im Busch wird heute abgelöst oder ergänzt durch den Verdacht des Verkaufs von spirituellen Leibern oder menschlichen Gliedmaßen. »In exchange for the money it brings, the mamlambo demands regular sacrifices of chicken, beef and human blood. Should witches fail to satisfy these demands, the mamlambo will kill their close relatives« (Niehaus, 2001, S. 56). »People alleged that she was the victim of a white money lender from Hoedspruit and local black businessmen who had cut parts from her body and extracted her blood. They believed that the businessmen manufactured dihlare from her flesh, which they used to attract customers to their stores, and sold her blood to pharmaceutical companies« (ebd., S. 66).

Feuerwehrmännern in Ostafrika wurde etwa 1948 unterstellt, mit ihren Schläuchen Blut auszusaugen und an die Kolonialherren zu verkaufen (White, 2000). In Ghana entstand 2009 eine Welle von Gerüchten, bei der Internetbetrüger*innen dunkler Rituale bis hin zum Vampirismus beschuldigt wurden (Riedel, 2015). In ghanaischen und nigerianischen Filmen wird so gut wie jeder plötzliche Reichtum auf Hexerei oder das schwarzmagische Menschenopfer zurückgeführt (vgl. Wendl, 2004). Die Ursache der vielberufenen Verschmelzung von Ökonomie und Okkultismus (vgl. z. B. Comaroff & Comaroff, 1993; Wendl, 2004, S. 20f.; Riedel, 2008, S. 101ff.) lässt sich in der doppelt verschleierten Form verorten, in der Menschen in Afrika ökonomische Prozesse aufgrund der räumlichen Trennung von Produktionsstätten des industriellen Reichtums erscheinen. Auf der Hand liegt, dass insbesondere die weltweit geläufigen Trugbilder und Verkehrungen von Ökonomie, die Karl Marx (1973 [1867], S. 107ff.) analysierte, im afrikanischen Kontext im Idiom der Hexerei interpretiert werden (vgl. Riedel, 2015, 2016). Darunter fallen die Überbewertung der Zirkulationssphäre und der Fetischismus der Ware: Der*dem Einzelnen ist die eigene Teilhabe am durch die Summe von einzelnen Handlungen ins Übermächtige gewachsenen Markt nicht mehr nachvollziehbar und diese Übermacht begegnet ihr*ihm als fremdes, dinglich-abstraktes, feindliches, unabänderliches und letztlich magisches Prinzip (Marx, 1973 [1867], S. 108; vgl. Scheit, 1999, S. 47ff.). Warum für die abstrakten Prozesse der Produktionsverhältnisse im einen Fall »die Juden« und im anderen Fall Hexen verantwortlich gemacht wurden, erklärt sich jeweils nur aus der geschichtlichen Kontingenz. In der Ritualmordlegende und in der damit 331

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assoziierten Geldmagie verschwimmen die Grenzen zwischen Antisemitismus und modernen Hexereivorstellungen am stärksten. Wegen dieser Adaptivität ist auch zu befürchten, dass die gängigen antisemitischen Ritualmordlegenden weiter mit afrikanischen Ritualmordlegenden verschmelzen. Sporadische Belege existieren: So verweist ein Wörterbucheintrag von 1941 laut White (2000, S. 11) auf die mit dem Swahili-Wort mumiani gemeinte rituelle Herstellung einer Mumie durch Blut, das »die Juden« anderen Menschen entziehen würden. Der zentrale Unterschied zwischen antisemitischen und afrikanischen Ritualmordlegenden liegt indes in der Realität der Ritualmorde in weiten Teilen des subsaharischen Afrikas. Die afrikanischen Ritualmordlegenden erzählen vom schnellen, aber verfluchten Geld, das durch blutige Opferrituale generiert werden könne. Zahllose Gerüchte machen den Ritualmord so attraktiv, dass immer wieder entsprechend ausgestaltete Morde aus Habgier (nach-)vollzogen werden (vgl. Kaetzler, 2001, S. 115ff.; Riedel, 2008, S. 98f.). Es ist also prinzipiell möglich, dass dergestalt tatsächliche Ritualmörder*innen des Ritualmordes beschuldigt werden. Im Falle des Antisemitismus waren die Ausübenden des Ritualmordes jedoch immer dieselben Antisemit*innen, die Jüdinnen und Juden des Ritualmords beschuldigten (vgl. Scheit, 1999): »Im Zentrum des faschistischen, antisemitischen Propagandarituals steht der Wunsch nach dem Ritualmord« (Adorno, 2002 [1946], S. 160). Beim Antisemitismus ist die Legende über verschwörerische Gewalt unmittelbar Vorbereitung des eigenen Gewaltaktes, während sie sich im afrikanischen Kontext mit berechtigtem Protest gegen rituelle Gewalt vermischt. Daher muss hier in jedem einzelnen Fall eine Realitätsprüfung zur Differenzierung von Mythos und Kritik erfolgen, während im Fall des Antisemitismus direkt auf die eigenen Pläne der Antisemit*innen geschlossen werden kann, die von der pathisch projizierenden Verschwörungsfantasie verraten werden.

Wandlungsfähigkeit Nach Trevor-Roper (1969, S. 35) ersetzte das Hexenstereotyp im 16. und 17. Jahrhundert zeitweise das viel ältere antisemitische Stereotyp. Ab da wiederum überdauerte in Europa der Antisemitismus die Hexenjagden. Er erhielt neuen Auftrieb und sogar eine »wissenschaftliche« Form – blieb 332

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aber im Kern Wiederholung der alten Verschwörungsfantasie vom Gottesmord und Verrat am Volk. (vgl. Poliakov, 1979, 1992 [1976]; Silbermann, 1981; Scheit, 1999). Die Modernisierungsfähigkeit des Antisemitismus und seine polymorphe Ontogenese führt zur Suche nach seinen Ursprüngen. Das Buch Ester im Ersten Testament der Bibel stellt dabei eine der ältesten Quellen dar: »[D]aß sich ein bestimmtes heimtückisches Volk unter alle Nationen der Erde gemischt habe, das durch seine Gesetze zu jedem anderen Volk in Gegensatz stehe. […] So sind wir zu der Ansicht gelangt, daß dieses Volk als einziges sich gegen alle Menschen ohne Ausnahme feindselig verhält, nach absonderlichen und befremdlichen Gesetzen lebt und sich gegen die Interessen unseres Landes stellt und die schlimmsten Verbrechen begeht, so daß im Reich keine geordneten Verhältnisse eintreten können« (Est 3,7–14).

Die zentralsten Bausteine für den modernen Antisemitismus sind hier schon überliefert: die in der »Heimtücke« enthaltene Verschwörungsvorstellung, die kolportierte Grundverschiedenheit von allem Bekannten und die Überdimensionierung der Anschuldigung sowie die Totalität der angedachten Gegenmaßnahme: die Ausrottung mitsamt Frauen und Kindern. Der historische Wert der Quelle besteht darin, dass sich die Opfer eine solche Verfolgungsideologie vorstellen konnten und sie sehr wahrscheinlich in ähnlicher Form erlebten. Die quasi zeitlose Statik des antisemitischen Rituals (vgl. Horkheimer & Adorno, 1969 [1947], S. 180; Tarach, 2022) geht einher mit einem Wandlungsprozess, in dem unterschiedliche Gesellschaften ähnliche Ideologeme und Verfolgungspraktiken, etwa das Pogrom oder den gelben Fleck, entwickelten (vgl. Lewis, 1989, S. 112; Loewenstein, 1968, S. 86; Mosse, 1990 [1978]). Der Rückblick auf die historische Entwicklung des Antisemitismus legt dringend nahe, von modernen Hexereivorstellungen eine ähnliche Langlebigkeit und Flexibilität zu erwarten. Die magischen Körperkonzepte der Hexereivorstellungen lösten sich in Europa zunächst vom Vorwurf der Fernwirkung in weiten Teilen ab und gingen (ab ca. 1850 mit ansteigender Intensität und zunehmender Diversität) in die sogenannte »alternative Medizin« und Esoterik über. Hier werden dann in aller Regel nicht mehr konkrete »Hexen« für Krankheiten beschuldigt, sondern Ärztinnen und Ärzte, denen unterstellt wird, als wirksam behauptete Therapieformen (Pflanzen, Rituale etc.) zu verweigern und stattdessen als 333

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schädlich imaginierte Behandlungen (v. a. Impfungen) zu applizieren. Der Verschwörungsmythos bleibt erhalten. Und (nicht nur) die beschriebene Brücke von der Esoterik zum Antisemitismus ist bekannt und wurde während der Coronapandemie noch deutlicher. Die Anfälligkeit für einen Verschwörungsmythos liefert einen Hinweis auf eine allgemeine Anfälligkeit für Propaganda (vgl. Löwenthal, 1990 [1949]). Auch im subsaharischen Afrika ist daher theoretisch ein Austausch von Verfolgungsideologien denkbar (vgl. Riedel, 2008, S. 127ff.).

Das Potenzial der Genozidalität Nachdem Saani Yakubu, der Direktor der NGO »ActionAid in Ghana«, vor einer Hungerkatastrophe in den Siedlungen für 1.500 Hexenjagdflüchtlinge in Nordghana warnte, füllte sich die Diskussion des Beitrages auf dem Onlineforum »Ghanaweb.com« mit selbst für dieses unzensierte Medium ungewöhnlich schroffen Ressentiments. Mehrere Kommentare forderten direkt oder indirekt den Tod der Hexenjagdflüchtlinge. Ein Kommentar jedoch stach auf eine ganz eigentümliche Weise hervor. Ein Individuum, dessen Pseudonym eine Herkunft aus dem Süden Ghanas nahelegt, titelte seinen Beitrag mit der Forderung: »They need Gas chamber!« Der Kommentar lautete: »Let them suck their own blood or they should kill some and cook for them till they all finish« (Ghanaweb, 2010b; vgl. Abb. 1).

Abb. 1

Die Person imaginierte die Anwendung der antisemitischen Vernichtungsindustrie auf Menschen, von denen sie lediglich wusste, dass sie einmal als Hexen beschuldigt wurden. Bei Wolfgang Behringer (2004, S. 199) findet sich ein historisches Beispiel für die reale Umsetzung von Massengewalt: Die Hexenjagden auf Madagaskar unter Königin Ranavalona I. kosteten 334

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durch massenhafte Anwendung von Giftordalen bis 1864 wahrscheinlich mehreren hunderttausend Menschen das Leben. Und in Togo wurden unter der Herrschaft des Diktators Eyadéma politische Gegner*innen und andere Individuen unter anderem der Hexerei bezichtigt, in ein von Dirk Kohnert (1997, S. 248ff.) als »Konzentrationslager« benanntes und erst 1991 geschlossenes Militärgefängnis in Mandouri verbracht und dort zu Zwangsarbeit und Tod verurteilt, während auf den Dörfern systematisch Morde in unbekannter Zahl stattfanden. Ähnliche Versuche der Durchführung von Hexenjagden durch ein autoritäres Regime wurden 2009 aus Gambia berichtet (Amnesty International, 2009). Auch historisch waren Kategorien wie »Rasse« oder »Ausrottung« Teil der Verschwörungsfantasie von Hexenjägern: »Shortly after Jean Calvin’s (1509–64) arrival several men were burned, and the Reformer himself pleaded for an intensification of the persecution, calling for the ›extirpation‹ of the ›race‹ of the witches« (Behringer, 2004, S. 80). Selbst der sehr alte Begriff »Holocaust« wurde historisch für die Hexenjagden verwandt. Behringer schränkt die Übertragbarkeit des Begriffs allerdings ein: »In no case it is possible to speak of a holocaust […]. Some witch-hunters aimed at a more systematic extermination, but witches were after all not a coherent social, ethnic or religious group, and the idea that women could have been eradicated systematically in a gynocide, is a twentieth-century horror fiction« (ebd., S. 243).

Das Prinzip der Hexerei ist tendenziell immer der innere Feind, der Verrat der Verwandten und Nachbar*innen. Jedoch existieren durchaus Ethnisierungen. Vor allem Nigeria wird als Ort der notorischen Hexerei bezeichnet, aber auch bestimmte Regionen, Städte und ethnische Gruppen (vgl. Riedel, 2008, S. 42ff.). Hexerei und schwarze Magie auf ferne Orte zu projizieren, kann eine Strategie sein, einerseits die narzisstische Gratifikation der Projektion zu erfahren und andererseits den direkten Konflikt zu vermeiden. Analog dazu begegneten mir in Ghana narzisstisch kompensierende Fantasien, die Hexerei der Ahnen sei eine den Weißen überlegene Wissenschaft: »Witchcraft is African Science! Our Ancestors could take a chewing-stick and fly to Europe faster than any plane!« (Interview in Ghana, 2009; vgl. für Nigeria Harnischfeger, 2004, S. 196). Weißen wird aber auch eine positive Nutzung von Hexenkraft unterstellt: »You whites use witchcraft to do good things like mobile phones and laptops and protect your children. We 335

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Africans do no good with it, we just kill and destroy with it« (Interview in Nordghana, 2009). Isak Niehaus (2001, S. 79ff., 184) verweist auch auf bösartige Ressentiments gegen Weiße als Hexen. Dennoch folgt diesen Ressentiments nur äußerst selten reale Gewalt. Andere Formen der Kollektivierung richten sich auf Beruf, Homosexualität, Abstammung, Alter (s. Riedel, 2008, S. 45). In Kukuo, dem größten Zufluchtsort für Hexenjagdflüchtlinge in Ghana, berichteten mir viele Opfer, dass bereits ihre Mütter und in zwei Fällen ihre Großmütter mit dem Ergrauen der Haare angeklagt wurden und dass der Verdacht die weibliche Linie verfolge. In aller Regel wird jedoch keine selbstdefinierte Verschiedenheit oder Ethnizität gesucht, sondern es gilt, was Margherita von Brentano (1965, S. 52) für den Antisemitismus diagnostiziert: »Die eigene Gemeinschaft, die angeblich schon vorhandene Solidarität, die in der herrschaftlich vermittelten, nach ökonomischer Macht differenzierten Gesellschaft gar nicht bestehen kann, wird künstlich in der Abgrenzung gegen die – an kaum definierbaren ›kleinen Unterschieden‹ (Freud) – Minderheit hergestellt« (vgl. auch Riedel, 2008, S. 117). Die Allgemeinheit des Vorwurfs wird von anderen Autoren bestätigt: »These elders believed that anxiety about witchcraft has grown in recent times and certainly, during the course of my research, virtually any person might be suspected of practising witchcraft« (Niehaus, 2001, S. 2). Generell ist die ungeprüfte Vorerwartung von Merkmalen überfrachtet mit Projektionen: Man erwartet, dass die Opfer von Hexenjagden »anders« sind und aussehen. Almuth Schauber (2007, S. 121) etwa listet eine Reihe von Tendenzen auf, die sie bei den Opfern festgestellt hätte: Die Frauen im »Outcast Home« in Gambaga seien häufiger arm, körperlich deformiert, verwitwet, unfruchtbar, redefreudig und Außenseiterinnen. In den Biografien von etwa 160 Interviewpartnerinnen wie auch an der äußeren Erscheinung von etwa 800 von mir besuchten Hexenjagdflüchtlingen fand ich keine diesbezügliche Regelmäßigkeit von Auffälligkeiten. Es waren Frauen, die allenfalls durch zufällige Ereignisse in ähnliche Situationen kamen: Erbschaftsstreitigkeiten, polygyne Rivalitäten, Neid, die Präsenz in Träumen der Ankläger*innen oder der Zufall, zum falschen Zeitpunkt am falschen Ort gewesen zu sein. In der Geschichte der Antihexereibewegungen finden sich demgemäß Rituale der massenhaften, spontanen und idiosynkratischen Definition von Zugehörigkeit, etwa im »Ausriechen« von Opfern durch Hexenschnüffler (Multhaupt, 1989, S. 138–150) oder dem kollektiven »Hexenfiebermes336

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sen« des Dr. Moses in Ostzambia. Dabei wurden Dorfbewohner*innen wie in Impfkampagnen aufgestellt, mit Apparaturen auf ihre »Hexentemperatur« hin untersucht und ihnen diese Temperatur ins Gesicht geritzt oder gezeichnet (Auslander, 1993). Wie im Falle der Hexenjagden in Madagaskar (Behringer, 2004, S. 199) könnte sich sogar gerade das Fehlen einer Ethnisierung noch als begünstigend für die Verfolgung auswirken, da die Opfer keine Verteidigungsstrategien entwickeln können. Erst in neuerer Zeit sind sporadisch Berichte von einer defensiven Organisation von Hexenjagdflüchtlingen bekannt geworden. So drohten die Frauen der größten ghanaischen Siedlung für Hexenjagdflüchtlinge, Kukuo, mit einer Nacktdemonstration für den Fall, dass der Lynchmord an einer der Hexerei beschuldigten alten Frau im 300 Kilometer entfernten Tema ungestraft bliebe (Ghanaweb, 2010a). Und immer öfter finden sich resolute Anführerinnen in den Ghettos, die Interessensvertretung nach außen betreiben. In Kukuo verlautbarten jugendliche Nachkommen von Hexenjagdflüchtlingen ein Zugehörigkeitsgefühl, das aus Stolz und Trotz gegen Diskriminierung entsteht: »They say: How can you eat together with them?« (Informant in Kukuo). So bilden größere Ghettos von Hexenjagdflüchtlingen durch Diskriminierung langfristig Kollektive heraus, die mit Hexerei assoziiert werden. Da sich auch in anderen afrikanischen Staaten wie in Südafrika (Niehaus, 2001, S. 171) oder Kenia örtlich gebundene Kollektive von Hexenjagdflüchtlingen bildeten, sind dort ähnliche Prozesse zu erwarten. In Jean-Paul Sartres Überlegungen zur Judenfrage war die Frage noch überpräsent, was das Judentum zum Antisemitismus beigetragen haben könnte. Auch hier verstellte der Blick auf die vermeintliche Devianz der Opfer den analytischen Blick auf die Täter*innen. Der Antisemitismus investierte viel in die Illusion optischer Differenz. Letztlich war aber der gelbe Fleck und Jahrhunderte später der gelbe Stern gerade ein Eingeständnis dieser Illusion. Die Ethnisierung der als verschworen imaginierten Minderheit richtete sich nicht nur gegen eine ethnisch selbstdefinierte Gruppe von erklärten Jüdinnen und Juden, sondern mittels eines relativ willkürlichen und erweiterungsfähigen Apparates wurde festgelegt, wer oder was jüdisch, »verjudet« oder »undeutsch« sei (vgl. Silbermann, 1981, S. 55). Im Antisemitismus wie bei Hexenjagden steigerte gerade die Nähe die Suche nach Differenzen jenseits des Optischen: Im Blut der Juden oder im erfolterten Geständnis der als Hexen angeklagten Menschen, in Schädelvermessungen oder in versteckten »Hexenmalen«. Beiden Opfergruppen 337

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wird vorgeworfen, sich perfekt zu tarnen und doch eindeutig erkennbar zu sein. Das Abstrakte, wofür die Imago des Juden und der Hexe in der Verschwörungsfantasie steht – Krankheit, Geld, Reichtum, Tod – bedarf der künstlichen Konkretisierung.

Grenzen des Vergleichs Die Ähnlichkeit der Ideologeme von »Juden« und »Hexen« mündet noch nicht zwangsläufig in eine identische Verfolgungspraxis. Ein weitgehend friedlicher, ähnlich der Esoterik auf positive Fernwirkung gewendeter Hexenglaube ist belegt, während die Verfolgung von Juden und Jüdinnen in der Geschichte nur selten pausierte. Ein Grund dafür liegt im Element der Furcht. Der Antisemitismus macht »die Juden« als Kollektiv für furchtbare Taten verantwortlich, fürchtet aber nur sehr selten konkrete Jüdinnen und Juden. Grundsätzlich bedeuten »die Juden« für den Antisemitismus nicht denselben Schrecken wie die Vorstellung von einer Hexe für einen hexenfürchtenden Menschen, der sich tatsächlich in einer Notwehrsituation glauben kann (vgl. Field, 1970; Riedel, 2008, S. 123). Gerade deshalb werden im Hexenglauben friedliche Mittel gegen diesen Schrecken entwickelt – etwa das Kaufen von Schutz- und Gegenzaubern oder von Tier- und Trankopfern, um sich den Schutz der Ahnen zu sichern. Die Dämonologie der unterschiedlichen afrikanischen Glaubenskomplexe ist zudem weitaus diverser als die Dämonologie des Christentums und sie lässt in weiten Teilen mehr Ambivalenzen zu. »Hexerei verwenden« ist nicht notwendig gleichbedeutend mit »Hexe sein«. Die meisten Menschen, die an die Existenz der Hexerei glauben, verhalten sich erstaunlich gelassen gegenüber der Bedrohung – wenngleich sich das unter dem Einfluss von Propaganda rasch ändern kann (vgl. Drucker-Brown, 2006, S. 240ff.; Niehaus, 2001, S. 2). Der bedeutendste Unterschied ist das weitgehende Fehlen von universellen Kategorien bei den modernen Hexereivorstellungen. Die Hexe gilt nicht in einer Art und Weise als »der totale Feind«, der hinter allen anderen Feinden steht. Hexerei ist bei den Akan im Süden Ghanas neben Flüchen, Dämonen und Geistern nur eine von vielen lästigen Bedrohungen aus der spirituellen Gegenwelt. Zwar existiert die Vorstellung einer weltweit agierenden »Hexenverschwörung«, die Gemeinschaft aller Hexen weltweit wird jedoch nicht dauerhaft bestimmt: »Who can know, who is 338

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a witch and who is not?« (Interview Südghana, 2009). In der Annahme, dass jede*r Hexenkraft haben könne, bleibt eine Möglichkeit zur Selbstreflexion aufgehoben, die der Antisemitismus niemals aufweist. Darüber hinaus verbleiben moderne Hexereivorstellungen trotz aller Modernisierungstendenzen in den meisten Fällen noch auf einer lokalen, intrapersonalen Ebene (vgl. Riedel, 2008, S. 122). Die Manipulation, die der Antisemitismus »den Juden« unterstellt, ist hingegen global: Gottesmord, Weltverschwörung, Imperialismus.

Das Problem des Relativismus in der Wissenschaft Ein Austausch von Antisemitismusforschung und der Forschung über moderne Hexereivorstellungen findet bislang nur gelegentlich statt. Der Hauptgrund dafür liegt in der Distanz der neueren Ethnologie zur Psychoanalyse und dem Leugnen von allgemeinen, kulturübergreifenden Vorgängen der menschlichen Psychologie. Für Widerstände gegen komparative Arbeit sorgt auch, dass romantische, völkische und neonazistische, aber auch feministische Zirkel europäische Hexenjagden und die Vernichtung von Jüdinnen und Juden im Nationalsozialismus gleichgesetzt und regelmäßig auch die historischen Hexenjagden auf Juden und Jüdinnen zurückgeführt haben (Wiedemann, 2007). Ein drittes Problem liegt darin, dass Hexenjagden in der Ethnologie als zu beobachtendes Phänomen und nicht als Interventionskrise behandelt werden. Während Hexereivorstellungen im Paradigma von Evans-Pritchard (1950 [1937]) als »rational« und zur menschlichen Diversität gehörend gelten, werden Rassentheorien als »irrational« und gefährlich erkannt (vgl. Fields, 2001, S. 294). Für beide gelte jedoch laut Karen Fields, dass sichtbare und gefälschte Resultate geschickt vermengt werden und daher Kategorien wie »wissenschaftlich«, »rational« und »common sense« auch beidseitig konsequent angewandt oder aber grundsätzlich überarbeitet werden müssen (ebd., S. 290ff., 308). Max Gluckman (1970, S. 107f.) sieht Hexereivorstellungen zwar ebenfalls als grundsätzlich nicht irrational, allerdings unterzieht er Rationalität selbst einer Kritik. Die euphemistische Umdichtung der Hexereivorstellungen zum rationalen Diskurs, in der späteren Literatur auch zum Klassenkampf, zur Bevölkerungspolitik, zum kreativen Protest der vom Neoliberalismus in Krisen gebrachten Subjekte, gingen auf Kosten eines dialektischen Begriffs von Rationalität oder 339

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Aufklärung im Sinne der Kritischen Theorie. Wenn Hexereivorstellungen und in der logischen Konsequenz alle Verschwörungsmythen nur noch unter philosophischen Aspekten als Denkfigur behandelt werden (wie etwa in Bond & Ciekawy, 2001) und nicht mehr als tendenziell Leid verursachende Verfolgungspraxis, wie Gerrie Ter Haar (2007, S. 3) als eine der wenigen Ethnolog*innen erkennt und bemängelt, strahlt dieser Kulturalismus womöglich aus auf die Wahrnehmung des Antisemitismus als ein legitimes Weltbild unter anderen. Die »alternative facts« und »fake news« der neuen Rechten haben bereits ihr Pendant in den »alternativen Weltsichten«, die die Ethnologie so häufig den indigenen Fantasien über Verschwörungen der Hexen zugesteht. Die Trennung der wissenschaftlichen Diskurse über moderne Hexereivorstellungen und Antisemitismus führt zu Fehlschlüssen vor allem im Bereich der Modernisierungsthesen. Dabei könnte der ständige Verweis auf den modernen Antisemitismus als reflexiver Prüfstein des Aufklärungsproblems dienen, das Horkheimer und Adorno als Dialektik der Aufklärung (1969 [1947]) umschrieben haben. Auch Vorstellungen magischer Fernwirkung sind heute in industrialisierten Gesellschaften ungebrochen präsent in Form von Esoterik, etwa Homöopathie, Reiki, Akupunktur. Ethnologie sperrt sich jedoch strukturell dagegen, solche Glaubensformen und -elemente mit dem Stallgeruch des »Verschwörungsmythos« zu assoziieren.

Zu Schließendes Die Vorstellung einer Verschwörung von innen ist ideal geeignet, um Solidarität von Individuen unter dem Druck paranoischer Angst zu zersetzen. Aus dem täglichen höflichen Austausch wird ein brutales Schlagen auf den Nachbarn. Die Fantasien des Antisemitismus wie auch der Hexereivorstellungen sind für sich bereits Verschwörungen gegen das Individuum. Wesentliche Grundzüge des Antisemitismus sind bei modernen Hexereivorstellungen nur um geringe Spuren verzerrt aufzufinden und daher ist eine künftige Hybridisierung beider Verfolgungsideologien prinzipiell möglich, ebenso wie eine Transformation der Hexereivorstellungen hin zu einer dem Antisemitismus ähnelnden Form (vgl. Riedel, 2008, S. 127ff.). Ein Katalysator dessen könnte der Islam sein: Die Arabische Liga hat erfolgreich antisemitische Ideologeme in afrikanische Gesellschaften expor340

Moderne Hexereivorstellungen und Antisemitismus

tiert und es ist denkbar, dass sich der islamische Antisemitismus die Nähe von Hexereivorstellungen und Antisemitismus künftig zunutze macht. Zwei weitere mögliche Katalysatoren finden sich in den evangelikalen Strömungen und dem christlichen Antisemitismus, aber auch im medialen Austausch mit europäischen Verschwörungsmythen (z. B. über Freimaurer, HIV, Ebola, SARS-CoV-2), die längst im subsaharischen Afrika vorfindlich sind. Bisherige Vergleiche mit anderen Phänomenen ignorieren häufig zentrale Bestimmungen, die Hexenjagden bis heute ausmachen. Das Verhältnis von imaginierter Übermacht und realer Verwundbarkeit ist die Legitimationsgrundlage von Hexenjagd und Antisemitismus gleichermaßen. Beide Phänomene weisen eine ähnliche Struktur der pathischen Projektion auf. Beide verhalten sich aufklärungsresistent und sind wandelbar. Beide haben ähnliche Ideologeme entfaltet: Den Ritualmord und die damit assoziierte Reichtumsproduktion. Verschwörungsmythen sind untereinander in globaler Perspektive erstaunlich ähnlich und wiederholen bestimmte Muster, die nur psychoanalytisch zu fassen sind: Als paranoische, fantastische Projektionen, die gesellschaftliche Zwänge ebenso reflektieren wie auf universale kindliche Dramen rekurrieren. Die Idee einer Verschwörung grenzt ähnlich wie die Phobie diffuse Ängste ein und konkretisiert sie. Das macht sie zum idealen Instrument für politische Manipulationen. Ein wesentliches Moment von Verschwörungsfantasien ist der thrill, die Faszination und die Simulation eines Denkprozesses, der ein vermeintliches Begreifen als Ziel hat. Das mit eigenen Augen gesehene Traumgeschehen, der von Freund*innen bezeugte Vorgang der Mensch-Tier-Verwandlung, die am Kirchenfenster, im Holzschnitt oder im Internet gezeigte Ritualmorddarstellung rücken an die Stelle von logischen Operationen. Das »Unglaubliche« wird glaubhaft, weil damit ein Versprechen von Macht und Gewalt einhergeht. Nur Aufklärung über die Projektionsmuster kann dem langfristig gegensteuern. Kurzfristig muss der Gratifikation durch Strafangst entgegengewirkt werden: Hexereianklage und Verbreitung von antisemitischer Propaganda muss unterbunden werden, weil beide sich trotz und wegen ihrer fantastischen, überbordenden Behauptungen als überkulturell und überhistorisch extrem wirksam erwiesen haben. Einmal etabliert verschwinden erfolgreiche Verschwörungsmythen nicht von selbst. Das belegt die Betrachtung von Hexenjagden ebenso wie die Geschichte des Antisemitismus. 341

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Biografische Notiz

Felix Riedel, Dr. phil., ist Ethnologe und freiberuflich als Referent für politische Bildung tätig. Er betreibt das Blog Nichtidentisches.de und forscht zu Gewaltanthropologie (Genozide, Antisemitismus, Hexenjagden, Djihadismus), Propaganda, Medien, Religion und Natur. In seine Dissertation Hexenjagd und Aufklärung in Ghana flossen Interviews mit 150 Hexenjagdflüchtlingen und 80 ghanaische Filme ein.

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Psychosozial-Verlag Florian Bossert

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