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German Pages [429] Year 2021
Jugendbewegung und Jugendkulturen Jahrbuch
herausgegeben von Meike Sophia Baader, Karl Braun, Wolfgang Braungart, Eckart Conze, Gudrun Fiedler, Alfons Kenkmann, Rolf Koerber, Michael Philipp, Dirk Schumann, Detlef Siegfried für die »Stiftung Jugendburg Ludwigstein und Archiv der deutschen Jugendbewegung«
Jahrbuch 16 | 2020/21
Meike Sophia Baader / Alfons Kenkmann (Hg.)
Jugend im Kalten Krieg Zwischen Vereinnahmung, Interessenvertretung und Eigensinn
Mit 48 Abbildungen
V&R unipress
Finanziert durch das Hessische Ministerium für Wissenschaft und Kunst
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. © 2021 Brill | V&R unipress, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich) Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Hotei, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau, Verlag Antike und V&R unipress. Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Redaktion: Susanne Rappe-Weber Umschlagabbildung: FDJ-Jugendgruppe aus Bautzen (ca. 1947) Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISSN 2365-9106 ISBN 978-3-7370-1380-2
Inhalt
Alfons Kenkmann / Meike Sophia Baader Jugend im Kalten Krieg. Eine Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Christoph Kleßmann Der Kalte Krieg in Deutschland – harte Konfrontation und diffuse Ängste . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Jugend und deutsch-deutsche Verflechtungsgeschichte Alfons Kenkmann Kalter Krieg im Kleinen. Das kurze Leben des Philipp Müller . . . . . . .
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Janin Klein Eine »Schule der Völkerfreundschaft«? »Solidarität« und »Internationalismus« an der FDJ-Jugendhochschule »Wilhelm Pieck« zwischen parteipolitischen Vorgaben und alltäglicher Praxis . . . . . . . .
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Anne-Christine Hamel Die Beziehungen der »Deutschen Jugend des Ostens« (DJO) zur Jugend der DDR und ihrer osteuropäischen Nachbarstaaten . . . . . . . . . . . .
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Praktiken von Jugendorganisationen Knud Andresen Kommunistische Unterwanderung? Die Gewerkschaftsjugend in den Friedensbewegungen der 1950er und 1980er Jahre . . . . . . . . . . . . . 103 Frauke Schneemann Staatsbürger in Kluft und Tracht. Die Politisierung der deutschen interkonfessionellen Pfadfinderschaften im Kalten Krieg . . . . . . . . . . 119
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Inhalt
Jugend im Visier der Medien Sigrun Lehnert Politisch Verführte, Halbstarke, Streuner oder Aktivisten. (Re-) Präsentation von Jugend in der Kinowochenschau (Ost-West) im Kalten Krieg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 Meike Sophia Baader / Sandra Koch / Friederike Kroschel Kinder und Jugendliche als Erziehende. Umkämpfte Kindheit und Jugend in Bildungsmedien der DDR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 Markus Köster »We don’t want a nuclear Holocaust!«. Die Friedensbewegung der 1980er Jahre im Spiegel einer Videogruppe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179
Optionen konfessioneller Jugendarbeit Arndt Macheledt Zwischen Überwinterung und Protest – Katholische Jugend in der DDR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201
Weitere Beiträge Knut Bergbauer »Wider die Rote Assimilation«. Die Auseinandersetzungen über Sozialismus, Kommunismus und Zionismus in der jüdischen Jugendbewegung Deutschlands . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 Paul Wolff Kulturkritik fingierter Exoten und das linksalternative Milieu der 1970er und 1980er Jahre. Zur Rezeption von Hans Paasches »Lukanga Mukara« und Erich Scheurmanns »Der Papalagi« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235 Bernd Wedemeyer-Kolwe Forschungsgegenstände und Forschungsgenerationen – Die Forschungsgeschichte der Lebensreformbewegung als Reflexionsproblem: Verläufe, Interpretationen, Selbstbilder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265
Werkstatt Lorenz Hegeler / Leon Kernwein Zur Ausstellung »Gelebte Utopien – Siedlungsprojekte der Lebensreform« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283
Inhalt
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Nicole Nunkesser Vereinnahmung des städtischen Raums und jugendkulturelle Selbstinszenierungen durch junge Frauen im Ruhrgebiet der 1950 Jahre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 305 Pia Kleine »The Future is Ours«? Techno als jugendkulturelles Phänomen in den 1990ern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 313 Sungyoun Chung Geformte Freiheit. Volkstanz und Körperbild in der Jugendbewegung
. . 319
Laura Dolezich Zwischen Hachscharah und Studium – Innensichten auf den Jungjüdischen Wanderbund anhand des Tagebuchs von Eva Schiffmann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 325 Ulrike Pilarczyk Nationaljüdische Jugendkultur und zionistische Erziehung in Deutschland und Palästina zwischen den Weltkriegen. Ein DFG-Projekt an der TU Braunschweig . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 333
Rezensionen Bodo Mrozek: Jugend – Pop – Kultur. Eine transnationale Geschichte, Berlin 2019 (Hans-Ulrich Thamer) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 339 Joachim C. Häberlen: The Emotional Politics of the Alternative Left. West Germany, 1968–1984, Cambridge 2018 (Detlef Siegfried) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 343 Britt Großmann: Elisabeth Busse-Wilson (1890–1974). Eine Werk- und Netzwerkanalyse, Weinheim u. a. 2017 (Paul Ciupke) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 347 Heike Christina Mätzing: Georg Eckert 1912–1974. Von Anpassung, Widerstand und Völkerverständigung, Bonn 2018 (Jürgen Reulecke) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 351
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Inhalt
Wolfram Wette (Hg.), unter Mitwirkung von Helmut Donat: Weiße Raben. Pazifistische Offiziere in Deutschland vor 1933, Bremen 2020 (Jürgen Reulecke) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 355 Horst-Pierre Bothien, Matthias von Hellfeld, Stefan Peil, Jürgen Reulecke: Ein Leben gegen den Strom. Michael »Mike« Jovy. Widerstandskämpfer, Jungenschafter, Diplomat, Münster 2017 (Michael Philipp) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 359 Jens Brachmann: Tatort Odenwaldschule. Das Tätersystem und die diskursive Praxis der Aufarbeitung von Vorkommnissen sexualisierter Gewalt, Bad Heilbrunn, 2019 (Meike S. Baader) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 363 Kristine Alexander: Guiding Modern Girls. Girlhood, Empire, and Internationalism in the 1920s and 1930s, Vancouver 2017 (Susanne Rappe-Weber) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 371 Aline Maldener/Clemens Zimmermann: Let’ s historize it! Jugendmedien im 20. Jahrhundert, Köln 2018 (David Beck) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 377 Stiftung Hamburger Gedenkstätten und Lernorte zur Erinnerung an die Opfer der NS-Verbrechen – in Kooperation mit der Arbeitsgemeinschaft der KZ-Gedenkstätten in der Bundesrepublik Deutschland (Hg.): Zwischen Verfolgung und »Volksgemeinschaft«. Kindheit und Jugend im Nationalsozialismus (Beiträge zur Geschichte der nationalsozialistischen Verfolgung 1), Göttingen 2020 (Jürgen Reulecke) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 381 Thorsten Carstensen, Marcel Schmid (Hg.): Die Literatur der Lebensreform. Kulturkritik und Aufbruchsstimmung um 1900, Bielefeld 2016 (Justus Ulbricht) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 385 Würzburger Beiträge zur Kestenberg-Forschung. Festgabe für Andreas Eschen zum 65. Geburtstag, hg. von Friedhelm Brusniak, Anna-Christine Rhode-Jüchtern und Theda Weber-Lucks, Weikersheim 2019 (Susanne Rappe-Weber) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 389
Inhalt
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Antje Harms: Von linksradikal bis deutschnational. Jugendbewegung zwischen Kaiserreich und Weimarer Republik, Frankfurt a. M. u. a. 2021 (Günter C. Behrmann) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 393 Hans-Werner Retterath (Hrsg.): »Deutsche Bursen« seit 1920. Studentische Wohnheime als Bildungseinrichtungen der »auslandsdeutschen Volkstumsarbeit«, Münster 2020 (Friederike Hövelmans) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 397
Rückblicke Susanne Rappe-Weber Aus der Arbeit des Archivs. Tätigkeitsbericht für die Jahre 2019 und 2020 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 403 Im Archiv eingegangene Bücher der Erscheinungsjahre 2019 und 2020 sowie Nachträge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 411 Wissenschaftliche Archivnutzung 2019 und 2020 . . . . . . . . . . . . . . 417
Anhang Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 423
Alfons Kenkmann / Meike Sophia Baader
Jugend im Kalten Krieg. Eine Einführung
Der »Kalte Krieg« ist wieder ein aktuelles Thema, wird doch aufgrund der politischen Situation seit einigen Jahren (Ukraine, Krim-Annexion, Syrienkonflikt, Handelskrieg USA-China, Belarus-Konflikt) immer wieder von einem neuen »Kalten Krieg« gesprochen. Gleichzeitig wurde 2019 das 30. Jubiläum der Friedlichen Revolution begangen, zugleich der Zusammenbruch des SED-Staates, damals als Ende des Kalten Krieges wahrgenommen, was mit der Vereinigung 1990 eine weitere Bestätigung zu erfahren schien. Von daher lohnt es, sich zu vergegenwärtigen, was den Kalten Krieg im 20. Jahrhundert ausgemacht, wie sich die polarisierte politische Konstellation auf das Leben weiblicher und männlicher Zeitgenossen ausgewirkt hat. Wie ist er in deren Alltag und vergangene Zukünfte eingedrungen? Welche Ängste, welche Vorstellungen von Sicherheit, welche Rahmungen der Lebenswelten waren mit ihm verbunden? Oder werden womöglich die alltagsweltlichen Prägungen durch die historische politische Konstellation überschätzt? Der Tagungsort Burg Ludwigstein gibt den Zugang vor: Auf der Archivtagung im Jahre 2019, auf die die Beiträge im Schwerpunkt des vorliegenden Band zurückgehen, wurde danach gefragt, wie sich der Kalte Krieg auf die Jugend allgemein und die zeitgenössischen Jugendorganisationen und Jugendgesellungen im speziellen auswirkte. Die Blockkonfrontation hatte erhebliche Auswirkungen auf die Jugend in der Zeit von 1945 bis 1990, ihre Formen der Organisation, der Vergemeinschaftung sowie der Jugendkulturen. Dies hatte insbesondere zur Folge, dass Jugendliche in beiden Blöcken von der Besatzungszeit bis zur Perestroika Ende der 1980er Jahre das Ziel unterschiedlicher Zugriffe der Sozialkontrolle waren. Parteien und Organisationen umwarben sie, versuchten sie für sich einzunehmen und zu gewinnen. Gleichzeitig waren Jugendliche zentrale Akteure und Akteurinnen in den neuen sozialen Bewegungen der Ostermarsch-, Friedens-, Anti-Militarismus- und Umweltbewegungen, die durchaus neue Demonstrations- und Handlungspraktiken hervorbrachten und erprobten. Die Geschichte der Jugend des Kalten Krieges ist aber gleichzeitig auch ein wirkmächtiger Teil deutsch-deutscher Verflechtungsgeschichte. Bei den Kon-
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takten über die Mauern und Grenzen in West- als auch Osteuropa hinweg waren vor allem Jugendliche der Deutschen Jugend des Ostens aktiv, die das alte Formenensemble wieder- und weiter belebten und den Brüchen in ihren Identitäten sowie dem Verlust von Raum mit Traditionspflege begegneten. Als »Gammler« und »Hippies« vor allem von außen gebrandmarkte Jugendliche ließen sich in ihrer Freizeit von den kulturellen Impulsen aus Großbritannien und den USA anregen. Diese Phänomene der »Westernisierung« griffen auch auf den Osten über, etwa in Form von Musik, Tanz oder Mode. In Ostdeutschland wiederum imaginierten sich später Angehörige der Breakdancer über die Mauer, weil es leibhaftig nicht möglich war. Andere wie die Angehörigen konfessioneller Jugendverbände stemmten sich gegen den Attraktivitätsverlust unter den Gleichaltrigen in der Bundesrepublik. Wiederum andere suchten gerade den Schutzraum der (Evangelischen) Kirche – wie es in der DDR der Fall war. Auch bei den politischen und Gewerkschaftsjugendverbänden war und ist – trotz eines Attraktivitätsschubs Ende der 1960er und in den 1970er Jahren – in der longue durée des 20. Jahrhunderts und unter der Signatur der Konsumgesellschaft ein Abfall an Bedeutung erkennbar. Nicht vergessen werden darf, dass es vor allem Jugendliche und Heranwachsende waren, die Aktionen, die auf Freiheit zielten, gestalteten und durchführten, so etwa beim Volksaufstand am 17. Juni 1953 in der DDR. Ihnen ist retrospektiv Respekt zu erweisen, weil sie im wahrsten Sinne des Wortes »Geschichte gemacht« haben. Es gab also im Kalten Krieg eine Fülle von Kontaktzonen mit Jugend und ihren informellen Ausprägungen wie auch mit ihren Verbänden und Organisationen. Sie zu dokumentieren und nachzuzeichnen, sie in eine Gesamtgeschichte der Jugend einzubetten, bleibt für die Zukunft die Aufgabe von Jugendhistorikerinnen und Jugendhistorikern. Vor allem in Bezug auf die Umbruchsituation in der DDR Ende der 1980er Jahre wird in den nächsten Jahren unter Forschungsgesichtspunkten ein neues Kapitel beginnen. Waren die bisherigen Forschungen zur Jugend um und nach 1989 vor allem durch Studien der Politikwissenschaft und der Soziologie (Umfragen, sozialstatistische Auswertungen in der Zeit) bestimmt, wird nun 30 Jahre nach der »Friedlichen Revolution« die Geschichtswissenschaft verstärkt zum Zuge kommen, da wesentliche Aktenbestände nach und nach zur Einsicht frei werden. Es wird also spannend werden, welche Transformationsgeschichten unter den Fragen und mit den Impulsen der jugendhistorischen Forschung geschrieben werden. Die Beiträge bearbeiten Formen von Vereinnahmung und Autonomiebestrebungen aus interdisziplinären Perspektiven und verfolgen dabei verflechtungs-, generationen- und geschlechtergeschichtliche Ansätze. Insbesondere zeigen sie, wie produktiv verflechtungsgeschichtliche Zugänge sind, etwa wenn es um die politische Indienstnahme oder die medialen Darstellungen von Jugend
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und Jugendkulturen in beiden deutschen Staaten geht. Schließlich waren Kindheits- und Jugend-, Familien- und Bildungspolitiken in besonderer Weise Gegenstandsbereiche der Systemkonkurrenz. Die hier dokumentierten Studien zu einzelnen Bereichen zeigen, welche Aspekte dabei mit Blick auf das jeweils andere System als systemspezifisch für das jeweils eigene dargestellt wurden und auf welchen Mikroebenen diese Konkurrenzen inszeniert und ausgetragen wurden. Damit führt die Verflechtungsgeschichte weg von containergeschichtlich orientierten Narrativen und Darstellungen, die isoliert nebeneinander stehen. Weiterführende Vorschläge für die offene Frage nach den Zäsurierungen innerhalb der Periode des Kalten Krieges entwickelt der einleitende Beitrag, der, wie andere Beiträge des Bandes auch, zugleich deutlich macht, wie stark die Geschichte des Antikommunismus, als Effekt der Systemkonkurrenz, die Geschichte der BRD prägte. Die Beiträge zeigen, dass der Kalte Krieg und die Systemkonkurrenz zu Positionierungen und Politisierung von Jugendlichen herausforderten. Zugleich wurden auf der Tagung jedoch Stimmen laut, die die Wirkmächtigkeit des Nationalsozialismus als deutlich stärker bewerteten als die Erfahrungen des Kalten Krieges, wobei hierbei wiederum der je eigene Umgang der Systeme mit dem Nationalsozialismus in seiner spezifisch verflechtungsgeschichtlichen Weise zum Tragen kommt. Dies wird in den Beiträgen durchaus sichtbar. Deutlich wird allerdings auch, dass an den Zusammenhängen von politischer Geschichte und Kultur- und Alltagsgeschichte im Kalten Krieg weiter zu arbeiten ist. Dabei weist der Band auf Leerstellen hin, die erst in jüngerer Zeit intensiver in den Blick geraten sind. Dazu gehören etwa Gewaltgeschichte und Gewalterfahrungen in Kinder- und Jugendheimen sowie Formen sexualisierter Gewalt in beiden Systemen. Auch die spezifischen Erfahrungen Jugendlicher mit Überwachungen bis hin zu Eltern, die ihre Kinder dem Stasi-System überantwortet haben, bleiben unberücksichtigt. Insgesamt werden mit diesem Band jedoch Grundlagen für eine Geschichte der Jugend im Kalten Krieg gelegt, an die eine weiterführende historische Jugendforschung vielfältig anknüpfen kann.
Christoph Kleßmann
Der Kalte Krieg in Deutschland – harte Konfrontation und diffuse Ängste
Das Thema Kalter Krieg ist ein riesiges Feld, zu dem eine unübersehbare Menge wissenschaftlicher, populärer und propagandistischer Literatur existiert, die niemand mehr voll überschauen kann.* Eine Menge Kuriositäten, Grotesken, Spionage-Thriller, Schauer- und tragische Geschichten gehören auch dazu. Das ist hier nicht im Detail zu erörtern. In diesem Rahmen sind nur einige wenige Markierungen möglich, aber jeder, der sich mit Nachkriegsgeschichte beschäftigt, muss sich mit diesem Thema auseinandersetzen. Der Blick der Fachwissenschaften hat sich zudem deutlich verändert. Kalter Krieg ist nicht mehr nur oder primär der bipolare Konflikt der Supermächte und ihrer Satelliten, die Perspektive ist global geworden und umfasst neben den Zentren stärker auch die Peripherie. Zudem sind über die politische und militärische Geschichte hinaus gesellschaftshistorische Aspekte des Kalten Krieges von besonderem Interesse geworden. Auf diese werde ich hier daher vorrangig eingehen, weil hier der inhaltliche Bezug zum Jugendthema evident scheint. Auch die Eingrenzung auf Deutschland, die ansonsten unzureichend wäre und auch bereits vielfach überwunden wurde, ist in diesem Rahmen sinnvoll und unvermeidlich. Den Begriff »Kalter Krieg« popularisierte 1947 der amerikanische Journalist Walter Lippmann, erfunden hat ihn aber Herbert B. Swope, ein journalistischer Mitarbeiter des Präsidentenberaters Bernhard M. Baruch.1 Als scharfe Form der Konfrontation zwischen Ost und West und Ausdruck der politischen und ökonomischen »Teilung der Welt« begann der Kalte Krieg spätestens 1947: mit der Verkündung der Truman-Doktrin, der Ankündigung des Marshall-Planes und im Gegenzug mit der Gründung des Kommunistischen Informationsbüros (Kominform) als Disziplinierungsinstrument der ost- und südosteuropäischen Staaten im sowjetischen Einflussbereich. Zu diskutieren bleibt die zeitliche Eingrenzung und die mögliche Phaseneinteilung. Terminologisch hat sich ein* Der Vortragscharakter des Textes wurde beibehalten. 1 Bernd Stöver: Der Kalte Krieg. Geschichte eines radikalen Zeitalters, München 2007, S. 11.
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gebürgert, den Kalten Krieg mit dem Ost-West-Konflikt gleichzusetzen, ihn spätestens in den ersten Nachkriegsjahren beginnen und 1991 mit der Auflösung der Sowjetunion enden zu lassen. Dafür gibt es gute und plausible Argumente. Mein Einwand dagegen wäre, dass Spezifika des Kalten Krieges bei dieser breiten Definition verloren gehen. Es spricht daher einiges für eine begriffliche Unterscheidung von globalem Ost-West-Konflikt, den es seit der bolschewistischen Revolution 1917 bis zum Ende der Sowjetunion gab und wohl geben musste, und andererseits dem Kalten Krieg als charakteristischer Phase innerhalb dieser Epoche, und zwar seit 1947/48 bis zur Entspannungspolitik seit Ende der 1960er Jahre. Auch diese lässt sich als eine Form des Konfliktaustrags verstehen, der aber nach Berlin- und Kubakrise weniger heftig als zuvor geworden war.2 Eine Schlüsselrolle spielt in dieser Periodisierung die Atombombe und die Atompolitik der beiden Supermächte. Beide akzeptierten schließlich das atomare Patt und entschärften schließlich mit Rüstungskontrollabkommen (der Durchbruch war Reykjavik 1986) den brandgefährlichen Kalten Krieg, noch nicht aber den Ost-West-Konflikt, der erst 1991 sein Ende fand. Gleichwohl bleibt auch daran erinnern, dass der regionale Frieden in Europa nur um den Preis heißer Kriege in der Peripherie zu haben war. Mehr als 150 größere bewaffnete Konflikte wurden zwischen 1947 und 1991 ausgefochten, vielfach mit einer Strategie vorsätzlichen Terrors gegen Zivilisten, mit Vertreibungen und verbrannter Erde, bezahlt mit – wie bisweilen geschätzt wird – bis zu 20 Millionen Opfern.3 Bernd Stöver hat 2014 eine umfassende, empirisch dichte und gut lesbare Gesamtdarstellung dieses »radikalen Zeitalters« vorgelegt, die ergänzt werden könnte durch seine fast 1000-seitige Habilitationsschrift »Die Befreiung vom Kommunismus« von 2002 über die amerikanische liberation policy, da dieses globale Programm ein wichtiger Teil des Kalten Krieges war.4 Die Leitfragen, denen ich nachgehe, lauten: Was war der Kalte Krieg, wie wurde er interpretiert, gab es Alternativen und wann endete er? Welche spezifischen Wirkungen und Prägungen hatte er im geteilten Deutschland aus heutiger Sicht?
2 So Gottfried Niedhart: Durch den Eisernen Vorhang. Die Ära Brandt und das Ende des Kalten Krieges, Darmstadt 2019, S. 9. Gegen eine Gleichsetzung argumentiert auch Eckart Conze: Die Suche nach Sicherheit, München 2009, S. 51. 3 Bernd Greiner: Kalter Krieg und »Cold War Studies«, Version: 1.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 11. 02. 2010, http://docupedia.de/zg/Cold_War_Studies?oldid=130304 [27. 05. 2020]. 4 Bernd Stöver: Befreiung vom Kommunismus. Amerikanische Liberation Policy im Kalten Krieg 1947–1991, Köln 2002. Ein wichtiger Beitrag zur internationalen Erweiterung war bereits Josef Foschepoth (Hg.): Kalter Krieg und Deutsche Frage. Deutschland im Widerstreit der Mächte 1945–1952, Göttingen 1985.
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Zur historischen Entwicklung und Interpretation Die treffende Definition Bernd Stövers lautet: »Der Kalte Krieg war eine weitgehend entgrenzte politisch-ideologische, ökonomische, technologisch-wissenschaftliche und kulturell-soziale Auseinandersetzung, die ihre Auswirkungen bis in den Alltag zeitigte.«5 Schon diese kompakte Definition macht deutlich, dass der Kalte Krieg in alle Poren der Gesellschaft und damit potentiell auch des Alltagslebens der Menschen eindrang, somit viel mehr war als ein militär- und sicherheitspolitisches Phänomen. Eben darin liegen aber auch die Schwierigkeiten seiner Analyse und darstellerischen Synthese. Viele Aspekte werden in den Einzelbeiträgen vorgestellt und erörtert; ich kann hier nur den allgemeinen Rahmen in den Blick nehmen. Etliches ist relativ gut bekannt und deshalb manchmal schon wieder in Vergessenheit geraten. Ich beginne mit der Konferenz in Jalta im Februar 1945. Kaum eine Kriegskonferenz des Zweiten Weltkrieges ist nachträglich symbolisch so aufgeladen worden wie Jalta: als Chiffre für die Abgrenzung von Interessensphären, für die Teilung Europas und den daraus entstandenen Kalten Krieg, aber ebenso als modellhaftes Signal für Verständigung, Friedenssicherung und Alternative zum Kalten Krieg.6 Dazu gab es vor allem drei unterschiedliche Interpretationsansätze in der Historiografie: Traditionalisten, Revisionisten und Postrevisionisten. Die sogenannten Traditionalisten machten Stalin und die Sowjetunion, das sowjetische Expansionsstreben und die weltrevolutionär imprägnierte Ideologie für das Ende der Kriegsallianz und den Beginn des Kalten Krieges verantwortlich. Diese Position war und ist auch wieder seit dem Ende des kommunistischen Systems in Europa 1989/1991 in der westlichen Historiografie stark vertreten. Der Nestor der amerikanischen Kalter-Krieg-Forschung, John Lewis Gaddis, hat sie durchgehend verfochten und ist mit dem programmatisch sprechenden und offensiv formulierten Titel seines Buches von 1997 »We Now Know. Rethinking Cold War History«7 ein prominentes Beispiel. In den frühen westdeutschen Darstellungen der Kriegs- und Nachkriegsgeschichte figuriert Jalta eindeutig als Beginn des Kalten Krieges, als Triumph Stalins über seine westlichen Verbündeten und als wichtigste Zäsur der Spaltung Europas. Das für alle Geschichtsstudenten damals einschlägige Werk, Gebhardts »Handbuch der deutschen Geschichte«8, urteilte: »Insgesamt war die Konferenz von Jalta ein großer Erfolg für
5 Stöver: Befreiung (Anm. 1), S. 21. 6 Vgl. ebd., S. 38, 40; Timothy Garton Ash: Einmal Jalta und zurück, in: Kursbuch, 1990, Heft 102, S. 1–11. 7 John Lewis Gaddis: We Now Know. Rethinking Cold War History, Oxford 1997. 8 Karl-Dietrich Erdmann: Handbuch der deutschen Geschichte. Bd. IV. Die Zeit der Weltkriege, 8. Aufl., verb. Nachdr. Stuttgart 1960.
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Stalin. Osteuropa wurde dem Bolschewismus ausgeliefert.«9 In den meisten Schulbüchern, die ja ein wichtiges Medium der Popularisierung und Diskussion bildeten, dürfte das ähnlich ausgesehen haben. Die Revisionisten: Eine gravierende Veränderung der Sicht auf die Ursachen des Kalten Krieges setzte in den USA mit der sogenannten »revisionistischen Schule« in den 1960er Jahren ein. Sie fußte auf neomarxistischen Positionen und veränderte auch die historiografischen und öffentlichen Urteile in der Bundesrepublik. Die »Revisionisten« – die nichts mit den gleichnamigen »Abweichlern« vom Marxismus-Leninismus zu tun hatten – waren in ihren Positionen durchaus heterogen, den meisten Autoren gemeinsam aber war die Tendenz, nicht wie bisher der Sowjetunion, sondern den USA mit ihren globalen ökonomischen Interessen die Hauptschuld am Kalten Krieg zu geben. Den politischen Hintergrund, der für die Entstehung dieser extrem USA-kritischen Schule relevant war, bildeten der Vietnamkrieg und die Renaissance marxistischer Analysen im Westen in den 1960er Jahren.10 Jalta spielte in der Argumentation auch deshalb eine besonders wichtige Rolle, weil hier mit der Kooperation der Alliierten gewissermaßen noch die konkrete historische Alternative erkennbar war, die dann angeblich verspielt wurde.11 Die Postrevisionisten sind ebenfalls keine einheitliche Gruppierung. Ihre Vertreter nahmen Elemente von beiden Seiten auf und identifizierten die eigentliche Ursache für die schnelle Eskalation des Kalten Krieges nach dem Ende des heißen Krieges in wechselseitigen Fehlperzeptionen: Die USA (und der Westen) sahen in der sowjetischen Strategie in Osteuropa nur oder vor allem eine expansionistische Bedrohung, auf die man reagieren müsse. Die Sowjetunion dagegen fühlte sich aufgrund des amerikanischen Verhaltens in ihrer traditionellen Sicht auf das »imperialistische Großkapital« im Westen bestätigt, glaubte sich um ihren Sieg im Krieg gegen Hitler betrogen und auf eine neue Art und Weise eingekreist, wie schon vor dem gemeinsamen Kampf gegen den Faschismus. Neben zahlreichen amerikanischen Arbeiten ist vor allem die in Westdeutschland sehr verbreitete und auflagenstarke Gesamtdarstellung von Wilfried Loth zu nennen: »Die Teilung der Welt 1941–1955« (1980).12 Loth sah die Spaltung Europas weder in der US-amerikanischen noch sowjetischen Politik ange9 Ebd., S. 326. 10 Vgl. zur damaligen Diskussion Hans-Jürgen Schröder: Zur Genesis des Kalten Krieges, in: Neue Politische Literatur, 1976, Nr. 21, S. 488–506. 11 Zum Beispiel Daniel Yergin: Der zerbrochene Frieden, Der Ursprung des Kalten Krieges und die Teilung Europas, Frankfurt a. M. 1979. 12 Wilfried Loth: Die Teilung der Welt 1941–1955, München 1980. Vgl. auch jüngst mit eher zurückhaltender Argumentation seinen Aufsatz: Der Kalte Krieg. Ursprünge und Verlauf, in: Katharina Hochmuth (Hg.): »Krieg der Welten«. Zur Geschichte des Kalten Krieges, Bonn 2017, S. 23–37.
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legt, sondern ging von einer zunächst offenen Situation aus und erklärt die Eskalation mit vielen Formen wechselseitiger Fehlwahrnehmungen von ökonomischen und politischen Maßnahmen auf beiden Seiten. Auch Konrad Jarausch hat jüngst in seiner großen Geschichte Europas die starke Rolle von Fehlwahrnehmungen betont.13 Der Blick auf Wahrnehmungen und Fehlwahrnehmungen ist meines Erachtens auch für das Jugendthema sehr relevant. Ohne Frage haben die Postrevisionisten einen wesentlichen Beitrag zur Diskussion um den Kalten Krieg und vor allem um die Mechanismen der Eskalation geleistet. Gleichwohl ist der Ansatz im Kern dann problematisch, wenn er auf einer Äquidistanz zu beiden Supermächten beruht und Perzeptionen allzu ausschließlich das Erklärungsmuster bilden. Die Verantwortung für den Kalten Krieg wird damit zu sehr und zu gleichmäßig auf beide Seiten verteilt.14 Nach dem Ende des kommunistischen Systems in Europa haben sich die Koordinaten unserer Urteile erneut verschoben. Das zeitweilig überzogene Bemühen, auch sowjetischen Interessen gerecht zu werden und sich um komplexe Erklärungen für die Entstehung des Kalten Krieges zu bemühen, trat nach dem Ende des Ostblocks zumindest stark in den Hintergrund zugunsten berechtigter moralischer Urteile über die einschneidenden Repressionen des sowjetischen Herrschaftssystems in Ostmitteleuropa. Soweit einige grobe Linien der früheren Interpretation. Kaum strittig sind mittlerweile die von Bernd Greiner geforderten neuen Akzente: weniger Fixierung auf den großen bipolaren Konflikt, sondern eine multipolare Perspektive, eine neue Gewichtung der Akteure und eine stärkere Akzentuierung der Gesellschaftsgeschichte, ohne das klassische Terrain der Politik- und Ereignisgeschichte zu verlassen: »Weil die Grenzen zwischen Innen- und Außenpolitik im Kalten Krieg nichts mehr galten, weil der äußere Feind gleichsam als steinerner Gast auch im Inneren stets präsent war, weil die Übergänge zwischen Zivilem und Militärischem ins Rutschen gerieten, weil mitten im Frieden der Krieg, ob in der privaten Imagination oder im öffentlichen Diskurs, allgegenwärtig blieb – eben darum verlangt die Geschichte dieser Zeit danach, als Gesellschaftsgeschichte verstanden und geschrieben zu werden.«15 Das Thema dieser Tagung, Jugend im geteilten Deutschland als Verflechtungsgeschichte, lässt sich hier gut einordnen. Ob 1979 mit dem sowjetischen Einmarsch in Afghanistan ein neuer Kalter Krieg begann, wie damals und später oft behauptet, aber auch bestritten wurde,
13 Konrad H. Jarausch: Aus der Asche. Eine neue Geschichte Europas im 20. Jahrhundert, Stuttgart 2018, S. 626ff. 14 Vgl. Andreas Hillgruber: »Jalta« und die Spaltung Europas, in: ders. (Hg.): Die Zerstörung Europas. Beiträge zur Weltkriegsepoche 1914 bis 1945, Frankfurt a. M. 1989, S. 355–370, hier S. 369. 15 Bernd Greiner: Krieg (Anm. 3).
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ist hier nicht eingehender zu diskutieren.16 Dieser wichtige Teilaspekt gehört jedenfalls in die letzte Phase des Ost-West-Konflikts mit neuer Hochrüstung, NATO-Nachrüstungsbeschluss 1979 und schließlich dem überraschenden Arrangement zwischen Gorbatschow und Reagan 1986. Diese neue Etappe des Rüstungswettlaufs in den 1980er Jahren mit ihrer absurden Fixierung auf ein Gleichgewicht des Schreckens und die Sicherung einer »Zweitschlagskapazität« beim Raketenpotential hat dann nochmals in erhöhter Intensität und unter Beteiligung insbesondere der jüngeren Generation eine breite Protestbewegung ins Leben gerufen, die für die deutsch-deutsche Geschichte von erheblicher Bedeutung wurde. Die Protest- und Friedensbewegungen werden daher im Programm dieser Tagung mehrfach angesprochen. Eine im konservativen Spektrum der Öffentlichkeit häufig zu findende nachträgliche Charakterisierung der Friedensbewegung als blauäugig macht sich, auch wenn diese eine bunte Truppe war, das Urteil zu einfach. Denn hier wurde für eine politisch engagierte, vor allem jüngere Generation nicht nur Angst vor einer neuen Eskalation im Rüstungswettlauf geäußert, sondern auch nachdrücklich der Wille artikuliert, den bizarren Irrwitz von Rüstungsspiralen und Raketenzählen zu durchbrechen – wie unvollkommen auch immer. Das färbte auch auf die innerdeutschen Beziehungen ab, oft durchaus in zweifelhaften Formen. Der Polittourismus westdeutscher Politiker zu Honecker gewann in dieser Phase parteiübergreifend rasant an Fahrt. Neben einer »Koalition der Vernunft« in der Deutschlandpolitik angesichts der Hochrüstung der Supermächte gab es ohne Frage auf verschiedenen Ebenen etliche Beispiele von peinlicher Anbiederung, Verharmlosung, selektiver Wahrnehmung, schiefen Systemvergleichen. Post festum sind solche Erscheinungen auch harsch und oft mit großen Portionen von Rechthaberei kritisiert worden. Um einen angemessenen Rahmen der Kritik zu finden, ist jedoch eine möglichst genaue und komplexe Kontextualisierung all dieser Phänomene, die uns heute oft inakzeptabel erscheinen, nötig, da es daran vielfach mangelte.17
16 Vgl. dazu ausführlich neben der einschlägigen allgemeinen Literatur Philipp Gassert, Tim Geiger, Hermann Wentker (Hg.): Zweiter Kalter Krieg und Friedensbewegung, München 2011. 17 Dieses ist mein Urteil aus dem Aufsatz von 2016; vgl. Christoph Kleßmann: Die historische Bedeutung der sozialdemokratischen Ost- und Deutschlandpolitik, in: Bernd Faulenbach, Bernd Rother (Hg.): Außenpolitik zur Eindämmung entgrenzter Gewalt, Essen 2016, S. 77–93, hier S. 85f. Die verschiedenen Facetten dieses vieldiskutierten Komplexes werden eingehend dargestellt bei Gassert u. a. (Hg.): Krieg (Anm. 16).
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Spezifische Prägungen und Wirkungen des Kalten Krieges in Deutschland Dass Deutschland – neben den ostmitteleuropäischen Ländern – in besonderem Maße vom Kalten Krieg betroffen war, auch wenn die »deutsche Frage« nicht der Auslöser, aber ein wichtiges Teilelement war, muss nicht erörtert werden. Ein dominantes Thema – nicht nur im Jubeljahr nach 30 Jahren Mauerfall – ist die Grenze. Verordnete, gewollte, begrüßte, bekämpfte, realisierte, gefühlte, perfektionierte und durchlöcherte Grenzen verschiedenster Art mit Warnungen, Verboten, Appellen, zynischen Werbestrategien etc. gehörten seit der doppelten Staatsgründung von 1949 zur deutschen Nachkriegsgeschichte. Sie lassen sowohl eine brutale und zeitweilig fast totale Abwehr und Abgrenzung wie eine meist asymmetrische Verflechtung mit »dem Westen« erkennen. Beides war Teil der sichtbaren äußeren Geschichte, gehörte aber ebenso zur komplizierteren inneren Gesellschaftsgeschichte in der Zeit des Kalten Krieges in Deutschland. Thomas Lindenberger hat dazu überzeugende grundsätzliche Überlegungen angestellt.18 Auch hier ist wiederum vor allem für die DDR die zeitliche Differenzierung wichtig, die in der populären gängigen Redeweise 40 Jahre SED-Diktatur und Stasistaat übersehen oder eingeebnet wird. Die Rolle der Nation, der Kampf der SED gegen die Kirche, der Umbau des Bildungswesens, der Industrie und Landwirtschaft, die relativen kulturellen Freiräume oder ihre Einengungen, die Formen der Repression und Überwachung usw. – das alles fiel in den 1950er und 1980er Jahren jeweils erheblich unterschiedlich aus. Das betraf die deutschdeutschen Beziehungen mit Abgrenzungen und Verflechtungen ebenso wie die Einstellungen der Bevölkerung zur »nationalen Frage«, das wechselseitige Interesse bzw. Desinteresse und die Organisations- und Aktionsformen von Jugendlichen. Das für Deutschland zentrale Grenzproblem begann bereits mit der Zonentrennung und der doppelten Staatgründung. Außenpolitik, Wiederaufrüstung und innerdeutsche Grenze waren eng verquickt. Zur Wiederbewaffnung, Trennung und Vertiefung der Teilung gehörten aber stets auch Gegenbewegungen und massive Proteste in verschiedensten organisierten oder unorganisierten und primär moralisch motivierten Formen. Ein erster tiefer Einschnitt in die staatliche Abgrenzungspolitik der DDR war schon der Ausbau der Grenze 1952. Seit Stalins Tod gab es zwar etliche politische Initiativen der Entspannung, aber als 18 Thomas Lindenberger: Die Diktatur der Grenzen, in: ders. (Hg.): Herrschaft und Eigen-Sinn in der Diktatur, Köln 1999. Zur allgemeinen Veranschaulichung der brutalen äußeren Grenzziehung, die bisweilen schon in Vergessenheit gerät, lässt sich jetzt auf das informative und reich bebilderte Heft der ZEIT-Geschichte, 2019, Nr. 5 hinweisen: Die Grenze. Unser geteiltes Land – 1949 bis heute.
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nachdrücklicher Versuch zur Eingrenzung und Stilllegung des Kalten Krieges wurde im Westen Entspannungspolitik erst seit den 1960er Jahren betrieben, nachdem der Mauerbau als Höhepunkt und Gipfel der Abgrenzung die Aussichtslosigkeit einer konsequenten Konfrontation vor Augen geführt hatte. Zwei Anmerkungen dazu: Erstens: Zur Mauergeschichte, auf die ich hier nicht näher eingehe,19 gehört für mich eine aus der Rückschau auch die erschreckende Erfahrung, die sich auf die SED-Diktatur insgesamt erstreckt: die fatale Gewöhnung an dieses monströse Bauwerk auf beiden Seiten. Ich habe im Herbst 2004 in Panmunjom die Grenze zwischen Nord- und Südkorea besuchen können. So makaber dieses Relikt eines heißen Krieges ist und so absolut die Trennung entlang des 38. Breitengrades zwischen beiden Landesteilen Koreas ausfällt – im Vergleich zu Berlin schien mir die Grenze zumindest optisch weniger brutal, weil sie eben nicht mitten durch eine Großstadt verläuft. Tatsächlich aber täuscht der Eindruck. Man stelle sich vor, es hätte nicht Westberlin gegeben, wie anders hätte sich die DDR und die deutsche Nachkriegsgeschichte möglicherweise entwickelt! Dass es eben trotz allem keine totale Abgrenzung im Kalten Krieg gab, ist für die deutsche Szene zentral. Zweitens: Die Sprache des Kalten Krieges lässt sich überall, aber besonders im gespaltenen Berlin beobachten. Willy Brandt als regierender Bürgermeister war unmittelbar nach der Grenzschließung derjenige Politiker, der mit scharfen Worten diesen neuen Höhepunkt des Kalten Krieges geißelte, als er in einer Sondersitzung des Berliner Abgeordnetenhauses erklärte, mitten durch Berlin sei nicht nur eine Art Staatsgrenze, sondern die »Sperrwand eines Konzentrationslagers«20 gezogen worden. Das war eine denkbar scharfe Wortwahl. Auf ganz andere Weise verband Adenauer als Bundeskanzler seine Stellungnahme in einer Wahlkampfrede in Augsburg am 14. August (also einen Tag nach der Grenzschließung) mit einer Anspielung auf Brandts uneheliche Herkunft und dokumentierte das auch auf einem menschlich wie politisch gleichermaßen infamen Wahlplakat. Der Text kann einem auch heute noch den Atem verschlagen: »Alles, was seit dem 13. August in Berlin geschehen ist, ist eine beabsichtigte Hilfe
19 Aus der umfangreichen Literatur verweise ich hier vor allem auf die Arbeiten von HansHermann Hertle, ferner auf die von ihm initiierte zweisprachige Website »Chronik der Mauer«.: https://www.chronik-der-mauer.de/ [09. 09. 2021]. Sie ist eine multimediale Dokumentation der Geschichte der Berliner Mauer 1961 bis 1989/90: ein Langzeit-Kooperationsprojekt des ZZF mit der Bundeszentrale für politische Bildung und Deutschlandradio. 20 Zit. in meinem Aufsatz Christoph Kleßmann: Kalter Krieger oder nationaler Hoffnungsträger? Offizielle Wahrnehmung und gesellschaftliche Wirkung Willy Brandts in der DDR seit den sechziger Jahren, in: Bernd Rother (Hg.): Willy Brandt. Neue Fragen, neue Erkenntnisse, Bonn 2011, S. 34–53, hier S. 38.
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Chruschtschows im Wahlkampf für die SPD und ihren Kandidaten Willy Brandt, alias Frahm. Darum Deine Stimme (der) CDU«21.
Solche Angriffe waren insofern besonders delikat, weil Willy Brandt auch im Osten seit Jahren bevorzugtes Ziel von Polemiken übelster Sorte war. Ein Beispiel war die Zeitung »Volksstimme« aus Karl-Marx-Stadt vom 22. August 1961, die titelte: »Wie aus Herbert Frahm Willy Brandt wurde«. Hier wurde ein Komplott mit der Gestapo in Norwegen konstruiert, die Brandt nach Schweden entkommen ließ: »In Schweden entdeckte Brandt alias Frahm plötzlich wieder sein sozialdemokratisches Herz. Eifrig bereitete er sich auf neue Funktionen vor, für die er von den Geheimdiensten vorgesehen war.«22 In der Sprache des Kalten Krieges bildete besonders in der Bundesrepublik der ausufernde Antikommunismus ein bestimmendes Element. Eins der bekann21 Brigitte Seebacher: Willy Brandt, München 2006, S. 195. 22 Zit. nach Kleßmann: Krieger (Anm. 20), S. 37.
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testen und später von der rechtsradikalen NPD imitierten Plakate stammt aus dem Wahlkampf 1953 und suggerierte, »alle Wege des Marxismus führen nach Moskau!«23. Die Geschichte des Antikommunismus greift weit über den OstWest-Konflikt hinaus, aber sie war in besonderer Weise Bestandteil der politischen Kultur der frühen Bundesrepublik. Sie verlief in verschiedenen Wellen und belegt die gesellschaftliche Prägekraft des Kalten Krieges. »Geistige Gefahr« und »Immunisierung der Gesellschaft« – diese zeitgenössischen Schlagworte greift der Titel eines einschlägigen Sammelbandes dazu von 2014 auf. Er thematisiert die vielen Facetten von den politischen Apparaten über Film und Fernsehen bis zum westlichen »Päckchen nach drüben« und zum östlichen Gegenstück für »die im Westen hungernde Tante Minna«.24 In der Bundesrepublik funktionierte der Antikommunismus als »konsensfähige Integrationsideologie«25 und erst mit der Entspannungspolitik verschwanden auch seine wildesten Ausdrucksformen. Dass mit der Entspannungspolitik auch der legitime und notwendige Kern des Antikommunismus als demokratischer politischer Position bisweilen seine Geltungskraft einbüßte und in einen allzu schlichten »Anti-Antikommunismus« mündete, der dann nach 1990 wieder zum beliebten Feld politischer und historiografischer Polemik wurde, sei hier am Rande zumindest vermerkt.26 23 Zit. nach Winfried Ranke: Deutschland im Kalten Krieg: 1945–1963 [Eine Ausstellung des Deutschen Historischen Museums, 28.08.–24.11.1992 im Zeughaus Berlin], Berlin 1992, S. 117. 24 Stefan Creuzberger, Dierk Hoffmann (Hg.): »Geistige Gefahr« und »Immunisierung der Gesellschaft«. Antikommunismus und politische Kultur in der frühen Bundesrepublik, München 2014. 25 So meine Formulierung von 1982 in Christoph Kleßmann: Die doppelte Staatsgründung. Deutsche Geschichte 1945 bis 1955, Göttingen 1982, S. 251. 26 Vgl. Bernd Faulenbachs Artikel Antikommunismus, Version: 1.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 03. 05. 2017, http://docupedia.de/zg/Faulenbach_antikommunismus_v1_de_2017? oldid=128260 [27. 05. 2020]. Als ein Beispiel der Polemik nach 1990: Jens Hacker: Schönfärber und Helfershelfer der SED-Diktatur im Westen, Berlin 1992. Eine persönliche biografische Anmerkung zum Ostkolleg der Bundeszentrale für politische Bildung in Köln, an dem ich seit 1967 meinen ersten Job hatte, sei hier ebenfalls erlaubt: Die Gründungskonstellation des Ostkollegs 1957/58 war von starken, aber auch halbwegs rational kontrollierten Strömungen des Antikommunismus geprägt. Die hier primär für die bundesrepublikanischen Funktionseliten gedachte Auseinandersetzung mit dem Weltkommunismus fand in akademischen Formen auf hohem Niveau statt, einschließlich der politischen Veränderungen in der Gesellschaft seit den späten 1960er Jahren. Die beginnende Entspannungspolitik gab der Kritik am Antikommunismus Auftrieb. Nüchterne Analyse sollte die Auseinandersetzung bestimmen und Anti-Antikommunismus gehörte im liberalen Milieu häufig zum guten Ton. Mit dem Extremistenbeschluss von 1972 erhielt diese Frage ihre besondere Aktualität. An bestimmte problematische Formen des Kampfes gegen den Kommunismus wollte man nun ungern erinnern. Beispiele in Deutschland waren neben der schon 1959 aufgelösten »Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit« (KgU) die Ostbüros der Parteien oder der »Untersuchungsausschuss Freiheitlicher Juristen«. Materialien aus diesem Umfeld galten bald in
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Abgebaut und verändert wurde mit Entspannungstendenzen auch Angst in ihren unterschiedlichsten Facetten als Charakteristikum des Kalten Krieges. Ich habe »diffuse Ängste« daher in den Titel meines Beitrags übernommen. Angst ist jedoch nicht an die Phase des Kalten Krieges oder des Ost-West-Konflikts insgesamt gebunden. Die verschiedenen Umfragen machen die wechselnden und gleichbleibenden, aber auch diffusen Sorgen gerade der Jugendgenerationen gut sichtbar. Die jüngste Shell-Studie von 2019 hat vor allem die Angst vor Umweltproblemen und Klimawandel als dominante Sorge von Jugendlichen identifiziert.27 Frank Biess hat jüngst eine umfängliche »andere Geschichte der Bundesrepublik« mit dem Titel »Republik der Angst« (2019) publiziert. Das ist in der Verallgemeinerung vielleicht überzogen, bietet aber viele erhellende und weiterführende Gesichtspunkte für die Geschichte einer Wirtschaftswundergesellschaft. Ich muss mich in diesem Zusammenhang auf wenige Hinweise zu diffusen Ängsten, aber auch auf die Formen grotesker Verharmlosung von Atomwaffen in der Frühphase der BRD beschränken. 1957/58 stand die Bewaffnung der Bundeswehr mit taktischen Atomraketen zur Diskussion. Dagegen richtete sich nicht nur die für beide Teile Deutschlands relevante Kampagne »Kampf dem Atomtod«, sondern auch der nachhaltige Protest weltberühmter Atomphysiker aus Göttingen. Anlass war Adenauers makabre, aber offenbar ernstgemeinte Bemerkung, diese Raketen seien doch nur »die Weiterentwicklung der Artillerie«.28 Es gab eine breite Ablehnung in der Bevölkerung mit Massenprotesten und Demonstrationen, wie sie nur noch in den 1980er Jahren von den Aktionen gegen den NATO-Doppelbeschluss zur Nachrüstung übertroffen wurden. Aus dieser Angst ließ sich aber für die politische Opposition gegen Adenauer nicht wirklich politisches Kapital schlagen. Der Verdacht einer kommunistischen Unterwanderung wurde bei diesen und anderen Protestaktionen stets mehr oder minder wirksam mobilisiert und dämpfte politisches Engagement. Ein groteskes Teilelement muss aber in diesem Zusammenhang noch erwähnt werden: In den frühen 1960er Jahren wurden verstärkt der Zivilschutz und Schutzmaßnahmen gegen einen eventuellen Atomangriff erörtert. Eine makabre Variante war die im Auftrag des Bundesder politischen Bildung und in der Wissenschaft als anrüchig. Dass sie teilweise von Geheimdiensten mitfinanziert, in ihren Aussagen überzogen oder unzuverlässig und somit als historische Quellen wenig brauchbar schienen, ließ sich zumindest vermuten – oft allerdings auch zu Unrecht. Das von Peter Christian Ludz propagierte Paradigma der »systemimmanenten Interpretation« des Kommunismus rückte zudem hergebrachte Totalitarismustheorien in den Hintergrund. 27 Vgl. u. a. Horst Petri: Umweltzerstörung und die seelische Entwicklung unserer Kinder, Stuttgart 1992. Zur jüngsten Shellstudie von 2019, die vor allem das gewachsene Umweltbewusstsein belegt, vgl. die Website www.shell.de/jugendstudie [08. 09. 2021]. 28 Zit. nach: Christoph Kleßmann: Zwei Staaten, eine Nation. Deutsche Geschichte 1955–1970, 2. überarb. Aufl. Bonn 1997, S. 70.
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innenministeriums verteilte Broschüre »Jeder hat eine Chance« (1962). Schlichte Skizzen suggerierten, sogar die Aktentasche auf dem Kopf könne Schutz vor atomarer Strahlung bieten.
Von solchem sicherheitspolitischen Unfug war die spätere und wiederum heftig umstrittene sozialdemokratische Deutschlandpolitik der 1980er Jahre weit entfernt. Für ideologischen Streit sorgte in dieser Phase insbesondere das zeitgenössisch und nachträglich scharf kritisierte SPD-SED-Papier von 1987. Nur ein Satz daraus, der die gründlich veränderte Konstellation charakterisiert: »Friede kann heute nicht mehr gegeneinander errüstet, sondern nur noch miteinander vereinbart werden.«29 Eben deshalb müsse als Lernprozess aus der harten Konfrontation des Kalten Krieges etwas versucht werden, was bislang fehlte und wofür einige Regeln und konkrete Ansätze formuliert wurden: eine Kultur des politischen Streits, und zwar zwischen zwei Systemen, die sich – und dieser Satz fand besonders scharfe Kritik – nicht abschaffen können und für reformfähig halten. 29 Der Streit der Ideologien und die gemeinsame Sicherheit. Der vollständige Text wurde am 27. August 1987 gleichzeitig in der Bundesrepublik und in der DDR im »Neuen Deutschland« und Regionalzeitungen veröffentlicht und löste eine heftige Debatte aus.
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In einer Gesellschaftsgeschichte des Kalten Krieges in Deutschland wären etliche Themen wichtig, die ich hier im allgemeinen Rahmen nicht einmal gestreift habe. Durch die Mobilisierung alle Ressourcen entwickelte sich eine andere Form von »totalem Krieg«, auch wenn es nicht physisch zum Krieg kam.30 Als Stichworte gehören dazu mindestens: die Schulpolitik und die Ausrichtung von Schulbüchern; die Gewerkschaften, die als linke Organisationen im besonderen Verdacht kommunistischer Unterwanderung standen; die protestantische Kirche mit vielen grenzübergreifenden Verbindungen und führenden Repräsentanten wie Martin Niemöller, die sich nicht in die Ordnungsschemata des Kalten Krieges fügten oder Filme, Musik und Literatur, die sowohl zur Popularisierung wie zur Infragestellung scharfer politischer Auseinandersetzungen beitrugen.31 Eine eher 30 So Ulrich Pfeil in seinem einführenden Beitrag zum Sammelband von Franziska Flucke, Bärbel Kuhn, Ulrich Pfeil (Hg.): Der Kalte Krieg im Schulbuch, St. Ingbert 2017. 31 Ich nenne hier nur vier Buchtitel: Heiner Stahl: Jugendradio im kalten Ätherkrieg. Berlin als eine Klanglandschaft des Pop (1962–1973), Berlin 2010; Christin Niemeyer, Ulrich Pfeil (Hg.): Der deutsche Film im Kalten Krieg, Bern 2014; Andreas Kötzing: Kultur- und Filmpolitik im
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heitere Karikatur zum Schluss: die satirische Zuspitzung der politischen Positionen von drei berühmten politischen Kämpfern aus dem rechtskonservativen Spektrum in dem bissigen Plakat von Klaus Staeck von 1974 (Franz-Josef Strauß, Axel Springer, Gerhard Löwenthal). Auch der Kalte Krieg in Deutschland war keine Einbahnstraße!
Wenige abschließende Überlegungen zum Rahmenthema Durch den berüchtigten McCarthyismus in den USA sind die 1950er Jahre dort zu Recht als »emotionaler Ausnahmezustand«32 bezeichnet worden. Die ideologische Mobilmachung war ein generelles Zeichen der Zeit, ebenso wie die hybriden Allmachtsfantasien der Nuklearmächte. Apokalyptische Szenarien eines Atomkrieges oder eines verheerenden Reaktorunfalls wurden von beiden Seiten – zu Recht oder zu Unrecht – an die Wand gemalt.33 Gleichzeitig blieb der Umgang mit Atomkraft und Atomwaffen von beängstigendem Leichtsinn geprägt. Dennoch war das Bild wie immer bei komplexen Themen nicht einheitlich. Der Kalte Krieg hat zumindest in Europa Gesellschaft und Politik tief, aber nie vollständig geprägt. Harte Grenzen waren meist auch ein bisschen porös.34 Davon ist auf dieser Konferenz gelegentlich die Rede. Dass man BRD- und DDR-Geschichte nicht strikt voneinander trennen soll und kann, setzt sich allmählich als Konzept durch, aber wie das dann umgesetzt wird, ist ein weites Feld.35 »Die Jugend« gab es nicht, es gab Kämpfer gegen kommunistische Aktivitäten ebenso wie Faszination für deren Organisationen und Ziele. »Mit uns zieht die neue Zeit« ist unter wechselnden Systemen ein oft wirksamer und motivierender Slogan gewesen. Bedenkenloser Missbrauch jugendlicher Begeisterungsfähigkeit gehörte ebenfalls dazu, die oben erwähnte »Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit« (KgU) ist ein extremes Beispiel.
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Kalten Krieg. Die Filmfestivals von Leipzig und Oberhausen in gesamtdeutscher Perspektive 1954–1972, Göttingen 2013; ferner die amüsante, autobiografisch geprägte Darstellung des aus Gotha stammenden späteren Spiegel-Redakteurs Siegfried Schmidt-Joos: Die Stasi swingt nicht. Ein Jazzfan im Kalten Krieg, Bonn 2016. So Bernd Greiner: Antikommunismus, Angst und Kalter Krieg. Eine erneute Annäherung, in: Creuzberger, Hoffmann (Hg.): Gefahr (Anm. 24), S. 29–41, hier S. 30. Hier lässt sich wohl auch der 1987 erschienene und in schon unverantwortlicher Weise angstmachende Jugendroman von Gudrun Pausewang, Die Wolke, nennen. Glänzende Impressionen dazu bringt der vielgereiste Osteuropa-Historiker Karl Schlögel: Jenseits von Marienborn oder: Kalter Krieg privat, in: Zeithistorische Forschungen, 2008, Nr. 5, S. 283–298. Jetzt ist dazu eine umfangreiche und sehr gut gelungene Gesamtdarstellung von Petra Weber erschienen: Petra Weber: Getrennt und doch vereint. Deutsch-deutsche Geschichte 1945– 1989/90, Berlin 2020.
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Der Kalte Krieg und Entspannungstrends verliefen in sich ablösenden, wellenförmigen Phasen. Zur wichtigsten Voraussetzung für die Möglichkeit von Entspannung gehörten das atomare Patt und die Bereitschaft der Supermächte, dieses Patt zu akzeptieren. Das war das politische Ergebnis der Kubakrise von 1962, die die Welt fast an den Rand einer atomaren Katastrophe brachte. Man kann wie Werner Link im atomaren Arrangement der Supermächte das Ende des Kalten Krieges (nicht des Ost-West-Konflikts) sehen. Zu nennen sind hier als Schritte einer Entspannung vor allem: das Abkommen über einen Stopp der Atomtests 1963; der Vertrag über die Nichtweiterverbreitung von Atomwaffen, der nach langen Vorbereitungen 1968 von den USA, Großbritannien und der Sowjetunion abgeschlossen und in der Bundesrepublik in grotesker Überhöhung von F.J. Strauß als »Versailles von kosmischen Ausmaßen« oder neues Jalta gegeißelt wurde.36 Seine Unterzeichnung gehörte zu den ersten Akten der sozialliberalen Regierung 1969. Das Gebäude poststalinistischer Herrschaft wurde durch viele Faktoren, aber auch durch das subversive Element der Entspannung insoweit destabilisiert, als Gorbatschow an die Spitze der sowjetischen Supermacht kam, was unter Bedingungen des Kalten Krieges kaum vorstellbar gewesen wäre. Vergessen oder weitgehend übersehen wurde – und den Schuh dieser Kritik und einer sehr selektiven Wahrnehmung müssen sich auch die meisten Historiker und Sozialwissenschaftler anziehen, ich nehme mich dabei nicht aus –, dass gerade die DDR erkennbar immer noch eine üble SED-Diktatur war, immer mehr verknöcherte und sich die alte Garde um Honecker allen Reformansätzen verschloss. Meine Studenten in Bochum und Bielefeld haben sich (ebenso wie ich) durchweg nicht für die Chimäre einer Wiedervereinigung interessiert; für sie war die DDR mäßig attraktives Ausland (das war sie für mich allerdings nie). Die »deutsche Frage« galt nicht mehr wie in den 1950er Jahren als Herd der Spannung in Europa. Die Zweistaatlichkeit war nun für die meisten Europäer eine schöne Selbstverständlichkeit geworden, die den Nachbarn die Angst vor deutscher Übermacht nahm. Es gibt rückblickend – trotz aller düsteren Seiten – auch die verblüffend positive Seite, die Ulrich Herbert in seiner »Deutschen Geschichte« zu Recht betont hat: »Die Bundesrepublik war ein Kind des Kalten Krieges; ohne ihn wäre sie nie geboren worden. Die fundamentalen Entscheidungen über das politische und wirtschaftliche Ordnungssystem waren den Westdeutschen weitgehend abgenommen worden.«37 Bittere Nachwirkungen des Kalten Krieges in unserer Gegenwart und enttäuschte Hoffnungen von 1990 auf ein neues globales Zeitalter der Verständigung und demokratischen Kooperation zumindest in Europa lassen sich diskutieren. 36 Zit. nach Kleßmann: Staaten (Anm. 28), S. 235. 37 Ulrich Herbert: Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert, München 2014, S. 611.
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Gleichwohl ist der Kalte Krieg Geschichte, die sich wohl auch in ähnlicher Form nicht wiederholen wird.
Abbildungsnachweis Abb. 1: Archiv der sozialen Demokratie der Friedrich-Ebert-Stiftung, 6/PLKA020127 (Quelle). Abb. 2: Christoph Kleßmann: Zwei Staaten, eine Nation. Deutsche Geschichte 1955–1970, Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung 1997, S. 161, nach: Der Spiegel, 1962, Nr. 21 (Quelle). Abb. 3: Mit freundlicher Genehmigung der Edition Staeck, Heidelberg.
Jugend und deutsch-deutsche Verflechtungsgeschichte
Alfons Kenkmann
Kalter Krieg im Kleinen. Das kurze Leben des Philipp Müller
Im Mittelpunkt steht mit Philipp Müller ein Teilnehmer einer Friedenskundgebung, in deren Verlauf es am 11. Mai 1952 zu den »folgenschwersten Zusammenstöße[n] zwischen Kommunisten und der Polizei«1 in der jungen Bundesrepublik kam. Im Fokus stehen die konkreten Umstände, unter denen der Teilnehmer Philipp Müller ums Leben kam.2 Beides wird kontextualisiert und anschließend die öffentliche, juristische und politische Aufarbeitung entfaltet. In einem dritten Schritt wird die geschichtspolitische und geschichtskulturelle Wirkungsmächtigkeit der Person Philipp Müller über dessen öffentliche Instrumentalisierung, die Erinnerung und das Gedenken an ihn in der DDR, in der Bundesrepublik und in Deutschland nach der Wiedervereinigung dargelegt.
Gegen die Remilitarisierung: Mobilisierung für die »Friedenskarawane« Gegen die sich abzeichnende Politik der Eingliederung der Adenauer-Regierung in das westliche Militärbündnis der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft richtete sich im Verlauf des Jahres 1952 eine Initiative – der Darmstädter Appell. Hierbei handelte es sich um einen Zusammenschluss westdeutscher Remilitarisierungsgegner, der offen war für eine Zusammenarbeit mit ehemaligen Angehörigen der seit dem 26. Juni 1951 in der Bundesrepublik verbotenen FDJ, wobei auf frühere Erfahrungen der Bündnisbereitschaft unter jenen Jugendorganisa1 Till Kössler: Abschied von der Revolution, Kommunisten und Gesellschaft in Westdeutschland 1945–1968, Düsseldorf 2005, S. 323. Im Folgenden orientiere ich mich an den Thesen und Ausführungen, die ich erstmals vorgestellt habe in Alfons Kenkmann: Philipp Müller. Vom Friedensdemonstranten West zum Widerstandshelden Ost, in: Geschichte im Westen, 2018, 33. Jg., 2018, S. 91–115. 2 Es erstaunt, dass dieses Ereignis, das eine große Bedeutung in der Debatte um die Re-Militarisierung einnahm, in neueren Überblicksdarstellungen gänzlich fehlt; vgl. z. B. Philipp Gassert: Bewegte Gesellschaft, Deutsche Protestgeschichte nach 1945, Stuttgart 2018.
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tionen zurückgegriffen wurde, die die drohende Remilitarisierung entschieden bekämpften. Hierzu zählten neben der FDJ u. a. die Naturfreundejugend Deutschlands und die Sozialistische Deutsche Jugend »Die Falken«. In Darmstadt erwuchs auf einem Treffen am 2. März 1952 mit dem sogenannten »Präsidium des Treffens der jungen Generation« ein neuer Bündnispartner für die FDJ. Es waren die Stalin-Noten vom Frühjahr 1952 zur Wiedervereinigung Deutschlands, die Bezugspunkte auch für Remilitarisierungsgegner im Westen boten. Mit der Note »signalisierte Stalin […] seine Bereitschaft, über eine Preisgabe des SED-Machtmonopols in der DDR mit sich reden zu lassen, wenn dadurch der Aufbau einer starken westlichen Militärmacht unter Einschluss der Bundesrepublik verhindert werden konnte«.3 Die Abweisung der Stalinschen Noten durch die Westmächte und die Bundesregierung stießen auf erheblichen Widerspruch der Remilitarisierungsgegner. Gleichzeitig ermunterte die FDJ in Ostberlin ihren neuen Partner im Westen zur Aktion. Für den 11. Mai mobilisierte das »Präsidium der Jungen Generation« zu einer »Friedenskarawane der Jugend« nach Essen. Trotz der Einwände einiger in Ostberlin anwesender Präsidiumsmitglieder, »die vom kurzfristig erteilten Verbot der Demonstration erfuhren, bestand Honecker auf deren Durchführung«.4 Die Organisatoren in Essen rechneten mit 20.000 bis 30.000 Jugendlichen.5 Die Demonstration und Kundgebung wurden erstaunlich kurzfristig – drei Tage vor dem Ereignis – am 8. Mai 1952 angemeldet.6 Zur Kundgebung hatte am 1. Mai 1952 das bereits genannte »Präsidium des (westdeutschen Treffens) der Jungen Generation« aufgerufen. Zu dem Präsidium zählten unter anderem Werner Plaschke, der Bundesfeldmeister des Deutschen Pfadfinderbundes, Rudi Arndt, der hessische Landesvorsitzende der Falken und spätere Oberbürgermeister von Frankfurt, und Gustav Wenig, der Jugendsekretär der Postgewerkschaft.7 Die gezielte Ansprache der jungen Menschen in den frühen Nachkriegsjahren war diesseits und jenseits der Elbe nichts Besonderes, sondern milieu- und parteiübergreifend, wurde der jungen Generation doch eine überragende Bedeutung im Gestaltungsprozess einer Gesellschaft nach der Katastrophe beigemessen – auch wenn die Großvätergeneration die politische Praxis bestimmte. 3 Wilfried Loth: Der Kalte Krieg. Ursprünge und Verlauf, in: Katharina Hochmuth (Hg.): »Krieg der Welten«. Zur Geschichte des Kalten Krieges, Bonn 2017, S. 23–37, S. 29. 4 Michael Herms, Karla Popp: Westarbeit der FDJ. 1946–1989. Eine Dokumentation, unter Mitarbeit von Irene Drath, Berlin 1997, S. 86. 5 Vgl. Horst Klein: Philipp Müller – Erinnerung an den ersten Demonstrationstoten der BRD im kalten Krieg, in: Jahrbuch für Forschungen zur Geschichte der Arbeiterbewegung, 2003, III, S. 99–105, S. 102. 6 Vgl. Ernst Schmidt: 11. 5. 1952. Der Tod eines Demonstranten in Essen, in: Essener Beiträge. Beiträge zur Geschichte von Stadt und Stift Essen, 2002, Bd. 114, S. 109–154, S. 153. 7 Vgl. Schmidt: Tod (Anm. 6), S. 110f.
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Abb. 1: »Geeinte Jugend« (1946)
Die Untersagung der geplanten Kundgebung wurde am Freitagnachmittag, dem 10. Mai, über den Rundfunk verbreitet. Hierbei wurde aus einer Pressemitteilung zitiert, dass es sich bei der »›Bundes-Jugend-Karawane‹ […] um ein von Kreisen der KPD und FDJ gesteuertes Unternehmen« handele. Der WDR und der NWDR ließen die ihr satzungsgemäß vorgegebene parteipolitische Neutralität gänzlich außen vor. Da am selben Tag weitere Umzüge anderer Organisationen stattfänden, bestünde »die unmittelbare Gefahr, dass das Treffen einen unfriedlichen Verlauf nehmen würde«.8 Imaginiert wurden in den Reihen des Verfassungsschutzes zahlreiche Angehörige der Vertriebenenjugend, hier Angehörige der Deutschen Jugend des Ostens, die ebenfalls auf dem Weg nach Essen seien: Konflikte seien damit vorgegeben. Zum Zeitpunkt der Verbotsverfügung waren jedoch schon Tausende Teilnehmerinnen und Teilnehmer der geplanten Veranstaltung auf dem Weg nach Essen. 8 Pressemitteilung des Ministerpräsidenten und Innenministers Karl Arnold, zit. nach Schmidt: Tod (Anm. 6), S. 113.
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Arnold Haumann, Student der Theologie und Anmelder der Kundgebung, hatten seine Erfahrungen vom Wehrmachtssoldaten und Kriegsgefangenen zum überzeugten Wiederbewaffnungsgegner gemacht. Ihm wurde in einer Verbotsverfügung mitgeteilt, dass aufgrund des »am gleichen Tage stattfindende[n] Europa-Kongreß[es] der ›Christlichen Arbeiter-Jugend‹ [die Gefahr] bestünde, ›dass bei der starken gegensätzlichen, staatspolitischen und weltanschaulichen Einstellung der Beteiligten die öffentliche Sicherheit und Ordnung gestört‹ würde«.9 Dies war eine absurde Auslegung, gab es doch auch in der christlichen Arbeiterjugend eine nicht unbeträchtliche Zahl an Wiederbewaffnungsgegnern. Zusätzlich musste ein angeblicher Besucheransturm auf die »Grün- und GartenAusstellung« (Gruga) für das Verbot ebenso herhalten wie eine »HausfrauenJugend-Tagung« mit 70 Delegierten im Essener Hedwig-Dransfeld-Haus.10 Zum Zeitpunkt des Verbots waren bereits tausende Friedensbewegte aus unterschiedlichen Institutionen (Gewerkschaften, Nichtorganisierte, Parteiorganisationen) – bei Weitem eben nicht nur Mitglieder der verbotenen FDJ, wie es Staats- und Verfassungsschutz weismachen wollten – auf dem Weg nach Essen, wenn nicht schon gar vor Ort.11 Die mitgeführten Transparente trugen einschlägige Losungen wie »Wir fordern Sportplätze statt Barras« und »Wir wollen keine Söldner sein«.12 Auch aus heutiger Sicht mutet die mit der Verbotsaussprechung verfolgte Strategie bizarr an, da den »völlig überraschten Organisatoren«13 am Freitag, dem 9. Mai, vor Ort auf dem Polizeipräsidium in Essen kein Verantwortlicher für das Verbot genannt werden konnte. Auch das Regierungspräsidium und das nordrhein-westfälische Innenministerium verneinten, für die Verbotsverfügung verantwortlich zu sein. Letztendlich erhielt Mitorganisator Arnold Haumann am Freitagnachmittag einen schriftlichen Bescheid des Ordnungsamtes der Stadt Essen, in dem das Verbot fade damit begründet wurde, »dass die Stadt Essen wegen anderer Großveranstaltungen nicht über genügend Polizeikräfte zum ›Schutz‹ der ›Friedenskarawane‹ verfüge«,14 obwohl am Demonstrationstag selbst die Essener Schutzpolizei von einer Hundertschaft der Stadtkreispolizei Wuppertal und zwei Hundertschaften der Regierungsbezirkspolizei Düsseldorf und 9 Arnold Haumann zit. nach Schmidt: Tod (Anm. 6), S. 114. 10 Vgl. Anordnung des Chefs der Polizei Essen betr. »Massnahmen [sic!] zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung am 11. 5. 1952«, in: LAV NRW R, Rep. 169, Nr. 66, unpag. 11 Vgl. Vorstand der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands: Die »Darmstädter Aktionsgruppe«, o.O., o. J. [1952], S. 1. 12 »Besondere Vorkommnisse«, in: Bericht des Chefs der Polizei Essen, Polizei-Direktor Knoche, v. 26. 05. 1952, in: LAV NRW R, Ger Rep. 169, Nr. 67 unpag. 13 Wolfgang Kraushaar: Die Protest-Chronik 1949–1959, Bd. 1, 1949–1952, Frankfurt a. M. 1996, S. 604. 14 Ebd.
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Köln unterstützt wurde. Diese setzten sich, wie Stefan Noethen es in seiner empirisch gesättigten polizeihistorischen Studie »Alte Kameraden und neue Kollegen« herausgearbeitet hat, vor allem aus Beamten aus dem »Einzeldienst oder Einsatzbereitschaften, nicht jedoch [aus] der Bereitschaftspolizei oder sogar dem Bundesgrenzschutz«15 zusammen. Bei der Aufklärungs- und Öffentlichkeitsarbeit der Demonstranten wurde jedoch – irrtümlich oder bewusst – die neu aufgestellte Bereitschaftspolizei als Verantwortliche auf Seiten der Polizei ausgemacht.
Die Situation in Essen am 11. Mai 1952 Das »äußerst rabiat[e]« Vorgehen der Polizei gegen Jugendliche, »um jegliche Versammlung zu unterbinden«16, war mitverantwortlich für die Eskalation in der Nähe der Gruga. Nicht wenige Zeugenaussagen attestierten der eingesetzten Polizei die Durchführung wahrer Prügelorgien: »Die Polizei schlug auf die Jugendlichen mit Knüppeln ein«; ein berittener Polizist verprügelte eine alte Dame, die dann zusammenbrach. Ein anderer sagte aus, es sei auf brutalste Weise »auf am Boden liegende eingeschlagen«17 worden. Als Folge eskalierte das Geschehen: Auf die prügelnden Polizeibeamten reagierten mit einem »allgemeineren AntiObrigkeitsimpuls«18 ausgestattete Jugendliche mit Stock- und Steinwürfen. Diese seien so massiv gewesen, dass dem Kölner Polizeiführer vor Ort zufolge Leib und Leben der eingesetzten Beamten auf dem Spiel gestanden hätten, weshalb nach der Abgabe von drei Warnschüssen dieser den Befehl zum Schießen gegeben habe. Getroffen von den – nach Polizeiangaben 30 bis 80 abgegebenen Schüssen – wurden Philipp Müller und zwei weitere Demonstranten: Das Mitglied der sozialdemokratischen Aktion Münster, Bernhard Schwarze, und der Gewerkschafter Albert Bretthauer aus Kassel, die schwer verletzt überlebten.19 Philipp Müller hingegen wurde tödlich getroffen. Das FDJ-Mitglied, 1931 in MünchenNeuaubing geboren, war noch offiziell bei seiner Mutter in München-Neuaubing gemeldet. Seit dem 18. August 1951 war der ausgebildete Schlosser verheiratet mit der FDJ-Angehörigen Ortrud Müller, die zum Todeszeitpunkt im zweiten Monat
15 Stefan Noethen: Polizei und öffentliche Meinung in den fünfziger Jahren, unveröff. Manuskript, Köln 1998, unpag. 16 Kössler: Abschied (Anm. 1), S. 323. 17 LAV NRW R, Ger Rep. 169, Nr. 67 unpag. [Bl. 30–38]. 18 Kössler: Abschied (Anm. 1), S. 326. 19 Vgl. Günther Gerstenberg: Protest in München seit 1945. Flusslandschaft 1952. KPD, verfügbar unter: http://protest-muenchen.sub-bavaria.de/artikel/109 [13. 05. 2020].
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schwanger war. Ihr gemeinsamer Sohn kam sieben Monate nach dem Tod ihres Mannes am 20. Dezember 1951 zur Welt.20 Bei der Konfrontation am 11. Mai 1952 nahmen Polizeibeamte 283 Personen fest, 273 von ihnen wurden nach Feststellung der Personalien wieder freigelassen, 10 Personen in Untersuchungshaft genommen und gegen 70 Personen Strafanzeige wegen Aufruhrs erhoben.21 An den Begräbnisfeierlichkeiten am 17. Mai 1952 mit anschließendem Begräbnis in München nahmen nach Angaben der Süddeutschen Zeitung »annähernd 1.000 Personen« teil. Am Sarg erklärte der Vorsitzende der KPD, Max Reimann, Philipp Müllers Name werde »im deutschen Volke weiterleben«. Die Süddeutsche Zeitung schloss mit dem Satz: »Die Feierlichkeiten verliefen ohne Zwischenfall, so daß die in Bereitschaft liegenden beiden Hundertschaften der Polizei [ebenso wenig] eingreifen mußten«22 wie die ebenfalls vorsorglich zusammengezogenen amerikanischen Militärangehörigen.23
Die mediale Wahrnehmung des Geschehens Der Essener 11. Mai 1952 wurde unmittelbar nach dem Vorfall in der Öffentlichkeit kontrovers diskutiert. Der KPD nahestehende Zeitungen interpretierten die Vorfälle als »Gewaltexzeß der Polizei«. »Freies Volk«, das in Düsseldorf erscheinende Zentralorgan der Kommunistischen Partei Deutschlands, schrieb schon in seiner Ausgabe am Tag nach dem Essener Geschehen: »Dem furchtbaren Blutbad, das die Lehr-Polizei in Essen anrichtete, fiel der 21jährige Philipp Müller […] zum Opfer. Er brach sofort unter den Kugeln der Lehr-Soldateska zusammen.« Die Polizisten unterstanden bei ihrem Einsatz jedoch dem NRW-Ministerpräsidenten und Innenminister, Karl Arnold, und nicht dem Bundesministerium des Innern, Robert Lehr. Es wurde in der kommunistischen Presse einzig die Perspektive eingenommen, dass eine friedliche Demonstration von der Polizei mit brutalsten Mitteln unterbunden wurde.24 Diese Sichtweise wurde auch 20 Vgl. Dr. jur. Ewald Rudolf, München, Strafanzeige v. 15. 06. 1952 an die Oberstaatsanwaltschaft Essen, in: LAV NRW R, Ger Rep. 169, Nr. 66, unpag. 21 Vgl. Bericht über die Vorgänge anlässlich der Veranstaltungen am 11. 05. 1952 im Bereich der SK-Polizei Essen der Polizeibehörde der Stadt Essen, Der Chef der Polizei, an den Ministerpräsidenten Arnold v. 12. 05. 1952, in: LAV NRW, NW 34, Nr. 9, Bl. 171–177, hier Bl. 176. 22 Ff, in: Süddeutsche Zeitung, 19. 05. 1952, Nr. 116. 23 Vgl. Eckart Dietzfelbinger: Die westdeutsche Friedensbewegung 1948 bis 1955. Die Protestaktionen gegen die Remilitarisierung der Bundesrepublik Deutschland, Köln 1984, S. 138, Fn. 33. 24 Vgl. Philipp Müller. Der Polizeimord in Essen, dokumentiert und aufgezeichnet von Wolfgang Bartels, hg. v. Bundesvorstand der Sozialistischen Deutschen Arbeiterjugend (SDAJ), Dortmund 1997, S. 86–90.
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von den KPD-Abgeordneten im Düsseldorfer Landtag vertreten, die – wie der Abgeordnete Josef Ledwohn – die Essener Vorfälle als »Polizeimassaker«25 bewertete. Das Gros der nichtkommunistisch verankerten Presse folgte unmittelbar nach den Ereignissen äußerst unkritisch den Stellungnahmen der Polizei: So schlossen sich das »Essener Tageblatt« und zunächst auch die »Westdeutsche Allgemeine Zeitung« (WAZ) in ihren Ausgaben vom 12. Mai der »Version der Polizei an, dass [diese] erst geschossen habe, nachdem sie aus den Reihen der Demonstranten beschossen worden sei«.26 Die »Welt« titelte: »Getarnte FDJ schießt auf Polizei in Essen«.27 Abwägender beurteilten später die WAZ und die »Neue Ruhr-Zeitung« (NRZ) das Essener Debakel: Für diese stand nicht die angebliche kommunistische Unterwanderung der Friedenskundgebung im Vordergrund. So schrieb die WAZ: »Nach dem ›schwarzen Sonntag‹ – Ist es wieder soweit? […] War die Polizei zu scharf ?«. In der NRZ hieß es: »Bürger fragen: Musste die Polizei gleich schießen?«.28 Und die der FDP nahestehende »Deutsche Zukunft« warf der Polizei vor, sie habe durch den Tod von Philipp Müller »es den Kommunisten hierzulande und ihren Auftraggebern in der Ostzone allzu leicht gemacht, Märtyrer für ihre Sache zu finden«.29 Unmittelbar im Anschluss an das Geschehen vom 11. Mai 1952 gründeten Demonstrationsteilnehmer einen Untersuchungsausschuss mit dem Namen »Wahrheit über Essen«, der eine Öffentlichkeit für die Essener Vorfälle schaffen wollte und »eine gewissenhafte Untersuchung«30 des Essener Geschehens einforderte. Zu seinen Mitgliedern zählten auch Angehörige inhaftierter Jugendlicher und junger Erwachsener. Der Ausschuss sammelte Dokumente, Fotos, Pressemeldungen und Zeugenaussagen zu den Geschehnissen und veröffentlichte eine 16-seitige Informationsbroschüre mit dem Titel »Die Wahrheit über den Essener Blutsonntag. Tatsachenbericht über die Vorgänge in Essen am Sonntag, dem 11. Mai 1952«.31 Der Titel der Broschüre ist programmatisch, verortet er doch die Essener Geschehnisse in die Tradition polizeilicher Gewaltmaßnahmen gegen die politische Linke wie den »Berliner Blutmai«32 1932. 25 Redebeitrag Ledwohn, in: 75. Sitzung des Landtags Nordrhein-Westfalen am 17. März 1953, S. 35. Sitzungsabschnitt, in: Archiv des Landtags NRW, Landtag, Zweite Wahlperiode, Bd. 3, S. 2811. 26 Noethen: Polizei (Anm. 15), unpag. 27 Die Welt, 12. 05. 1952, Nr. 110. 28 Noethen: Polizei (Anm. 15), unpag. 29 Ebd. 30 Die Wahrheit über den Essener Blutsonntag. Tatsachenbericht über die Vorgänge in Essen am Sonntag, dem 11. Mai 1952 – Zusammengestellt an Hand von Zeugenaussagen, Dokumenten, Pressenotizen und Photos, Fulda 1952, S. 16. 31 Ebd. 32 Thomas Kurz: »Blutmai«. Sozialdemokraten und Kommunisten im Brennpunkt der Berliner Ereignisse von 1929, Berlin/Bonn 1988.
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Abb. 2: Cover der Broschüre »Die Wahrheit über den Essener Blutsonntag« (1952)
Nach juristischen Gegenmaßnahmen und Beschlagnahmungen wurde jedoch noch im gleichen Jahr der Titel der Broschüre in Teilen überklebt. Er lautete nun: »Die Wahrheit über den Essener 11. Mai 1952«.
Jugendliche vor Gericht Mit großem Elan wurde die juristische Aufarbeitung vorangetrieben und ein Verfahren gegen elf vermeintliche Rädelsführer eingeleitet. Diese wurden vom Landgericht Dortmund nach 16 Sitzungstagen zu Freiheitsstrafen wegen »Aufruhrs – in Tateinheit mit Landfriedensbruch« verurteilt. Unter den elf Angeklagten befand sich eine Frau. Die Angeklagten waren zwischen 1925 und 1934
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geboren und beruflich als Bergmänner, Bäcker, Maschinist, Arbeiter und Postfacharbeiter tätig. Drei der Angeklagten waren erwerbslos, einer war Student. Am 20. Oktober 1952 fand die 1. Große Strafkammer des Landgerichts Dortmund zu folgendem Strafmaß: Neun Strafen zwischen vier und neun Monaten Gefängnis, eine Strafe auf ein Jahr und drei Monate Gefängnis sowie zwei Jugendgefängnisstrafen über vier und fünf Monate.33 Sämtliche Angeklagten hatten zuvor seit Monaten in Untersuchungshaft gesessen. Drei der elf Angeklagten kamen über ihre Eltern aus traditionell kommunistischem Milieu. Sie zählten damit, obwohl sie »zahlenmäßig klein war[en]«, zu einem wichtigen Teil des lokalen kommunistischen Milieus, weil sie die »besonders aktive Fraktion der kommunistischen Bewegung stellte[n]«.34 Ein weiterer Angeklagter stammte aus einer verfolgten halbjüdischen Familie, sein Vater und Bruder waren im KZ wegen Hochverrats inhaftiert worden bzw. hatten im Zwangsarbeitslager überlebt.35 Manche der Angeklagten hatten nie der FDJ angehört.36 Eine von der Verteidigung beantragte Revision der Urteile blieb ohne Erfolg und wurde 1954 verworfen.37
Polizeiliche Feindbildkonstruktionen Die Freiheitsstrafen wurden ausgesprochen, obwohl die Aussagen der eingesetzten Polizisten offensichtlich abgestimmt waren: Darauf verweisen unter anderem die expliziten Angaben zu den Wurfgeschossen der Demonstranten, die in vielen Einzelvernehmungen zum Sachverhalt übereinstimmend präzise als »scharfkantige Basaltbruchsteine«38 charakterisiert worden waren. Vor Gericht »versuchte die Polizei [zudem] nachzuweisen, daß vor dem polizeilichen Schusswaffengebrauch aus den Reihen der Demonstranten [auf die Beamten] geschossen worden sei. Als Beweis wurden Fotos von angeblichen Einschussstellen und Zeugen beigebracht.«39 Ein Schütze wurde jedoch nie ermittelt und dieses Konstrukt bezeichnenderweise nach dem Prozess nicht weiter aufgegrif33 Vgl. Urteil der 1. Großen Strafkammer des Landgerichts Dortmund v. 20. 10. 1952, in: LAV NRW R, Ger Rep 169, Nr. 67, unpag, [Bl. 133f.]. 34 Kössler: Abschied (Anm. 1), S. 438. 35 Vgl. Urteil der 1. Großen Strafkammer des Landgerichts Dortmund v. 20. 10. 1952, in: LAV NRW R, Ger Rep 169, Nr. 67, unpag, [Bl. 8–15]. 36 Vgl. ebd., [Bl. 14]. 37 Vgl. Urteil des 6. Strafsenats des Bundesgerichtshofs v. 12. 05. 1954, in: LAV NRW R, Ger Rep 169, Nr. 67, unpag. 38 Lt. den separat aufgenommenen Aussagen des Polizeikommissars K. u. der Polizei-Wachtmeister H. u. M. auf der Polizeistation Troisdorf am 14. 05. 1952, in: LAV NRW R, Ger Rep. 169, Nr. 66, unpag. 39 Noethen: Polizei (Anm. 15), unpagniert; vgl. »Beschädigungen polizeieigener Fahrzeuge und Ausrüstungsgegenstände« und »Lichtbilder zum Aufruhr am 11. 5. 1952 in Essen«, in: LAV NRW R, NW 34, Nr. 10, Bl. 312–331, 332–334.
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fen. Während die juristischen Verfahren gegen die Demonstranten zügig vorangebracht wurden, vermittelte die juristische Aufarbeitung des polizeilichen Schutzwaffeneinsatzes ein anderes Bild: Die Verfahren gegen »unbekannte Täter [gemeint sind Polizeibeamte, A. K.] wegen Mordes, hilfsweise Todschlages, hilfsweise fahrlässiger Tötung«40 und auch die gegen Unbekannt wegen Körperverletzung wurden unter Berufung auf das am 20. Oktober 1952 verkündete Urteil der Strafkammer Dortmund und in diesem Verfahren getroffene Feststellungen im Februar 1953 nicht weiter verfolgt. Bei der Polizeiaktion sei »ein Überschreiten oder ein Missbrauch des Ermessens nicht zu erkennen«. Das gleiche gelte für den »Gebrauch der Schusswaffe«. Es könne »nicht zweifelhaft sein, dass hier eine gegenwärtige Gefahr für Leib und Leben der eingesetzten Polizeibeamten bestand«.41 Auffällig ist die sprachliche Praxis der Polizeibeamten: Keine zehn Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs waren nicht nur mit den gewalthaften Auseinandersetzungen gegen Ende der Weimarer Republik verbundene Begriffe wie »Straßenkampf« im Gebrauch, sondern es wurden wenig distanziert auch eng mit der Gewalthaftigkeit der NS-Herrschaft verknüpfte gewaltgeschichtliche Begriffe wie »Einsatzgruppe« und Verben wie »säubern« verwendet.42 So hatte z. B. die »Einsatzgruppe« des Zeugen W. »aus Richtung Gruga die Norbertstrasse gesäubert«.43 Ähnliche wertende Zuspitzungen finden sich in Berichten des Chefs der Essener Polizei vom 26. Mai: Es ist von »Fronten«, »Frontverlauf«, »Straßenkämpfen« und »Aufrührern«44 die Rede. Vor der Gruga agitierten »Ostzoneninstrukteure« und »Instrukteure der FDJ«45 zum Verbleib der Demonstranten. An der Alfredbrücke »säuberten Sonderkommandos die Böschung des anliegenden Geländes der Bundesbahn von dort lagernden ca. 60 Personen«.46 Für V-Männer des Staatsschutzes lag das Ziel der Jugendkarawane in der »Bolschewisierung Gesamtdeutschlands«,47 womit »zu tief sitzenden Ängsten vor dem
40 Dr. jur. Ewald Rudolf, München, Strafanzeige v. 15. 06. 1952 an die Oberstaatsanwaltschaft Essen, in: LAV NRW R, Ger Rep. 169, Nr. 66, unpag. 41 Ebd. 42 Vgl. Karl-Heinz Brackmann, Renate Birkenhauer: NS-Deutsch. Selbstverständliche Begriffe und Schlagwörter aus der Zeit des Nationalsozialismus, Straelen 1988, S. 166. 43 Schreiben des Oberstaatsanwalts Essen an Rechtsanwalt Dr. Rudolf, München v. 12. 02. 1953, in: LAV NRW R, Ger Rep. 169, Nr. 66, unpag. 44 Bericht des Chefs der Polizei der Stadt Essen v. 03. 07. 1952, in: LAV NRW R, NW 34, Nr. 10, Bl. 263–341, hier 249–250. 45 Bericht über die Vorgänge am 11. 05. 1952 in Essen anlässlich des Westdeutschen Treffens der jungen Generation des Chefs der Polizei Essen, Polizei-Direktor Knoche, in: LAV NRW R, Rep. 169, Nr. 66, unpag. 46 Ebd. 47 Aussage des V-Mannes B. v. 19. 06. 1952, in: Geheimer Aktenvermerk hinsichtlich der Personen, die im Zusammenhang mit den Essener Zusammenstößen von FDJ-Demonstranten
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Kommunismus und ›den Russen‹«48 in der westdeutschen Bevölkerung Angebote zur Verknüpfung offeriert wurden. Es fehlte nur noch das Aufgreifen antisemitischer Stereotype, wie es im Kontext von Publikationen der halboffiziellen Organisationen »Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit« (KgU) bzw. des »Volksbundes für Frieden und Freiheit« geschah, die, finanziert von der CIA und vom Ministerium für Gesamtdeutsche Fragen, mit logistischem Beistand der westdeutschen Regierung operierten.49 Ebenso bemerkenswert ist die posthume Stilisierung Philipp Müllers zum »Rädelsführer«: »Müller war Rädelsführer«, er habe »Befehle und Anweisungen an die Aufrührer«50 erteilt. Zunächst konnte die Polizeibehörde München über eine FDJ-Zugehörigkeit Müllers »noch nichts Genaues in Erfahrung« bringen. »Aus der Tatsache jedoch, daß der Verstorbene bereits mehrfach einen Interzonenpaß für Reisen nach Ostberlin beantragt hat, dürfte auf Verbindungen zur Ostzone zu schließen sein«.51 Das Bundesamt für Verfassungsschutz schrieb, anders als die Münchner Polizei, der Rolle Müllers am Demonstrationstag posthum eine deutlich größere Bedeutung zu: Nun zählte Philipp Müller, obwohl dieser mit seiner Frau in der Ostzone gelebt haben sollte, zu einer »aus München […] eingesetzten Schlägertruppe«,52 hielt er sich doch in Essen an den Orten der Auseinandersetzung auf, »wo der Aufruhr am stärksten tobte«.53 Müller sei mit einer sogenannten »Schützengruppe aus der Ostzone«54 eingesetzt worden, die sich wenig später schon zum »Schützenzug aus dem Osten«55 weiterentwickelt hatte. Die nachträglich ersonnene Rädelsführerschaft Philipp Müllers fand ihren Höhepunkt in dem geheimen Bericht des Chefs der Polizei der Stadt Essen vom 3. Juli 1952, der als Sonderakte über den Regierungspräsidenten in Düsseldorf an den Innenminister Nordrhein-Westfalens ging. Hier heißt es in der abschließenden Stel-
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und Polizei vom 11. 05. 1952 der Vorbereitung eines hochverräterischen Unternehmens verdächtig sind, in: LAV NRW R, NW 34, Nr. 9, Bl. 310–340, hier Bl. 340. Frank Biess: Republik der Angst. Eine andere Geschichte der Bundesrepublik, Reinbek bei Hamburg 2019, S. 123. Vgl. das Broschürencover bei Kurt Zentner: Heil Stalin. Eine Fibel für die Bedrohten, Gelsenkirchen 1950. Aussage Polizeiwachtmeister K., in: Bericht des Chefs der Polizei der Stadt Essen v. 03. 07. 1952, in: LAV NRW R, NW 34, Nr. 10, Bl. 244, 263–341. Bericht der Polizeibehörde der Stadt Essen, Der Chef der Polizei, an Ministerpräsident Arnold v. 12. 05. 1952, in: LAV NRW R, NW 34, Nr. 9, Bl.171–177, hier Bl. 175. Geheimer Aktenvermerk hinsichtlich der Personen, die im Zusammenhang mit den Essener Zusammenstößen von FDJ-Demonstranten und Polizei vom 11. 05. 1952 der Vorbereitung eines hochverräterischen Unternehmens verdächtig sind, in: LAV NRW R, NW 34, Nr. 9, Bl. 310–340, hier Bl. 318. Ebd. Stadt- und Polizeiamt Bremen an die Kriminalpolizei Essen am 16. 05. 1952, in: LAV NRW R, NW 34, Nr. 10, Bl. 304. SSD-Fernschreiben des 8. Kommissariats der Kriminalpolizei Essen an das Stadt- und Polizeiamt v. 21. 05. 1952, in: LAV NRW R, NW 34, Nr. 10, Bl. 305.
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lungnahme des Essener Polizeichefs, dass am 11. Mai »eine einheitliche Führung der größeren Widerstandsabteilung Müller beobachtet worden«56 sei. Von der Demonstration über den Straßenkampf zum Aufstand im Innern. Hier wird das Bild des Insurgenten entworfen, der in die westdeutsche Gesellschaft »einsickert«. Welch konsequente Hinführung zu dem Ziel, dass ein solcher Gegner eine brachiale und robuste Gegenwehr erforderlich machte.
Politisches Nachspiel Der erste Demonstrationstote in der jungen Bundesrepublik verlangte nach einer politischen Aufarbeitung. Sie fiel bemerkenswert aus. Erstaunlich zeitnah zum Vorfall, am 13. Mai 1952, bestand unter den Vertretern von CDU, FDP, Zentrum und SPD Konsens darüber, dass es sich bei der Essener Veranstaltung – so der spätere sozialdemokratische Ministerpräsident Heinz Kühn – ausschließlich »um eine kommunistisch getarnte Demonstration gehandelt habe. Es mache keinen Sinn, zu versuchen, die Kundgebungen zu verharmlosen«.57 Aufgrund der Nähe zum Ereignis könne man sich jedoch, so der Abgeordnete Groß (SPD), noch kein »exaktes Bild«58 von dem Geschehen in Essen machen. Die Hinzuziehung von »Wasserwagen« (gemeint waren Wasserwerfer) hätte – so der ehemalige Landesinnenminister und SPD-Abgeordnete Walter Menzel – die Vorgänge zwei Tage zuvor schon frühzeitig unterbinden können.59 Bis auf die Abgeordneten der KPD war man sich unter den Landtagsparteien dennoch einig, dass für das Essener Geschehen nicht die Polizei, sondern die Teilnehmer der Demonstration verantwortlich waren. In der Sitzung des Landtags vom 10. Juni 1952 kommt dieses in den Beiträgen deutlich zum Ausdruck. Für den CDUAbgeordneten Peter Busen hatten die »durchgeführten Untersuchungen […] einwandfrei ergeben, dass die Polizei provoziert und daß von der anderen Seite geschossen worden ist.« Die Ermittlungen hätten sich von daher »nicht gegen die Polizei zu richten haben, sondern gegen die Friedensbrecher von der anderen Seite.«60 Auch für Walter Menzel lag »die Schuld allein bei den radaulustigen Elementen [die] jede noch so gutgemeinte Demonstration ausnützen, um zu 56 Bericht des Chefs der Polizei der Stadt Essen v. 03. 07. 1952, in: LAV NRW R, NW 34, Nr. 10, Bl. 249, 263–341. 57 Kurzprotokoll über die 26. Sitzung des Hauptausschusses des Landtages am 13. 05. 1952, in: Archiv des Landtags NRW, Landtag, Zweite Wahlperiode, Kurzprotokoll über die 26. Sitzung des Hauptausschusses, Nr. 855/52, S. 11. 58 Ebd., S. 12. 59 Vgl. ebd., S. 10. 60 Redebeitrag Busen, in: 53. Sitzung des Landtags Nordrhein-Westfalen am 10. 06. 1952, 26. Sitzungsabschnitt, in: Archiv des Landtags NRW, Landtag, Zweite Wahlperiode, Bd. 2, S. 1929.
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Abb. 3: Wasserwerfer in der Bereitschaftspolizeiabteilung I in Bork (ca. 1953)
randalieren, weil hinter ihnen stehende Drahtzieher das fordern«.61 Gleichzeitig fragte er aber auch nach der Professionalität polizeilichen Handelns am 11. Mai 1952: »Waren die Beamten […] darin geübt, geschlossen gegen Demonstranten eingesetzt zu werden? […] Wir sind heute nicht mehr völlig davon überzeugt, daß von der Leitung alles getan worden ist, um den Gebrauch der Schusswaffe zu vermeiden.«62 Darüber hinaus sei es aber auch nicht die Aufgabe der Polizei, »wenn irgendwo ein Plakat erscheint ›Adenauer muss gehen‹ […] einzuschreiten und das Plakat abzureißen«.63 Wenig verwunderlich wurde der seitens der KPD eingebrachte Dringlichkeitsantrag auf Einsatz eines Untersuchungsausschusses mit dem Hinweis auf das laufende Justizverfahren am Landgericht Dortmund im Landtag verworfen.
61 Redebeitrag Menzel, in: 53. Sitzung des Landtags Nordrhein-Westfalen am 10. 06. 1952, 26. Sitzungsabschnitt, in: Archiv des Landtags NRW, Landtag, Zweite Wahlperiode, Bd. 2, S. 1938. 62 Ebd. 63 Ebd., S. 1938f.; vgl. auch Theodor Eschenburg: Letzten Endes meine ich doch. Erinnerungen 1933–1999, Berlin 2000, S. 165.
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Ideologische Indienstnahme der Essener Ereignisse durch die SED
Abb. 4: »Das war eine glückliche Familie« (1952)
Die politische Indienstnahme des toten Philipp Müller in der DDR kam postwendend – verlautbart durch die SED von ganz oben. Mobilisierungsmaßnahmen taten ihr Übriges: Ehrenwachen wurden abgehalten und die schwangere Witwe Ortrud Müller zu Jugendparlamentssitzungen hinzugebeten. Im Bezirk Thüringen wurden an den Berufsschulen in den ersten Tagen nach dem Tod Müllers landesweit Protestversammlungen gegen den »Überfall der ›Lehr‹-Polizei« auf die »Friedenskarawane«64 veranstaltet. In Leipzig wurde ein Jahr später eine Kundgebung vor dem Dimitroff-Museum zu Ehren Philipp Müllers am 64 Fundstellenübersicht Philipp Müller nach Schreiben des Thüringischen Hauptstaatsarchivs Weimar v. 15. 05. 2015.
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11. Mai 1953 gehalten.65 Offenbar beteiligten sich sämtliche SED-Bezirksleitungen im Jahre 1953 – so auch die des Bezirks Halle – an »Maßnahmen zum Gedenken an Philipp Müller«66. DDR-weit wurden Widmungsakte eingeleitet: In Leipzig benannten sich die Arbeitsbrigaden im VEB Blechformungswerk und VEB Mihowa nach Philipp Müller, in Cottbus wurde ein Kreiskulturhaus nach ihm benannt.67 Am 6. Mai 1953 beschloss der Leipziger Rat, die Carl-GoerdelerStraße in Philipp-Müller-Straße zu ändern. Offenkundig meinte man auf diese Weise im Magma des Widerstands verbleiben zu können. Ähnlich verfuhr man in Hoyerswerda. Der »Wohnkomplex 1« in Hoyerswerda-Neustadt, in dem bisher Straßen nach getöteten kommunistischen antifaschistischen Widerstandskämpfern gegen das NS-Regime benannt waren, erhielt zusätzlich eine PhilippMüller-Straße.68 In Erfurt war es bezeichnender Weise der frühere HerbertNorkus-Platz, ab Sommer 1945 Benaryplatz, der 1953 zum Philipp-Müller-Platz wurde.69 In den Bezirken Schwerin und Neubrandenburg wurden – nicht verwunderlich – zahlreiche landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaften mit dem Namen Philipp Müller belegt.70 Offiziell verliehen wurden darüber hinaus Phillip-Müller -Ansteckbroschen und -Medaillen. Kaum verwunderlich, da Philipp Müller als junger Mann verstarb, ist ebenso die Benennung von Kinderferienlagern und Betriebsferienlagern nach ihm, wie das Kinderferienlager »Philipp Müller« der SED-Kreisleitung Bitterfeld in Parchim/Mecklenburg71 oder der Kinderferienlager der VEB Betonwerke Leipzig und der Südharzwerke72 sowie des Seminarhauses des Zentralinstituts für Weiterbildung der DDR im brandenburgischen Ludwigsfelde.73 Hingegen erhielt Philipp Müller als Widerstandskämpfer im kapitalistischen Westdeutschland in den DDR-Geschichts- und Staatsbürgerkundebüchern keine 65 Vgl. Leipziger Volkszeitung v. 13. 05. 1952. 66 Protokoll der Sekretariatsleitung am 07. 05. 1953, in: Landesarchiv Sachsen, Abteilung Merseburg; Bestand SED-Bezirksleitung Halle, P 516, Nr. 397. 67 Vgl. Leipziger Volkszeitung v. 01. 05. 1962, 10. 05. 1963 und 09. 06. 1963. 68 Museum Hoyerswerda und Kommission zur Erforschung der Geschichte der örtlichen Arbeiterbewegung (Hg.): Straßen unserer Stadt, Hoyerswerda o. J. (Hoyerswerder Geschichtshefte 11). S. 6 u. 11. 69 Vgl. Schreiben des Stadtarchivs Erfurt v. 26. 3. 2015. Zur Benennung von Straßennamen zur Ehrung »sozialistischer« Persönlichkeiten siehe Johanna Sänger: Heldenkult und Heimatliebe. Straßen- und Ehrennamen im offiziellen Gedächtnis der DDR, Berlin 2006. 70 Vgl. Schreiben des Landeshauptarchivs Schwerin v. 27. 03. 2015. 71 Vgl. Protokoll der Bürositzungen am 07., 10., 15., 23. u. 28. 06. 1955, in: Landesarchiv Sachsen, Abteilung Merseburg, Bestand SED-Kreisleitung Bitterfeld, P 517, Nr. IV/4/4/124. 72 Vgl. Schreiben des Staatsarchivs Leipzig v. 23. 03. 2015. 73 Vgl. Josefine Wähler, Sabine Reh: Das Zentralinstitut für Weiterbildung der DDR 1962 bis 1990/1992, in: Erziehen und Bilden. Der Bildungsstandort Struweshof 1917–2017, hg. v. Landesinstitut für Schule und Medien Berlin-Brandenburg (LISUM), Berlin 2017, S. 131–166, hier S. 133. Für den Hinweis bin ich Christoph Hamann (Berlin) zu Dank verpflichtet.
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eigenen oder ausführlicheren Absätze oder Abschnitte.74 Das mag darin begründet sein, dass nach der zeitnahen politisch-ideologischen Ausschlachtung und des Abrufens seiner Heldengeschichte in den 1950er und 1960er Jahren der »Mustermensch« Philipp Müller in den späteren DDR-Jahrzehnten einen Abstieg zum Helden dritter Klasse durchmachte.75 Des zehnten Todestages wurde in der DDR 1962 dennoch mit Großkundgebungen gedacht: So versammelten sich am 12. Mai 1962 in Halle/Saale »ca. 120 000 Menschen zum Gedenken an den vor 10 Jahren von Essener Polizisten ermordeten Philipp Müller. U. a. ergriff, viel umjubelt, Jupp Angenfort das Wort und forderte die Massen auf, des Helden im Kampf gegen den Kapitalismus […] nachzueifern«.76 Besagter Josef »Jupp« Angenfort war Anfang der 1950er Jahre für die KPD in den nordrheinwestfälischen Landtag gewählt worden und hatte sich 1952 für die Einrichtung eines Untersuchungsausschusses zu den Ereignissen vom 11. Mai 1952 in Essen stark gemacht. Schon der zwanzigste Jahrestag des Todes von Philipp Müller hatte offenkundig ideologisch enorm an Bedeutung verloren. Es finden sich in den SED-Bezirks- und Kreisleitungen kaum noch Protokolle über geplante Aktionen und »Maßnahmen zum Gedenken an Philipp Müller«77 – wie es noch zur zehnjährigen Wiederkehr des Todes der Fall war. Max Reimanns Prophezeiung bei der Beerdigungsansprache im Mai 1952, »der Name Philipp Müller werde im deutschen Volke weiterleben«, war nur mit großen Abstrichen eingetroffen.
Erinnerung an den Toten in der Bundesrepublik In Westdeutschland konzentrierten sich, anders als in der DDR, in der landesweit und geschichtspolitisch gewünscht die Erinnerung an Philipp Müller vorangetrieben wurde, die Erinnerungsbemühungen auf den alljährlichen Todestag und insbesondere die Dekadenjubiläen auf zwei Städte: München als Geburtsort des Toten und Essen als historischer Ort des Geschehens. Vom Bayerischen Lan74 Vgl. Christian Siemens: Die Wehrerziehung von Kindern und Jugendlichen in der NS- und SED-Diktatur im Spiegel von Schulbüchern – ein Vergleich, Dissertation [maschinenschr.] Leipzig 2014, 2 Bde., Bd. I, S. 396–401. Mail von Dr. Christian Siemens an den Verfasser v. 17. 07. 2015. 75 Vgl. Silke Satjukow, Rainer Gries: Zur Konstruktion des »sozialistischen Helden«. Geschichte und Bedeutung, in: dies. (Hg.), Sozialistische Helden. Eine Kulturgeschichte von Propagandafiguren in Osteuropa und der DDR, Berlin 2002, S. 15–100, hier S. 28. 76 Sinngemäße Wiedergabe der Nachrichten des Deutschlandsenders vom 11. 05. 1952, 6 Uhr, durch einen Beamten der Abteilung DD2 im Polizeipräsidium München, in: Staatsarchiv München, Polizeidirektion München 9557, unpag. 77 Protokoll der Sekretariatsleitung am 07. 05. 1953, in: Landesarchiv Sachsen, Abteilung Merseburg, Bestand SED-Bezirksleitung Halle, P 516, Nr. 397.
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desamt für Verfassungsschutz wurde das zehnjährige Todesjubiläum akribisch überwacht. So vermerkte ein Beamter der Behörde am 9. Mai 1962 unter dem Betreff »Philipp-Müller-Gedächtnisfeier« in einem Schreiben an das Polizeipräsidium München: Es »beabsichtigten ehemalige Angehörige der verbotenen FDJ die Durchführung einer 10-Jahresgedächtnisfeier für Philipp Müller«78 am Grab des Friedhofs von München-Aubing durchzuführen. Auch – welch Bedrohungskulisse – der Sozialistische Deutsche Studentenbund sei zur Gedenkfeier eingeladen. Die Veranstaltung sei nicht angemeldet.79 Bereits am 10. Mai sei am Grabe des Verstorbenen ein Kranz mit der Aufschrift »Unserem unvergesslichen Freund. Die antifaschistischen Widerstandskämpfer« niedergelegt worden. Philipp Müller wurde in den Pantheon des heldischen antifaschistischen Widerstands eingeordnet – eine Binnendifferenzierung fand nicht mehr statt. Ab 1967 sollte dann Benno Ohnesorg von sozialistisch sich gerierenden Jugendgruppen in eine historische Widerstands-Ahnenreihe mit Philipp Müller eingereiht werden. Im Polizeipräsidium München ging man Anfang Mai 1962 davon aus, »daß zu der ›Feier‹ neben Mitgliedern der verbotenen FDJ auch solche der illegalen KPD erscheinen würden«.80 Für den bayerischen Verfassungsschutz gab es keinen Zweifel. Für seine Beamten handelte es sich bei der »Gedenkfeier« nicht »um eine auf die persönliche Verbundenheit zum Verstorbenen beruhende Totenehrung, sondern ganz einwandfrei um eine politische Veranstaltung, die ausschließlich der Beeinflussung und Bildung der öffentlichen Meinung dienen sollte«.81 Die Witwe des Verstorbenen »war angeblich zu diesem Grabbesuch aus der SBZ eingereist, wo sie sich seit Jahren befindet«.82 Am 11. Mai 1962, als die Teilnehmer der Gedenkveranstaltung sich vor dem Friedhof versammelten, wurde ihnen von einer großen Zahl von Kriminal- und Schutzpolizeibeamten – unter anderem wurde der Bereitschaftszug der Schutzpolizei hinzugezogen worden –, der Eintritt zum Friedhof verwehrt. Dass die Polizei an diesem Tag das traditionelle Gebot der Friedhofsruhe einhielt, davon konnte keine Rede sein: Da der Aufforderung, den Friedhofsvorplatz zu verlassen, nicht nachgekommen wurde, »erging […] durch Lautsprecher dreimalige Aufforderung an die Demonstranten«,83 den Eingang vor 78 Staatsarchiv München, Polizeidirektion München 9557, unpag. 79 Vgl. Entwurf eines Berichts des Polizeipräsidiums München, Kriminalpolizei v. 18. 05. 1962, in: Staatsarchiv München, Polizeidirektion München 9557, unpag. 80 Polizeipräsidium München, Kriminalpolizei, an die Regierung von Oberbayern v. 28. 09. 1962, in: Staatsarchiv München, Polizeidirektion München 9557. 81 Ebd. 82 Ebd. 83 VfS-Bericht an das Bayerische Staatsministerium des Innern v. 14. 05. 1962, in: Staatsarchiv München, Polizeidirektion München 9557, unpag.
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dem Friedhof zu verlassen. Potenzielle Friedhofsbesucher wurden zur Personalienfeststellung angehalten; einer wurde zur Durchsuchung ins Polizeipräsidium transportiert. Der Foto-Journalist Horst Schäfer wurde »trotz Protests unter Gewaltanwendung abgeführt und etwa 1 ½ Stunden im Leichenhaus [des Friedhofes] festgehalten«, damit eine Leibesvisitation vorgenommen werden konnte.84 Auch die Einschätzung Schäfers seitens der Kriminalpolizei des Polizeipräsidiums München als amtsbekannter »ostzonaler Reporter«, der schon seit längerer Zeit für das »sowjetzonale ›Berliner Pressebüro GmbH‹ […] als Korrespondent und Bildreporter«85 arbeite, kann diesem polizeilichen Vorgehen seine große Pietätlosigkeit nicht nehmen. Nicht nur zu den runden Jubiläen, sondern auch außerhalb dieser überwachte die Münchener Polizei auf Bitte des bayerischen Landesverfassungsschutzes über Jahrzehnte am Todestag das Grab. Das betreffende polizeiliche Kommissariat legte folgerichtig einen »Sonderordner ›Aubinger Friedhof‹« an, in dem nach und nach die Ergebnisse der Observationen festgehalten wurden. Die Anführung eines Vermerks aus der Akte über eine erfolgte Observation am 12. Mai 1966 zwischen 9:15 und 15:10 Uhr soll an dieser Stelle exemplarisch erfolgen: »Betreff: Jährung des Todestages von Philipp Müller«. Es sei »zu diesen Zeiten am Grabe des Philipp Müller weder ein Kranz noch ein Blumengebinde niedergelegt worden«. Das Grab sei »schön geschminkt und gepflegt. Um 15:10 Uhr [seien] 2 Frauen, eine ältere und eine jüngere, am Grabe«86 gewesen. Am historischen Demonstrationsort in Essen blieb umtriebig das Kommissariat 14 des dort ansässigen Polizeipräsidiums, das durch den Tod von Philipp Müller immer wieder in der Nachkriegszeitläufte mit politischen Erinnerungspraktiken konfrontiert wurde, so zum Beispiel durch eine von der Sozialistischen Deutschen Arbeiterjugend (SDAJ) veranstaltete »Philipp-Müller-Woche« vom 4. bis 12. Mai 1982,87 an der auch »Zeitzeugen« der Vorfälle aus dem Jahre 1952 teilnahmen. Eifrig sammelte man Plakate der SDAJ zu dieser erinnerungspolitischen Themenwoche, Flugblätter und Aufrufe zu einer ganztägigen Mahnwache am 11. Mai 1982 am Rüttenscheider Stern, dessen Umbenennung in »PhilippMüller-Platz« die SDAJ Essen forderte.88 Im Jahre 1987 wurde dann eine Mahnwache des DKP-Ortsvereins Essen-Rüttenscheid organisiert, die zum Todestag Philipp Müllers am 11. Mai 1987 mit 25 Teilnehmern an der Rütten84 Klage des RA Till Burger (Mandant Journalist Horst Schäfer) gegen die Landeshauptstadt München (Amt für öffentliche Ordnung) v. 09.08. 1962, in: Staatsarchiv München, Polizeidirektion München 9557, unpag. 85 Polizeipräsidium München, Kriminalpolizei, an die Regierung von Oberbayern v. 28. 09. 1962, in: Staatsarchiv München, Polizeidirektion München 9557, unpag. 86 Bericht K III v. 12. 05. 1966, in: Staatsarchiv München, Polizeidirektion München 9557, unpag. 87 LAV NRW R, BR 2048, Nr. 46, unpag. 88 Vgl. ebd.
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Abb. 5 : Umzug der SDAJ zum Gedenken an Philipp Müller, 12. Mai 1982
scheider Straße/ Ecke Grugaplatz in Essen stattfand. Mit ihr wurde der hehre Anspruch vertreten, mit »Philipp Müllers Vermächtnis – den Frieden [zu] sichern«.89 Zudem wurde auf Flugblättern ein Gedenkstein für Philipp Müller gefordert und diesem ein großer Einsatz für eine friedliche Zukunft Deutschlands zugeschrieben. Er – Philipp Müller – sei »das erste Opfer der Militarisierung in der Bundesrepublik« gewesen. Weitere seien in der Geschichte der Bundesrepublik hinzugekommen: »Philipp Müller war ein Repräsentant der ersten Friedensbewegung nach dem Kriege, die heute zu einer Massenbewegung geworden ist. In der DDR wurden zahlreiche Schulen, Heime und Straßen nach Philipp Müller benannt. Was dort möglich ist, sollte auch bei uns möglich sein. Wir fordern darum: Zur Erinnerung an die Anfänge der Friedensbewegung soll ein Philipp-Müller-Gedenkstein an der Rüttenscheider Brücke errichtet werden«.90
89 Vermerk des 14. Kommissariats der Polizei Essen v. 12. 05. 1987, in: LAV NRW R, BR 2045, Nr. 3, Bl. 11. 90 Ebd.
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Das Jubiläum nach der Wiedervereinigung 2012 sollte dann am Ort der 1952er-Ereignisse endgültig die symbolische Erinnerungspolitik zu einem konkreten vorläufigen Zwischenergebnis finden. Es wurde eine »Mahntafel« zum Tod von Philipp Müller mit folgendem opulenten Text aus der Feder des Essener Stadtarchivleiters entworfen: »Philipp Müller kam nach Essen, um hier am 11. Mai 1952 mit Friedensbewegten aus Parteien, Gewerkschaften, Kirchen und Nichtorganisierten an der sogenannten ›Jugendkarawane‹ teilzunehmen und so gegen die Wiederbewaffnung der Bundesrepublik sieben Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs zu protestieren. Wenige Tage zuvor war die Demonstration von der Polizei verboten worden. Dennoch versammelten sich einige Tausende an der Gruga. Beim Versuch, die Demonstration aufzulösen, kam es zu schweren Auseinandersetzungen, bei denen die Polizei von der Schusswaffe Gebrauch machte. Eine Kugel traf Philipp Müller tödlich. Bernhard Schwarze und Albert Bretthauer überlebten schwer verletzt. Philipp Müller war der erste – und für längere Zeit einzige – Demonstrant, in der BRD, der durch den Schusswaffengebrauch sein Leben verlor, denn die Polizei änderte nach dem tragischen Vorfall ihr Verhalten bei Demonstrationen«.91 Das Erinnerungsschild wurde im Herbst 2012 an der Rüttenscheider Brücke angebracht. Der gemeinsam eingebrachte Antrag von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und Die Linke auf Umbenennung eines Teilstücks der Rüttenscheider Straße in Philipp-Müller-Straße wurde jedoch in der Bezirksvertretung II der Stadt Essen am 23. August 2012 mehrheitlich abgelehnt.92 Mit der OutdoorErinnerungstafel hatte es das FDJ-Mitglied Philipp Müller nach jahrelangen Debatten in den Geschichtsatlas der Ruhrgebietsmetropole geschafft. Besser ließe sich symbolisch der seit den 1970er Jahren eingeleitete Wandel in der geschichtskulturellen Selbstrepräsentation der Ruhrmetropole nicht fassen.
Fazit Aus den Vorkommnissen am 11. Mai 1952, ihrer Aufarbeitung durch Politik, Polizei und Justiz und den Reaktionen in der Öffentlichkeit lassen sich unterschiedliche Schlüsse ziehen. Die Auseinandersetzungen vor Ort zu Beginn der 1950er Jahre spiegeln Facetten des Kalten Krieges auf Landes- und regionaler 91 Anlage im Schreiben des Stadtarchivs Essen v. 23. 03. 2015. 92 Vgl. Auszug aus der Niederschrift über die Sitzung der Bezirksvertretung für den Stadtbezirk II vom 24. 05. 2012 – Öffentlicher Teil –, in: Zwischenarchiv des Stadtarchivs Essen. Zu den bereits zehn Jahre zuvor 2002 betriebenen Widmungsanstrengungen für Philipp Müller einer »Initiativgruppe für die Rehabilitierung der Opfer des kalten Krieges« in München siehe Klein: Müller (Anm. 5), S. 105.
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Abb. 6: Philipp-Müller-Mahntafel, Essen 2012
Ebene wider. Zudem verweisen die verwendeten Begrifflichkeiten und der Sprachduktus von Polizei und Staatsanwaltschaft auf Kontinuitäten zu symbolischen und realen Praktiken der Exekutive in der Zeit der NS-Herrschaft. An den Konfrontationspraktiken von Demonstranten und Polizei lässt sich darüber hinaus die Mechanik der historischen gewalthaften Konfrontationen in der Endphase der Weimarer Republik wiedererkennen: Zum Déjà-vu zählt das Aufgreifen der »Straßenkampf«-Metapher seitens der Polizei ebenso wie das Bemühen der FDJ-nahen Öffentlichkeitsarbeit, den 11. Mai 1952 in die Tradition des Berliner »Blut-Mai« 1932 und des »Blutsonntags« (17. Juli 1932) von Hamburg und an die dabei gemachten Erfahrungen einzuordnen. Wir sind damit Zeugen einer doppelten mentalen Restauration. Dass die KPD noch in den 1950er Jahren durchaus als Milieu-Partei einzuordnen ist, wird auch an der Gruppe der Angeklagten deutlich, von der ein Teil dem traditionell kommunistischen Umfeld entstammte. 1952 war es noch nicht Teil der politischen Kultur, Demokratie auf der Straße zu vollziehen. Stattdessen wurde im Fall der »Jugendkarawane« von Essen der Kalte Krieg der »Großen« exemplarisch vor Ort im Kleinen durchexerziert. Von daher ist ein interessengeleitetes Herangehen an den Fall Philipp Müller auf den Seiten der Hauptakteure in unterschiedlicher Schwerpunktsetzung erkennbar: Auf polizeilicher Seite ging es um die nachträgliche Legitimierung des Schießbefehls, die Politik
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suchte auf der anderen Seite Nutzen aus dem Vorfall zu ziehen, indem sie die Modernisierung der Polizei und ihrer Ausbildungsinstitutionen vorantrieb. Im Fall Philipp Müller haben wir es mit einer doppelten Kampagne zu tun: Zum einen mit der Diffamierung sämtlicher Friedenskarawanenteilnehmer als von der DDR instruierte Kommunisten in der Bundesrepublik; zum anderen mit der posthumen Erhöhung und Integration Philipp Müllers in den Pantheon des antifaschistischen Widerstandskampfes des sozialistischen Deutschland. Was bleibt, ist der ernüchternde Befund, dass zwischen den Mühlsteinen beider Kampagnen die durchaus nachvollziehbaren Ziele der jungen westdeutschen Friedensbewegung samt ihren Protagonisten schon sieben Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs nahezu völlig verlorengegangen sind.
Abbildungsnachweis Abb. 1: Werner Dolata: Chronik einer Jugend. Katholische Jugend im Bistum Berlin 1936– 1949, Hildesheim 1988, S. 203. Abb. 2: Die Wahrheit über den Essener Blutsonntag. Tatsachenbericht über die Vorgänge in Essen am Sonntag, dem 11. Mai 1952 – Zusammengestellt an Hand von Zeugenaussagen, Dokumenten, Pressenotizen und Photos, Fulda 1952. Abb. 3: Sammlung Egon Thiel, Düsseldorf. Abb. 4: Stadtgeschichtliches Museum Leipzig, PL 52,183a. Abb. 5: Landesarchiv Nordrhein-Westfalen Abteilung Westfalen, RWB, 31985a, 0047. Abb. 6: Pepi Baur, Essen 2019.
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Eine »Schule der Völkerfreundschaft«1? »Solidarität« und »Internationalismus« an der FDJ-Jugendhochschule »Wilhelm Pieck« zwischen parteipolitischen Vorgaben und alltäglicher Praxis
Als »Schule der Völkerfreundschaft« wurde die FDJ-Jugendhochschule »Wilhelm Pieck« im Jahre 1961 von der Tageszeitung das »Neue Deutschland« bezeichnet, nachdem hier die Ausbildung von Jugendfunktionären aus Afrika und Lateinamerika begonnen hatte.2 Durch diese öffentliche Bezeichnung im Presseorgan der SED wurde mehr als die Tatsache wiedergeben, dass nun Ausländer an der Jugendhochschule studierten. Denn mit dem Begriff der »Völkerfreundschaft« war ein parteipolitisches Konzept verbunden, das den gewünschten Umgang der DDR mit dem Ausland und das eigene Auftreten bestimmen sollte. Dieses Selbstverständnis umfasste im Rahmen der Außenpolitik die Unterstützung von sog. »Freiheitsbewegungen« in den ehemaligen Kolonialgebieten auf militärischer, finanzieller und/oder kulturell-politischer Ebene. Zu letzterer lässt sich die Ausbildung an der Jugendhochschule zählen. Gleichzeitig versuchte die SED mit der Propagierung der »Völkerfreundschaft« die DDR als ein Land darzustellen, in dem Rassismus und Fremdenfeindlichkeit nicht existierten.3 Der Begriff der »Völkerfreundschaft« umfasste damit ein Konzept, das der amerikanische Politologe James C. Scott als »public transcript« bezeichnet. Gemeint sind von den Machthabern konstruierte Diskurse, die dazu dienten, sich selbst und die eigene Weltanschauung zu inszenieren, zu rechtfertigen und zu legitimieren. Die öffentliche Inszenierung in den Medien war ein zentrales Element für diese Selbstdarstellung der DDR/SED über das Konzept der »Völkerfreundschaft«. Durch die öffentliche Inszenierung, sollte demonstriert werden, dass die Ideale der »Völkerfreundschaft« nicht nur ein leeres Versprechen waren, son-
1 Schule der Völkerfreundschaft, in: Neues Deutschland vom 25.Apil 1961, S. 4. 2 Ebd. 3 Ann-Judith Rabenschlag: Völkerfreundschaft nach Bedarf. Ausländische Arbeitskräfte in der Wahrnehmung von Staat und Bevölkerung der DDR, Stockholm 2014. S. 54–56. Zu den bekanntesten Namensgebungen zählten sicherlich der »Brunnen der Völkerfreundschaft« auf dem Alexanderplatz in Berlin oder das Kreuzfahrtschiff »Völkerfreundschaft«; vgl. ebd. S. 55.
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dern ernst genommen und realisiert wurden.4 So ist es nicht verwunderlich, dass die Betitelung der Jugendhochschule in der DDR keinen Einzelfall darstellte. Allerhand Bauwerke und Straßen wurden in der DDR in »Völkerfreundschaft« um- oder neu benannt.5 Unmittelbar mit dem Konzept der »Völkerfreundschaft« und dem daraus resultierenden geplanten Umgang mit dem Ausland waren auch die Vorstellungen von »internationaler Solidarität«, »proletarischem Internationalismus« und »antiimperialistischer Solidarität« verbunden.6 Sie stellten ebenfalls bedeutende Leitsätze dar, die durch die Politik der SED gestaltet wurden. Dementsprechend waren alle Organisationen und Institutionen in der DDR dazu angehalten, sich bei ihren Aktivitäten nach diesen Vorgaben zu richten.7 Dies galt selbstverständlich auch für die FDJ. Als Teil des Machtapparats der SED war auch sie in ihrem Handeln der Verwendung des »public transcript« der »Völkerfreundschaft« untergeordnet. Hinzu kommt, dass die Schulen in der DDR ebenfalls einen wichtigen Platz für die Festigung des »public transcript« der »Völkerfreundschaft« hatten, da sie die Erziehung der Kinder und Jugendlichen nach diesem Prinzip gewährleisten sollten.8 In der folgenden Arbeit soll daher untersucht werden, wie sich das Konzept der »Völkerfreundschaft« an der Jugendhochschule und im Umgang mit den ausländischen Studierenden wiederfinden lässt, und ob es Diskrepanzen zwischen dem ideologischen Anspruch und der Umsetzung in der alltäglichen Praxis gab. Während es vergleichbare Untersuchungen zum Umgang und der Wahrnehmung ausländischer Gastarbeiter*innen in der DDR, in Bezug auf das Konzept der Völkerfreundschaft bereits gibt, wie bspw. die Dissertation von AnnJudith Rabenschlag,9 existieren kaum Arbeiten, die sich mit der Situation der ausländischen Studierenden in der DDR befassen. Die ausführlichste Untersu4 James C. Scott: Domination and the Arts of Resistance. Hidden Transcripts, New Haven 1990, hier S. 17f. und 45–55. Komplementär zu dem »public transcript« steht das »hidden transcript«; vgl. ebd., S. 4. Dies meint Diskurse außerhalb der machthabenden Elite. Da die Jugendhochschule allerdings ein Teil der Machtstruktur von SED und FDJ war, findet das Konzept des »hidden transcripts« hier keine Anwendung. Vielmehr werden die hier behandelten Anwendungsbereiche und Umsetzungsarten der »Völkerfreundschaft« als Varianten des »public transcripts« der »Völkerfreundschaft« verstanden. 5 Rabenschlag: Völkerfreundschaft (Anm. 3), S. 55. 6 Christiane Griese: Verwandte Freunde. Der Freundschaftsbegriff in der DDR-Schule, in: GEP, 1995, Nr. 9. S. 505–514, hier S. 509; Christiane Griese, Helga Marburger: »Sozialistischer Patriotismus« und »proletarischer Internationalismus« – Inhaltsanalytischer Überlegungen zu einer zentralen Bildungs- und Erziehungskategorie in der Schule der DDR, in: Pädagogische Rundschau, 1997, Nr. 2. S. 165–178, hier S. 169f. 7 Detlev Brunner: DDR »transnational«. Die »internationale Solidarität« der DDR, in: Alexander Gallus u. a. (Hg.): Deutsche Zeitgeschichte – transnational, Göttingen 2015, S. 64–80, hier S. 64– 67. 8 Rabenschlag: Völkerfreundschaft (Anm. 3). S. 57. 9 Ebd.
»Solidarität« und »Internationalismus« an der FDJ-Jugendhochschule
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chung dürfte die Arbeit des irischen Historikers Damian Mac Con Uladh darstellen, der das studentische Leben ausländischer Studenten*innen in der DDR bis 1970 untersucht hat. Er widmet sich sowohl den Fragen nach den Motiven der DDR, verbunden mit den Versprechen von »Solidarität« und »Internationalismus«, ein Ausländerstudium anzubieten, als auch dem Umgang mit den Studierenden innerhalb und außerhalb des universitären Systems. Er kommt zu dem Schluss, dass die außenpolitischen Ziele der DDR maßgeblich für das Angebot von Studienplätzen für Ausländer*innen waren. Durch den schlechten Umgang mit den Studierenden seien solche Ziele in der Regel aber nicht erreicht worden.10 Im ersten Teil dieses Beitrages soll eine Einordnung der Begriffe und Konzepte von »Völkerfreundschaft«, »internationaler und antiimperialistischer Solidarität« und von »proletarischem Internationalismus« in der DDR und deren Bedeutung für die Arbeit der FDJ erfolgen. Dies geschieht in Anlehnung an die Arbeiten von Detlev Brunner11, Hermann Wentker12 und Frank Bösch13. Im zweiten Kapitel geht es um die Anwendung und Umsetzung des parteipolitischen Konzepts an der Jugendhochschule. Die Auswertung setzt bei der Gründung der Schule 1946 und deren Beziehung zum Komsomol14 bzw. zur Sowjetunion an, die kurz nach dem Krieg im Zentrum der internationalen Zusammenarbeit standen. Hierzu wurde in der DDR vor allem der Begriff des »proletarischen Internationalismus« verwendet.15 Des Weiteren erfolgt eine Analyse von Lehrplänen und anderen Grundsatzdokumenten der Jugendhochschule, um zu untersuchen, wie die Konzepte »Völkerfreundschaft«, »Solidarität« und »Internationalismus« gelehrtt bzw. anerzogen werden sollten und wie sich die politischen Vorgaben in den Unterrichtsinhalten und den Bildungs- und Erziehungszielen der Jugendhochschule wiederfinden lassen. Da diese Dokumente sich aber nicht dazu eignen, die pädagogische Praxis wiederzugeben und zwischen Ansprüchen und der alltäglichen Wirklichkeit oftmals eine Diskrepanz herrscht, soll im dritten Kapitel untersucht werden, wie sich die praktische Umsetzung dieser normativen 10 Damian Mac Con Uladh: »Studium bei Freunden?« Ausländische Studierende in der DDR bis 1970, in: Christian Th. Müller, Patrice G. Poutrus (Hg.): Ankuft – Alltag – Ausreise. Migration und interkulturelle Begegnung in der DDR-Gesellschaft, Köln 2005, S. 175–220. Zum Forschungsstand zu ausländischen Studierenden in der DDR vgl. ebd., S. 175. 11 Brunner: DDR (Anm. 7). 12 Hermann Wentker: Für Frieden und Völkerfreundschaft? Die DDR als internationaler Akteur, in: Thomas Großbölting (Hg.): Friedensstaat, Leseland, Sportnation? DDR-Legenden auf dem Prüfstand, Berlin 2009, S. 155–176. 13 Frank Bösch: Internationale Solidarität im geteilten Deutschland. Konzepte und Praktiken, in: Frank Bösch, Caroline Moine, Stefanie Senger (Hg.): Internationale Solidarität. Globales Engagement in der Bundesrepublik und der DDR, Göttingen 2018, S. 7–35. 14 Die Jugendorganisation der KPdSU. 15 Griese: Freunde (Anm. 6), S. 511.
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Bildungs- und Erziehungsziele von »Völkerfreundschaft«, Solidarität« und »Internationalismus« an der Schule äußerten. Aufgrund fehlender, aussagekräftiger Quellen in den Archiven soll sich der unterrichtlichen und alltäglichen Praxis mittels Zeitzeugenaussagen genähert werden. Diese habe ich im Rahmen meines Dissertationsprojekts mit ehemaligen Schülern aus der DDR und dem Ausland geführt, um deren Erinnerungen und Erfahrungen an die Schulzeit auszuwerten. Relevant für diese Arbeit sind vor allem die Erinnerungen an das Zusammenleben der ausländischen und deutschen Schüler*innen. Dies sollte Anhaltspunkte darüber geben, ob sie »Völkerfreundschaft«, »Solidarität« und »Internationalismus« als Prinzipien des Handelns angenommen haben, und ob sie im Alltag umgesetzt wurden.
Die Konzepte von »Völkerfreundschaft«, »Solidarität« und »Internationalismus« in der DDR Unter »Völkerfreundschaft« verstand die DDR ein Verhältnis von Verbundenheit und gegenseitiger Unterstützung zwischen den sozialistischen und »antiimperialistischen« Staaten. Als gemeinsames Ziel und verbindendes Element wurde der gemeinsame Einsatz gegen Ausbeutung und Unterdrückung der Arbeiterklasse ausgegeben.16 Das Konzept der »Völkerfreundschaft« spielte für die DDR sowohl innen- als auch außenpolitisch eine bedeutende Rolle, da es die Art und Weise vorgab, wie Ausländer und andere Nationen zu behandeln seien. Im Inneren sollte »Völkerfreundschaft« vor allem einen respektvollen Umgang mit den Angehörigen anderen Nationen und Kulturen bedeuten. Wie Rabenschlag herausgearbeitet hat, gab es seitens der DDR dennoch kaum Bemühungen, Ausländer*innen in die DDR zu integrieren oder ein »harmonisches« Zusammenleben zu gestalten. Sie sieht den hauptsächlichen Anwendungsbereich des Konzepts der »Völkerfreundschaft« in der Außenpolitik. Hinter dem »public transcript« der »Völkerfreundschaft« stand aber nicht nur der Wunsch für eine Verbesserung der Lebens- und Arbeitsverhältnisse der Arbeiterklasse in den jeweiligen Ländern zu sorgen. Auch eigene wirtschaftliche und geopolitische Interessen wurden verfolgt. Elementar ist vor allem das Ziel, sichinternational zu profilieren, die diplomatische Anerkennung zu erhalten und sich von der BRD abzugrenzen. Durch die als uneigennützige ausgegebene Unterstützung der »Befreiungsbewegungen« wollte die DDR international als gerechter und besser
16 Hans-Joachim Laabs u. a. (Hg.): Artikel »Freundschaft« in: Pädagogisches Wörterbuch, Berlin (Ost) 1987, S. 140f.
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erscheinen als die BRD. Das »public transcript« der »Völkerfreundschaft« diente der DDR international zur eigenen Inszenierung.17 Zum »public transcript« der »Völkerfreundschaft« gehörte auch die Vorstellung von »Solidarität«.18 »Solidarität« bedeutet im engeren Wortsinn die Verbundenheit innerhalb einer Gruppe, das Zusammengehörigkeitsgefühl und die gegenseitige Unterstützung. Oftmals findet sich auch der Terminus »Brüderlichkeit« als Synonym im Sprachgebrauch wieder. Dieser Begriff wurde bereits im Laufe der Französischen Revolution populär. Seit Beginn des 19. Jahrhunderts wurde vermehrt der Begriff »Solidarität« genutzt, ohne dass eine Veränderung des semantischen Inhaltes erfolgte.19 Die Veränderung im Sprachgebrauch geht auf die sozialistische Arbeiterbewegung zurück, die das politische und gesellschaftliche Verständnis von »Solidarität« maßgeblich prägte.20 Hier wurde unter »Solidarität« die gegenseitige Unterstützung innerhalb der Mitglieder der Arbeiterklasse im Kampf gegen schlechte Arbeitsbedingungen verstanden. An diese Tradition knüpfte die DDR-Politik an. In diesem Kontext rückte der Ursprung des Solidaritätsgedankens aus der christlichen Soziallehre, unter dem die Hilfe für in Not geratene Mitglieder der Gemeinschaft verstanden wurde, in den Hintergrund.21 In der DDR wurde das Konzept der »Solidarität« als zentrales gesellschaftsgestaltendes Element verstanden. Die Perspektive sollte dabei nicht auf den Umgang innerhalb der eigenen Bevölkerung begrenzt bleiben. Dies wurde mit dem Begriff und dem Konzept von »internationaler Solidarität« kommuniziert. Die wesentlichen Elemente des Solidaritätsgedanken blieben erhalten, sie sollten nur grenzüberschreitend angewendet werden. Im Falle der Arbeiterbewegung galt »internationale Solidarität« als ein Aufruf zur gegenseitigen, weltweiten Unterstützung und Zusammenarbeit gegen die vermeintliche Ausnutzung der Arbeiter. Diese Richtung der weltweiten, solidarischen Zusammenarbeit innerhalb der Arbeiterbewegung fand in Form des »proletarischen Internationalismus« statt. Als besondere Richtung der »internationalen Solidarität« manifestierte sich die »antikolonialistische« bzw. »antiimperialistische Solidarität« in der Politik der sozialistischen Staaten. Dies meinte die Unterstützung der »Entwicklungsländer« gegen ehemalige Kolonialherren. Es sollten die Menschenrechte beachtet und der Sozialismus eingeführt werden. Nach den Weltkriegen wurde auch der »gemeinsame Kampf« der Arbeiterklasse gegen den Faschismus zum Bestandteil des »public transcripts«. Die hohe Bedeutung des Konzepts der »internationalen Solidarität« für die DDR zeigt sich darin, dass sie 17 18 19 20 21
Rabenschlag: Völkerfreundschaft (Anm. 3), S. 54–59. Laabs: »Freundschaft« (Anm. 16), S. 140f. Man denke hier v. a. an die Trias »Freiheit – Gleichheit – Brüderlichkeit«. Bösch: Solidarität (Anm. 13), S. 8f. Gerhard Beier: Artikel »Solidarität und Brüderlichkeit«, in: Thomas Meyer u. a. (Hg.): Lexikon des Sozialismus, Köln 1986, S. 547–550, hier S. 549.
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durch die Politik zum offiziellen Selbstverständnis und zur Basis allen Handels erklärt wurde. Dies zeigt sich bspw. in den »zehn Geboten für den neuen sozialistischen Menschen«, die von Walter Ulbricht auf dem V. Parteitag des SED im Juli 1958 verkündet worden waren.22 Bereits der erste Leitsatz legte fest, dass sich der sozialistische Mensch, stets »für die ›internationale Solidarität‹ der Arbeiterklasse und aller Werktätigen, sowie für die unverbrüchliche Verbundenheit aller sozialistischer Länder«23 einsetzen sollte. Des Weiteren enthielt das letzte Gebot die Vorgabe, Solidarität mit den Völkern zu üben, die um ihre nationale Unabhängigkeit kämpfen bzw. diese verteidigen.24 Wie bereits aufgeführt, bildeten diese Elemente ebenfalls den Kern des Konzepts der »Völkerfreundschaft«.25 1968 wurde »internationale Solidarität« als Form der Unterstützung der Völker, die gegen Imperialismus und Kolonialismus, für ihre Unabhängigkeit kämpfen, in die Verfassung aufgenommen.26 All diese Begriffe stellten sowohl Prinzipien des Handels dar als auch Beschreibungen und Definitionen der zwischenstaatlichen Beziehungen. So bezog sich der Terminus »proletarischer Internationalismus« auf die außenpolitischen Beziehungen zu den sozialistischen Staaten. Die »antiimperialistische Solidarität« hingegen beschrieb das Verhältnis zu den Entwicklungsländern.27 Ähnlich wie bei dem Konzept der »Völkerfreundschaft« muss auch an dieser Stelle festgehalten werden, dass »internationale« bzw. »antiimperialistische Solidarität« oftmals nur vorgeschoben wurde, um die eigenen politischen und wirtschaftlichen Interessen verfolgen zu können.28 Der Anspruch, nach den Prinzipien der »internationalen Solidarität« und des »proletarischen Internationalismus« zu handeln, galt für jede staatliche Organisation in der DDR. Natürlich auch für die FDJ, die als »Kampfreserve und aktiver Helfer« der Partei galt.29 So heißt es im FDJ-Statut von 1959, dass die FDJ auf Grundlage des »proletarischen Internationalismus« arbeite. Es wurde betont, dass sie stets daran arbeite, die freundschaftlichen und solidarischen Verbindungen zu den fortschrittlichen Jugendorganisationen weltweit zu stärken, und dass sie Solidarität mit den Völkern übe, die um nationale Unabhängigkeit und Freiheit bemüht seien und diese unterstützen wolle. Wenn auch nicht wörtlich erwähnt, beinhaltete diese Anordnung wesentliche Merkmale von »Völker22 Bösch: Solidarität (Anm. 13), S. 8ff. 23 Zehn Gebote für den sozialistischen Menschen von 1958, abgedruckt in: Sandra PingelSchliemann: Zersetzen. Strategie einer Diktatur, Berlin 32004, S. 49. 24 Ebd. 25 Laabs: »Freundschaft« (Anm. 16), S. 141. 26 Artikel 6, Absatz 3 der Verfassung der DDR vom 6. April 1968 (Fassung vom 7. Oktober 1974). 27 Werner Hänisch u. a.: Geschichte der Außenpolitik der DDR. Abriß, Berlin (Ost) 1984, S. 24f. 28 Wentker: Frieden (Anm. 12), S. 173f. 29 Freiburg: FDJ (Anm. 30), S. 30.
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freundschaft« und »internationaler Solidarität«. »Internationale Solidarität« war damit nicht nur die offizielle und theoretische Grundlage der internationalen Arbeit der FDJ, sondern auch eines ihrer Ziele, an dessen Umsetzung stetig zu arbeiten war. Dementsprechend gehörte die Erziehung der Jugend nach den Idealen der sozialistischen Moral, die die »internationale Solidarität« als integrativen Bestandteil beinhaltete, zu den Aufgaben der FDJ.30 Sie erziehe »die Jugend der DDR im Geiste des proletarischen […] Internationalismus und der Völkerfreundschaft«31. Dazu zählte insbesondere die Erziehung zur Freundschaft mit der Sowjetunion.32 Neben der Erziehung der Jugend gehörte auch die aktive Beteiligung an der praktischen Umsetzung dieser Ziele zur Arbeit der FDJ.33 Ein gutes Beispiel hierfür sind Solidaritätsaktionen, wie bspw. für Vietnam, die sich in Spendenaktionen, der praktischen Unterstützung der vietnamesischen Wirtschaft und der Ausbildung von Jugendlichen in der DDR ausdrückte. Der Historiker Ulrich Mählert beschreibt, dass sich Aktivitäten unter diesem Schlagwort unter den Jugendlichen großer Zustimmung erfreuten. Er führt dies vor allem auf eine große Sympathie mit den Befreiungsbewegungen und einer gewissen »Revolutionsromantik«34 zurück. Dies nutzten SED und FDJ dazu, die Idee der »antiimperialistischen Solidarität« und gleichzeitig die Ablehnung des »westlichen Klassenfeindes« und seiner »imperialistischen und neokolonialistischen Politik« zu stärken und zu rechtfertigten. Für den Staat stellten solche Solidaritätsaktionen einen Versuch dar, Zustimmung und Sympathie für die eigene Politik bei der Jugend zu erreichen.35 Bedeutend für die internationale Arbeit der FDJ waren zudem die Mitgliedschaften in internationalen Jugendvereinigungen, wie dem Weltbund der Demokratischen Jugend und dem Internationalen Sozialistischen Büro.36 Auch hier wurde das Prinzip der »Solidarität« von der FDJ als gestalterisches Element für das Handeln und die wechselseitigen Beziehungen betrachtet. Bedeutend ist, dass die FDJ als ostdeutsche Jugendorganisation in diesem Rahmen nicht nur in die Rolle des Gebenden und Helfenden hineinwuchs. Sie war auch Empfängerin »brüderlicher Solidarität«37 durch die befreundeten Jugendorganisationen. Hierzu zählten sie v. a. die Unterstützung durch die Mitgliederorganisationen bei der Umsetzung bzw. For30 Statut der Freien Deutschen Jugend vom Mai 1959, abgedruckt in: Arnold Freiburg: Die FDJ. Der sozialistische Jugendverband der DDR, Opladen 1982, S. 313–342, hier S. 314. 31 Werner Lamberz, Klaus Jeutner (Hg.): Vereint mit 87 Millionen. 15 Jahre Weltbund der Demokratischen Jugend, Berlin (Ost) 1960, hier S. 173. 32 Laabs: »Freundschaft« (Anm. 16), S. 141. 33 Statut der Freien Deutschen Jugend (Anm. 30), S. 314. 34 Ulrich Mählert, Gerd-Rüdiger Stephan: Blaue Hemden – Rote Fahnen. Die Geschichte der Freien Deutschen Jugend, Opladen 1996, S. 187. 35 Ebd., S. 187f. 36 Freiburg: FDJ (Anm. 30), S. 249ff. 37 Lamberz: Millionen (Anm. 31), S. 172.
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derung eigener Interessen. So bewerteten sie Demonstrationen und Versammlungen ausländischer Jugendorganisationen in ihren Heimatländern gegen die atomare Aufrüstung der Bundesrepublik in den 1950er Jahren oder für den Abschluss eines Friedensvertrages als Ausdruck von »Solidarität« mit der DDR und der ostdeutschen Jugend.38
Die Prinzipien von »Völkerfreundschaft« und »Solidarität« an der FDJ-Jugendhochschule Die FDJ-Jugendhochschule (JHS) am Bogensee bei Berlin wurde im Mai 1946 eröffnet. Als Zentralschule der FDJ diente sie der Ausbildung von hauptamtlichen Jugendfunktionären. Konkret meinte dies bis 1948/49 die Schulung von Spitzenfunktionären für den Jugendverband. Nachdem diese Ausbildung ab 1950 an die Komsomolhochschule in Moskau verlagert wurde, wurden an der JHS nur noch Funktionäre für die Kreis- und Bezirksleitungen ausgebildet. In den ersten Jahren veränderten sich Unterrichtsinhalte und -dauer stetig. Während die Ausbildung anfangs noch sechs Wochen dauerte, wurde sie 1948 auf drei Monate verlängert und schließlich ab 1951auf ein Jahr. Die Ausbildung geschah nach dem Vorbild der Schulungen für Funktionäre des Komsomol. In erster Linie ging es um eine politisch-ideologische Schulung nach sozialistischen Idealen. In ihrer späteren Tätigkeit als hauptamtliche Funktionäre der FDJ sollten sie diese anwenden und vor allem an die Jugendlichen weitergeben. Zwischenzeitlich handelte es sich um durchschnittlich 250 bis 300 deutsche Schüler*innen in einem Jahrgang. Der Unterricht erfolgte in den Lehrbereichen Marxistisch-Leninistische Philosophie, Politische Ökonomie, Wissenschaftlicher Kommunismus, Geschichte der deutschen und internationalen Arbeiterbewegung sowie Theorie und Praxis der Jugendarbeit.39 Die Gedanken von »Völkerfreundschaft« und »proletarischem Internationalismus« bzw. »internationaler Solidarität« spielten bereits bei der Gründung der Schule 1946 eine bedeutende Rolle. So wurde die FDJ nicht müde zu betonen, dass die JHS ohne die Hilfe der Sowjetunion nicht hätte gegründet werden können. Die Sowjetische Militäradministration (SMAD) gab nicht nur die Erlaubnis zur Gründung der Schule, sondern übergab der FDJ auch das Gelände und leistete materielle Hilfe, wie bspw. beim Aufbau einer Bibliothek oder durch 38 Ebd., S. 172ff. 39 Die Jugendhochschule Bogensee. Das Institut für zeitgeschichtliche Jugendforschung lädt zum Rundgang durch das Gelände ein, in: Helga Gotschlich / Katharina Lange / Edeltraut Schulze (Hg.): Aber nicht im Gleichschritt. Zur Entstehung der Freien Deutschen Jugend, Berlin 1997. S. 207–216, hier S. 208ff.
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die Bereitstellung von Lebensmitteln. Außerdem gab sie Anleitung zur Gestaltung des Unterrichts und stellte regelmäßig Lektor*innen aus den eigenen Reihen bereit.40 Dies wurde im Endeffekt als Beweis für gelebten »proletarischen Internationalismus« ausgelegt. Die Existenz der Jugendhochschule und die dadurch gegebene Möglichkeit zur politischen Schulung wurde als Beweis von Solidarität und Freundschaft, die die Sowjetunion den Deutschen und ihrer Jugend nach Beendigung des Zweiten Weltkrieges zukommen ließ, dargestellt.41 Inwieweit dies lediglich die offiziellen Formulierungen widerspiegelte oder ob es tatsächlich von den Betroffenen so empfunden wurde, muss an dieser Stelle offenbleiben. Es ist aber auffällig, dass rechtliche Fakten wie die Tatsache, dass die SMAD der Schulgründung auf Grundlage des Potsdamer Abkommens zustimmen musste, nirgends erwähnt wurden.42 In erster Linie dürfte dies somit der öffentlichen Inszenierung einer »guten« Beziehung zur Sowjetunion und ihrem Jugendverband gedient haben. Hinzu kam, dass die Durchführung von politischen Schulungsmaßnahmen, wie im Falle der JHS, aber auch Delegationsaustausche und der Aufbau persönlicher Beziehungen, als elementare Bestandteile für den Ausbau der »Völkerfreundschaft« galten.43 Die Verwendung der Begriffe »Internationalismus« und »Solidarität« dienten somit der Inszenierung. Sie drückten sowohl das Bedürfnis der SBZ und später der DDR nach einer Orientierung Richtung Osten als auch die faktische Abhängigkeit von der Sowjetunion aus, die durch diese Begriffe beschönigt bzw. verschleiert werden konnten.44 Diese Prinzipien und Konzepte finden sich dementsprechend in den Lehrplänen und in den Bildungs- und Erziehungszielen der JHS wieder. Als ein Lehrziel wurde die Verbundenheit zu Partei und Staat anvisiert. Dies beinhaltete die Übereinstimmung mit deren politischen Zielen und ideologischen Wertvorstellungen. Dementsprechend gehörte auch die Aneignung der Prinzipien von »Völkerfreundschaft« »Internationalismus« und »Solidarität« zu den Ausbildungszielen. Ein wesentlicher Bestandteil, um diese Ziele zu realisieren, war die Erziehung zu den neuen moralischen Werten, die auf dem V. Parteitag der SED verkündet worden waren.45 Der »proletarische Internationalismus« wurde in den Lehrplänen, als ein wesentlicher Bestandteil der sozialistischen Moral behandelt. 40 Manfred Hiller: Zur Hilfe des Leninschen Komsomol bei der Gründung und Entwicklung der Jugendhochschule der FDJ von 1946 bis zum V. Parlament der FDJ 1955, in: Wissenschaftliche Zeitschrift der Wilhelm-Pieck-Universität Rostock, 1977, Nr. 26, H. 1, S. 41–46, hier S. 42, S. 44ff. 41 Wentker: Frieden (Anm. 12), S. 156ff. 42 Mählert: Hemden (Anm. 34). S. 13ff. 43 Laabs: »Freundschaft« (Anm. 16), S. 141. 44 Wentker: Frieden (Anm. 12), S. 156ff. 45 Bildungs- und Erziehungsprogramm 1958 (Anm. 45), S. 6.
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Zu dieser zu erziehen wurde wiederum als eine der Hauptaufgaben der FDJ verstanden. Dies findet sich bspw. im Bereich des historischen Materialismus, also im Fach marxistisch-leninistischen Philosophie, wieder.46 Die Erziehung zu »glühenden Verfechtern des proletarischen Internationalismus«47 sollte inhaltlich durch die Anerkennung der führenden Rolle der KPdSU in der internationalen Arbeiterbewegung, bzw. der Sowjetunion in der sozialistischen Weltbewegung erfolgen. Für die Jugendarbeit besonders relevant war zudem die Anerkennung der führenden Position des Komsomol in der internationalen Jugendbewegung. Durch die Festigung der Beziehungen zur Sowjetunion sollte in erster Linie die Stärkung des sozialistischen Systems in der Welt erfolgen. So stellte die Erziehung zur Freundschaft zur Sowjetunion ein wesentliches Element in den Schulungsinhalten dar. Dies war die Form des »proletarischen Internationalismus«, für die sich die Jugendfunktionäre stets einsetzen, die sie verbreiten und in ihren Aktivitäten umsetzen sollten. »Proletarischer Internationalismus« bzw. »internationale Solidarität« dienten diesem Verständnis nach also weniger der Unterstützung des vermeintlich Schwächeren. Durch die wechselseitige Unterstützung innerhalb des sozialistischen Systems sollte dieses nach außen hin gestärkt und abgesichert werden. Dies lässt eine Interpretation zu, die suggeriert, dass nur durch die Anerkennung der führenden Rolle der Sowjetunion Solidarität entsteht, bzw. dass sie sich dadurch definiert und auszeichnet.48 Hiermit zusammen hängt außerdem die Tatsache, dass durch die Erziehung zur »Völkerfreundschaft« auch die Erziehung zum Frieden gewährleistet sein sollte. Weshalb ein gutes Verhältnis zur Sowjetunion als besonders wichtig behandelt wurde.49 Hierfür ist exemplarisch, dass die Sowjetunion der Ausgangspunkt aller weltweiten Beziehungen der sozialistischen Länder und deren Arbeiterparteien sei. Deshalb sei auch die »Freundschaft« zur KPdSU besonders wichtig. Um dies zu fördern, wurden die Schüler*innen im DDRLehrgang bspw. in der Geschichte der KPdSU und der Sowjetunion unterrichtet. Die »Oktoberrevolution« von 1917 gehörte dabei zu den wichtigsten und beispielgebenden Ereignissen.50 Da diese, anders als die Februarrevolution, von sozialistischen Kräften durchgeführt wurde und dem Sturz der vermeintlich kapitalistischen Regierung diente, sah man in ihr den Beginn der sozialistischen Weltrevolution, zumal aus ihr die die Gründung der Sowjetunion hervorging. Sie sollte den Erfolg der sozialistischen Weltbewegung belegen und deutlich machen, dass die Überwindung des Kapitalismus und der Aufbau des Sozialismus als logischer Entwicklungsschritt erfolgen werde – und zwar unter Führung der 46 47 48 49 50
Lehrplan für den VII. Einjahreslehrgang, BArch SAPMO DY24/25550, hier S. 5. Bildungs- und Erziehungsprogramm 1958 (Anm. 45), S. 8. Ebd., S. 8f. Laabs: »Freundschaft« (Anm. 16), S. 141. Bildungs- und Erziehungsprogramm 1958 (Anm. 45), S. 8f.
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KPdSU.51 So ist es nicht verwunderlich, dass auch die Inhalte der Parteitage der KPdSU auf dem Lehrplan standen.52 Dies spiegelt ebenfalls Elemente des Konzepts der »Völkerfreundschaf« wider.53 Im ideellen Bereich sollten die Schüler*innen so erzogen werden, dass sie für die Umsetzung des »proletarischen Internationalismus« persönliche Opfer bringen, was dies konkret meint ist hier allerdings nicht näher erläutert. Sie sollten sich damit gegen »Imperialismus« und »Revisionismus« engagieren, was wieder stärker den Bereich der »antiimperialistischen Solidarität« spiegelt, auch wenn dies hier nicht explizit so bezeichnet wurde.54 Eine Erziehung zur »Völkerfreundschaft« war in letzter Instanz auf die weltweite Vorherrschaft der Arbeiterklasse ausgerichtet. Die Zugehörigkeit zur Arbeiterklasse war dementsprechend wichtiger als die ethnische, kulturelle oder religiöse Zugehörigkeit. Bedeutend war, dass sie sich gegen den Kapitalismus verbündeten und den sozialistischen bzw. kommunistischen Aufbau der Gesellschaft realisierten.55 Dass in diesen Dokumenten vom Ende der 1950er Jahre noch nicht von »internationaler Solidarität« die Rede ist sondern nur vom »proletarischen Internationalismus«56, erklärt sich aus den außenpolitischen Prinzipien heraus, die unter »proletarischem Internationalismus« vor allem die offiziellen Beziehungen zwischen den sozialistischen Staaten verstanden, deren Festigung für die DDR in diesem Zeitraum besonders wichtig war. Wie bereits beschrieben, ging es in diesem Zeitraum in erster Linie um die Beziehungen zur Sowjetunion.57 Die Termini und Konzepte von »internationaler Solidarität« und »Völkerfreundschaft« wurden in der DDR vermehrt seit den 1970er Jahren verwendet. Dies hing mit der Ausrichtung der Weltjugendfestspiele in Berlin (Ost) 1973 zusammen. Rabenschlag gibt an, dass die Verwendung der Begriffe in erster Linie der Einstimmung bzw. Vorbereitung der eigenen Bevölkerung auf die interkulturellen Begegnungen während der Spiele diente.58 Man sollte in diesem Zusammenhang aber auch nicht die Bedeutung der eigenen Inszenierung als ein friedliches, weltoffenes Land, das den Rassismus hinter sich gelassen hat, außer Acht lassen.59 Hinzu kommt die bewusste Abgrenzung vom Westen, die mit der Verwendung dieses Begriffs ausgedrückt werden sollte.60 51 Gerhard Neuner u. a. (Hg.): Allgemeinbildung – Lehrplanwerk – Unterricht, Berlin 1972. S. 248f. 52 Bildungs- und Erziehungsprogramm 1958 (Anm. 45), S. 8f. 53 Laabs: »Freundschaft« (Anm. 16), S. 140f. 54 Bildungs- und Erziehungsprogramm 1958 (Anm. 45), S. 8f. 55 Rabenschlag: Völkerfreundschaft (Anm. 3), S. 58f. 56 Vgl. Lehrplan Einjahreslehrgang (Anm. 46) sowie Bildungs- und Erziehungsprogramm 1958 (Anm. 45). 57 Wentker: Frieden (Anm. 12), S. 155 u. S. 159ff. 58 Rabenschlag: Völkerfreundschaft (Anm. 3), S. 57. 59 Ebd., S. 54. 60 Ebd., S. 58.
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Neben der Vermittlung im Unterricht sollten diese Konzepte und Prinzipien auch praktisch aneignet, sie sollten »gelebt« werden. Das Kennenlernen von fremden Ländern und deren Kulturen wurde ebenfalls als wesentliches Element der Erziehung zur »Völkerfreundschaft« verstanden und fand sich als Inhalt an der Jugendhochschule wieder.61 Dieses Unterrichtsprinzip sah u. a. das Zusammentreffen mit Angehörigen anderer Staaten, v. a. aus dem sozialistischen Ausland vor. Da diese Treffen aber immer in einem vorgegebenen, ritualisierten Rahmen abliefen, bleibt es fraglich, wieviel tatsächlich von der fremden Kultur erfahren werden konnte oder ob dies nur den Vorstellungen der anderen Kultur durch die DDR entsprach.62 An die JHS kamen dazu regelmäßig Gastreferenten*innen, um über ihre praktischen Erfahrungen in der Jugendarbeit oder beim Aufbau des Sozialismus zu berichten bzw. um sich mit den Schüler*innen darüber zu unterhalten. Hierzu zählte bspw. der Besuch des Direktors der Komsomolhochschule aus Moskau. Dass dieser im Gästebuch die Erziehung zum »proletarischen Internationalismus« besonders lobte, dürfte in erster Linie den offiziellen Gepflogenheiten entsprochen haben. Ein entsprechender Rückbesuch durch eine Delegation der JHS gehörte ebenfalls zum Programm.63 Auch der ehemalige sowjetische Botschafter in der DDR, Wladimir Semjonow, kam mehrmals zu Aussprachen, Veranstaltungen und auch um dort seine Freizeit zu verbringen an die JHS. Kurt Bürger, zu diesem Zeitpunkt Schuldirektor, berichtet vom gemeinsamen Picknick mit Lehrer*innen und Schüler*innen sowie den Diskussionen dabei. Er beschreibt Sportwettkämpfe und die Ausrichtung eines »Kulturwettstreits«, bei dem sowohl der ehemalige Botschafter und seine Familie, als auch Mitarbeiter*innen der Schule und Schülergruppen Gedichte und Literatur rezitierten, musizierten und sangen oder kleine Schauspiele aus verschiedenen Kulturräumen aufführten. Solche Aktivitäten etablierten sich im weiteren Verlauf der Schulzeit unter den Lehrgangsgruppen als Kulturfeste. Kurt Bürger wertete dies als einen Teil der politischen Kulturerziehung und damit der Erziehung zum »proletarischen Internationalismus«.64 Des Weiteren sollten sich die Schüler*innen aktiv an Veranstaltungen beteiligen, die unter der Idee des »proletarischen Internationalismus« stattfanden.65 Ein Beispiel aus den 1950er Jahren sei eine Solidaritätsaktion an der JHS für den Sudan gewesen, welcher sich nach der Erklärung der Unabhängigkeit von Großbritannien noch immer im 61 Laabs: »Freundschaft« (Anm. 16), S. 141. 62 Rabenschlag: Völkerfreundschaft (Anm. 3), S. 27f. 63 Verein Arbeitskreis Geschichte der Jugendhochschule »Wilhelm Pieck« (Hg.): Unsere Jugendhochschule »Wilhelm Pieck« – ihr humanistisches und sozialistische Anliegen. Chronik 1946–1990, Berlin 2016, S. 30–33. 64 Kurt Bürger: Unsere Jugendhochschule »Wilhelm Pieck«, in: Zentralrat der FDJ (Hg.): Deutschlands Junge Garde, Berlin 1959, S. 111–116, hier S. 114f. 65 Bildungs- und Erziehungsprogramm 1958 (Anm. 45), S. 8f.
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Kriegszustand befand. Die Spenden wurden einer sudanesischen Delegation persönlich auf einem Fest für die afrikanische Jugend an der Schule übergeben.66 Es zeigt sich somit, dass die Anwesenheit ausländischer Gäste nicht nur als Teil eines gelebten »proletarischen Internationalismus« ausgegeben sondern auch als Mittel zur Erziehung und Bildung der Deutschen genutzt wurde.67 Hermann von Berg, Schüler im ersten Jahreslehrgang 195168, berichtet in seiner Biografie von Vorträgen von Jugendfunktionären ausländischer Jugendorganisationen, die über die politische, wirtschaftlich und soziale Situation in ihrem Land und ihres Verbandes sprachen. Er sagt aus, dass sich dadurch für ihn bzw. für alle »neue Welten« öffneten. Er bewertet diese erzieherischen Maßnahme im Rückblick sehr positiv, was auf den persönlichen Begegnungen basiere .69 Ab 1958 wurden an der JHS auch Lehrgänge für ausländische Jugendfunktionäre und Mitglieder von sog. »nationalen Befreiungsbewegungen« durchgeführt.70 Diese sollten einen Ausdruck der deutschen »internationalen Solidarität« für die »Schwächeren« darstellen.71 In diesem Falle erfolgte »internationale Solidarität« in der Form von Lehrgängen zur Unterstützung von Funktionären aus aller Welt, vor allem aus »Entwicklungsländern« und von örtlichen Befreiungsbewegungen. Zwischenzeitlich waren dies durchschnittlich 150–180 ausländische Schüler*innen.72 Als im Jahr 1961 die Internationalen Lehrgänge um Schüler*innen aus Afrika und Lateinamerika erweitert wurden, erhielt die JHS die bereits erwähnte Betitelung »Schule der Völkerfreundschaft«73. In den 1980er Jahren fand sich auch die Bezeichnung »Schule des proletarischen Internationalismus«74 wieder, die sich auf den Zeitraum ab den 1970er Jahren bezog, als die Zahlen der Teilnehmer*innen sich erneut erweiterten.75 Die ausländischen Schüler*innen sollten durch das Studium Grundkenntnisse im Marxismus-Leninismus und Erfahrungen der Verbandsarbeit der FDJ vermittelt bekommen. Außerdem sollten sie den »realexistierenden Sozialismus« in der Praxis sowie die DDR kennenlernen und Grundlagen der deutschen Sprache erwerben. Da die Initiative zur Durchführung von Internationalen Lehrgängen auf den Leninschen 66 Arbeitskreis Jugendhochschule (Anm. 63), S. 31. 67 Bürger: Jugendhochschule (Anm. 64), S. 114f. 68 Stefan Berkholz: Goebbels’ Waldhof am Bogensee. Vom Liebesnest zur DDR-Propagandastätte, Berlin 2004, S. 131. 69 Hermann von Berg: Vorbeugende Unterwerfung. Politik im realen Sozialismus, München 1988, S. 36. 70 Jugendhochschule Bogensee (Anm. 39), S. 214f. 71 Jugendhochschule »Wilhelm Pieck« (Hg.): Broschüre zum 30jährigen Bestehen, Frankfurt (Oder) 1976, S. 22f. 72 Jugendhochschule Bogensee (Anm. 39), S. 214f. 73 Schule der Völkerfreundschaft, in: Neues Deutschland vom 25.Apil 1961, S. 4. 74 Roland Bach u. a.: Jugend, Solidarität, antiimperialistischer Kampf, Berlin (Ost) 1983, S. 204. 75 Ebd.
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Komsomol zurückging, wurde die Ausrichtung solcher Lehrgänge auch als Ausdruck einer »internationalen Solidarität«, die der FDJ zuteil wurde, gewertet, ähnlich wie es bereits bei der Schulgründung der Fall gewesen war. Als »Solidarität und kameradschaftliche Hilfe«76 wurde die Unterstützung bei der Gestaltung der Lehrgänge dargestellt. Konkret meinte es die Ausarbeitung der Bildungs- und Erziehungspläne und von geeigneten Unterrichtformen, sowie den Austausch von Lektor*innen und die Bereitstellung von Materialien, vor allem von fremdsprachiger Literatur und die Teilnahme einiger Funktionäre am ersten Internationalen Lehrgang 1958.77 Für den ersten internationalen Lehrgang war der selbe Lehrplan gültig, der im vorherigen DDR-Lehrgang angewendet worden war. Dementsprechend wurden auch die ausländischen Schüler*innen nach den gleichen Prinzipien von »Solidarität«, »proletarischem Internationalismus« und »Völkerfreundschaft«, vor allem in Bezug auf die Beziehung zur Sowjetunion, erzogen.78 Zudem gibt Kurt Bürger an, dass diese Lehrgänge auch als Maßnahme der Erziehung zum »Proletarischen Internationalismus« für die deutschen Schüler*innen betrachtet bzw. genutzt wurden, ähnlich wie die Auftritte und der Besuch von ausländischen Vertreter*innen. Es sollte den deutschen Schüler*innen die Möglichkeit geboten werden, persönliche und freundschaftliche Beziehungen zu den ausländischen Funktionären aufzubauen. Die Grundlage hierfür bildete ebenfalls das Konzept des »proletarischen Internationalismus«.79 Aber auch die Prinzipien der »Völkerfreundschaft« lassen sich hier wiederfinden.80 Dies wird später in Dokumenten als eine »vom proletarischen Internationalismus geprägte politische Atmosphäre«81 beschrieben. Außerdem wird an dieser Stelle bestätigt, dass dieses Zusammensein bzw. die Zusammenarbeit als aktiver Ausdruck von »antiimperialistischer Solidarität« betrachtet wurde.82 Gefördert wurde dies durch die Einrichtung von Patenseminaren, die Betreuung von ausländischen Seminargruppen durch eine deutsche Gruppe und gemeinsame Veranstaltungen im Bereich von Sport und Kultur.83 Die ausländischen Schüler*innen hatten hier die Möglichkeit ihre Heimat zu präsentieren bspw. durch die Aufführung traditioneller Tänze.84 Der Gästebucheintrag einer Schü76 Jugendhochschule (Anm. 71), S. 23. 77 Ebd., S. 22ff. 78 Lehrplan für den Komsomollehrgang an der Jugendhochschule »W. Pieck«, BArch SAPMO, DY24/2613. S. 1. 79 Bürger: Jugendhochschule (Anm. 64), S. 114f. 80 Laabs: »Freundschaft« (Anm. 16), S. 140f. 81 Grundsätze der Zusammenarbeit zwischen Seminaren des DDR-Lehrgangs und Gruppen des Internationalen Lehrgangs, BArch SAPMO, DY24/15831. S. 1. 82 Ebd., S. 1f. 83 Jugendhochschule (Anm. 71), S. 24. 84 Berkholz: Waldhof (Anm. 68), S. 138.
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lerin aus Bulgarien bestätigt den Aufbau freundschaftlicher Beziehungen zwischen den Schüler*innen. Neben den guten Studienbedingungen rühmte sie vor allem, dass sie dort Brüder und Freunde kennengelernt hätten.85 Auf den ersten Blick lässt dieser Eintrag den Rückschluss zu, dass dieser Anspruch umgesetzt werden konnte. Da es sich bei einem Gästebuch um ein öffentliches Medium handelt, muss man diesen Eindruck auf den zweiten Blick allerdings relativieren. Denn dies war wohl kaum das Mittel, um Kritik zu äußern. Insgesamt entspricht der Eintrag in seinen Formulierungen dem offiziellen Sprachgebrauch, wie bspw. an der Verwendung des Wortes »Brüder«, das auf die »Brüderlichkeit« zurückgeht, erkennbar. Es ist zu vermuten, dass ein solcher Eintrag eine übliche Geste war, wie es auch schon bei vorherigen Beispielen angeführt worden ist.
»Solidarität« und »Völkerfreundschaft« in den Erinnerungen ehemaliger Schüler*innen Wie sich gezeigt hat, folgte die Jugendhochschule den parteipolitischen Vorgaben und räumte den Prinzipien von »Völkerfreundschaft«, »Solidarität« und »Internationalismus« einen hohen Stellenwert ein. Sie spielten für die Gestaltung von Unterricht und Freizeit eine bedeutende Rolle. Es bleibt die Frage offen, was all dies in der alltäglichen Praxis bedeutete bzw. wie die Schüler*innen die Umsetzung dieser Prinzipien im Alltag erfahren haben. Denn so schreibt bspw. der ehemalige Schüler Michael Mara, der theoretische Anspruch Ende der 1950er Jahre habe nicht der Realität entsprochen. Insbesondere bei der moralischen Festigkeit der Schüler*innen, was dementsprechend auch einen freundschaftlichen und solidarischen Umgang meinen könnte, stellte er für sich große Unterschiede zwischen Anspruch und Wirklichkeit fest.86 Wie erinnern sich andere ehemalige Schüler*innen aus späteren Jahrgängen an ihre Zeit an der JHS? Ilona Rahms87, Schülerin im 30. DDR-Jahreslehrgang 1981/82, beginnt ihre Erzählung damit, dass sie mit ihrem Patenseminar den Delegationen aus dem Jemen und Palästina bei dem Bau eines Kinderspielplatzes geholfen haben. An den Nachmittagen wurde gemeinsam gesungen, und es wurden Ausflüge nach Berlin unternommen. Weiterhin berichtet sie davon, dass man an der Jugendhochschule eine eingeschworene Gemeinschaft war. Sie hatten dort Spaß und genossen das »lustige Studentenleben«.88 Dass dem so war, bestätigen auch an85 86 87 88
Bürger: Jugendhochschule (Anm. 64), S. 114f. Berkholz: Waldhof (Anm. 68), S. 132. Name geändert. Interview mit Ilona Rahms (Name geändert) vom 28. 11. 2018 in Weimar, Min. 00:00 bis 02:30 u. 32:00 bis 32:30.
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dere Zeitzeugen. Der bereits zitierte Michael Mara berichtet ebenfalls von »nächtlichen Saufgelagen«.89 Ilona macht dabei deutlich, dass man nicht nur gerne mit den ausländischen Schüler*innen gefeiert, sondern auch, dass man dabei durchaus von ihnen profitiert habe. Man sei mit ihnen in den Intershop gefahren, habe drei Flaschen Whiskey gekauft und diese zusammen geleert.90 Es ist auffällig, dass viele der deutschen Studierenden, wenn sie anfangen über ihre Zeit an der JHS und ihre Erlebnisse mit den ausländischen Studierenden zu sprechen, sich vor allem an die gemeinsamen Aktionen erinnern, weniger an die konkreten Inhalte des Unterrichts. Solche Erinnerungen finden sich in den Zeitzeugeninterviews zuhauf. Wenn man die Umstände betrachtet, ist ein dies nicht verwunderlich, denn es handelte sich um junge Erwachsene untereinander, die oftmals das erste Mal ohne ihre Eltern von zu Hause weg waren. Natürlich soll hier nicht der Eindruck entstehen, dass es bei dem Schulbesuch nur ums Feiern ging. Aber vor dem Hintergrund eines Unterrichtes, der inhaltlich immer leerer wurde, bzw. in dem nur die offiziellen Formulierungen und Ansichten der Partei wiedergegeben wurden, wie der Historiker Wolfgang Leonhard resümiert, und die Veranstaltungen der ausländischen Jugendorganisationen an der JHS den durch Politik und Ideologie etablierten Abläufen und Gepflogenheiten entsprachen,91 ist es durchaus denkbar, dass die gemeinsamen Aktivitäten in der Freizeit zwischen deutschen und ausländischen Studierenden sehr bedeutsam waren. Dies wäre eine Erklärung dafür, dass gerade diese so deutlich erinnert werden. Allerdings muss gleichzeitig bedacht werden, dass man solche Erinnerungen vermutlich bei Menschen auf der ganzen Welt so oder so ähnlich wiederfindet, wenn sie sich an ihre Jugend erinnern, weshalb man sie als relativ »neutral« klassifizieren könnte. Mit dem Ausklammern von politischen Bezügen in den Erzählungen kann auch eine nachträgliche Distanz zur DDR und der Politik der SED verbunden sein. Genauso ist es denkbar, dass negative Aspekte im Umgang mit den ausländischen Schüler*innen, wie bspw. Rassismus, nicht berichtet werden, um besser dazustehen. Trotzdem wird deutlich, dass sich Werte und Normen, die mit den Konzepten »Völkerfreundschaft« und »internationale Solidarität« verbunden sind, in den Aussagen wiederfinden lassen. Eine Aneignung der Konzepte hat nach diesen Erinnerungen also stattgefunden. Allerdings geschah dies weniger im Sinne der parteipolitischen Vorgaben sondern in Form der engen, persönlichen Kontakte zwischen den Schüler*innen über die Grenzen der geografischen Herkunft hinaus. Begriffe wie »Solidarität« oder »Völkerfreundschaft« fallen allerdings nicht. 89 Berkholz: Waldhof (Anm. 68), S. 132. 90 Interview Rahms (Anm. 88), Min. 32:30 bis 32:49. 91 Wolfgang Leonhard: Spurensuche. Vierzig Jahre nach der Revolution entlässt ihre Kinder, Köln 42000, S. 198f.
»Solidarität« und »Internationalismus« an der FDJ-Jugendhochschule
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Anders sieht dies in den Erinnerungen und Berichten ehemaliger Studierender aus den Internationalen Lehrgängen aus. In den Erinnerungen des Mexikaners Paco Ruiz92 war die Jugendhochschule ein Ort der gelebten internationalen Solidarität. Er sagt aus, durch die Zeit an der JHS hätten die Begriffe »internationale Solidarität« und »proletarischer Internationalismus« für ihn erstmals eine reale Bedeutung erhalten. Der Grund für diese Erkenntnis liegt vor allem in der Tatsache begründet, dass sich kurz nach seiner Ankunft an der JHS, an der er im 28. Internationalen Lehrgang 1985/86 teilnahm, sich eines der stärksten Erdbeben in Mexiko ereignet hatte, bei dem mehrere Tausend Menschen ums Leben kamen und die Zerstörungen der Infrastruktur erheblich waren.93 Er berichtet davon, dass er beobachten konnte, dass in der gesamten DDR unzählige Solidaritätsaktionen für Mexiko starteten. Er beschreibt, dass er in jeder dieser Taten die Wärme und Zuneigung eines solidarischen Volkes spürte, »das den Egoismus des Kapitalismus vergessen habe und das völlig von dem Rassenhass entfernt sei, der vor Jahrzehnten zu einem schrecklichen Krieg geführt hatte«. Anhand dieser Erzählung wird vor allem Dankbarkeit deutlich, aber auch, dass er ursprünglich ein anderes, schlechteres Bild von Deutschland gehabt haben muss. Und noch mehr: Diese positiven Erlebnisse waren für ihn Anlass, selbst an Solidaritätshandlungen für andere Völker der Welt und an freiwilliger Arbeit teilzunehmen. Er wollte damit ein wenig davon zurückgeben, was die Mexikaner*innen durch die DDR erhalten hatten. Auch wenn er keine konkreten Solidaritätsaktionen für die mexikanischen Erdbebenopfer an der JHS erinnert, assoziiert er die Prinzipien der »Solidarität« mit dieser Institution. Ein Grund hierfür könnten die Solidaritätsaktionen sein, die er für andere Gruppen und Ereignisse beobachtete und selbst begleitete. Er sagt aus, dass alle seine Überzeugungen vor allem durch einen vietnamesischen Studenten gestärkt wurden, den er bei gemeinsamen Aktivitäten, an denen auch die ausländischen Studierenden teilnahmen, beobachtete. Dieser Vietnamese habe immer teilgenommen, aber seine Aufgaben seien stets darauf reduziert gewesen, Wasser zu verteilen. Der Grund sei ihm erst später klar geworden. Als er ihn bei der Begrüßung auf einer Veranstaltung umarmt habe, habe er bemerkt, dass er ein Kriegsversehrter war und eine Metallstange hatte, die seine Wirbelsäule stabilisierte. Auch eine vermeintlich einfache Arbeit, wie das Verteilen von Wasser, sei daher für ihn eine 92 Name geändert. 93 Das Erdbeben vom 19. September 1985 in Mexiko gilt als eine der größten Naturkatstrophen der jüngeren Vergangenheit Mittelamerikas. Es kamen zwischen 9.500 und 35.000 Menschen ums Leben, ca. 30.000 wurden zum Teil schwer verletzt und ca. 100.000 Menschen aufgrund der enormen Schäden an Gebäuden obdachlos. Vgl. Der Österreichische Erdbebendienst: Vor 30 Jahren: Das Mexiko-Erdbeben vom 19. September 1985. Vgl. Website: https://www.zam g.ac.at/cms/de/geophysik/news/vor-30-jahren-das-mexiko-erdbeben-vom-19.-september-19 85 [09.09.2021].
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außergewöhnliche Anstrengung gewesen. Dass er trotzdem an den Solidaritätsarbeiten teilnahm, berührte Paco sehr. Für ihn bedeutete es, dass es für niemanden eine Ausrede dafür geben dürfe, sich nicht zu engagieren.94 Im Falle Pacos und anhand seiner Erfahrungen kann man davon sprechen, dass an der Jugendhochschule die Prinzipien von »Völkerfreundschaft« und »internationaler Solidarität« auch im Alltag präsent waren. Dennoch muss man berücksichtigen, dass seine Erfahrungen und persönlichen wie emotionalen Beziehungen durch das Erdbeben in seiner Heimat und der daraus resultierenden Dankbarkeit für die Solidaritätsaktionen, die er beobachten konnte und die ihm teilweise selbst zu teil wurden, geprägt wurden. Allerdings ist dies kein Einzelfall. Auch für andere Länder und Gruppierungen gab es regelmäßig Solidaritätsaktionen an der JHS, die auch diese Schüler*innen beeindruckt haben dürften. Man könnte hier von einer erfolgreichen Inszenierung der DDR als Ort der »Völkerfreundschaft« sprechen. Aus dieser Dankbarkeit heraus entwickelten die ausländischen Schüler*innen das Gefühl von »internationaler Solidarität« und den Wunsch sie weiterzugeben. Neben der Teilhabe an bestimmten Solidaritätsaktionen und dem damit suggerierten Eindruck und Gefühl von Solidarität, lassen auch die Erinnerungen von Paco den Rückschluss zu, dass es vor allem der persönliche Kontakt war, der das Gefühl von »Solidarität« erzeugte. Die Szene mit dem Studenten aus Vietnam ist dafür bezeichnend, denn sie löste eine Art moralischen Druck auf den Mexikaner aus, sich ebenfalls solidarisch zu engagieren. Auch die Solidaritätsaktionen der DDR dürften einen solchen »Druck« bzw. »Motivation« ausgelöst haben. Einen Schüler aus Kolumbien, der in den 1960er Jahren an der JHS studierte, brachten die engen Beziehungen zu Schülern aus dem Kongo dazu über einen Kampfeinsatz im Kongo nachzudenken um die »Freunde«, die er an der hier kennengelernt hatte vor Ort zu unterstützten.95 Auch wenn diese Erinnerungen nicht repräsentativ für alle ehemaligen Schüler*innen der Jugendhochschule stehen, kann man anhand dieser Beispiele sagen, dass in den Erinnerungen »Völkerfreundschaft« und »internationale Solidarität« eine Rolle spielten und »gelebt« wurden, wenn auch in verschiedenen Varianten. Gemeinsam ist, dass dies in den Erinnerungen weniger durch den Unterricht oder durch die Umsetzung von politischen und ideologischen Vorgaben definiert wird. Im Vordergrund der Erfahrungen steht das freundschaftliche Zusammenleben in seinen verschiedensten Facetten.
94 Zusammengefasst aus den Erinnerungen von Paco Ruiz (Name geändert): Solidaridad Internacional Vivida en JHS, Chihuahua 2018 (Text im Besitz der Verfasserin). 95 Guillermo Ànibal Gärtner Tobón: Ich war dort. Guillermo Ànibal Gärtner Tobón, Escuela Superior de la Juventud – »Wilhelm Pieck«, RDA 1964/65, o.O., o. J. S. 2.
»Solidarität« und »Internationalismus« an der FDJ-Jugendhochschule
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Fazit Die Bezeichnung der Jugendhochschule als »Schule der Völkerfreundschaft« gab in erster Linie die parteipolitischen Vorstellungen und Ansprüche zum Umgang mit dem Ausland wieder, die man damit auch der Schule zusprach. Mit dem Konzept der »Völkerfreundschaft« als »public transcript« wollte sich die DDR international als friedliches Land inszenieren, in dem es keinen Rassismus gibt, das sich uneigennützig gegen Kolonialismus und Ausbeutung einsetzt und deswegen die ehemaligen Kolonialgebiete in Afrika und Asien und deren »Befreiungsbewegungen« unterstützt. Dass die JHS Teil dieser Inszenierung durch die DDR war, lässt sich schon in den Gründungsjahren der Schule wiederfinden. So wurde die Gründung der Schule als Beweis für »internationale Solidarität« und den »proletarischen Internationalismus« herangezogen, die der FDJ zuteil wurde. Ähnlich verhielt es sich bei der Einführung der internationalen Lehrgänge, die ab 1958 an der Jugendhochschule stattfanden. Auch hier wurde das Argument der »internationalen Solidarität« und des »proletarischen Internationalismus« herangezogen, um die Durchführung zu begründen bzw. um sich nach außen hin positiv darzustellen. Denn solche Schulungsmaßnahmen, besonders als ab 1961 Mitglieder von »Befreiungsbewegungen« aus ehemaligen Kolonialgebieten zur Schule kamen, wurden als Unterstützung im Kampf gegen den Kolonialismus gewertet und als solche öffentlich inszeniert, wie etwa die Berichterstattung zur Betitelung der Schule im »Neuen Deutschland« gezeigt hat. Außerdem wurden die Schüler*innen nach diesen Prinzipien erzogen, was sich anhand der Unterrichtspläne und der Bildungs- und Erziehungsziele erkennen lässt. Die Schüler*innen sollten zur »Völkerfreundschaft« mit anderen Völkern, allen voran zur Sowjetunion, erzogen werden. Auch die Werte der sozialistischen Moral, die »internationale Solidarität« und »proletarischen Internationalismus« als integrative Bestandteile enthielt, sollten anerzogen werden. Die Schüler*innen sollten dies in ihrer zukünftigen Tätigkeit als hauptamtliche Funktionär*innen der FDJ an die Jugend der DDR weitergeben. Auch die Schüler*innen im internationalen Lehrgang wurden nach diesen Werten erzogen. Somit kann man bis zu diesem Zeitpunkt davon sprechen, dass die Bezeichnung als »Schule der Völkerfreundschaft« durchaus gerechtfertigt war, da sich die parteipolitischen Vorgaben und ideologischen Wertevorstellungen dieses Konzepts sowohl im öffentlichen Auftraten der Schule wie auch als Unterrichtsinhalte wiederfinden lassen. In den Erinnerungen der ehemaligen Schüler*innen aus den 1980er Jahren kommt der Unterricht allerdings kaum vor. Bei der Auswertung der Interviews mit deutschen Schüler*iinnen sind vor allem die gemeinsamen Aktivitäten und Feiern, das gute Zusammenleben in Erinnerung geblieben. Die Begriffe »Völkerfreundschaft« und/oder »Solidarität« fallen nicht. Das Beispiel des mexika-
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nischen Schülers jedoch hat gezeigt, dass »internationale Solidarität« bei ihm bewusst eine große Rolle gespielt hat. Außerdem kann man in seinen Erinnerungen das Momentum der Dankbarkeit deutlich erkennen. Er steht beispielhaft für die ausländischen Schüler*innen, die »internationale Solidarität« durch die Möglichkeit zum Studium an der Jugendhochschule erfahren haben. Sie wurden dort zudem Beobachter*innen und Empfänger*innen gezielter Solidaritätsaktionen für ihre Heimat oder ihre politische Gruppierung. In diesem Sinne kann man davon sprechen, dass die Jugendhochschule ein Ort gelebter »internationaler Solidarität« war oder zu mindestens als solcher erinnert wird. Ob dies auch die Erfahrungen von Schüler*innen aus anderen Generationen betrifft, müsste separat geprüft werden. Insgesamt kann man sagen, dass das, was als »internationale Solidarität« in der Erinnerung der ehemaligen Schüler*innen der JHS geblieben ist, vor allem als Freundschaft zu bezeichnen ist. Durch das Zusammenleben an der JHS sind vor allem persönliche und emotionale Beziehungen zwischen jungen Leuten aus aller Welt entstanden. Dadurch entstanden wiederum ein besonderes persönliches Interesse und eine Motivation, sich mit der Situation in den Herkunftsländern auseinanderzusetzen und sich dafür zu engagieren. Dies geschah dann durchaus im konzeptuellen Rahmen von »internationaler Solidarität«. Es kann gezeigt werden, dass die Jugendhochschule insbesondere durch diese persönlichen und emotionalen Verhältnisse untereinander geprägt war und dadurch das Gefühl von »internationaler Solidarität« vermitteln konnte, weniger durch die Vorgabe in der Staatsdoktrin. Demensprechend kann man ihr den Titel einer Schule der »Völkerfreundschaft« zugestehen, die in erster Linie ein Begegnungsort war.
Anne-Christine Hamel
Die Beziehungen der »Deutschen Jugend des Ostens« (DJO) zur Jugend der DDR und ihrer osteuropäischen Nachbarstaaten
»If the expellees brought anything with them, it was a deep hatred of Communism.«1
Wie dieses Zitat Patrick Majors andeutet, war die soziale Gruppe der ehemals Vertriebenen aus den ehemaligen deutschen Reichs- und Siedlungsgebieten im östlichen Europa durch starke anti-kommunistische Züge geprägt, die vor allem unter den Dächern des bundesrepublikanischen Vertriebenenverbandswesens ihre Wirkung entfalten sollten. Der Anti-Kommunismus2 der Vertriebenen beschränkte sich nicht allein auf die Verbandsfunktionäre der älteren Generation, sondern prägte ebenso das heimatpolitische Engagement der jungen Vertriebenengeneration, die sich seit 1951 unter dem Dach der Deutschen Jugend des Ostens (DJO) zu einer gemeinsamen Meta-Organisation3 zusammengeschlossen hatte. In der Auseinandersetzung mit der Präsenz solcher antikommunistischen Motive in der Programmatik der DJO sowie den daraus resultierenden Konsequenzen für ihre Beziehungen zur Jugend der DDR und ihrer Nachbarstaaten im östlichen Europa widmet sich der vorliegende Beitrag im Kontext der einenden Thematik zur Rolle der Jugend im Kalten Krieg daher dem heimatpolitischen Engagement junger Vertriebener im Zuge des Ost-West-Konflikts.
1 Patrick Major: The Death of the KPD. Communism and Anti-Communism in West Germany, 1945–1956, Oxford 2004, S. 3. 2 Siehe hierzu, neben jenem Beitrag Majors, ausführlicher auch Stefan Creuzberger, Dierk Hoffmann (Hg.): »Geistige Gefahr« und »Immunisierung der Gesellschaft«. Antikommunismus und politische Kultur in der frühen Bundesrepublik, München 2014; Norbert Frei, Dominik Rigoll (Hg.): Der Antikommunismus in seiner Epoche. Weltanschauung und Politik in Deutschland, Europa und den USA, Göttingen 2017. 3 Zu den Charakteristika der DJO als Meta-Organisation siehe ausführlicher Anne-Christine Hamel: Charakteristika und Herausforderungen von Meta-Organisationen in Zeiten des Wandels. Die Deutsche Jugend des Ostens (DJO) als Gegenstand gesellschaftspolitischer Kontroversen der deutschen Nachkriegszeit, in: Marcus Böick, Marcel Schmeer (Hg.): Im Kreuzfeuer der Kritik. Umstrittene Organisationen im 20. Jahrhundert, Frankfurt a. M./ New York 2020, S. 453–484.
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I.
Anne-Christine Hamel
Die Perspektive der DJO auf das politische System der DDR und ihre Staatsjugend
Zum Motiv der Enttarnung des sogenannten »Friedensstaates« der DDR Die kritische Perspektive der organisierten Vertriebenenjugend zum politischen System der DDR wurde bereits innerhalb der Schriften ihrer Vorläuferorganisationen4 deutlich, in deren Rahmen zunächst vor allem der rigide Umgang mit jugendlichen Oppositionellen in den Blick genommen wurde. So waren sowohl der großangelegte Schauprozess gegen den 18-jährigen Schüler Hermann Joseph Flade5 als auch das Todesurteil gegen den 21-jährigen LDP-Jugendreferenten Arno Esch6 aus Perspektive der DJO vor allem Ausdruck des Versuches, die junge Generation in der DDR mithilfe eines unverhältnismäßig hoch angesetzten Strafmaßes »abzuschrecken und gefügig zu machen«.7 Derartige Schicksale junger Oppositioneller8 symbolisierten für sie daher nicht nur anschaulich die angeprangerten Missstände in der DDR, sondern dienten vor allem deren Enttarnung als »Friedensstaat«, in dem jegliche Form der Opposition gegen die politische Programmatik der SED als Opposition gegen die DDR verstanden und »selbst aus dem wildesten Mörder […] ein friedliebender Mensch« würde, »wenn er erst das Parteibuch der SED in der Tasche« habe.9 Aus Sicht ihres kritischen
4 Zur Entstehung und Entwicklung der DJO siehe ausführlicher dies.: Von der »Deutschen Jugend des Ostens« zur »Deutschen Jugend in Europa« – Selbstverständnis, Organisation und Interessenpolitik junger »(Heimat-)Vertriebener« im Spiegel gesellschaftlicher Umbrüche 1951–1974, in: Elisabeth Fendl, Werner Mezger, Saray Zavala-Paredes, Hans-Werner Retterath, Sarah Scholl-Schneider (Hg.): Bewegte Jugend im östlichen Europa. Volkskundliche Perspektiven auf unterschiedliche Ausprägungen der Jugendbewegung seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert (Jahrbuch für deutsche und osteuropäische Volkskunde 58), Münster 2017, S. 73–100. 5 Zum Schauprozess gegen Flade siehe ausführlicher Karl Wilhelm Fricke: Überzeugt von seiner gerechten Sache. Der politische Widerstand des Hermann Joseph Flade, in: Karl Wilhelm Fricke, Ilko-Sascha Kowalczuk (Hg.): Der Wahrheit verpflichtet. Texte aus 5 Jahrzehnten zur Geschichte der DDR, Berlin 2000, S. 378–396. 6 Zum Schicksal Arno Eschs existieren Beiträge des »Verbandes ehemaliger Rostocker Studenten« (VERS), zu denen auch einige seiner früheren Mitstreiter zählen. Siehe exemplarisch: Hartwig Bernitt, Horst Köpke, Friedrich-Franz Wiese: Mein Vaterland ist die Freiheit. Das Schicksal des Studenten Arno Esch, Dannenberg 2010. 7 Vgl. Ist Flade schon vergessen? Ein Herz schlägt hinter Kerkermauern – Reue auf Befehl, in: Der Pfeil. Zeitschrift der Deutschen Jugend des Ostens (künftig kurz: Pfeil), 1951, Jg. 1, H. 1, 3, S. 3. 8 Zum Umgang mit studentischen Protestformen innerhalb der DDR siehe ausführlicher: Benjamin Schröder, Jochen Staadt (Hg.): Unter Hammer und Zirkel. Repression, Opposition und Widerstand an den Hochschulen der SBZ/DDR, Berlin 2011. 9 Vgl. D. B.: Sie lügen wie gedruckt!, in: Pfeil, 1952, Jg. 2, H. 11, S. 1f., hier S. 1.
Beziehungen der »Deutschen Jugend des Ostens« (DJO) zur Jugend der DDR
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DDR-Experten »Ekkehard«10 wurde vor allem am Schicksal der Jugend jene Diskrepanz zwischen dem Alltag in der DDR und deren Selbststilisierung als »Friedensstaat« spürbar, der einerseits »von Picasso Friedenstauben malen« lasse, während er die FDJ mit Gewehren ausstatte, der große Fahrradtouren im Zeichen des Friedens organisiere und gleichzeitig »junge Ma¨ dchen mit Gewehren auf den Straßen marschieren« lasse, sodass für Ekkehard der stets proklamierte Friedensgedanke letztendlich vor allem »Menschenraub, Waffendrohung, Terror, Zwang, Unterdru¨ ckung [und] Einkerkerung« bedeutete.11 Kontinuierlich füllten daher Berichte über den Umgang des SED-Staates mit jugendlichen Oppositionellen, die Schicksale junger Mauertoter, Berichte über erfolgreiche wie gescheiterte Fluchtversuche sowie die damit einhergehenden Hoffnungen der Betroffenen ihre Verbandspublikationen.
Zur kritischen Perspektive auf die FDJ und deren Rolle im beginnenden Ost-West-Konflikt Der von Alfons Kenkmann im Rahmen dieses Bandes behandelte gewaltsame Tod des jungen Kommunisten Philipp Müller in Essen wurde hingegen vollständig ausgeklammert. Vielmehr waren die dortigen Ereignisse für Ekkehard Konsequenz einer gefährlichen Radikalisierung der West-FDJ, die sich seit ihrem Verbot »in die Ungesetzlichkeit, in die sogenannte Illegalität, verkrümelt« habe und nun »durch Fanatisierung ihrer Mitglieder« ersetze, »was ihr an zahlenmäßiger Stärke« fehle.12 Entgegen der einstigen Tradition jugendbewegten Geistes handelte es sich aus Perspektive Ekkehards bei den verbliebenen Mitgliedern der West-FDJ um naive jugendliche Gefolgsleute »von durchtriebenen politischen Drahtziehern zur Durchsetzung [des] wesensfremden Parteiprogramms« des Kommunismus, dessen Grausamkeit die junge Vertriebenengeneration im Kontext von Flucht und Vertreibung am eigenen Leibe erfahren habe.13 Denn wie Michael Schwartz im Rahmen seines Beitrags zu den verschiedenen Facetten von Anti-Kommunismus innerhalb des westdeutschen Vertriebenenverbandswesens dargelegt hat, resultierte dessen antikommunistische Programmatik nicht allein aus der politischen Frontstellung im Zuge des Ost-West-Konfliktes, sondern manifestierte 10 Unter jenem Namen findet sich innerhalb der frühen Jahrgänge des DJO-Verbandsorgans »Pfeil« eine Reihe von Artikeln, die sich kritisch mit der Lage innerhalb der DDR und ihrer osteuropäischen Nachbarstaaten befassen. Nähere Informationen zum Autor (bzw. einem möglichen Pseudonym) sind leider nicht bekannt. 11 Vgl. Ekkehard: Wir müssen helfen!, in: Pfeil, 1952, Jg. 2, H. 7, S. 2. 12 Ekkehard: Wir erwarten Blauhemden, in: Pfeil, 1952, Jg. 2, H. 6, S. 2. 13 Ebd.
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sich in differenzierteren Erscheinungsformen, deren Ursprung neben den Nachwirkungen antibolschewistischer, antisozialistischer oder antislawischer Propaganda innerhalb ihrer ehemaligen Herkunftsgebiete auch in eben jenen Gewalt- und Vertreibungserfahrungen der Heimatvertriebenen lag.14 Entsprechend trat in Ekkehards Worten nicht nur deutlich zutage, dass der Antikommunismus gegenüber den sogenannten »Vertreiberstaaten« auch innerhalb der DJO eng mit der Erfahrung von Flucht und Vertreibung verbunden war, sondern vor allem auf einem verzerrten wie eindimensionalen Geschichtsverständnis beruhte, in welchem die nationalsozialistische Eroberungs- und Vernichtungspolitik als wesentliche Ursache der geschilderten Vertreibungserlebnisse praktisch ignoriert wurde:15 »Warum aber prallen die Parolen, die Versprechungen der Kommunisten und ihrer FDJ-Handlanger ungehört an unseren Ohren ab? Weil wir wissen, daß es nur leere, hohle Phrasen sind, hinter denen sich unmenschliche Grausamkeit verkriecht. Oder waren es nicht die Kommunisten, die uns von Haus und Hof vertrieben, die uns die Heimat raubten, die plünderten und schändeten, Menschenwürde mit Füßen traten und dem Leben des Einzelnen weniger Wert beimaßen als einem rostigen Hufnagel? […] Wir verspürten die Hammer- und Sichellehre am eigenen Leibe. Ohne diese Lehre säßen wir heute noch in unserer alten, geliebten Heimat. Ohne sie ständen wir nicht vor einer Mauer ungelöster sozialer Probleme, die uns der Kommunismus durch sein Wirken aufbürdete.«16
Die DJO als »westliche Bastion« gegen eine kommunistische Unterwanderung der Jugend? Neben den Motiven, die eng mit dem spezifischen Erfahrungshorizont der ehemals Vertriebenen verbunden waren, entsprach der Antikommunismus in der Verbandsarbeit der DJO vor dem Eindruck der bundesrepublikanischen Westbindung im Kontext des Kalten Krieges zudem ganz der westlichen Diktion, wie sie auch die US-amerikanische Auseinandersetzung mit dem westdeutschen Jugendverbandswesen prägte. Denn nachdem die Jugendarbeit der amerikanischen Militärverwaltung in der ersten unmittelbaren Nachkriegszeit noch stark von der Sorge um eventuelle
14 Vgl. Michael Schwartz: Antikommunismus und Vertriebenenverbände: Ein differenzierter Blick auf scheinbar Eindeutiges in der frühen Bundesrepublik Deutschland, in: Creuzberger, Hoffmann (Hg.): Gefahr (Anm. 2), S. 161–176. 15 Ein charakteristisches und viel diskutiertes Element der Rhetorik der Vertriebenenverbände, auf welches vor allem Micha Brumlik (vgl. ders.: Wer Sturm sät. Die Vertreibung der Deutschen, Berlin 2005) kritisch hingewiesen hat. 16 Ekkehard: Blauhemden (Anm. 12), S. 2.
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Auswirkungen der NS-Sozialisierung geprägt war,17 gerieten im Zuge des sich zuspitzenden Ost-West-Konfliktes zunehmend auch kommunistische Einflussversuche in ihren Blick. So hatten die Ergebnisse einer durch den Hohen Kommissar John J. McCloy veranlassten Erhebung 1951 zwar ergeben, dass kommunistischer Einfluss im vergangenen Jahr grundsa¨ tzlich zuru¨ ckgegangen sei und entsprechende Infiltrierungsversuche innerhalb des westdeutschen Jugendverbandswesens in Anbetracht der dortigen politischen Diversita¨t spu¨ rbar an ihre Grenzen gestoßen seien.18 Dennoch gab etwa der hessische HICOGLandeskommissar James R. Newman zu bedenken, dass die Kommunisten nicht nur in ihrem Kurs gegen die Remilitarisierung der Bundesrepublik auf Sympathisanten innerhalb der westdeutschen Jugend bauen konnten, sondern auch daru¨ ber hinaus Anziehungskraft auf die Jugend ausu¨ ben wu¨ rden.19 In diesem Sinne hatte auch Pierre M. Purves, seinerzeit Mitarbeiter des »Political Activities Branch« innerhalb der »Civil Administration Division«, innerhalb seines Zuständigkeitsbereiches den Eindruck gewonnen, dass es der SED-Regierung gelungen sei, der jungen Generation innerhalb ihrer Staatsjugendorganisation nach dem Zusammenbruch der allumfassenden nationalsozialistischen Indoktrination eine neue Orientierungsfunktion zu bieten, die sowohl das amerikanische Betreuungsprogramm als auch das westdeutsche Jugendverbandswesen bislang teilweise vermissen lasse.20 Wie aus einer Denkschrift der Ostdeutschen Jugend (OdJ) – einer Vorläuferorganisation der DJO – von 1950 hervorgeht, war die Sorge vor einer kom17 Entsprechendes geht vor allem aus einer Direktive vom 7. Juli 1945 hervor, die vom amerikanischen OMGUS-Hauptquartier an alle untergliederten Länder innerhalb der amerikanischen Besatzungszone ergangen war. Vgl. Control of Youth Activities, Draft Directive, Information Copy, betr. »Amendment to section VII (Education and Religious Affairs), Part I (Education), Administration of Military Government in the US Zone in Germany, 7 Jul 45«, 21. 09. 1945, in: NACP, RG 260, Records Of United States Occupation Headquarters, World War II, OMGUS, Records of the Education & Cultural Relations Division: Group activities branch records of German youth associations 1945–1949, Application and Registration of Youth Groups, Box 46. 18 Vgl. Studie des Bremer HICOG-Commissioners Charles R. Jeff betr. »The United States Youth Program in Germany«, Bremen, 21. 03. 1951, S. 1–3, in: NACP, RG 466, Records of the U.S. High Commission for Germany, Office of the Executive Secretary, General Records 1947– 1952, Box 66. 19 Vgl. Schreiben Newmans, Land Commissioner for Hesse an John J. McCloy, U.S High Commissioner for Germany, Wiesbaden, 19. 3. 1951, S. 3f., in: NACP (Anm. 18). 20 Entsprechend konstatierte Purves im Rahmen seiner Ausführungen zur Überarbeitung des amerikanischen Jugendbetreuungsprogramms: »In the five years that we have been here, we have not given youth an ideal to live for. Nazism, false as the doctrine was, at least inspired youth with an ideal. The Nazi ideal discredited itself, but we gave Western German youth nothing to replace it. On the other hand, the Communists, also teaching a false doctrine, have given Soviet-Zone youth in Germany an ideal and it is for that reason that FDJ is having so much success.« Pierre M Purves.: A General Plan for a Youth Program at Land Level, S. 2, in: NACP (Anm. 18).
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munistischen Unterwanderung des Jugendverbandswesens auch innerhalb der jungen Vertriebenengeneration ein wichtiges Motiv im Hinblick auf die geplante Gründung einer gemeinsamen Meta-Organisation. Mit Blick auf die ideelle Vielfalt der seit dem Zweiten Weltkrieg neu entstandenen Jugendverbandslandschaft verstand die OdJ die erreichte Einheit der bislang lediglich landesweit agierenden Zusammenschlüsse junger Heimatvertriebener nicht nur als bedeutsamen Schritt zur Verhinderung einer »weiteren Zersplitterung der westdeutschen Jugendorganisationen in unbedeutende Gruppen und Grüppchen«, sondern damit einhergehend ebenfalls als wesentlichen Beitrag zur Profilierung des westdeutschen Jugendverbandswesens als starke Kraft gegenüber der einheitlichen und straff organisierten DDR-Staatsjugend, die aufgrund ihrer großzügigen staatlichen Förderung zweifelsfrei Erfolge im Hinblick auf ihre »verderblichen« Zielsetzungen verzeichne.21 Ergänzend betrachtete man die angestoßenen Vereinheitlichungsbestrebungen der Vertriebenenjugend unter dem Dach der OdJ ebenso als wichtigen Beitrag zur Verhinderung einer potenziellen Radikalisierung der jungen Vertriebenengeneration, die in Anbetracht ihrer besonderen Notlage ganz besonders von der Gefahr betroffen sei, »abermals falschen Ideologien anheimfallen [zu] können«.22 Entsprechend der Einschätzung, dass den Einflussversuchen der FDJ im Rahmen ihrer Westarbeit mit dem Zusammenschluss der OdJ »ein starker Riegel vorgeschoben« worden sei, stilisierte sie sich schließlich gar als westdeutscher Gegenpol zur FDJ und verschrieb sich zunächst der Bekämpfung kommunistischen Einflusses innerhalb des deutschen Jugendverbandswesens,23 wofür in Bremen gar eigens eine »Informationsstelle« zur Beobachtung der FDJ geschaffen werden sollte.24 Wie sich die OdJ eine solche »Informationsstelle« in der Praxis konkret vorstellte, geht aus einem Schreiben der Bremer OdJ-Landesgruppe hervor, die als deren zentrale Aufgaben sowohl die Beschaffung und Auswertung von Schriften der FDJ sowie bislang erfolgter Recherchen seitens ihrer Kritiker als auch den persönlichen Austausch mit deren Mitgliedern vorsah. Da die OdJ erwartete, künftig als starkes »Gegengewicht« zur FDJ wahrgenommen zu werden, wollte sie intern so umfassend wie möglich über deren Wirken
21 Vgl. Denkschrift der Ostdeutschen Jugend, Braunschweig, 09. 09. 1950, unterzeichnet von Hans-Joachim Hoffmann und Wilm von Elbwart, in: BArch, B 150/5140, Bl. 295–300, hier Bl. 299f. 22 Ebd. 23 Ebd. 24 Vgl. Interner Vermerk des Bundesministeriums für gesamtdeutsche Fragen betreffend »Ostdeutsche Jugend (O.d.J.), Bundesleitung Hannover, Ellernstraße 5«, Bonn, 27. 10. 1950, in: BArch, B 153/183, Bl. 452.
Beziehungen der »Deutschen Jugend des Ostens« (DJO) zur Jugend der DDR
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informiert sein.25 Bereits zu Pfingsten 1950 hatte die OdJ – damals noch auf den Raum Niedersachsen beschränkt – aus Protest gegen das »Deutschlandtreffen« der FDJ vielerorts Kreisjugendtreffen abgehalten, in deren Rahmen die kulturellen und politischen Ziele der OdJ auch über die Verbandsgrenzen hinweg sichtbar zur Geltung kommen sollten.26 Vor allem im Kontext ihres langwierigen Ringens um Berücksichtigung im Rahmen des Bundesjugendplans und der hierfür erforderlichen Aufnahme in den Deutschen Bundesjugendring (DBJR) stilisierte sich die organisierte Vertriebenenjugend auch unter dem Dach der DJO weiterhin strategisch geschickt als westdeutsche Bastion gegen die FDJ und wurde darin ebenso von den älteren Verbandsfunktionären unterstützt.27 Denn wie Ekkehard innerhalb des »Pfeils« verlautete, verschreibe sich die innerhalb der FDJ organisierte Jugend Idealen, deren »grundschlecht[en]« Charakter sie nicht durchschaue und lasse sich in ihrer West-Arbeit zum »Werkzeug« der »Drahtzieher Moskaus« instrumentalisieren, um in deren Auftrag »Aushöhlungsarbeit« innerhalb des westdeutschen Jugendverbandswesens zu betreiben.28 In diesem Sinne offenbarten sich ihm die FDJ-Mitglieder vor allem als »Irrende«, denen eine realistische Einschätzung der politischen Lage in Anbetracht der allumfassenden Indoktrination des SED-Staates verwehrt sei. Entsprechend war er der festen Überzeugung, »mancher würde sein Blauhemd verbrennen, wüßte er genau, welchen Herren und Ideen er wahrhaftig dien[e]« und betrachtete die versuchte Einflussnahme von Seiten der FDJ gar als passende Gelegenheit, ihren Delegierten im Kontext der erwarteten Debatten »das Abschiednehmen vom Blauhemd [zu] erleichtern«.29 Die DJO suchte daher einerseits gezielt das Gespräch, war jedoch andererseits ebenso darum bemüht, die Aufmerksamkeit insoweit zu regulieren, dass sie keiner Aufwertung der FDJ gleichkam.30 So hatte die DJO bereits in ihrem Gru¨ ndungsjahr 1951 Kontakt mit Angeho¨ rigen der FDJ aufgenommen, die im Rahmen der »Weltjugendfestspiele« nach 25 Vgl. Schreiben der OdJ-Landesgruppe Bremen an die Bundesleitung der OdJ, Bremen, 11. 10. 1950, in: BArch, B 153/183, Bl. 454. 26 Vgl. Informationsdienst für die Jugendgruppen und Jugendreferenten der Kreisverbände im Z.v.D. des Landesverbandes Niedersachsen, herausgegeben von der Ostdeutschen Jugend im Zentralverband der vertriebenen Deutschen, Landesverband Niedersachsen, Jg. 1, Hannover, 15. 05. 1950, Folge 3, S. 9, in: AdJb, Z 300 Nr. 2247. 27 Vgl. Schreiben Linus Kathers an Bundesinnenminister Lehr betreffend »Deutsche Jugend des Ostens«, Bonn, 16. 04. 1951, in: BArch, B 153/183, Bl. 528. 28 Vgl. Ekkehard: Blauhemden (Anm. 12), S. 2. 29 Ebd. 30 Vgl. Hermann Kinzel: Wie sind Ostkontakte möglich – oder – Grenzen und Möglichkeiten in der Begegnung mit der jungen Generation in Ostmitteleuropa, Vortrag vor der Arbeitstagung der DJO-Landesführer und Bundesgruppenführer am 30. 11. 1968 in Wiesbaden, in: AdJb, A 216 Nr. 585.
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West-Berlin kamen31 und bemu¨ hte sich auch weiterhin um Austausch, nachdem der Deutsche Bundesjugendring (DBJR) seine Bereitschaft zu offiziellen Verhandlungen mit den »Wiesbadener Beschlu¨ ssen« an politische Forderungen geknu¨ pft hatte, die von Seiten der FDJ praktisch nicht zu erfu¨ llen waren, wie sich auch im Rahmen der weitgehend ergebnislosen Gespräche in Bad Godesberg im März 1955 gezeigt hatte.32 Zwei Monate zuvor saßen sich im Rahmen eines Gespräches zwischen Vertretern der Schweriner FDJ und sechs Delegierten des schleswig-holsteinischen DJO-Landesverbandes im Januar 1955 in Kiel beide Verbände nochmals gegenüber. Gegenstand des Gesprächs waren – im Einklang mit den Wiesbadener Beschlüssen des DBJR – vor allem die Oder-Neiße-Linie, die Lage junger Kriegsgefangener sowie die geforderte Anerkennung von Ablegern der westdeutschen Jugendorganisationen und deren Publikationen in der DDR. Bruno Sachers hob von Seiten der DJO zwar hervor, dass ihre schleswigholsteinischen Delegierten gegenüber der FDJ vorab bewusst von der naheliegenden Frage Abstand genommen hätten, ob das Gespräch aus dem »wahre[n] Bedürfnis nach einem Gedankenaustausch« zustande gekommen oder auf Initiative des SED-Staates erfolgt sei, der die vier Vertreter seiner Staatsjugend »als Missionare des Kommunismus« auf den Weg nach Kiel geschickt habe. Doch wurde im Rahmen seiner Reflexion ebenso rasch offenbar, dass der gemeinsame Austausch aus Perspektive der DJO in Anbetracht der starren und argumentativ wenig fundierten Gesprächshaltung seitens der vierköpfigen FDJ-Delegation letztendlich wenig ertragreich war, sondern vor allem einmal mehr bestätigte, wie sehr die Delegation im Vorfeld des Gesprächs von Seiten der SED vorbereitet worden war. Um einer derartigen politischen Indoktrination der Jugend in der DDR langfristig noch entschiedener entgegenzuwirken, damit »die Angehörigen der SBZ-Staatsjugend« zugunsten der »roten Gewaltherrscher« nicht noch »in ihrer Irrmeinung« bestärkt würden, machte sich die DJO daher auch weiterhin zur Aufgabe, das Gespräch zu Angehörigen der FDJ zu suchen und argumentativ auf diese einzuwirken.33
31 Vgl. Ewald Pohl: Logische Folgerungen, in: Pfeil, 1951, Jg. 1, H. 7, September, S. 2. 32 Vgl. Deutscher Bundesjugendring (Hg.): Gesellschaftliches Engagement und politische Interessenvertretung – Jugendverbände in der Verantwortung. 50 Jahre Deutscher Bundesjugendring, Berlin 2003, S. 275. 33 Entsprechend formulierte Sachers (vgl. Bruno Sachers: 6 Fragen an die FDJ – DJO Kiel empfing Blauhemden-Abordnung, in: Pfeil, 1955, Jg. 6, H. 2, S. 1f., hier S. 2): »Seien wir uns ferner dessen bewußt, daß die Jugend der SBZ heute viefach [sic!] keinen Maßstab mehr für politische Wahrheit oder Unwahrheit, für menschliches Recht oder Unrecht besitzt. Gespräche nach dem Kieler Beispiel könnten diesem, von der Jugend in der Zone nicht verschuldeten Übelstand vielleicht in einigen Fällen abhelfen. Deshalb: Gesprächen mit der FDJ nicht aus dem Weg gehen! Ein Ausweichen könnte die Angehörigen der SBZ-Staatsjugend in
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Anhand des nachfolgenden Gedichts wird die Perspektive der DJO auf die Angehörigen der DDR-Staatsjugend anschaulich wie humoristisch offenbar: Menschenwürde34 »Im Falle eines Falles knallt Käte, kühn gekonnt, – dank des Gewehres Dralles – ganz vorne an der Front den Gegner übern Haufen und lehrt die Feinde laufen. Auch Frieda Schultz aus Cottbus – mit Kimme und mit Korn – übt eifrig Menschen-Todesschuß für rote Front, ganz vorn Mag auch die Spucke sieden – ’s ist ›Alles für den Frieden!‹ Und Lene, diese Stolze – im Falle eines Falls – reißt sich den Schaft von Holze ganz nahe an den Hals und schießt, nach Iwans Drill, weil Moskau es so will. So müssen diese dreie Erfüllen Schützen-Soll. Das wundert nur uns Freie; der Pieck findt’s wundervoll. Es treibt mit Menschenwürde Spott In Pieckistan die FDJ.«
II.
Praktische Formen des Engagements der DJO jenseits der innerdeutschen Grenze
Über kritische Artikel und vereinzelte Gespräche hinaus manifestierte sich das Engagement gegen den politischen Kurs der DDR und ihrer östlichen Nachbarstaaten aber vor allem in konkreten Aktionen, die im Folgenden knapp umrissen werden sollen.
ihrer Irrmeinung bestärken. Und damit würden wir den roten Gewaltherrschern einen guten, unserem Volk und der freien Welt einen schlechten Dienst erweisen.« 34 Gedicht »Menschenwürde« (Verfasser unbekannt), abgedruckt in: Pfeil, 1955, H. 9, S. 8.
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Solidaritätsbekundungen mit der Jugend in der DDR Schon anlässlich des ersten DJO-Bundesjugendtages 1952 in Bielefeld hatten sich die dort anwesenden Delegierten darauf verständigt, dass der Einflussnahme »auf die heimatvertriebene Jugend in der Sowjetzone«35 innerhalb der Verbandsarbeit künftig eine noch stärkere Bedeutung zukommen müsse. Entsprechend richtete sich Hugo Rasmus in einer Ansprache über RIAS Berlin an Weihnachten desselben Jahres an die jungen Heimatvertriebenen der DDR, in deren Rahmen er stellvertretend für seinen Verband zum Ausdruck brachte, dass sich die DJO in Anbetracht ihrer freien Lage als »Sprecher[in] und Mittler[in]« all jener verstehe, die derzeit noch »unter fremder Gewaltherrschaft zum Schweigen« verdammt seien.36 Um ihren Worten auch Taten folgen zu lassen, schickten die Mitglieder zahlreicher DJO-Gliederungen – ähnlich wie andere westdeutsche Jugendverbände – Briefe, Pakete und Spenden an Kinder und Jugendliche in der DDR und bauten Brieffreundschaften auf. Besonders die Ereignisse des 17. Juni 1953 hatten, so die langjährige DJO-Bundesmädelführerin Walli Richter, innerhalb zahlreicher Gliederungen der DJO ein Gefühl der Solidarität entfacht, aus welchem heraus vielfältige Aktionen hervorgegangen waren. Als besonders langlebige und breitenwirksame Aktion sei an dieser Stelle etwa die vom Bundesministerium für Gesamtdeutsche Fragen unterstützte Aktion »Gruß über die Grenzen« der Sudetendeutschen Jugend (SdJ) Bayern genannt, in deren Rahmen Patenschaften fürr rund 6.000 Familien in der DDR übernommen wurden, die jährlich mit Päckchen bedacht wurden.37 Die ergänzende persönliche Kontaktaufnahme vor Ort im Rahmen von Fahrten wurde von Seiten der SED-Regierung hingegen zunehmend eingeschränkt und durch Begegnungen mit offiziellen staatlichen Vertretern ersetzt, die im Vorfeld entsprechend geschult worden waren. Wie etwa am Beispiel des Besuches des Hamelner DJO-Singekreises in Bad Berka offenbar wurde, zeigte man sich über solche Begegnungen in Anbetracht der »Plumpheit der Methode politischer Überzeugungsversuche«38 zunehmend frustriert, sodass diese bald eingestellt wurden.
35 Vgl. Protokoll des Bundesjugendtages der Deutschen Jugend des Ostens am 12. 01. 1952 in Bielefeld, S. 3, Bonn, 13. 2. 1952, in: AdJb, A 216 Nr. 23. 36 Vgl. Ekkehard: Ruf durch den Äther, in: Pfeil, 1953, H. 1, S. 2. 37 Interview mit Walli Richter vom 25. 02. 2018. 38 Vgl. Liebesfäden von Land zu Land, in: Pfeil, 1955, S. 1.
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Zur Bedeutung der Jugend Osteuropas im Kontext des heimatpolitischen »Auftrags« der DJO Im Rahmen ihrer Reisen ins östliche Europa, der gezielten Initiierung und Förderung von Gegenbesuchen sowie des Austausches mit jungen Osteuropäern im deutschen Exil galten die von der DJO ausgehenden »Ostkontakte« auch jenseits der innerdeutschen Grenze vor allem dem persönlichen Austausch mit der Jugend Osteuropas abseits der Staatsjugendorganisationen, wie ihn bereits das Gründungsmitglied Wolf von Kleist 1952 in Bielefeld formuliert hatte: »Wenden wir uns […] den heimatpolitischen Fragen zu, so kommen wir zu einer praktischen Aufgabe, nämlich der Schaffung eines menschlichen und sachlichen Kontaktes zwischen der deutschen heimatvertriebenen Jugend und der Jugend, unserer uns im Osten benachbarten Völker, die sich gegen das Regime wendet, unter dem sie gegenwärtig leben muss.«39
Dass diese »Aufgabe« der DJO nicht allein aus der bereits behandelten Ablehnung der kommunistischen Regierungen und ihrer offiziellen Staatsjugendorganisationen sowie der damit einhergehenden Solidarität gegenüber jungen Oppositionellen resultierte, sondern von Beginn an stets eng mit der proklamierten Forderung nach einem »Recht auf Heimat« und dem damit einhergehenden Rückkehrwillen verbunden war, geht bereits aus einem Tätigkeitsbericht in ihrem Gründungsjahr hervor, in welchem die DJO jenen Annäherungskurs ebenso unter dem Motiv verfolgte, »bei einer Rückbesiedelung des europäischen Ostens bereits ein gesundes Verhältnis« zur dortigen Bevölkerung zu haben.40 Handlungsleitend waren damit auch für ihre Beziehungen zur Jugend Osteuropas besonders die, bis in die Gegenwart umstrittenen41, Leitgedanken der »Charta
39 Protokoll des Bundesjugendtages der »Deutschen Jugend des Ostens« am 12. 01. 1952 in Bielefeld, S. 2f., Bonn, 13. 02. 1952, in: AdJb, A 216 Nr. 23. 40 Vgl. Anlage »Tätigkeitsbericht der ›Deutschen Jugend des Ostens‹« Horst Schrödters zum Schreiben der DJO-Bundesleitung an den Bundesinnenminister betreffend »Bundesjugendplan. Hier: Tätigkeitsbericht der ›Deutschen Jugend des Ostens‹« e.V., Düsseldorf, 28. 09. 1951, in: BArch, B 153/183, Bl. 10. 41 Exemplarischer Ausdruck der bis in die Gegenwart anhaltenden Debatte um eine nachträgliche Bewertung der Charta war vor allem der starke Protest gegen den von der Bundesregierung am 11. 02. 2011 beschlossenen »Gedenktag für die Opfer von Flucht und Vertreibung« (vgl. Deutscher Bundestag, 17. WP, 90. Sitzung, 10. 02. 2011, S. 10130) zum Jahrestag der Charta am 5. August, der sich insbesondere in der von namhaften Historikern verabschiedeten »Erklärung zum Beschluss des Bundestages ›60 Jahre Charta der deutschen Heimatvertriebenen – Aussöhnung vollenden‹« vom 14. 02. 2011 manifestierte. Online einsehbar unter: https://www.hsozkult.de/debate/id/diskussionen-1468 [zuletzt abgerufen: 18. 11. 2019].
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der Heimatvertriebenen«42, die innerhalb der Satzung der DJO als geistige Grundlage seit ihrer Gründung fest verankert war43. Während die DJO – wie das Kieler Beispiel eingangs veranschaulicht hat – anfangs noch Kontakte zu offiziellen Vertretern der osteuropäischen Staatenwelt aufgenommen hatte, lehnte sie diese seit dem »Heidelberger Beschluss« von 1959 verbandsintern offiziell ab.44 Der 1964 verabschiedete »Beschluss von Massen« knüpfte an diese Empfehlungen zwar nochmals explizit an, hob jedoch zugleich die Bedeutung der Verständigungsarbeit »zwischen den Völkern auch im ostmittel-europäischen Raum« hervor, wie sie im Rahmen der Osteuropa-Fahrten der DJO bereits praktiziert wurde.45 Ein besonderes Augenmerk galt im Rahmen der Begegnungsarbeit dabei vor allem all jenen Staaten, die von der nationalsozialistischen Eroberungs- und Vernichtungspolitik am stärksten betroffen gewesen waren und deren gegenwärtige Grenzen weite Teile der ehemals deutschen Ostgebiete umfassten. Handlungsleitend waren hier auch innerhalb der DJO die Grundgedanken des »Heimatrechts« und des »Gewaltverzichts«, wie sie im Rahmen der »Charta der Heimatvertriebenen«46 erklärt und auch innerhalb ihrer Satzung verankert worden waren.47 Wie ihr bildungspolitischer Referent und späterer stellvertretender Bundesführer, Hermann Kinzel, entsprechend betonte, wolle die DJO im Sinne des innerhalb der Charta artikulierten »Racheverzichts« vor allem den benachbarten »jungen Tschechen, Slowaken, Polen, u. a. – nicht aber ihren Unterdrückern – die Hand zur Versöhnung reichen und ihnen nicht zurechnen was Einzelne aus ihrer Mitte an Untaten an deutschen Menschen verübt haben […] und heute verüben« und erhoffe eine solche Geste der Versöhnung ebenfalls im
42 Zur Entstehung und Rezeptionsgeschichte der Charta siehe die unterschiedlichen Bewertungen bei Matthias Stickler: »Wir Heimatvertriebenen verzichten auf Rache und Vergeltung« – Die Stuttgarter Charta vom 5./6. August 1950 als zeithistorisches Dokument, in: Jörg-Dieter Gauger/ Hanns-Jürgen Küsters (Hg.): Zeichen der Menschlichkeit und des Willens zur Versöhnung. 60 Jahre Charta der Heimatvertriebenen, Sankt Augustin 2011, S. 43–74 und Tobias Weger: »Volkstumskampf« ohne Ende? Sudetendeutsche Organisationen, 1945–1955, Frankfurt a. M. 2008, S. 465–476. 43 Vgl. § 2 der »Satzung der Deutschen Jugend des Ostens« vom 03. 12. 1961, in: AdJb, A 2164 Nr. 87. 44 Vgl. »Heidelberger Beschluss zu diplomatischen Beziehungen zu den Ostblockstaaten«, in: Arbeitsbrief, Bd. 1/1965, in: AdJb, A 216 Nr. B 32. 45 Vgl. Protokoll über die Sitzung des Bundesbeirates der Deutschen Jugend des Ostens am 17. und 18. Oktober 1964 in Massen, Bonn, 10. 11. 1964, in: AdJb, A 216 Nr. 381. 46 Zur Rezeptionsgeschichte der »Charta« siehe vor allem die kritischen Beiträge Brumliks (Anm. 14) und Ralph Giordanos (ders.: Apropos »Charta der deutschen Heimatvertriebenen«. Überfälliges Nachwort zu einem verkannten Dokument, in: ders.: Die zweite Schuld oder Von der Last Deutscher zu sein, Köln 2000, S. 267–292). 47 Vgl. § 2 der »Satzung der Deutschen Jugend des Ostens« vom 03. 12. 1961, in: AdJb, A 216 Nr. 487.
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Hinblick auf die nationalsozialistischen Verbrechen.48In diesem Sinne beendete Kinzel seine Ausführungen mit dem Appell, »daß einer Revision der Grenzen und des Unrechts eine Revision der Gesinnung hüben und drüben vorangehen müsse«, für die er insbesondere auf die junge Generation Europas setzte,die in Folge des Generationenwechsels nicht mehr von der starken Emotionalität der Erlebnisgeneration geprägt sei.49 So gewinne gerade die Generation der Nachgeborenen durch den notwendigen zeitlichen wie emotionalen Abstand im Zuge der Fahrten nach Osteuropa die besondere Möglichkeit, die ehemaligen familiären Heimatgebiete in ihrer gegenwärtigen Erscheinung zu entdecken, Kontakt zur dortigen Jugend aufzubauen und die bestehenden Ressentiments abzubauen.50 In Anbetracht der zuvor behandelten Kritik an den dortigen Regierungen hob ein Leitfaden des politischen Arbeitskreises des bayerischen DJO-Landesverbandes die Bedeutung einer solchen Zusammenarbeit »mit Menschen und Institutionen der Staaten Ostmittel- und Osteuropas« zudem dahingehend hervor, dass diese am Ende vor allem zum Ziel haben müsse, den Eisernen Vorhang »zu durchlöchern und ihn letzten Endes ganz zu sprengen.«51 Denn die »starke, organisierte Macht des Staates« verhindere das »sichtbare Empören der Menschen von vornherein«, sodass sich die breite Masse der Unzufriedenen mit ihrer derzeitigen Lebenswelt arrangiert habe.52 Aus diesem Grund strebte die DJO sowohl im Rahmen der eigenen Fahrten als auch im Zuge der wenigen Gegenbesuche durch osteuropäische Delegationen die Vermittlung politischer und ökonomischer Werte des Westens an, die in Folge der Zensur letztendlich auch die Regierungen Osteuropas dazu bewegen sollten, »die Unterdrückung der Menschen zu lockern.«53 Sowohl der Durchführung eigener Reisen als auch dem Empfang der ausländischen Delegationen ging daher im Vorfeld eine intensive Vorbereitungsphase voran. So wurden die gastgebenden DJO-Gruppen im Hinblick auf die Planung des kulturellen Rahmenprogramms nicht nur darum gebeten, ihren ausländischen Gästen mit der notwendigen Offenheit zu begegnen und sie im Zuge der Unterbringung eng in das familiäre Umfeld einzubinden, sondern ihnen ebenfalls ausreichend Gelegenheit zu ermöglichen, sich – kontrastierend 48 Vgl. Kinzel: Ostkontakte (Anm. 30). 49 Vgl. ebd. 50 Vgl. Kinzel, Hermann: Möglichkeiten und Grenzen in der Begegnung mit der Jugend in der Tschechoslowakei, Ausarbeitung für den Jugendausschuss des Landesvertriebenenbeirats, 10. 02. 1966, S. 2f., in: AdJb, A 216 Nr. 585. 51 Vgl. Leitfaden »Ostkontakte – Jugend baut Brücken«, herausgegeben vom politischen Arbeitskreis des bayerischen DJO-Landesverbandes (München). 52 Ebd. 53 Ebd.
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zur staatlichen Lenkung der Gegenseite – ein eigenes Bild von der politischen und ökonomischen Situation der Bundesrepublik zu verschaffen. Auch im Hinblick auf die Entsendung eigener Delegationen überließ die DJO nichts dem Zufall und setzte auf eine umfassende Vorbereitung der Teilnehmer*innen im Rahmen von Seminaren, in denen die historische wie aktuelle politische Lage des Reiselandes, die dortigen Lebensbedingungen der Jugend, die Charakteristika und Ausprägungen der kommunistischen Staatslehre, die damit einhergehende Beziehung zur Bundesrepublik sowie gegebenenfalls notwendige Sicherheitsvorkehrungen oder Besonderheiten bei der Einreise behandelt wurden.54 Vor dem Hintergrund der bereits erwähnten staatlichen Lenkung offizieller Besuche erforderte auch die angestrebte inoffizielle Kontaktaufnahme mit der Jugend vor Ort einiges Geschick. Verbandsintern wurde daher die Empfehlung ausgesprochen, auf Basis bestehender Kontakte von früheren Fahrten oder freundschaftlichen Verbindungen älterer Mitglieder aus ihrem ehemaligen Umfeld innerhalb der ehemaligen Heimatgebiete bereits im Vorfeld erste Verbindungen herzustellen, aus denen sich dann, abseits der offiziellen Rahmenplanung, vor Ort neue Möglichkeiten ergeben könnten: »Das persönliche Bekanntwerden, die Wiedersehensfreude oder auch nur das Bestellen von Grüßen ist ein guter Anfang unserer späteren Fahrt. Die Brieffreunde ersucht man, ihre Bekannten mitzubringen – schon haben wir ein kleines privates ›Jugendtreffen‹ für den Stadtbummel etc. beisammen. Gespräche und Diskussionen ergeben sich von selbst.«55
Ergänzend zu diesen verbandsintern arrangierten Fahrten war zudem auch jedes einzelne Mitglied dazu angehalten, innerhalb des privaten und schulischen Umfelds zu Fahrten ins östliche Europa anzuregen und entsprechende Reisemöglichkeiten auch über den Rahmen der DJO hinaus wahrzunehmen.56 In Anbetracht der unsicheren Lage, die sich durch eine fehlende Botschaft vor Ort ergab, galt vor allem für Fahrten in die Tschechoslowakei die Empfehlung, nicht als Verbandsmitglied, sondern einzig als »Repräsentant der deutschen Jugend« aufzutreten und als solcher Solidarität »mit den Grundlagen und der Haltung aller Jugendverbände im Bundesjugendring« zu signalisieren.57 In Anbetracht der zunehmend kritischen Lage seit Ende der 1960er Jahre ergänzte der »Wiesbadener Beschluss« von 1967 die Massener Bestimmungen zudem insofern, dass Mitglieder der DJO nicht mehr länger als offizielle Vertreter ihres Verbandes in die kommunistisch geführte Staatenwelt reisen durften.58 54 55 56 57 58
Ebd. Ebd. Ebd. Vgl. Kinzel: Möglichkeiten (Anm. 42). Vgl. DJO-Landesverband München: Ostkontakte (Anm. 51).
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Bezugnehmend auf die Regierungserklärungen Erhards59 und Kiesingers60 sowie die »Remscheider Erklärung« des Bundesjugendrings sah die DJO die von ihr ausgehenden »Ostkontakte« in den 1960er Jahren damit ganz im Einklang mit dem Kurs der Bundespolitik und des deutschen Jugendverbandswesens.61 Nachdem sich die Lage in Folge der Prager Ereignisse 1968 weiter zugespitzt hatte und der Bundesführung zudem bekannt geworden war, dass einzelnen Mitgliedern der DJO diese verbandsinternen Vorgaben für Fahrten ins östliche Europa entweder nicht bekannt oder von diesen mutwillig ignoriert worden waren,62 ermahnte ein Beschluss des DJO-Beirats von 1969 alle Mitglieder nochmals dazu, Reisevorhaben im Vorfeld gut abzuwägen, ihnen eine »gewissenhafte« Vorbereitung vorauszuschicken, »bei der Durchführung keinerlei politische Absicht erkennbar« werden zu lassen und die Bundesleitung im Vorfeld von dem Vorhaben in Kenntnis zu setzen.63 Da die Aufnahme von Kontakten mit offiziellen Vertretern der osteuropäischen Staatenwelt für Kinzel damit auch weiterhin an die Auflage der »Wiederherstellung und Garantie der Freiheitsrechte für alle Menschen und Meinungen im kommunistischen Herrschaftsbereich« geknüpft war64 und er zudem eine falsche Signalwirkung gegenüber all jenen oppositionellen Kräften befürchtete, denen die Begegnungsarbeit eigentlich galt,65 lehnte die DJO die Aufnahme offizieller Kontakte auch dann noch ab,66 als der DBJR seine Vorgaben in der Praxis bereits gelockert und seit 1968 praktisch aufgegeben hatte.67
59 Siehe Protokoll der 90. Sitzung des Deutschen Bundestags, 4. WP, Bonn, 18. 10. 1963, S. 4192– 4208, hier S. 4196. [online einsehbar unter: http://dipbt.bundestag.de/doc/btp/04/04090.pdf [30. 10. 2019]. 60 Siehe Protokoll der 80. Sitzung des Deutschen Bundestags, 5. WP, Bonn, 13. 12. 1966, S. 3656– 3665, hier S. 3662 [online einsehbar unter: http://dipbt.bundestag.de/doc/btp/05/05080.pdf [30. 10. 2019]. 61 Vgl. DJO-Landesverband München: Ostkontakte (Anm. 51). 62 Vgl. »Bericht über die Arbeitstagung der Bundesgruppenführer und Landesführer am 30.11./ 01. 12. 1968 in Wiesbaden«, S. 2–4, München, 12. 12. 1968, in: AdJb, A 216 Nr. 585. 63 Vgl. Beschluss des Beirates der DJO-Bundesführung betreffend »Ostkontakte« vom 28./29. 10. 1969 in Waldkraiburg, in: AdJb, A 216 Nr. 585. 64 Vgl. Kinzel: Ostkontakte (Anm. 30). 65 Vgl. Erläuterungen zum Beiratsbeschluss von Waldkraiburg 1969 als Anlage des Beiratsbeschlusses, S. 6f. 66 Vgl. Presseerklärung »Zustimmung versagt. Deutsche Jugend des Ostens zur Entschließung des Deutschen Bundesjugendringes (DBJR)«, München, 20. 11. 1967, in: AdJb, A 216 Nr. 585. 67 Entsprechend hieß es von Seiten seines Geschäftsführenden Ausschusses (GA) des DBJR: »Der GA bekundet den Willen des DBJR, zu einer Intensivierung der Kontakte mit der Jugend in osteuropäischen Ländern beizutragen. Aus diesem Grunde ist er bereit, Kontakte mit Staatsjugendorganisationen und deren Einrichtungen in osteuropäischen Staaten aufzunehmen. Voraussetzung ist, dass diese Kontakte auf der Basis der Gleichberechtigung und der Gegenseitigkeit erfolgen.« Bundesjugendring: Engagement (Anm. 32), S. 284.
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Zur symbolischen Funktion der »DJO-Grenzlandaktionen« Um ihre territorialen Ansprüche sowie ihre Solidarität mit der Jugend Osteuropas auch sichtbar gegenüber den Machthabern auf der anderen Seite der Grenze zu signalisieren, bestand eine wichtige Aktionsform in der Durchführung von sogenannten »Grenzlandaktionen«. Eine besonders ausdrucksstarke Form dieses symbolischen Protests gegen die innerdeutsche Grenze waren »Grenzlandfeuer«, die nicht nur gegenüber der SED-Regierung und ihren Grenzposten den provisorischen Charakter der derzeitigen Grenzen sichtbar zum Ausdruck bringen sollten, sondern auch gegenüber der Jugend jenseits der Grenze als Signal der Hoffnung dienten. Wie ein Augenzeuge der bundesweit entzündeten »Feuer der Freiheit« anlässlich des von der DJO als Gegenveranstaltung zu den »Weltjugendfestspielen« in Ost-Berlin veranstalteten »Tags der Jugend« 1951 feierlich verkündete, sollten die Feuer »bis tief in die Sowjetzone hinein leuchten« und damit nicht nur »ein leuchtendes Fanal des unbändigen Willens der Jugend zur Freiheit«, sondern ebenso ein »flammendes Bekenntnis« dafür sein, »daß das gesamte Deutschland nicht eher ruhen wird bis das Unrecht an Millionen unschuldiger Menschen wieder gutgemacht und ein ganzes Deutschland und ein einiges Europa in Freiheit und Menschenwürde errichtet ist«.68 Als ein solch sichtbares Zeichen gegen die bestehenden Grenzen fungierten auch die »Grenzlandlager« oder »Grenzlandfahrten«, die zu Fuß oder mit dem Rad entlang der innerdeutschen Grenze führten und dazu bestimmt waren, sowohl innerhalb als auch außerhalb der eigenen Reihen ein Bewusstsein für die Grenzfrage zu schaffen. So hatten etwa Mitglieder der niedersächsischen DJOJungenschaft ihre Rucksäcke anlässlich einer gemeinsamen »Grenzlandwanderung« zu Ostern 1969 im Harz mit Schildern versehen, deren Slogans wie »Ostermarsch gegen SED-Diktatur« oder »Ostermarsch für Demokratie in der SBZ« das Gespräch mit den Bewohnern auf beiden Seiten der Grenze provozieren sollte.69 Um ihre territorialen Forderungen auch deutlich sichtbar zur Schau zu stellen, nutzte die SdJ Wien etwa kurzerhand den Moment und brachte in einer nächtlichen Aktion einen heimatlichen Wimpel auf der anderen Seite der Grenze an.70 Denn anders als für die Mitglieder der übrigen DJO-Bundesgruppen ergab sich für die junge sudetendeutsche Generation innerhalb der DJO die besondere Lage, dass ihre ehemaligen Heimatgebiete sichtbar auf der anderen Seite der Grenze lagen.71 68 Es ging auch ohne Bundesjugendring. Feuer der Freiheit überall. Über 100 000 zwischen Flensburg und Konstanz zum »Tag der Jugend«, in: Pfeil, 1951, H. 7, S. 4. 69 Vgl. Gegen Minen und Stacheldraht, in: Pfeil, 1969, H. 5, S. 13f. 70 A. K.: Mit dem Gruppenwimpel auf Heimatboden, in: Pfeil, 1955, H. 10, S. 10. 71 Vgl. B[runo]. S[achers].: Das Erlebnis der Grenze, in: Pfeil, 1954, H. 10, S. 7–9.
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Neben seiner Funktion als symbolträchtiger Ort der Jugendbewegung nahm in Anbetracht seiner Lage nahe der innerdeutschen Grenze daher auch der Ludwigstein für die DJO stets eine besondere Stellung ein.72 So diente er 1951 als Gründungsort oder seit 1955 als Herberge des sogenannten »Oststeins«73, der – ebenso wie die verabschiedete »Ludwigsteiner Erklärung« von 1961 – besonders symbolträchtig zum 17. Juni aufgestellt worden war. Wie der langjährige Bundesvorsitzende Henning Müßigbrodt im Zeitzeugengespräch darlegte, war der Ludwigstein für die DJO außerdem im Kontext des Besuchs von ausländischen Jugend-Delegationen ein gern besuchter Ort, da sich am Blick ins Tal die Teilung klar nachvollziehen ließ.74
Zur Betreuung junger »Übersiedler« aus der DDR Eine weitere wichtige Form des Engagements war die Betreuung junger »Übersiedler« aus der DDR, die innerhalb der Aufnahmelager einen breiten Anteil ausmachten.75 Auch dieses Engagement war einerseits durch die Erinnerung an die eigenen Fluchterfahrungen motiviert und resultierte andererseits vor allem aus der starken Ablehnung des SED-Staates, die sich für die DJO in der Gestalt jener jungen DDR-Bürger spiegelte, die »unter dem Druck politischen Terrors ihre Heimat« hatten verlassen müssen.76 Neben der persönlichen Betreuung vor Ort bestimmten ebenso Spendenaktionen77 das Engagement, die man in Anbetracht »der über die Brüder und Schwestern in der Sowjetzone hereingebrochenen Not, aus ihrer besonderen Kenntnis östlichen Terrors und aus dem Be-
72 Zur Beziehung der DJO zur Jugendburg Ludwigstein siehe auch Ulrich Kockel: Die Deutsche Jugend des Ostens und die Burg Ludwigstein (1951–1975), in: Eckart Conze, Susanne RappeWeber (Hg.): Ludwigstein. Annäherungen an die Geschichte der Burg, Göttingen 2015, S. 313– 334. 73 Zur Bedeutung des »Oststeins« sowie den langjährigen Auseinandersetzungen um seine Symbolik siehe AdJb, A 216 Nr. 381 sowie ebd. Nr. 312. 74 Interview mit Henning Müßigbrodt vom 23. 11. 2017. 75 Vgl. Wolfgang Walla: in: Ost-West-Wanderung seit dem Zweiten Weltkrieg. Flüchtlinge, Vertriebene und Übersiedler im Spiegel der Statistik, in: Mathias Beer: Zur Integration der Flüchtlinge und Vertriebenen im deutschen Südwesten nach 1945. Bestandsaufnahme und Perspektiven der Forschung (Schriftenreihe des Instituts für donauschwäbische Geschichte und Landeskunde 3), Sigmaringen 1994, S. 61–75, hier S. 70. 76 E. B.: Endstation unbekannt – Zur Lage der sowjetzonalen Flüchtlingsjugend, in: Pfeil, 1953, H. 7, S. 1. 77 So hatten Mitglieder des württembergischen DJO-Landesverbands zwei Tonnen Kleidung gesammelt (vgl. Erste Meldung, in: Pfeil, 1953, H. 3, S. 7) und die Ludwigsburger DJO Mobiliar, Kleidung und Spielzeug für 130 Familien sowie künftige Übersiedler aus der DDR zusammengetragen (Vgl. Kurzmitteilung in: Pfeil, 1953, H. 5, S. 10).
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wußtsein ihrer gesamtdeutschen Verantwortung« als »menschliche und vaterländische Pflicht« betrachtete.78 Ergänzend brachte die DJO ihre Solidarität auch mit allen kritischen Angehörigen der jungen (Vertriebenen-) Generation zum Ausdruck, die nach wie vor in der DDR lebten. So sicherte Bundesjugendführer, Walter Kutschera, der heimatvertriebenen Jugend in der DDR anlässlich des Berliner »Tags der Heimat« 1952 die Unterstützung seines Verbandes zu und ermutigte sie, »trotz Gefährdung ihrer Freiheit« auch weiterhin den Kontakt zur DJO aufzunehmen und bestehende Verbindungen aufrechtzuerhalten.79 Schon zu Zeiten des landesweiten Zusammenschlusses unter der niedersächsischen OdJ konnte mit Genugtuung festgestellt werden, »dass sich sogar in der sowjetischen Zone bereits heimliche Gruppen gebildet haben, die sich an den Zielen und Aufgaben der Ostdeutschen Jugend – im schärfsten Gegensatz zur FDJ – bekennen«.80
III.
Die DJO im Spiegel der Institutionen des SED-Staates
Dass das Agieren der DJO auch auf der anderen Seite der Grenze nicht lange verborgen blieb, veranschaulichen zahlreiche Dokumente, die seit den frühen 1950er Jahren von der Medienlandschaft der DDR sowie insbesondere vom MfS und der FDJ zusammengetragen wurden.
Zur Wahrnehmung des westdeutschen Vertriebenenverbandswesens innerhalb der DDR Heike Amos zufolge galt die soziale Gruppe der Heimatvertriebenen in der DDR »von Anfang an als sicherheitspolitisches Problem und als potentiell systemdestabilisierend«, sodass »Selbstorganisationsversuche« sowie jegliche Kritik an der Oder-Neiße-Linie rasch gesetzlich unter schwere Strafe gestellt worden waren.81 Aufgrund ihrer konsequenten Ablehnung der nach dem Zweiten Weltkrieg geschaffenen Grenzen sowie der verweigerten Anerkennung der DDR als souveränem Staat gehörten die westdeutschen Vertriebenenverbände zu den sogenannten »Führungszentren der politisch-ideologischen Diversion« und zählten 78 Vgl. Kurznotiz, in: Pfeil, 1953, H. 3, S. 1. 79 Vgl. Berlin wird nicht vergessen, Grüße an die Jugend der Sowjetzone, in: Pfeil, 1952, H. 9, S. 4. 80 Vgl. Denkschrift der Ostdeutschen Jugend, Braunschweig, 09. 09. 1950, unterzeichnet von Hans-Joachim Hoffmann und Wilm von Elbwart, in: BArch, B 150/5140, Bl. 295–300, hier Bl. 299f. 81 Vgl. Heike Amos: Vertriebenenverbände im Fadenkreuz. Aktivitäten der Staatssicherheit 1949 bis 1989, München 2011, S. 26f.
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als solche schnell zu den »Feindorganisationen«des SED-Staates.82 Sowohl kritische Worte gegen die Oder-Neiße-Linie als auch die Kontaktaufnahme zu Vertriebenenverbänden in der Bundesrepublik galten daher als schwerer Tatbestand und wurden nicht nur kontinuierlich observiert, sondern auch juristisch streng verfolgt. Wie am Beispiel eines jungen Rostocker Werftmitarbeiters offenbar wurde, konnten daher auch all jene gegenüber den Institutionen des SEDStaates in Bedrängnis geraten, die mit Akteuren oder Gruppen der DJO im Zuge ihrer Begegnungsarbeit Verbindungen aufgebaut hatten. So war die MfS-Bezirksverwaltung Rostock Ende August 1957 auf einen Zwanzigjährigen aufmerksam geworden, nachdem dieser einige Mitglieder der DJO in einer Jugendherberge bei Hamburg kennengelernt und der nach seiner Rückkehr unter dem Eindruck der gemeinsamen Erlebnisse gegenüber Arbeitskollegen Fluchtabsichten geäußert hatte. Darüber hinaus habe er befunden, dass die FDJ »ein lahmer Haufen sei, die [sic!] keine Anerkennung finden würde«, wohingegen die DJO den notwendigen Kampf gegen die Oder-NeißeGrenze führe.83 Unter Verweis auf seine Verbindungen zur DJO begründete die Staatsanwaltschaft die Anklage daher vor allem damit, dass dem Beschuldigten sowohl deren Charakter als »neofaschistische« Organisation als auch ihre damit einhergehenden Zielvorstellungen einer »Revanche- und Eroberungspolitik jenseits der Gebiete der Oder-Neiße-Grenze« eindeutig bekannt gewesen seien.84 Zudem sei bei seinen Äußerungen gegenüber seinen Arbeitskollegen zum Ausdruck gekommen, dass sich der junge Werftmitarbeiter »durch die aufgenommene Verbindung zur DJO in seiner feindlichen Einstellung gestärkt« gefühlt und seitdem »nichts unversucht [gelassen habe], um die Errungenschaften der DDR unmöglich zu machen«.85 Als Folge wurde der Beschuldigte nach Art. 6 der DDR-Verfassung am 8. November 1957 zu einem Jahr Zuchthaus verurteilt.86
82 Vgl. Amos: Vertriebenenverbände (Anm. 81), S. 279f. bzw. umfassender S. 29–44. 83 Vgl. Vernehmungsprotokoll, Rostock, 24. 08. 1957, S. 1f., in: BStU, MfS, BV Rst, AU 47/57, GA Band 2, Bl. 42–44, hier Bl. 42f. 84 Vgl. Schreiben der Staatsanwaltschaft des Bezirkes Rostock an das Bezirksgericht Rostock, I. Strafsenat betreffend Anklage des Beschuldigten, Rostock, 11. 10. 1957, in: BStU, MfS, BV Rst, AU 47/57, GA Band 2, Bl. 91–95. 85 Vgl. ebd. 86 Vgl. Urteilsbegründung, Rostock, 18. 11. 1957, in: BStU, MfS, BV Rst, AU 47/57, GA Band 2, Bl. 117.
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Zur Bedeutung der FDJ im Kampf gegen revanchistische Tendenzen der westdeutschen Jugend Unabhängig von der Observierungstätigkeit des MfS fertigte vor allem die Zentrale Arbeitsgruppe des Zentralrates der FDJ seit 1952 Analysen über das Selbstverständnis, die personelle und soziale Zusammensetzung sowie die konkreten Tätigkeitsfelder der DJO an, da diese für sie als »grösste neofaschistische Jugendorganisation«87 der Bundesrepublik von besonderer Bedeutung war. In Anbetracht der Tatsache, dass sich die Forderungen der DJO bis Mitte der 1960er Jahre noch weitestgehend mit dem Kurs der Bundesregierung deckten und von dieser auch ausdrücklich unterstützt wurden – wie etwa ein Schreiben Konrad Adenauers an ihre Bundesführung exemplarisch veranschaulicht88 – hatte die DJO, nach Auffassung der FDJ, »die Aufgabe, die Jugend reif zu machen für einen neuen Krieg gegen den Osten mit dem Ziel und dem Ausweg, die verloren gegangenen Gebiete mit der Waffe in der Hand zurück zu erobern«.89 Besonders ihre Kulturarbeit sei von dem Motiv geprägt, die »Kriegspolitik des Adenauer-Regime[s] [zu] unterstützen und das Gift von der Zurückgewinnung der Heimat« im Rahmen staatlich subventionierter Lehrgänge und Propagandaveranstaltungen »in die Hirne der Menschen« zu pflanzen, was mit »einer schamlosen Hetze gegen die SU und im Besonderen gegen die Volksdemokratie Polen, die DDR und die Oder-Neiße-Friedensgrenze« einhergehe.90 Entsprechend deutlich fiel die zusammenfassende Einschätzung der DJO aus. So offenbare sowohl ihre Aufgaben- und Zielstellung als auch ihre Tätigkeit als »Instrument der ›psychologischen Kriegsführung‹ der Bonner Kriegsstrategen« die »Gefährlichkeit dieser Organisation«, die als »eine der grössten Jugendorganisationen der Bundesrepublik« die Jugend »wieder mit faschistischem Gedankengut verseuch[e].« »Mit allen Mitteln und Methoden [verbreite] sie ihre neofaschistische Ideologie und [sei] bemüht, breite Kreise der westdeutschen
87 Vgl. Analyse der DJO, o. O, o. D., in: SAPMO, DY 24/22315. 88 So hatte Adenauer gegenüber DJO-Bundesführer Ossi Böse erklärt: »Die Vertreibung von Millionen Deutscher aus ihrer jahrhundertealten Heimat war, was immer ihr auch vorausgegangen ist, ein Unrecht. Die Behauptung, dass die Demarkationslinie an den Flüssen Oder und Lausitzer Neisse die endgültige deutsche Grenze sei, entbehrt jeder Rechtsgrundlage. Eine dauerhafte Friedensregelung ist nur möglich, wenn das Recht auf Selbstbestimmung dem deutschen Volke endlich auch von der Sowjetunion zuerkannt wird.« Schreiben Konrad Adenauers an den DJO-Bundesjugendführer Oskar Böse, Bonn, März 1962, in: BArch, B136/ 9088. 89 Einschätzung der deutschen Jugend des Ostens, Berlin, 12. 12. 1952, in: Zentralarchiv der FDJ, Zentrale Arbeitsgruppe, Einschätzungen über die Organisation des Bundes »Deutsche Jugend des Ostens«, 1952–1953, in: SAPMO, DY 24/5582. 90 Ebd., S. 2.
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Jugend den verbrecherischen Interessen der westdeutschen Militaristen dienstbar zu machen.«91 Im Umgang mit der DJO verfolgte man eine klare Linie, bei der zwischen der Führungsebene und den individuellen Mitgliedern unterschieden wurde. Letztere galten als fehlgeleitete Opfer eines totalitären Systems: »Die FDJ nimmt zu dieser Organisation keine Verbindung auf. Wir haben auch kein Interesse, die ›DJO‹ in die DDR einzuladen. Ergibt sich die Tatsache, dass beim Delegationsbesuch anderer Jugendorganisationen in der DDR Mitglieder der ›DJO‹ darunter sind, so soll man selbstverständlich, wenn es sich um irregeführte Arbeiterkinder handelt, mit ihnen sprechen und ihnen ihren Irrweg bewußt machen.«92
Wie verschiedene Kampagnen gegen den langjährigen Bundesjugendführer Ossi Böse innerhalb des Rundfunks93 und der Printmedien der DDR exemplarisch veranschaulichen, versuchte die FDJ ergänzend durch das Streuen gezielter Desinformation und die Denunzierung94 von Angehörigen ihrer Leitungsebene noch stärker als bisher auf die öffentliche Wahrnehmung der DJO in der Bundesrepublik einzuwirken. So wurde Böse etwa im Rahmen eines zweiseitigen Artikels der Zeitschrift »Neues Leben« angelastet, bereits 1938 als Vierzehnjähriger im Namen der HJ im Sudetenland die »17- und 18-jährigen Jugendlichen« auf ihre »unerfüllte Aufgabe im Osten« eingeschworen und damit verantwortet zu haben, dass viele von ihnen »diese Verhetzung und Irreführung im Zweiten Weltkrieg mit dem Leben« hatten bezahlen müssen, während Böse selbst, »dessen Eigenschaften kaum einem Wolf, dafür aber umso mehr einem feigen Schakal« glichen, sich »im ›sicheren‹ Hinterland sadistische Methoden [ersann], um junge Menschen zu Killern zu erziehen«.95
Zur versuchten Einflussnahme des SED-Staates auf die Entwicklung des DBJR Da die DJO nach Auffassung der FDJ besonders innerhalb des DBJR die Aufgabe hatte, ihr »revanchistisch-neonazistisches Gedankengut an die dort vereinigten Jugendverbände heranzutragen und diese auf den Standpunkt der Revanchis91 Vgl. Analyse der DJO, S. 39, in: SAPMO, DY 24/22315. 92 Analyse »Deutsche Jugend des Ostens«, o. O., o. D., S. 3, in: SAPMO, Zentralarchiv der FDJ, Zentrale Arbeitsgruppe, Einschätzungen über die Organisation des Bundes »Deutsche Jugend des Ostens«, 1952–1953, in: SAPMO, DY 24/5582. 93 Siehe exemplarisch Der Pfeil – 10 Kapitel Wahrheit über die (west-) »Deutsche Jugend des Ostens« des Deutschlandsenders vom 29. 08. 1964, in: DRA-OMS01393/HFDB-ID sowie die damit einhergehende Stellungnahme Böses in: AdJb, A 216 Nr. 381. 94 Vgl. Amos: Vertriebenenverbände (Anm. 81), S. 2. 95 Werner H. Krause: Jugendmagazin entlarvt: Jugendverführer, in: Neues Leben, 1960, Bd. 11, S. 28f.
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tenverbände festzulegen«96, wurde zudem alles darangesetzt, den Wirkungskreis der DJO innerhalb des Bundesjugendrings so weit wie möglich einzudämmen. Zwar war der FDJ eine tatsächliche Unterwanderung des DBJR letztendlich nicht geglückt,97 aber immerhin hatte sie im Fall der DJO in den 1970er Jahren keinen unerheblichen Einfluss auf deren weiteren Weg innerhalb des Jugendverbandswesens.98 Den Anlass hierfür lieferte die DJO selbst. Während ihr Verhältnis zur SPD bis Mitte der 1960er noch von gegenseitigem Interesse und einem weitgehenden Konsens in politischen Fragen geprägt gewesen war,99 sorgte der politische Kurswechsel im Zuge der »neuen Ostpolitik« unter der sozial-liberalen Koalition für starken Widerstand innerhalb ihrer Reihen, welcher sich auch in vereinzelten Aktionen manifestieren sollte. So ereignete sich am 21. Mai 1970 im Rahmen des Kasseler Treffens zwischen Bundeskanzler Brandt und dem Vorsitzenden des Ministerrats der DDR, Willi Stoph, ein Zwischenfall, der sowohl für die DJO als auch die Regierung Brandt ernsthafte Konsequenzen nach sich zog. Zwei Mitglieder der DJO, Dietrich Murswiek und Arno Thon, waren gemeinsam mit dem Studenten Heinz Vogt durch einiges Geschick in den abgesperrten Pressebereich des Schlosshotels gelangt und hatten kurzerhand die DDR-Flagge vom Mast gerissen und vor Augen der internationalen Medienlandschaft öffentlichkeitswirksam zerrissen. Die Nachricht des Vorfalls erreichte Brandt und Stoph noch vor Beginn der eigentlichen Verhandlungen und veranlasste Stoph unmittelbar vor Ort dazu, die Erkla¨ rung Brandts im Rahmen der Vormittagssitzung zu unterbrechen und diesen stattdessen mit dem empfundenen Versagen der bundesrepublikanischen Ordnungskräfte zu konfrontieren, 96 Roland Bach/ Frank Scheffel: Zur Stellung und Funktion der offen neonazistischen Jugendorganisationen im staatsmonopolistischen Herrschaftssystem Westdeutschlands, 1968, in: ZAG, Rechtsradikale Jugendorganisationen und Parteien in der BRD, 1956–1970, in: SAPMO, DY 24/19365. 97 Vgl. Wolfgang R. Krabbe: Die FDJ und die Jugendverbände der Bundesrepublik 1949–1970, in: German Studies Review, 1998, Bd. 21, Nr. 3, S. 525–561. 98 Zu den nachfolgend skizzierten Ereignissen siehe auch Hamel: Jugend (Anm. 4). 99 So waren bereits am 17. Januar 1961 im Rahmen eines Gesprächs zwischen dem SPD-Präsidium (vertreten durch Erich Ollenhauer, Herbert Wehner, Carlo Schmidt, Fritz Erler, Marta Schanzenbach, Wenzel Jaksch, Richard Reitzner und Reinhold Rehs) und der DJO Fragen die Beziehungen zur polnischen Jugend, die Schaffung von Kontakten nach Osteuropa sowie die daraus hervorgehenden »gesamtdeutschen Arbeitsaufgaben« betreffend diskutiert worden (vgl. Internes Schreiben des Parteivorstands, Bonn, 11. 01. 1961, in: AdsD/SPD-Parteivorstand/01574 A). Und auch im Rahmen eines weiteren Gesprächs am 5. Juni 1964 sollten u. a. Möglichkeiten der »Ostkontakte« sowie die »Gesamtdeutsche Bewußtseinsbildung« Gegenstand sein (vgl. Protokoll über ein Gespräch zwischen der DJO und Vertretern des SPDPräsidiums am 05. 06. 1964, in: AdsD/Referat für Vertriebenenfragen/747). Siehe zu den Beziehungen zwischen der SPD und der DJO auch ausführlicher Matthias Müller: Die SPD und die Vertriebenenverba¨nde 1949–1977. Eintracht, Entfremdung, Zwietracht, Berlin 2012, S. 143–160.
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durch welches das Treffen bereits im Vorfeld der Verhandlungen »zwangsla¨ ufig belastet« sei.100 Auch in der »Aktuellen Kamera« wurde noch am Tag des Geschehens festgestellt, dass die Ausschreitungen in Kassel vor den Augen der internationalen Medienlandschaft deutlich gemacht hätten, dass sich vergleichbare Vorfälle nicht länger »bagatellisieren« ließen: »Wer heute Flaggen in den Dreck [trete], der reißt morgen Schlagbäume nieder. Und wer in GoebbelsManier versuch[e], den Kommunisten die Schuld in die Schuhe zu schieben, der beweis[e] auch in dieser Taktik, wer sein Vorbild [sei].«101Denn vor Ort hatten sich die Drei spontan »Ba¨ndchen« aus gru¨ ner Pappe angefertigt, die den offiziellen Zugangsbändchen der anwesenden Journalisten offenbar insoweit glichen, dass sie die Sicherheitsvorkehrungen rund um das Treffen beinahe mu¨ helos hatten passieren ko¨ nnen,102 was sowohl die Stadt Kassel als auch das Bundeskanzleramt nachtra¨ glich in Bedra¨ngnis bringen sollte und dessen Klärung in Anbetracht der lautstarken Vorwürfe von Seiten der DDR-Regierung und ihrer Staatsmedien einiges diplomatisches Geschick verlangte.103 Murswiek, der damals Bildungsreferent Teil der DJO-Bundesführung war, legte rückblickend dar, wie vor allem für ihn die symbolische Aufwertung der DDR in Kassel ein zentrales Handlungsmotiv gewesen sei. So habe man mit der Aktion »symbolhaft und spektakulär gegen die Teilung Deutschlands demonstrier[n]« können, da die DDR-Flagge »im allgemeinen Bewusstsein als Symbol der Teilung Deutschlands« gegolten habe, als welches Brandt sie selbst in seiner Funktion als Regierender Bürgermeister West-Berlins »noch wenige Jahre zuvor« stets habe entfernen lassen. Damit einhergehend verstand Murswiek »die Aktion als Ausdruck des Protests gegen ein kommunistisches Regime, das Menschen mit anderen politischen Auffassungen unterdrückte und auf Flüchtlinge an der DDR-Grenze schießen ließ«.104 Die DJO war in Folge der Kasseler Ereignisse einem langjährigen Ausschlussverfahren innerhalb des Bundesjugendrings ausgesetzt, das zwar maßgeblich von
100 Vgl. Presse- und Informationsamt der Bundesregierung (Hg.): Kassel. 21. Mai 1970. Eine Dokumentation, Bonn 1970, S. 6f. 101 DRA Potsdam/DRAB-N/045214/Aktuelle Kamera, Deutscher Fernsehfunk, 21. 05. 1970 (Transkription des Beitrags). 102 Schriftliches Interview mit Dietrich Murswiek. 103 So gab man im Vorfeld der Kabinettsitzung zu den Vorfällen hinsichtlich des Umgangs mit den drei Tätern zu bedenken: »Es ist möglich, daß das Strafmaß dem politischen Schaden, der durch die Tat verursacht worden ist, nicht entspricht und das Gerichtsverfahren Anlaß zu weiteren Propagandaangriffen gegen die Bundesregierung bietet. Trotz dieser Gefahr sollte m. E. nicht darauf verzichtet werden, Strafantrag zu stellen, damit wir uns nicht dem Vorwurf aussetzen, die Bundesregierung stelle sich schützend vor die Täter.« Vermerk des Referates II/2 für die Kabinettsitzung am 11. Juni 1970 betreffend »Flaggenzwischenfall in Kassel am 21. Mai 1970«, Bonn, 10. 06. 1970, S. 1f., in: BArch, B 136/19331. 104 Schriftliches Interview mit Dietrich Murswiek.
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der DGB- und der Naturfreundejugend initiiert,105 argumentativ jedoch stark von Initiativen beeinflusst worden war, deren Akteure in Verbindung mit dem SEDStaat standen oder in politischer Hinsicht zumindest mit diesem sympathisierten. Vor allem innerhalb der Reihen des Presseausschusses der »Demokratischen Aktion« (DA), dessen Broschüre »Deutsche Jugend gen Osten«106 zu einem viel zitierten Beitrag innerhalb des Ausschlussverfahrens gegen die DJO werden sollte, gerieten einige ehemalige Mitglieder durch ihre Verbindungen zum MfS in den 1990er Jahren in Bedrängnis – so etwa der Publizist Günther Wallraff sowie insbesondere das DA-Gründungsmitglied Kurt Hirsch.107 Die DA selbst stand unter Beobachtung des Verfassungsschutzes, der sie als »kommunistisch beeinflußte Vereinigung« einstufte.108 Gleiches galt für die VVN,109 aus deren Umfeld nicht nur die DJO-kritische Schrift »Weiter im alten Marschtritt«110 entstanden war, sondern auch der Publizist Georg Herde stammte, der insbesondere im Zuge der Recherchen für seinen Pressedienst »Neue Kommentare« zum weitaus einflussreichsten Kritiker der DJO wurde111 und wiederum mit Hirsch in Kontakt stand.112 Zwar konnten Herde – trotz entsprechender An-
105 Siehe Begründung des Antrages auf Ausschluss der Deutschen Jugend des Ostens (DJO) aus dem Deutschen Bundesjugendring auf der 38. Vollversammlung im November 1970 in Berlin. Eingebracht durch Walter Haas, DGB-Bundesjugendsekretär, Düsseldorf, 09. 12. 1970, in: AdJb, A 216 Nr. 55 sowie Naturfreundejugend Deutschlands, Bundesleitung (Hg.): Arbeit und Selbstverständnis der DJO. Materialien zum Ausschluss der DJO aus dem DBJR. Stuttgart, März 1972, in: AdJb, A 216 Nr. 55. 106 Siehe Eckart Spoot: Deutsche Jugend gen Osten. Die DJO – Kaderschmiede des Nationalismus (Schriftenreihe der Demokratischen Aktion 3), München 1970. 107 Unter Bezugnahme auf die sogenannten »Rosenholz-Dateien« der CIA waren zwischenzeitlich von der »Welt« ebenfalls entsprechende Vorwürfe gegen das Gründungsmitglied Bernt Engelmann erhoben worden, konnten im Rahmen der Recherchen innerhalb des Aktenbestandes der BStU zum angegliederten Dissertationsprojekt jedoch nicht verifiziert werden. Vgl. Stasi führte Engelmann als IM »Albers«, in: Die Welt, 19. 06. 2004. 108 Vgl. Informationsvermerk des Referates für Öffentliche Sicherheit (ÖS 2) im Bundesinnenministerium betreffend »Demokratische Aktion gegen Nazismus und Restauration« (DA) und »Pressedienst Demokratische Aktion« (PDA), Bonn, Februar 1974, S. 1, in: BArch, B 106/124146. 109 Siehe Bundesamt für Verfassungsschutz: Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes-Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten (VVN-BdA), Köln, Juni 1997. 110 Siehe Elvira Högemann-Ledewohn: »DJO« weiter im alten Marschtritt. Die Deutsche Jugend des Ostens nach ihrem Bundesjugendtag 1971, Dortmund 1971. 111 Siehe exemplarisch Georg Herde: Die DJO – Deutsche Jugend in Europa. Ein demokratischer Jugendverband oder die Nachwuchsorganisation und Kaderschmiede der Revanchistenverbände?, hg. von der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschisten, Frankfurt a. M. 1986. 112 Dies legen zumindest Schreiben aus dem Nachlass Herdes nahe; vgl. etwa Schreiben Georg Herdes an Kurt Hirsch, 11. 01. 1969 sowie Schreiben Kurt Hirschs an Georg Herde, 14. 01. 1969, in: Georg-Herde-Archiv, Georg Herde Schriftverkehr, 1969–1973.
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werbeinitiativen113 – nie Verbindungen zum MfS nachgewiesen werden, doch wurden seine Schriften von diesem in ihrer gesamten Vielfalt rezipiert114 und das mit seiner Mitarbeiterin Alexa Stolze publizierte Werk zur Sudetendeutschen Landsmannschaft115 im von der DDR finanzierten Pahl-Rugenstein-Verlag herausgegeben. Gegen den FDP-Abgeordneten – und ehemaligen IM »Olaf« – William Borm, der wiederum auf einer DJO-kritischen Pressekonferenz der DA als Redner geladen war,116 hatte die DJO wegen Verleumdung zwischenzeitlich Anzeige erhoben, nachdem dieser ihr Verbindungen zur rechtsextremen »Aktion Widerstand« unterstellt hatte.117 Der Bundesjugendring geriet durch die Mitgliedschaft der DJO auch insofern in Bedrängnis, als offizielle Delegationen unter Beteiligung von Mitgliedern der DJO nicht geduldet wurden. So teilte etwa der Delegierte des »Zentralrates der Jugendorganisationen der UdSSR« im Vorfeld einer geplanten Verständigungsfahrt des Landesjugendringes Rheinland-Pfalz in die UdSSR den Beteiligten mit, dass ideologische Differenzen dem angestrebten Austausch zwar nicht grundsätzlich im Weg stünden, er eine Delegation unter Beteiligung von Mitgliedern der DJO jedoch ablehne, sodass deren Vertreter aus Solidarität mit den übrigen Delegationsteilnehmern schließlich tatsächlich von der Reise zurücktrat. Wie man von Seiten des Gastgebers näher ausführte, resultierte diese Entscheidung nicht allein aus der politischen Unvereinbarkeit des eigenen Standpunktes mit den Forderungen der DJO, sondern war ebenso als Statement gegen deren vorläufigen Verbleib im Bundesjugendring zu sehen, während eine Mitgliedschaft der Sozialistischen Deutschen Arbeiterjugend (SDAJ) bislang weiterhin abgelehnt werde.118 Zwar war es der SED-Regierung langfristig nicht gelungen, auch die SDAJ für ihre Zwecke innerhalb des Bundesjugendrings zu instrumentalisieren,119 doch waren die parallel ausgetragenen Debatten um einen Ausschluss der DJO bzw. eine Aufnahme der SDAJ durchaus symptomatisch für die zunehmende Politisierung und Polarisierung innerhalb des Jugendverbandswesens der 1970er Jahre. 113 Vgl. Amos: Vertriebenenverbände (Anm. 81), S. 75. 114 So befanden sich vor allem innerhalb der Dokumente der ZAIG des MfS eine Reihe von Artikeln Herdes zum Wirken der DJO; vgl. BStU, MfS, ZAIG, Nr. 28564. 115 Siehe Georg Herde/ Alexa Stolze: Die Sudetendeutsche Landsmannschaft. Geschichte, Personen, Hintergründe – Eine kritische Bestandsaufnahme, Köln 1987. 116 Vgl. Abschrift eines Einladungsschreibens Kurt Hirschs im Namen des Pressedienstes der Demokratischen Aktion zur Pressekonferenz »Die Deutsche Jugend des Ostens – Kaderschmiede des Nationalismus« am 10. 11. 1970, München, 30. 10. 1970, in: AdJb, A 216 Nr. 21. 117 Vgl. Schreiben des DJO-Bundesführers Heinz Patock an alle DJO-Gruppierungen zum Verlauf der 38. VV in Berlin, Bonn, 26. 11. 1970, in: AdJb, A 216 Nr. 331. 118 Vgl. JW-Dienst, Jugendinformationsdienst, Nr. XI/43, 12. 11. 1970, S. 4. 119 Zur Beziehung des SED-Staates zur SDAJ siehe auch den Beitrag Knud Andresens in diesem Band.
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IV.
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Wandel im Zeichen der »neuen Ostpolitik«
Im Hinblick auf die DJO hatten die Kasseler Ereignisse vor allem ein massives innerverbandliches Spannungsverhältnis offenbart, das neben dem gesamtgesellschaftlichen Paradigmenwechsel auch wesentlich vom intergenerationellen Wandel geprägt war. So zeigte sich die deutliche Abgrenzung von den Denkstrukturen der Erlebnisgeneration innerhalb der ehemals Heimatvertriebenen insbesondere im Hinblick auf die neue Ostpolitik der Bundesrepublik in der Frage um den Rechtsanspruch auf die ehemaligen deutschen Ostgebiete und führte damit einhergehend schließlich auch zu einer verbandsinternen Grundsatzdebatte über die künftige Existenz der DJO, die schließlich in ihrer internen Spaltung mündete und für den Reformflügel mit einem grundlegenden Perspektivwechsel im Hinblick auf die Beziehungen zu den osteuropäischen Nachbarstaaten einherging. Beginnend mit der offiziellen Anerkennung der »Ostverträge« war der Kurs der – fortan – »Deutschen Jugend in Europa« vor allem von einem Prozess der allmählichen Annäherung geprägt, der über die bestehenden Kontakte zur Jugend Osteuropas hinaus auch die Begegnung mit den dortigen Staatsjugendorganisationen vorsah. Die Reformgegner schossen hingegen noch bis in die 1980er Jahre gegen den empfundenen »Verrat an der Heimat« und initiierten auch weiterhin vereinzelte Provokationen entlang der Grenze – wie etwa der 1976 durch die Hauptabteilung »Agitation« des MfS registrierte Aufruf zum Stehlen von »Selbstschußanlagen an der DDR-Grenze« veranschaulicht.120 Auch wenn die DJO als Folge ihrer Neuausrichtung seit Ende der 1970er Jahre wieder allmählich innerhalb der Strukturen des Bundesjugendrings etabliert war, schlug ihr von Seiten des SED-Staates bis zuletzt anhaltendes Misstrauen entgegen, wie es insbesondere in der anhaltenden Observierung ihrer Fahrten offenbar wurde.121 Auch die daraus resultierende Praxis der DJO, ihre Delegierten unter dem Dach unbefangener Verbände ins östliche Europa zu schleusen, wurden vom MfS rasch enttarnt und bis Ende der 1980er-Jahre konsequent observiert.
120 Vgl. Vermerk der Abteilung Agitation, Berlin, 19. 11. 1976, in: BStU, MfS, ZAIG, Nr. 28564, Bl. 208. 121 So hatte man noch für das Jahr 1987 »Hinweise zu einer geplanten Reise von Kräften der ›Deutschen Jugend des Ostens – Deutsche Jugend in Europa (DJO)‹ in die UdSSR« erhalten und im Hinblick auf die bisherige Verschleierungstaktik der DJO gewarnt, dass sich ihre Delegierten vermutlich auch weiterhin »mit dem Namen einer politisch unauffälligen Organisation zu tarnen [versuchten], um die Durchführung der Reise nicht zu gefährden und Kontaktschwierigkeiten von vornherein aus dem Weg zu gehen«. Vgl. Vermerk betreffend »Geplante UdSSR-Reise von Kräften der ›Deutschen Jugend des Ostens‹«, o. O., 1987, in: BStU, MfS, HA XXII, Nr. 407/3, Bl. 118 bzw. 119.
Praktiken von Jugendorganisationen
Knud Andresen
Kommunistische Unterwanderung? Die Gewerkschaftsjugend in den Friedensbewegungen der 1950er und 1980er Jahre
Die Gewerkschaften in der Bundesrepublik1 fanden zu allen Zeiten eine große Aufmerksamkeit von kommunistischen Akteur*innen. Die 1956 verbotene Kommunistische Partei Deutschlands (KPD), wie später auch die 1968 gegründete Deutsche Kommunistische Partei (DKP), verpflichteten ihre Mitglieder zur aktiven Gewerkschaftsarbeit. Daher ist es wenig überraschend, Kommunistinnen und Kommunisten aktiv in den Gewerkschaften zu finden. Zugleich war die »kommunistische Unterwanderung« der Gewerkschaften ein mehrdeutiges Schlagwort. Es speiste sich aus der in der Bundesrepublik dominierenden Ideologie des Antikommunismus ebenso wie aus den offenkundigen Versuchen der DDR, die bundesdeutschen Gewerkschaften zu beeinflussen.2 Zwar gehörten Kommunist*innen meist zu engagierten und aktiven Akteur*innen in den Gremien der Gewerkschaften, aber der Einfluss sollte nicht zu hoch veranschlagt werden. Mit dem Niedergang der KPD ab den späten 1940er Jahren und der Zuspitzung des Kalten Krieges dominierte in den Gewerkschaften eine antikommunistische Ausrichtung, die schließlich zum Ausschluss hauptamtlicher Kommunisten in den Gewerkschaften bis 1953 führte. Dies galt jedoch nicht für einfache Parteimitglieder, auf lokaler und betrieblicher Ebene waren auch eine Integration und ein Nebeneinander zu beobachten.3 Für Kommunist*en in der illegalen Phase 1 In diesem Aufsatz werden nur die Gewerkschaften behandelt, die sich im Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB) organisierten. Die 1954 gegründeten christlichen Gewerkschaften und die im Deutschen Beamtenbund (DBB)/Tarifunion organisierten Gewerkschaften werden nicht behandelt. Von diesen Verbänden war vermutlich nur die Deutsche Angestelltengewerkschaft (DAG) ob ihrer Größe und auch einer aktiven Jugendarbeit für kommunistische Akteure überhaupt interessant. 2 Empirisch gesättigt: Jens Hildebrandt: Gewerkschaften im geteilten Deutschland. Die Beziehungen zwischen DGB und FDGB vom Kalten Krieg bis zur Neuen Ostpolitik 1952 bis 1969, St. Ingbert 2010; Josef Kaiser: »Der politische Gewinn steht in keinem Verhältnis zum Aufwand«. Zur Westarbeit des FDGB im Kalten Krieg, in: Jahrbuch für Kommunismusforschung, 1996, S. 106–131. 3 Till Kössler: Abschied von der Revolution. Kommunisten und Gesellschaft in Westdeutschland 1945–1968 Düsseldorf 2005, bes. S. 297–314.
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zwischen 1956 und 1968 blieben die Gewerkschaften ein wichtiges Betätigungsfeld, ohne dass sie nennenswerten Einfluss erhielten, die Reste der Partei beschränkten sich auf ihre »Kerngruppe«.4 Dies änderte sich mit der Neugründung der DKP im September 1968, als auch jüngere Personen in die Partei kamen. Gegenüber DKP-Mitgliedern, die ehrenamtliche Positionen in den Gewerkschaften übernahmen, hielten die Gewerkschaftsführungen zwar Distanz, gingen aber nicht gegen sie vor. Von den Unvereinbarkeitsbeschlüssen waren ab 1973 vor allem die maoistischen K-Gruppen betroffen. Allerdings blieb DKP-Mitgliedern eine hauptamtliche Position in den Gewerkschaften verwehrt.5 Kommunist*innen waren also fester und zugleich umstrittener Bestandteil der Gewerkschaftsbewegung, und dies gilt auch für ihre Jugendorganisationen. Anhand von zwei unterschiedlichen Ereignisphasen wird in diesem Beitrag der »kommunistischen Unterwanderung« der Gewerkschaftsjugend nachgegangen. Diese erfolgte vor allem über die beiden orthodox-kommunistischen Jugendorganisationen: die bereits 1951 in Westdeutschland verbotene, aber illegal weiterarbeitende Freien Deutschen Jugend (FDJ) sowie die im Mai 1968 gegründete Sozialistische Deutsche Arbeiterjugend (SDAJ). Beide Organisationen verstanden sich als selbständig, faktisch waren sie aber vollständig unter Kontrolle der KPD bzw. DKP und von Geldzahlungen aus der DDR abhängig. Im Beitrag werden zudem zwei Mobilisierungsphasen der Friedensbewegung besonders berücksichtigt, und zwar die Kampagne gegen die Wiederbewaffnung Anfang bis Mitte der 1950er und die Mobilisierung gegen die Stationierung von Atomraketen Anfang der 1980er Jahre. Zuerst folgen systematische Überlegungen zur Gewerkschaftsjugend, um dann anhand der beiden Zeitabschnitte der Frage von Kommunist*innen in der Gewerkschaftsjugend exemplarisch nachzugehen. Dabei kann es nicht um ein Ja oder Nein zur Frage einer »kommunistischen Unterwanderung« gehen. Der Begriff war ein zeitgenössischer Kampfund Quellenbegriff, der keinen eigenen analytischen Wert hat. Dass kommunistische Akteure in möglichst allen Gliederungen der Gewerkschaften aktiv sein sollten, ist evident. Historiografisch steht vielmehr die Frage im Vordergrund, wie sie in den Gewerkschaften agierten und wie auf das Engagement reagiert wurde. Da orthodoxe Kommunist*innen im Vordergrund der Betrachtung stehen, handelt es sich dabei auch um eine Erfahrungsgeschichte des Kalten Krieges.
4 Kössler: Abschied (Anm. 3), S. 394. 5 Knud Andresen: Gebremste Radikalisierung. Die IG Metall und ihre Jugend 1968 bis in die 1980er Jahre, Göttingen 2016, S. 344–365.
Die Gewerkschaftsjugend in den Friedensbewegungen der 1950er und 1980er Jahre
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Gewerkschaftsjugend – politischer Jugendverband der besonderen Form Zuerst werden noch einige systematische Aspekte der Gewerkschaftsjugend benannt. Diese war und ist innerhalb der Gewerkschaften nur eine Personengruppe, die finanziert und gefördert wurde, aber keine eigene Mitgliedschaft hatte. Es wurden pauschal alle Gewerkschaftsmitglieder unter einer spezifischen Altersgrenze dazu gezählt, lange bis 21 Jahre, in den 1970er Jahre erfolgte eine Ausweitung auf überwiegend 25 Jahre. Die Gewerkschaftsbewegung stand ihren jugendlichen Mitgliedern immer etwas skeptisch gegenüber. Vielen Funktionären galt sie im Wesentlichen als Rekrutierungsinstanz für Mitglieder und für gewerkschaftlichen Nachwuchs.6 Diese Funktion unterstreicht, dass bis in die 1990er Jahre die Mehrzahl der hauptamtlichen Funktionäre ihre Aktivitäten schon in der Gewerkschaftsjugend begonnen hatte.7 Politisch hatte die Gewerkschaftsjugend keine autonome Strategiefindung und politische Positionierung als Jugendverband, sie war immer weisungsgebunden an die jeweiligen gewerkschaftlichen Gremien. Zudem war sie zersplittert zwischen DGB und Einzelgewerkschaften. In der DGB-Jugend wurden idealtypisch die Einzelgewerkschaften zusammengeführt. Der Aufbau von unten nach oben erfolgte vom Betrieb über den Kreisjugendausschuss des DGB und dann die Treppe rauf über Bezirke und Bund. Allerdings war diese Struktur noch einmal bei den Einzelgewerkschaften gespiegelt. Weder gelang es dem DGB noch den Einzelgewerkschaften, die vorgesehene Gremienstruktur für alle lokalen Untergliederungen vollständig einzurichten. Den bundesdeutschen Höchststand erreichte zum Beispiel die IG Metall 1981, als in 151 von 160 Verwaltungsstellen ein Ortsjugendausschuss bestand.8 Es ist daher wenig überraschend, dass ab der lokalen Ebene eine Vielzahl von Funktionen zu vergeben war, was ebenso zur Überforderung der Akteur*innen mit beitragen konnte wie zur Ämterhäufung. Wer sich einbringen wollte, konnte sehr schnell in ehrenamtliche Funktionen und Ämter reinwachsen. Diese Gemengelage führte auch dazu, dass mit den Gewerkschaften verbundene, aber nicht über die Betriebe gewählte Personen
6 Mit weiterer Literatur, aber geprägt von dem eingängigen Narrativ einer dauerhaften Krisenbeziehung zwischen Gewerkschaftsjugend und Gesamtorganisation durch das gesamte 20. Jahrhundert siehe Oliver Bierhoff: Organisation und generationale Ordnung. Zur Organisationsgeschichte der Gewerkschaftsjugend, Münster 2004; Diss. im Internet auffindbar unter: https://repositorium.uni-muenster.de/document/miami/5b622f65-685f-4c44-af21-8fb c9bf37c78/diss_bierhoff.pdf [11. 03. 2020]. 7 Jürgen Prott: Funktionäre in den Gewerkschaften, in: Wolfgang Schroeder, Bernhard Weßels (Hg.): Die Gewerkschaften in Politik und Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland. Ein Handbuch, Wiesbaden 2003, S. 223–242, S. 229. 8 Andresen: Radikalisierung (Anm. 5), S. 43.
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Aufgaben übernehmen konnten. Diese teiloffene Organisierung ermöglichte es in den 1970er Jahren auch nicht in Betrieben organisierten Mitgliedern, Aktivitäten zu entfalten und Posten zu übernehmen. Die Entwicklung der Gewerkschaftsjugend in der Bundesrepublik ist vor allem mit einem eingängigen Narrativ über den Niedergang des Arbeitermilieus und damit auch der Gewerkschaften als Repräsentanten eines sozialen Milieus verbunden.9 Harald Schlüter sprach vom »Ende der Arbeiterjugendbewegung«, das er in den 1960er Jahren verortete.10 Das sozial engere Arbeitermilieu, so der Kern dieser Erzählung, war in den 1950er Jahren noch von höherer Bedeutung für jugendliche Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter, die über ihren Betrieb und ihre Gewerkschaften organisiert und sozialisiert wurden. Was sich zwischen den 1950er Jahren und späteren Jahrzehnten vor allem änderte war, dass gewerkschaftliche Freizeitangebote weniger in Anspruch genommen wurden und die lebensweltliche Prägung nachließ. In den 1950er und 1960er Jahren organisierte die Gewerkschaftsjugend viele Freizeitangebote, wozu Filmabende ebenso gehörten wie sogenannte »Neigungsgruppen«, Tanz- oder Fotogruppen, häufig noch den Veranstaltungsformen der Weimarer Republik verhaftet. Diese Angebote waren nicht prinzipiell unpolitisch, wie für das Filmangebot der IG Bergbau gezeigt worden ist.11 Aber solch jugendpflegerisch konzipierte Verbandsarbeit geriet in den 1960er Jahren unter Kritik und verlor an Zuspruch unter Jugendlichen. Die gewerkschaftlichen Mobilisierungsprobleme wurden durch eine Politisierung nach 1968 zeitweilig hinweggespült. Im Zusammenhang mit der Lehrlingsbewegung, an der sich die im Mai 1968 neugegründete SDAJ engagiert beteiligte, wurden viele Gremien der Gewerkschaftsjugend reaktiviert und neu mit Leben erfüllt.12 Bei der Integration der Lehrlingsbewegung in die Gewerkschaften erhielt die SDAJ häufiger den Vorwurf, sie hätte schon früh auf Positionen in den Gremien hingearbeitet und damit die Gewerkschaftsjugend in der Hand.13 Der Jugendkongress der IG Metall 1974 oder der DGB-Bundesjugendkongress 1977 9 Die folgenden Ausführungen stützen sich vor allem auf Andresen: Radikalisierung (Anm. 5). Belegt werden nur Zitate. 10 Harald Schlüter: Vom Ende der Arbeiterjugendbewegung. Gewerkschaftliche Jugendarbeit im Hamburger Raum 1950–1965, Frankfurt a. M. u. a. 1994. 11 Stefan Moitra: »Wo bleibt der Arbeiterfilm?« Die Auseinandersetzung der IG Bergbau und Energie mit dem Medium Film in den 1950er und 1960er Jahren, Bochum 2004. 12 Als Hamburger Fallstudie: David Templin: »Lehrzeit – keine Leerzeit!« Die Lehrlingsbewegung in Hamburg 1968–1972, Hamburg 2011; Andresen, Radikalisierung (Anm. 5), S. 153– 216. 13 LZ-Redaktionskollektiv: Der Marsch ins Ghetto. Thesen zur DKP und zur Linkssektiererei in der BRD, Hamburg Juli 1971, gekürzt abgedruckt als: Reinhard Crusius und Manfred Wilke: Marsch ins linke Ghetto? in: Werkhefte. Zeitschrift für Probleme der Gesellschaft und des Katholizismus, 1972, Nr. 26, H. 1, S. 12–19.
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riefen Skepsis bei manchen Funktionär*innen hervor, die prinzipiell die Distanz zur DKP und SDAJ betonten. So kritisierte Eugen Loderer den Chile-SolidaritätsAbend auf dem Jugendkongress der IG Metall 1974 als kommunistische Veranstaltung und bemerkte: »Man müsse deutlich die Taktik der DKP sehen, für die die Vorgänge in Oberhausen einen Beweis darstellten. Insgesamt sei es erforderlich, die aus dem gesamten Vorgang sichtbar gewordenen Probleme der Jugendarbeit einmal umfassend zu diskutieren.«14 Allerdings erfolgte innerhalb der IG Metall eine solche Diskussion zu keiner Zeit seitens des Vorstandes. SDAJMitglieder galten vielen lokalen Funktionären als zuverlässige Aktivist*innen, die sich nicht gegen Vorstandsbeschlüsse stellen würden. Der DGB-Bundesjugendkongress 1977 löste hingegen politische Konflikte zwischen Teilen des DGB und einigen Einzelgewerkschaften über die vermeintliche kommunistische Unterwanderung aus. DGB-Bundesvorstandsmitglied Karl Schwab machte ein politisch radikales Auftreten auf dem Kongress aus und befürchtete gerade in DGBJugend-Gremien einen zu starken Einfluss der SDAJ. Als schließlich die DGBBundesjugendschule 1979 aus einer links-undogmatischen Perspektive gegen einen zu starken Einfluss der SDAJ in der Bildungsarbeit auftrat, eskalierte der Konflikt vor allem zwischen Einzelgewerkschaften und Teilen des DGB, die zum Teil nicht mehr miteinander kooperierten.15 Dieser Konflikt war aber weniger mit SDAJ-Mitgliedern, als vielmehr über sie und es war vor allem ein Konflikt zwischen Funktionären.16 Aber diese Entwicklungen lassen sich kaum allein der SDAJ zuschreiben – die 1970er Jahre waren insgesamt ein Konfliktjahrzehnt in den Gewerkschaften und der Gewerkschaftsjugend, in dem viele linke Gruppen miteinander stritten. Eine deutliche Abgrenzung seitens der Gewerkschaften erfolgte nur gegenüber den maoistischen Parteien ab 1973, die zu mindestens 2.600 Gewerkschaftsausschlüssen zwischen 1960 und 1980 führten.17 SDAJ- und DKP-Mitglieder betrafen diese Beschlüsse jedoch nicht, da sie zur Loyalität gegenüber Gewerkschaftsbeschlüssen verpflichtet waren und, anders als manche Maoist*innen, Funktio-
14 Auszug Protokoll Vorstand IG Metall vom 18.–21. 06. 1974, Nr. 13/74, in: Archiv der sozialen Demokratie, 5/IGMA-22-0101. 15 Diese Kritik fassen zusammen: Ossip K. Flechtheim, Wolfgang Rudzio, Fritz Vilmar und Manfred Wilke: Der Marsch der DKP durch die Institutionen, Frankfurt a. M. 1980. 16 So zeitgenössisch gedeutet von Karl Lauschke: Ins Schwarze getroffen?, in: express. Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit, 1979, 17. Jg., Nr. 10 v. 18. 10. 1979, S. 3–4. 17 Diese Zahlen sind Schätzungen, eine vollständige Übersicht liegt bisher nicht vor. Es ist zudem davon auszugehen, dass neben Ausschlüssen Verfahren auch mit zeitlich begrenzten Funktionsverboten endeten. Die Zahlen betrafen bis Mitte der 1970er Jahre sehr häufig den Jugendbereich. Vgl. zur Literaturdiskussion Andresen, Radikalisierung, S. 365. Als neueste Studie zur GEW vgl. Alexandra Jaeger: Abgrenzungen und Ausschlüsse. Die Unvereinbarkeitsbeschlüsse in der GEW-Hamburg in den 1970er Jahren, Weinheim 2020.
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när*innen nicht als »Arbeiterverräter« attackierten.18 Der wesentliche Unterschied zu den 1950er Jahren bestand zum einen darin, dass die Gewerkschaftsjugend weniger Repräsentantin eines sozialen Milieus sondern mehr von politischen Auseinandersetzungen zwischen linken Fraktionen geprägt war. Zum anderen war der frühere Antikommunismus zwar nicht völlig verschwunden, aber er dominierte die innergewerkschaftlichen Debatten nicht mehr so stark. Aber bezüglich des Verhältnisses von politischem Engagement und Mitgliedschaft bestand zwischen den beiden Ereigniszeiten kein prinzipieller Unterschied. Die Zahl der politisch aktiven jungen Gewerkschafter*innen war immer erheblich geringer als die Mitgliedschaft insgesamt und betrug vermutlich selten mehr als 10 Prozent; zudem war sie geprägt von regionalen und lokalen Unterschieden.19 Dieser Umstand ist zu berücksichtigen, wenn die Gewerkschaftsjugend und die Friedensbewegungen in den Blick genommen werden.
FDJ in der »Ohne-mich-Bewegung« Kehren wir also zurück in die 1950er Jahre. Die Kerndebatten hier sind die Bewegung gegen die Wiederbewaffnung, die »Ohne-Mich-Bewegung«, die sich von 1950 bis 1952 gegen die europäischen Planungen eines deutschen Wehrbeitrages richtete und ab 1954 bis 1955 gegen die Schaffung der Bundeswehr und den Nato-Beitritt. Die Gewerkschaften gehörten zu den ressourcenträchtigen Gegnern der Wiederbewaffnung, aber in einer widersprüchlichen Position. Während die Mitgliedschaft in großen Teilen die Wiederbewaffnung ablehnte, hatte sich die DGB-Führung schon 1950 nicht prinzipiell gegen einen Wehrbeitrag der Bundesrepublik ausgesprochen. Sie argumentierten vielmehr konditional: Erst wenn eine soziale Bundesrepublik erreicht sei, würde sich die organisierte Arbeiterbewegung einem Wehrbeitrag nicht verweigern. Diese Haltung führte zu Konflikten zwischen der DGB-Führung und einigen DGB-Landesverbänden, die eine Wiederbewaffnung prinzipiell ablehnten. Die Gewerkschaftsjugend spielte eine mobilisierende und tragende Rolle bei der Ablehnung.20 Für 18 Vgl. den impressiven Rückblick auf die Lehrlingsbewegung in Hamburg: Arp Kreßin: Mit uns die Zukunft? Die Jugendarbeit, in: IG Metall Verwaltungsstelle Hamburg (Hg.): »Wartet nicht auf andere, packt jetzt selbst mit an«. Texte, Dokumente und Fotos der IG Metall in Hamburg 1945 bis 1995, Hamburg 1995, S. 160–169. 19 So wurde schon für die Gewerkschaftsjugend in Köln für 1950 geschätzt, dass höchstens bis zu 20 Prozent der jugendlichen Mitglieder an Aktivitäten teilnahmen; Karl-Heinz Boeßenecker: Der DGB und seine Jugendarbeit in Köln nach 1945. Eine Lokalstudie gewerkschaftlicher Organisationsprozesse, Bonn 1985, S. 272f. 20 Das empirisch gesättigte Werk zur »Ohne-mich-Bewegung« mit starker Betonung des kommunistischen Einflusses: Michael Werner: Die »Ohne-mich«-Bewegung. Die bundesdeutsche Friedensbewegung im deutsch-deutschen Kalten Krieg (1949–1955), Münster
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die KPD war die Frage der Wiederbewaffnung ein wichtiger strategischer Ansatz, um die »Deutsche Frage« offenzuhalten und die Westbindung zu verhindern. Der aktionistische Teil einer zu der Zeit konfrontativen kommunistischen Politik lag häufig bei der FDJ. Die westdeutsche FDJ wurde wesentlich von KPD-Kadern geleitet; von den rund 30.000 Mitgliedern war 1950 aber nur die Hälfte in der Partei. Seit 1948 hatte sich die West-FDJ zu einem »politischen Jugendverband auf der Grundlage sowjetischer Zielvorgaben für die Westarbeit« gewandelt.21 Die wesentlichen Ziele waren in der Kampagne gegen die Wiederbewaffnung daher vor allem, die Westintegration der Bundesrepublik zu verhindern und die nationale Frage politisch offenzuhalten. Diese Positionen wurden aber, wenngleich nicht so aggressiv gegen die Regierung Adenauer vorgetragen, auch von vielen sozialdemokratischen, christlichen und neutralistischen Akteuren der Wiederbewaffnungsgegner geteilt. Aufgrund ihres aktionistischen Potentials wurde die FDJ im Sommer 1951 verboten, das Verbot 1954 vom Bundesverfassungsgericht bestätigt. Bis 1953 ging die Mitgliederzahl auf knapp 9.000 zurück. Viele FDJMitglieder waren in den Gewerkschaften und Betrieben engagiert, aber auch diese Zahlen waren rückläufig. Exakte Angaben liegen nicht vor. 1952 waren es in den Bundesländern immerhin noch knapp 80 Betriebsgruppen, deren Mitgliederzahl zwischen 20 und drei schwankte. Gewerkschaftsmitglieder waren 1952 in Niedersachsen noch 75 Prozent, in Hamburg aber nur 42 Prozent.22 Die FDJ hatte also noch gewisses Mobilisierungspotential in den Gewerkschaften und Betrieben, die Mehrzahl der Mitglieder waren Arbeiter. Aber die Bedingungen für die FDJ wurden zunehmend schwieriger. Neben Repressionen und einer antikommunistischen Stimmung trugen auch die schrille nationale Rhetorik und die deutliche Parteinahme für Positionen der DDR zur Isolation bei. Dies zeigte sich bei den Auseinandersetzungen um die Insel Helgoland. Seit Dezember 1950 hatte es Besetzungen und mediale Aufmerksamkeit für die Insel gegeben: Die Bevölkerung war während des Krieges evakuiert worden, die britische Royal Air Force nutzte die Insel als Bombenabwurfstelle. Die FDJ ließ ab März 1951 mehrere Delegationen die Insel besetzen, die anschließend von britischen Militärgerichten verurteilt wurden. Zwar initi-
2006, zum DGB bes. 159–166 u. 293–299; Knud Andresen: Zwischen Protest und Mitarbeit. Die widersprüchlichen Potentiale gewerkschaftlicher Friedenspolitik 1950–1955, in: Detlef Bald, Wolfram Wette (Hg.): Alternativen zur Wiederbewaffnung. Friedenskonzeptionen in Westdeutschland 1945–1955, Essen 2008, S. 53–70. Neuerdings kritisch zum Verhältnis Gewerkschaften und Militär: Malte Meyer: Lieber Tot als Rot. Gewerkschaften und Militär in Deutschland seit 1914, Münster 2017, bes. S. 107–133 und 234–258. 21 Michael Herms: Hinter den Linien. Westarbeit der FDJ 1945–1956, Berlin 2001, S. 347. 22 Ebd., S. 254–258.
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ierte die FDJ eine »Deutsche Bewegung Helgoland«, aber sie erhielt kaum Unterstützung von der Helgoländer Bevölkerung oder anderen Organisationen.23 Als im Mai 1952 eine Jugendkarawane gegen die Wiederbewaffnung in Essen verboten wurde, aber schon mehrere tausende Teilnehmer*innen in der Stadt waren, kam es zu Auseinandersetzungen. Die Polizei tötete den 21-jährigen Philipp Müller, FDJ-Mitglied aus München, und verletzte mehrere andere durch Pistolenschüsse (siehe dazu im Detail auch den Beitrag von Alfons Kenkmann in diesem Band). Die Ereignisse wurden im Westen kaum öffentlich beachtet, es wurde von einem Schusswechsel gesprochen. Die Ereignisse zeigten vor allem, dass eine auch, aber bei weitem nicht nur von der FDJ unterstütze Aktion aus der öffentlichen Wahrnehmung im Westen verdrängt wurde, obwohl die Mobilisierung weit über die in der FDJ organisierte Mitgliedschaft hinausging. Aber institutionell war keine Zusammenarbeit mit den Gewerkschaften erfolgt. Der Bundesjugendausschuss des DGB hatte eine Beteiligung an der Demonstration aufgrund der kommunistischen Ausrichtung abgelehnt.24 Die wenigen vorliegenden Zahlen lassen zwar einen Anteil von Gewerkschaftsjugendlichen vermuten, aber es bleibt unklar, ob es sich dabei um FDJ-Mitglieder handelte oder nicht.25 Die Bündnispolitik der FDJ fand keinen nachhaltigen Erfolg. Der Einflussverlust erfolgte nicht nur aufgrund staatlicher Repression, sondern in einem hohen Maße auch durch die Entwicklungen in der DDR. In den Gewerkschaften waren junge Kommunist*innen meist auf betrieblicher und lokaler Ebene aktiv. In den führenden Gremien, wie dem Bundesjugendausschuss des DGB, hatten sie keinen prominenten Einfluss. Ebenfalls auf lokaler Ebene trafen sie häufig auf antikommunistische Abwehr. Ein Beispiel aus Hamburg zeigt dies. In acht Briefen forderten Anfang 1955 junge Gewerkschafter*innen den DGB-Ortsvorsitzenden dazu auf, nach den Beschlüssen des DGB-Kongresses gegen die Wiederbewaffnung nun mitzuteilen, welche Aktionen geplant seien. Der Vorsitzende hat nicht geantwortet und bei einigen Briefen »KP« notiert – es wurde dahinter eine von der KPD gesteuerte Aktion unterstellt. Dieses Muster lässt sich bei vielen lokalen Gelegenheiten annehmen. Till Kössler hat in seiner Untersuchung zur Erosion des KPD-Milieus festgestellt, dass es neben der Ausgrenzung auch Integrationsbemühungen gab. Viele Kommunisten waren im Betrieb und den Gewerkschaften engagiert, aber Akzeptanz fanden sie weniger als Kommunist*innen denn als Kolleg*innen. Trotz gewisser Mobilisierungserfolge lässt sich für die frühen 1950er Jahren nicht feststellen, dass die Konflikte zwischen Teilen des DGB und auch der Ge23 Ebd., S. 214–217. 24 Werner: Bewegung (Anm. 20), S. 332. 25 Zu den Ereignissen und Teilnehmerzahlen aus Niedersachsen Herms: Linien (Anm. 21), S. 263–273.
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werkschaftsjugend von Kommunist*innen gesteuert waren. Beschlüsse des Bundesjugendausschusses gegen die Wiederbewaffnung oder der Abbruch der vorbereitenden Gespräche mit der »Dienststelle Blank« im April 1954 hatten andere Gründe: Innerhalb der Gewerkschaften und der SPD war die Skepsis gegenüber der Wiederbewaffnung weit verbreitet, da damit eine Wiedervereinigung auf lange Sicht unmöglich erschien. Hierbei bildete die Gewerkschaftsjugend einen aktiven Teil, und FDJ-Mitglieder konnten auf lokaler Ebene dabei auch eine Rolle spielen. Aber sie dominierten die Gewerkschaftsjugend nicht. Hierzu trug auch bei, dass die antikommunistische Grundhaltung die von der FDJ angestrebten Bündnisse erheblich erschwerte. Zudem delegitimierte sich die kommunistische Jugendbewegung vor allem durch die Entwicklungen in der DDR selbst. Obwohl viele Bundesbürger gegen eine Wiederbewaffnung eingestellt waren, wurden die Positionen der FDJ und damit der SED-Führung nicht übernommen.
»Atomraketen-Stopp!« Die Friedensbewegung als kommunistischer Mobilisierungserfolg oder Pyrrhus-Sieg? Die Situation Anfang der 1980er Jahren war in den politischen Konstellationen fundamental unterschiedlich zu den 1950er Jahren. Mit dem rapiden Erstarken der Friedensbewegung gegen den Nato-Doppelbeschluss ab 1980 ergab sich für die Gewerkschaftsjugend ein mobilisierendes und die Aktivitäten zeitweilig dominierendes Betätigungsfeld.26 Dies erfolgte zwar durchaus auch in Konflikten mit den Gewerkschaftsführungen. Aber die Skepsis gegenüber DKP und SDAJ war nicht mehr mit der antikommunistischen Grundhaltung der 1950er Jahre vergleichbar; für viele Akteur*innen waren Kommunist*innen akzeptierte Bündnispartner in der Friedensbewegung. Die Gewerkschaftsführungen sahen sich als Unterstützer der Friedensbewegung, aber waren zugleich darauf bedacht, dem Vorwurf einer zu einseitigen Kritik an der USA und einer Schonung der Sowjetunion zu entgehen. Die größte Zerreißprobe brachte die Friedensbewegung vor allem für die SPD, die als Regierungspartei den Nato-Doppelbeschluss mit initiiert hatte. Dies fand in der Mitgliedschaft jedoch häufig Ablehnung und gilt mit als Grund für die Agonie der letzten Regierung und sozialliberalen Koalition 26 Zur Ereignisgeschichte von Friedensbewegung und Gewerkschaften vgl. Stefan Strutz: Zwischen Kommunikation und Strategie. Zu den Problemen politischer Zusammenarbeit zwischen IG Metall und Friedensbewegung von Ende der 1970er bis Anfang der 1990er Jahre, Marburg 1997; vgl. als konzisen Überblick Dietmar Süß: Friedensbewegung und Gewerkschaften, in: Christoph Becker-Schaum u. a. (Hg.): »Entrüstet Euch«. Nuklearkrise, NatoDoppelbeschluss und Friedensbewegung, S. 262–276, Paderborn 2012; Meyer: Gewerkschaften (Anm. 20), S. 234–258.
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unter Helmut Schmidt, die im September 1982 zerbrach.27 Diese Konfliktlinie prägte jedoch die Friedensbewegung insgesamt – sollte allein die geplante Stationierung amerikanischer Atomraketen kritisiert werden oder ebenso die sowjetische Aufrüstung? War man ein »nützlicher Idiot« Moskaus, wenn man sich gegen die weitere Aufrüstung stellte? Die Friedensbewegung war von einem starken Engagement von DKP und SDAJ geprägt. Insbesondere der »Krefelder Appell«, den mehrere Millionen Menschen unterschrieben, galt als strategischer Erfolg. Dieser im November 1980 von einer Konferenz der Friedensbewegung beschlossene Aufruf wandte sich an die Bundesregierung, die Stationierung amerikanischer Raketen zu verhindern und erwähnte die Sowjetunion nicht.28 Es war der DKP gelungen, den Minimalkonsens der Friedensbewegung auf die Ablehnung der amerikanischen und nicht auch der sowjetischen Atomraketen festzulegen. Dies hat dazu geführt, dass die gesamte Friedensbewegung in der Literatur gelegentlich als kommunistisch unterwandert und gesteuert betrachtet wird.29 Überzeugender hat Georg Fülberth dargelegt, dass die unbestreitbaren Bündniserfolge sich als Pyrrhussieg für die DKP erwiesen. Nach der Biermann-Ausbürgerung 1976 sei die DKP in eine intellektuelle Agonie geraten und blieb eingeschlossen in ihre Milieus. Die Friedensbewegung half den Kommunist*innen aus der ideologischen Isolation, aber die Bündnisse hatten auch zur Folge, dass innerhalb der DKP die Konflikte zwischen Erneuerern und Bewahrern deutlicher wurden, die schließlich mit zum Niedergang der Partei führen sollten.30 Auch die SDAJ befand sich in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre in einer Mobilisierungskrise. Es wurden fast irrwitzig anmutende Mitgliederwerbekampagnen initiiert, mit der sich die Mitgliederfluktuation verschärfte. Zwar waren Veranstaltungen erfolgreich und erhöhten die Akzeptanz der SDAJ in der jüngeren Bevölkerung. Besonders das Festival der Jugend, seit 1976 alle zwei Jahre mit bekannten Künstlerinnen und Künstler ausgerichtet und mit bis zu 200.000 Besucher*innen, galt als Leuchtturm. Aber statt der behaupteten 20.000 Mitglieder waren es vermutlich nur rund 5.000 Personen, die dauerhaft mit der SDAJ verbunden waren – abzulesen an der Zahl der auf dem Festival eingesetzten Hilfskräfte. Hinzu kam ein Überhang an Gymnasiasten oder Realschülerinnen. Reine SDAJ-Gruppen gab es nur selten im Betrieb, meistens engagierten sich 27 Vgl. Jan Hansen: Abschied vom Kalten Krieg? Die Sozialdemokraten und der Nachrüstungsstreit (1977–1987), Berlin 2016. 28 Ebd., S. 151f. 29 Michael Ploetz, Hans-Peter Müller: Ferngelenkte Friedensbewegung? DDR und UDSSR im Kampf gegen den Nato-Doppelbeschluss, Münster 2004; Michael Roik: Die DKP und die demokratischen Parteien 1968–1984, Paderborn u. a. 2006, S. 15f. 30 Georg Fülberth: KPD und DKP 1945–1990. Zwei kommunistische Parteien in der vierten Periode kapitalistischer Entwicklung, Heilbronn 21992, S. 161.
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SDAJ-Mitglieder bei den gewerkschaftlichen Betriebsgruppen, damit diese überhaupt funktionsfähig blieben.31 Die Friedensbewegung bot für die SDAJ ein erneutes Aktionsfeld, und sie investierte, entsprechend ihrer kampagnenförmigen Mobilisierungspolitik, die gesamte Kraft der Organisation. Die Gewerkschaftsjugend war dabei eine wichtige Bühne; die SDAJ verstand sich als fester Bestandteil.32 In der Friedensbewegung gehörten lokale und regionale Gruppen der Gewerkschaftsjugend mit zu den treibenden Kräften. Ein Stimmungshinweis war im September 1979 zu beobachten, als die DGB-Jugend zum Anti-Kriegstag in die Westfalenhalle nach Dortmund lud. Als der DGB-Vorsitzende Heinz Oskar Vetter auch den HitlerStalin-Pakt in seiner Rede erwähnte, wurde er vor rund 16.000 Gewerkschafter*innen ausgepfiffen. Da in einer Broschüre zum Anti-Kriegstag der DGBJugend der Nichtangriffspakt keine Erwähnung fand, enthob Vetter Heinz Hawreliuk, Bundesjugendsekretär und Juso-Mitglied, seiner Funktionen und ließ die Broschüre einstampfen.33 Diese Vorgänge waren vor allem Machtkämpfe zwischen den Funktionären. Aber es zeigte durchaus eine Stimmung in der aktiven Gewerkschaftsjugend, in der orthodoxe kommunistische Deutungen Nachhall finden konnten.34 In den Konflikten der Gewerkschaftsjugend um die Friedensbewegung wirkten die Auseinandersetzungen der vorherigen Jahre zwischen den Gewerkschaften weiter. Grob gesprochen standen IG Metall und Handel, Banken und Versicherung (HBV) und Deutsche Postgewerkschaft (DPG) gegen DGB-Bundesjugendführung sowie IG Chemie, Papier, Keramik (CPK) und IG Bergbau. Diese Konfliktlinie zeigte sich auf dem 2. Weltjugendtreffen des Internationalen Bundes Freier Gewerkschaften im August 1981 in Sevilla. Fast ein Fünftel der rund 5.000 Teilnehmer kam von DGB-Gewerkschaften, darunter viele hauptamtliche Jugendfunktionäre, und die Deutschen hatten das Thema Frieden und Abrüstung auf die Tagesordnung gebracht. Die schließlich verabschiedete Resolution enthielt eine Kritik an der Außenpolitik der USA, die Passage zur Sowjetunion war jedoch wieder gestrichen worden. Zufrieden notierte ein Beobachter des Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes (FDGB), dass sich »die Kräfte 31 Andresen: Radikalisierung (Anm. 5), S. 362–365. 32 So gab ein SDAJ-Bundesvorstandsmitglied ein Buch über die Gewerkschaftsjugend 1977 heraus, in der die SDAJ selbst nur einmal erwähnt wird, aber häufig von »konsequenter Interessenvertretung« oder »progressiven Kräften« gesprochen wird; Peter Katzer: Zur Gewerkschaftsjugendbewegung – Probleme und Entwicklungen seit Ende der sechziger Jahre, Frankfurt a. M. 1977. 33 Andresen: Radikalisierung (Anm. 5), S. 450. 34 Dies betraf die sogenannte »Marburger Gewerkschaftsgeschichte«, in der eine stark KPDzentrierte historische Perspektive eingenommen wurde. Das Buch wurde von der IG Metall in der Bildungsarbeit eingesetzt; vgl. Frank Deppe, Georg Fülberth, Hans-Jürgen Harrer u. a.: Geschichte der deutschen Gewerkschaftsbewegung, Köln 1977.
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in der Gewerkschaftsjugend« durchsetzten, »die antikommunistische und antisowjetische Positionen nicht zum Tragen kommen ließen.« Die Ereignisse von Sevilla verschärften die Spannungen zwischen den Jugendfunktionären der Gewerkschaften. Zur Entschärfung wurde in der Vorbereitung des DGB-Jugendkongresses im November 1981 beschlossen, zu den heiklen Punkten Polen und Afghanistan jeweils nur einen Antrag zuzulassen und Sevilla nicht zu thematisieren.35 Aber schon im Frühherbst 1981 spitzten sich Konflikte zwischen der DGBFührung und friedensbewegten Gruppen fort, da der Bundesvorstand der Gewerkschaftsjugend untersagte, zur Demonstration der Friedensbewegung im Oktober 1981 nach Bonn aufzurufen. Trotz dieser Distanzierung organisierten lokale und regionale gewerkschaftliche Gruppen über 2.000 Busse zur Demonstration, von den rund 200.000 Demonstrant*innen sollen rund ein Drittel aus den Gewerkschaften gekommen sein. Prominent sprach das auch für Jugendarbeit zuständige IG Metall-Vorstandsmitglied Georg Benz auf der Demonstration – übrigens auch über sowjetische Außenpolitik und Menschenrechtsverletzungen. Der IG Metall-Vorstand rügte sein Verhalten und untersagte fürderhin, dass Vorstandsmitglieder als Privatpersonen öffentlich auftreten.36 Die Demonstration im Oktober zeigte vor allem, dass der DGB-Bundesvorstand eine Teilnahme nicht verbieten konnte – allerhöchstens, dass mit dem DGB-Bundesjugendausschuss ein offizielles Gremium die Demonstration nicht unterstützte. Die Spannbreite gewerkschaftlicher Handlungsspielräume war erheblich größer, und davon profitierte auch die SDAJ. Aber waren diese Entwicklungen Ergebnisse einer kommunistischen Unterwanderung? Dafür spricht insgesamt wenig. Die SDAJ war zwar auf Gewerkschaftsarbeit verpflichtet, aber ihre Mitgliederzahl in der betrieblichen Jugendarbeit war nicht dominierend. Die SDAJ hatte nicht allein mit einer hohen Mitgliederfluktuation zu kämpfen, sondern auch mit einem Überhang an nicht betrieblich gebundenen Jugendlichen. Wahlfunktionen im ehrenamtlichen Bereich waren zwar auch von SDAJ-Funktionären besetzt, so eine Reihe von Jugendvertreter*innen im Betrieb, aber bereits die DGB-KreisjugendausschussVorsitzende in Hamburg, Birgit Randow, galt als eine der prominentesten SDAJler*innen im Bereich der DGB-Jugend.37 Ab 1981 dominierte das Thema Frieden die Arbeit fast aller Gewerkschaftsjugendgruppen, und dies war nicht allein ein Erfolg der SDAJ. Daran beteiligt waren ebenso Sozialdemokraten und parteipolitisch ungebundene Personen. Zwar fanden Argumente der SDAJ mehr Gehör, insbesondere, sich auf die westdeutsche Politik zu konzentrieren und nicht 35 Andresen: Radikalisierung (Anm. 5), S. 527f. 36 Andresen: Radikalisierung (Anm. 5), S. 528f. 37 Der Unterwanderweg ist lang, in: Der Spiegel, 1980, Nr. 3 v. 14. 01. 1980, S. 38–41.
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die Sowjetunion mit in die Kritik zu nehmen. Die DGB-Führung wie auch viele der lokalen Akteure strebten eine allgemeine Abrüstung an und verstanden sich als Teil einer Friedensbewegung in Ost und West. Der DGB-Bundesvorstand versuchte mit eigenen Aufrufen, gewerkschaftliche Akzente in diesem Sinne zu setzen, so in seinem Aufruf »Abrüstung ist das Gebot der Stunde!« zu Ostern 1983, in dem Menschenrechtsverletzungen in Ost und West angesprochen wurden. Vor allem, so führte der DGB-Bundesjugendsekretär Klaus Westermann aus, sollte von der Gewerkschaftsjugend keine anderen Bündnisaufrufe unterschrieben werden.38 Dieses Bemühen, eine eigene Linie neben der Friedensbewegung zu etablieren, hatte taktische Gründe, war aber nicht allein gegen DKP und SDAJ zu verstehen, sondern richtete sich gegen ein von der Gewerkschaftsführung nicht kontrolliertes Verhalten. Dies wurde häufiger umgangen, indem Funktionen von Betriebsräten oder Gewerkschaftsfunktionen in Aufrufen nur als Information genannt wurden. Betriebliche Friedensgruppen hatten seit 1982 einen erheblichen Aufschwung erfahren, waren aber eher von älteren DKP-Mitgliedern als von SDAJ-Mitgliedern geprägt. Im Herbst 1983 trafen sich rund 130 betriebliche Friedensinitiativen in Dortmund. Ihre Schwerpunkte lagen in der Metallindustrie und im öffentlichen Dienst. Schwerpunkt der DKP war es, Bündnisse aus DKP- und SPD-Mitgliedern zu organisieren.39 In der IG Metall schoben vor allem Jugendvertretungen Aktivitäten an, so bei der häufiger vorkommenden Erklärung einer Lehrwerkstatt zu atomwaffenfreien Zonen. Aber diese Welle von Erklärungen ab 1982 war ebenfalls kein SDAJ-Spezifikum. Mit dem Abflauen der Friedensbewegung nach dem Stationierungsbeschluss im Herbst 1983 sah die Gewerkschaftsjugend in der Friedensthematik weiterhin ein wichtiges Aktionsfeld. Eine im Mai 1985 organisierte Fahrrad-Friedensstafette war zwar organisatorisch gut vorbereitet und führte vom Norden und Süden der Bundesrepublik nach Mainz, und neben CDU-Bürgermeistern wurden die Fahrradgruppen auch von SDAJ-Gruppen begrüßt. Aber mit der Aktion gelang kein erneuter Aufschwung. Es kann nicht davon ausgegangen werden, dass die Beteiligung der Gewerkschaftsjugend an der Friedensbewegung im Wesentlichen auf die SDAJ zurückzuführen war. Ihre Mitglieder waren überaus engagiert und konnten mit ihren Argumenten auch durchdringen, aber Massen gewannen sie nicht. Es wäre eine historische Fehlanalyse, die Mobilisierungserfolge der Friedensbewegung wesentlich auf kommunistische Aktivitäten zurückzuführen. Die Gewerkschaften verstanden sich als antimilitaristischer Teil der Friedensbewegung und boten 38 Andresen: Radikalisierung (Anm. 5), S. 529. 39 Eine Auswertung aus Sicht der DKP: vgl. Peter Müller: Betriebliche Friedensinitiativen in der Bundesrepublik, in: Jahrbuch des Instituts für marxistische Studien und Forschungen, 1984, Nr. 7, S. 84–94.
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auch eigene Traditionsbildungen an. So wurde der 1. September seit 1964 von der Gewerkschaftsjugend als Antikriegstag begangen, Anfang der 1980er Jahre gehörte er, wie die Ostermärsche, zu den wichtigen Mobilisierungsdaten. Aber das eigentliche Phänomen der Friedensbewegung war, dass es sich um eine soziale Bewegung auf sehr breiter Grundlage handelte, die von 1981 bis 1983 eine Eigendynamik entfaltete. Daher war die ubiquitäre Verwendung des Labels »Frieden« und die damit verbundene hohe Mobilisierung für die Gewerkschaftsjugend durchaus zwiespältig. Denn es führte weg von betrieblichen Problemen und setzte auf die Mobilisierungskraft außerbetrieblicher Politiken. Dies führte zu einer verstärkten Distanz zwischen dem politisierten und aktiven Teil der Gewerkschaftsjugend und der Mitgliedschaft. Die Kernerzählung des Endes der Arbeiterjugendbewegung aufgreifend, lässt sich zu der Zeit beobachten, dass für viele Jugendliche im Betrieb die Gewerkschaften lebensweltlich nur noch eine geringe Rolle spielten. Sie galten eher als Teil des Arbeitslebens, ohne dass sie politische Identitäten stifteten.40 Nach 1983 geriet das gewerkschaftliche Organisationsmodell von Gremien und Konferenzen in eine erneute Krise und wurde schließlich in den 1990er Jahren stärker durch projektbezogene Kampagnen abgelöst. Die SDAJ spielte nach dem Zusammenbruch der DDR 1990 faktisch keine Rolle mehr.
Fazit Von einer kommunistischen Unterwanderung lässt sich analytisch für beide untersuchte Ereignisphasen nicht sprechen. Die Mitglieder von FDJ und SDAJ engagierten sich in der Gewerkschaftsjugend und stellten dies auch immer aus. Sie waren aufgrund ihrer ideologischen Grundlage auf die industrielle männliche Arbeiterschaft ausgerichtet. Seitens der Gewerkschaftsführungen bestanden, wenn auch unterschiedlich ausgeprägt, Skepsis und Befürchtungen gegenüber einem kommunistischen Einfluss, der im Kalten Krieg immer auch als östlicher galt. Während dies in den 1950er Jahren aber politisch handlungsleitend war, spielte es in den 1980er eine geringere Rolle. Dies war weniger ein Erfolg der SDAJ oder DKP als vielmehr Ergebnis der Entspannungspolitik und einer größeren Akzeptanz auf lokaler Ebene, vor allem der Personen, nicht der Positionen. Till Kössler hat überzeugend dargelegt, dass für die 1950er Jahre »weniger eine ›Infiltration‹ durch die KPD als vielmehr – im Gegenteil – eine politische Einbindung und allmähliche Pazifizierung der Kommunisten das Ergebnis der durch 40 Vgl. die sozialwissenschaftliche Studie Martin Baethge, Brigitte Hantsche, Wolfgang Pelull und Ulrich Voskamp: Jugend: Arbeit und Identität. Lebensperspektiven und Interessenorientierungen von Jugendlichen, Opladen 1988.
Die Gewerkschaftsjugend in den Friedensbewegungen der 1950er und 1980er Jahre
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repressive Maßnahmen und Integrationsangebote« auszumachen sei.41 Auch das Engagement in der Gewerkschaftsjugend führte nicht zu einer kommunistischen Übernahme – auch hier sieht Kössler eher eine »Unterwanderung« der Kommunist*innen im Sinne von Integrationen, wozu der deutschlandpolitische Kurswechsel der SED nach Stalins Tod beitrug, da Kommunist*innen in Westdeutschland nun zu kooperativer Arbeit aufgefordert waren.42 Dieser allgemeine Befund lässt sich auch auf die FDJ übertragen. Zwar bildeten einige aus der FDJGeneration später die Führungsgruppe der DKP, aber es waren vor allem die zügig im Apparat von FDJ und KPD aufsteigenden Funktionär*innen wie der spätere DKP-Vorsitzende Herbert Mies, die dem orthodoxen Kommunismus die Treue hielten.43 Für viele andere war die Attraktivität des Ostens eher eine jugendradikale Phase und keine dauerhafte Bindung. Bei der Friedensbewegung Anfang der 1980er Jahre verhielt es sich etwas anders. Da SDAJ und DKP im gewerkschaftlichen, aber auch im Milieu der Friedensbewegung weitgehend akzeptiert waren, konnten sie in Bündnissen mit dem Insistieren darauf, nicht die Sowjetunion zu attackieren, durchaus Erfolge verbuchen. Aber aufs Ganze betrachtet bildeten SDAJ und vor allem DKP eher ein häufig akademisch geprägtes Milieu aus, das sich Anfang der 1970er Jahren vergrößerte, dann erstarrte und durch die Friedensbewegung eher in Auflösung geriet als neu zu erstarken. Das hohe Engagement von SDAJ-Mitgliedern machte sie auch zu nützlichen Unterstützer*innen, die die oft an Personalmangel leidende ehrenamtliche Jugendarbeit verlässlich trugen. Das war vielleicht weniger Unterwanderung als politisch intrinsische Motivation zur ehrenamtlichen Arbeit, die aus Sicht der Organisation eher nützlich als schädlich war.
41 Kössler: Abschied (Anm. 3), S. 406f. 42 Ebd., S. 411. 43 Vgl. die Kurzbiographien bei Herms: Linien (Anm. 21), S. 350–363.
Frauke Schneemann
Staatsbürger in Kluft und Tracht. Die Politisierung der deutschen interkonfessionellen Pfadfinderschaften im Kalten Krieg
In den 1920er Jahren setzte eine Phase der Institutionalisierung für die globale Pfadfinderschaft ein. Als Vertreter für männliche Pfadfindergruppen formierte sich die World Organization of the Scout Movement (WOSM), auf weiblicher Seite die World Association of Girl Guides and Girl Scouts (WAGGGS). Mit einer Agenda, die Friedensarbeit und Völkerverständigung in den Mittelpunkt rückte und absolute politische Unabhängigkeit und Neutralität betonte, sollte eine neue Generation im Bewusstsein der friedlichen globalen Vernetzung erzogen werden, die authentische »campfire diplomacy«1 fernab der großen Politik der Staatsmänner praktizierte. Schon bald befand sich die globale Pfadfinderei in Konkurrenz zu faschistischen und kommunistischen Jugendbewegungen. Insbesondere mit letzterer erfolgte innerhalb Großbritanniens, dem Ursprungsland des Scouting und Guiding, ein publizistischer Schlagabtausch. Die Young Communist League of Great Britain2 warf der bildungsbürgerlich dominierten Bewegung, die sie als Auswuchs des Kapitalismus und Militarismus betrachtete, einen geplanten militärischen Missbrauch und Unterdrückung der britischen Arbeiterjugend vor. Lord Robert Baden-Powell, Gründervater der Pfadfinderbewegung, sah sich letztendlich gezwungen, in einem internen Brief an alle County und District Commissioners Stellung bezüglich der Vorwürfe und Angriffe3 des kommunistischen Lagers zu nehmen: »It is what we have been expecting for 1 Mischa Honeck: Our Frontier is the World. The Boy Scouts of America in the Age of American Ascendancy, Ithaca u. a. 2018, Kap. 3. 2 Die Young Communist League of Great Britain (YCL) wurde 1921 als Nachwuchsorganisation der Communist Party of Great Britain (CPGB) gegründet. Zur antikommunistischen Einstellung der britischen Scoutorganisation und deren Verhältnis zur YCL in den frühen 1950er Jahren s. Sarah Mills: Be prepared. Communism and the Politics of Scouting in 1950s Britain, in: Contemporary British History, Vol. 25, Nr. 3, London 2011, S. 429–450. 3 Anlass der kommunistischen Attacken war der sogenannte »London Appeal Fund«, den die Boy Scout Association für die finanzielle Unterstützung der britischen Proletarierjugend ins Leben rief. Dies wurde von der YCL als politische Kriegserklärung angesehen; vgl. Scout Archive Gilwell Park (SAGP), TC/109 Communism, Memo to Headquarters Commitee: »The Communist Attack«, 1927.
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some time seeing that Moscow had proclaimed that the Scout movement is an obstacle to their getting hold of the oncoming generation. But a call of this kind cannot be made without arousing an echo and it will naturally inspire our Scouters and Scouts to redouble their effort to keep our end up.«4 Während Baden-Powell in diesem Zusammenhang noch zur Zurückhaltung mahnte, um den Rivalen keine weitere öffentliche Plattform zu geben, und stets die politische Neutralität seiner Bewegung betonte,5 lassen sich in späteren Publikationen der Scouts eindeutigere Positionierungen gegenüber kommunistischen Ideologien finden. So stellte der Kommunismus laut Weltpfadfinderinstitutionen gar die größte Gefahr für die Jugend dar, gegen die man trotz der Betonung der völligen Abstinenz von Parteipolitik vorgehen müsse, da sie die Grundfeste der Demokratie gefährde. So heißt es in der Broschüre »A challenge to Scouting. The menace of Communism«: […] Scouting and Guiding cannot be reconciled with Communist beliefs. […] our members […] can have nothing in common with Communism.6 Der Kommunismus widerspreche in jeglicher Hinsicht den Grundpfeilern der Pfadfinderbewegung: der Pflicht gegenüber Gott, dem König bzw. dem bestehenden Staatssystem und dem Scout Law.7 Das Verhältnis dieser beiden Seiten wurde zum Krieg der Glaubensgemeinschaften um zukünftige Generationen stilisiert.8 Perfektioniert wurde das Image dieses pfadfinderischen »crusaders«9 für die demokratische Ordnung von den Boy Scouts of America (BSA), dies insbesondere nach dem Zweiten Weltkrieg, wie Studien von Mischa Honeck und Margaret Peacock umfassend belegen.10 Die Zeit des Kalten Krieges erwies sich als Blütezeit für die BSA, die die amerikanische Pfadfinderei als Bollwerk gegen den Kommunismus anpriesen. Auch innerhalb der WOSM und WAGGGS schien
4 SAGP, TC/109 Communism, Confidential Circular to all County and District Commissioners, November 1927. 5 Trotz des reflektierten und deseskalierenden Verhaltens in dieser Situation war auch BadenPowell nachweislich klar antikommunistisch eingestellt; vgl. Tim Jeal: Baden-Powell, London 1989, S. 544. 6 SAGP, TC/109 Communism, The Boy Scout Association: »A challenge to Scouting. The menace of Communism«, Juni 1951, S. 6. 7 Ebd., S. 7f. 8 Ebd., S. 8/9. 9 Honeck: Frontier (Anm. 1), S. 209. 10 Ebd., S. 206–242; Margaret Peacock: Innocent Weapons. The Soviet and American Politics of Childhood in the Cold War, Chapel Hill 2014, bes. S. 105–120; speziell zu den Girl Guides vgl. Jennifer Helgren: American Girls and Global Responsibility. A new Relation to the World during the Early Cold War, New Brunswick u. a. 2017 sowie mit einem kurzen Ausblick nach 1945 Kristine Alexander: Guiding Modern Girls. Girlhood, Empire and Internationalism in the 1920s and 1930s, Vancouver u. a. 2017, S. 193ff.
Die Politisierung der deutschen interkonfessionellen Pfadfinderschaften
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sich ab den 50er Jahren eine eindeutige US-amerikanische Dominanz abzuzeichnen.11 Die deutsche Pfadfinderschaft hatte bis nach dem Zweiten Weltkrieg nur vereinzelte Kontakte zu den Weltverbänden. Eine Historie, die durch Militarismus und radikalen Nationalismus geprägt war,12 hatte den offiziellen Anschluss bis zu diesem Zeitpunkt verhindert.13 Während des Wiederaufbaus des Jugendverbandswesens in der Nachkriegszeit trat man den Pfadfindern besonders in der britischen und amerikanischen Zone wohlgesonnen gegenüber, zumal diese Form der Jugendarbeit eine kulturell vertraute war. Mit Hilfestellung durch WOSM und WAGGGS und in Zusammenarbeit mit den Alliierten wurde die deutsche Pfadfinderei in den westlichen Besatzungsgebieten wiederaufgebaut bis die deutschen Bünde 1950 schließlich jeweils als Ringvertretungen14 in die Weltverbände aufgenommen wurden. Bestandteil aller Bundessatzungen bei dieser Reorganisation wurde gemäß den internationalen Richtlinien ein klares Statement gegen jegliche politische Aktivität oder Positionierung innerhalb der Pfadfinderei. Auf Seiten des Eisernen Vorhangs befand man sich somit deutlich im Westen verankert, zumal Pfadfinderorganisationen in der sowjetischen Besatzungszone verboten waren. Die deutsche Pfadfinderbewegung wurde als Forschungsgegenstand bis dato eher sporadisch behandelt. Erst ihr 100-jähriges Jubiläum gab Anstoß zu einer wissenschaftlichen Auseinandersetzung, die verschiedene Phasen und Aspekte
11 Eduard Vallory: World Scouting. Educating for Global Citizenship, New York 2012, S. 125. 12 Vgl. Gideon Botsch: Zwischen Nationalismus und Weltpfadfinderbewegung. Zum schwierigen Erbe der Pfadfinderbewegung in Deutschland, in: Matthias Witte (Hg.): Pfadfinden weltweit. Die Internationalität der Pfadfindergemeinschaft in der Diskussion, Wiesbaden 2015, S. 35–47. 13 Den Erinnerungen des Zeitzeugen Walther Jansen, u. a. 1932 Mitbegründer der Reichsschaft Deutscher Pfadfinder, nach 1945 Mitbegründer des Deutschen Pfadfinderbundes (DPB) in Berlin, zufolge gab es 1931 ein mündliches Abkommen zwischen dem Deutschen Pfadfinderverband und dem International Bureau, die Aufnahme der Deutschen in den Weltverband auf dem Jamboree 1933 in Ungarn offiziell zu besiegeln. Diesem Vorgang kam die Auflösung der Bünde durch die Gestapo zuvor, vgl. Walther Jansen: Deutscher Pfadfinderspiegel, Krefeld 1988, S. 47–52; gleicher Darstellungsweise folgt auch Jürgen W. Diener: Eberhard Plewe (Ebbo) 1905–1986. Die Suche nach Einigkeit und Einheit. Ein Bericht von Jürgen W. Diener (Umba), in: Puls. Dokumentationsschrift der Jugendbewegung, Nr. 16, Stuttgart 1988, S. 8f. Offizielle Dokumente zu dieser Aussage wurden bislang allerdings nicht vorgelegt. 14 Dies war bei den Männerbünden der Ring Deutscher Pfadfinderbünde, bestehend aus dem Bund Deutscher Pfadfinder (BDPm), der Christlichen Pfadfinderschaft (CP) und der Deutschen Pfadfinderschaft Sankt Georg (DPSG). Bei den Frauenbünden vereinigten sich der Bund Deutscher Pfadfinderinnen (BDPw), die Evangelische Mädchenpfadfinderschaft (EMP) (vertrat auch den Bund Christlicher Pfadfinderinnen (BCP) aus Bayern) und die Pfadfinderinnen Sankt Georg (PSG) zum Ring Deutscher Pfadfinderinnenbünde.
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Frauke Schneemann
des Pfadfindertums in der Deutschen Geschichte behandelt.15 Hier geraten vor allem die Reorganisation in der Besatzungszeit,16 die Pädagogisierung der Pfadfinderarbeit,17 sowie im Speziellen die Politisierung und Liberalisierung des BDPm18 in den Fokus. Eine umfassende Analyse, die die Entwicklung der Bünde mit gesamtgesellschaftlichen Wandlungs- und Entwicklungsprozessen verknüpft, steht jedoch bislang aus.19 Bemühungen, dieses Desiderat anzugehen, stellt die zweijährig stattfindende »Fachtagung Pfadfinden«20 an, auf der verschiedenen Aspekte rund um die globale Jugendbewegung analysiert werden. 2014 wurde hier die Frage nach der Internationalität und Weltoffenheit des transnationalen Gemeinschaftskonstrukts gestellt, dies jedoch ohne intensiver den Themenkomplex des Kalten Krieges aufzugreifen.21 Doch gerade der Blick auf das Verhältnis der deutschen Bünde zum kommunistischen System verspricht nicht nur wertvolle Einblicke in das pfadfinderische Selbstverständnis, er gibt auch Aufschluss über Positionierungsstrategien in der bundesrepublikanischen Gesellschaft in der Nachkriegszeit. Und nicht zuletzt offenbaren sich im Systemkonflikt ebenso Grenzen von pfadfinderischer Internationalität und Toleranz. Dieser Beitrag versteht sich als erste analytische Annäherung an Handlungsmöglichkeiten und -optionen des deutschen Pfadfindertums im Kalten Krieg. Mit dem Fokus auf dem interkonfessionellen Bund Deutscher Pfadfinder (BDPm)22 gerät somit eine Organisation in der damaligen Jugendverbandslandschaft in den Blick, die keiner Erwachsenenorganisation angehörte, dafür aber innerhalb eines Netzwerks von globalem Ausmaß agieren konnte und in 15 Vgl. Historische Jugendforschung. Jahrbuch des Archivs der deutschen Jugendbewegung (kurz: Jahrbuch): Hundert Jahre Pfadfinden, NF 6/2009; ein Großteil der Beiträge wurde von Angehörigen der Bewegung verfasst. 16 Christina Hunger: Interkonfessionelle Pfadfindergruppen in der Besatzungszeit – die amerikanische Zone und Berlin, in: Jahrbuch (Anm. 15), NF 1/2004, S. 145–170. 17 Johann Moyzes: »Die neue Linie« – zum Wandel der »Pfadfinderpädagogik« im Bund Deutscher Pfadfinder, in: Jahrbuch (Anm. 15), S. 124–164 sowie ders.: Die Wiederbelebung der Pfadfinderbewegung nach 1945 im Rahmen des Bundes Deutscher Pfadfinder, in: Jahrbuch (Anm. 16), S. 115–144. 18 Eckart Conze: »Pädagogisierung« als Liberalisierung. Der Bund Deutscher Pfadfinder (BDP) im gesellschaftlichen Wandel der Nachkriegszeit (1945–1970), in: ders., Matthias Witte (Hg.): Pfadfinden. Eine globale Erziehungs- und Bildungsidee aus interdisziplinärer Sicht, Wiesbaden 2012, S. 67–81. 19 Susanne Rappe-Weber: Wandlungen in den sechziger Jahren, in: Jahrbuch (Anm. 15, S. 122– 124, hier S. 122. 20 https://www.pfadfinder-fachtagung.de/ [06. 02. 2020]; die Tagungsergebnisse werden in entsprechenden Tagungsbänden veröffentlicht. 21 Vgl. Matthias Witte: Pfadfinden weltweit. Die Internationalität der Pfadfindergemeinschaft in der Diskussion, in: Conze, ders. (Hg.): Pfadfinden (Anm. 18), S. 11–18. 22 Da sowohl der Bund Deutscher Pfadfinder, als auch der Bund Deutscher Pfadfinderinnen das Kürzel »BDP« verwendet haben, dienen die zusätzlichen Kennzeichnungen »m« (männlich) und »w« (weiblich) zur Abgrenzung.
Die Politisierung der deutschen interkonfessionellen Pfadfinderschaften
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dessen Agenda verankert war. Es zeigt sich somit, dass die Untersuchungsebenen über einen rein nationalen Rahmen hinausgehen müssen. Ziel ist es, zu zeigen, inwiefern und in welchem Ausmaß sich Blockbildungsprozesse in der interkonfessionellen männlichen Pfadfinderei niederschlugen und wie in diesem Kontext der Umgang mit einem unpolitischen Selbstverständnis erfolgen konnte. Um Zäsuren in der Entwicklung der Bundesgeschichte aufzeigen zu können, folgt die Analyse einer chronologischen Darstellung und erstreckt sich von den 1950er Jahren bis hin zu den frühen 1980er Jahren.
Antikommunismus als identitätsstiftendes Element Pfadfinder gehörten in den Besatzungszonen zu den ersten Gruppierungen, die offizielle Lizenzen erhielten.23 Bereits im Sommer 1945 konnten einzelne Pfadfindergruppen ihre Arbeit beginnen, bis sie sich jeweils in konfessionellen und interkonfessionellen Bünden zusammenfanden,24 wobei die Tätigkeiten von Jungen- und Mädchenbünden völlig unabhängig voneinander erfolgten. Die deutsche Pfadfinderschaft wurde fester Bestandteil des Jugendverbandswesens, die Jungenbünde gehörten zu den Gründungsmitgliedern des Deutschen Bundesjugendrings (DBJR), in den nach einigen Diskussionen über strukturelle Angelegenheiten auch die Mädchenbünde aufgenommen wurden. Schon bald fanden sich die Pfadfinder, zusammen mit Verbänden wie etwa der Deutschen Jugend des Ostens (DJO), auf der »konservativen Seite« des Ringverbandsspektrums wieder. Autoritäre Organisationsstrukturen und Uniformierung – Aspekte, die an militärische Praktiken erinnerten – stießen auf Missfallen bei sozialistischen und sozialdemokratischen Verbänden. So kritisierten Heinz Westphal von den Falken und der Sozialdemokrat Hans Leyding auf der dritten Vollversammlung des Bundesjugendrings 1950 die Kluft der Pfadfinder und sprachen sich gar für ein allgemeines Uniformverbot aus.25 Die Pfadfinder hingegen distanzierten sich von der Bezeichnung ihrer Kluft als
23 Zum Aufbau des deutschen Pfadfindertums in den verschiedenen Besatzungszonen s. Hunger: Pfadfindergruppen (Anm. 16). 24 Zu den einzelnen Bünden s. Anm. 14. Zwar existierte eine Vielzahl verschiedener kleinerer und größerer Pfadfindergruppen; die Bünde, die den Ringbündnissen angehörten, waren jedoch die einzigen, die offiziell vom Weltpfadfindertum als deutsche Vertretung anerkannt wurden. 25 AdJb, A 202 Nr. 605, Protokoll der 3. VV des DBJR 1950 in Berlin, S. 45: »Hans Leyding: Meine Ansicht ist diese: Wir müssen verhüten, daß bedingt durch Kluft und Tracht oder Uniformgegensätze Unterschiede sichtbar gemacht werden. Wir müssen prüfen, ob wir nicht das Moment der gegenseitigen unsympathischen Begegnung durch ein Verbot der Uniform ausscheiden können.«
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Uniformierung, schließlich sei diese lediglich Ausdruck der Gemeinschaft.26 Korrespondenzen des BDPm-Bundeskanzlers Peter Brenner belegen den »Kampf« der Pfadfinder innerhalb des Deutschen Bundesjugendrings gegen diesen von ihm titulierten »einheitliche[…][n] sozialistische[…][n] Block bestehend aus Gewerkschaftsjugend, Falken und Naturfreunden«27. Diverse Kontaktaufnahmen Brenners zu verschiedenen Ministern verdeutlichen die Schwierigkeiten der interkonfessionellen Pfadfinderbünde, finanzielle Unterstützung einzuwerben, zumal ihnen keine Erwachsenenorganisationen Unterstützung bieten konnten. Sie waren, abgesehen von Mitgliedsbeiträgen und Einnahmen durch die Bundeskämmerei, vollständig von den Mitteln des Bundesjugendplans und von Spenden abhängig. Im Zuge dieser Korrespondenzen scheute Brenner nicht davor zurück, Verbände aus dem Gegenlager zu denunzieren. So leitete er Informationen über eine kommunistisch angehauchte Veranstaltung in Darmstadt an Dr. Roth im Ministerium für Wohnungsbau weiter und wies auf eine mögliche Verwicklung der Naturfreunde hin: »Uns interessiert da natürlich besonders, dass die Naturfreunde nach wie vor mit weit höheren Beträgen vom Bundesjugendplan unterstützt werden als wir«,28 merkt Brenner an. An andere Stelle bezeichnet er diese gar als »Tarnverband der FDJ«29. Dem Bundesminister für den Marshallplan Franz Blücher gegenüber konstatierte er eine gefährliche politische Verschiebung des Bundesjugendringes nach links, die den Austritt der Pfadfinder zur Folge hätte.30 Dem gegenüber stellt Brenner die Pfadfinderarbeit als absolut förderungswürdig heraus, da jene im Vergleich zu anderen Verbänden die Individualerziehung gegenüber der Kollektiverziehung fördere und nicht allein auf die »Nachwuchserziehung für eigene Zwecke«31 bedacht sei. Schließlich solle der Bundesjugendplan dazu dienen, die »positiven Kräfte in der BRD zu unterstützen, um die immer stärker werdenden Einflüsse des Bolschewismus zu bekämpfen«.32 Als geeignetes Mittel sah Brenner hierbei die internationale Arbeit der Pfadfinder an und verknüpfte den Hinweis auf das Jamboree (Weltpfadfindertreffen) 1951 in Bad Ischl in der Schweiz mit einer Bitte um finanzielle Zuschüsse: »Da das Jamboree zur gleichen Zeit wie das große Treffen der FDJ in Berlin stattfindet, kommt ihm heuer eine besondere politische Bedeutung zu. Das deutsche Kontingent sieht es als seine besondere Aufgabe,
26 27 28 29 30 31
Ebd. AdJb, A 202 Nr. 108, Brief von Peter Brenner an Franz Blücher, 22. 04. 1952. Ebd., Brief von Peter Brenner an Dr. Roth, 04. 03. 1952. Ebd., Brief von Peter Brenner an Dr. Mende, 21. 01. 1953. Ebd., Brief Peter Brenner an Franz Blücher, 22. 04. 1952. Ebd., Brief von Peter Brenner an Dr. Mende, 21. 01. 1953. Explizit nennt Brenner in diesem Zusammenhang die Gewerkschafts- und die Sportjugend. 32 Ebd.
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Deutschland würdig zu vertreten, um den Jungen aus den anderen Ländern einen guten Eindruck von der heutigen deutschen Jugend zu geben.«33 Der Pfadfinder sollte das Musterbeispiel eines guten deutschen Staatsbürgers repräsentieren, die Pfadfinderei als »Einübungsfeld in die Demokratie«34 fungieren. Dies beinhaltete das Bekenntnis zur demokratischen Staatsform, eine Abwehr parteipolitischer Einflüsse sowie eine Absage an totalitäre Ideologien.35 In Bezug auf die Annäherungsversuche der Freien Deutschen Jugend (FDJ) in den 1950er Jahren hielten sich die Pfadfinder an den Beschluss des Deutschen Bundesjugendringes, diese in jedem Falle zu unterbinden.36 Der Anfrage eines Pfadfinderführers aus Karlsruhe mit seiner Sippe37 in die Ostzone zu fahren, erteilte der damalige Bundesführer Kajus Roller eine klare Absage: »So sehr wie wir es auch unsererseits begrüßen, dass die Kontakte zwischen den jungen Menschen der Zone und Westdeutschland lebhaft bleiben müssen, so müssen wir zu unserm Bedauern doch feststellen, dass es aufgrund der politischen Dinge und ihrer Ausschlachtung in der Zone nicht möglich ist, in der Zone selbst auf Fahrt mit Gruppen unseres Bundes zu gehen […].«38 Der Kontakt trage außerdem die Gefahr in sich, den Menschen in der Zone fälschlicherweise zu signalisieren, man habe sich mit den dortigen Machthabern verbündet.39 Fahrten könnten höchstens als Privatpersonen durchgeführt werden, nicht aber als Angehörige des Bundes in Kluft/Tracht. Versuche, pfadfinderische Gruppen politisch zu infiltrieren, von rechts sowie links, wurden vehement unterbunden und verfolgt. Kam der Verdacht offener politischer Aktivitäten innerhalb des Bundeslebens auf, konnte dies die Einleitung eines Ehrengerichtsverfahrens bedeuten, um die Vorwürfe zu prüfen und letztendlich den möglichen Ausschluss des Mitglieds zu vollziehen.40 Im Fall des Pfadfinders Bernhard B. fand 1951 eine solche Überprüfung statt, nachdem er seine Unterstützung für die Weltfestspiele der Jugend zum Ausdruck gebracht hatte und in einem entsprechenden Prospekt namentlich als Vertreter deutscher Pfadfinder genannt wurde. B. äußerte hierzu, er habe die Veranstaltung als unpolitisch angesehen und somit die Publikation zugelassen:
33 AdJb, A202 Nr. 108, Brief von Peter Brenner an Dr. Roth, 21. 03. 1951. 34 Vgl. Pieter Kahl: Tradition und Veränderung im deutschen Pfadfindertum nach 1945, Iserlohn 1982, S. 32. 35 Ebd. 36 AdJb, A 202 Nr. 610, Brief des Bundes Deutscher Pfadfinder an den Deutschen Bundesjugendring, 04. 02. 1954. 37 Die Sippe ist eine Organisationsform in der Pfadfinderarbeit, die eine kleine Gruppe von etwa fünf bis acht Pfadfindern (im damaligen BDPm ausschließlich Jungen) umfasst. 38 AdJb, A202 Nr. 90, Brief von Kajus Roller an Erich von Pfeil, 17. 05. 1957. 39 Ebd. 40 AdJb, A 233 Nr. 81, Brief der Landesmark Niedersachsen an Kajus Roller, 26. 06. 1951.
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»Nach einigen Wochen erhielt ich laufend Propagandamaterial […]. Mein Vater, der meine Post öffnete, fand dabei die Unterschrift der FDJ Hannover. Er sagte zu mir, entweder würde ich Pfadfinder sein und dafür arbeiten, oder ich müsste das Haus verlassen.«41
Auch Möglichkeiten des privaten politischen Engagements für Bundesmitglieder blieben eingeschränkt. Untersagt wurde das Bekleiden eines hohen Amtes in einer Partei,42 während die gleichzeitige Mitgliedschaft in der »KPD oder einer ihrer Tarnorganisationen«43 strikt verboten war. Kontakte »nach drüben« wurden somit offiziell lediglich auf karitative Tätigkeiten wie Paketaktionen oder die Betreuung von Flüchtlingen aus der Sowjetischen Besatzungszone beschränkt.44 Aufgrund dieser als unpolitisch deklarierten Haltung, ist die Suche nach offiziellen politischen Stellungnahmen der Pfadfinder in den 1950er Jahren vergebens. Auch im Zuge der Wehrpflichtdebatte, die innerhalb der Jugendverbandslandschaft äußerst kontrovers diskutiert wurde, wollte man sich auf keine Kollektivmeinung festlegen und überließ diese Entscheidung der Gewissensfrage des einzelnen Mitglieds. Einzig über die Versuche »der Bolschewisten, die Wehrdebatte für ihre Zwecke zu verfälschen«,45 musste nach Meinung des Bundes aufgeklärt werden. Die Abstinenz klarer politischer Statements bedeutete jedoch nicht, dass sich die Mitglieder innerhalb des Verbandslebens jeglicher politischer Diskussion entziehen wollten. Schon früh wurde in den Bundeszeitschriften der Wunsch nach politischer Aufklärung gefordert. Wichtiges Argument für diese Entwicklung war das politische Urteilsvermögen als Voraussetzung für die Entwicklung hin zum guten Staatsbürger, der nur so seinen Dienst am Vaterland leisten konnte. Diese Ziele wurden zunächst in die Pfadfinderarbeit in Form von Sachwissen integriert, so beinhalteten Probenordnungen46 u. a. den Erwerb von Kenntnissen über den Aufbau der Bundesrepublik.47 Die politische Erziehung sollte jedoch zunächst der Roverstufe (Pfadfinder ab 17 Jahren) vorbehalten bleiben.48 Als ebenso wichtig wurde es angesehen, Kenntnisse über das kommunistische System zu erlangen, um einer vermeintlichen »bolschewistischen
41 AdJb, A 233 Nr. 298, Brief von Bernhard B. an Heinz Heyder, 27. 01. 1952. 42 AdJb, A 202 Nr. 127, Brief von Peter Brenner an Hans-Kurt Haaga, 06. 06. 1953. 43 AdJB, A 202 Nr. 116, Brief von Peter Brenner an Leutnant Mally, Bundesgrenzschutzkommando West, 17. 10. 1952. 44 AdJb, A 202 Nr. 104, Korrespondenz zu Paketaktionen der Altpfadfindergilde »Falkenhorst«, 1967–1971. 45 AdJb, A 202 NR. 674, Bund Deutscher Pfadfinder, Erklärung vom April 1952. 46 Durch das Ablegen sogenannter Proben, die alters- und stufengerecht ausgelegt sind, bestätigt der Pfadfinder das Erlernen bestimmter Pfadfinderfertigkeiten. 47 AdJb, A 233 Nr. 552, Der Rover als Staatsbürger, Rundbrief Nr. R3/1957. 48 Ebd.
Die Politisierung der deutschen interkonfessionellen Pfadfinderschaften
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Infiltration«49 vorzubeugen. Somit beschäftigt sich eine Vielzahl von Artikeln in den Bundeszeitschriften mit Herkunft, Charakteristika und Entwicklung der kommunistischen Ideologie. Diese von der FDJ als »besonders starke […] Hetze« empfundenen Diskussionen wurden aus ihrer Perspektive der Verbindung zur internationalen Pfadfinderei und deren »reaktionärer […] Politik« zugerechnet.50 Auch wenn der Einfluss der Pfadfinder auf die Arbeiterbewegung als gering eingestuft wurde51 und sie als mögliche Bündnispartner unattraktiv wirkten,52 so bestanden auch hier Pläne der Indoktrination − dies vor allem im Sinne einer Mobilisierung westdeutscher Jugendlicher gegen die bundesrepublikanische Wiederbewaffnung. Argumentatorisch sollte hier beim Völkerverständigungsaspekt pfadfinderischer Erziehung angesetzt werden, indem auf das Pfadfindergesetz »Der Pfadfinder […] ist Freund aller Menschen«53 hingewiesen wurde. Die Entwicklung der Pfadfinder von den 50er Jahren bis Anfang der 60er Jahre wurde zeitgenössisch, so wie im Rückblick, mit dem Schlagwort »Aus dem Wald in die Gesellschaft«54 betitelt. Bewegte sich der Bund zu Beginn des Jahrzehnts noch verstärkt in jugendbündischen Sphären und konnte steigende Mitgliederzahlen verzeichnen, sah er sich gegen dessen Ende und im weiteren Verlauf der 60er Jahre der sogenannten »›Krise‹ der klassischen Jugendverbände«55 gegenüber, die auch den Pfadfindern eine Diskussion über etwaige Profilierungsmöglichkeiten innerhalb der Gesellschaft abverlangte. Gleichzeitig zeichnete sich Anfang der 1960er ein Generationswechsel im Bund ab, der eine Öffnung gegenüber moderner Jugendpädagogik mit sich brachte. Zu einem Standbein der neuen Arbeit wurde eine pädagogische Akzentuierung, die musisch-künstlerische sowie handwerkliche Tätigkeiten betonte.56 Doch speziell in den Roverkreisen wurde das Verlangen nach aktiver politischer Betätigung größer. Semi49 U. a. Gerhard Haak: Politik, Ja?… Nein?…, in: Briefe an die Führerschaft (= Briefe), Januar 1956, S. 10–11, hier S. 10. 50 Bundesarchiv (BArch), DY24–3722, Zentralrat der FDJ: Deutsche Jugendorganisationen 1947–1950, Übersicht über die Lage und die Tätigkeit der Jugendverbände in den vereinigten Westzonen und in Berlin. 51 Dies ist für den Fall Westberlins belegt: Landesarchiv Berlin, C Rep. 920–02, Nr. 987, FDJ Bezirksleitung Abt. Westberlin, Sekretariat, Beschluss zur Verstärkung des Einflusses der FDJ auf die Arbeiterjugend in Westberlin, 16. 03. 1957. 52 Vgl. Wolfgang Krabbe: Die FDJ und die Jugendverbände in der Bundesrepublik 1949–1970, in: German Studies Review, 1988, Vol. 21, Nr. 3, Oktober, S. 525–561, hier S. 531. 53 BArch, DY24-5444, Referat: Charakter und Ziele der konfessionellen, Sport und bündischen Jugend und unsere Zusammenarbeit mit den Mitgliedern dieser Jugendorganisationen, 15. 09. 1952. 54 Vgl. Günther Steinvorth: Heraus aus dem Wald und hinein in die Gesellschaft, in: Briefe, 1968, Nr. 112, April, S. 15–16; aufgegriffen von Conze: Pädagogisierung (Anm. 18), S. 79. 55 Sonja Levsen: Jugend in der europäischen Zeitgeschichte – nationale Historiographien und transnationale Perspektiven, in: Neue Politische Literatur, 2010, Jg. 55, S. 421–446, hier S. 430. 56 Vgl. Moyzes: Linie sowie ders.: Wiederbelebung (Anm. 17).
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nare wie der Rover-Tag Nord »Ostkontakte – aber wie?« (1964) trieben diese Entwicklung voran. Ein guter Staatsbürger zu sein und sein Bestes für die Wiedervereinigung zu tun, gestaltete sich in der Realität jedoch komplizierter als es die Wiedervereinigungsrhetorik im Bundesleben suggerierte. So plante eine hessische Pfadfindergruppe im Jahr 1963 ein gemeinsames Seminar mit der FDJ in Kronberg, dies allerdings mit dem Hinweis, dass der BDPm nicht geschlossen hinter diesem Treffen stehe und als pluralistischer Bund betrachtet werden solle.57 Als Vorbereitung für die Begegnung wurden Treffen mit Parteivertretern des Frankfurter Stadtparlaments organisiert, um argumentatorisch gewappnet zu sein. Damit das Vorgehen weiterhin bürokratisch korrekt verlief, wurde zusätzlich entschieden, die hessische Landesregierung zu informieren. Die Einreise der FDJ-Delegation wurde allerdings letztendlich vom Hessischen Innenministerium verwehrt, welches darauf hinwies, dass mögliche Treffen auf bundesrepublikanischem Boden eine strafbare Handlung darstellen würden. Hintergrund war der Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 16.07.54 (§ 129a StGB sowie Artikel 9, Absatz 2 GG), der die FDJ als verfassungsfeindliche Organisation eingestuft hatte.58 Das Innenministerium begründete seinen Beschluss mit dem Hinweis auf die rechtliche Situation, die unabhängig von politischen Entscheidungen betrachtet werden müsse.59 Während die »ZEIT« in ihrem Bericht über den Vorfall einen ironischen Ausklang fand, indem sie die Frankfurter und Offenbacher Pfadfinder als »Opfer ihres Bürgersinns«60 bezeichnete, fiel das Fazit der pfadfinderischen Dokumentation deutlich schärfer aus: es sei gefährlich »[…] auf emotionaler Basis bei uns einen blinden Antikommunismus zu erzeugen, der schließlich wieder zu einer Art ›Erbfeindschaft‹ führt«.61
57 AdJb A 233 Nr. 1756, BDP LM Hessen, Referat »Politische Bildung«: Ostkontakte? Dokumentation eines Fehlschlags, Brief von Heiner Zeller an die FDJ-Bezirksleitung Leipzig, 16. 07. 1963. 58 AdJb, A 233 Nr. 1756, BDP LM Hessen, Referat »Politische Bildung«: Ostkontakte?, Brief des Hessischen Ministers des Innern an den Bund Deutscher Pfadfinder, 29. 10. 1963; vgl. Wolfgang Krabbe: Was für ein Deutschland soll das zukünftige Deutschland sein? Die Jugend und die Frage der Wiedervereinigung (1945–1972), Münster 1998, S. 129. 59 G.Z.: »Sie konnten zusammen nicht kommen. Die Diskussion zwischen Pfadfindern und FDJMitgliedern fand nicht statt«, in: Die Zeit, 08.11 1963, Nr. 45. 60 Ebd. 61 AdJb, A233 1756, BDP LM Hessen, Referat »Politische Bildung«: Ostkontakte? Dokumentation eines Fehlschlags, Vorwort.
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Aktiver staatsbürgerlicher Dienst am Vaterland – die politische Bildung mit pfadfinderischer Methode Aus dem Verlangen nach politischer Bildung entwickelten sich bald Initiativen von Rovern, die begannen politische Seminare systematisch zu planen.62 Gerade aufgrund seiner politischen Neutralität habe der Bund die besten Voraussetzungen hierfür, lautete die Argumentation.63 »Die politische Bildung mit pfadfinderischer Methode«64 sollte ihren Anfang im September 1963 in Berlin unter dem Thema »Jugend in Ost und West« nehmen. Das Seminar war für Führer und Rover ab 17 Jahren, berufstätige Studenten, Schüler sowie für Mitglieder des Politischen Arbeitskreises im BDPm offen. Diese erste »Berlin-Kundschaft« sollte als Modell für weitere Kurse und Seminare fungieren und einen »Beitrag zum Feld politischer Bildung in Deutschland«65 leisten, idealerweise die Teilnehmer zum politischen Engagement hinführen. Kern der Methodik war das Spurenlesen, dem im Originalwerk »Scouting for boys« von Robert Baden-Powell für die Erkundung fremden Terrains eine große Bedeutung zugemessen wurde. Grundlegende Annahme hierbei war, dass die erlernten Fähigkeiten bei Naturbeobachtungen dem Jungen später in seiner Funktion als guter Staatsbürger nützlich sein würden. Der Ablauf der Kundschaft gliederte sich in zwei Elemente:66 Einer Vorabinformation durch einen Berater zum Themenkomplex und weiteren möglichen Anlaufstellen folgte eine zentrale aktive Phase der Teilnehmer, während der sie sich bei Menschen und Behörden Informationen eigenständig beschaffen, diese auswerten und im Anschluss im Plenum diskutieren sollten. Die Kundschaften sollten sich nicht nur auf Pfadfinder beschränken, auch Gymnasiasten und Lehrlinge wurden miteinbezogen.67 Nach einigen erfolgreichen Umsetzungen wurde für das Jahr 1965 in Kooperation mit dem Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen und dem Berliner Senat68 eine größere Kundschaft geplant, die der Frage nachgehen sollte, ob eine Annäherung zwischen Ost und West stattfand, oder ob eine Liberalisierung des Ostens zu erkennen war.69 Gleichzeitig bot dies für die Pfadfinder die 62 Die Berlin-Kundschaft wurde von Stuttgarter Rovern für BDP-Gruppen eingerichtet, AdJb, A203/1 16, Politische Bildung mit pfadfinderischer Methode?, Juli 1963. 63 Ebd., »Als parteipolitisch neutraler Bund hat der BDP für politische Bildung gute Vorbedingungen.« 64 Ebd., vgl. auch: Conze: Pädagogisierung (Anm. 18). 65 Ebd. 66 AdJb, A203/1 16, Politische Bildung mit pfadfinderischer Methode, o.D. 67 So fanden beispielsweise von 1964 bis 1966 Berlinfahrten der Oberprimen des Gymnasiums Heide/Holstein unter der Anleitung des BDPm statt; AdJb, A 203 Nr. 210, Berichte über die Berlinfahrten 1964–1966. 68 AdJb, A203/1 Nr. 18, Berlin-Fahrt des Bundes Deutscher Pfadfinder für Gruppenleiter, o.D. 69 Ebd., Pressemitteilung des Bundes Deutscher Pfadfinder vom 24. 06. 1965.
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Möglichkeit, der politischen Bildung im BDPm ein größeres Gewicht zu verleihen.70 Die Großveranstaltung wurde im Juni desselben Jahres mit 470 Teilnehmern, mehrheitlich 16- bis 21-Jährigen, darunter Schüler und Studenten sowie Berufstätige, durchgeführt.71 Zu den Ergebnissen des Seminars zählte die Erkenntnis, dass Publizistik und politische Propaganda weder auf eine Annäherung, noch auf eine Liberalisierung des Ostens hinwiesen, jedoch vereinzelt Eindrücke einer Liberalisierung entstanden. Allerdings war man sich hierbei unschlüssig, ob nur äußerliche Erscheinungen wahrgenommen wurden, der ideologische Kern jedoch beständig blieb.72 Die Kundschaft wurde als voller Erfolg verbucht, da jene Form politischer Bildung sich größtenteils von reinen theoretischen Diskursen wegbewegte, praktische Erfahrungen in den Bildungsprozess miteinbezog und jungen Menschen eine aktive Rolle zuwies.73 Der neue Pfadfinderbund wollte vor allem durch seine politische Bildungsarbeit in der Mitte der Gesellschaft ankommen und aktive Staatsbürger formen, die sich einzuordnen wissen.74 Die praxisorientierte pfadfinderische Bildungsinitiative wurde ebenfalls von Politikern mit Begeisterung aufgenommen. In einer Rede vor der Bundesführung lobte Willy Brandt den Vorbildcharakter und die Authentizität der Ergebnisse, die unter Politikern Beachtung finden und in ihre Arbeit miteinbezogen werden sollten.75 Im Frühjahr 1966 wurden die Pfadfinder anschließend für ihre Verdienste um die Demokratie mit der Theodor-Heuss Medaille ausgezeichnet.76 Die Folge war die interne Professionalisierung des Bereiches der politischen Bildung durch die Einstellung eines hauptamtlichen Referenten.77
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AdJb, A203/1 18, Berlin-Fahrt des Bundes Deutscher Pfadfinder für Gruppenleiter, o.D. Ebd. Ebd. Ebd., »Wir sind nicht mehr bereit, an akademischen Diskussionen über die Theorie der politischen Bildung teilzunehmen, so lange diese nicht gerechtfertigt werden durch Gespräche über konkrete Methoden und praktische Erfahrungen.« AdJb, A203/1 Nr. 16, Politische Bildung mit pfadfinderischer Methode, o. D. Willy Brandt: Selten so präzise Beobachtungen. Auszüge aus der Ansprache des Regierenden Bürgermeisters von Berlin, Willy Brandt, am 17. Juni 1965 vor den Teilnehmenden des Bundes-Führertreffens, in: Briefe, 1965, Nr. 94, S. 3–4. AdJb, A 202 Nr. 313, Theodor-Heuss-Medaille für den Bund Deutscher Pfadfinder. AdJb, A 203/1 Nr. 18, Ergebnisprotokoll der Sitzung des Wirtschafts- und Verwaltungsrates am 06./07. 11. 1965 in Hoisdorf.
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Aus dem Wald gegen die Gesellschaft? – Die politische Radikalisierung innerhalb des BDPm und ihre Folgen Nach der Erprobung neuer pädagogischer Konzepte und erfolgreicher politischer Bildungsarbeit der vergangenen Jahre verabschiedete der Bund 1967 die Wolfshausener Erklärung, die das Wirken des Bundes in die Gesellschaft hinein festlegte. Dass die Ost-West Beziehungen hierbei eine zentrale Rolle spielen sollten, zeigte die Verlegung der Bundeszentrale nach Berlin, in deren Prozess die endgültige Abkehr von »Rucksack und Klampfe«78 proklamiert wurde und hierarchische Strukturen und Dienstethos des Pfadfindertums zunehmend hinterfragt wurden. Konkretes politisches Engagement von Bundesmitgliedern sollte sich etwa einen Monat später auf einem Dörnberglehrgang an Ostern 1968 manifestieren. Das Seminar beschäftigte sich nicht wie üblich mit sachbezogenen Anleitungen und Übungen sondern mit theoretischen und politischen Debatten.79 Traditionelle pfadfinderische Erziehungselemente wie Gesetz, Versprechen und die Kluft wurden zugunsten einer antiautoritären Pädagogik in den Diskussionen generell in Frage gestellt. Als zeitgleich die Nachricht vom Attentat auf Rudi Dutschke die Seminarteilnehmer erreichte, entschieden sich einige dazu, sich an einer Protestdemonstration in Kassel zu beteiligen. Inmitten von Demonstranten aus Reihen des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS) und der Jungsozialisten zogen die Pfadfinder in ihrer Bundeskleidung mit. Reinhard Schmoeckel bemerkte in seinen Ausführungen hierzu, dass Mitglieder der Lagerleitung Mao- oder Che-Guevara-Plaketten auf ihrem blauen Pfadfinderhemd getragen hätten.80 Dem Referenten für politische Bildung wurde nachgesagt, er habe »Es lebe die Revolution!« ausgerufen.81 Diese Aktion schlug enorme Wellen innerhalb des Bundes, die Demonstranten wurden als »MaoJünglinge«82 denunziert und das aktive Engagement als »extrem nach Osten«83 weisend angeprangert. Folge der offenen politischen Statements, die auch zunehmend das Zeitschriftenwesen des Bundes bestimmten, war die Spaltung in Fraktionen, die sehr skizzenhaft in »Konservative«, »Liberale« und »Progressive« zusammengefasst wurden.84 Während Verfechter des »traditionellen Lagers« offene politische 78 O. A.: »Nicht mehr mit Rucksack und Klampfe«, Tagesspiegel Berlin-West, 15. 03. 1968. 79 Reinhard Schmoeckel: Strategien einer Unterwanderung. Vom Pfadfinderbund zur revolutionären Zelle, München u. a. 1979, S. 57; die Darstellungen zeigen die Sicht eines späteren Mitglieds des Bundes der Pfadfinder (BdP). 80 Ebd., S. 58. 81 Ebd. 82 Günter Kuhlewind: Offener Brief an die Bundesführung des BDP, in: Briefe, 1968, Nr. 113, S. 8. 83 Joachim Thiele: Wir wollen keine Theoriepädagogen, in: Briefe, 1968, Nr. 113, S. 9. 84 AdJb, A 202 Nr. 147, Rundschreiben der Bundesführung, 24. 07. 1969, S. 2.
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Stellungnahmen innerhalb des Bundeslebens verurteilten, wiesen »progressive Vertreter« auf die aktive gesellschaftliche Rolle des Bundes hin, die er nun zunehmend ausfüllen müsse.85 Der Referent für politische Bildung betonte, dass gerade die Berlin-Seminare Anstoß und Motivation für eigene politische Aktivitäten ausgelöst hätten. Begründet sei dies in Diskrepanzen zwischen öffentlicher Berichterstattung und Kundschaftsergebnissen, die so zutage getreten wären.86 Demokratisierungsprozesse innerhalb der Gesellschaft sollten folglich den zukünftigen Fokus der Arbeit bilden. Dies beinhaltete vor allem die Erziehung zum Ungehorsam, die Entwicklung von antiautoritären Erziehungsmodellen und die Ausweitung der Maßnahmen auf jüngere Altersstufen. Die Auseinandersetzungen im BDPm nahmen an Intensität zu, als der Ringbund und der Weltverband durch Beschwerden einzelner Mitglieder involviert wurden. Beide Parteien kritisierten die Veränderungen im BDPm scharf und betonten die Unvereinbarkeit mit den Zielvorstellungen des Pfadfindertums.87 Vom Weltverband aus erreichten Deutschland mahnende Worte, die Auseinandersetzungen dringend auf nationaler Ebene zu klären.88 Die Fronten waren schließlich dermaßen verhärtet, dass es 1971 zur Abspaltung und Neugründung zweier Bünde kam – dem Bund der Pfadfinder (BdP) und dem Deutschen Pfadfinderverband (DPV). Schließlich folgte darauf die Auflösung des ursprünglichen Ringes Deutscher Pfadfinderbünde89 bis 1973 ein neu zusammengesetzter Ring gegründet wurde, der nun jedoch den Bund der Pfadfinder (BdP) als neues interkonfessionelles Mitglied aufnahm. Dies bedeutete für den alten BDPm gleichzeitig den Ausschluss aus dem Weltverband, der nur Ringmitglieder als offizielle Vertretung anerkannte. Noch inmitten der innerverbandlichen Unruhen der frühen 1970er sollten die weitere Kontaktfindung und -pflege zu osteuropäischen Jugendorganisationen vertieft werden. So beinhaltete das ganzjährige Projekt »Osteuropakundschaft 1972«90 Gruppenreisen nach Rumänien.91 Kundschaftermethoden, die 1965 in
85 AdJb, A 202 Nr. 310, Bericht über politische Bildung im BDP auf dem Bundesthing, November 1966. 86 Peter Pott: Pfadfinder auf Linkskurs, in: Deutsche Jugend, 1969, Nr. 3, S. 132–140, hier S. 137. 87 Brief von Harry Neyer (Vorsitzender des Rings und Bundesvorsitzender der DPSG) an die Landesführung in Kronberg, 15. 01. 1970, zitiert nach: AdJb, A 203/1 Nr. 100, Erklärung des Kronberger Kreises an alle Gruppen im BDP, 18. 01. 1970, S. 3. 88 AdJb, A 202 Nr. 576, Übersetzung des Briefes von Laszlo Nagy, Generalsekretär des World Scout Bureau, 18. 06. 1970. 89 Vgl. Anm. 14. 90 AdJb, A 202 Nr. 1000, Brief Bund Deutscher Pfadfinder, LV Hessen, Osteuropakundschaft 1972, Dezember 1971. 91 Die Reise erfolgte in Kooperation mit dem Zentralkomitee kommunistischer Jugendverbände, an das das Institut für Jugendforschung angeschlossen war. Das Programm beinhaltete u. a. Fabrikbesichtigungen, Diskussionen mit Partei-, Gewerkschafts- und Ju-
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Berlin angewendet worden waren, sollten nun vollends auf die internationale Ostarbeit übertragen werden. Eine »differenzierte Beurteilung der Systemunterschiede« solle dem »in der Jugend erwachten Interesse an der Auseinandersetzung mit kommunistisch regierten Ländern« entgegenkommen und »platter Propaganda« entgegengestellt werden.92 Die Osteuropakundschaft lag somit vollends auf der neuen politischen Linie des Bundes, die staatliche Informationskanäle hinterfragte und das politische Engagement der Bundesmitglieder in den Vordergrund rückte. Die Verbreitung antikommunistischer Haltungen führten Mitglieder des alten BDPm auch auf den Weltverband zurück, da er die anderen Bünde im Spaltungsprozess massiv unter Druck gesetzt habe. 1973 folgte nach dem Ausschluss die »Abrechnung« in Form der Veröffentlichung »Weltpfadfindertum und Imperialismus«93. In dieser Dokumentation wird die WOSM als Instrument USamerikanischer imperialistischer Bestrebungen gezeichnet. Zwar seien die USamerikanischen Pfadfinder in den Gremien nicht überrepräsentiert, aber als mitgliedsstärkste und finanzstärkste Organisation des Verbandes beeinflusse sie im Speziellen unterentwickelte Länder durch finanzielle und personelle Zuwendungen. So fände gerade durch die BSA die Vermittlung eines »militanten […] Antikommunismus« statt, der sich auf die Formel »Alles, was Kritik am herrschenden System übt ist ›kommunistisch‹«94 herunterbrechen lasse. Beispiele hierfür sei nun eben der Fall Deutschland. Doch dieser war nicht der erste Verband, der des Weltverbandes verwiesen wurde, wie die Dokumentation klar ausführt. 1970 ging diesen Ereignissen der Ausschluss des chilenischen Pfadfinderbundes voraus.95 Während offizielle Stellungnahmen Dispute mit katholischen Pfadfindern in den Vordergrund stellten, weist ein interner Brief der Chilenen auf die Mitgliedschaft einiger Führer in der Partido Radical96 hin, die als ausschlaggebender Faktor für den Ausschluss galt. Ungeachtet seines Ausschlusses konzentrierte sich der BDPm als klar politisch deklarierter Jugendverband auf die Interessenvertretung der arbeitenden und
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gendverbandssektionen und touristische Aktivitäten (Besuch des Parteimuseums, Teilnahme an einem Folkloreabend). AdJb, A 202 Nr. 1000, Antrag auf Bezuschussung eines Seminars im Rahmen des Osteuropaprojekts des Bundes Deutscher Pfadfinder, o. D. Bundesvorstand Bund Deutscher Pfadfinder: Weltpfadfindertum und Imperialismus – Dokumente und Analysen, Frankfurt a. M. 1973. Ebd., S. 50. Ebd., S. 72f. Die Partido Radical gehörte zum gemäßigten Flügel der Unidad Popular, einem Zusammenschluss linker Parteien und Gruppierungen innerhalb Chiles. Sie bekannte sich 1972 offiziell zum Sozialismus, historischem Materialismus und Klassenkampf; vgl. Camilo Salvo: Declaración político ideológica aprobada en la XXV Convención Nacional del Partido Radical de Chile, in: Nueva Sociedad, 1972, Nr. 1, Juli–August, S. 50–56.
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lernenden Jugend. Somit engagierte er sich u. a. in der Jugendzentrumsbewegung und konzentrierte sich auf die Zusammenarbeit mit sozialistischen Jugendverbänden wie den Falken oder der DGB-Jugend, um militaristische und nationalistische Auswüchse in der Gesellschaft zu bekämpfen.97 In einem Zusammenschluss mit dem Ring Bündischer Jugend98 fand der BDPm erneut Anschluss an den Deutschen Bundesjugendring in Form des Bundes Demokratischer Jugend (BDJ; BDP/BDJ). Im Bund vereinigten sich schließlich verschiedene politische Strömungen und Organisationsformen, was eine zentrale Koordination der Arbeit ungemein erschwerte. So nahmen einzelne Landesverbände an den Ostermärschen und der Bonner Friedensdemonstration 1982 teil, ein zentraler Aufruf erfolgte jedoch nicht.99 Kontakte zur FDJ wurden beständig erhalten, wie u. a. bei der Teilnahme am Internationalen Sommercamp des Zentralrates der FDJ 1977 sowie den Jugendlagern 1980 und 1982. Dies alles aber nicht ohne zu betonen, dass der Bund die Politik von SED und FDJ weitestgehend ablehne. Man sehe eigene Aktivitäten aber als sinnvolle Maßnahme an, der FDJ andere Perspektiven auf die BRD zu offerieren als nur durch Sicht der DKP und der SDAJ.100 Generell teile man aber die Auffassung, »daß im Mittelpunkt der Entspannungspolitik die Minderung der Rüstung, die Anerkennung der vollen Souveränität der Staaten und die Achtung der Prinzipien der Nichteinmischung stehen müsse.«101 Als vom Weltbund offiziell anerkannter Pfadfinderbund konnte man dies aber nicht mehr tun.
97 Vgl. David Templin: Vom Pfadfinderbund zur »Organisation der Selbstorganisierten«. Der Bund Deutscher Pfadfinder (BDP) und die Jugendzentrumsbewegung der 1970er Jahre, in: Karl Braun, Felix Linzner, John Khairi-Taraki (Hg.): Avantgarden der Biopolitik. Jugendbewegung, Lebensreform und Strategien biologischer Aufrüstung (Jugendbewegung und Jugendkulturen. Jahrbuch 13|2017), Göttingen 2017, S. 181–203. 98 Der Ring Bündischer Jugend (RBJ) ging aus einer Abspaltung des Rings junger Bünde (RJB) hervor. In ihm standen sich nach eigenen Darstellungen zwei Parteien gegenüber: ein rechtes Lager bestehend aus dem Deutschen Pfadfinderbund, dem Überbündischen Kreis, der FKKJugend, der Deutschen Reformjugend sowie den Nerothern sowie ein demokratisches Lager, das sich aus Jungentrucht sowie Mädchentrucht, der Skara, dem Pfadfinderbund Nordbaden und dem Wandervogel zusammensetzte. Die Polarisierung innerhalb dieses Rings führte zur Gründung des RBJ und der Zusammenarbeit mit dem BDPm, die bis 1976 anhielt; s. AdJb, A 202 Nr. 251, Protokoll der Landesvertreterversammlung 23./24. 09. 1972 in Berlin. 99 BStu, Mfs-ZAIG Nr. 33215, Arbeitsmaterial zum Bund Deutscher Pfadfinder im Bund Demokratischer Jugend (BDP/BDJ), Dezember 1983. 100 Ebd. 101 BStu, Mfs-BV Magdeburg Abt. XX, Nr. 5123, Bund Deutscher Pfadfinder im Bund Demokratischer Jugend (BDP/BDJ), o. D.
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Fazit Pfadfinderische und kommunistische Erziehung wurden beiderseitig als Dualismus aufgefasst, der eine Unvereinbarkeit beider Systeme voraussetzte. Die Pfadfinder lehnten die kommunistische Ideologie als totalitär, antidemokratisch und atheistisch vehement ab, während das kommunistische Lager Baden-Powells Bewegung als bürgerlich-reaktionär, kapitalistisch und militaristisch verurteilte. Nichtsdestotrotz diente die Pfadfinderbewegung beim Aufbau erster kommunistischer Pionierorganisationen in den 1920er Jahren durchaus als Vorbild,102 hatte sich doch das Ertüchtigungsprogramm, welches zunächst ausschließlich für britische Jugendverbände gedacht war, innerhalb zweier Jahrzehnte zu einer millionenstarken globalen Bewegung entwickelt. Und eben diese Bewegung wurde zum Rivalen, mit dem um die Deutungshoheit in der Erziehung zukünftiger Generationen gefochten wurde. Unter diesen Ausgangsbedingungen schlossen sich die deutschen Pfadfinder nach dem Zweiten Weltkrieg den Weltverbänden an. In den 1950er Jahren dominierte eine eindeutig antikommunistische Grundhaltung die Organisation der pfadfinderischen Aktivitäten, welche sich lückenlos in das gesamtgesellschaftliche und nationalpolitische Klima jener Zeit einfügen lässt.103 Dass diese Grundhaltung auch jugendpolitisch bedeutsames argumentatorisches Gewicht haben konnte, lässt sich den Korrespondenzen des Bundeskanzlers Peter Brenner mit diversen Ministerien entnehmen, in denen er den Bund strikt von jeglicher sozialistischer Jugendverbandsarbeit abgrenzte. Zudem bestimmte ein jugendschützerischer Impetus den Umgang mit dem pfadfinderischen Nachwuchs, der innerhalb des Bundeslebens gegen jegliche politische Beeinflussung abgeschirmt werden sollte. Die Rolle des »idealen Staatsbürgers«, der sich einzuordnen weiß, sollte bezüglich der deutsch-deutschen Auseinandersetzungen nur durch karitative Tätigkeiten ausgefüllt werden, um das Bewusstsein für die Teilung wachzuhalten und die Wiedervereinigung anzustreben. Der Erwerb politischen Sachwissens wurde hierbei lediglich auf ältere Pfadfinderführer begrenzt und hatte die Funktion, sich für die geistige Auseinandersetzung mit dem kommunistischen System zu wappnen. Handlungsmöglichkeiten des einzelnen Bundesmitglieds in Bezug auf Ostkontakte blieben somit stark eingeschränkt. Auf nationaler sowie internationaler Ebene sollte der deutsche Pfadfinder schließlich demokratische Tugenden repräsentieren. Somit legitimierte die Abgrenzung vom kommunistischen System in Kombination mit 102 Heiko Müller: »Kinder müssen Klassenkämpfer werden«. Der kommunistische Kinderverband in der Weimarer Republik (1920–1933), Marburg 2013, S. 73; auch für faschistische Organisationen hatten Aspekte pfadfinderischer Erziehung Vorbildcharakter. 103 Vgl. Axel Schildt: Annäherung an die Westdeutschen. Sozial- und kulturgeschichtliche Perspektiven auf die Bundesrepublik, Göttingen 2011, bes. S. 31ff.
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der internationalen Arbeit die Rolle der Pfadfinder in der bundesrepublikanischen Gesellschaft und sollte sie als Akteure im Prozess der gesellschaftlichen Verankerung im Gefüge der Westmächte hervorheben. Die Abgrenzung von totalitären Regierungssystemen wurde als indirektes politisches Statement toleriert und fügte sich in die Agenda der Weltverbände ein. Wo die Kluft/Tracht anfing, hörte allerdings die klare politische Stellungnahme auf – sie sollte die Grenze zwischen politischer Privatperson und pfadfinderischer neutraler Gemeinschaft bilden. Eckart Conze führt dieses Bekenntnis zum Unpolitischen auf eine »spezifisch deutsche Denktradition« zurück, die eine »Distanzierung vom pluralistischen Parteistaat« und dem als »westlich wahrgenommenen Parlamentarismus« beinhaltet.104 In diesem gedanklichen Konstrukt entsprachen politisches Engagement und klare Positionsnahmen nicht dem Bedürfnis nach Sicherheit, das »zur kollektiven Grundbefindlichkeit der Deutschen«105 geworden war. Hinzuzufügen wäre dem sicherlich auch die Notwendigkeit der politischen Neutralität als Bedingung für die Mitgliedschaft in den Weltpfadfinderverbänden. Die Angehörigkeit zum globalen Gemeinschaftskonstrukt komplettierte letztendlich die Westanbindung der deutschen Pfadfinder. Aus Sicht der FDJ war eben diese Verbindung zur internationalen Pfadfinderei ausschlaggebend für die anti-östlichen Ressentiments, jedoch muss diesbezüglich betont werden, dass der Antikommunismus bereits eine historische und identitätsstiftende Konstante in der deutschen Geschichte darstellte, an die nach 1945 leicht wieder anzuknüpfen war.106 Die Politisierung innerhalb der deutschen Pfadfinderei ist sicherlich multikausal bedingt und nicht allein mit dem Generationswechsel Anfang der 1960er zu begründen, weitere Forschungen müssen hier erst noch folgen. Deutlich wird jedoch, dass Blockbildungsprozesse und der Systemkonflikt bei Diskussionen über die eigene gesellschaftliche Positionierung und über Formen der Politisierung eine nicht zu unterschätzende dynamisierende Rolle spielten. Handlungsoptionen waren zunächst jedoch stark von gesetzlichen Reglementierungen bestimmt, wie das Beispiel der Hessischen Pfadfindergruppe gezeigt hat. Die Berlin-Kundschaften konnten hier in gewissem Maß Abhilfe schaffen und entwickelten Modellcharakter für weitere politische Bildungsoffensiven, vor allem 104 Conze: »Pädagogisierung« (Anm. 18), S. 72. 105 Ebd., S. 73 mit Verweis auf ders.: Die Suche nach Sicherheit. Eine Geschichte der Bundesrepublik Deutschland von 1949 bis in die Gegenwart, München 2009. 106 Detlef Garbe: Äußerliche Abkehr. Erinnerungsverweigerung und »Vergangenheitsbewältigung«. Der Umgang mit dem Nationalsozialismus in der frühen Bundesrepublik, in: Axel Schildt, Arnold Sywottek (Hg.): Modernisierung im Wiederaufbau. Die westdeutsche Gesellschaft der 50er Jahre, Bonn 1993, S. 693–716, hier S. 712; Garbe erwähnt in diesem Zusammenhang, dass die omnipräsente Auseinandersetzung mit dem Kommunismus den Nebeneffekt der positiven Bezugnahme auf die nationalsozialistische Vergangenheit hatte; vgl. auch Schildt: Annäherungen (Anm. 103), S. 36.
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aber verschafften sie dem Bund Deutscher Pfadfinder eine breitere öffentliche Anerkennung. In Abgrenzung zur Politik der zumeist unnahbar wirkenden Staatsmänner und anonymen Behörden wurde in Form der Kundschaft eine authentische Informationsbeschaffung beworben, die die Selbstständigkeit der Jugendlichen betonen und sie aus ihrer als passiv empfundenen Stellung manövrieren sollte. Dies zeigt eindeutige Parallelen zur international angepriesenen »campfire diplomacy«, die im Hinblick auf die Jamborees wiederholt thematisiert wurde. Fernab der großen Politik »der da oben« sollten sich Jugendliche ein möglichst authentisches Bild von den Verhältnissen im Osten schaffen. Wie authentisch dieses Bild wirklich war, bleibt fraglich. Sicher ist aber, dass durch die politischen Kundschaften Möglichkeiten des aktiven staatsbürgerlichen Engagements für Jugendliche offeriert wurden und ein Anreiz zur Ausübung weiterer politischer Aktivitäten geboten werden konnte. An der endgültigen Definition dieses staatsbürgerlichen Engagements entbrannten schließlich massive Auseinandersetzungen innerhalb des BDPm, in denen sich Vertreter verschiedener Lager um Grenzen der Politisierung stritten. Emotionsgeladene Polemiken der rivalisierenden Gruppen ließen hierbei die Grenze zwischen »kritischem Staatsbürger« und »Moskaujüngling« verschwimmen. Antiimperialistische, antikapitalistische und antiamerikanistische Strömungen fanden, angetrieben durch die 68er-Bewegung, verstärkt Einzug in die Bewegung – mit ihnen die Idee eines Pfadfinderbundes, der durch offene politische Statements aktiv Kritik an Gesellschaft, Staat und globalen Machtverhältnissen übt. Diese deutsche Auseinandersetzung greift eine Grundproblematik des Scouting und Guiding auf, auf die auch Eduard Vallory in seiner Studie eingeht: Die Unklarheit, inwiefern nationale Pfadfinderorganisationen staatliche Autoritäten unterstützen, oder ab welchem Punkt sie sie hinterfragen und kritisieren sollten.107 Auf die anschließende Linksradikalisierung des Bundes kann an dieser Stelle nicht im Detail eingegangen werden,108 die Konsequenzen dieser Entwicklung waren letztendlich die Spaltung des Bundes sowie der Ausschluss aus dem Ring und dem Weltverband. In dieser Entwicklung spiegelt sich der Kalte Krieg auch auf globaler Ebene wider. Dass die Pfadfinderbewegung zu jener Zeit als eine Zentrale der Westernisierung im Systemkonflikt angesehen werden kann, hebt Margaret Peacock indirekt hervor:
107 Vallory: Citizens (Anm. 11), S. 114 sowie S. 143. 108 Hier sei auf die Publikation des Zeitzeugen Reinhard Schmoeckel verwiesen, der die Verbindungen eines linken Netzwerkes zur politischen Instrumentalisierung des BDPm aus seiner Sicht darstellt; Schmoeckel: Strategien (Anm. 79).
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»When the aspiring Scout drew out his required map of all the countries that had Scouting, what he produced was a map of the Cold War. The support or rejection of Scouting in a nation literally drew the line between communism and capitalism.«109
Der zeitnahe Ausschluss der Chilenen aus dem Weltverband legt zumindest nahe, dass support und rejection in diesem Kontext nicht nur innerhalb von Nationen eine Rolle spielten, sondern auch innerhalb der Pfadfinderweltorganisation selbst. In diesem Zusammenhang stellt sich nicht zuletzt die Frage nach der Instrumentalisierung der WOSM durch die US-Amerikaner im Kalten Krieg, die an dieser Stelle leider offengelassen werden muss, da Quellenbelege ausschließlich aus Publikationen linkspolitisch orientierter Pfadfinder stammen. Um hier ein adäquates Urteil fällen zu können, ist der Einbezug weiterer internationaler Quellen unabdingbar. Dass auch auf Seiten der WAGGGS kommunistische Tendenzen durch Guiding bekämpft werden sollten, zeigt aber u. a. die Studie von Jialin Christina Wu, die Auswirkungen dieses Vorgehens in Malaysia untersucht hat.110 Es sind also fruchtbare Ansätze für weitere Forschungen gegeben.
109 Peacock: Weapons (Anm. 10), S. 114. 110 Jialin Christina Wu: A Malayan Girlhood on Parade, Colonial Femininities, Transnational Mobilities and the Girl Guide Movement in British Malaya, in: Richard Ivan Jobs, David M. Pomfret (Hg.): Transnational Histories of Youth in the Twentieth Century, Basingstoke 2015, S. 92–115.
Jugend im Visier der Medien
Sigrun Lehnert
Politisch Verführte, Halbstarke, Streuner oder Aktivisten. (Re-)Präsentation von Jugend in der Kinowochenschau (Ost-West) im Kalten Krieg
Abstract Die west- und ostdeutsche Kino-Wochenschau richtete ein besonderes Augenmerk auf die junge Generation. Am Beispiel der gesellschaftlich relevanten Gruppe der Jugendlichen und der »Jugendkultur« lässt sich deutlich demonstrieren, wie »Zeitgeist« im Kalten Krieg durch Filmsprache zum Ausdruck gebracht wurde. Typische Freizeitaktivitäten, z. B. Treffen und Tanzen in Jugendclubs, Musik und Mode prägen das Image »der Jugend« im 20. Jahrhundert. Während der Kommentar in der ostdeutschen Wochenschau das politische Engagement junger Menschen für den Aufbau des sozialistischen Staates lobend stark hervorhob, stand in der westdeutschen Wochenschau oftmals die Sorge um die moralische Verfasstheit der Jugend im Vordergrund und ihre Rolle in der aufstrebenden Konsumgesellschaft. Die Beschäftigung mit jugendlichen Bedürfnissen wird erst Ende der 1950er Jahre in der westdeutschen Wochenschau erkennbar, gleichzeitig wird vor einer »Uniformierung« gewarnt und zur Entwicklung eines eigenen Stils ermahnt. Die Wochenschauen stellten die Jugend des jeweils anderen Staates als benachteiligt dar und beim Blick durch den »Eisernen Vorhang« scheint die Jugend in Ost und West untereinander ausgespielt zu werden. Im vorliegenden Beitrag wird das Thema »Jugend« im Licht der Wochenschau weniger in der einer naheliegenden gesellschaftlichen Perspektive betrachtet, sondern insbesondere in Verbindung mit wirtschaftlichen und politischen Aspekten.
Einleitung »Ich möchte ein Typ sein« – so identifizierte der Sprecher in der westdeutschen Neuen Deutschen Wochenschau (NDW) Nr. 538 im März 1961, die Sehnsucht der Jugendlichen. Der Beitrag gehört zu einer Reihe von »Jugendfeatures«, wie sie von den Produzenten genannt wurden, und beginnt mit Bildern eines »Brigitte-
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Bardot-Wettbewerbs«. Der Kommentar beschreibt die Nachahmung »der uniformen Brigitte« durch die jungen Mädchen, die sich in Frisur und Kleidung dem äußeren Stil des Stars angenähert haben als ein »Zeichen von Unsicherheit«. Danach beschäftigt sich der Bericht mit der »Sprache« der Jugend, indem Jugendliche in einer Bar »belauscht« wurden, wobei Untertitel die Dialoge für die »nicht eingeweihten« Zuschauer übersetzen. Drei junge Männer mit klischeehafter Haartolle und Lederjacke begutachteten die Mädchen auf der Tanzfläche des »Eden Saloon« von einer Empore aus (vgl. Abb. 1) und bezeichneten deren Beine als »Feuerlöffel« bzw. »Mangelhölzer«. In der Diskussion eines jungen Pärchens über die Band spielte der Trompeter »einen duften Strahl« und am Ende »schaffen sich« die jungen Leute, das heißt in der Übersetzung »darf ich bitten«.1
Abb. 1: Belauschte Jugend, NDW Nr. 538
Die etwa zehnminütige Wochenschau2 im Kinovorprogramm bot nicht nur informative, sondern auch unterhaltende Berichte, die gesellschaftliche Werte und damit entsprechend eine westliche bzw. östliche Sicht auf diese vermittelten. 1 Zitate aus NDW Nr. 583 vom 31. 03. 1961. 2 Die erwähnten Ausgaben der NDW, Die Zeitlupe, Welt im Film/Welt im Bild, Ufa-Wochenschau sind abrufbar unter: https://www.filmothek.bundesarchiv.de/, die Ausgaben von Der Augenzeuge sind abrufbar unter: https://progress.film/.
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Jeder der etwa acht bis 15 Berichte einer Ausgabe mit unterschiedlichsten Themen3 war durch eine Komposition aus Bildern, Kommentar und Musik gestaltet, die wiederum in ein Gesamtkonzept eingebunden war. Inhalte und Ästhetik der Wochenschau lenkten die Aufmerksamkeit der Zuschauer und bildeten Rahmungen für politische Deutungen im Kalten Krieg. Geschickte Übergänge zwischen den Beiträgen sorgten für Assoziationen und trugen so zum Verstehen und zur Interpretation durch den Zuschauer bei. Zudem bestand ein weltweiter Austausch von Filmmaterial der Wochenschau-Unternehmen, auch zwischen west- und ostdeutscher Wochenschau. Dieses Material wurde meist für KalterKrieg-Botschaften genutzt. Für das Image im Ausland sorgten zudem monatliche Produktionen (Der Deutschlandspiegel (19541999), DDR-Magazin (1960–1976)), die an Ländervertretungen im Ausland geliefert wurden. Auch wenn die Wochenschau ein kurzer Film und Teil im Beiprogramm war,4 maßen die Produzenten und politische Vertreter dieser »Aktualitätenschau« aus Bild und Ton eine bedeutende Wirkung zu.5 Unter den westdeutschen Produktionen ist die Neue Deutsche Wochenschau besonders interessant, da sie sich nicht nur im Wettbewerb der unter deutscher Leitung fortgeführten Besatzungswochenschauen behaupten,6 sondern von der Kriegswochenschau Deutsche Wochenschau aufgrund der gewagten Namensähnlichkeit abgrenzen musste.7 Während es in den Westzonen und der Bundesrepublik mehrere Wochenschauen gab, wurde in der sowjetischen Besatzungszone und der DDR Der Augenzeuge gezeigt. Der Augenzeuge war Sprachrohr der zentralen Partei, der SED, und sollte sich, dem Leiter Kurt Maetzig zufolge, als »echter Volkserzieher« verstehen und »immer einen Schritt vor dem Volke gehen«. Die Wochenschau sollte die Lage der Menschen kennen und in »sachlicher Einfachheit den konkreten Weg« zu einer »besseren Zukunft« aufzeigen, um als »Lehrer und Erzie3 Meist am Anfang Politik (ein oder zwei Sujets), Wirtschaft, Kultur, Weltgeschehen, Katastrophen, Mode, Tierstories und meist am Ende Sport (oft mehrere Sujets). 4 Das Beiprogramm bestand aus Wochenschau, Kulturfilm und Werbung. 5 Vgl. Artikel des Geschäftsführers der Neuen Deutschen Wochenschau. Heinz Wiers: Die politische Bedeutung der Wochenschau, in: Politische Studien, 1954, H. 56, S. 33–38. 6 In Westdeutschland wurden ab 1949/1950, dem Gründungsjahr der NDW, die britisch-amerikanische Welt im Film, die von Frankreich unterstützte Blick in die Welt und die private Produktion Fox tönende Wochenschau gezeigt. 7 Vgl. o. V.: »neue deutsche unverfänglich«, in: Der Spiegel, 1949, Nr. 49, S. 40. Den meisten Erwachsenen klangen die »Goebbels-Fanfaren« noch in den Ohren und es bestand die Gefahr, dass die neue Wochenschau vor dem Hintergrund der Erfahrung mit dem alten Propagandainstrument abgelehnt würde. Der Stil der Sprecher wurde jedoch in der Welt im Film zunächst beibehalten, um eine Brücke zu den Gewohnheiten der Zuschauer zu bilden und die Reeducation zu verkaufen, vgl. Christian Hallig: Erinnerungen an die Arbeit bei der »Welt im Film«, in: Karl. F. Reimers, Monika Lerch-Stumpf und Rüdiger Steinmetz (Hg.): Zweimal Deutschland seit 1945 im Film und Fernsehen I. Von der Kinowochenschau zum aktuellen Fernsehen, München 1983, S. 41–58, hier S. 47.
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her« anerkannt zu werden.8 Jede Ausgabe wurde von einem Gremium aus Parteivertretern und sowjetischem Berater abgenommen.9 Die »Spezialität« des Augenzeugen war nach Jordan das gestaltete politische Sujet – Berichte, die die Verbindung von Politik und Alltag aufzeigen sollten. Auf Grundlage der gegensätzlichen wirtschaftlichen und ideologischen Systeme in der Bundesrepublik und DDR wurde auch über »die Jugend« kontrovers berichtet. Das oben erwähnte Jugendfeature der NDW war das letzte Sujet der Wochenschau-Ausgabe Nr. 583 und hatte gerade durch diese einprägsame Positionierung eine herausgehobene Bedeutung. Entweder wollte die Redaktion dem Thema »Jugendsprache« und dem auf diese Weise dargelegten Zweifel an dem jugendlichen Lebensstil besonderen Nachdruck verleihen oder aber einen locker-unterhaltenden Schlussbericht bringen – verbunden mit einem erzieherischen Denkanstoß. In gewisser Weise ist dies geglückt, denn ein 20-jähriger Berliner beschwerte sich in einem Brief bei der Neuen Deutschen Wochenschau über die Art der Darstellung. Stellvertretend für die jungen Menschen schrieb Horst Brandenburg am 1. April 1961, dass die Wochenschau ein »Zerrbild von den [»den« ist unterstrichen] Jugendlichen« gezeigt habe, und er vermutet den Ursprung bei dem »Autor des Drehbuchs«, der sich über die Sprache der Jugendlichen nicht ausreichend informiert habe. Überhaupt habe die Szene »unecht und gestellt« gewirkt.10 Damit zeigte der junge Berliner nicht nur das Missfallen, sondern auch ein Misstrauen der Wochenschau gegenüber, die ganz offenbar inszenierte Teile integrierte.11 Die NDW-Redaktion antwortete am 11. April 1961, man habe bewusst die »Objektive auf jenen Typ der Jugend gerichtet, […] von dem wir wissen, dass er existiert«. Die Wochenschau habe aber »auf keinen Fall« behauptet, »dass es sich hierbei um ein repräsentatives Abbild der Jugend von heute handelt.«12 Weitere drei Teile der Reihe »Unsere Jugend« wurden erstellt,13 um darin verschiedene Aspekte der Jugendkultur wie Mode, Musik und Kosmetik zu behandeln. 8 Günter Jordan: DEFA-Wochenschau und Dokumentarfilm 1946–1949: Neuer Deutscher Film in der Nachkriegsgesellschaft zwischen Grundlegung und Wandel von Selbstverständnis, Funktion und Gestalt. Berlin (unveröffentlichte Dissertation) 1990, S. 102. 9 Vgl. Günter Jordan: Der Augenzeuge, in: Filmmuseum Potsdam (Hg.): Schwarzweiß und Farbe. DEFA-Dokumentarfilme 1946–92, Berlin 2000, S. 270–293, hier S. 275. 10 Brief von Horst Bandenburg an NDW vom 01. 04. 1961, Ordner NDW Echo, Film- und Fernsehmuseum Hamburg (FFMH). 11 Die Integration gestellter Szenen, Spielszenen bis hin zu Sketchen war in der Wochenschau eine übliche Verfahrensweise. 12 Brief Wiers/Purzer, Deutsche Wochenschau an Horst Brandenburg, 11. 04. 1961, Ordner NDW Echo, FFMH. 13 2. Teil: Neue Deutsche Wochenschau Nr. 590 vom 19. 05. 1961 mit dem Titel »Wenn sie der Rhythmus packt«, 3. Teil Neue Deutsche Wochenschau Nr. 607 vom 15. 09. 1961 mit Thema Mädchen und Mode, 4. Teil Neue Deutsche Wochenschau Nr. 614/1961 vom 03. 11. 1961 mit dem Titel: »Ich möchte schön sein« (Mädchen und Kosmetik).
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Der Auftakt zu der Reihe war in der NDW Nr. 571 vom 5. Januar 1961 zu sehen. Der erste Bericht im neuen Jahr zeigte Jugendliche nicht nur beim Rock’n’RollTanzen, sondern deutete auch den Konsum von Roman-Heften, u. a. Der Landser, an. In einer Rede vor der Wochenschau-Kamera warnte Familienminister Franz-Josef Würmeling vor der körperlichen und seelischen Verausgabung der jungen Leute. Seiner Ansicht nach würden sie von den Erwachsenen mit »ungünstigen Einflüssen geradezu überschüttet« und seien »in den Augen gewisser Industrien« ganz gewöhnliche Konsumenten. Während seines O-Tons wechselten die Bilder des Ministers an seinem Schreibtisch passend zu Bildern von »den Jugendlichen«, die er meinte: Mädchen beim Schönheitswettbewerb auf dem Laufsteg und bei einem modischen »Geschmacktest« vor dem Spiegel (Abb. 2)14. Weitere Jugendliche betätigten einen Glücksspielautomaten mit schnell drehenden Scheiben.
Abb. 2: Jugendliche als Konsumenten, NDW Nr. 571
Danach wurde ein Aufmarsch der Jugendorganisation Freie Deutsche Jugend (FDJ) mit hoch erhobenen klatschenden Händen und Transparenten gezeigt und 14 Die Sequenz stammt allerdings nicht von einem Geschmackstest, wie der O-Ton Würmelings nahelegt, sondern aus einem Bericht über eine Teenager-Modenschau in Lübeck (gezeigt in NDW Nr. 483 vom 01. 05. 1959).
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Würmeling formulierte seine Sorge mit der rhetorischen Frage, was die westdeutsche Jugend, wenn sie »ihr Weltbild aus Groschenheften« bezöge, einer »klar ausgerichteten« Jugend im Osten »ideell« entgegenzusetzen habe. Darüber sollte man sich mit der Jugend »in aller Ruhe unterhalten«. Jugendliche waren zum Teil der Konsumkultur des Westens geworden, die offenbar einer klaren Perspektive auf ihre Rolle entgegenstand. Die Jugend durch Gespräche über die vermeintliche Zersplitterung im pädagogischen Sinn einzubeziehen, hielt Würmeling jedoch für möglich. Kurz nach ihrem Erscheinen wurde die NDW-Ausgabe im FilmEcho kritisiert, sie habe »Anti-Werbung« verbreitet und der Minister habe versäumt, »die Freiheit« als Privileg der westdeutschen Jugend zu erwähnen.15 Die Wochenschau traf mit der harschen Kritik möglicherweise tatsächlich nicht mehr den Nerv der Bevölkerung. In einer Umfrage des Instituts für Demoskopie in Allensbach äußerten sich 1950 auf die Frage, ob sie von den 16- bis 25-Jährigen einen »eher ungünstigen oder günstigen Eindruck« haben, 40 Prozent der Befragten mit »ungünstig«, 1956 waren es nur noch 32 und 1960 waren 44 Prozent der Jugend gegenüber »günstig« gestimmt. In Bezug auf die Beurteilung der Jugend als »fleißig« und »ernsthaft« in ihrer Aufgabenwahrnehmung stimmte 1960 die überwiegende Mehrheit von 56 Prozent dem zu und nur 23 Prozent wollten dies der Jugend nicht zubilligen.16 Die Wochenschauen in Ost und West zeichneten ein ambivalentes Bild von der Jugend, das teils die Ratlosigkeit der Erwachsenenwelt spiegelt – jedoch nicht die realen sozialen Verhältnisse.
Situation Jugendlicher nach dem Zweiten Weltkrieg In Bezug auf die Entwicklung der neuen Jugendkultur und auf die Situation der Jugendlichen17 in der Nachkriegszeit ist zu bedenken, dass Jugendzeit das Aufwachsen in Trümmern bedeutete, möglicherweise Jahre auf der Flucht, ohne Mutter, als Waise oder mit Vätern, die durch die lange Abwesenheit fremd geworden oder sogar Unbekannte waren. Viele Jugendliche waren selbst noch durch den Krieg traumatisiert, hatten an den Nationalsozialismus geglaubt und waren nun orientierungslos. Einem erheblichen Teil fehlten ganze Jahre an 15 »Die Wochenschauen«, Rezensions-Rubrik in Film-Echo Nr. 4 vom 14. 01. 1961. 16 Vgl. Elisabeth Noelle, Erich Peter Neumann: Jahrbuch der öffentlichen Meinung 1958–1964, Allensbach 1965, S. 200. [Besser vielleicht: Nach seinen Aktivitäten im Nationalsozialismus …] beschäftigte sich der Soziologe Helmut Schelsky in den 1950er Jahren mit Jugend und Familie und prägte die Jugendsoziologie in Deutschland (u. a. mit dem Werk »Die skeptische Generation« (1957). 17 Als »Jugend« werden hier im Allgemeinen Personen verstanden, die in der Nachkriegszeit von 1945 bis 1965 sozialisiert wurden, d. h. sie waren in den 1950er- und 1960er Jahren im Alter von 12–21 Jahren.
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Schulbildung – sie hatten vielleicht nur ein sogenanntes Notabitur erwerben können oder hatten keinen Abschluss, als sie in den letzten Kriegstagen eingezogen wurden. In der Nachkriegszeit war der Wohnraum durch die großen Zerstörungen der Städte in der Nachkriegszeit begrenzt – so hatten Jugendliche meist kein eigenes Zimmer, teilten sich sogar das Bett mit den Geschwistern.18 Manche mussten als Ersatzeltern die Verantwortung für die Jüngeren übernehmen. Die Jugend war in den fünfziger Jahren in starkem Maße in das Erwerbsleben einbezogen. Umfragewerten des EMNID-Instituts aus dem Jahr 1953 zufolge standen 69 Prozent der westdeutschen 15- bis 17-Jährigen und 85 Prozent der 18- bis 20-Jährigen im Beruf (zum Vergleich 1984: 19 bzw. 56 Prozent).19 Mehr als vier Fünftel der Jugendlichen teilten den langen Arbeitstag der Erwachsenen. Nach den seit 1938 bis 1960 gültigen Regelungen des Jugendarbeitsschutzes war für 14- bis 18-Jährige eine wöchentliche Arbeitsdauer von maximal 48 Stunden zulässig. Die Lehrlingsquote war hoch, doch die Mädchen wurden Anfang der fünfziger Jahre noch häufig wegen Überfüllung der Berufsschulen zurückgestellt – als Ausdruck einer allgemeinen Benachteiligung in der Bundesrepublik.20 Dieser Hintergrund verdeutlicht, dass Jugendliche »ein Zuhause« suchten, sich in Clubs zusammenfanden – ein bevorzugter Ort für die Flucht aus dem Alltag und der Enge. Ein weiterer Zufluchtsort war das Kino. Laut einer Umfrage des NWDR Mitte der 1950er Jahre gingen zwei Drittel der 15- bis 24-Jährigen mindestens alle 14 Tage einmal ins Kino.21 Die Studie urteilt, das Kino habe eine »potentielle Bedeutung für die Entwicklung der jungen Menschen«. Die 15- und 16-Jährigen gingen etwas weniger häufig ins Kino. Die Gründe bestünden im größeren Einfluss der Eltern, und die Partnersuche sei in dem Alter noch nicht ausgeprägt (als Anreiz, das Kino dazu zu nutzen). Zudem war das 16. Lebensjahr die Grenze der Altersbeschränkungen für Filme. Die 17- bis 20-Jährigen waren die »kinowütigsten« – auch bei geringem Taschengeld. Mit 20 Jahren »scheint ein gewisser Sättigungsgrad« erreicht zu sein: Die 20- bis 25-Jährigen gingen zwar auch noch häufig ins Kino, aber Beruf und Familie beanspruchten mehr Zeit und gingen vor. Auch die Landjugend ließ sich kaum eine Gelegenheit entgehen, Filme zu sehen.22 Einer Untersuchung von Walter Hagemann von 1957 zufolge war für die Jugendlichen im Alter von 12 bis 20 Jahren von den Teilen des Beiprogramms die 18 Vgl. Axel Schildt: Moderne Zeiten: Freizeit. Massenmedien und »Zeitgeist« in der Bundesrepublik der 50er Jahre, Hamburg 1995, S. 445. 19 Zit. nach Axel Schildt: Gesellschaftliche Entwicklung, in: Bundeszentrale für politische Bildung (Hg.): Deutschland in den 1950er Jahren, 2002, Nr. 256, https://www.bpb.de/izpb/101 24/gesellschaftliche-entwicklung?p=all [28. 10. 2019]. 20 Vgl. Schildt: Entwicklung (Anm. 19). 21 41 Prozent gingen wöchentlich einmal oder öfter ins Kino; 25 Prozent alle 14 Tage, 21 Prozent alle drei Wochen bis einmal im Monat. 22 NWDR: Jugendliche heute. Ergebnisse einer Repräsentativbefragung der Hörerforschung des Nordwestdeutschen Rundfunks. München 1954, S. 41f.
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Wochenschau am interessantesten.23 Dass die junge Generation durch ihre Bedürfnisse möglicherweise eine problematische Gruppe darstellen könnte, scheint der westdeutschen Wochenschau jedoch erst Ende der 1950er Jahre aufgefallen zu sein, denn es häuften sich nun die Berichte mit jugendspezifischen Themen. So rückten die Jugend und die neue Jugendkultur in den Fokus der publizistischen Öffentlichkeit, an der die Wochenschau vor der Etablierung des Fernsehens noch als bedeutendes Medium beteiligt war.24
Die Jugend in Arbeit und Freizeit Nach Ende des Zweiten Weltkriegs versuchten die Alliierten die Jugendlichen sinnvoll zu beschäftigen und so »von der Straße« zu holen. Die britisch-amerikanische Wochenschau Welt im Film berichtete von sportlichen Aktivitäten, wie z. B. Seifenkistenrennen, die von der German Youth Activities (GYA) veranstaltet wurden.25 Die Wochenschau zeigte, wie kulturelle Veranstaltungen und Austausch durch die Amerika-Häuser gefördert wurden26 und auch das Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen UNICEF beteiligte sich 1951 mit Maßnahmen, z. B. der Errichtung eines Wohnheims für Lehrlinge.27 In Ostdeutschland wurden staatlich gelenkte Jugendorganisationen eingesetzt. Die KPD holte sich im Februar 1946 in Moskau die politische Zustimmung zur Gründung der Freien Deutschen Jugend (FDJ).Die Ziele der FDJ (für Jugendliche ab 14 Jahre) in der Sowjetisch Besetzten Zone bestanden u. a. darin, der Jugend ein Mitbestimmungsrecht durch aktive Teilnahme an der Verwaltung des öffentlichen Lebens einzuräumen.28 Bei der Heranführung der Jugend an neue gesellschaftliche Ideale war zumindest die westdeutsche Wochenschau jedoch nicht immer eindeutig. Betrachtete sie Starclubs und Teenagerpartys, wie der Familienminister im Sujet der NDW Nr. 571, mit Argwohn, so waren Misswahlen (z. B. NDW Nr. 281 vom 17. Juni 1955) vermutlich ein sehr willkommenes und gut zu filmendes Motiv.29 23 Walter Hagemann: Filmbesucher und Wochenschau, Emsdetten 1959, S. 12f. 24 Noch 1968 wurde in einer Tageszeitung hervorgehoben, dass das Kinopublikum relativ jung sei (30–35 Jahre) und wenig auf das Fernsehen fokussiert, denn das Fernsehen sei eher ein Familienmedium. Der Autor kritisiert, dass sich die Wochenschauen zu lange kaum auf das junge Publikum auszurichteten, vgl. P. Jungmann: Opas Wochenschau ist endlich tot. »Ufa« und »Zeitlupe« änderten ihr Gesicht, in: Spandauer Volksblatt, 17. 03. 1968. 25 Welt im Film Nr. 265 vom 29. 06. 1950. 26 Welt im Film Nr. 272 vom 16. 08. 1950. 27 Welt im Film Nr. 310 vom 11. 05. 1951. 28 Ulrich Mählert, Gerd-Rüdiger Stephan: Blaue Hemden – Rote Fahnen. Die Geschichte der Freien Deutschen Jugend, Opladen 1996, S. 31–36. 29 Misterwahlen mit Anfängen des Bodybuildings in: Ufa-Wochenschau 355 vom 17. 05. 1963.
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Die Ufa-Wochenschau Nr. 70 vom 27. November 1957 zeigte ein Tanzvergnügen der Aktion »Jugendschutz« im Winterhuder Fährhaus in Hamburg. Der Kommentar lobte, dass sich die Jugend selbst »Schranken« auferlegt habe: Softdrinks und gesitteter Tanz in gesellschaftsfähiger Kleidung statt »Rock’n’Roll-Uniform«. Interessant ist, dass die Zuschauer in diesem Sujet dieselben Jugendlichen tanzen sahen, die in der NDW Nr. 571 von 1961 als negatives Beispiel aufgezeigt wurden. Filmmaterial wurde folglich in unterschiedlichen Bezügen eingesetzt. Noch 1961 stellte die Wochenschau die westdeutsche Jugend als »verführte« Opfer des Nazi-Regimes dar (Ufa-Wochenschau Nr. 246 vom 11. April 1961) und interpretierte die Einbindung der DDR-Jugend in staatliche Kinder- und Jugendorganisationen, wie Junge Pioniere und FDJ, als erneute politische Instrumentalisierung und Militarisierung von wehrlosen Jugendlichen. Auch der Vergleich zur Hitler-Jugend wurde bemüht und daran erinnert, dass die »gefährdeten« DDR-Jugendlichen ebenfalls Deutsche seien und damit eine Fürsorgepflicht für alle deutschen Jugendlichen übernommen werden sollte (NDW Nr. 18 vom 30. Mai 1950). Die Kontrolle über die Jugendlichen und ihre integrative Rolle beim Wiederaufbau wurde so als gesamtdeutsches »Problem« angesehen. Während die Jugendlichen in den Jugendfeatures der NDW als Teil der Konsumgesellschaft eingebunden schienen, zeigte die Ufa-Wochenschau30 Nr. 343 vom 22. Februar 1963 eine andere Gruppe Jugendlicher, die als »Tippelbrüder« durch die Lande zogen und als Arbeitslose und Alkoholabhängige in fragwürdigen Etablissements endeten. Im Interview mit dem Reporter erklärten sie, wie es zu ihrem Lebenswandel kam und gaben zu, dass dies nicht der richtige Weg sei. Die Kamera war sogar – ähnlich wie im heutigen Reality-TV – dabei, als die »Fehlgeleiteten« von der Polizei beim Übernachten in einem abbruchreifen Haus aufgespürt wurden. Die Polizeihunde weckten die Jugendlichen durch »vorschriftsmäßiges Kneifen«; Obdachlose hätten die Pflicht sich Arbeit zu verschaffen, sonst würden sie durch richterlichen Beschluss in ein Arbeitshaus geschickt, wie der Wochenschau-Kommentar erklärte (Ufa-Wochenschau Nr. 369 vom 23. August 1963). Besonders durch die wirtschaftliche Lage in der Bundesrepublik – mit nahezu Vollbeschäftigung und Anwerbung von Gastarbeitern aus dem europäischen Ausland – schien es undenkbar, dass es Jugendliche und junge Erwachsene gab, die nicht arbeiteten und so auf die »schiefe Bahn« gerieten. Zudem richtete sich der Blick auf Amüsiermeilen, wie die Reeperbahn auf St. Pauli in Hamburg. Die Wochenschau zeigte schonungslos und im O-Ton, wie 30 Die ehemalige britisch-amerikanische Besatzungswochenschau Welt im Film wurde nach dem Rückzug der Briten aus der Produktion 1952 als Welt im Bild weitergeführt und bei der Neue Deutsche Wochenschau GmbH (ab 1955 Deutsche Wochenschau GmbH) produziert. 1956 erwarb die Ufa die Rechte und diese Produktion wurde zur Ufa-Wochenschau.
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die von der »unauffällig gekleideten« behördlichen »Jugendschutztruppe« aufgegriffenen Jugendlichen von Polizisten befragt wurden. Jedem Jugendlichen wurde die Frage gestellt, warum er oder sie noch zu so später Stunde und dazu allein im Hamburger Rotlichtmilieu unterwegs war. Das Ziel der Truppe sei, die Jugendlichen vor »sittlicher Verwahrlosung zu schützen«, wie der Kommentar sagte, und wer zu den »hoffnungslosen Fällen« gehöre, wandere in ein Fürsorgeheim oder in eine Strafanstalt. Zwar zeigte die Wochenschau nicht die Gesichter der Jugendlichen, doch die Fragen der Beamten konnten auch den Betrachter peinlich berühren (Die Zeit unter der Lupe Nr. 723 vom 3. Dezember 1963). Arbeitszeitverkürzungen und steigende Löhne ermöglichten ab Mitte der 1950er Jahre und in den 1960er Jahren mehr Freizeit.31 Und massenkulturelle Angebote in Film, Musik und Mode – nicht zuletzt aus den USA – wiesen den Weg zu neuen Leitbildern. Überkommene und autoritäre Erziehungsstile und der Wunsch der Jugendlichen nach einem selbstbestimmten Raum stießen zusammen – dazu gehörten auch Kämpfe mit den Eltern um Frisuren, Kleidung und Musik.32 Die sogenannten »Halbstarken« befanden sich jedoch in der Minderheit.33 Der Begriff »Halbstarke« wurde bereits um 1900 für »verdorbene« Jugendliche der unteren sozialen Schicht genutzt und überdauerte die NS-Zeit, bis er Mitte der 1950er Jahre durch Ausschreitungen von 15- bis 20-Jährigen im Arbeitermilieu wieder in Gebrauch kam.34 Von den Krawallen mit Hunderten von Jugendlichen, die in Westdeutschland von August bis November 1956 stattfanden,35 berichtete die Wochenschau allerdings nicht. Allein ein Erfolg, die »Halbstarken« zu zähmen, war eine »Story«: Die Ufa-Wochenschau Nr. 1 vom 1. August 1956 berichtete unter dem Titel »Kraft-Proben« und mit jazziger Musik begleitet, wie der Sender Freies Berlin es verstand, die Jugendlichen in einer »fröhlichen Razzia« von Auseinandersetzungen mit der Berliner Polizei abzubringen. Die jungen Leute bekamen die Gelegenheit, sich im Olympiastadion zu treffen, ihre Musik zu hören und sich in ihrem typischen Outfit zu zeigen. Der Kommentar schließt den Beitrag mit der ironischen Zuversicht, dass auf diese Weise die »überschüssigen Kräfte« und die »Halbstarken« nur noch ein »halbes Problem« sein würden. Der nachfolgende Bericht handelte, mit bayerischer Blasmusik unterlegt, vom traditionellen Rangeln als »probates Hausmittel« für jugendlichen Überschwang, bei dem sich barfüßige und hemdsärmelige junge 31 32 33 34
Vgl. Schildt: Entwicklung (Anm. 19). Schildt: Entwicklung (Anm. 19). Schildt: Zeiten (Anm. 18), S. 445. Klaus Farin: Die Halbstarken, in: Bundeszentrale für politische Bildung (Hg.): Jugendkulturen in Deutschland 2010, http://www.bpb.de/gesellschaft/kultur/jugendkulturen-in-deuts chland/36156/die-halbstarken [29. 03. 2019]. 35 Farin: Die Halbstarken (Anm. 35).
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Burschen auf einer Wiese gegenseitig auf den Boden zu drücken versuchten. Der Wochenschau-Kommentar lobte die Volksbräuche und empfahl sie zu nutzen, da sie das Selbstbewusstsein stärkten und zudem niemandem schadeten. Doch auch noch fünf Jahre später wurde die französische Jugend, die ihre Begeisterung für den Rock’n’Roll zeigte, von der Polizei zur Raison gebracht. Die NDW Nr. 598 vom 14. Juli 1961 berichtete mit sprachlichem und bildlichem Sarkasmus von dem Pariser Rock’n’Roll-Festival, wobei die die »ekstatische Begeisterung« der Teenager in Close-ups und Zeitraffer-Aufnahmen nachdrücklich belegt wurde. Aus dem »Fest der tanzenden Rüpel« wurde ein »Fest der tanzenden Knüppel«, reimte der Kommentar. Fernab vom Tanzvergnügen wurde das Leben von Studenten von der NDW Nr. 376 vom 12. April 1957 gezeigt, wie auch wenig später mit fast demselben Schnitt in Der Augenzeuge Nr. A25 vom 23. April 1957. Die Studenten wurden übermüdet im Hörsaal und beim Verrichten von ungewohnten Tätigkeiten, z. B. Fensterputzen, Kinderhüten oder Teppichklopfen, aufgenommen (teils in offensichtlich gestellten Szenen). Der Kommentar betonte, dass nur wenige ein Stipendium bekämen – und so kommt zum Ausdruck, dass sie allein für sich sorgen mussten. Im Augenzeugen folgte darauf ein Sujet über die Jugendweihe in der DDR – mit Erziehung in Glück und Frieden zum »Sozialistischen Menschen«. Die Jugendlichen wurden so auf die staatliche Gemeinschaft eingeschworen. Die DEFA-Wochenschau bediente sich (im Gegensatz zur westdeutschen Wochenschau) oft des Prinzips der Personalisierung. Bei Auszeichnungen und Belobigungen wurden die Jugendlichen namentlich genannt und teils ausführlich porträtiert – wie Harri Kudra, der außerdem am Ende des Beitrags in Der Augenzeuge Nr. 37 vom 16. September 1955 den Aufnahmeantrag für den Eintritt in die SED abgab. Oder wie die junge Hannelore Schindler in Der Augenzeuge Nr. 12 vom 19. März 1954, die im VEB Spinnstoffwerk im Sächsischen Glauchau vorbildlich tätig war. Der Kommentar erklärte, sie sei die erste gewesen, die zwölf Webstühle gleichzeitig bediente (vgl. Abb. 3) und damit entscheidend zur Planübererfüllung beitrug. Gleichzeitig wurde demonstriert, wie sie in die Politik eingebunden war: Hannelore Schindler war die jüngste Delegierte, die am nächsten IV. Parteitag der SED teilnehmen sollte. Die Funktion scheint an dieser Stelle eindeutig: Die Wochenschau sollte nicht nur zur Motivation durch öffentliche Aufmerksamkeit beitragen, sondern auch eine Bindung der jungen Leute an den sozialistischen Staat fördern. Halbstarke suchte man vergeblich, aber positive Helden wurden herausgehoben. In Der Augenzeuge wurden Jugendliche ausschließlich als an Arbeit und Bildung interessiert dargestellt, um ihre Fähigkeiten für »den Aufbau und den Sieg des Sozialismus« zu erweitern und einzusetzen – auch in der Freizeit. Dazu trat das »Gesetz über die Teilnahme der Jugend am Aufbau der Deutschen Demokratischen Republik und die Förderung der Jugend in Schule und Beruf, bei
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Abb. 3: Junge Aktivistin und Delegierte, Der Augenzeuge Nr. 12/1954
Sport und Erholung« am 8. Februar 1950 in Kraft. Der Augenzeuge Nr. 7 vom 17. Februar 1950 berichtete über die in der Folge des Gesetzes geplante Einrichtung von 150 Schulen und zweistellige Millionen-Ausgaben für Lehrmittel. Der Kommentar betonte, dass die Jugendlichen per Gesetz das Recht und die Pflicht hätten, zu arbeiten und sich weiterzubilden. Junge Frauen wurden als Lehrlinge und Arbeitende in der Industrie gezeigt – und damit die »Gleichberechtigung«36 hervorgehoben. In Arbeiter- und Bauernfakultäten hatten die jungen Leute die Möglichkeit, die Fachhochschulreife zu erwerben – unabhängig von Status oder Wohlstand der Eltern. Mit sogenannten Lehrzügen sollte das Wissen über z. B. Ackerbau und Viehzucht zudem in die entlegensten Ecken der DDR gelangen (Der Augenzeuge Nr. 33/1955). Das Schulsystem wurde reformiert: Ab 1959 wurde die Polytechnische Oberschule eingeführt, in der der Unterricht die Schüler schon früh an das Arbeitsleben heranführen und mit der »sozialistischen« Produktion vertraut machen sollte (Der Augenzeuge Nr. A 81/ 1959). Studenten und Schüler wurden als Erntehelfer eingesetzt, um den Arbeitermangel, der aus den Flüchtlingswellen resultierte, aufzufangen. Dabei
36 Vgl. »Gesetz über den Mutter- und Kinderschutz und die Rechte der Frau« vom 27. 09. 1950, http://www.verfassungen.de/de/ddr/mutterkindgesetz50.htm [10. 11. 2019].
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wurde in der Wochenschau stets die idyllische Freude an der Landarbeit hervorgehoben, die zur Ernährung aller beitrug.37 Weitere Beiträge zeigten Jugendliche bei der Verrichtung von teils schweren Arbeiten auf Baustellen, wie dem Transport von Erde und Steinen. Der Kommentar betonte die Dankbarkeit der Jugend gegenüber der Regierung, die es ihr ermöglichte, selbst aktiv an der Errichtung eines Schwimmstadions für die »Weltfestspiele der Jugend und Studenten« in Ost-Berlin mitzuarbeiten (Der Augenzeuge Nr. 21 vom 25. Mai 1951). Die staatliche Jugendorganisation FDJ war nicht nur in Pionierlagern im Einsatz, um die Jüngeren bis zum Alter von zehn Jahren in den Ferien an eine lehrreiche Betätigung heranzuführen, sondern sie plante auch die Jugendarbeit, u. a. galt es Sumpfgebiete, wie das Altmärkische Wische-Gebiet, für die Landwirtschaft urbar zu machen (Der Augenzeuge Nr. A69 vom 26. August 1958). Während von der Jugend in der Bundesrepublik behauptet wurde, dass sie »ohne Ausbildung herumlungern müssen« und als perspektivlos sei (u. a. in Der Augenzeuge Nr. 9 vom 3. März 1950), wurde die Jugendarbeit als wichtiger Zweig der DDR-Wirtschaft präsentiert. Jugendbrigaden stellten in Übererfüllung des Plans wichtige Exportgüter her und wurden als besonders vorbildlich gelobt. Erst in den 1960er-Jahren wurde auf den Arbeitsalltag einer Jugendbrigade eingegangen. Unter dem Titel »Feierabend – und was weiter? Eine kritische Reportage über die Möglichkeiten der Freizeitgestaltung für die jungen Bauarbeiter von Schwedt« beschäftigt sich Der Augenzeuge Nr. 15/ 1963 in seinem ersten Bericht mit den mangelhaften Freizeitgestaltungsoptionen: Lesen, Fernsehen, Kneipenbesuch. Die jugendlichen Arbeiter des Baukombinates wurden in einem ihrer Schlafräume mit Etagenbetten interviewt und die Kamera zeigt ungenutzte, weil eingepackte Filmgeräte und den geschlossenen Schießstand der GST.38 Der Brigadeleiter berichtete von enttäuschenden Gesangsdarbietungen – das »Kulturelle« sei zu kurz gekommen. Am Beginn und am Ende sorgte jazzige Musik dennoch für einen fortschrittlichen Eindruck – denn »Schwedter Wind« sei in der Republik ein geflügeltes Wort für das Aufholen von Planrückständen geworden, so der Kommentar.
37 Unter anderem in Der Augenzeuge Nr. 43/1953 mit einem Beitrag über einen ErntehilfeSonntag (darunter auch Kinder bei der Kartoffelernte) und Der Augenzeuge Nr. 38/1955 mit einem Beitrag über freiwillige Erntearbeit von Studierenden. 38 Gesellschaft für Sport und Technik, 1952 gegründet, eine Massenorganisation zur vormilitärischen Ausbildung von Kindern und Jugendlichen mit Angeboten, wie z. B. Sportschießen, Funktechnik, Tauchen, Segelfliegen.
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Das Verhältnis von Politik und Jugendlichen Die Wochenschau ließ die Jugendlichen gegeneinander antreten – jedoch traten implizit die politischen Systeme gegeneinander an. Besonders in der Welt im Film waren Anfang der 1950er Jahre viele Beiträge über das politische Engagement von Jugendlichen zu sehen. Während die westdeutsche Wochenschau 1950 das Deutschland-Treffen der FDJ in Berlin als Misserfolg für die Jugendorganisation darstellt und FDJ-Angehörige (trotz »Verbot der kommunistischen FDJ-Führung«) auch den Westen Berlins besuchten, wo die »staunenden« Jugendlichen durch freundliche Westberliner einen »überzeugenden Anschauungs-Unterricht über die Gegensätze zwischen Ost und West« erhielten (Welt im Film Nr. 262 vom 8. Juni 1950), widmete Der Augenzeuge dem erfolgreichen Treffen eine ganze Ausgabe (Nr. 22/1950). Mit Pionierliedern unterlegt wurde gezeigt, wie Delegationen aus allen sozialistischen Ländern begrüßt wurden, aus der Sowjetunion, aus China und der Tschechoslowakei. Der Kommentar zählte auch Vertretungen aus kapitalistischen Ländern auf, wie USA, England und aus der neutralen Schweiz. 30.000 westdeutsche Jugendliche sollen »trotz aller Schikanen« vertreten gewesen sein. Das gesamte Treffen soll unter dem Ziel der Einheit Deutschlands gestanden haben – mit der Losung »bereit zur Arbeit und Verteidigung des Friedens«. Die Jugend habe gezeigt, wie man mit »anglo-amerikanischen Imperialisten und ihren Söldnern fertig wird«. Bei der Schlusskundgebung wurden nicht nur riesige Portraits von Lenin und Stalin getragen, sondern auch Pappmaschee-Figuren von Engländern, Amerikanern und Adenauer, die »aus ganz Deutschland verschwinden« sollten – dafür würden die Studenten, jungen Arbeiter und Jugendlichen sorgen, wie der Sprecher beim Vorbeimarsch der Gruppen sagte. Andauernder Jubel und Geräusch des Applauses begleiteten die Massendarstellungen von jungen Leuten auf Plätzen und in Hallen. Sportliche, intellektuelle, politische Vorbilder und Arbeiter-Idole39 befanden sich unter den Gästen und richteten ihre Reden auf Kundgebungen direkt an die Jugendlichen: Ihnen wurde Vertrauen bescheinigt und Freundschaft zugesichert. Besonders die Freundschaft mit der Sowjetunion wurde bekräftigt, die gegen »alle Feinde« verteidigt werden sollte. Man traf sich u. a. im Walter-Ulbricht- Stadion, das mit Angehörigen der FDJ und Arbeitern »in kürzester Zeit« erbaut worden sei, wie der Sprecher betonte. 1964 wurde in der DDR ein neues Jugendgesetz verkündet: Die Jugendlichen sollten es selbst ausgestalten und für die Ausführung verantwortlich sein. Die weiteren Beiträge dieser Ausgabe widmeten sich ebenfalls Jugendthemen: einem Jugendball in Weimar mit Shakespeare-Aufführungen und einer Modenschau für Teenager, im Zuge derer ein ausreichendes Beklei39 Wie Adolf Hennecke, der nach einem Rekord von 380-prozentiger Planübererfüllung von der SED-Regierung als Begründer der Aktivistenbewegung installiert worden war.
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dungsangebot für junge Leute gefordert wurde (Der Augenzeuge Nr. 20/1964). Die Zuschauer der Wochenschau konnten so eine Wertschätzung der Jugend assoziieren. Insbesondere die Welt im Film zeigte durch die Berichte und Assoziationen durch die Berichtsfolge, wie die ostdeutsche Jugend durch die FDJ vereinnahmt wurde. Die Welt im Film Nr. 254 vom 13. April 1950 zeigt unter der Rubrik »Politische Streiflichter« zuerst einen Pfingstmarsch der FDJ, um gleich im Anschluss über die Flucht des Dresdner Mozartchors nach Westberlin zu berichten. Die FDJ hatte angekündigt, die Sektorengrenzen zu überschreiten und in Westberlin ein Treffen abzuhalten, was der Oberbürgermeister Reuter nicht genehmigte. Der Leiter des Mozartchors gab im O-Ton-Interview als Grund der Flucht an, dass man den Chor habe zwingen wollen, geschlossen der FDJ beizutreten. Eine Infiltration durch die FDJ sollte gesellschaftlich und mental unterbunden werden. Neben der staatlichen Unterstützung und Lenkung haben Jugendliche im Osten offenbar auch selbst politische Aktionen durchgeführt. Die Welt im Film Nr. 296 thematisierte im Frühjahr 1951 das Schicksal eines Jugendlichen, der bei Plakatierungsaktionen in der DDR festgenommen und zum Tode verurteilt worden war sowie die Folgen für die Angehörigen.40 Im Beitrag ging es jedoch nur zweitrangig um den Jugendlichen selbst – den bekannten Fall Hermann Joseph Flade41 –, sondern um den DDR-Staat und die verweigerte Meinungsfreiheit. In der Bundesrepublik sollten sich Jugendliche offenbar geografisch und politisch westlich ausrichten, was sich in den gezeigten Organisationen manifestierte. Die westdeutsche Wochenschau berichtete von Treffen der EuropaJugend und über Aktionen des »Ring politischer Jugend«. Auch der Bundesjugendring (gegründet 1949), Studierendenverbände42 und Pfadfinder-Gemeinschaften engagierten sich für politische Ziele und Zukunftsfragen allgemeiner Art und im Speziellen für solche, die Jugend betreffend. Das gleiche gilt für Jugendliche in Landsmannschaften (Verbände von Flüchtlingen und Vertriebenen). Als sich FDJ und Bundesjugendring 1955 trafen (NDW Nr. 269 vom 25. März 1955), könnte man fast eine Lockerung des Kampfes zwischen westdeutscher und ostdeutscher Jugend annehmen. Der Kommentar betonte aber: 40 Welt im Film Nr. 296 vom 02. 02. 1951 und Welt im Film Nr. 305 vom 06. 04. 1951. 41 Um gegen die Art der Durchführung der Volkswahlen zu demonstrieren, druckte Flade 2000 Flugblätter und verteilte sie in Dresden. Als er gestellt wurde, verletzte er einen Polizisten mit einem Messer und wurde daraufhin am 10. 01. 1951 zum Tode verurteilt. Der Fall löste in West- wie in Ostdeutschland Empörung aus. Das Todesurteil wurde in eine Haftstrafe von 15 Jahren umgewandelt; erst 1960 wurde Flade im Rahmen einer Amnestie freigelassen. Vgl. Hermann Joseph Flade. https://www.jugendopposition.de/themen/145426/hermann-joseph -flade [27. 10. 2019]. 42 Auch international: AIESEC als die größte internationale Studentenorganisation, gegründet 1946.
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»Zu einer Verständigung konnte man auch diesmal nicht kommen. An politischen Problemen schieden sich die Geister.« Aber Der Augenzeuge Nr. 37/1955 berichtete auf der anderen Seite über Jugendliche im Westen, die in den Osten flohen, um nicht Wehrdienst leisten zu müssen – die Wochenschau kritisierte jedoch damit implizit den Beitritt der Bundesrepublik zur NATO.43 Angesichts der massiven Kontroversen ist zu fragen, ob in den Wochenschauen gemeinsame Ziele der Jugendlichen transportiert wurden. Die Berichte in Ost und West zeigen Jugendliche oft in Verbindung mit der Forderung nach Freiheit und der Verhinderung von neuem Krieg sowie Völkerverständigung. Dies gilt besonders für die unmittelbare Nachkriegszeit und Beginn der 1950er Jahre. Zugleich war die Forderung nach Frieden ein starkes Argument für die gezeigten Jungendbewegungen – und dies gilt durchgehend auch in den 1960er Jahren – insbesondere im Hinblick auf die Remilitarisierung in West und Ost. Der Augenzeuge Nr. 22 vom 6. Juni 1961 verdeutlichte dies im Bericht über den 4. Kongress der Arbeiterjugend beider deutscher Staaten. Von der Jugend wurde erwartet, aus der Vergangenheit zu lernen – die sie zum Teil gar nicht selbst erlebt hat. Selten kamen die Jugendlichen persönlich zu Wort – und wenn, dann war durch den Filmschnitt keine objektive Haltung zu erwarten. Und es stellte sich nach dem Beitrag der Ufa-Wochenschau Nr. 408 vom 19. Mai 1964 über ein Jugend-Pfingsttreffen die Frage, welche Jugend, Ost oder West, für welches Staats-Image instrumentalisiert wurde. Vom scharfen Ton des Kommentars begleitet, wurden die Lager der Jugendlichen gegenübergestellt: Massenaufmarsch im Osten und Zeltlager der Pfadfinder im Westen. Im O-Ton-Interview zeigten sich Westdeutsche wenig beeindruckt von dem Massenaufgebot in Ostberlin, und ein Pfadfinder äußerte Desinteresse angesichts seiner Erfahrung am Grenzübergang stundenlang festgehalten und durchsucht worden zu sein. Ein anderer bedauerte, dass Jugendliche in der DDR keine Passierscheine für einen Besuch im Westen bekämen. Die Stimmen von Ostberliner Teilnehmern am Treffen fehlten. Auch das Filmmaterial mit Bildern aus Ostberlin mit Transparenten westdeutscher Gruppen, die die Teilnahme von Jugendlichen beider deutscher Staaten demonstrierten, stammte nicht aus einem direkten Austausch mit der DEFA, sondern von der amerikanischen Bildagentur UPI (United Press International) – vermutlich ging die westdeutsche Wochenschau hier den bequemeren Weg der Bildbeschaffung.
43 Kommentartext: »Über 15.000 Jugendliche kamen allein im ersten Vierteljahr 1955 aus Westdeutschland in die DDR, da sie es ablehnten Söldner der NATO zu werden.«
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Zum Schluss Aus den Darstellungen in der Wochenschau lässt sich entnehmen, zu welchem »Spielball« das Jugendimage bzw. die Jugendlichen selbst in Politik und Gesellschaft geworden waren. Während die Wochenschau-Beiträge Anfang der 1950er Jahre zunächst einen sehr idyllischen Eindruck erweckten – mit Bewegung an frischer Luft und in traditioneller Kleidung, betrachtete die Wochenschau die Jugend ab 1956/1957 in einem ganz anderen Licht. Die Wochenschau spiegelte einen kulturellen Wandel im »ungeraden Jahrzehnt«, beginnend mit 1956 und bis 1966 reichend, und eine Zäsur, die mit den Krawallen Mitte der 1950er Jahre begann und die Stereotypisierung der Jugend vorantrieb.44 Die Jugend musste nun offenbar geschützt werden (oder sollte sich selbst schützen). Freizügigkeit in der Freizeit war nicht ausschließlich vorteilhaft und bot Anlass zur Sorge, während in Der Augenzeuge von Beginn der 1950er Jahre an eine durchgängige Beschäftigung mit der Jugend als gesellschaftlicher Säule mit festgelegten Aufgaben für den Aufbau des sozialistischen Staates zu beobachten ist. Die Struktur der Ausgaben schuf vielfältige Möglichkeiten, einem Bericht über die politisch systembewusste Jugend in der DDR einen kontrastierenden Beitrag über »perspektivlose« Jugendliche in der Bundesrepublik vor- oder nachzuschalten, bzw. einen Beitrag über neue konsumierende Jugend im Westen mit einem über die »gegängelte« Jugend im Osten zu kombinieren. Jugend wurde in der westdeutschen und ostdeutschen Wochenschau stereotypisiert – und nur in Der Augenzeuge bezogen auf die eigene Jugend eindeutig positiv bewertet. Der einfache Alltag der Jugendlichen wurde in beiden Wochenschauen kaum beachtet. Daneben wurden einige, die junge Generation, betreffende Themen ausgelassen: Die Wochenschauen zeigten nicht, wie es in Erziehungsheimen in der Bundesrepublik oder auf Jugendwerkhöfen in der DDR zuging.45 Dagegen wurde bei politischem Widerstand anders verfahren: Jugendliche, die sich politisch engagierten – und zwar gegensätzlich im jeweils anderen System – und dabei gefasst und bestraft wurden, erhielten fast einen Heldenstatus. Doch die Jugend war eine Hauptzielgruppe des Kinos und suchte dort und in den angebotenen Filmen Rückzugsorte. Ende der 1950er Jahre wurde für die Wochenschau-Produzenten immer deutlicher, dass sie sich gegenüber dem Fernsehen behaupten mussten.46 Das Ende der Wochenschau-Ära kam aber 44 Bodo Mrozek: Jugend Pop Kultur. Eine transnationale Geschichte, Berlin 2019, S. 12, 15. 45 Vgl. ZDF Dokumentationen http://www.zdf.de/zdfinfo/trauma-umerziehung-heimkinder-in -der-ddr-35164344.html [28. 03. 2019]. 46 Manfred Purzer: Die Wochenschau als Zeitbild, in: Film-Echo, 1961, Nr. 85, S. 1215–1216. Das Fernsehen sei mehr chronologisch und episch angelegt, die Wochenschau dagegen eher dramatisch und künstlerisch. Purzer hob die hohe Bedeutung der Wochenschau für die Zuschauer und Kinobesitzer heraus.
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unweigerlich Ende des Jahrzehnts.47 Das Fernsehen hatte mit speziellen Jugendsendungen ausführliche Möglichkeiten, zielgruppengerechte Inhalte zu bieten. Es handelte sich dann um Beiträge für Jugendliche und keine indirekte Zurechtweisung in Beiträgen über Jugendliche, wie es in der Kino-Wochenschau geschah.
47 1963 wurde die NDW zu Die Zeit unter der Lupe umbenannt und die Produktion 1969 eingestellt. 1969 erfolgte die Umbenennung der Ufa-Wochenschau in Ufa dabei als »junges« Magazin, das bis 1977 produziert wurde. Der Augenzeuge wurde erst 1980 eingestellt.
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Kinder und Jugendliche als Erziehende. Umkämpfte Kindheit und Jugend in Bildungsmedien der DDR
Einleitung Der Beitrag fragt in einer bildungs- und kulturgeschichtlichen Perspektive nach Kindheit und Jugend und nach dem Generationenverhältnis in Bildungsmedien der DDR. Er diskutiert dabei erste Ergebnisse eines Forschungsprojektes zu Schulbüchern und Kinderliteratur in der DDR, das wiederum Teil eines größeren Verbundprojektes zu Bildung und Bildungsmythen in der DDR ist.1 Das Teilprojekt zu Schul- und Bilderbüchern der DDR erforscht insbesondere Generationen- und Geschlechterverhältnisse, Bilder von Kindheit, Kindern und Jugend, kindliche Agency, Familien- und Autoritätsverhältnisse sowie Formen der Autorisierung. Kindheit und Jugend, das Verständnis dieser Lebensphasen, ihre Konstruktion, ihre gesellschaftliche Bedeutung und Organisation sowie die in diesem Zusammenhang entwickelten kulturellen Praktiken sind Teil der Systemkonkurrenz zwischen DDR und BRD, weshalb im Text von einer umkämpften Kindheit und Jugend ausgegangen wird. Schließlich bildeten die Familienpolitik, damit zusammenhängend etwa Fragen der Erwerbstätigkeit, der Geschlechterverhältnisse und der Kinderbetreuung sowie Fragen des Bildungssystems wichtige Bereiche, in denen sie ausgetragen wurde.2 Dazu gehörten auch Deutungskämpfe um das Verständnis von Kindheit und Jugend in der generationalen
1 Mehr Angaben zum Hildesheimer Projekt unter www.uni-hildesheim.de/bildungsmythen und zum Verbundprojekt unter www.bildungsmythen-ddr.de [28. 05. 2020]. 2 Zur Systemkonkurrenz in der Familienpolitik vgl. Ute Frevert: Umbruch der Geschlechterverhältnisse? Die 1960er Jahre als geschlechterpolitischer Experimentierraum, in: Axel Schildt u. a. (Hg.): Dynamische Zeiten. Die 60er Jahre in den beiden deutschen Gesellschaften, Hamburg 2000, S. 642–660, für die Kindheitsgeschichte vgl. Meike Sophia Baader u. a. (Hg.): Kindheiten in der Moderne. Eine Geschichte der Sorge, Frankfurt a. M. 2014, S. 414– 455. Martina Winkler: Kindheitsgeschichte. Eine Einführung, Göttingen 2017, zur Bildungsreform Alfons Kenkmann: Von der bundesdeutschen »Bildungsmisere« zur Bildungsreform in den 60er Jahren, in: Schildt: Zeiten, S. 402–423.
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Ordnung und im Generationenverhältnis,3 um ihre gesellschaftliche Funktion, um deren Organisation sowie um Erziehungsziele. Versteht man diese Deutungskämpfe um Kindheit und Jugend, um Erziehungs- und Bildungsziele als Teil dieser Konkurrenz, so sind sie grundsätzlich in einer verflechtungsgeschichtlichen Perspektive zu betrachten. Über die Bildungseinrichtungen und das Bildungssystem hinausgehend erfolgte die Organisation von Kindheit und Jugend in der DDR durch unmittelbare staatliche Verantwortung und Steuerung. Kinder- und Jugendorganisationen stellen einen wichtigen Aspekt einer staatlich zentralistischen Kinder- und Jugendpolitik von oben dar. Kindheit und Jugend wurden fest in staatliche Massenorganisationen und in die damit verbundenen Praktiken eingezogen, die einen hohen verpflichtenden Charakter aufwiesen. Wie dieser Verpflichtungsmodus zwischen Freiwilligkeit und kollektiver Kontrolle aussah, ist eine der Fragen, die der Beitrag aufwirft und die wir in unseren Forschungen auch weiterverfolgen werden. Neben der Organisation von Kindheit und Jugend durch Kinderbetreuung und Schule als Teil des Bildungssystems, existierte mit den kinder- und jugendspezifischen Massenorganisationen ein zweites System der Organisation von Kindheit und Jugend, das jedoch, wie im dritten Kapitel gezeigt wird, auf das engste mit Schule und dem Bildungssystem verbunden war. Ein oberstes Ziel, die »Erziehung zur sozialistischen Persönlichkeit«, verband alle Stufen des Bildungssystems, einschließlich des vorschulischen Bereiches, der anders als in der BRD bis heute, in der DDR zum Bildungssystem zählte, mit den kinder- und jugendspezifischen Massenorganisationen der Pioniere und der Freien Deutschen Jugend (FDJ) sowie mit der offiziellen Familienpolitik. Mit diesem Ziel, dessen Konzept wir auch in seiner Widersprüchlichkeit im zweiten Kapitel diskutieren, wollte sich die DDR zum einen vom Nationalsozialismus und Faschismus und zum anderen von der BRD abgrenzen. Mit der »sozialistischen Persönlichkeit« eng verbunden war die Idee des neuen Menschen, die historisch auf längere und durchaus heterogene Traditionslinien zurückblickt.4 Mit dieser 3 Zur Begrifflichkeit der generationalen Ordnung und des Generationenverhältnisses vgl. Helga Kelle: Generationale Ordnung als Proprium der Erziehungswissenschaft und Kindheitssoziologie, in: Tanja Betz u. a. (Hg.): Institutionalisierung von Kindheit. Childhood Studies zwischen Soziologie und Erziehungswissenschaft, Weinheim 2018, S. 38–53 sowie Meike Sophia Baader: »Miteinander sprechen, das ist r(w)ichtig«. Generationale Ordnung, Generationenverhältnisse und Erziehung in der BRD seit den 1970er Jahren, in: Betz (Hg.): Institutionalisierung, S. 78–94. 4 Zum neuen Menschen siehe grundlegend Gottfried Künzlen: Der neue Mensch. Eine Untersuchung zur säkularen Religionsgeschichte der Moderne, München 1994. Zu Konzepten des neuen Menschen in historischer und religiöser Perspektive siehe Manfred Hettling, Michael G. Müller (Hg.): Menschenformung in religiösen Kontexten. Visionen von der Veränderbarkeit des Menschen vom Mittelalter bis zur Gegenwart, Göttingen 2007, in erziehungswissenschaftlicher Hinsicht Heinz-Elmar Tenorth: Neu wird der Mensch. Der lange Marsch der Bildungsutopien, in: Kursbuch, 2018, Nr. 193, Hamburg, S. 51–64.
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Erziehung sind zugleich Fragen zum Verhältnis von Individuum und Kollektiv aufgeworfen. Die Auseinandersetzungen um sie machen zudem deutlich, dass Erziehung in der DDR ein der Bildung übergeordnetes Konzept ist, zu dem sich Bildung funktional verhält, sodass diese ein Mittel auf dem Weg zur »Erziehung zur sozialistischen Persönlichkeit« darstellt. Grundsätzlich ist Erziehung wesentlich intentionaler ausgerichtet als Bildung und der formative Aspekt wird stärker betont. Mit der hohen Priorisierung von Erziehung wurde zugleich an sozialistische Traditionen der Weimarer Republik angeknüpft. Wie und auf welche Weise in den Bildungsmedien die »Erziehung zur sozialistischen Persönlichkeit« thematisiert wurde und welche Akzente bezüglich des Generationenverhältnisses dabei gesetzt wurden, ist Gegenstand des Beitrages. Dabei wird gezeigt, dass eine staatlich verordnete Verantwortung von Jugendlichen für Kinder Teil jenes Konzeptes ist und im Rahmen der Massenorganisationen von den Jungen Pionieren und der FDJ eingefordert wird. Dieses von uns im Folgenden als »doppelte Struktur des Generationenverhältnisses« bezeichnet und im zweiten Kapitel erläutert. Nicht nur Erwachsene erziehen Kinder und Jugendliche, sondern letzteren wird auch staatlicherseits die Aufgabe zugewiesen, als Ältere die Kinder als Jüngere zu erziehen. Dabei kommt einem beispielund vorbildhaften Verhalten eine wichtige Rolle zu. Wie sich dies in den Bildungsmedien Kinder- und Schulbuch darstellt, welche vorbildhaften Verhaltensweisen dort aufgerufen werden und mit welchen Bildern und Narrationen dies verbunden ist, ist Gegenstand des Beitrages. Die Bedeutung, die der Lesepädagogik in der DDR und damit der Erziehung und Sozialisation durch Lektüren zukam, wird im vierten Kapitel ausgeführt, während im fünften Kapitel die Bildungsmedien Schulbuch und Kinderbuch thematisiert werden, um dann anhand ausgewählter Beispiele das »doppelte Generationenverhältnis« zu diskutieren. Den theoretischen Zugriff liefern Ansätze zur generationalen Ordnung und zum Generationenverhältnis, der neueren Kindheitsforschung, der Kinderkulturforschung und der Kindheitsgeschichte. Das Kinderbuch ist dabei als Teil von Kinderkultur zu verstehen – ein Zugang, der sowohl in der geschichts- als auch in der erziehungswissenschaftlichen Forschung entwickelt worden ist.5 Methodisch werden insbesondere Ansätze der Diskursanalyse und diskursorientierte Verfahren der Bildanalyse zum Einsatz gebracht, wobei im Rahmen des Projektes vor allem das spezifische Verhältnis von Text und Bild interessiert.
5 Zum Generationenverhältnis und zur Kindheitsgeschichte siehe Anm. 3, zur neueren Kindheitsforschung siehe Florian Eßer u. a. (Hg.): Reconceptualising Agency and Childhood. New Perspectives in Childhood Studies, London 2016, zur Kinderkultur grundlegend Pia Schmid: Kinderkultur als Forschungskonstrukt. Ein Ereignis aus dem Jahr 1727, in: Zeitschrift für Pädagogik, 2006, Jg. 52, H. 1, S. 127–148.
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Erziehung zur »sozialistischen Persönlichkeit« Die »allseits entwickelte sozialistische Persönlichkeit« ist das höchste Erziehungs- und Bildungsziel der DDR, so wurde es am 25. 02. 1965 im »Gesetz über das einheitliche sozialistische Bildungssystem« festgehalten, das die »allseits entwickelte Persönlichkeit« zum obersten Ziel des gesamten Bildungssystems der DDR – von der Krippe, über die Schule bis zu den Universitäten und dem Weiterbildungssystem – erklärte, wobei die Einheit und Kontinuität aller Bildungseinrichtungen besonders hervorgehoben wurden.6 Der Begriff der Persönlichkeit, der bereits in der Aufklärung und im Neuhumanismus eine Rolle spielte, wurde um 1900 im Kontext einer Debatte um die Erneuerung der Kultur, gleichermaßen etwa bei Max Weber, in der Jugendbewegung wie in der Reformpädagogik, intensiv diskutiert. Insbesondere sollte sich die Persönlichkeit um 1900 vom »Fachmenschen« unterscheiden.7 Die DDR-Pädagogik grenzte sich bereits zu Beginn der 1950er Jahre von der Reformpädagogik ab, vor allem mit dem Argument der Konzeptlosigkeit, die die »planmäßige Erziehung zu einem antifaschistisch-demokratischen Bewußtsein« gefährde.8 Favorisiert wird damit eine Orientierung an der Plan- und Machbarkeit und an intentionalen Erziehungstechnologien, die ihre Ziele und den Weg dorthin klar benennen. Für das Konzept der »sozialistischen Persönlichkeit« war die Idee des Bewusstseins zentral, auch weil diese sich bei Marx und Engels findet, welche sich insgesamt eher wenig zu Fragen von Erziehung und Bildung geäußert haben.9 Insbesondere nach dem Mauerbau wurde in den 1960er Jahren betont, dass die Bildungseinrichtungen das »sozialistische Nationalbewußtsein der Jugend« entwickeln sollten.10 Der Begriff der Persönlichkeit fungierte in der DDR als 6 Karl-Heinz Günther u. a.: Das Bildungswesen der Demokratischen Republik. Gemeinschaftsarbeit der Akademie der Pädagogischen Wissenschaften, Berlin 1979, S. 12. 7 Friedrich Wilhelm Graf: Rettung der christlichen Persönlichkeit. Protestantische Theologie als Kulturwissenschaft des Christentums, in: Rüdiger vom Bruch u. a. (Hg.): Kultur und Kulturwissenschaft um 1900, Stuttgart 1989, S. 103–132 zur Erneuerung der Kultur durch die Persönlichkeit und die Erziehung zur Persönlichkeit in der Reformpädagogik siehe Meike Sophia Baader: Erziehung als Erlösung. Transformationen des religiösen in der Reformpädagogik, Weinheim 2005, S. 178–206. 8 Günther: Bildungswesen (Anm. 6), S. 638. Vgl. Emmanuel Droit: Vorwärts zum neuen Menschen? Die sozialistische Erziehung in der DDR (1949–1989), Köln u. a. 2014, S. 31–32, der ein von Humanismus und Reformpädagogik geprägtes Bildungskonzept durch das Erziehungsziel neuer Menschen für den sozialistischen Staat ersetzt sieht. 9 Dies zeigt sich auch an der Textauswahl des 1968 bei Volk und Wissen erschienen Sammelbandes Karl Marx, Friedrich Engels: Über Erziehung und Bildung, Berlin 1968. Siehe dazu auch Meike Sophia Baader: »Erziehung der Erzieher«. Dogmatische und antiautoritäre MarxLektüren nach der »Wendung aufs Subjekt« um 1968, in: Christian Jansen, Martin Endreß (Hg.): Karl Marx im 21. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 2020, S. 511–544. 10 Gerhart Neuner: Das Einheitsprinzip im DDR-Bildungswesen, in: Zeitschrift für Pädagogik, 1992, 43, S. 261–278.
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Abgrenzung zum Begriff des »Individuums« und sollte die historische, soziale und gesellschaftliche Dimension unterstreichen. Eine Persönlichkeit verfügt im Verständnis des sowjetischen Psychologen Rubinstein über »ein Minimum an Neutralität, Indifferenz und Gleichgültigkeit und ein Maximum an Parteilichkeit«11. Neben anderen markiert dies eine der Widersprüchlichkeiten zwischen der Idee der »allseitigen« Entwicklung der Persönlichkeit einerseits und ihrer klaren Perspektivierung auf die Verpflichtung zum Sozialismus andererseits. Auch darin zeigt sich eine doppelte Struktur. Das Jugendgesetz der DDR hält über die »sozialistische Persönlichkeit« unter anderem fest: »Die jungen Menschen sollen sich durch Eigenschaften wie Verantwortungsgefühl für sich und andere, Kollektivbewußtsein und Hilfsbereitschaft, Beharrlichkeit und Zielstrebigkeit, Ehrlichkeit und Bescheidenheit, Mut und Standhaftigkeit, Ausdauer und Disziplin, Achtung vor den Älteren, ihren Leistungen und Verdiensten sowie verantwortungsvolles Verhalten zum anderen Geschlecht auszeichnen. Sie sollen sich gesund und leistungsfähig halten«.12 Die Verpflichtung aller auf das oberste Ziel des Sozialismus und aller Menschen »auf sozialistische Art zu arbeiten, zu lernen und zu leben«, so ebenfalls im Jugendgesetz festgehalten, hat zur These von einer flachen Generationendifferenz bzw. der »generationalen Gleichheit« geführt.13 Dieser »Idee der generationalen Gleichheit«, die in der Forschung akzentuiert wurde und die auch mit Berufung auf das Motto »Keiner zu klein, Helfer zu sein« erfolgte,14 wollen wir die These von der »doppelten Struktur im Generationenverhältnis« entgegensetzten. Dabei gehen wir davon aus, dass das Generationenverhältnis in der DDR sich nicht nur über das Verhältnis Kinder-Erwachsene sowie Jugendliche-Erwachsene als Moment der generationalen Ordnung strukturiert, sondern dass es über die Jugendorganisationen eine Erziehungsverpflichtung der FDJ gegenüber den Kindern insbesondere in den Pionierorganisationen gab und damit Jugendliche zur Erziehungsverantwortung gegenüber Kindern aufgefordert wurden. Wie sich das in den Bildungsmedien zeigt, konkretisieren wir im fünften Kapitel.
11 Gerhard Rosenfeld: Persönlichkeitspsychologische Probleme der sozialistischen Charaktererziehung, in: Psychologische Probleme der Entwicklung der sozialistischen Persönlichkeiten. Konferenzbericht, Berlin 1972, S. 100–119, hier S. 101, zur Persönlichkeit in der DDR siehe Christine Lemke: Persönlichkeit und Gesellschaft. Zur Theorie der Persönlichkeit in der DDR, Opladen 1980. 12 Sozialistisches Bildungsrecht, zitiert nach: Friedrich-Ebert-Stiftung (Hg.): Das Bildungswesen in der DDR, Bonn 1985, S. 12. 13 Sabine Andresen: Sozialistische Kindheitskonzepte. Politische Einflüsse auf die Erziehung, München 2006, S. 213. 14 Ebd., S. 10.
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Bildungssystem, Massenorganisationen und institutionalisiertes »doppeltes Generationenverhältnis« Sozialistische Werte, die »Erziehung zur sozialistischen Persönlichkeit« und die generationale Verpflichtung gegenüber Kindern und Jugendlichen durchzog sowohl das einheitlich und zentralistisch organisierte Bildungssystem wie auch die kinder- und jugendbezogenen Massenorganisationen. Herauszustellen ist dabei, dass erstens Bildungssystem und Massenorganisation beide gleichermaßen und damit auch in doppelter Weise diese Erziehungsziele verfolgten, sowie zweitens, dass es vor allem auch durch die enge Verknüpfung (der Aktivitäten) von Bildungssystem und Jugendorganisationen erreicht werden sollte. In diesem Sinne ist von einem institutionalisierten Generationenverhältnis, welches seine Wirksamkeit über das Bildungssystem hinaus entfaltete, zu sprechen. Da in dieses zudem eine erzieherische Funktion der Jugendlichen gegenüber den Kindern und der FDJ gegenüber den Pionieren eingelagert ist, kann von einem institutionalisieren »doppelten Generationenverhältnis« gesprochen werden, das über die Massenorganisationen und ihren Auftrag erzeugt wird. Wie sich dies auf Seiten der Massenorganisationen darstellt, zeigen wir im Folgenden. Kindheit und Jugend waren in der DDR in die Massenorganisationen FDJ und die Pionierorganisation »Ernst Thälmann« eingebunden. Dafür wurden der FDJ, in die Schüler*innen ab dem Alter von 14 Jahren eintraten, die Leitung der Pionierorganisation bei deren Gründung 1948 übertragen. Die Jungen Pioniere waren die Organisation für die 6- bis 9-Jährigen und die Thälmann-Pioniere für die 10- bis 14-Jährigen.15 Mit der Einschulung wurden also meist alle Schüler*innen Junge Pioniere. Die Mitgliedschaft war freiwillig, jedoch führte eine Nicht-Mitgliedschaft zu erheblichen Nachteilen in der Ausbildung und im späteren Berufsleben der Jugendlichen.16 Die Beurteilung durch die FDJ-Gruppe war 15 Zeichen der Jungen Pioniere war ein blaues Halstuch. Die Thälmannpioniere ab der 4. Klasse trugen ein rotes Halstuch. Da die 7. Klasse als Vorbereitungsstufe auf die Mitgliedschaft in der FDJ galt, erfuhren die Mitglieder besondere Aufmerksamkeit. In der FDJ wurde man wiederum auf die Mitgliedschaft in der SED vorbereitet. Die FDJ sah sich als die »Kampfreserve« der SED, vgl. bspw. Zentralhaus der Jungen Pioniere »German Titow« (Hg.): FDJ-Funktionär an der Oberschule, Heft 5. Unsere Verantwortung gegenüber der Pionierfreundschaft unserer Schule, Berlin 1976, S. 7–9; Leonore Ansorg: Kinder im Klassenkampf. Die Geschichte der Pionierorganisation von 1948 bis Ende der fünfziger Jahre, Berlin 1997, S. 17–20. 16 Dies lässt sich auch an der Altersstruktur im Jahr 1989 erkennen: 13–17-Jährige: 40 %, 18–21Jährige: 32 %, 22–25-Jährige: 21 %, 26 und älter: 7 %. Im gleichen Jahr sind ca. 88 % der Jugendlichen in der FDJ organisiert, dies entspricht ca. 2,4 Millionen Jugendlichen, Staatliche Zentralverwaltung für Statistik (Hg.): Statistisches Jahrbuch 1989 der Deutschen Demokratischen Republik, Berlin 1989. Mit dem Einstieg ins Berufsleben verließen also die meisten Jugendlichen die FDJ. Nur einige hauptamtliche FDJ-Funktionäre blieben Mitglied, dazu Dorle Zilch: Millionen unter der blauen Fahne. Die FDJ – Zahlen, Fakten, Tendenzen 1946 bis 1989, Berlin 2009, bes. S. 63–70.
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für Bildungsverläufe und den beruflichen Werdegang sehr wichtig. Über diesen sozialen und kollektiven Druck und die damit verbundene Kontrolle verpflichtete das SED-Regime Kinder und Jugendliche, sich in den Jugendorganisationen zu engagieren.17 Die FDJ war die politische Jugendorganisation der SED, durch die zugleich ein Großteil der Freizeit für Kinder und Jugendliche der DDR organisiert wurde.18 Die Schulklasse bildete dafür zumeist auch die Pionier- oder FDJ-Gruppe. Mit der 8. Klasse wurde angestrebt, dass möglichst das gesamte »Klassenkollektiv« in die FDJ eintrat.19 Beide Jugendorganisationen waren auf personeller, gesetzlicher und organisatorischer Ebene eng mit der Schule verbunden,20 wobei die »sozialistische Persönlichkeit« zugleich das Erziehungsziel aller Jugendorganisationen darstellte.21 Geleitet wurden die Gruppen der Jungen Pioniere durch ehrenamtliche Gruppenpionierleiter und alle Gruppen einer Schule bildeten gemeinsam die Pionierfreundschaft. Der Freundschaftspionierleiter war ein hauptamtlicher Mitarbeiter der FDJ, der an den pädagogischen Hochschulen der DDR ausgebildet wurde. In dem »Handbuch für Freundschaftspionierleiter« heißt es zu ihren Aufgaben: »Im Schulkollektiv entwickelt sich die Hilfe der Erfahrenen für die weniger Erfahrenen, die Fürsorge der Stärkeren für die Schwächeren, der Älteren für die Jüngeren.«22 Dieses grundlegende Prinzip der generationalen Verantwortung als zentrales Element der DDR-Pädagogik zieht sich durch alle Publikationen von und für die FDJ.23 In der an FDJ-ler gerichteten Publikation »Du und Deine Pioniergruppe« heißt es: »Dir wurde als Gruppenpionierleiter große Verantwortung zur Arbeit mit den Pionieren übertragen, und man erwartet von dir, daß du das dir damit entgegengebrachte Vertrauen durch eine zuverlässige Arbeit rechtfertigst. […] 17 Vgl. bspw. Droit: Menschen (Anm. 8), S. 147. 18 Die FDJ sah sich während ihrer gesamten Zeit mit dem Widerspruch konfrontiert, gleichzeitig eine Freizeit- und eine politische Organisation zu sein. In diesem Spannungsfeld operierte die ganze DDR-Jugendpolitik; hierzu Ulrich Mählert: FDJ 1946–1989, Erfurt 2001. 19 Kaum ein*e Schüler*in konnte sich den Jugendorganisationen komplett entziehen, Mary Fulbrook: Ein ganz normales Leben. Alltag und Gesellschaft in der DDR, Darmstadt 2011, S. 104. 20 Hierzu Lars Knopke: Kinder im Visier der SED. Eine Untersuchung zur marxistisch-leninistischen Ideologisierung von Kindern und Jugendlichen im DDR-Schulwesen und darüber hinaus, Hamburg 2007, bes. S. 109–130. 21 Für die »Erziehung zur sozialistischen Persönlichkeit« existierten in der Jugendorganisation der Pioniere ähnlich dem Schulunterricht Lehrpläne, bspw. mit Themen wie Singen oder Altstoffsammeln, Simone Barck: Kultur im Wiederaufbau, 2002, verfügbar unter: www.bpb. de/izpb/10136/kultur-im-wiederaufbau-teil-2 [13. 04. 2020]. 22 APW (Hg.): Wie Ernst Thälmann – treu und kühn. Handbuch für Freundschaftspionierleiter, Berlin 1985, S. 55. 23 Helga Labs: Revolutionäre Aufgaben unserer Zeit – Anspruch an die eigene Tat, in: Deutsche Lehrerzeitung (DLZ), 1984, 6, S. 13–21, hier S. 20.
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Und nur, wenn du dich selbst bemühst, nach dem Statut der Freien Deutschen Jugend zu handeln, kannst du den Pionieren helfen, ihre Gesetze bzw. Gebote, ihren Pionierauftrag zu erfüllen. […] Tritt fröhlich, selbstbewußt vor ›deine‹ Pioniere. Sie freuen sich auf dich, suchen in dir einen Freund und Vertrauten, sehen in dir ein Vorbild. Schau in die Augen der Mädchen und Jungen; erwartungsvoll blicken sie auf dich. Du kannst ihre Erwartungen erfüllen.«24 Jugendliche FDJ-Mitglieder wurden dazu ermutigt, sich als Gruppenpionierleiter zu engagieren.25 Ähnlich sollten Thälmannpioniere Patenschaften für Gruppen von Jungen Pionieren ihrer Schule übernehmen, sodass älteren Kindern die Verantwortung für jüngere übergeben wurde. Dabei zogen sich die Erwachsenen nicht komplett aus dem Erziehungsauftrag zurück, denn sie wirkten unterstützend mit und sollten bei Problemen Hilfestellung leisten. Allerdings sollte der Großteil der erzieherischen Verantwortung bei den Gruppenleitern selbst liegen. Ziel dieses pädagogischen Prinzips war es, individuelle und kollektive Erfahrungen von den Älteren an die Jüngeren weiterzugeben26 und neben einer »kommunistischen Moral […] das Verantwortungsbewußtsein des einzelnen für das gesellschaftliche Ganze«27 zu entwickeln. Aus Sicht der SED hatte dieses Hineinwachsen in das System überdies den Vorteil, dass auf diese Weise die Kontrolle über den gut ausgebildeten Nachwuchs für die eigenen Reihen und den Klassenkampf im Kalten Krieg gesichert war und jüngere Menschen bereits Erfahrungen in der politischen Arbeit sammeln konnten. Engagierte FDJ-Mitglieder hatten im Kadersystem der DDR die Möglichkeit, schnell aufzusteigen und die (politische) Karriere voran zu treiben.28 Dabei wird immer wieder der Vorbildcharakter der Älteren für die Jüngeren betont. Dorothee Wierling zeigt, dass es erst ab den 1960er Jahren mit der festen Verankerung der Massenorganisationen und neuem pädagogisch ausgebildetem »Nachkriegspersonal« gelang, die übergroße Mehrheit der Kleinkinder, Schulkinder und Jugendlichen flächendeckend und planmäßig zu erfassen und damit in diese Strukturen einzuziehen.29 24 Pionierpalast »Ernst Thälmann« (Hg.): Du und Deine Pioniergruppe. Zum Informieren und Nachlesen für Gruppenpionierleiter und Helfer aus den Reihen der FDJ in den Pioniergruppen der 2. bis 4. Klassen, Berlin 1983, S. 5–6. 25 In den fünfziger Jahren teilweise auch in Ermangelung ehrenamtlichen Engagements anderer Akteure, Droit: Menschen (Anm. 8), S. 100. 26 Die Verantwortung des Jugendverbandes für die kommunistische Erziehung in der Pionierorganisation »Ernst Thälmann« und der FDJ-Mitglieder an den Oberschulen, Materialien der 9. Tagung des Zentralrates der FDJ, in: DLZ, 1984, 6, S. 8. 27 Pionierpalast »Ernst Thälmann« 1983: Pioniergruppe (Anm. 24), S. 5. 28 An den Erweiterten Oberschulen waren fast alle Schüler*innen Mitglieder der FDJ, dazu Stefan Wolle: Die DDR. Alltag und Herrschaft 1949–1989, Berlin 2015, S. 147–149. 29 Dorothee Wierling: Erzieher und Erzogene. Zu Generationenprofilen in der DDR der 60er Jahre, in: Schildt: Zeiten (Anm. 2), S. 624–641, S. 631; Vgl. auch Droit: Menschen (Anm. 8), S. 187–211.
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Institutionalisierte Lesepädagogik Auch eine gezielte Lesepädagogik, die seit Gründung der DDR entwickelt wurde, sollte dem obersten Ziel der »Erziehung zur sozialistischen Persönlichkeit« dienen. Sie war zum einen in der Freizeit und den Massenorganisationen und zum anderen in der Schule – und damit gleichfalls doppelt – verankert. Das Lesen und die Leseförderung waren tief in die gesellschaftlichen Strukturen des Bildungssystems der DDR eingelassen. Dabei kam der systematischen Einbindung von Kinder- und Jugendliteratur eine zentrale Rolle zu, die in der sogenannten »Lesepädagogik«, staatlich gefördert und kontrolliert, ihren Ausdruck fand. Der Auftrag zur Förderung sowie die Funktion der Lesepädagogik lässt sich ebenfalls aus dem Bildungs- und Erziehungsverständnis ableiten, für die die »Aufhebung der Trennung von Bildung und Erziehung«30 leitendes Ziel war. Bildung und Erziehung wurden vielmehr als Einheit verstanden, neben den spezifischen Inhalten trat für die Schulen der Auftrag »einer umfassenden weltanschaulichen Erziehung«31 hervor. So stand die Lesepädagogik im Horizont des sozialistischen Erziehungsziels, wofür die Gestaltung des literarischen Lebens ein »geeignetes Lenkungsmittel« war.32 In diesen Dienst wurde ebenfalls die Kinder- und Jugendliteratur eingestellt. Dies verdeutlicht sich gut an einer Formulierung von Gerhard Holz-Baumert, einem wichtigen und erfolgreichen Kinderbuchautor in der DDR und FDJ-Mitglied: »Auch bei der Erziehung unserer Kinder zu jungen Sozialisten ist die Kunst eine Waffe und wir wären dumm, wenn wir diese Waffe im Bücherschrank verrosten ließen«33. Vor diesem Hintergrund war Kinder- und Jugendliteratur in erster Linie Erziehungsliteratur und grundsätzlich »als Sozialisationsliteratur angelegt«34, mit der das umfassende Versprechen von »identitätsstiftend, kollektivbildend und gesellschaftslegitimierend«35 einherging. Die in der DDR »staatlich geförderte Enkulturationsliteratur«36 wurde demnach stärker an der Verkörperung und Narration von positiven Hel-
30 Uta Strewe: Kinder- und Jugendliteratur und Sozialisationsinstanzen, in: Rüdiger Steinlein, Heidi Strobel, Thomas Kramer (Hg.): Handbuch zur Kinder- und Jugendliteratur. SBZ/DDR von 1945 bis 1990, Stuttgart 2006, S. 20–34. 31 Ebd., S. 21. 32 Uta Strewe: Kinder- und Jugendliteratur und literarisches Leben in der DDR. in: Steinlein: Handbuch (Anm. 30), S. 82–100. 33 Gerhard Holtz-Baumert: Kunst ist eine Waffe. Die Kinderliteratur als wichtigstes Mittel zur sozialistischen Erziehung, in: Der Pionierleiter, 2006, S. 16–17. 34 Rüdiger Steinlein, Heidi Strobel, Thomas Kramer: Einleitung. in: Steinlein: Handbuch (Anm. 30), S. 1–20. 35 Carsten Gansel: Kinder- und Jugendliteratur in der SBZ/DDR in modernisierungstheoretischer Sicht. Aufriß eines Problemfeldes, in: Reiner Wild (Hg.): Gesellschaftliche Modernisierung und Kinder- und Jugendliteratur, St. Ingbert 1997, S. 177–197. 36 Steinlein: Handbuch (Anm. 30), S. 2.
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den*innen und dem neuen sozialistischen Menschentypus gemessen als an dann ästhetischen Aspekten. Sowohl der Aufbau einer DDR-eigenen Kinder- und Jugendliteratur als auch die hohe strukturelle Einbindung in das gesellschaftliche Leben wurde in den ersten Nachkriegsjahren stark forciert. Als Vorstufe zum wichtigen jugendpolitischen Gesetz von 1965 wird bereits im Jahr 1946 festgehalten, dass eine neue Kinder- und Jugendliteratur im Rahmen von »Kultur- und Bildungsanstrengungen«37 geschaffen werden solle. In diese Bestrebungen werden ausdrücklich die Kulturschaffenden eingebunden: »Es ist die hohe Pflicht aller Schriftsteller und Dichter, an der Schaffung einer neuen Kinder- und Jugendliteratur mitzuwirken, die die demokratische Erziehung der heranwachsenden Generation fördert«38. Vor diesem Hintergrund wird mit der »Gründung der DDR am 7. Oktober 1949 […] die Entwicklung der ostdeutschen KJL bestimmt durch die Maßnahmen und die (Kultur-)Politik des von der SED beherrschten Staats- und Parteiapparats«39. Für die in der DDR insgesamt 14 Verlage für Kinder- und Jugendliteratur schrieben mehr als 250 Autor*innen Literatur für Kinder und Jugendliche und weitere 250 Autor*innen schrieben Sachbücher. Daneben arbeiteten über 100 Illustrator*innen mit den Kinderbuchverlagen zusammen.40 Insgesamt ist aber darauf zu verweisen, dass alle Verlage der staatlichen Kontrolle, d. h. der Zensur, unterlagen.41 Zwei der Verlage, der Kinderbuchverlag für Kinderbücher und -literatur und der Verlag Junge Welt für Jugendliteratur, hatten in der DDR Monopolstellung. In diesen beiden Verlagen wurden die meisten der Titel der Kinder- und Jugendliteratur verlegt. Bezogen auf die Gestaltung literarischer Lebenswelt und der Erziehung der nachwachsenden Generation zum neuen sozialistischen Menschen lässt sich die Institutionalisierung der Kinder- und Jugendliteratur auf drei Ebenen festmachen: Erstens an der Einbindung von Kinder- und Jugendliteratur in den schulischen Deutschunterricht, zweitens an dem Aufbau und der Arbeitsweise der Massenorganisationen und schließlich drittens an dem intensiven Ausbau des Bibliothekswesens. Zur Einbindung von Kinder- und Jugendliteratur in den 37 38 39 40
Ebd., S. 11. Ebd., S. 12. Ebd., S. 14. Vgl. Steffen Peltsch: Kinderliteratur der DDR – Fakten und Zahlen, in: Almanach zur Kinderliteratur der DDR, Hamburg 1989, S. 15–16. 41 Interessanterweise spricht Siegfried Lokatis eher von Praktiken der »Selbstzensur«, da der Prozess der Erstellung von Kinder- und Jugendliteratur von Beginn an, bspw. durch eine intensive Zusammenarbeit von Autor*innen und Lektor*innen, gesteuert wurde. Was politisch in Kinder- und Jugendbüchern zum Ausdruck kam oder kommen sollte (es gab auch eine ganze Reihe an Auftragsarbeiten), unterlag den Ansprüchen von sozialistischer Literatur und Politik. Siegfried Lokatis: Die Zensur der Kinderbuchverlage, in: Steinlein: Handbuch (Anm. 30), S. 101–113.
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Deutschunterricht formuliert Johannes R. Becher (1956): »Vom Deutschunterricht und von den Büchern, welche Kinder zum Lesen erhalten, hängt es wesentlich ab, in welche Richtung ihr literarischer Geschmack sich entwickelt, ihr politisches Urteil, ihr Menschensein, ihr Menschlichsein«42. Vor diesem Hintergrund wurde versucht, die Erziehungsfunktion umzusetzen, indem Kinderund Jugendliteratur zum obligatorischen »eigenständigen Lerninhalt«43 im Deutschunterricht wurde. Dazu zählte die Auswahl von Kinder- und Jugendbüchern als Pflichtlektüre sowie die Steuerung der außerunterrichtlichen Lektüre, die ebenfalls in Vorstellungen und Besprechungen im Unterricht Eingang fand. Dass der Kinder- und Jugendliteratur eine besondere Erziehungsfunktion zugeschrieben wurde, verdeutlicht sich auch darin, dass Kinder- und Jugendliteratur »als ordentliches Lehrfach im Rahmen der Lehrerausbildung« aufgenommen wurde.44 Die starke Verankerung von Kinder- und Jugendliteratur in ihrer Erziehungsfunktion wird insbesondere an der Verknüpfung von Unterricht, Pioniertätigkeit und Jugendarbeit deutlich.45 Im Zentrum des Erziehungsauftrags bspw. für Pionierleiter*innen wird neben der Bedeutsamkeit von positiven Heldengeschichten das »Primat des Kollektivs«46 entfaltet: »Als Objekt unserer Erziehung betrachten wir das gesamte Kollektiv, und an die Adresse des Kollektivs richten wir den organisierten Einfluß. […] Das Kollektiv ist der Erzieher der Persönlichkeit«47. Damit wird zum Kollektiv erzogen, während das Kollektiv wiederum erzieht. Die politische Einflussnahme auf die Persönlichkeitsbildung von Kindern und Jugendlichen durch Kinder- und Jugendliteratur war dabei oberstes Ziel der Lesepädagogik. Vor diesem Hintergrund verwundert es auch nicht, dass sich die Auswahl der Bücher weniger an ästhetischen als an kommunistischen und sozialistischen Aspekten ausrichtete. Wie umfassend die Lesepädagogik gefördert wurde, verdeutlicht sich auch auf struktureller Ebene: dem Ausbau von Bibliotheken und dem damit verbundenen niedrigschwelligen Zugang zu Büchern. Ca. 80 % der Kinder unterer Klassenstufen waren eingetragene Bibliotheksgänger*innen, im Jahresdurchschnitt entliehen Kinder ca. 23 Bücher in Bibliotheken aus.48 Auch die Bibliotheksarbeit 42 Johannes R. Becher: Von der Größe unserer Literatur: Referat zur Eröffnung des IV. Deutschen Schriftstellerkongresses im deutschen Theater zu Berlin, in: Beiträge zur Gegenwartsliteratur, 1956, S. 11–39, zitiert nach Strewe: Kinder-und Jugendliteratur (Anm. 32), S. 25. 43 Strewe: Kinder-und Jugendliteratur (Anm. 32), S. 26. 44 Ebd., S. 97. 45 Vgl. ebd.. 46 Ebd., S. 39. 47 Anton S. Makarenko: Pädagogen zucken die Achseln, in: Werke, Zweiter Band, Berlin 1960, S. 437–448, zitiert nach Martin Blumenthal-Barby: Die Pionierorganisation und die Kinderund Jugendliteratur, in: Steinlein: Handbuch (Anm. 30, S. 34–50. 48 Vgl. Peltsch: Kinderliteratur (Anm. 40).
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selbst ist von hohen pädagogischen Ansprüchen durchzogen. Dies wird einerseits durch ein vielfältiges und breites kulturelles Angebot für Kinder und Jugendliche, wie Lesungen und kultureller Freizeitangebote, deutlich, andererseits durch die Bestimmung von Funktionsfeldern, die auf eine »Persönlichkeitsentfaltung«49 abzielen. Dazu zählen die »Leseförderung durch aktive Literaturvermittlung«, die »Qualifizierung der literarischen Erlebnisfähigkeit« genauso wie die »Entwicklung von Selbstständigkeit in der Bibliotheksnutzung«50.
Schulbücher und Kinder- und Jugendliteratur als Medien von Erziehung, Bildung und Kinderkultur Vor dem Hintergrund der skizzierten bildungs- und kulturgeschichtlichen Perspektive werden Schul- sowie Kinder- und Jugendbücher als Ergebnisse politischer, ökonomischer und kultureller Aktivitäten, Auseinandersetzungen und Kompromisse verstanden.51 Dabei gibt es allerdings eine klare Differenz zwischen Schulbüchern und Kinder- und Jugendliteratur. Die von uns analysierten Schulbücher bestehen aus mehreren Arbeitsmaterialien (Bilder, Arbeitsbögen, Text etc.), die in Buch- oder Broschürenform verlegt wurden.52 Schulbücher wurden im Gegensatz zur Kinder- und Jugendliteratur einzig durch den Verlag Volk und Wissen für den gesamten Staat produziert. Allen Schüler*innen wurden vom DDR-Staat in jeder Klassenstufe die gleichen Bücher zur Verfügung gestellt. Schulbücher hatten in der DDR eine vereinheitlichende Funktion für die Erziehung in der Einheitsschule.53 Jede Auflage musste vom Ministerium für Volksbildung abgesegnet werden, bevor sie in den Druck ging. Sie waren also ein Instrument der Regierung, der zukünftigen Generation in der DDR ihre Weltanschauung zu vermitteln.54 Unter Beteiligung von Autor*innen, Illustrator*innen, Verleger*innen und Redakteur*innen, aber auch Angehörigen der Akademie für Pädagogische Wissenschaft (APW), Pädagog*innen und Mitarbei49 Heinz Kuhnert: Kinder- und Jugendbibliotheken in der DDR, in: Steinlein: Handbuch (Anm. 30), S. 51–63. 50 Ebd. 51 Michael W. Apple (Hg.): The Politics of the Textbook, New York 1991, S. 4. 52 Eckhardt Fuchs, Inga Niehaus, Almut Stoletzki: Das Schulbuch in der Forschung. Analysen und Empfehlungen für die Bildungspraxis, Göttingen 2014, S. 9–14; vgl. auch Autorenkollektiv: Schulbuchgestaltung in der DDR, Berlin 1984, S. 9. 53 Lars Knopke: Schulbücher als Herrschaftssicherungsinstrumente der SED, Wiesbaden 2011, S. 21. 54 Vgl. auch Joachim Kahlert: Das Schulbuch – Ein Stiefkind der Erziehungswissenschaft?, in: Eckhardt Fuchs, Joachim Kahlert, Uwe Sandfuchs (Hg.): Schulbuch konkret. Kontexte – Produktion – Unterricht, Bad Heilbrunn 2010, S. 41 und Fuchs: Schulbuch (Anm. 52), S. 14– 16.
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ter*innen des Ministeriums für Volksbildung wurden die Schulbücher ständig weiterentwickelt.55 Deswegen erschienen regelmäßig überarbeitete Auflagen, welche Änderungen aus dem Lehrplan in den Unterricht transportierten.
Schulbücher Insgesamt sollten in den Schulbüchern Themen aus der Lebenswelt der Kinder und Jugendlichen aufgenommen werden und diese möglichst lebensnah abbilden.56 Bilder können dabei mehrere Funktionen erfüllen und unterschiedlich gestaltet sein.57 Schulbücher reproduzierten in besonderem Maße Bilder, die im Sinne der SED-Diktatur ihre zukünftigen Bürger zu »sozialistischen Persönlichkeiten« erziehen sollten. Sie repräsentieren also die Idealvorstellung der SEDRegierung vom kindlichen bzw. jugendlichen Leben. Daher lassen sich in den Schulbüchern zahlreiche Darstellungen des »doppelten Generationenverhältnisses« finden. Auf diesem Beispiel des Illustrators Werner Klemke, der Professor an der Kunsthochschule in Weißensee war, ziert eine Gruppe von drei Kindern unterschiedlichen Alters mit einem Hund das Titelblatt des Lesebuches »Unser Dorf ist reich und schön« aus dem Jahr 1960.58 Ein größeres Mädchen zeigt zwei kleineren, männlichen Kindern, die – erkennbar an ihrer Größe – unterschiedlichen Alters zu sein scheinen, ein aufgeschlagenes Buch, das sie in beiden Händen hält. Auf der Titelseite des abgebildeten Buches steht »UNSER LESEBUCH«, dabei ist eine Gruppe von Kindern zu erkennen, die den Bildaufbau des realen Buches spiegelt. Der kleinere Junge mit blondem Kurzhaarschnitt zeigt auf das Titelbild. Der braune Hund hebt seinen Blick mit dem Rücken zum Betrachter ebenfalls zum Buch. Das Mädchen trägt das blaue Halstuch der jungen Pioniere und einen Schulranzen. Ihr Mantel deutet an, dass sie von draußen kommt, während die Kleidung der Jungen mit hochgeschobenen Ärmeln eher für den Aufenthalt in einem Innenraum spricht. Allerdings fehlt der Szene eine rahmende Darstellung wie auch eine rahmende Erzählung, sodass diese Illustration nur allein betrachtet werden kann. Als Titelbild des Lesebuches stimmt sie auf das gesamte Schulbuch ein und ist für die
55 Autorenkollektiv: Schulbuchgestaltung (Anm. 52), S. 117. 56 Ebd., S. 45. 57 Vgl. Tomas Janko, Karolina Peskova: Analysing the Types of Visuals in Textbooks of Geography and German Language: Considering the Instructional Functioning of Photographs, in: Anthropologist, 2013, 16, S. 363–372. 58 Die Analyse ist angelehnt an Erwin Panofsky: Ikonographie und Ikonologie. Eine Einführung in die Kunst der Renaissance, in: Erwin Panofsky: Sinn und Deutung in der bildenden Kunst, Köln 1978, S. 36–67.
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Abb. 1: Illustration von Werner Klemke, in: Autorenkollektiv: Unser Dorf ist reich und schön, Verlag Volk und Wissen, Berlin 1960.
Lenkung der Aufmerksamkeit auf bestimmte visuelle Motive im Sinne der SED besonders relevant. Bei diesem Bild handelt es sich um ein repräsentatives Beispiel für ein häufig wiederkehrendes Motiv: eine Gruppe von Kindern unterschiedlichen Alters und Geschlechts, die im schulischen und außerschulischen Kontext miteinander agieren. Teilweise wird sogar dasselbe Bild in späteren Lesebüchern wiederverwendet.59 Dieses Bild spielt auf einmalige Weise mit der Verschränkung von Realität und Fiktion. Durch die Spiegelung der Illustration innerhalb derselben wird suggeriert, dass dieses Schulbuch Geschichten aus der Lebenswirklichkeit der lesenden Kinder enthält und die Titelszene genauso in der Realität stattfinden kann. Das ältere Kind wird in der Position der Verantwortung gegenüber den jüngeren Kindern dargestellt. In diesem Fall wird das Mädchen in einer Rolle 59 Bspw. bei Autorenkollektiv: Lesebuch für die 2. Klasse, Berlin 1967.
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abgebildet, die der einer Lehrerin entspricht. Sie tritt damit als Autorität auf, die den jüngeren Kindern und hier sogar einem Tier gegenüber erklärend agiert, was auch ein Verweis auf ihre Verantwortlichkeit für die jüngeren Kinder ist. Dies geht einher mit ihrer Eingliederung in den schulischen und organisatorischen Rahmen, die durch den Ranzen und das blaue Halstuch der Jungen Pioniere markiert wird. Schon mit der Aufnahme in die SED-Massenorganisation beginnt für Kinder demnach eine zugewiesene Autorität qua Alter, in der die Älteren für die Jüngeren verantwortlich sind. Dieses Prinzip der DDR-Pädagogik wird demnach nicht nur theoretisch diskutiert, sondern findet über diese exemplarisch ausgewählte Darstellung des Titelbildes eines Schulbuchs Einzug in die Bildungsmedien der DDR und reproduziert den Normenkodex der SED-Regierung.
Kinderbücher Wie ältere Kinder in einer Verantwortlichkeit und Vorbildfunktion für jüngere Kinder dargestellt werden, zeigt sich ebenfalls im Kinderbuch. Exemplarisch sei dies an einem Kinderbuchklassiker der DDR des Autors Benno Pludra mit dem Titel »Bootsmann auf der Scholle« verdeutlicht. Dieses Kinderbuch für Kinder im Alter ab 8 Jahren ist erstmals im Jahr 1959 in der Reihe »Die kleinen Trompeterbücher« des Kinderbuchverlags erschienen und gehörte ab 1966 zur fakultativen Lektüre für die 2. Klasse.60 In einer Geschichte um drei Kinder unterschiedlichen Alters und dem Hund Bootsmann, die gemeinsam Abenteuer suchen, sind Hilfe, der Mut für den anderen einzustehen und Unterstützung füreinander die leitenden Motive. Die Kinder Uwe, Jochen und Katrinchen sind im Winter in unmittelbarer Nähe zum Hafen am Meer im Schilf unterwegs. Die Kinder und der Hund Bootsmann sind auf Wolfsjagd. Die Kinder werden dabei unterschiedlich in ihrer Abenteuerlust dargestellt: »Uwe dreht sich um. Er ist böse auf Katrinchen. ›Was hast Du?‹ fragt Uwe. ›Du sollst nicht so schnell‹, sagt Katrinchen. ›Aber der Wolf haut ab‹, sagt Uwe. ›Ich habe Angst‹, sagt Katrinchen. Sie will wieder weinen. Da nimmt Uwe Katrinchen an die Hand. Er tut es mit bösem Gesicht. Katrinchen verdirbt ihm die Wolfsjagd. Aber soll er sie allein im Schilf zurücklassen? So ein kleines Mädchen – Uwe macht Katrinchen den Pfad frei. Er tritt die Schilfstengel um. Einmal tritt er durchs Eis. Es kracht und klirrt, und der Fuß rutscht weg bis zur Wade. Doch er wird nicht naß. Es war kein Wasser unterm Eis.«61 60 Benno Pludra war über die gesamte DDR-Zeit hinweg Kinderbuchautor, er hat zahlreiche Bücher zur Kinder- und Jugendliteratur verfasst. An dieser Stelle ist es uns wichtig darauf hinzuweisen, dass sich seine Bücher durch ein sehr differenziertes Kindbild auszeichnen. 61 Benno Pludra: Bootsmann auf der Scholle, Berlin 1959, S. 16.
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Trotz unterschiedlicher Interessen sind die Kinder gemeinsam als »Forscher« unterwegs: »Sie sind kühn. Sie dringen vor in unbekanntes Land«.62 Als die Kinder immer näher an den Rand des Wassers im Boden herankommen, springen Jochen und Bootsmann auf eine der großen Eisschollen. Die Lage spitzt sich gefährlich zu, da die Eisscholle abzutreiben droht. Jochen schafft den Sprung zurück ans Land, Bootsmann jedoch verbleibt auf der Scholle und treibt aufs Wasser hinaus. Die Kinder versuchen Bootsmann aufs Land zurück zu locken: »Aber Bootsmann kommt nicht. Bootsmann hat Angst.«63 Die Geschichte dreht sich nun bis zum Ende um die Rettung des Hundes. Es ist Uwe, das älteste Kind, der abwägend überlegt, was zu tun ist und der in einem inneren Monolog über altersgemäße Optionen nachdenkt. »Putt Bräsing [der Kapitän eines Schleppers, Anm. S. K.], sonst keiner, wird Bootsmann retten. Uwe will los. Er will zu Putt Bräsing, schnell übers Eis und durchs Schilf und den Weg von der Bucht zum Hafen. Aber wer paßt solange auf, wo Bootsmann mit der Scholle hintreibt? Katrinchen? Katrinchen ist zu klein, sie fällt ins Wasser, vielleicht, oder kriegt Angst, so ganz alleine, oder fängt an zu spielen und paßt nicht mehr auf. Katrinchen kann ohne Uwe nicht hierbleiben«.64 Uwe entscheidet ausgehend von seiner Einschätzung, was Katrinchen kann, demnach ist Katrinchen gut in der Lage zum Kapitän zurück in den Hafen zu laufen: »Er sagt Katrinchen den Weg und sagt ihr dreimal hintereinander: ›Du rennst, wie du rennen kannst.‹ Katrinchen nickt. Aber ein bißchen ist ihr bange vor dem weiten Weg.«65. Die auf dieser Seite dazu abgebildete Illustration ergänzt die textliche Narration. Dabei fällt besonders der »pädagogische Zeigefinger« ins Gewicht. Dadurch, dass Uwe sich hier auf die ungefähre Augenhöhe zu Katrinchen herunterlässt, wird einerseits die asymmetrische Beziehung zwischen älterem und jüngerem Kind etwas ausgeglichen, anderseits wird aber die Beziehung durch den leicht nach oben gerichteten und damit aufschauenden Blick von Katrinchen zu Uwe sowie durch den erhobenen Zeigefinger von Uwe zu einer pädagogischen Beziehung zwischen den beiden Kindern. Uwe weiß, was in der Gefahrensituation zu tun ist und richtet seine mahnenden Worte an die jüngere Katrinchen. Text und Bild stehen dabei in einer »Komplementär-Beziehung«66, d. h. die textliche und bildliche Narration ergänzen sich in Wort und Bild. Auf dem Bild nimmt
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Ebd., S. 22. Ebd., S. 27. Ebd., S. 33. Ebd., S. 35. Theresia Dingelmeyer: Erläuternde »Erhellungen« und komplexe Wechselverhältnisse von Bild und Text, in: Bettina Bannasch, Eva Matthes (Hg.): Kinder- und Jugendliteratur. Historische, erzähl- und medientheoretische, pädagogische und therapeutische Perspektiven, Münster 2018, S. 105–123.
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Abb. 2: Illustrationen von Werner Klemke, in: Benno Pludra: Bootsmann auf der Scholle, 10. Auflage, Kinderbuchverlag, Berlin 1959, S. 34.
Katrinchen die Rolle, dem älteren Jungen als Vorbild und Autorität zu folgen, mit einer äußerst aufrechten und geraden Körperhaltung an. Letztlich werden Uwe und Bootsmann – während Katrinchen auf dem Weg in den Hafen ist – von einem Dampfer mit russischer Besatzung gerettet: »So einfach geht das, denkt Uwe. Man muß bloß Freunde haben wie Mischa und Kolja.«67 Uwe nimmt in dieser Geschichte um die Rettung auf See nicht nur eine Vorbildfunktion gegenüber Jochen (der sich zwischendrin aus dem Staub gemacht hat) ein, sondern trägt die Verantwortung für die Situation und die wesentlich jüngere Katrinchen und verkörpert damit wichtige Werte, wie Hilfsbereitschaft, Mut und das Zurückstellen individueller Interessen. Nach geglückter Rettungsaktion spricht die russische Besatzung Anerkennung gegenüber Uwe auf allen Ebenen aus: »‹Du bist ein tapferer Junge‹, ›Du bist mutig‹, sagen Mischa und
67 Pludra: Bootsmann (Anm. 61), S. 80.
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Kolja. ›Ein kleiner Held‹, sagt Maschinist Alexej. ›Ein Bursche‹, sagt der Heizer Anatol. ›Ein richtiger Pionier‹, sagt der Koch Nikita. Uwe und Bootsmann aber essen sich runde Bäuche an.«68 Neben der Vorbildfunktion von Uwe für die gesamte Kindergruppe werden aber auch Erwachsene in diese Geschichte von uneingeschränkter Hilfe im Kollektiv eingespannt, woran sich besonders das »doppelte Generationenverhältnis« zeigt. Auch wenn in dieser Geschichte um den Hund Bootsmann die Verantwortungsübernahme von älteren gegenüber jüngeren Kindern das zentrale Thema ist, d. h. von Kindern, die dem Auftrag guter »sozialistischer Persönlichkeiten« entsprechen, so ist überdies in der hier sich reproduzierenden Erziehungstechnologie – die Älteren für die Jüngeren – auch das Verhältnis des Einzelnen zur Kollektivität über die Kinder hinausgehend interessant. Die finale Rettungsaktion geht von einem Dampfer mit russischer Besatzung aus. Wie aus dem Nichts ist der »große Bruder« der DDR zur Stelle, wodurch sich die Erziehungstechnologie fortsetzt: Durch die Beziehung der Kinder untereinander, und dazu gehört auch die abweichende Handlung von Jochen, der sich der Rettungsaktion entzieht, wird zu kollektivem Erziehen aufgerufen, d. h. die Norm zum Kollektiv zu erziehen, schreibt sich in die Geschichte der Kinder ein. Gleichzeitig wird vom Kollektiv selbst erzogen, indem die russischen DampferBesatzung das Verhältnis von freiwilliger Hilfe und Kontrolle konturiert. Die spezifische Figur in dieser Geschichte ist hier: Erziehung vom Kollektiv zum Kollektiv. Das Kollektiv ist damit gleichermaßen Korrektiv und Kontrollinstanz. Wie dabei dieses spezifische Verhältnis von Freiwilligkeit und Pflicht in den Bildungsmedien einen Ausdruck findet, wird im Rahmen des Forschungsprojektes weiter auszuloten sein.
Fazit und Ausblick Gezeigt wurde, wie das Bildungssystem und die kinder- und jugendbezogenen Massenorganisationen, die sogenannten Jugendorganisationen der Pioniere und der FDJ, in der DDR aufs engste miteinander verknüpft wurden, um in einem dichten Zusammenwirken das Ziel aller Erziehungs- und Bildungsaktivitäten, die »Erziehung zur sozialistischen Persönlichkeit«, zu betreiben. Dieses wurde in einer doppelten organisationalen Struktur von Schule und Freizeit verfolgt, die mit den 1960er Jahren zunehmend flächendeckend durchgesetzt war und zu der auch eine gezielte Lesepädagogik gehörte. Darüber hinaus wurde herausgearbeitet, dass mit der kinderbezogenen Massenorganisation der Pioniere und der jugendbezogenen der FDJ zugleich ein Erziehungsauftrag der Jugendlichen in 68 Ebd., S. 72.
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der FDJ gegenüber den Kindern bei den Pionierorganisationen verbunden war, der den wir als »doppeltes Generationenverhältnis« bezeichnen. Dies wird durch entsprechende Schulungen flankiert, was die Institutionalisierung des »doppelten Generationenverhältnisses« noch verstärkt. Der Erziehungsauftrag und die Verantwortung der Älteren gegenüber den Jüngeren und Kleinen für eine »Erziehung zur sozialistischen Persönlichkeit« ist nicht nur Teil des Erziehungsprogramms der Massenorganisationen, sondern wird auch in den staatlich kontrollierten Schul- und Kinderbüchern sowohl auf der Text- wie auch der Bildebene dargestellt. Für das Schulbuch wurde dies exemplarisch anhand eines Lesebuchs für die zweite Klasse aus dem Jahr 1960 gezeigt, für die Kinderliteratur exemplarisch am »Bootsmann auf der Scholle« von Benno Pludra aus dem Jahre 1959. Ob und in welcher Weise sich das »doppelte Generationenverhältnis« auch in anderen Kinder- und Schulbüchern der 1960er, 1970er und 1980er Jahre zeigt und wie dies ausgestaltet wird, ist Gegenstand weiterer Forschungen, ebenso wie die Frage nach einem möglichen Wandel in der Darstellung dieser Konstellation. Die beiden diskutierten Bildbeispiele implizieren auch einen Genderaspekt. Im Schulbuch verkörpert das Mädchen die kleine Lehrerin, im Kinderbuch der Junge im Zusammenspiel mit den großen Brüdern aus der Sowjetunion den »kleinen Helden«. Dorothee Wierling spricht, wie andere Forschungen auch, von der »Erziehungsdiktatur« DDR. Erziehung erhalte ihre Bedeutung dadurch »dass im Grunde die ganze Gesellschaft als Objekt einer Erziehung galt«.69 Diese Charakterisierung von »totalen Erziehungsverhältnissen« mit ihrer Priorisierung intentionaler und formativer Erziehung gegenüber Bildung können wir durch Beschreibungen der organisationalen Strukturen ihres Funktionierens auf den verschiedenen Ebenen ergänzen und präzisieren. Auch die allgemeine Feststellung von der »Politisierung von Kindheit« in der DDR wird durch die Charakterisierungen der entsprechenden Strukturen, der Formen der Steuerung und Erziehungstechnologien konkretisiert, denn eine »Politisierung von Kindheit« findet auch in anderen Gesellschaftskonstellationen statt und ist für sich genommen noch kein Charakteristikum der DDR.70 Teil des umfassenden Erziehungsprogramms ist das »doppelte Generationenverhältnis«, das der These von der »flachen Generationendifferenz« entgegengesetzt wird. Dorothee Wierling, die Interviews mit verschiedenen Generationen von Bürgerinnen und Bürgern der DDR geführt hat, kommt zu dem Befund, dass die autobiographischen Erzählungen »fast immer den Stolz auf das Halstuch der Jungen Pioniere« erwähnen.71 Die Perspektive des »doppelten Ge69 Wierling: Erzieher (Anm. 29), S. 631. 70 »Politisierte Kindheit« siehe Andresen: Kindheitskonzepte (Anm. 13). 71 Wierling: Erzieher (Anm. 29), S. 631.
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Meike Sophia Baader / Sandra Koch / Friederike Kroschel
nerationenverhältnisses« könnte hierfür eine Erklärung liefern, da das Generationenverhältnis auch über äußerlich sichtbare Symboliken, die Halstücher der Pionierorganisationen, zum Ausdruck kam. Zum einen trugen die meisten das blaue Halstuch der Jungen Pioniere selbst, mit dem Eintritt in die 4. Klasse trugen sie das rote Halstuch der Thälmann-Pioniere und mit 14 Jahren das blaue Hemd der FDJ-Mitglieder. Damit waren sie für die Jungen Pioniere mit dem blauen Halstuch verantwortlich. Waren sie erwachsen und hatten selbst Kinder, erlebten sie wiederum, wie diese mit dem Eintritt in das Bildungssystem ihrerseits Träger*innen des blauen Halstuchs wurden.
Markus Köster
»We don’t want a nuclear Holocaust!«. Die Friedensbewegung der 1980er Jahre im Spiegel einer Videogruppe1
Friedensbewegung und Videobewegung Zu den prägenden generationellen Jugenderfahrungen vieler zwischen 1955 und 1970 geborener Westdeutscher gehört die Friedensbewegung, genauer der Protest gegen die atomare Aufrüstung in West und Ost am Ende der 1970er und Anfang der 1980er Jahre. Diese Friedensbewegung war »unverkennbar auch eine Jugendbewegung«.2 Das Engagement gegen den drohenden Atomkrieg verband sich häufig mit anderen Aktivitäten: der Anti-Atomkraft-Bewegung, der Frauenemanzipation oder auch der Suche nach alternativen, »herrschaftsfreien« Formen der Kommunikation und Öffentlichkeitsarbeit jenseits der »etablierten Massenmedien«. Dieser Beitrag beschäftigt sich mit Videoaufnahmen des Filmkollektivs Medienzentrum Ruhr e. V., eines 1981/82 durch einige Essener Studenten gegründeten Vereins.3 Dessen Gründung stand im Kontext der Videobewegung der 1970er und 1980er Jahre, deren Geschichte bislang aus historischer Perspektive noch kaum erforscht ist. Die Videogruppen hatten die Vision, mithilfe des damals noch recht jungen und preiswerten Filmformats Video eine Gegenper-
1 Der Aufsatz ist die verschriftlichte Fassung eines Filmvortrags auf der Tagung »Jugend im Kalten Krieg« am 26. 10. 2019 auf Burg Ludwigstein. Der Autor ist Leiter des LWL-Medienzentrums für Westfalen in Münster, dessen Filmarchiv den beschriebenen Videobestand des Medienzentrums Ruhr e. V. beherbergt. 2 Christoph Becker-Schaum u. a.: Einleitung. Die Nuklearkrise der 1980er Jahre. NATO-Doppelbeschluss und Friedensbewegung, in: dies. (Hg.): »Entrüstet Euch!« Nuklearkrise, NATODoppelbeschluss und Friedensbewegung, Paderborn u. a. 2012, S. 7–37, hier S. 16. 3 Vgl. dazu Timo Nahler: Der Konsul ist schon lange tot: Die Kamera im Arbeitskampf. Vom dokumentarischen Feldversuch zum politischen Filmprojekt, in: Die Kamera im Arbeitskampf. Industrie- und Mediengeschichte im Ruhrgebiet der 1980er Jahre. Begleitheft zur DVD, hg. vom LWL-Medienzentrum für Westfalen, Münster 2019, S. 23–30, und die Informationen zum Medienzentrum Ruhr auf der Website von Tom Briele, verfügbar unter: www.briele.de/hei mat-struktur-wandel/medienzentrum_ruhr [03. 09. 2020].
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spektive zur etablierten medialen Berichterstattung zu schaffen.4 Das Themenspektrum dieser Gruppen war durchaus breit und umfasste das ganz Spektrum sozialer Bewegungsanliegen: neben der Friedensbewegung unter anderem den Umweltschutz, die Frauenemanzipation, internationale Solidarität und soziale Konfliktlagen in der Bundesrepublik. Der Beitrag möchte ausgehend von den allgemeinen technischen und gesellschaftsgeschichtlichen Entstehungs- und Entwicklungskontexten der Videogruppen exemplarisch eine Dokumentation der Essener Gruppe beleuchten, in der sich brennspiegelhaft sowohl die Herangehensweise der Videobewegung als auch die Selbstrepräsentation der »neuen Friedensbewegung« der frühen 1980er Jahre analysieren lässt. Es handelt sich um die erste der drei Bonner Großdemonstrationen gegen den sogenannten NATO-Doppelbeschluss, die am 10. Oktober 1981 stattfand.
Zur Entwicklung der Videobewegung in Deutschland Die Entstehung der »Videobewegung« war wesentlich durch eine technische Entwicklung begünstigt, die Etablierung von Videoband-Formaten, sprich magnetischen Speichermedien als Alternative zum klassischen fotochemischen Filmstreifen. Die Anfänge dieser Technik lagen bereits in den 1950er Jahren, aber erst Ende der 1960er Jahre war die Entwicklung durch die Konstruktion kleinerer und preiswerterer Geräte und vor allem durch die Erfindung von Videokassetten anstelle offener Spulen so weit vorangeschritten, dass sie auch auf dem Amateurfilmmarkt zu einer echten Alternative zur bereits viele Jahrzehnte alten Filmtechnik auf Fotomaterial werden konnten.5 1972 stellte Sony in Europa den ersten Videokassettenrekorder des Formats U-Matic vor. Aufgrund seiner hohen Bildqualität etablierte er sich eine Zeitlang als Standard im professionellen und semiprofessionellen Bereich. Ab 1976 rollte JVC den Consumer-Markt mit dem VHS-Format (für »Video Home System«) auf, das sich in den folgenden Jahren gegen alle Konkurrenten durchsetzen konnte und spätestens Mitte der 1980er Jahre den Markt beherrschte. Zwar erreichte die Aufnahmequalität der Videogeräte nie das Niveau der klassischen Filmtechnik, aber Videomaterial hatte gegenüber 8-, 16- oder 35-mm-Film einen entscheidenden Vorteil: Es war sofort nach der Aufzeichnung für die Kontrolle und Nachbearbeitung oder eine Aufführung verfügbar. Überdies ließen sich auch Kopien einfach, schnell und 4 Vgl. dazu zeitgenössisch Jochen Büttner: Alternative Medienarbeit mit VIDEO, in: Gerhard Lechenauer (Hg.): Alternative Medienarbeit mit Video und Film, Hamburg 1979, S. 121–141. 5 Vgl. Magnetmuseum – Technik, Wissen, Historie. Grundlagen der Videoband- Tonband- und Databand-Technik, verfügbar unter: www.magnetbandmuseum.info/die-vcr-story.html [03. 09. 2020].
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preiswert erstellen. Es gab aber noch ein weiteres Argument für die Nutzung der Videotechnik. Mit zunehmender Verbreitung von Videogeräten in der Bevölkerung wuchs auch der Kreis der möglichen Rezipienten in der Bevölkerung. Spätestens um 1980 war der Videorekorder flächendeckend in deutschen Haushalten verbreitet.6 Zudem stand das selbst produzierte, dezentral konsumierte Medium Video anders als Kino und Fernsehen nicht unter einer öffentlichen Kontrolle. In Deutschland traf die neue Technik in den 1970er Jahren auf gesellschaftliche Gruppen, die nach kreativen und innovativen Möglichkeiten medialer Kommunikation suchten. Ein wichtiger theoretischer Impuls war die im Kontext der Studentenbewegung und der Vietnamkriegs-Proteste entstandene und vor allem von der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule weiterentwickelte Kritik an den Massenmedien als »Instrument der Manipulation in den Händen der Herrschenden«. Sie bezog sich sowohl auf die auf privatwirtschaftlicher Basis arbeitende Presse, allen voran das »Springer-Imperium«, als auch die öffentlichrechtlich organisierten Sendeanstalten. Hans Magnus Enzensberger stellte schon 1970 in seinem »Baukasten zu einer Theorie der Medien« dem »repressiven Mediengebrauch« zentral gesteuerter Senderprogramme und passiver unpolitischer Konsumentenhaltung die mobilisierende Kraft der elektronischen Medien gegenüber, die durch dezentralisierte Programme sowie Interaktion zwischen Sendern und Empfängern einen »emanzipatorischen Mediengebrauch« ermögliche.7 Oskar Negt und Alexander Kluge prägten dafür den Begriff der »Gegenöffentlichkeit«, die für sie eine Vorform »proletarischer Öffentlichkeit« bedeutete.8 Mit diesem gedanklichen Rüstzeug entstand vor allem an Universitäten und Kunsthochschulen unter Studierenden und sich als fortschrittlich verstehenden Dozenten eine Videobewegung, die sich zum Teil mit geradezu euphorischen Hoffnungen verband: Eckhard Lottmann, damals Mitbegründer einer Berliner Videogruppe, urteilt rückblickend: »Mit Video schien nun alles möglich: Die Selbsterfahrung im gefilmten Rollenspiel, die Artikulation von Interessen in Randgruppen […], die Verbreitung von Informationen im lokalen Raum […], die Mobilisierung zur Aktion beispielsweise im Kampf gegen Atomkraftwerke«.9 6 Zur Entwicklung der Verkaufszahlen von Videorekordern bis Mitte der 1980er Jahre vgl. Jürgen Kniep: »Keine Jugendfreigabe!« Filmzensur in Westdeutschland von 1949–1990, Göttingen 2010, S. 228. 7 Hans Magnus Enzensberger: Baukasten zu einer Theorie der Medien, in: Kursbuch, 1970, Heft 20, 5, S. 159–186. 8 Oskar Negt, Alexander Kluge: Öffentlichkeit und Erfahrung. Zur Organisationsanalyse von bürgerlicher und proletarischer Öffentlichkeit, Frankfurt a. M. 1972. 9 Eckart Lottmann: Alternative Medienarbeit. Medienarbeit im Spannungsfeld zwischen Politik und Pädagogik, in: Andreas Broeckmann, Rudolf Frieling (Hg.): Bandbreite – Medien zwischen Kunst und Politik, Berlin 2004, verfügbar unter www.elottmann.agdok.de [29. 03. 2020].
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Video, das schien gewissermaßen die zeitgemäße audiovisuelle Ergänzung zum Flugblatt, zum Plakat und zum selbstverlegten Buch zu sein. Unter Berufung auf Enzensberger, aber auch Brecht wollten die Gruppen – so Carsten Does, ebenfalls ein Videoaktivist der ersten Stunde – »nicht nur das klassische Ein-Sender/Viele-Empfänger-Verhältnis der hegemonialen Massenmedien mit ihrer repressiven, kapitalistischen Struktur unterhöhlen, sondern auch neue Formen einer dezentralen politischen Organisation ermöglichen.«10 Die Gruppen sahen sich dabei in der Tradition der »Volksfilm«-Initiativen und »Arbeiter-Radio-Klubs«11 der Weimarer Republik, die sich wiederum an Konzepten der jungen Sowjetunion orientiert hatten.12 Neben der politischen Medienarbeit der 1920er und 1930er Jahre bildete auch der im Frankreich der ausgehenden 1960er Jahre entwickelte Ansatz des »vidéo militant«, einen wichtigen Bezugspunkt. Die französischen Videoaktivisten hatten sich eine strikte Unabhängigkeit vom Staat auf die Fahne geschrieben, zugleich wollten sie mit ihrer Arbeit »bewusst parteiisch eingreifen und gesellschaftliche Konflikte zuspitzen.«13 In Anlehnung an diese Vorbilder entstanden in Deutschland zunächst in Hamburg und Berlin, bald auch in kleineren Städten Initiativen und Vereine, die sich als »Medienkollektive« und zumeist als politische Projekte sahen.14 Anfang 1979 gab es deutschlandweit über 60 Gruppen.15 Sie trugen Namen wie »Medienoperative«, »Video-Werkstatt«, »Alternativ-Television«, »Bildwechsel«, »Telepublik«, »Massenmedien-Alternativ« oder »Videoladen« und schrieben sich zumeist ein doppeltes Ziel auf die Fahnen: Zum einen wollten sie Bildungsangebote für Jugendliche und Erwachsene machen, um ihnen so Funktionsweisen und Möglichkeiten audiovisueller Medien nahezubringen, aber auch über das Manipulationspotenzial der Medien aufzuklären. Zum anderen ging es ihnen um alternative Medienarbeit und »investigativen Journalismus in eigener Sache«.16 Sie wollten das bis dahin mit einem gewissen Schmuddel-Image behaftete Medium Video dazu nutzen, den Betroffenen sozialer Konfliktlagen eine Stimme zu 10 Carsten Does: fünfundvierzig minuten straßenschlacht, ungeschnitten. Stichworte zur geschichte einer linken videoarbeit in der brd., verfügbar unter www.hybridvideotracks.org /2001/archiv/minuten.pdf [03. 09. 2020], zuerst veröffentlicht, in: Joachim Becker (Hg.): Bignes? Size does matter. Image/Politik. Städtisches Handeln. Kritik der unternehmerischen Stadt, Berlin 2001, S. 1. 11 Vgl. das 1978 geführte Interview mit einem ehemaligen Mitglied eines solchen Klubs, in: Büttner: Medienarbeit (Anm. 4), S. 126–129. 12 Vgl. ebd., S. 130 und Does: minuten (Anm. 10), S. 1. 13 Does: minuten (Anm. 10), S. 2. 14 Vgl. Büttner: Medienarbeit (Anm. 4), S. 131–133. 15 Vgl. die Auflistung von »Video-Mediengruppen« in Lechenauer: Medienarbeit (Anm. 4), S. 207–210. 16 Lottmann: Medienarbeit (Anm. 9).
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verleihen und ihnen die Möglichkeit geben, ihre Erfahrungen selbst zur Diskussion zu stellen; und zwar vor allem solche »Erfahrungen, die in hegemonialer Öffentlichkeit als private ausgegrenzt bleiben, also die Sphäre der Ökonomie, der Arbeitswelt, der Familie, des Geschlechterverhältnisses usw. berühren. Anders als die zusammenhangslose Aneinanderreihung beliebiger Begebenheiten in den Massenmedien sollten diese veröffentlichten Erfahrungen in einen gesellschaftlichen Kontext gestellt und im Sinne einer möglichen kollektiven Emanzipation interpretiert werden.«17 Dabei verstanden die Gruppen sich wie ihre französischen Vorbilder nicht als journalistisch distanzierte Berichterstatter, sondern als Teil der sozialen Bewegungen, die sie filmten. Sie wollten also mit ihrer Medienarbeit »von unten« Missstände nicht einfach dokumentieren. Vielmehr galt es im Sinne der »video militant«, Konflikte bewusst zuzuspitzen und Handlungsperspektiven aufzuzeigen. Ein Prinzip war, mit den eigenen Video-Aktionen unmittelbar, sprich ohne Eingriff in das Material, Öffentlichkeit herzustellen.18 Es gab aber auch »Video-Analysen« in Form sorgfältig recherchierter und produzierter Dokumentationen oder Features. Die selbst erstellten Videos wurden z. B. bei Veranstaltungen oder als Vorfilme in Szene-Kinos gezeigt, aber mittels eigener Verleihsysteme auch schon an Dritte verliehen und über ein bundesweites Netzwerk, das die Videogruppen untereinander bildeten, ausgetauscht und so überregional verbreitet.19 Tom Briele bringt die Grundmotive der Videobewegung rückblickend prägnant so auf den Punkt: »Jugend- und Erwachsenenbildung praktiziert, Roberto Faenza, Hans Magnus Enzensberger. Alexander Kluge, die Arbeiterradiobewegung und anar chosyndikalistische Wünsche im Kopf. Nicht nur EMPFANGEN sondern auch SENDEN – aber gegen den medialen Nebel um die Eliten gedacht!«20 In den 1980er Jahren war Briele einer der treibenden Kräfte der Videobewegung im Ruhrgebiet. 1956 in Essen geboren, studierte er Ende der 1970er Jahre an der Gesamthochschule Essen Kunst, Pädagogik und Biologie auf Lehramt. 1979 gehörte er zu den Mitbegründern der auf Anregung des Kunstwissenschaftlers Professor Wolfgang Pilz entstandenen »Videogruppe Fachbereich Kunstpädagogik«, produzierte im gleichen Jahr mit dieser Gruppe auf Spulen-Videorekordern der Hochschule die »Video-Streiknachrichten« eines studentischen Streiks und gründete 1981 mit Jörg Keweloh, Axel Reisch und einer Handvoll weiterer Studierender in Essen das »Medienzentrum Ruhr e.V.« (MZR).21 17 18 19 20 21
Does: minuten (Anm. 10), S. 4. Ebd., S. 2. Vgl. Does: minuten (Anm. 10), S. 4. So Briele auf seiner Website (Anm. 3). Vgl. dazu die Informationen ebd. und Nahler: Konsul (Anm.3), S. 23–30. Der Vf. bedankt sich bei Tom Briele für weitere freundliche mündliche Auskünfte am 08. 09. 2020.
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Analog zu den etwas älteren Medienkollektiven in der Bundesrepublik folgte auch die Arbeit der Essener Gruppe der Vision, durch »eingreifende Medienarbeit« eine Alternative zur »herrschenden Öffentlichkeit« zu schaffen, konkret »in politische Konflikte und alltagspraktische Situationen einzugreifen« und »mit Medien zur Organisation von Erfahrung und Gegenöffentlichkeit, zur kulturellen und politischen Selbsttätigkeit beizutragen.«22 Ein zentraler Schwerpunkt der Arbeit war in den ersten Jahren die Dokumentation der Friedensbewegung und des Kampfes gegen die atomare Aufrüstung. Daneben spielten auch schon Umweltschutz, Antifaschismus, Neue Technologien, Frauenemanzipation, Jugendarbeit und internationale Solidarität eine Rolle.23 Als sozusagen standortbezogenes Spezifikum hinzu kamen die Lebens- und Arbeitswelt, der Strukturwandel und die sozialen Konflikte und Arbeitskämpfe der achtziger Jahre im Ruhrgebiet. Insgesamt entstanden auf diese Weise im Medienzentrum Ruhr zwischen 1981 und 2012 über 4.500 Videobänder, die manchmal zu Filmwerken zusammengeschnitten wurden, oftmals aber auch reines Dokumentationsmaterial blieben.
Die »neue Friedensbewegung« der frühen 1980er Das Medienzentrum Ruhr konstituierte sich genau in dem Augenblick, als in Europa nach Jahren der Entspannungspolitik ein neuer Kalter Krieg zu drohen schien.24 Als Reaktion auf die Entwicklung und Stationierung mobiler atomarer Mittelstreckenraketen durch die Sowjetunion – im Westen als SS-20 bezeichnet – hatte die NATO im Dezember 1979 ihren »Doppelbeschluss« verabschiedet, der die die UdSSR und die USA aufforderte, Verhandlungen über die Begrenzung der atomaren Aufrüstung in Europa aufzunehmen, aber gleichzeitig im Falle des Nichtabbaus der SS-20-Raketen binnen vier Jahren die Aufstellung von USamerikanischen Pershing II-Raketen sowie Marschflugkörpern vorsah.25 Der sowjetische Einmarsch in Afghanistan wenige Wochen nach dem »NATO-Doppelbeschluss«, die Streikwelle in Polen 1980 und der Sieg des radikalen Antikommunisten Ronald Reagan bei der US-Präsidentenwahl im November 1980 22 Medienzentrum Ruhr e.V.: Video-Verleihkatalog 84/85, Essen 1985, S. 16f. Der Katalog enthielt als programmatischen Vorspann einen 15-seitigen Beitrag mit dem Titel »Video anders – Alternative Medienarbeit« (ebd., S. 4–19). 23 Vgl. ebd. 24 Vgl. Bernd Stöver: Der Kalte Krieg. Geschichte eines radikalen Zeitalters 1947–1991, S. 411– 427; Edgar Wolfrum: Die geglückte Demokratie. Geschichte der Bundesrepublik Deutschland von ihren Anfängen bis zur Gegenwart, Bonn 2007 S. 382–290. 25 Vgl. Tim Geiger: Der NATO-Doppelbeschluss. Vorgeschichte und Implementierung, in: Becker-Schaum u. a. (Hg.): Entrüstet Euch (Anm. 2), S. 54–70.
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ließen den Ost-West-Konflikt weiter eskalieren und führten für einige Jahre zu einem intensiven Wettrüsten, u. a. der Aufstellung von insgesamt 108 Pershing IIRaketen in Westdeutschland in den Jahren 1983 bis 1985. Der NATO-Doppelbeschluss wurde in der Bundesrepublik sowohl von der sozial-liberalen Regierung Schmidt als auch von der CDU-CSU-Opposition befürwortet, löste aber in der Öffentlichkeit eine Protestwelle bis dahin unbekannten Ausmaßes und eine »neue Friedensbewegung« aus.26 Ein Kennzeichen dieser sozialen Bewegung war ihre große politische und gesellschaftliche Heterogenität; »sie umfasste christliche Aktivisten und die orthodoxe Linke, alternative, ökologische und frauenbewegte Akteure, Antimilitaristen, Pazifisten, Sozialdemokraten, Gewerkschaftler, Unabhängige, Autonome und viele andere mehr«.27 Bereits beim 19. Evangelischen Kirchentag in Hamburg im Juni 1981 – mit 150.000 Teilnehmenden der größte seit 1949 – fanden die Anliegen der Friedensbewegung breite Resonanz, insbesondere unter den vielen jungen Kirchentagsbesuchern. Am Rande des Kirchentags konstituierte sich ein Bündnis verschiedener Initiativen, das wenige Monate später, am 10. Oktober 1981, im Bonner Hofgarten mit 300.000 Teilnehmern die bis dahin größte Demonstration in der Geschichte der Bundesrepublik auf die Beine stellte.28 Mittendrin: Die Videoaktivisten des Medienzentrums Ruhr. Wie die beiden noch größeren Bonner Friedensdemonstrationen in den Jahren 1982 und 1983 richtete sich auch die von 1981 vor allem gegen den NATONachrüstungsbeschluss vom Dezember 1979. Schon das offizielle Motto »Gegen die atomare Bedrohung gemeinsam vorgehen!« machte deutlich, dass die Veranstaltung als breiter überparteilicher Protest gegen die drohende Aufrüstung geplant war. Als offizielle Veranstalter fungierten die »Aktion Sühnezeichen/ Friedensdienste« und die »Aktionsgemeinschaft Dienst für den Frieden«, beide christlich orientiert. Hinzu kamen fast 800 weitere Organisationen, die den am Rande des Hamburger Kirchentags entstandenen Aufruf zur Demonstration
26 Zur Entstehung dieser »neuen Friedensbewegung« vgl. Susanne Schregel: Der Atomkrieg vor der Wohnungstür. Eine Politikgeschichte der neuen Friedensbewegung in der Bundesrepublik 1970–1985, Darmstadt 2010, v. a. S. 69–75. 27 Ebd., S. 74. Vgl. dazu Christoph Becker-Schaum: Die institutionelle Organisation der Friedensbewegung, in: ders. u. a. (Hg.): Entrüstet Euch (Anm. 2), S. 151–168. 28 Vgl. zum Folgenden zeitgenössisch Volkmar Deile, Ulrich Frey: Wie es zur Demonstration vom 10. 10. 1981 in Bonn kam, in: Aktion Sühnezeichen/Friedensdienste, Aktionsgemeinschaft Dienst für den Frieden (Hg.): Bonn 10.10.81. Friedensdemonstration für Abrüstung und Entspannung in Europa, Berlin/Bornheim 1981, S. 13–24; außerdem Becker-Schaum: Organisation (Anm. 27), S. 160f. und den Wikipedia-Artikel Friedensdemonstration im Bonner Hofgarten 1981, verfügbar unter: https://de.wikipedia.org/wiki/Friedensdemonstrati on_im_Bonner_Hofgarten_1981 [02. 09. 2020].
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unterstützten, darunter auch eine Reihe von kommunistisch orientierten.29 Der Aufruf begann mit den Worten: »Die 80er Jahre werden mehr und mehr zum gefährlichsten Jahrzehnt in der Geschichte der Menschheit. Ein 3. Weltkrieg wird aufgrund der weltweiten Aufrüstung immer wahrscheinlicher.«30 Er forderte deshalb, die NATO-Länder sollten ihre Zustimmung zum Doppelbeschluss zurückziehen und den Weg für ein atomwaffenfreies Europa freimachen. Diese Formulierung stellte einen Kompromiss dar, denn im Vorfeld hatte es heftige Diskussionen zwischen den beteiligten Friedensgruppen gegeben, weil einige christlich geprägte Gruppen einseitige Abrüstungsschritte des Westens befürworteten, während ökologisch-pazifistisch orientierte Gruppen – u. a. die Grünen – eine gleichzeitige Abrüstung in West und Ost fordern wollten. Während sich im Lauf des Sommers 1981 einerseits immer mehr Initiativen dem Demonstrationsaufruf anschlossen, wurden andere von ihren Dachorganisationen ausgebremst: So verbot im August der Bundesvorstand des DGB seinen Unterorganisationen, zur Teilnahme an der Demonstration aufzurufen. Und Bundeskanzler Helmut Schmidt kritisierte im September die Sozialdemokraten Erhard Eppler und Oskar Lafontaine, die auf der Bonner Kundgebung sprechen wollten. Das Nachrichtenmagazin »Der Spiegel« meldete sogar, Schmidt erwäge einen Unvereinbarkeitsbeschluss der SPD gegen einen Auftritt auf der Kundgebung, was sein Regierungssprecher allerdings dementierte.31 So oder so verstießen die Arbeitsgemeinschaft sozialdemokratischer Frauen und die Jungsozialisten mit ihren Unterschriften unter dem Aufruf zur Friedensdemonstration formell gegen einen seit 1972 geltenden Unvereinbarkeitsbeschluss, der SPD-Mitgliedern gemeinsame Aktionen mit Kommunisten verbot.32 Am Vortag der Hofgarten-Demonstration debattierte auf Antrag der CDU/ CSU-Opposition sogar der Bundestag über die Veranstaltung.33 Während die Sprecher der Regierungsparteien SPD und FDP erkennbar bemüht waren, den internen Dissens über den NATO-Doppelbeschluss – den in beiden Parteien eine Reihe von Abgeordneten ablehnten – herunterzuspielen, beantragten die Unionsparteien, die geplante Friedensdemonstration als »gegen die Sicherheitsin-
29 Vgl. aus konservativer Sicht Gottfried Linn: Die Friedensbewegung in der Bundesrepublik Deutschland, in: Günther Wagenlehner: Die Kampagne gegen den NATO-Doppelbeschluss. Eine Bilanz, Koblenz 1985, S. 131–146, hier S. 135. 30 Der Aufruf ist abgedruckt, in: Bonn 10.10.81 (Anm. 28), S. 7. 31 »Das wird die Landschaft erleuchten«, in: Der Spiegel, 1981, Nr. 39, S. 19–21, verfügbar unter: https://magazin.spiegel.de/EpubDelivery/spiegel/pdf/14346192 [01. 09. 2020]; vgl. Bonn 10.10.81 (Anm. 28), S. 35. 32 Der Beschluss ist als pdf online verfügbar unter: https://docserv.uni-duesseldorf.de/servle ts/DerivateServlet/Derivate-37746/SPD72-09.pdf [01. 09. 2020]. 33 Vgl. Deutscher Bundestag – 9. Wahlperiode – 57. Sitzung. Bonn, Freitag, den 9. Oktober 1981, verfügbar unter: dip21.bundestag.de/dip21/btp/09/09057.pdf, hier S. 3312 [02. 09. 2020].
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teressen der Bundesrepublik« gerichtet zu verurteilen.34 Friedrich Zimmermann von der CSU und Oppositionsführer Helmut Kohl begründeten den Antrag u. a. damit, dass die Veranstaltung »eindeutig dem Interesse Moskaus« diene und dass Teile der SPD dort eine »Volksfront« mit Kommunisten bildeten.35 Der CDU-Abgeordnete Jobst stellte in der gleichen Sitzung die Frage, ob die Bundesregierung es »im Hinblick darauf, dass während oder im Zusammenhang mit der Demonstration am 10. Oktober 1981 in Bonn mit Ausschreitungen zu rechnen ist, mit den Verpflichtungen der Deutschen Bundesbahn als eines Bundesunternehmens für vereinbar [halte], die Begehung von Straftaten durch die Beförderung der Teilnehmer mit Sonderzügen zu ermöglichen.«36 Schon einige Tage vorher hatte SPD-Verteidigungsminister Hans Apel – unter Hinweis auf die Krawalle bei einem Besuch des US-Außenministers in West-Berlin wenige Wochen zuvor – die Befürchtung geäußert, die Bonner Demonstranten könnten das Verteidigungsministerium auf der Hardthöhe angreifen.37
»Jetzt lass’n mir’s krachen« – Die Videodokumentation der Bonner Demonstration im Oktober 1981 Die Großdemonstration am 10. Oktober 1981, einem regnerischen Samstag, fand also in einer politisch höchst aufgeheizten Stimmung statt. Davon ist in den Videoaufnahmen des Medienzentrums Ruhr nichts zu spüren. Im Gegenteil: Die Veranstaltung erscheint als friedliches, fast fröhliches Happening von Hunderttausenden überwiegend jungen Menschen. Für die eben erst entstandene Videogruppe muss die Dokumentation der Demonstration so etwas wie eine Feuertaufe gewesen sein. Die Essener Videoaktivisten traten mit dem ehrgeizigen Ziel an, die Schlussveranstaltung im Bonner Hofgarten möglichst umfassend zu dokumentieren und so eine »Gegenöffentlichkeit« zu der aus ihrer Sicht oberflächlichen und hegemonial gesteuerten Berichterstattung der öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten zu erzeugen. Technisch erfolgte die Aufzeichnung mit einfachen Mitteln: Es standen nur Schwarz-Weiß-Kameras im schon 1968 entwickelten »Japan-Standard 1« zur Verfügung.38
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Ebd., S. 3312. Ebd., S. 3314 und 3332. Ebd., S. 3356. Vgl. Landschaft (Anm. 31), S. 20. Vgl. die Erläuterungen zur Dokumentation der Bonner Veranstaltung auf der Website von Tom Briele. Verfügbar unter www.briele.de/friedensdemo-bonner-hofgarten/ [03. 09. 2020].
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Trotzdem oder gerade deshalb hat das so entstandene rund 45-minütige Filmdokument39 heute einen hohen Quellenwert, weil es zeigt, wie die bunte Bewegung gegen den NATO-Doppelbeschluss sich selbst präsentierte und wie sie sich dargestellt sehen wollte. Im Zentrum der Videodokumentation stand das Programm auf der Hauptbühne der Veranstaltung im Bonner Hofgarten, insbesondere Ausschnitte aus den dort gehaltenen Reden. Insgesamt sprachen auf dieser Bühne am 10. Oktober 1981 sechzehn mehr oder minder prominente Personen, hinzu kam die Verlesung eines Grußworts von Martin Niemöller, der aus gesundheitlichen Gründen nicht teilnehmen konnte. Von diesen siebzehn Reden sind im Video des Medienzentrums Ruhr zehn in ein- bis sechsminütigen Ausschnitten zu sehen und zu hören, darunter die des früheren Regierenden Bürgermeisters von Berlin, Pastor Heinrich Albertz, des Friedensforschers und damaligen CSU-Mitglieds Alfred Mechtersheimer, der Witwe von Martin Luther King Coretta Scott King, des SPDVorstandsmitglieds Erhard Eppler, des Zukunftsforschers Robert Jungk und der Mitvorsitzenden der Grünen Petra Kelly. Vor allem letztere traf ausweislich des Applauses den Nerv der Demonstranten. Die im Vergleich zu ihren männlichen Vorrednern mit damals 33 Jahren junge und charismatische Grünen-Politikerin profilierte sich mit einer gleichermaßen emotionalen wie analytisch scharfen Rhetorik als »Gallionsfigur« der Friedensbewegung.40 Neben bekannten Gesichtern sind in den Videoaufnahmen des Medienzentrums Ruhr auch Statements eines deutschen Kriegsdienstverweigerers und einer jungen niederländischen Friedensaktivistin zu sehen und zu hören. Nicht dokumentiert sind hingegen aus unbekannten Gründen u. a. die Wortbeiträge von William Borm, Gert Bastian, Uta Ranke-Heinemann und Heinrich Böll, obwohl letzterer Hauptredner war. Ob den Videoaktivisten schlicht das Filmmaterial ausgegangen war, bleibt Spekulation; für diese Annahme spricht, dass mit Bastian, Ranke-Heinemann und Böll alle drei Abschlussredner der Kundgebung fehlen. Übrigens werden die Namen der Vortragenden weder auf der Tonspur noch durch Texteinblendungen vermittelt, möglicherweise, weil man bewusst keine Eingriffe in das Material vornehmen wollte. Dafür enthält die Videodokumentation zwischen den Redebeiträgen verschiedene Einschübe: zum einen musikalische Darbietungen, die auf der Haupttribüne selbst stattfanden – so die von Franz Josef Degenhardt, Hannes Wader, Harry Belafonte und der niederländischen Band Bots –, zum anderen 39 Die Videodokumentation der Friedensdemo am 10. 10. 1981 im Bonner Hofgarten ist auf Brieles Website (ebd.) in einer 43-minütigen Fassung verfügbar, im Filmarchiv des LWLMedienzentrums existiert eine gleichlange Fassung. Im Verleihkatalog 1984/85 des Medienzentrums Ruhr wird das Video hingegen mit 50 Minuten annonciert (Anm. 22), S. 35. 40 So Saskia Richter: Die Protagonisten der Friedensbewegung, in: Becker-Schaum u. a.: Entrüstet Euch (Anm. 2), S. 184–199, hier 190.
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Abb. 1: Petra Kelly bei ihrer Rede im Bonner Hofgarten, Quelle für diese und alle folgenden Abbildungen: Standbild aus der Videodokumentation »10. 10. 1981 – Friedensdemonstration in Bonn« des Medienzentrums Ruhr (LWL-Medienzentrum für Westfalen)
Sequenzen, die offensichtlich nachträglich in das Material der Hauptkundgebung eingefügt wurden. Sie zeigen das Geschehen abseits des Hofgartens, beispielsweise eine Menge von Demonstranten mit Plakaten, die ein Spottlied skandieren, eine kostümierte Blechblaskapelle, die in einer Wohnsiedlung mit einer fröhlichen Melodie das Lied »We don’t want a nuclear Holocaust« anstimmt, ein Straßentheater zweier ebenfalls kostümierter junger Männer auf Laufstelzen, die sich als US-Präsident Ronald Reagan und »seinen besten Freund und Spielgefährten, den Atomtod« vorstellen und ihr »gemeinsames Spielzeug«, eine Pershing-Attrappe, präsentieren.41 Stärker als in der Dokumentation der Reden wird in diesen Zwischensequenzen der spezifische Habitus der »neuen Friedensbewegung« sichtbar.42 Er drückte sich in Körpersprache, Kleidung, Redeweisen und Liedern, aber auch Accessoires und expressiven Protestformen aus. Das umfasste handgemachte Plakate, die bewusst den anti-professionellen »Kode des Authentischen« betonten,43 Symbole wie Peace-Zeichen, Sonnenblumen, Regenbögen und »Schwerter zu Pflugscharen«-Embleme, aber auch Kostüme, Pappmaché-Pershings und andere selbstgebastelte Objekte, beispielsweise einen großen schwarzen Kubus mit der Aufschrift »Sprengstoffmenge pro Erdbewohner«, den Demonstranten mit sich trugen. 41 Ein Foto der Aktion ist abgedruckt in Bonn 10.10.81 (Anm. 28), S. 188. 42 Vgl. dazu Kathrin Fahlenbach, Laura Stapane: Mediale und visuelle Strategien der Friedensbewegung, in: ebd., S. 229–246, und Benjamin Ziemann: The Code of Protest. Images of Peace in the West German Peace Movement 1945–1990, in: Contemporary European History, 2008, Nr. 17, S. 237–261, v. a. 254–259. 43 Fahlenbach, Stapane: Strategien (Anm. 42), S. 232.
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Abb. 2: »We don’t want a nuclear Holocaust« – Straßenlied einer Blechblasband
Auch Analogien zum Genozid des NS-Regimes an den europäischen Juden – wie sie in der musikalischen Performance »We don’t want a nuclear Holocaust« zum Ausdruck kamen – waren ein gebräuchliches, wenn auch aus heutiger geschichtswissenschaftlicher Sicht befremdliches Stilmittel der Protestbewegung gegen den NATO-Doppelbeschluss. »Hunderte und tausende Male wurde durch Worte, entsprechende Visualisierungen, aber auch durch symbolische Handlungen (Demonstrieren in Häftlingskleidern oder mit auf Plakate geschriebenen Parolen wie ›Pershing macht frei‹) eine Parallele von ›nuklearem Holocaust‹ – der Begriff hatte Hochkonjunktur – und der Shoa gezogen.«44 Nicht minder aufschlussreich im Hinblick auf Selbstdarstellung und Fremdwahrnehmung der neuen Friedensbewegung sind in der Videodokumentation des Medienzentrums Ruhr mehrere Interview-Einschübe mit Demonstrationsteilnehmern und Passanten. Einhellig äußern letztere ihre Sympathie für die Demonstrierenden. Ein Mann mittleren Alters erklärt: »Ich bewundere die Eigeninitiative der jungen Leute, wie die das handhaben. Da gehört schon allerhand Mut dazu.« Und ein etwas älterer Anwohner mit Hut versichert mit breitem rheinischen Akzent, er habe »auch nix dagegen« und betont, »dass das auch mal gesagt werden muss.«45 Die Auswahl der befragten Demonstranten lässt das Bemühen der Videogruppe erkennen, die Breite und Buntheit der Teilnehmerschaft an dieser Großkundgebung zu dokumentieren. Das entspricht exakt der generellen Darstellung und Selbstdarstellung der Friedensbewegung der frühen 1980er Jahre. Kathrin Fahlenbach und Laura Stapane vermerken, dass die Medienbilder der 44 Becker-Schaum u. a.: Einleitung (Anm. 2), S. 24. 45 Diese und alle folgenden Zitate stammen aus der Videodokumentation des MZR (Anm. 39).
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Abb. 3: Straßentheater: »Präsident Reagan und sein Freund, der Atomtod«
Bewegung einen »gesellschaftlichen Querschnitt der Generationen [zeigen]: spielende Kinder, junge Eltern, tanzende Jugendliche, Männer und Frauen mittleren Alters sowie Vertreter der Großelterngeneration vereint im gemeinsamen Entschluss gegen die Entscheidung, amerikanische Pershing II und Cruise Missiles auf bundesdeutschem Boden zu stationieren«.46 In der MZR-Dokumentation spricht eine ältere Interviewte dieses generationsübergreifende Anliegen dezidiert aus: »Ich hab zwei Kriege erlebt; ich will meinen Kindern, Enkeln und allen Menschen, die ich gern habe, will ich so etwas nicht noch mal bescheren.« Insgesamt äußern sich in der Videodokumentation Menschen beider Geschlechter, ganz unterschiedlicher Altersgruppen und regionaler Herkünfte spontan oder auf Fragen der Interviewer. Eine junge Demonstrantin erklärt mit schwäbischem Akzent: »Das geht nimmer so weiter, wie es zurzeit gelaufen ist, mehr Tonnen TNT als Brot auf der Welt, ich glaub da isch irgendwas wahnsinnig und verrückt dabei, das geht nimmer so, da muss sich was ändern.« Und ein junger Mann an ihrer Seite ergänzt in bayrischer Mundart und mit einem verschmitzten Lächeln: »Alle Leute haben gesagt, dass die Demonstration eigentlich viel zu spät kommt. Das hätte alles schon vor zehn Jahren sein müssen. Jetzt waren wir so lang daheim im warmen Wohnzimmer und jetzt lass’ mir’s krachen.« Mit Nickelbrille, schulterlangen Haaren, Vollbart und Latzhose verkörpert er schon äußerlich »a new image of masculinity, […] gentle, amiable and cooperative«47, ein Habitus, mit dem ein größerer Teil der Protestgeneration der
46 Fahlenbach, Stapane: Strategien (Anm. 42), S. 230; vgl. Ziemann: Code (Anm. 42), S. 256. 47 Ziemann: Code (Anm. 42), S. 254.
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Abb. 4: »Ich hab auch nix dagegen« – Interview mit einem Passanten
ausgehenden 1970er und frühen 1980er Jahre dezidiert auch mit dem hegemonialen Männlichkeitsbild der Studentenbewegung brach. Auf die Frage, ob sie schon häufiger an Friedensdemonstrationen teilgenommen hätten, antworten fast alle Interviewten, dies sei ihr erstes Mal. Das letzte Statement ist das eines älteren Mannes: »Ich bin der Meinung, dass, wenn die Straße sich in Bewegung setzt, dass dann die Regierung das zumindest beachten muss.« Von dieser Äußerung lenkt ein harter Schnitt zur Abschlusssequenz der Videodokumentation: Zu den Klängen des Kultlieds »Aufstehn« der Band Bots sieht man zunächst einen heranziehenden Demonstrationszug – aufgenommen von vorn aus erhöhter Position – und dann gut zwanzig Sekunden lang Senkrecht-Luftaufnahmen aus größerer Höhe, die den Bonner Hofgarten und die riesige darin versammelte Menschenmenge zeigen. Diese Aufnahmen sind sicherlich nicht vom Team des Medienzentrums Ruhr gedreht, sondern aus der öffentlichen Fernsehberichterstattung übernommen worden, ohne dass dies allerdings kenntlich gemacht wird. Ähnliches Fremdmaterial findet sich auch in anderen Produktionen des Medienzentrums Ruhr; nach der Erinnerung von Tom Briele rechtfertigten die Videoaktivisten dies mit dem Argument, es handle sich ohnehin um öffentlich finanziertes Material.48 Ein erneuter Schnitt leitet dann zu Aufnahmen der Band Bots auf der Haupttribüne der Kundgebung und mit einem Schwenk zu deren Publikum über, das seine Fahnen schwenkt und das Lied – animiert von der Band – vielstimmig mitsingt. In diese Abschlusssequenz integriert ist ein handgeschriebener Ab-
48 Mündliche Auskunft Tom Brieles an den Verfasser vom 08. 09. 2020.
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Abb. 5: »Ich hab zwei Kriege erlebt« – Interview mit einer älteren Demonstrantin
spann, der die gezeigten Redner und Musiker namentlich nennt und auf »weitere dreihunderttausend Mitwirkende« hinweist. Diese eindrucksvolle Schlusssequenz spiegelt prägnant das Selbstbild der »neuen Friedensbewegung« der frühen 1980er Jahre wider: eine aktive, expressive, dabei friedliche, harmonische, fröhliche und fast ausgelassene Bewegung. Vor allem die gewaltfreie Selbstinszenierung war von zentraler Bedeutung: »The peace movement was presenting itself as an anticipation of peace. […] Peace – overcoming weapons and violence – not only needed the peace movement to establish it, but was also, and principally, to be found within that very movement«, konstatiert Benjamin Ziemann.49 Dass dies gelang, konzedierten auch offizielle Stellen. So erwähnte das Bundesverfassungsgericht die erste Bonner Veranstaltung vom Oktober 1981 noch Jahre später in seinem sogenannten Brokdorf-Urteil ausdrücklich als positives Beispiel für die friedliche Durchführung einer Großdemonstration.50
Die Bonner Friedensdemo in der Tagesschau Das Medienzentrum Ruhr hatte sich mit seiner Videodokumentation der Demonstration selbst den Auftrag gestellt, der jungen und in ihren Augen von den etablierten Medien marginalisierten Protestbewegung gegen den NATO-Doppelbeschluss eine Stimme zu verleihen und ihre Anliegen zur Diskussion zu
49 Ebd., S. 256; vgl. Fahlenbach, Stapane: Strategien (Anm. 42), S. 239. 50 Im sogenannten »Brokdorf-Beschluss« vom 14. 05. 1985, einer Grundsatzentscheidung zum Versammlungsrecht, verfügbar unter www.servat.unibe.ch/dfr/bv069315.html [03. 09. 2020].
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stellen. Zu diesem Zweck nahm man das Video, obwohl es nur grob bearbeitet war, in den eigenen Verleih auf. Im Verleihkatalog 1984/85 des Medienzentrums hieß es: »Das Band richtet sich insbesondere an Friedensinitiativen, die die dargestellten Standpunkte als eine Auswahl einiger wichtiger Positionen der heutigen Friedensbewegung diskutieren wollen, wie auch an die vielen, die nicht bis zum Hofgarten gekommen sind und ist damit ein gutes Stück ›Gegenerinnerung‹ zur Demonstrationsdarstellung in den anderen Medien. Um dies deutlich zu machen, kann zusätzlich eine Toncassette mit dem Kommentar der Woche des Bayerischen Rundfunks über die Bonner Demo ausgeliehen werden.«51 Tom Briele erinnert sich auf seiner Website: »›Gegenöffentlichkeit‹ zum Thema ›Nato-Doppel-Beschluss‹ war 1981 einfach herzustellen, denn 100.000 Menschen in Bonn waren dem öffentlich-rechtlichen Fernsehen maximal 3 Minuten wert.«52 Allerdings trügt Brieles Erinnerung in diesem Punkt. Das zeigt schon ein Blick in die damals mit Abstand wichtigste Nachrichtensendung des deutschen Fernsehens, die Tagesschau. Denn die machte am 10. Oktober zur Hauptsendezeit um 20 Uhr nicht nur mit dem Thema Großdemonstration in Bonn auf, sondern zeigte sich auch um sehr ausgewogene und ausführliche Berichterstattung bemüht.53 Nachrichtensprecher Werner Veigel eröffnete den fast zehnminütigen Themenblock der insgesamt knapp 17-minütigen Sendung mit folgenden Sätzen: »Friedlich ist die größte Kundgebung in der Geschichte der Bundesrepublik am Abend in Bonn zu Ende gegangen. 250–300.000 Menschen hatten sich in der Bundeshauptstadt versammelt, um für Frieden und Abrüstung zu demonstrieren. Sie folgten einem Aufruf der Aktion Sühnezeichen und der Aktionsgemeinschaft Dienst für den Frieden, der von über tausend politischen und kirchlichen Organisationen unterstützt wurde.« Als Redner listete Veigel neben Erhard Eppler (SPD) auch William Borm (FDP), Alfred Mechtersheimer (CSU) und Schriftsteller Heinrich Böll auf und erläuterte: »Ebenso wie die meisten anderen Redner wandten sie sich gegen die Stationierung amerikanischer Mittelstreckenraketen in Westeuropa und den Bau der Neutronenbombe, forderten aber zugleich die Sowjetunion auf, die Zahl ihrer SS 20-Raketen zu verringern.« Die anschließenden Filmsequenzen und Korrespondentenberichte aus Bonn vermittelten das Bild einer bunten, friedlichen und geordneten Veranstaltung, die streckenweise Volksfestcharakter zu haben schien. Korrespondent Albrecht Reinhardt konstatierte: »Die Bonner Friedensdemonstration war zugleich politisches [!] Redemarathon, Verbrüderung vieler Teilnehmer, aber auch die Ge51 Medienzentrum Ruhr: Video-Verleihkatalog (Anm. 22), S. 35. 52 Website Briele (Anm. 38). 53 Die Sendung ist verfügbar unter www.youtube.com/watch?v=ULo-QOPKYQs [03. 09. 2020].
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meinsamkeit verschiedener Ideen und Ideologien unter der Überschrift Frieden. Und sie war auch, an Zahl und Friedfertigkeit eindrucksvoll, ein großes Volksfest, aufgewertet durch die Teilnahme ausländischer Stars« – was durch einen kurzen Ausschnitt vom Auftritt Harry Belafontes visualisiert wurde. Anschließend schaltete die Sendung zu ARD-Chefkorrespondent Friedrich Nowottny, der sich am Bonner Hauptbahnhof mit sichtlichem Vergnügen unter die Menge der abreisenden Demonstranten gemischt hatte. Er zog eine sehr wohlwollende Bilanz mit einem aus heutiger Sicht fast prophetischen Ausblick: »Seit Stunden regnet es, trotzdem kommen die Demonstranten ganz fröhlich … hier zum Bonner Hauptbahnhof. Sie haben ein gutes Gefühl. […] Sie hatten das Gefühl, einfach dabei gewesen zu sein. Das galt für sie hier an diesem Tag in Bonn. Dabei zu sein, um für den Frieden zu demonstrieren, nicht irgend gegen [!] jemanden, sondern einfach für eine Sache, die sie für gut halten. Das war der Sinn der Reise nach Bonn. Diese viertel Million junger Menschen passt kaum in eines der Klischees, in das man sie gern hat pressen wollen am Vorabend der Veranstaltung. Hier war ein Stück, der jungen möglicherweise noch ein wenig radikalen Mitte zusammengekommen, die heute schon, die morgen vor allem aber Wahlen entscheiden.« Erst nach dieser ausführlichen Berichterstattung widmete sich die Hauptnachrichtensendung der ARD in einer knappen Meldung der Kritik an der Veranstaltung. Trocken las Veigel ein Zitat des CDU-Sprechers vom Blatt ab, der die Kundgebung als »antiamerikanischen Umzug« deklariert hatte, die die »Volksfront zwischen Teilen der SPD, Kommunisten und Chaoten bekräftigt« habe.
Abb. 6: »Jetzt lass’n mir’s krachen« – Interview mit einem jungen Demonstranten
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Vom Medium für Gegenöffentlichkeit zum Dokument der Zeitgeschichte In den beiden Bonner Folgeveranstaltungen der Jahre 1982 und 1983 wuchs die Zahl der Demonstranten weiter an. Begleitend zur Veranstaltung vom Oktober 1983 organisierte die Friedensbewegung eine »Aktionswoche«, an der bundesweit eine Million Menschen teilnahmen. »Kein anderes Ereignis hat jemals in der Bundesrepublik so viele Menschen auf die Straße gebracht wie die Nachrüstung«, urteilt Edgar Wolfrum.54 Für Tom Briele unterschied sich die Veranstaltung von 1983 allerdings in einem wichtigen Punkt von der des Oktobers 1981. Auf seiner Website führt er aus: »Ein Mitschnitt der ersten Großdemonstration war schon Gegenöffentlichkeit, denn die ›Herrschaftsmedien‹ berichteten kaum und polemisch über 100.000 Demonstranten in Bonn. Zwei Jahre später wurden Menschenketten mit Hubschrauberkameras live in die Sondersendungen übertragen. Die Substanz-Bestimmung von Gegenöffentlichkeit wurde komplexer.«55 Selbstkritisch gesteht Briele damit ein, dass das Ausgangskonzept der alternativen Medienbewegung, mithilfe der neuen Videotechnik auf einfache Weise eine »Gegenöffentlichkeit« schaffen zu können, sich bald als unrealistisch erwies. Schon 1979 hatte Gerhard Lechenauer geklagt: »Es reicht eben nicht aus, ›nur‹ die Medien-Produktionsmittel in der Hand zu haben. […] Alternative Medienarbeit hat bei uns so gut wie keine Öffentlichkeit. Berichte darüber sind meist nur in auflagenschwachen Insider-Fachzeitschriften zu lesen, Vorführungen finden in kleinem Rahmen statt, der über die unmittelbar Beteiligten kaum hinausgeht.«56 Sechs Jahre nach Lechenauer und vier Jahre nach der Bonner Videodokumentation kam auch das Medienzentrum Ruhr e. V. zu einer desillusionierten Einschätzung: »Heute gestalten Millionen von Bundesbürgern ihr eigenes Programm mit Produkten aus den Videoboutiquen. Einige hunderttausend haben mittlerweile auch eine Kamera und können selbst ›videografieren‹. Doch was bei alldem herauskommt, hat nichts mehr mit den Träumen zu tun, die sich mit dem neuen Medium vor fünfzehn Jahren verbanden: nicht eigene Ausdrucksformen werden gefunden, noch wird der eigene Alltag ›mit anderen Augen gesehen‹ und neu entdeckt, sondern es wird eine an Fernsehklischees orientierte Abbildung des Privatlebens in Form von Familien- und Ferienfilmen produziert; nicht die Aufhebung der Trennung von Sender und Empfänger, von Sprechendem und Sprachlosen, sondern die noch weitergehende Isolierung des Einzelnen vor sei-
54 Wolfrum: Demokratie (Anm. 24), S. 386. 55 Website Briele (Anm. 3). 56 Lechenauer: Medienarbeit (Anm. 4), S. 9–10.
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nem Bildschirm werden bewirkt«.57 Wohl auch deshalb gerieten viele Videogruppen gegen Ende der 1980er Jahre in eine Krise. Bis Mitte der achtziger Jahre widmete sich das Medienzentrum Ruhr in weiteren Produktionen der Friedensbewegung; besonders aufwändig in einem 20minütigen »Aufklärungsfilm« von 1983.58 Er beschäftigte sich mit dem NATOFrühwarnsystem AWACS, einem fliegenden Radarsystem zur Luftraumüberwachung. Die Produktion mit dem sarkastischen Titel »Sieg ist möglich – 1+1=3« zielt darauf ab, dieses System als Offensivwaffe für einen möglichen militärischen Erstschlag zu entlarven. Dazu kombiniert sie selbstgedrehte Filmaufnahmen mit Werbematerial der Waffenproduzenten und dokumentarischen Kriegsbildern aus Vietnam, die schonungslos grausam getötete und verwundete Opfer von USLuftangriffen zeigen. Den Abschluss bilden Aufnahmen spielender blonder Kinder, die mit Schrifttexten der Strategieplanungen von US-Militärs zu einem atomaren Krieg in Europa überblendet sind und auf der Tonebene von einem dumpfen Trommelton begleitet werden.
Abb. 7: »Alle Menschen sollen aufstehn« – Menschenmenge beim Lied der Band Bots
Im Verleihkatalog des MZR hieß es dazu: »In diesem Film wird gezeigt, dass ein angebliches Defensivsystem (AWACS) in Verbindung mit einem weiteren Waffensystem (Tornado-Kampfflugzeug) ein offensives Angriffssystem ergibt. Dies ist für einen ›begrenzten‹ konventionellen und/oder atomaren Krieg eine der entscheidenden Voraussetzungen. […] Im Vietnamkrieg probten die US-amerikanischen Militärs den technisch perfekten Völkermord. Dazu ist die elektronische Beherrschung des gegnerischen Luftraums erforderlich.«59 57 Medienzentrum Ruhr: Video-Verleihkatalog (Anm. 22), S. 4. 58 Verfügbar unter: https://www.briele.de/1-1_3-awacs-angriffssystem [05. 09. 2020]. 59 Medienzentrum Ruhr: Video-Verleihkatalog (wie Anm. 22), S. 31.
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Die Produktion sticht nicht nur wegen ihrer hohen technischen und gestalterischen Qualität ins Auge, sondern auch wegen der detaillierten und kenntnisreichen Auseinandersetzung mit militärischen Waffensystemen. Das spiegelte einen generellen Trend der Friedensbewegung: Im Kontext der Auseinandersetzung mit der Neutronenbombe hatte die alternative Linke seit den ausgehenden 1970er Jahren in den Worten von Susanne Schregel »die Rüstung entdeckt« und begonnen, sich verstärkt mit militärischen sowie rüstungspolitischen Fragestellungen zu befassen.60 Obwohl der Verleihkatalog ankündigte, das Video »Sieg ist möglich« sei »die erste Folge einer mehrteiligen Reihe zu Fragen der Rüstungsstrategie, Rüstungslobby, dem Zusammenspiel des militärisch-ökonomischen und politischökonomischen Komplexes«61, blieb der Film offenbar ein Unikat. Ab Mitte der 1980er Jahre verlegte sich das Medienzentrum Ruhr, das bis dahin innerhalb der bundesdeutschen Videobewegung das Thema Frieden schwerpunktmäßig besetzt hatte, zunehmend auf soziale und regionale Themen wie die Folgen des Strukturwandels und die Lage von Migranten, aber auch auf Kunst, Kultur und Geschichte der Ruhrregion. Die in den 1980er, 1990er und auch noch 2000er Jahren entstandenen Videokassetten landeten auf einem Dachboden und drohten dort aufgrund mangelhafter Lagerungsbedingungen zu zerfallen. 2014 übernahm deshalb das LWL-Medienzentrum für Westfalen den gesamten, unter sehr prekären Umständen lagernden Videobestand des MZR – insgesamt mehrere tausend Kassetten – und ließ große Teile davon digitalisieren. Denn anders als klassisches Filmmaterial sind Videobänder als magnetische Speichermedien nicht dauerhaft haltbar, weil sie sich entmagnetisieren. Nur durch Digitalisierung lässt sich ihr Inhalt erhalten. Viele der auf diese Weise geretteten Filme sind inzwischen in der Datenbank www.filmarchiv-westfalen.lwl.org online recherchierbar. Das lohnt sich, denn die Videoaufnahmen der Essener Gruppe sind zeithistorisch eine Fundgrube, nicht nur, aber auch für das Thema »Jugend und Kalter Krieg«.
60 Vgl. Schregel: Atomkrieg (Anm. 26), S. 53–57. 61 Medienzentrum Ruhr: Video-Verleihkatalog (Anm. 22), S. 31.
Optionen konfessioneller Jugendarbeit
Arndt Macheledt
Zwischen Überwinterung und Protest – Katholische Jugend in der DDR
Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges teilten bekanntermaßen die Siegermächte Deutschland entlang alter territorialer Grenzen in vier Besatzungszonen. Die sowjetische Zone umfasste dabei die Gebiete der Länder Thüringen, Sachsen, Mecklenburg mit Vorpommern sowie die ehemals preußischen Gebiete SachsenAnhalt, Brandenburg und Ostberlin. Seit der Reformation im 16. Jahrhundert bildeten diese Territorien Kernlande der neuen Konfession. Nicht nur in Preußen war der Protestantismus eine kulturelle Klammer, auf die sich bis 1918 die herrschende Dynastie der Hohenzollern berief. Auch in Thüringen, erst 1920 aus dem Zusammenschluss sieben ehemals eigenständiger Kleinstaaten entstanden, begründete die Erinnerung an Martin Luther und dessen Wirkungsstätten auf der Wartburg und im Erfurter Augustinerkloster, einen gemeinsamen Landesgedanken, der bis in die heutige Zeit überdauert hat. Anlässlich des Lutherjahres 2017 zur 500-Jahrfeier der Reformation warb man stolz als Lutherland Thüringen für sich. Fast das gesamte Gebiet der SBZ bzw. DDR war geprägt durch die Dominanz der evangelischen Konfession, wodurch es sich deutlich von der Bundesrepublik unterschied. 1945 lebten in der sowjetischen Besatzungszone ca. eine Million Katholiken. Aufgrund der Flüchtlinge aus den ehemaligen deutschen Gebieten jenseits der Oder-Neiße-Linie wuchs die Bevölkerung der SBZ bis Ende 1945 auf fast 16 Millionen Einwohner an. Ca. 1,6 Millionen der Vertriebenen, vor allem aus Schlesien, waren Katholiken, wodurch sich die konfessionelle Zusammensetzung der Bevölkerung in der SBZ veränderte. Bis Ende 1946 stieg die Anzahl der Katholiken auf 2,1 Millionen, was 12,2 % der Bevölkerung entsprach.1 Durch die weite regionale Verteilung blieben sie in der neuen Heimat aber in der Minderheit. Lediglich in den ländlichen Gebieten der östlichen Rhön, namentlich in den Gemeinden um die Kleinstaat Geisa, und im Eichsfeld – beide in Thüringen 1 Vgl. Martin Ehm: Die kleine Herde. Die katholische Kirche in der SBZ und im sozialistischen Staat DDR (Beiträge zu Theologie, Kirche und Gesellschaft im 20. Jahrhundert 12), Berlin 2006, S. 13.
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gelegen – existierte eine katholische Bevölkerungsmehrheit. Das restliche Gebiet der DDR war Diaspora. Nur die Bistümer Meißen und Magdeburg lagen vollständig östlich des Eisernen Vorhangs, die übrigen katholischen Gemeinden gehörten zu Bistümern, deren Bischofssitz in der Bundesrepublik lag. Trotz des Bestrebens der DDR-Führung, auf ihrem Gebiet eigene Bistümer entstehen zu lassen, gab der Heilige Stuhl diesen Forderungen nicht nach. Allerdings wurden jene Teile westdeutscher Bistümer, die jenseits der innerdeutschen Grenze lagen, 1973 per päpstlichem Dekret zu bischöflichen Ämtern zusammengefasst. Für die Thüringer Gemeinden war fortan als Vertretung für die Bistümer Fulda und Würzburg das Bischöfliche Amt Erfurt-Meiningen zuständig, das de facto die kirchliche Jurisdiktion ausübte.2 Viele Gemeinden des Eichsfelds und der Rhön befanden sich nach 1945 unmittelbar an der Demarkationslinie der sowjetischen Besatzungszone. Der zunehmende Ausbau des Grenzregimes der DDR ab 1949, vor allem die Errichtung des 5-km-Sperrgebiets 1952, bedeutete einen tiefen Einschnitt in die Alltagsrealität der dortigen Bevölkerung, der auch das kirchliche Leben und die Jugendarbeit in den Gemeinden betraf. Von den Zwangsaussiedlungsaktionen 1952 und 1961 entlang der Staatsgrenze West der DDR waren in der Rhön und im Eichsfeld ebenfalls zahlreiche Katholiken betroffen.3 Engagement in der Kirche und der Kontakt zu den jeweils in Westdeutschland gelegenen Bischofssitzen ließen sie in das Visier der SED geraten. Als politisch unzuverlässig eingestuft, wurden viele in das Landesinnere der DDR umgesiedelt. Die Erinnerung an diese Maßnahmen war bis zum Ende der DDR tief im Gedächtnis der Menschen des Sperrgebiets verankert. Kinder und Jugendliche wurden mit dem Hinweis auf eine drohende Vertreibung dazu angehalten, in der Schule und gegenüber Behörden nicht über die Gespräche der Eltern zu berichten. Gleichzeitig dienten die örtlichen Geistlichen vielen Jugendlichen als Ventil, um über christliche wie auch politische Themen zu sprechen. Solche Darstellungen finden sich bei zahlreichen Zeitzeugenaussagen aus dem jugendlichen katholischen Milieu des ehemaligen Sperrgebiets der DDR.4 2 Vgl. Roland Cerny-Werner: Die vatikanische Ostpolitik und die DDR, Göttingen 2011, S. 194f. 3 Im ländlichen Thüringer Grenzraum war die Dominanz bürgerlicher Parteien auch 1952 noch sehr stark, vor allem in den katholischen Gemeinden. Die Zwangsaussiedlungen dienten der Herrschaftssicherung der SED, durch gezielte Verunsicherung der Bevölkerung und den Austausch lokaler Eliten. Vgl. Anke Geier: Zwangsumsiedlungen als Teil der Grenzsicherungsmaßnahmen der DDR im Jahr 1952. Die Sicherung der kommunistischen Herrschaft im Grenzgebiet, in: Landesbeauftragter des Freistaats Thüringen zur Aufarbeitung der SEDDiktatur (Hg.): Vertreibungen im Kommunismus. Zwangsmigration als Instrument kommunistischer Politik, Halle 2019, S. 144f. 4 Etwa bei der aus Geisa stammenden Lehrerin Brigitte Heller: Leben im Sperrgebiet, 2012, verfügbar unter: https://www.zeitzeugen-portal.de/themen/grenzerfahrungen-abschied-undankunft/videos/Cq3nhyL_rPE [19. 02. 2020].
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Kirchliche Jugendarbeit im sozialistischen Staat Der offizielle Kurs der Amtskirche gegenüber dem neuen Staat, auch in Hinblick auf die kirchliche Jugendarbeit, kristallisierte sich schon vor der Gründung der DDR im Oktober 1949 heraus. Gemäß ihrer Kritik am sozialistischen Materialismus gingen die Bischöfe früh auf Distanz zur SED, die nach Ihrer Gründung 1946 zusammen mit der Freien Deutschen Jugend die Kultur- und Jugendarbeit dominierte. Auch die CDU, 1945 mit einem hohen Anteil katholischer Mitglieder gegründet – in Thüringen waren zeitweise über 30 % der und 46 % des Landesvorstandes katholisch, gegenüber einem Katholikenanteil von 16 % an der Bevölkerung Thüringens – ordnete sich ab 1948 zunehmend der offiziellen Linie der SED unter.5 Dennoch blieb sie in der Rhön und im Eichsfeld die dominierende politische Kraft und ein Betätigungsfeld für bekennende Katholiken. Zahlreiche katholische Jugendliche, die zuvor in ihren Pfarrgemeinden Funktionen bekleidet hatten, traten der FDJ bei. Bei deren Gründung am 26. Februar 1946 in Ostberlin hatte auch der Berliner Diözesanjugendseelsorger, Domvikar Robert Lange, die Gründungserklärung unterzeichnet.6 Im Kreis Heiligenstadt (Eichsfeld) war sogar der erste Kreisleiter der FDJ Mitglied der CDU und praktizierender Katholik. Erst 1948 wurde er aus dem Amt gedrängt und durch ein Mitglied der SED ersetzt.7 Trotz anfänglicher Hoffnung auf den überparteilichen Charakter der FDJ und anderer Organisationen untersagte die Kirche nach den Erfahrungen zunehmender Repression ihren Mitgliedern die Arbeit in ihnen und forderte ihre jungen Mitglieder zum Austritt aus der FDJ auf. Durch deren Monopolstellung war es in der DDR nicht möglich, eine Dachorganisation nach Vorbild des Bundes der Deutschen Katholischen Jugend in der Bundesrepublik zu gründen. Außerhalb der FDJ wurde der Spielraum für die Kirchen und religiösen Jugendgruppen zunehmend eingeschränkt. Bereits im Juni 1946 gab es massive Spannungen zwischen Vertretern der SED und der Kirchen innerhalb der FDJ. Der junge katholische Delegierte Kurt Woituzcek aus dem Eichsfeld wurde am Rande des ersten Parlaments der FDJ Ohrenzeuge kirchenfeindlicher Äußerungen führender Funktionäre. Die katholischen Mitglieder drohten daraufhin 5 Vgl. Bertram Triebel: Die Thüringer CDU in der SBZ/DDR. Blockpartei mit Eigeninteresse, Sankt Augustin u. a. 2019, S. 24–31. Zur konfessionellen Zusammensetzung der Bevölkerung in Thüringen vgl. Günter Braun: Daten zur demographischen und sozialen Struktur der Bevölkerung, in: Martin Broszat, Gerhard Braas (Hg.): SBZ-Handbuch. Staatliche Verwaltungen, Parteien, gesellschaftliche Organisationen und ihre Führungskräfte in der Sowjetischen Besatzungszone Deutschlands 1945–1949, München 1990, S. 1069–1075. 6 Vgl. Thomas Raabe: SED-Staat und katholische Kirche. Politische Beziehungen 1949–1961 (Veröffentlichungen der Kommission für Zeitgeschichte B 70), Paderborn 1995, S. 115. 7 Vgl. Christian Stöber: Rosenkranzkommunismus. Die SED und das katholische Milieu im Eichsfeld 1945–1989, Berlin 2019, S. 70–72.
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mit dem sofortigen Verlassen der Sitzung, was nur durch den Druck der Sowjetischen Militäradministration verhindert werden konnte.8 1949 wurde den katholischen und evangelischen Bischöfen allerdings von Erich Honecker, nun Vorsitzender der FDJ, dargelegt, dass die Mitwirkung aus kirchlichen Kreisen an der Jugendorganisation nicht länger erwünscht sei. Seit diesem Zeitpunkt häuften sich auch die gezielten Provokationen durch FDJ-Angehörige gegen Mitglieder der jungen Gemeinden und Studentengemeinden beider Konfessionen.9 Der Berliner Bischof Konrad von Preysing, der eine herausgehobene Stellung innerhalb der ostdeutschen Bischöfe einnahm, verkündete im Februar 1950 einen Erlass, der künftig zur Richtschnur für alle katholischen Amtsträger in der DDR werden sollte: »Versuche, die Kirchengemeinden in politische Bewegungen mit politischen Zielen einzugliedern und die Geistlichen zur Mitarbeit in diesbezüglichen Ausschüssen aufzufordern sind sowohl im Namen des der Kirche eigentümlichen Gottesauftrags, als auch um die Vordringlichkeit der Seelsorgearbeit des Klerus willen abzuweisen.«10 Der Erlass war eine Reaktion auf die Bemühungen der SED, innerhalb der katholischen Geistlichen und Laien Mitglieder für die Organisationen der Nationalen Front zu gewinnen, die bei allen Bischöfen auf tiefes Misstrauen stieß. Vor allem die Sorge um die Jugend und die Jugendarbeit der Kirche war ein Grund für die scharfe Ablehnung. Der Papst hatte 1949 vor dem Hintergrund des sich verschärfenden Ost-West-Konflikts in seinem Antikommunismusdekret Katholiken die Mitgliedschaft in kommunistischen Parteien untersagt und ihnen sogar die Zulassung zu den heiligen Sakramenten verwehrt.11 Die Kirche zog sich nun zunehmend aus der öffentlichen Diskussion zurück. Intern wurde von den Bischöfen die Losung des »Überwinterns« ausgegeben: Fortan würde man sich nur noch zu Fragen äußern, die unmittelbar kirchliche Anliegen beträfen und sich auf die Bereiche Seelsorge, sowie Gemeinde- und Jugendarbeit beschränk-
8 Vgl. Ehm: Herde (Anm. 1), S. 163. 9 Vgl. Erhard Neubert: Geschichte der Opposition in der DDR 1949–1989, Berlin 1998, S. 74f. 10 Kardinal von Preysing: Gegen den Mißbrauch katholischer Priester für die parteipolitischen Ziele der SED vom 1. Februar 1950, in: Gerhard Lange, Ursula Pruß, Franz Schrader, Siegfried Seifert: Katholische Kirche – Sozialistischer Staat DDR. Dokumente und öffentliche Äußerungen 1945–1990, Leipzig 1993, S. 33. 11 Vgl. Dieter Grande, Bernd Schäfer: Interne Richtlinien und Bewertungsmaßstäbe zu kirchlichen Kontakten mit dem MfS, in: Clemens Vollnhals (Hg.): Die Kirchenpolitik von SED und Staatssicherheit. Eine Zwischenbilanz, Berlin 1997, S. 388–390. Die deutsche Bischofskonferenz wiederholte die Androhung der Exkommunikation im Falle einer Mitwirkung in sozialistischen Organisationen 1950: »Wer mit Wissen und in voller Freiheit der gottlosen materialistischen Weltanschauung anhängt, darf nicht zu den Sakramenten zugelassen werden. Und wer diese Weltanschauung verbreitet, ist aus der Kirche ausgeschlossen«. Die christliche Wahrheit und der gottlose Materialismus. Hirtenwort der deutschen Bischöfe. 1. März 1950, in: Lange: Kirche (Anm. 10), S. 36.
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ten.12 Diese Haltung drängte die Katholiken der DDR noch weiter in ein gesellschaftliches Nischendasein, was mit dem verstärken Auftreten jugendlicher Protestgruppen auch innerhalb der katholischen Bevölkerung seit den 1970er Jahren nicht ohne Konflikte bleiben sollte.13 Tatsächlich hatte die katholische Kirche parallel zu den sich entwickelnden staatlichen Organisationformen schon ab 1945 auch in der SBZ begonnen, eigene Formen der Jugendarbeit zu etablieren. Die Bildung einer offiziellen Pfarrjugend war wegen des Verbots von Jugendarbeit außerhalb der FDJ nicht erlaubt. Oftmals wurden daher Aktivitäten als Caritashelferverband, Bibelkreis oder Messdienergruppen getarnt, wobei sich die Kirche auf die garantierte Kulturfreiheit berief. Die Gruppen dienten jedoch vordringlich weltanschaulicher und erzieherischer Arbeit und sollten die kirchliche Sozialisation der jungen Gemeindemitglieder sichern.14 Die FDJ-Kreisleitung in Bad Salzungen bemerkte 1952 gegenüber dem Landesverband, die Jugendarbeit der katholischen Kirche in der Rhön befasse sich auch mit Dingen, die abseits des kirchlichen Aufgabenfelds lägen. Namentlich wurde die Gründung eigener Sportgruppen und Arbeitsgemeinschaften kritisiert, da dadurch die Arbeit der FDJ in den katholisch geprägten Dörfern massiv behindert würde.15 Für das Bistum Meißen wurden die Aufgaben der kirchlichen Jugendarbeit 1953 genau definiert: »Das Ziel der kirchlichen Jugendarbeit ist die Bildung christlicher Persönlichkeiten, die fähig und willens sind, in der Nachfolge Christi aus dem Glauben zu leben […] und eine heilige Gemeinschaft untereinander in der Kirche zu bilden. […] Die kirchliche Jugendarbeit wird ausgeübt […] in aufbauender Jugendseelsorge durch: Glaubensstunden, religiöse Jugendstunden, Jugendgottesdienste. […] Für die gesamte Jugendseelsorge des Bistums liegt die Planung und Führung sowie die oberste Aufsicht und letzte Verantwortung beim Bischof. Für die Durchführung der kirchlichen Jugendarbeit im Bistum Meißen wird mit Wirkung von Ostern 1953 ein Jugendseelsorgeamt eingerichtet.«16 12 Vgl. Christin Wappler: Klassenzimmer ohne Gott. Schulen im katholischen Eichsfeld und protestantischen Erzgebirge unter SED-Herrschaft (Schriften der Bildungsstätte am Grenzlandmuseum Eichsfeld 3), Duderstadt 2007, S. 41. 13 Vgl. Christoph Kösters: Revolution, Wiedervereinigung und katholische Kirche 1989/90, in: Historisch-Politische Mitteilungen, 2010, Bd. 17, H. 1, S. 59f. 14 Vgl. Ehm: Herde (Anm. 1), S. 164. Die katholische Kirche befand sich rechtlich zudem in einem Schwebezustand. Da die DDR sich nicht in der Rechtsnachfolge des Deutschen Reiches sah, erkannte sie auch das Reichkonkordat von 1933 nicht an. Dies betraf unter anderem den Religionsunterricht, die Bekenntnisschulen in Trägerschaft der Kirche und den Status von katholischen Verbänden. Vgl. Kösters: Revolution (Anm. 13), S. 57. 15 Bericht der FDJ Kreisleitung Bad Salzungen an Landesvorstand der FDJ Weimar, 27. 05. 1952, BStU, MfS, BV Suhl, KD Bad Salzungen, Nr. 100. 16 Kirchliche Jugendarbeit im Bistum Meißen. Bischöfliche Anweisung für die kirchliche Jugendarbeit im Bistum Meißen vom 5. April 1953, in: Josef Pilvousek: Kirchliches Leben im totalitären Staat. Seelsorge in der SBZ/DDR 1945–1976. Quellentexte aus den Ordinariaten, Leipzig 1994, S. 93–98.
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Die katholische Kirche schuf als Reaktion auf die politischen Entwicklungen eigene Strukturen und kapselte ihre Jugendarbeit von allen staatlichen Angeboten ab. Die Strategie der zahlenmäßig ungleich größeren evangelischen Landeskirchen auf dem Gebiet der DDR gestaltete sich grundsätzlich anders. Vor allem der Thüringer Landesbischof Moritz Mitzenheim plädierte für eine Koexistenz unter dem Leitspruch »Kirche im Sozialismus«. Dieser auch als Thüringer Weg bezeichnete Kurs sollte später von anderen Landeskirchen übernommen werden und ermöglichte es der evangelischen Kirche, ihre staatlich gewährten Freiräume in den 1980er Jahren auch oppositionellen Kreisen zugänglich zu machen. Die evangelische Kirche der Kirchenprovinz Sachsen entwickelte die autoritär geprägten Vorstellungen Mitzenheims später weiter. Der Anspruch, Kirche im Sozialismus zu sein, blieb bestehen, wurde nun aber durch die Losung eines »verbesserlichen Sozialismus« mit Reformbestrebungen verknüpft, die in den 1980er Jahren anschlussfähig für jugendliche Protestbewegungen wurde.17 In der katholischen Kirche herrschte hingegen die Furcht, dass sowohl eine Annäherung an den sozialistischen Staat, als auch ein direkte Konfrontation zur Erosion ihrer Mitgliederbasis führen könnte. Tatsächlich erreichte die Repression im Juni 1952 einen vorläufigen Höhepunkt, als durch Beschluss des Zentralkomitees der SED 154 kirchliche Ferienlager, davon 45 katholische, geschlossen wurden. Auch gegenüber den christlichen Studentengemeinden an den Hochschulen erhöhte sich der Druck. Zahlreiche Studenten und Studentenpfarrer wurden von den Universitäten verwiesen. Erst die Nachwirkungen des 17. Juni 1953 und die aus Moskau verordnete Entspannung des kirchenpolitischen Kurses lockerte einige der restriktiven Maßnahmen.18 Seit Anfang der 1950er Jahre organisierte die katholische Kirche sogenannte »religiöse Kinderwochen (RKW)« als Alternative zu den staatlich gelenkten Freizeitangeboten der FDJ für Kinder und Jugendliche. Sie orientierten sich an alten Formen der christlichen Pfadfinderbewegung und griffen bewusst deren Traditionen aus dem Kaiserreich und der Weimarer Republik auf. Die in Form von Ferienlagern organisierten RKW verbanden religiösen Unterricht, Wanderungen und andere Aktivitäten in der Natur sowie musische Elemente. Sie etablierten sich vor allem in den Diasporagemeinden der größeren Städte, in denen Katholiken deutlich in der Minderheit waren und eine kirchliche Jugendarbeit sowie eine vertiefte Auseinandersetzung der Jugendlichen mit kirchlichen Lehren außerhalb der RKW kaum möglich war.19
17 Vgl. Peter Wurschi: Rennsteigbeat. Jugendliche Subkulturen im Thüringer Raum 1952–1989, Köln u. a. 2007, S. 89–93. 18 Vgl. Ehm: Herde (Anm. 1), S. 167–174. 19 Die erste RKW fanden bereits 1949 statt und breiteten sich in den 1950er Jahren rasch über das gesamte Gebiet der DDR aus. Vgl. Monika Scheider: Religiöse Kinderwoche (RKG), in:
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In den ländlichen Gegenden setzte die Kirche hingegen auf die Einbindung der Jugendlichen in die traditionelle Gemeindearbeit in der Pfarrei. Selbst inoffizielle Mitarbeiter des MfS äußerten sich in ihren Berichten anerkennend über die Form dieser Gemeindeabende, die in der Regel durch den örtlichen Pfarrer geleitet wurden. So wurde das Musizieren oder das Basteln in der Vorweihnachtszeit als pädagogisch wertvoll erwähnt und in den 1950er Jahren intern durchaus als Vorbild für die Arbeit der FDJ bezeichnet.20 Selbst Tanzveranstaltungen wurden in diesem Rahmen durchgeführt und bildeten einen wichtigen Bestandteil der Freizeitgestaltung für Jugendliche im ländlichen Raum.21 Diese Angebote und der damit verbundene gesellschaftliche Einfluss in den Gemeinden und bei Jugendlichen wurden durch das MfS von Beginn an massiv beobachtet. 1967 wurde der Diözesanjugendpfleger im Kreis Heiligenstadt aufgrund seiner Organisation von Wanderungen, Sportveranstaltungen und ähnlichen Freizeitaktivitäten für die katholischen Jugendlichen als »negativer Geistlicher« eingeschätzt, dessen Aktivitäten gegen die Erziehung der Jugend im Sinne der sozialistischen Vorstellungen gerichtet seien.22
Religionsunterricht und Jugendweihe Die schärfsten Konfliktlinien in Bezug auf die Jugend zwischen der Regierung in Ostberlin und der katholischen Kirche lagen auf dem Feld des Religionsunterrichts und der Jugendweihe. Der Religionsunterricht war als Regelfach an staatlichen Schulen bereits 1946 abgeschafft worden; allerdings war es den Kirchen gestattet, freiwilligen Religionsunterricht an den Schulen anzubieten.23 Als Bedingung galt, dass er den regulären Unterricht an den Schulen nicht behindern dürfe, wovon auch die Zuteilung von Räumlichkeiten abhängig gemacht wurde. Ziel dieser Politik war eine klare Abgrenzung zwischen staatlichem und kirchlichem Unterricht.24 Die Kirchen wurden in der Bildungspolitik als Gegenspieler
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Angelau Kaupp, Patrick C. Höring (Hg.): Handbuch Kirchliche Jugendarbeit. Für Studium und Praxis, Freiburg u. a. 2019, S. 357f. Vgl. Ehm: Herde (Anm. 1), S. 172. Vgl. Raabe: SED-Staat (Anm. 6), S. 118f. Vgl. Alexander Seibold: Katholische Filmarbeit in der DDR. »Wir haben eine gewisse Pfiffigkeit uns angenommen«, Münster 2003, S. 29f. Das verfassungsrechtlich gewährte Recht auf Religionsunterricht und das kirchliche Auswahlrecht der Religionslehrer wurde durch die Verwaltungspraxis ausgehöhlt. Über die notwendigen Zulassungsausweise für Religionslehrer entschieden die Schulleiter. Vgl. Viola Vogel: Abgestorben? Religionsrecht der DDR und der Volksrepublik Polen, Tübingen 2015, S. 205f. Vgl. Katharina Grünwald: Das Staatskirchenrecht der DDR im Lichte des Aufeinandertreffens von katholischer Kirche und Marxismus, Berlin 2012, S. 105–107.
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verstanden, wodurch ein starkes Konkurrenzdenken seitens des Staates befördert wurde. Vor allem dort, wo Katholiken in einer starken Minderheit waren, verschwand ihr Religionsunterricht früh vollständig aus den Schulen und verlagerte sich in die Räume der jeweiligen Pfarreien.25 Ab 1958 wurde die Möglichkeit des Angebots von kirchlichem Unterricht auf die achtjährige Grundschule beschränkt. Schon im Dezember 1949 schrieb Preysing an den stellvertretenden Ministerpräsidenten Otto Nuschke: »Die katholischen Eltern stellen mit wachsender Besorgnis fest, dass Kinder in den staatlichen Schulen nicht nur in einer areligiösen Atmosphäre, sondern sogar im Geist der Gottlosigkeit erzogen werden. Diese in unversöhnlichem Gegensatz zum christlichen Elternhaus stehende Erziehung hat den Charakter des Zwangs. Denn die Deutsche Demokratische Republik hält am Staatmonopol in der Schulfrage im Widerspruch zum Elternrecht fest.«26 Für viele Kinder und Jugendliche bedeutete diese Entwicklung, zwischen den staatlich vermittelten Inhalten in der Schule und abweichenden Meinungen im kirchlichen Religionsunterricht zu unterscheiden, was zu einer Sensibilisierung im Umgang mit diesen beiden Meinungswelten führte. In den Schulen des Eichsfelds und der Rhön begannen sich seit den 1950er Jahren spezielle und für die DDR einmalige Strukturen zu entwickeln. Aufgrund des akuten Lehrermangels innerhalb des 5 km-Sperrgebiets wurden in den betreffenden Schulen auch Katholiken in größerer Zahl als Lehrer eingesetzt. Es kam zu einer Art unausgesprochenen Vereinbarung zwischen Eltern, Schülern und Lehrern. Während die Lehrer den ideologischen Druck, vor allem in Bezug auf den Wehrkundeunterricht, geringhielten, bescheinigten die Eltern gegenüber staatlichen Stellen das genaue Gegenteil. Der Anteil von Wehrpflichtleistenden gegenüber Bausoldaten unterschied sich im Eichsfeld kaum vom übrigen Gebiet der DDR. Deutlich geringer als im landesweiten Durchschnitt war jedoch die Zahl junger Menschen, die sich als Zeit- und Berufssoldaten verpflichteten oder bei der Volkspolizei eintraten.27 Der harte Kurs der politischen Machthaber führte zu einer Abschottung des katholischen Milieus. Dies betraf nicht zuletzt die Jugendlichen, die, wollten sie die Bindungen an die Familie und das gewohnte Umfeld nicht gefährden, auf Distanz zu den staatlichen Angeboten gingen. Stattdessen suchten gläubige Jugendliche die Nähe zur Kirche, die durch ihre Struktur und die Weigerung ihre Loyalität zu dem herrschenden politischen System zu verkünden, eine glaubhafte Alternative bot.28 25 Vgl. Tina Kwiatkowski-Celofiga: Verfolgte Schüler. Ursachen und Folgen von Diskriminierung im Schulwesen der DDR, Göttingen 2014, S. 18f. 26 Schreiben Kardinal von Preysings an den stellvertretenden Ministerpräsidenten Otto Nuschke vom 29. Dezember 1949, in: Lange: Kirche (Anm. 10), S. 31f. 27 Vgl. Stöber: Rosenkranzkommunismus (Anm. 7), S. 287–291. 28 Vgl. Kösters: Revolution (Anm. 13), S. 110.
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Besonders deutlich trat der Einfluss, den die Kirche in den katholischen Gemeinden trotz der Repressionen genoss, in der Frage der Jugendweihe hervor. Das staatliche Ersatzritual für Konfirmation und Firmung wurde 1955 in der DDR eingeführt. Ursprünglich aus den freireligiösen Bewegungen stammend, löste sich die Jugendweihe seit Ende des 19. Jahrhunderts von den religiösen Bezügen und wurde zunehmend von der Arbeiterbewegung als säkulares Ritual etabliert. In der Weimarer Republik verschärfte sich der antikirchliche Charakter und die Popularität innerhalb der sozialistischen Jugendbewegungen und Freidenker nahm stark zu. Während das Ritual in Westdeutschland nach 1945 lediglich in einigen Nischen der links orientierten Arbeiterschaft wieder auflebte, wurde es im Osten zu einem wichtigen Baustein der Jugend- und Bildungspolitik der SED. Ein eigener Ausschuss für die Jugendweihe innerhalb der Partei organisierte die Einführung und Umsetzung ab 1955. Spezielle »Jugendstunden« bereiteten die Schüler der 8. Jahrgangsstufe auf das Ritual vor. Es bildete einen wichtigen Hebel bei der staatlich forcierten Loslösung der Jugend von dem Einfluss der Kirchen. Die Beteiligung der Jugendlichen stieg von 17,7 % im Jahr 1955 bis 1989 auf 97,3 % der 14-Jährigen.29 Die katholische Kirche verbot anfangs ihren Gemeindemitgliedern die Teilnahme und drohte mit Exkommunikation.30 Zahlreiche junge Katholiken sahen sich daraufhin vor die schwierige Wahl gestellt, ihre beruflichen Karrierechancen zu gefährden oder mit ihrer Kirche brechen zu müssen. Viele wandten sich mit Schreiben an den jeweiligen Bischof bzw. Generalvikar und schilderten ihre Lage. Die Kirche rückte später allmählich von ihrer Maximalposition ab und sah die Notwendigkeit, sich in der Praxis den gegebenen Umständen anpassen zu müssen. Wohl fürchtete man auch, dass die jungen Gemeindemitglieder mehrheitlich dem Druck nicht standhalten könnten und so ihre kirchliche Bindung gefährdet sei. Der Dechant für das bischöfliche Amt Erfurt-Meiningen formulierte 1984: »Die Jugendweihe sei grundsätzlich abzulehnen und eine Verweigerung zu unterstützen. Man wisse aber um die Zudringlichkeiten, sodass die Teilnehmer ohne Sanktionen rücksichtsvoll be-
29 Vgl. Ulrike Brunotte: Jugendweihe, in: Christoph Auffarth, Jutta Bernard, Hubert Mohr: Metzler Lexikon Religion. Gegenwart – Alltag – Medien, Bd. 2, Stuttgart u. a. 1999, S. 143–145. 30 Der Bischöfliche Kommissar in Meiningen schrieb am 19. Dezember in einem Hirtenbrief, nach einer Beratung der Bischöfe und Bischöflichen Kommissare: »[Die Jugendweihen] haben als Grundlage eine materialistische Weltanschauung und wollen zu ihr hinführen. […] Ich frage: Kann man dem Taufgelübde treu bleiben und zugleich einen Schulungskurs für den Unglauben mitmachen? Kann man zu den hl. Sakramenten gehen und zugleich Gott, den Herrn und Schöpfer, leugnen? Ihr alle müßt wissen, daß es in diesen Fragen keine Halbheiten geben kann: ›Niemand kann zwei Herren dienen‹«; Domkapitular Schönauer: Zur geplanten Jugendweihe. Hirtenbrief des Bischöflichen Kommissars Schönauer vom 19. Dezember 1954, in: Pilvousek: Leben (Anm. 16), S. 220f.
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handelt werden müssten. Auf eine Feier der Jugendweihe im Familienkreis sollten sie aber als ›äußerliches Zeichen‹ verzichten.«31 In den katholischen Gebieten führte diese Praxis zu einer Koexistenz der kirchlichen und der – oftmals lediglich formal begangenen – staatlichen Rituale. Mit der Teilnahme an der Jugendweihe entzogen sich die katholischen Jugendlichen den drohenden Repressalien und konnten sich im privaten Rahmen an der kirchlichen Jugendarbeit beteiligen und die Sakramente empfangen. Dennoch verweigerten auch weiterhin viele von ihnen – ob aus eigener Überzeugung oder durch familiären Druck – die Teilnahme an der Jugendweihe. Tatsächlich war die Teilnehmerzahl in den Landkreisen des Eichsfelds – Heiligenstadt und Worbis – DDR-weit am geringsten. 1981 entfielen von 1092 Elternhäusern des Bezirks Erfurt, in denen keine Jugendweihe stattgefunden hatte, 975 auf die beiden Landkreise. Lediglich in den Städten Leinefelde, Worbis und Dingelstädt näherte sich die Quote dem Landesdurchschnitt an, was auf die zunehmende Ansiedlung von Industriearbeitern im Rahmen des sogenannten Eichsfeldplans seit Ende der 1950er Jahre zurückzuführen war.32 Neben Familie und Kirchengemeinde trat für viele Jugendliche in diesen Städten nun auch das industrielle Arbeitsmilieu als Sozialisierungsfaktor. Um diese Entwicklung zu verstärken, entsandten die zuständigen Stellen der Bezirks- und Parteileitungen gezielt Arbeiter aus anderen Bezirken der DDR in die betreffenden Betriebe. In der landwirtschaftlich geprägten Rhön lassen sich solche Entwicklungen nicht nachweisen. Letztlich folgte die Entscheidung für oder gegen die Jugendweihe bei den jungen Katholiken wohl in der großen Mehrheit rein rationalen Entscheidungen, um sich damit weitere Repressionen zu ersparen.
Jugendliche Opposition Während sich in den ländlichen Gebieten die katholischen Jugendlichen mehrheitlich in der Jugendarbeit ihrer jeweiligen Kirchgemeinden engagierten, bildeten sich in den Universitätsstädten auch Gruppen, die unabhängig von der Kirche agierten. In den katholischen Studentengemeinden wurde offen über soziale Probleme aus religiöser Sicht diskutiert.33 Aus diesem Grund wurden sie schon früh systematisch durch das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) observiert und durch inoffizielle Mitarbeiter unterwandert. Vor allem aus Jena und Rostock liegen umfangreiche Berichte vor, die Auskunft über die Aktivitäten 31 Zit. nach Stöber: Rosenkranzkommunismus (Anm. 7), S. 99. 32 Ebd., S. 102. 33 Keine andere katholische Organisation konnte in der DDR einen vergleichbaren autonomen Status erreichen wie die Hochschulgemeinden. Vgl. Bernd Schäfer: Staat und katholische Kirche in der DDR, Köln u. a. 1999, S. 276f.
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dieser Gruppen geben. Neben religiösen Schriften wurde dort auch westliche Literatur gelesen und diskutiert. Aus dem Jahr 1964 wird beispielsweise über die Lektüre und angeregte Diskussion des Romans 1984 von George Orwell berichtet.34 Die Rezeption von theologischen und philosophischen Texten wie auch von zeitgenössischer Literatur bildete einen Kern der Arbeit in den Hochschulgemeinden. Offenbar erhielten die Studenten diese Literatur durch Kontakte zu westdeutschen Hochschulgemeinden. Seit den späten 1970er Jahren rückten die Themen Bürgerrechte und Ökologie ins Zentrum der Diskussionen. Die evangelischen Landeskirchen stellten der Jugendopposition vielerorts Räumlichkeiten zur Verfügung. Die größte Bekanntheit erlangten die Bluesmessen in der Ostberliner Samaritergemeinde des Pfarrers Rainer Eppelmann. Bereits 1983 nahmen über 7000 Jugendliche an diesen Veranstaltungen teil, wobei nur ein geringer Teil von Ihnen eine kirchliche Bindung aufwies.35 Die große Mehrheit entstammte verschiedenen jugendlichen Subkulturen, die mit den traditionellen Formaten der Kirche wenig gemein hatten.36 Auch in Thüringen wandten sich junge Oppositionelle auf der Suche nach Unterstützung an die Kirchen. Die größte Veranstaltung der jugendlichen Protestbewegung bildete das Festival »Jugend 86«, das 1986 in Rudolstadt stattfand. In den Kirchen und Gemeinderäumen der evangelischen Kirche versammelten sich ca. 2000 Jugendliche aus allen Teilen der DDR.37 Neben Konzerten aus dem Bereich Rock und Punk gab es zahlreiche politische Diskussionsforen.38 Doch die evangelische Landeskirche von Thüringen ging nach dem Festival deutlich auf Distanz, fürchtete sie doch negative Auswirkungen für ihren Kurs des Ausgleichs mit den staatlichen Stellen. Die katholische Kirchenleitung beharrte weiterhin auf ihrem Standpunkt der politischen Nichteinmischung. Viele katholische Studenten forderten im Rahmen der wachsenden Friedensbewegung nun eine stärkere öffentliche Positionierung nach Vorbild der evangelischen Jungen Gemeinden und schlossen sich stellenweise deren Aktionen an, nachdem sie bei ihrer Kirche keine Unterstützung gefunden hatten. Ein zentraler Punkt war die Frage nach dem Umgang mit dem Wehrdienst und der Kritik am schulischen Wehrkundeunterricht. Beides wurde von vielen pazifistisch denkenden Jugendlichen abgelehnt. Der Druck durch die Jugendlichen blieb nicht ohne Folgen. Zahlreiche katholische Pfarrer 34 Vgl. Peter-Paul Straube: Katholische Studentengemeinde in der DDR als Ort eines außeruniversitären Studium generale, Leipzig 1996, S. 135f. 35 Vgl. Michael Rauhut: Ein Klang zwei Welten. Blues im geteilten Deutschland 1945–1990, Bielefeld 2016, S. 294f. 36 Vgl. Neubert: Geschichte (Anm. 9), S. 442. 37 Vgl. Henning Pietzsch: Jugend zwischen Kirche und Staat. Geschichte der kirchlichen Jugendarbeit in Jena 1970 bis 1989, Köln u. a. 2005, S. 275f. 38 Ein detailliertes Bild jugendlicher Protestgruppen in Thüringen liefert Wurschi: Rennsteigbeat (Anm. 17).
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befürchteten, ihre jungen Gemeindemitglieder an die evangelischen Kirchen zu verlieren und forderten die Bischöfe auf, sich politisch für Frieden und Abrüstung zu positionieren.39 Auch westdeutsche Medien berichteten über den steigenden Unmut junger Katholiken in der DDR und deren Kritik an der Haltung der Kirche.40 Anlässlich des Weltfriedenstags 1983 veröffentlichten die katholischen Bischöfe der DDR einen gemeinsamen Hirtenbrief, in dem sie auf die Fragen der Jugendlichen eingingen: »Der Sehnsucht der Jugend auch unseres Landes nach Frieden sollte nicht mit Verdächtigungen, sondern mit Offenheit und Vertrauen begegnet werden. […] Wir können nicht zum Wehrkundeunterricht schweigen. Das Konzil [zweites Vatikanisches] mahnt: ›Wer sich der Aufgabe der Erziehung, vor allem der Jugend, widmet, und wer die öffentliche Meinung mitformt, soll es als schwere Pflicht ansehen, in allen eine neue Friedensgesinnung zu wecken‹. Mit Sorge beobachten wir, wie das Denken in militärischen Kategorien immer mehr zum Bestandteil der schulischen Erziehung und der Berufsausbildung wird.«41 Vorausgegangen war dem Brief ein Besuch der Bischöfe bei Papst Johannes Paul II. im Oktober 1982, der ihnen unter anderem den Einsatz für den Frieden und mehr Verständigung mit der Jugend empfahl.42 Die Kirche begann auch in der DDR, sich gegenüber den Forderungen der Laien, nicht zuletzt auch jenen der Jugendlichen, zu öffnen. Im Mai 1985 organisierte die Bischofskonferenz ein katholisches Jugendtreffen in Berlin, bei dem Jugendliche gemeinsam mit kirchlichen Amtsträgern über gesellschaftliche und politische Themen debattieren.43 Eine ungleich höhere öffentliche Wirkung entfaltete das Katholikentreffen in Dresden 1987, an dem ca. 100.000 Gläubige, darunter zahlreiche Jugendliche, teilnahmen.44 Es war 1984 durch die Berliner Bischofskonferenz, ohne vorherige Absprache mit den staatlichen Stellen, öffentlich angekündigt worden 39 Der AKH war bereits 1970 als Reaktion auf das zweite vatikanische Konzil von katholischen Priestern und Laien gegründet worden und veröffentlichte eigene, unabhängige Stellungnahmen zu kirchenpolitischen Themen. Vgl. Sebastian Holzbrecher: Der Aktionskreis Halle. Eine katholische Reformbewegung in der DDR zwischen Staat und Kirche, in: Günther Wassilowsky, Gregor Wurst (Hg.): Reformen in der Kirche. Historische Perspektiven, Freiburg u. a. 2014, S. 293f. 40 Gegenüber westdeutschen Journalisten beklagten junge Katholiken die Zaghaftigkeit ihrer Bischöfe und gaben an, sich an den Veranstaltungen der evangelischen Jungen Gemeinden zu beteiligen: Wie Höhlenmenschen. Die katholischen Bischöfe in der DDR haben ihre politische Zurückhaltung aufgeben: Ein Hirtenwort zum Frieden soll Verdruß an der Basis dämpfen, in: Der Spiegel, 1983, Nr. 2, S. 41. 41 Zum Weltfriedenstag 1983. Hirtenbrief der Berliner Bischofskonferenz vom 1. Januar 1983, in: Lange: Kirche (Anm. 10), S. 480f. 42 Vgl. Kösters: Revolution (Anm. 13), S. 59. 43 Führender Vertreter des neuen Kurses war der Erfurter Bischof Joachim Wanke; vgl. Neubert: Opposition (Anm. 9), S. 541f. 44 Vgl. Karin Urich: Die Bürgerbewegung in Dresden 1989/90, Köln u. a. 2001, S. 60f.
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und bot erstmals ein breites öffentliches Forum für katholische Gläubige zur Diskussion über die Entwicklungen innerhalb der DDR.45 Obwohl es weiterhin keine organisierte katholische Laienbewegung gab, förderten diese Entwicklungen das Selbstbewusstsein der Katholiken bei der Artikulation von Reformforderungen. Trotz der anfänglich zögernden und abwartenden Haltung der Bischöfe, fanden sich unter den Bürgerrechtlern und Protestierenden im Herbst 1989 auch zahlreiche katholische Jugendliche. Sie beteiligten sich an den Demonstrationen und Friedensgebeten in allen Gebieten der DDR. Mit der Erklärung der Berliner Bischofskonferenz zur Gegenwärtigen Situation in Staat und Gesellschaft vom 11. November gab die Kirche endgültig ihre politische Zurückhaltung auf und forderte ihre Mitglieder auf, politische Verantwortung zu übernehmen. Sie entsprachen damit Forderungen, die speziell von der katholischen Jugend seit über einem Jahrzehnt artikuliert worden waren. Zahlreiche Katholiken engagierten sich daraufhin in den Runden Tischen und den entstehenden politischen Bewegungen und nahmen ab 1990 politische Positionen in verschiedenen Parteien und Ämtern war.46
Fazit Durch die politische Situation in der DDR war es für katholische Jugendliche nicht möglich, eigenständige Organisationen wie in der Bundesrepublik zu gründen. Lediglich in den Hochschulgemeinden konnten sich unabhängige Diskussionszirkel bilden. Auch die Jugendarbeit der Amtskirche wurde durch den Monopolanspruch der FDJ und das sozialistische Erziehungsideal der SED stark eingeschränkt. Vorrangiges Ziel der Kirche war es, die Bindung der jungen Mitglieder an die Gemeinden zu bewahren und die sozialistischen Einflüsse in Schule und Freizeit zu beschränken. Ihre Strategie des Überwinterns ging von der Befristung und der Hoffnung auf Überwindung des politischen Systems aus. Dennoch gaben sich viele junge Katholiken, bestärkt durch die Beschlüsse des zweiten Vatikanischen Konzils, nicht mit diesem Rückzug in ein Nischendasein zufrieden und forderten von ihrer Kirche die Beteiligung an gesellschaftlichen 45 Vgl. Kösters: Revolution (Anm. 13), S. 64. 46 Zwar beteiligte sich die katholische Kirche in deutlich geringerem Maße als die evangelische Kirche an den Prozessen, die schließlich zur friedlichen Revolution führten, doch stellte sie sich ab November 1989 mit ihrer vollen Autorität hinter die Forderungen der Bürgerrechtsbewegung. Vgl. Michael Richter: Die friedliche Revolution. Aufbruch zur Demokratie in Sachsen 1989/90, Bd. 1, Göttingen 2010, S. 168–170. Im Eichsfeld emanzipierte sich die katholisch dominierte CDU schon im November von der Nationalen Front und forderte, die Zusammenarbeit mit der SED zu beenden. Viele Funktionsträger waren zuvor in der Jugendarbeit ihrer Pfarreien aktiv gewesen. Vgl. Ute Schmidt: Von der Blockpartei zur Volkspartei? Die Ost-CDU im Umbruch 1989–1994, Opladen 1997, S. 264f.
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Diskussionen, allen voran der Friedensbewegung, und eine klare Positionierung gegenüber der Machthabern. In den 1980er Jahren sahen sich die ostdeutschen Bischöfe gezwungen, dem Druck der Jugendlichen und Laien nachzugeben und mehr Raum für Diskussion und politische Betätigung zu gewähren. An der Friedlichen Revolution 1989 waren zahlreiche oppositionelle katholische Jugendliche beteiligt, die sich später in den verschiedenen Foren und Organisationen einbrachten. Sie gestalteten die gesellschaftliche und politische Transformation entscheidend mit. Besonders in den katholischen Gebieten der Rhön und des Eichsfelds konnten viele Akteure in dieser Zeit ihre organisatorische Erfahrung in die politische Arbeit einbringen, die sie zuvor in der Jugendarbeit ihrer Kirche erworben hatten.
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Knut Bergbauer
»Wider die Rote Assimilation«. Die Auseinandersetzungen über Sozialismus, Kommunismus und Zionismus in der jüdischen Jugendbewegung Deutschlands*
Der vor einigen Jahren verstorbene Historiker Arnold Paucker, langjähriger Direktor des Londoner »Leo Baeck Institutes«, war, was den jüdischen Widerstand in Deutschland im Nationalsozialismus betraf, ein ausgewiesener Spezialist. Es war aber nicht nur sein professionelles und profundes Wissen, sondern auch eigenes Erleben, das seine Texte darüber bestimmt hat. In einem dieser Texte, der im Jahre 2006 erschien, findet sich der Absatz: »Zur Attraktivität des Kommunismus«. Darin führte Paucker aus: »Es ist heute mehr als angebracht, die Frage aufzuwerfen – und ich stelle sie mir auch noch heute immer wieder –, warum gerade in der Zeit von 1935 bis 1941 für so viele aus meiner eigenen deutsch-jüdischen Generation…[…] der Kommunismus eine so starke Anziehungskraft besaß. […] Der Antifaschismus stand zunächst zweifellos im Vordergrund. […] Hinzu kam 1936 der Spanische Bürgerkrieg. […] Ende 1936, unter der Nase der Gestapo, im mit Franco verbündeten Deutschen Reich, sangen wir ›Zu den Waffen, Arbeiter Europas – zu den Waffen, Bürger von Madrid‹ leise in einem Berliner Kohlenkeller, oder schmetterten es, wenn wir uns unbeobachtet im Grunewald glaubten […]«.1 »Wir«, das war Arnold Pauckers Gruppe der »Werkleute«, eines Bundes der jüdischen Jugendbewegung, der sich erst ab 1933 zum Zionismus zu bekennen begann. Paucker, wer ihn erlebt hat, wird das bestätigen, hat sich später, wie er schreibt: »…nach einigen jugendlichen Irrwegen, zu einem freiheitlichen oder demokratischen Sozialismus durchgerun* Dieser Text ist die erweiterte Fassung eines Vortrages, den ich im November 2018 in Dr. Christian Dietrichs Kolloquium: Klassenkampf und Judenhass? Antisemitismus in der Arbeiterbewegung in Quellen und Dokumenten in Frankfurt a. d. Oder halten konnte. Die Möglichkeit der erweiterten Quellensammlung und der Ausarbeitung des Textes wurde erst durch meine Mitarbeit im DFG-Projekt: »Nationaljüdische Jugendkultur und zionistische Erziehung in Deutschland und Palästina« an der TU Braunschweig (Projektnummer: 392108129, Leitung: Prof. Dr. U. Pilarczyk) möglich. 1 Arnold Paucker: Hoffnung und Enttäuschung. Jüdische Jugendliche und Kommunismus – Einige persönliche Anmerkungen in: Jürgen Matthäus, Klaus-Michael Mallmann (Hg.): Deutsche, Juden, Völkermord. Der Holocaust als Geschichte und Gegenwart, Darmstadt 2006, S. 104f.
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gen.«2 Er blieb jedoch, in seiner Kritik an der kommunistischen Bewegung, bei einer Haltung, die immer hervorhob, dass man diese Bewegung weder beschönigen noch pauschal verdammen sollte. Die genaue Beschreibung, die persönlichen Entwicklungen und Entscheidungen der Akteur*innen, so Paucker, würden dagegen zu einem angemessenen und differenzierten Bild führen. Die jüdische Jugendbewegung in Deutschland gehört zuallererst in den Kontext der bürgerlichen deutschen Jugendbewegung. Allerdings sollte sie nicht, wie das gelegentlich geschieht, einfach unter den Begriff »Deutsche Jugendbewegung« subsumiert werden. Zu unterschiedlich waren einige der Entstehungsbedingungen, Formen und Ziele.3 Aber, ähnlich wie bei einer Minderheit der nicht-jüdischen »Freideutschen Jugend« am Ende des Ersten Weltkrieges4, bahnten sich auch in der jüdischen Jugendbewegung – in der Zeit zwischen dem Ersten Weltkrieg und der nationalsozialistischen Machtergreifung – sozialistische Ideen den Weg.5 Der geläufige und auch hier benutzte Terminus der »roten Assimilation« bleibt für diesen Prozess ambivalent. Wurde »Assimilation« anfänglich, zu Zeiten der jüdischen Aufklärung (Haskala), noch positiv gedeutet, unterlag der Begriff spätestens im 20. Jahrhundert einem Bedeutungswandel. Jetzt wurde darunter meist eine Auflösung der jüdischen Minderheit in der Mehrheitsgesellschaft verstanden; »Assimilant« wurde zum Schimpfwort und Stigma in den innerjüdischen Auseinandersetzungen. Die Standortbestimmungen und Auseinandersetzungen um Zionismus und Kommunismus / Sozialismus begannen in der jüdischen Jugendbewegung aber schon fünfzehn Jahre vor Arnold Pauckers ersten Erfahrungen. Sie betrafen vor allem junge Juden und Jüdinnen, die zwischen 1890 und 1925 geboren wurden. »Generation Exodus« hat der kürzlich verstorbene Historiker Walter Laqueur, wie Paucker im Bund der »Werkleute« sozialisiert, den jüngeren Teil dieser Generationenlagerung genannt.6 Es handelt sich hier um die Geburtsjahrgänge 1910 bis 1925. Das Jahr 1917 lieferte hier Initialzündungen in beide Richtungen. Mit der Balfour-Deklaration vom November 1917 war erstmals die Idee eines jüdischen Staates in Palästina auf eine praktische Grundlage gestellt worden. Zur
2 Ebenda, S. 110. 3 Hermann Meier-Cronemeyer: Jüdische Jugendbewegung, in: Germania Judaica, Neue Folge 27/28, Köln 1969. 4 Reinhard Preuss: Verlorene Söhne des Bürgertums. Linke Strömungen in der deutschen Jugendbewegung 1913–1919, Köln 1991; Antje Harms: Von linksradikal bis deutschnational. Jugendbewegung zwischen Kaiserreich und Republik, Frankfurt a. M. u. a. 2021. 5 Zum Verhältnis von bürgerlicher Jugendbewegung und Arbeiterjugend, siehe auch: Jahrbuch des Archivs der deutschen Jugendbewegung, Bd. 10/1978. 6 Walter Laqueur: Generation Exodus. The Fate of Young Jewish Refugees from Nazi Germany, Hanover NH u. a. 2001 (dt. Walter Laqueur: Geboren in Deutschland. Der Exodus der jüdischen Jugend nach 1933, Berlin u. a. 2000).
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selben Zeit schien mit der Oktoberrevolution in Russland eine neue, kommunistische Epoche anzubrechen. Die jüdische Jugendbewegung in Deutschland war da erst fünf Jahre alt. Seit 1912 existierte der zionistische Wanderbund »Blau-Weiss«, geprägt von Ideen des deutschen Wandervogels, wie auch von zionistischen Vorstellungen eines aufgeklärten deutsch-jüdischen Bürgertums. 1916 begann zudem in Berlin, unter der Leitung von Siegfried Lehmann, die Arbeit des »Jüdischen Volksheims«. Hier, in der im Scheunenviertel gelegenen Dragonerstraße, kamen »Ost-« und »WestJuden« zusammen. Im »Volksheim« wurden vor allem die Erfahrungen und Traditionen ostjüdischen Lebens erfahrbar gemacht. Dazu gehörten auch sozialistische Ideen, die große Teile des jüdischen Proletariats Osteuropas schon früh geprägt hatten. Auch außerhalb des »Volksheim-Kreises« bemühten sich zu dieser Zeit Einzelne, was mögliche politische Orientierungen betraf, um Klärung. So führten bspw. bei den Brüdern Werner7 und Gerhard Scholem8 die Überlegungen um Kommunismus und Zionismus in zwei sehr unterschiedliche Lebenswege. Zwei Jahre nach Gründung des »Volksheims« – 1918 – war in Wien mit Siegfried Bernfelds »Jerubbaal«, eine Zeitschrift entstanden, in der sich erstmals junge Jüdinnen und Juden über Zionismus und Kommunismus austauschen konnten. Unter den Autor*innen fanden sich Mitglieder der Wiener Jugendkulturbewegung, des Wiener, Berliner, Breslauer und Prager »Blau-Weiss« genauso wie Aktivisten von Hapoel Hazair. Andere Artikel stammten von Martin Buber, Fritz Sternberg (damals Poale Zion, später sozialistischer Theoretiker), Theodor Reick (später ein bekannter Psychoanalytiker), Heinrich Süßkind (späterer Chefredakteur der Roten Fahne; in der Sowjetunion ermordet) oder Herbert Weichmann (ehemaliger Wandervogel, später SPD, ab 1965 Erster Bürgermeister von Hamburg). Einen nachhaltigen Einfluss auf die jüdische Jugendbewegung konnte man hier jedoch noch nicht ausmachen. Es sind jedoch gerade die Netzwerke von Freundeskreisen, Familie, Schulklasse oder Jugendbund, die für diese Fragen genauer berücksichtigt werden sollten. Der wichtigste Impuls für die Auseinandersetzung mit dem Kommunismus in der jüdischen Jugendbewegung kam erst wenige Jahre später aus dem »Jungjüdischen Wanderbund« (JJWB), einem Jugendbund, der sich bis dato als »neutral« verstanden hatte. Im Frühjahr 1922 meldete sich der Elberfelder Rabbinersohn Albert Norden9, Mitglied des JJWB, mit »Rundbriefe(n) der radikal7 Ralf Hoffrogge: Werner Scholem. Eine politische Biographie (1895–1940) Konstanz u. a. 2014; Mirjam Zadoff: Der rote Hiob. Das Leben des Werner Scholem, München 2014. 8 Gershom Scholem: Von Berlin nach Jerusalem, Berlin 1994. 9 Albert Norden (1904–1982), JJWB, KPD, Redakteur kommunistischer Zeitungen in Halle und Essen, ab 1935 Flucht und Emigration nach Prag, Paris und New York, 1946 Rückkehr nach Deutschland (SBZ/DDR), Journalist und Funktionär der SED, Mitglied des Staatsrates und
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sozialistischen jüdischen Jugend« zu Wort. »Ja wir glauben«, so Norden, »daß die Klassenhaftigkeit der heutigen Gesellschaft ein weit wichtigeres Problem als die Rassenfrage ist […]«.10 Seine Position erläuterte er noch einmal im »Jungjüdischen Wanderer«, dem Fahrtenblatt des JJWB, im Juli 1922. Der eigentlich neutrale JJWB, so formulierte er hier, sei in den letzten Jahren mehr und mehr in ein nationaljüdisches Fahrwasser manövriert worden. Man habe sich außerdem weitgehend in geistige Oasen und Siedlungsidyllen zurückgezogen. Dagegen, so Norden, könne man nur durch das »[…] restlose Niederkämpfen der alten Institutionen, die alles sich regende Gute schon im Keime ersticken, wenigstens die Vorbedingungen einer, später einmal, paradiesischen Weltordnung[schaffen]«11. Deutlicher kann man Messianismus nicht beschreiben. Zu dieser Zeit wurde die Frage nach der politischen Orientierung des JJWB aber nicht nur in der Elberfelder Ortsgruppe gestellt. So war die Juni-Ausgabe 1922 des »Jungjüdischen Wanderer« explizit als »Sozialismus-Heft« konzipiert worden. Es war bei der zunehmenden politischen Polarisierung der jüdischen Jugendbewegung gerade der JJWB, der eine ganze Reihe seiner Aktiven an die sozialistische und kommunistische Bewegung verlieren sollte, besonders als sich im Bund – ab 1924 /25 – die zionistisch-sozialistische, d. h. chaluzische Richtung durchzusetzen begann. Chaluz heißt Pionier und Chaluziuth beschreibt einen Weg, der von der beruflichen Ausbildung oder Umschulung – meist in landwirtschaftlichen, handwerklichen oder hauswirtschaftlichen Berufsfeldern (auf Hachschara = Tauglichmachung) – zur Aliya (= Aufstieg) nach Palästina führen sollte. Für Palästina galt dann die Eingliederung in einen Kibbuz als Verwirklichung des Chaluz. Der Nürnberger JJWB-Führer Siegfried Adler wählte in dieser Entscheidungssituation den »Deutschjüdischen Wanderbund Kameraden« als Zwischenstation. Adler war auf der Suche nach Arbeit nach Königsberg gekommen. Hier hatte um 1924/25 eine »sozialistische« Richtung innerhalb der »Kameraden« ihren Anfang genommen. Ihre Führer waren der Tischlergeselle Max Fürst und der Jurastudent Hans Litten; Siegfried Adler schloss sich deren Gruppe an. Ohne den JJWB ganz aus den Augen zu verlieren, lohnt es sich, auch einen Blick auf die »Kameraden« und deren Auseinandersetzungen mit dem Sozialismus zu richten. Dieser Bund war mitten im Ersten Weltkrieg als antizionistische Alternative
Politbüro, »Chefagitator« der SED; s. a. Norbert Podewin: Albert Norden. Der Rabbinersohn im Politbüro, Berlin 2001 [2003]. 10 Rundbriefe der radikal-sozialistisch jüdischen Jugend, 1922, Nr. 1, Februar. 11 Albert Norden: Tendenz in den Bund, in: Der Jungjüdische Wanderer. Fahrtenblätter des Jungjüdischen Wanderbundes, Juli 1922, S. 8f.
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gegen den »Blau-Weiss« gegründet worden.12 Zusammen mit Stefanie SchülerSpringorum hatte ich mich seit Ende der 1990er Jahre mit dem »Schwarzen Haufen«, einer linken Strömung innerhalb der »Kameraden«, beschäftigt.13 Dabei wurde die Fragestellung, wie jüdische Jugendliche zum Kommunismus / Sozialismus kommen konnten, immer wieder bedeutsam. Der schon erwähnte Siegfried Adler erläuterte seine Haltung dazu 1926, in einem Brief an Julius Freund, den Bundesführer der »Kameraden«: »Ich halte den Austritt aus der Religionsgemeinde für notwendig. Ich leugne nicht, dass der Austritt weitgehendere Wirkungen hat wie der Austritt irgend eines Deutschen aus der evangelischen oder katholischen Kirchengemeinde. […] Ich habe natürlich nicht die Absicht mich damit vom Judentum zu trennen…[…] denn es ist nicht zu leugnen, dass unsere Gemeinschaft etwas volksähnliches hat. Ich bin ganz bewußter Jude u.[nd] werde nie mein Judesein verleugnen.14« Dennoch war es zu dieser Zeit meist keine Entweder-Oder Entscheidung. Man konnte dem jüdischen Wanderbund der »Kameraden« angehören, war aber gleichzeitig Mitglied in der SAJ, dem SJV, KJO oder KJVD15. Dazu noch einmal Arnold Paucker mit seinen Erfahrungen aus den Jahren nach 1933: »[…] die Dinge waren doch in einem ständigen Fluss. Bei vielen jüdischen Jugendlichen, die vornehmlich aus jüdischen Motiven handelten, entwickelte sich langsam das Gefühl einer allgemeinen antifaschistischen Solidarität; jüdische Sozialisten und Kommunisten,
12 Bernhard Trefz: Jugendbewegung und Juden in Deutschland. Eine historische Untersuchung mit besonderer Berücksichtigung des »Deutsch-Jüdischen Wanderbundes Kameraden«, Frankfurt a. M. 1999. 13 Knut Bergbauer, Stefanie Schüler-Springorum: »Wir sind jung, die Welt ist offen…«. Eine jüdische Jugendgruppe im 20. Jahrhundert, Berlin 2002; Stefanie Schüler-Springorum: Jugendbewegung und Politik. Die jüdische Jugendgruppe »Schwarzer Haufen«, in: Tel Aviver Jahrbuch, 1999, Nr. 28, S. 159–209; dies.: Die »Mädelfrage«. Zu den Geschlechterbeziehungen in der deutsch-jüdischen Jugendbewegung, in: Marion Kaplan, Beate Meyer (Hg.): Jüdische Welten. Juden in Deutschland vom 18. Jahrhundert bis in die Gegenwart, Göttingen 2005, S. 136–154; dies.: »Dazugehören«. Junge Jüdische Kommunisten in der Weimarer Republik, in: Yotam Hotam (Hg.): Deutsch-jüdische Jugendliche im »Zeitalter der Jugend«, Göttingen 2009, S. 167–180; Knut Bergbauer: »Der eben an uns vorüberging«. Rudi Arndt – ein jüdischer Kommunist im Widerstand, in: Transversal. Zeitschrift für jüdische Studien, 2010, Nr. 2, Graz, S. 29–49; ders.: Von Zweifel und Zuversicht: Hanna und Walter Herz. Trotzkisten im Widerstand, in: Hans Coppi, Stefan Heinz (Hg.): Der vergessene Widerstand der Arbeiter. Gewerkschafter, Kommunisten, Sozialdemokraten, Trotzkisten, Anarchisten und Zwangsarbeiter, Berlin 2012, S. 171–184. 14 Siegfried Adler (Ahlen) an Julius Freund, 23. XII. 1926, in: Stiftung »Neue Synagoge Berlin Centrum Judaicum« – Archiv, (CJA) 75 C, WA 1, Bd. 15, S. 64. 15 SAJ = Sozialistische Arbeiterjugend, Jugendorganisation der Sozialdemokraten; SJV= Sozialistischer Jugendverband, Jugendorganisation der 1931 gegründeten linkssozialistischen Sozialistischen Arbeiterpartei; KJO = Kommunistische Jugendopposition, Jugendorganisation der 1928/29 gegründeten Kommunistischen Partei (Opposition); KJV = Kommunistischer Jugendverband, Jugendorganisation der Kommunistischen Partei.
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die sich zunächst nur als Antifaschisten gesehen hatten, empfanden bei der sich verschärfenden Verfolgung oft auch ein zunehmendes jüdisches Bewußtsein.«16 Diese Wahrnehmungen lassen sich problemlos auch auf die Jahre der Weimarer Republik rückübertragen, setzt man anstatt »Antifaschismus« – »soziale Auseinandersetzungen«. Da die ersten »Kameraden«-Gruppen explizit aus antizionistischer Initiative entstanden waren, blieb die zionistische Option – auch weil es schon entsprechende zionistische Bünde gab – diesem Bund lange verschlossen. Ein »Mittleren-Rundbrief« der »Kameraden« vom April 1931 illustriert das Spektrum zionistischer und antizionistischer Vorstellungen im Bund sehr gut. Für (Jo)Achim Goldmann etwa war jüdischer Nationalismus lediglich eine spezifische Spielart der Assimilation, die vom eigentlichen Ziel, der Verwirklichung des Judentums in der messianischen Idee, ablenke. Demgegenüber sah Rose Ballin in den Ideen jüdischer Gemeinschaftserziehung in Palästina eine interessante pädagogische Option. Max Hanns Kohn argumentierte als sozialistischer Klassenkämpfer dagegen: »England konnte also Palästina zur Erhaltung und Festigung seines Kolonialreiches gebrauchen und unterstützte deshalb die jüdische Nationalbewegung. Die Zionisten wurden nun als Stosstrupp des englischen Imperialismus, als Vorwand vorgeschickt. Gewiss, ich setze keinerlei Zweifel in die ideale Gesinnung vieler, ja der meisten Zionisten, vor allem derer, die aus der Jugendbewegung kommen. […] [aber] …] [ jeder der die gerechte Sache der Araber höher schätzt als die imperialistischen Machtinteressen Englands, muß auf Seiten dieser Bewegung – gegen den Zionismus – stehen«.17 Die majoritäre Strömung des Bundes der »Kameraden« war aber seit Mitte der 1920er Jahre, Hermann Gersons »Kreis«, der bewusst »jüdisch« agierte. Das bedeutete, dass man sich eingehend mit jüdischer Religion, Geschichte, Kultur und Pädagogik beschäftigte, aber (noch) auf die zionistische Option verzichtete. Noch die ersten Zirkulare der »Werkleute«, den Nachfolgern des »Kreis« nach Ende der »Kameraden« 1932, wurden in diesem Sinn verfasst. Dagegen machte man deutlich: »Eine einheitliche Stellung zu den Fragen der deutschen Politik erscheint für den Bund nicht notwendig. Nur eine Grenzlinie ist zu ziehen. Die Zugehörigkeit zur KPD ist mit der Zugehörigkeit zu unserem Bunde nicht vereinbar.«18 Im »Jungjüdischen Wanderbund« wurde hingegen, betrachtet man den gesamten Zeitraum zwischen 1920 und 1933, differenzierter verfahren. Zwar wurden hier schon 1921/22 Ausschlüsse aus dem Bund mit der Zugehörigkeit zur 16 Arnold Paucker: Nachwort, in: Wilfried Löhken, Werner Vathke (Hg.): Juden im Widerstand. Drei Gruppen zwischen Überlebenskampf und politischer Aktion. Berlin 1939–1945, Berlin 1993, S. 206. 17 Max Hanns Kohn: Engländer, Araber, Juden, in: 7. Mittleren-Rundbrief. Kameraden, April 1931. 18 Werkleute, Bund deutsch-jüdischer Jugend. Entschließung über das Bundesziel, zitiert nach: Meier-Cronemeyer: Jugendbewegung (Anm. 3), S. 85.
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KPD begründet.19 Dabei dürfte vor allem Albert Nordens Anregung einer »kommunistische[n] Zellenbildung« im Bund von Bedeutung gewesen sein. Es gab aber auch Zeitphasen, in denen sich der Bund zwar einerseits vom Kommunismus distanzierte, ohne andererseits deswegen explizite Ausschlüsse zu seiner Handlungsmaxime zu erklären. Obgleich Fragen des »Sozialismus« schon seit mindestens 1921 in diesem Bund auftauchten, wurden sie erst 1924/25 existentiell. Die »Neutralität« des Bundes stand zur Disposition und wurde 1925 mit dem Beitritt von »Brith Haolim« und der Festlegung des Bundes auf einen chaluzisch-zionistischen Kurs zementiert. Austritte von »Neutralen« und jenen, die gehofft hatten, den Bund in kommunistisches Fahrwasser steuern zu können, waren die Folge. Aber wer gedacht hatte, damit wäre alles geklärt, musste erleben, dass das Verhältnis des JJWB zum Kommunismus in den Jahren bis 1933 nie spannungsfrei blieb. Siegfried Kanowitz, Arzt und ehemaliger Blau-Weiss-Führer, war 1928 für die Zionistische Vereinigung (ZVfD) als Gast und Beobachter auf dem JJWB-Bundestag in Scharzfeld/ Harz und schrieb über diese Frage: »In letzter Zeit hat offenbar eine Reihe von Menschen den JJWB verlassen um in die KPD einzutreten, wie überhaupt der JJWB gezwungen ist, sich dauernd gegenüber Elementen abzugrenzen, die der KPD nahestehen und zum Abfall vom Zionismus bereit sind. In den Debatten wurde immer wieder betont, dass die ›politischen Aktivisten‹ dauernd der Versuchung unterliegen in die KPD einzutreten.«20 Kanowitz’ Sicht war jedoch keinesfalls »neutral«, insbesondere da sich die »bürgerlichen« Zionisten der ZVfD zu gleicher Zeit zunehmenden Angriffen von jugendlich-sozialistischen Aktivisten des JJWB ausgesetzt sahen. Um keine Missverständnisse zu provozieren: Das Hauptthema im JJWB, mindestens seit 1925, waren Fragen des Chaluziuts: der Ausbildung junger Aktivisten und Aktivistinnen in Hachschara-Stätten, deren Übersiedlung nach Palästina und das Leben im Kibbuz. Schon 1926 warnte der Gothaer Fritz Noack auf einer Führertagung des JJWB: »Ich bin zur Überzeugung gekommen, dass wir unsere Menschen für eine Utopie erzogen haben. Wir erzählten unseren Menschen, wie man in einer idealen Welt leben kann, erzogen sie aber nicht dahin, diese Arbeitsgesellschaft erst zu schaffen. Und daher kommt es, dass unsere Menschen, wenn sie ins Land kommen versagen. […] Es gibt in Palästina keine sozialistische Gesellschaft.«21 Doch solange man im »Galuth« aktiv war (oder 19 Wolfgang Melzer, Werner Fölling: Biographien jüdischer Palästina-Pioniere aus Deutschland, Opladen 1989, S. 168f. 20 Siegfried Kanowitz: Bericht über den Bundestag des JJWB vom 29. bis 31. Juli in Scharzfeld, S. 2, in: Ghetto Fighters House – Archives, Lohamei HaGeta’ot (GFH) Holding Registry (HR), Nr. 025345, S. 24. 21 Bericht über die Führertagung in Magdeburg, in: Bundesleitung des Jung Jüdischen Wanderbund – Choser Gimmel (3) 28. 01. 1926, Anl., S. 1.
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werden musste), standen auch Fragen politischer Orientierung im Herkunftsland auf der Tagesordnung. Wie man jedoch mit der KPD umzugehen gedachte, war auch innerhalb des Bundes strittig. Auf dem Bundestag zu Pfingsten 1926 hatten sich einige Führer für eine faktische Unvereinbarkeit ausgesprochen. Georg Lubinski aus der Bundesleitung ging dagegen von einem komplexen Prozess aus. Er schrieb darüber: »Walter Heilbrunn hat aus der logischen Unvereinbarkeit die organisatorische gefolgert, nach meiner Meinung zu Unrecht; es ist nötig diese Entscheidung zwischen beiden ›Lieben‹, die sich wirklich ausschließen, langsam reifen zu lassen. Für die Zwischenzeit kommt es darauf an, zu beobachten und klar zu sehen«.22 Vor allem aber kam es immer wieder darauf an, die »sozialistische Grundlage des Bundes« zu bestimmen. Das Mitteilungsblatt des JJWB vom Mai 1927 befasste sich fast allein mit dem Thema »Bund und Politik«. Es hätte ebenso gut »Bund und Partei« heißen können. Fritz Noack reklamierte hier einen antimarxistischen Sozialismus für den Bund, wie er ihn in Gustav Landauers »Sozialistischen Bund« zu sehen meinte. Mordechai Schattner warnte dagegen am Beispiel der kommunistischen Kindergruppen vor der Indoktrinierung der Jüngeren. Zugleich fand sich aber auch die Stimme von Siegfried Moss aus München, der freimütig eingestand: »Deshalb bin ich bereit, die Partei mit allen ihren notwendigen Übeln und Lastern als einzig möglichen Rahmen meiner Persönlichkeit anzuerkennen und mich ihr vollständig zur Verfügung zu stellen. Mein Milieu, mein Heim ist der Bund, mein Kampfplatz, an dem mich mein Pflichtgefühl stellt, die Partei.«23 Es ist nach diesem Statement nicht verwunderlich, dass der Weg Siegfried Moos bald darauf in die KPD führte.24 Auf dem Bundestag 1928 wurde schließlich der erste bindende Unvereinbarkeitsbeschluss des JJWB in Richtung der KPD verabschiedet. Man erinnerte in den Publikationen des JJWB, vor allem wohl um potentielle Häretiker abzuschrecken, auch immer wieder an die Verfolgung der Hashomer Hazair- und Hechaluz-Aktivisten in Sowjet-Russland, die ähnliche chaluzische Ziele hatten wie der eigene Bund. Nach dem Unvereinbarkeitsbeschluss trat der Darmstädter Fritz Weissbarth aus dem Bund aus und begründete seinen Schritt folgendermaßen: »Dieser Typ der sozialistischen Intellektuellen regiert bei uns [im Bund; KB], denen der Sozialismus nur ihr Feigenblatt ist, ihre bourgeoise Blösse zu verbergen. […] Wenn wir Zionismus meinen, so bedeutet das Gesundung des Volkes, wenn die Blumenfeld25 und Genossen vom jüdischen Volk reden, meinen 22 Bundestag 1926, in: JJWB Choser Waw, 1926, Nr. 6 v. 6. Juni 1926, S. 2. 23 Ebd.: Bund, Partei, Politik, S. 18. 24 Merylin Moos: Beaten but not Defeated – Siegfried Moos: A German Anti-Nazi who settled in Britain, Roplay 2014. 25 Kurt Blumenfeld (1884–1963), Präsident der Zionistischen Vereinigung für Deutschland (ZVfD).
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sie zukünftige Profitrate. Und die Bundesleitung sitzt mit diesen Henkern der Chaluziuth an einem Tisch, statt ihnen ins Gesicht zu schreien, ihr seid die wahren Schuldigen am heutigen Zustand, ihr müßt euer Vermögen hergeben, die Poalim setzen ihr Leben für ihr Volk ein.«26 Seine Kritik traf den bürgerlichen Zionismus, allerdings mochte sich Weissbarth aber auch nicht der KPD – »aus politischen Gründen«, wie er schrieb – anschließen. Im »Jungen Juden«, dem vielleicht repräsentativsten Zirkular des Bundes, das von 1927 bis 1931 erschien, beschäftigte man sich neben den Anforderungen und Beschreibungen chaluzischen Lebens auch immer wieder mit Fragen des Sozialismus. In einem nicht gezeichneten Brief wandte sich der Autor im Januar 1928 an einen der Ausgetretenen: »Du glaubst nicht«, schrieb er, »[…] daß Palästina die Lösung der Judenfrage weder wirtschaftlich noch kulturell bringen wird. Machst Du, wenn Du Dich jetzt zur KP wendest, nicht den gleichen Fehler, daß du vergleichst zwischen einer Wirklichkeit wie Palästina und einer Bewegung, als die sich der Kommunismus darstellt? Wir vergleichen viel zu selten Rußland mit Palästina, wir vergleichen immer zwischen dem Kommunismus und Palästina.[…] Niemand verlangt von dem Kommunismus, daß er in den 10 Jahren seiner Existenz nach der russischen Revolution das soziale Problem in der Welt gelöst habe, während Du die Lösung der Judenfrage innerhalb der 10 Jahre nach der Balfour-Deklaration vom Zionismus verlangst […].«27 Der Verfasser des Briefes hatte zudem noch andere Einwände: »Wir sind Menschen aus dem Bürgertum, die trotz ihres sozialistischen Bewußtseins mit ungeheuer vielen, sehr festen Banden mit dem Bürgertum verknüpft sind. […] Auch im Zionismus kann man Bourgeois bleiben, oder werden, aber ich behaupte […], daß wir dann im Zionismus eher zu unserer Tat kommen als im Kommunismus, daß wir so durch die aktivste Teilnahme in der uns gemäßen Form eher der List des Bürgertums entkommen.«28 Im März 1930 formulierte Georg Lubinski ebenfalls im »Jungen Juden« eine weitere, scheinbar notwendige Abgrenzung: »Es hat sich innerhalb des Bundes eine zahlenmäßig keineswegs starke, aber geistig regsame und politisch aktive Gruppe gebildet, die sich als ›linke Opposition‹ bezeichnet. Die Gruppe steht politisch auf dem Standpunkt der KPD, ohne indes deren Kampf gegen den Palästinaaufbau zu billigen. Dem Palästinaaufbau in der gegenwärtigen Form steht die ›linke Opposition‹ zwar auch ablehnend gegenüber, ohne aber gegen die Schaffung einer sozialistischen nationalen Heimstätte für das jüdische Volk in Palästina zu sein. […] [Es] […] wird der Zwiespalt zwischen Kommunismus und Palästinaaufbau, solange ein junger Mensch mit ihm zu ringen hat, kein Anlaß sein, seine Zugehörigkeit zum 26 JJWB Rundschreiben, 1928, Nr. 2 März, S. 15. 27 Ein Brief, in: Der junge Jude, 1928, H. 2, Januar. 28 Ebd.
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Bund zu lösen. Wenn aber Genossen, die schon längere Zeit im Bund sind, das Gefühl dafür verloren haben, daß sie sich in einem Zwiespalt befinden […] dann ist für sie im Bunde kein Raum mehr«.29 Wenig später wurde diese Opposition aus dem Bund ausgeschlossen. Der vielleicht eindrücklichste Beitrag erschien jedoch in der Dezemberausgabe von 1930 aus der Feder von Elieser Liebenstein. Liebenstein sah sich, Bund und Welt inmitten eines Scherbenhaufens und nicht erfüllter Voraussagen und Hoffnungen. Die Weltwirtschaftskrise, die damit einhergehende Arbeitslosigkeit schienen für ein Ende des bürgerlichen Staates zu sprechen. Allerdings, so Liebenstein, hätten die sozialistischen d. h. sozialdemokratischen Regierungen in Deutschland und England, die in vorhergehenden Jahren an der Macht gewesen wären, keine einzige Forderung der Arbeiterklasse durchsetzen können und sich damit nachhaltig diskreditiert. Er schrieb: »Es lohnt sich nicht, dass heute schon Altbekannte zu wiederholen. […] Statt Wirtschaftsdemokratie – Diktatur der Kartelle, statt Ausbau der Sozialpolitik – Verschlechterung der sozialen Leistungen, statt europäischem Zusammenschluss – Panzerkreuzer. Und schließlich statt Stärkung des Glaubens an die Demokratie – Aufschwung des Faschismus.«30 Aber auch die Kommunistische Bewegung bekam hier ihr Fett ab. Ihre unversöhnliche Bekämpfung der als »Sozialfaschisten« geschmähten Sozialdemokraten und das permanente Heraufbeschwören »revolutionärer Situationen« ohne sichtbare Resultate hätten ihr weder Vertrauen, noch starken Zulauf eingebracht. Lediglich die österreichischen Sozialisten mit ihren Bildungs- und Sozialprogrammen nahm Liebenstein von dieser Kritik aus. Gleichzeitig sah er nur eine Kraft, die die Krise und den Aufstieg des Faschismus umkehren könnte: eine neue unbelastete Generation junger Sozialisten. Sicher hatte er hierbei auch an die Chawerim des »Jung-Jüdischen Wanderbundes« gedacht. Es blieb jedoch nicht bei »Geschriebenem«. Auf Kundgebungen und Veranstaltungen suchte man verstärkt die Öffentlichkeit. Im Oktober 1931 fand in Berlin eine – vom kommunistischen »Jüdischen Arbeiterkulturverein« organisierte – Versammlung statt, über deren Verlauf wir durch zwei Aufzeichnungen orientiert sind. Siegfried Kanowitz berichtete für die »Zionistische Vereinigung« in der »Jüdischen Rundschau«, Emmi Horowitz für den Pfadfinderbund »Kadimah«, der dem JJWB nahestand, in dessen »Rundschreiben«. Beide schrieben übereinstimmend, dass der Saal gut gefüllt war, wobei die eine Hälfte aus zionistischer Jugend, die andere aus jüdischen Kommunisten bestand. Über letztere urteilte Kanowitz, man merke hier, wie sich Vorurteil und Propaganda auch bei ihnen mischten; sie rekrutierten sich vorwiegend aus: »[…] freischwebenden, ent-
29 [Georg Lubinski]: Abgrenzung, in: Der junge Jude, 1930, H. 2 März, S. 58ff. 30 Elieser Liebenstein: Sozialistische Betrachtungen, in: Der junge Jude, 1930, Nr. 7, Dezember.
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wurzelten, zum Abfall [vom Judentum] neigenden ostjüdischen Kleinbürgertum […]«.31 Hauptredner der Kommunisten war Otto Heller, dessen Buch »Der Untergang des Judentums« gerade erschienen war und Aufmerksamkeit erregt hatte.32 Emmi Horowitz fand seine Rede klug und geschickt, während Kanowitz sich darüber wunderte, dass Heller im ersten Teil weitgehend im Sinne Ber Borochows argumentiert hatte. Man kann annehmen, dass dies vor allem dem zionistischen Publikum geschuldet war. Im zweiten Teil seiner Rede beschäftigte sich Heller dann mit Biro-Bidjan. Emmi Horowitz schrieb darüber: »Von unserer Seite wurde die positive Wendung in der Haltung des Kommunismus zur Judenfrage, der Kampf der Sowjetregierung gegen den Antisemitismus und ihre Bemühung, Juden zentral anzusiedeln anerkannt. […] Auf die Behauptung, der Zionismus stelle im Orient eine reaktionäre Kraft dar, wurde erwidert, dass im Gegenteil der jüdische Aufbau […] ein Element zur Überwindung feudalistischer Verhältnisse darstellt, während es sehr zweifelhaft ist, ob die Verbindung des Kommunismus mit dem Mufti und den Effendis sehr zum Fortschritt beiträgt. Es wurden Angriffe gemacht gegen die propagandistische Methode für Biro Bidjan. Es gelang nachzuweisen, dass Statistiken und Zahlen nicht stimmen; Heller musste zugeben, dass ein großer Teil der Angriffe berechtigt ist.«33 Mag sein, dass Emmi Horowitz nicht unnötig dramatisieren mochte, denn der Artikel von Kanowitz spricht auch von häufigen Zwischenrufen und Lärm im Saal. Wie auch beim Schlusswort von Heller: »Seine Ausführungen gingen ziemlich übergangslos in fanatische ›Rot-Front‹ Rufe und ›Nieder mit dem Zionismus‹ Rufe über. Die zionistische Jugend antwortete auf das Absingen der Internationale mit der hebräischen Internationale.«34 Auf jeden Fall wusste man nun in der chaluzisch-sozialistischen Jugendbewegung, dass man sich für kommende Auseinandersetzungen theoretische und praktische Verbündete suchen musste. Das konnte auf theoretischer Ebene – neben Borochow –der Austromarxist Otto Bauer35 oder aber Lenins Broschüre »Über die nationale Frage«36 sein. Die größte Attraktivität im Spektrum der 31 Siegfried Kanowitz: Kommunismus und Zionismus. Bericht über eine Diskussion, in: Jüdische Rundschau v. 27. 10. 1931. 32 Otto Heller (1897–1945), Gründungsmitglied der Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei, Journalist für kommunistische Zeitschriften in Berlin, 1933 Emigration über die Schweiz nach Moskau, 1936 nach Paris, 1941 Verhaftung in Frankreich, Lagerhaft, Flucht zur Resistance, 1943 erneute Verhaftung, Deportation nach Auschwitz, Tod im KZ Ebensee. 33 Emmi Horowitz: Anmerkungen zu einer Aussprache mit Kommunisten, in: Kadimah Älterenrundbrief, 1931, Nr. 1, Okt./ Nov. 34 Kanowitz: Kommunismus (Anm. 31). 35 Georg Pape: Die Juden und die soziale Revolution, in: Älterenblatt des Brith Haolim, 1932, Nr. 7, Mai/ Juni, S. 2ff. 36 Max Schupler: Zur Diskussion Zionismus – Kommunismus, in: ebd. S. 15ff.
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jüdischen Jugendbünde erlangten jedoch die 1931 gegründete »Sozialistische Arbeiterpartei« (SAP) und ihre Jugendorganisation »Sozialistischer Jugendverband Deutschlands« (SJVD). Sie wurden für die Mehrheit der Jugendlichen aus den chaluzischen Bünden die eigentliche politische Option.37 Anders als am Beispiel der KPD mochte sich die Bundesführung des Brith Haolim, wie sich der JJWB seit 1930 nannte, hier nicht zu einem Unvereinbarkeitsbeschluss durchringen. So blieb es bei dem Verweis, dass diejenigen die sich »ganz« beiden Bewegung zugehörig fühlten, ihre Entscheidung überdenken sollten.38 Nur wenige Monate später, im Juli 1932, verfasste Walter Koch für das Bundestagsheft des Brith Haolim einen Beitrag »zur politischen Lage«, der an Deutlichkeit nichts zu wünschen lies: »Von entscheidender Bedeutung für unsere politischen Positionen in unserem Lande [wobei er offen ließ, ob er damit Palästina oder Deutschland meinte, KB] ist der Kampf, den gerade die deutsche Arbeiterschaft gegen den deutschen Faschismus führt.[…] Die sozialistische Bewegung Europas, ja der ganzen Welt, fühlt sich schicksalhaft verbunden mit dem Kampf der deutschen Arbeiterschaft.«39 Bei Koch handelt es sich um einen 1910 im Posenschen Lissa geborenen und im schlesischen Glogau aufgewachsenen Brith Haolim / JJWB-Führer. 1993 hat er zum 60-jährigen Jubiläum von »Habonim«, dem Folgebund von Brith Haolim, in einem kurzen Vortrag diese Jahre nachgezeichnet. »Der ›Brith‹ wurde für uns alle zu einem tiefen Erlebnis, das im Herzen eines jeden einzelnen von uns geboren wurde«, erinnerte er. »Als ich elf war rekrutierte mich ein Hausbewohner zum ›Blau-Weiss‹ […] Meine Eltern waren vom Zionismus weit entfernt und davon gar nicht begeistert. […] Dann nahmen wir Kontakt zur Zweigstelle des ›Blau-Weiß‹ in Breslau auf. […] Abgesandte aus Palästina kamen zu ihnen, hielten Seminare ab, lehrten ein lebendiges, im Alltag gesprochenes Iwrith. […] Es entstanden zionistische und revolutionäre Strömungen, zwischen denen sich bald ein vernichtender Bruderkampf entwickelte, doch es bildete sich auch eine Strömung die für die Vereinigung der Fronten kämpfte.« Dabei handelte es sich um die SAP/SJV, der sich Walter Koch ebenfalls angeschlossen hatte. »Wir sahen in ihrer Tätigkeit keinen Widerspruch zu unserem Zionismus und unserer Verpflichtung als Pioniere.«40
37 Ähnliches gilt auch für den nicht-zionistischen »Deutsch-Jüdischen Wanderbund Kameraden«, siehe die Biografien von Fritz Lamm (Michael Benz: Der unbequeme Streiter Fritz Lamm, Essen 2007) und Peter Blachstein (L. Ludger Heid: Peter Blachstein. Von der jüdischen Jugendbewegung zur Hamburger Sozialdemokratie, Hamburg 2014). 38 Bund – sozialistische Parteien und ihre Jugend, in: Hanhalat Brith Haolim, 1931, Rundbrief Nr. 11, 16. 11. 1931, S. 3f., in: n GFH / HR Nr. 025330. 39 Walter Koch: Zur politischen Lage, in: Älterenblatt des Brith Haolim, 1932, Nr. 8, Juli, S. 5ff., in: GFH / HR Nr. 025353. 40 Uri Kochba (d. i. Walter Koch), in: 60-jähriges Jubiläum der »Habonim« Deutschland, Ramat Efal 1993, S. 60ff.
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Allerdings war die Zusammenarbeit von jungen Jüdinnen und Juden und ihren nichtjüdischen Genoss*innen selbst im SJV nicht spannungsfrei, wie ein Brief von Walter Koch vom April 1932 verrät: »[…] sichtbare ursache ist, dass wir jüdischen genossen einige male für uns auf fahrt gegangen sind. […] wir sind zum zum s.j.v. gekommen, weil wir als jüdische sozialisten die verpflichtung spürten, an der heute wichtigsten aufgabe der proletarischen sammlung mitzuhelfen. wir haben erkannt, dass unsere besonderen jüdischen aufgaben und probleme für den augenblick zurückgestellt werden mussten, damit wir uns in der neuen arbeit verwurzeln konnten. […] jetzt tauchen die zurückgestellten fragen erneut für uns auf. wir brauchen klärung, ob und wie der sozialismus die judenfrage, unsere judenfrage lösen kann. diese frage ist, um es noch einmal klarzustellen, keine religiöse. […] wir sind nicht ›besser‹ oder ›schlechter‹ als ihr oder irgendein anderes volk. wir sind anders. […] hinzukommt, dass wir lange jahre in der engen persönlichen gemeinschaft einer bewegung [der jüdischen jugendbewegung-k.b.] zusammengestanden sind und persönlich aneinander gebunden sind. […] was aber noch wichtiger ist: unsere gemeinsame judenfrage schweisst uns auch ohne unseren willen zusammen. […] wie habt ihr nun auf all das reagiert? […] ein teil von euch hat sich darum nicht gekümmert, ein teil hat das in ordnung gefunden. ein anderer teil hat dafür kein verständnis gefunden und je nach seiner art, offen oder versteckt, dagegengearbeitet. […] dass dabei auch übelste antisemitische gedanken – erbstücke der bürgerlich-nationalistischen rassenhetze, schicksal des ewigen prügelknaben ›juden‹ – mit laut wurden, ist drückend für euch wie für uns. […] wir haben besondere aufgaben als jüdische sozialisten, denen wir uns länger nicht ganz entziehen dürfen. wir tragen sie euch vor, weil wir von euch für sie verständnis erwünschen und erwarten.«41 In dem nur wenige Monate später, also kurz vor der Machtergreifung der Nationalsozialisten verfassten Artikel, »zur politische Lage«, argumentierte Koch nun in Richtung des »Brith Haolim« weiter: »Der Bund darf in der gegenwärtigen Situation nicht nur die Mitarbeit in einer proletarischen Partei gestatten, er muss sie von seinen älteren Chawerim fordern. Noch mehr, er muss von seinen älteren Chawerim Bereitschaft zum ausserparlamentarischen Einsatz für die Arbeiterbewegung fordern, wenn die Entwicklung es verlangt.«42 Die kommunistische und linkssozialistische Bewegung der Weimarer Republik blieb – mindestens seit 1925 und auch jenseits der KPD – für viele junge Juden aus den Bünden attraktiv. Dass dabei die Kommunistische Partei, als größte Organisation und radikalste Alternative mit klaren Identifikationsangeboten und Feindbildern eine wichtige Rolle gespielt hat, hat Stefanie Schüler41 [Walter Koch]: liebe genossen, glogau, d. 1.4. 1932, in: Yad Tabenkin Archives – Ramat Efal, 15–97–2–15, S. 9f. 42 Koch: Lage (Anm. 39).
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Springorum vor Jahren überzeugend beschrieben.43 Beachtenswert dazu scheinen mir auch die Überlegungen der Bundesleitung des Brith Haolim vom Dezember 1932: »Die Beeinflussung jüdischer Jugend durch die kommunistische Partei in der Golah beruht vor allen Dingen auf ihrer psychologischen Wirkung. Das ist vor allem die Tatsache, dass die KP die Illusion einer aktiven gesellschaftlichen und politischen Betätigung vermittelte. Das Erlebnis der Massenaktion, sowie das Erleben der Masse überhaupt, konnten wir der jüdischen Jugend kaum geben.«44 Die Auseinandersetzungen zwischen jungen Zionisten und Kommunisten in den letzten Jahren der Weimarer Republik wurden meist engagiert, gelegentlich auch lautstark, ob in Presse oder in Versammlungen geführt. Mindestens in einem Fall kam es jedoch auch zu einem Anschlag auf einen Andersdenkenden. Esriel Carlebach, Redakteur des Hamburger »Israelitischen Familienblattes«, hatte immer wieder kritische Artikel über das Leben der Juden in der Sowjetunion veröffentlicht. Am 4. Januar 1933, also nur vier Wochen vor der Machtergreifung Hitlers, wurde er als Opfer eines Revolverattentats schwer verletzt. Schnell war klar, dass es sich bei den Tätern um junge jüdische Kommunisten gehandelt hatte, die vor dem Attentat wiederholt Flugblätter gegen Carlebach verteilt hatten. Doch dieser tätliche Angriff sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass das Verhältnis von jungen Zionisten zu jungen jüdischen Kommunisten, die wechselseitige Konversion, in der Regel vor allem ein Konkurrenzverhältnis zwischen gegnerischen politischen Positionen war. Es ist nachweisbar, dass die Attraktivität des Kommunismus in der jüdischen Jugendbewegung nach 1933 nicht nachgelassen hat, sondern angesichts der illegalen Aktivitäten der KPD gegen den Nationalsozialismus eher interessanter und attraktiver geworden war. Zugleich befanden sich unter den ersten Verfolgten und Opfern der Nazis auch zahlreiche junge Jüdinnen und Juden, die in der jüdischen Jugendbewegung sozialisiert worden waren. Max Hanns Kohn, der 1931 als Mitglied der »Kameraden« gegen den Zionismus polemisiert hatte, gehörte vor 1933 der »Linken Studentengruppe« an der Universität Erlangen an. Er wurde 1933 inhaftiert und 1935 im KZ Dachau umgebracht. In einer Anklageschrift von 1937 gegen Gerhard Holzer, der für den illegalen Apparat der KPD aktiv gewesen war, hieß es: »Der Angeklagte hat den Weg zum Kommunismus über den marxistisch eingestellten jüdischen Kameradenbund gefunden.«45 Nicht vergessen werden sollten aber auch jene, die zwar ins »Vaterland der Werktätigen« fliehen konnten, dort aber den stalinistischen 43 Bergbauer, Schüler-Springorum: Jugendgruppe (Anm. 13), S. 176. 44 Bundesleitung Brith Haolim an Maskiruth des Kibbuz Hemuchad, 14. Dez. 1932, in GFH / HR Nr. 025334. 45 Bergbauer, Schüler-Springorum: Jugendgruppe (Anm. 13), S. 66.
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Säuberungen zum Opfer fielen. Arnold Paucker hat deshalb in seiner Darstellung des jüdischen Widerstands in Deutschland der jüdischen Jugendbewegung ein eigenes umfangreiches Kapitel gewidmet.46 Am Beispiel der wohl bekanntesten jüdischen Widerstandsgruppe, der Gruppe um Herbert Baum in Berlin, kann man hier sehr gut sehen, wie jüdische Kommunisten und Zionisten, aber auch Jugendliche aus anderen Bünden, miteinander verbunden waren.47 Walter Koch, der junge Brith Haolim-Aktivist, kam 1938 als Schaliach /Gesandter der palästinensischen Kibbuzbewegung nach Holland. Dort wurde er nach der deutschen Okkupation 1940 festgenommen und in das deutsche Internierungslager in Tost in Schlesien gebracht. Als Inhaber eines britischen Passes konnte er überleben und nach Kriegsende nach Palästina zurückkehren. Er gehört zu jener Gruppe junger Juden, die sich bei der Frage Kommunismus oder Zionismus schließlich für letzteren entschieden hatten.
Epilog Ende 1951 verschwand in Prag der Mapam48-Aktivist Mordechai Oren. Erst nach einiger Zeit wurde seine Verhaftung offiziell vermeldet, mit der die Vorbereitung Orens als Belastungszeuge im anstehenden Slansky-Prozess49 begann. Pikanterweise war zwanzig Jahre zuvor, Anfang der 1930er Jahre, in einem Brief von Brith Haolim an den Histadrut50-Sekretär Eliezer Dobkin in Tel Aviv schärfstens vor dem Einsatz von Ornstein / Oren als Schaliach von Haschomer Hazair in Deutschland, gewarnt worden, weil damit: »[…] die Gefahr des Kommunismus steigen würde«. Nun galt Oren als zionistischer Agent und mit ihm prominente ˇ SSR, die nun auch nachdrücklich an ihre jüdische Herkunft Kommunisten der C erinnert wurden. Zu dieser Herkunft gehörte bei einigen auch die Sozialisation in der jüdischen Jugendbewegung: bei Eduard Goldstücker war das der Hashomer Hazair, bei Bedrich Gemimder, Slansky, Reicin und Sling der »Blau-Weiss«/ 46 Arnold Paucker: Deutsche Juden im Kampf um Recht und Freiheit, Teetz 2003, S. 183–204, S. 220–225. 47 Vgl. Löhken, Vathke (Anm. 16); Regina Scheer: Im Schatten der Sterne, Berlin 2004. 48 Linkssozialistische Partei in Israel, die bis in die 1950er Jahre an der Sowjetunion orientiert blieb. 49 Der »Prozess gegen Rudolf Slansky und Genossen« war 1952 in Prag als stalinistischer Schauprozess gegen führende Funktionäre der Kommunistischen Partei der SSR, darunter den Generalsekretär der Partei, R. Slansky, organisiert worden. Im Mittelpunkt der Verhandlung stand auch die »Abrechnung« mit »Kosmopolitismus« und Zionismus, der unschwer als Antisemitismus gedeutet werden konnte. Allein elf der vierzehn Angeklagten waren Juden. Nur drei der Angeklagten wurden zu Haftstrafen verurteilt, während alle anderen zum Tode verurteilt und hingerichtet wurden. 50 Dachverband der Gewerkschaften in Palästina/ Israel.
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Techelet Lavan gewesen. So gab etwa Otto Sling im – vorfabrizierten – »Geständnis« in der Verhandlung an: »Im Jahre 1923 trat ich in Teplitz-Sanov als Mittelschüler in die zionistische Organisation Blau-Weiß ein, welche die Jugend im zionistischen Geiste erzog. Den reaktionären Ansichten dieser Erziehung und des Verkehrs mit bürgerlich nationalistischen Elementen entzog ich mich auch dann nicht, als ich in den Verband der kommunistischen Jugend […] eintrat.«51 Robert Weltsch52 betrachtete den Prozess von London aus mit Sorge. Er sah in ihm wahrscheinlich nicht zu Unrecht das letzte Kapitel der Tragödie einer jungen jüdischen Generation, die auf der Suche nach sozialer Gerechtigkeit und neuen moralischen Impulsen über den »Wandervogel«, die Freideutsche Jugend und den »Blau-Weiss« auch den Kommunismus als Möglichkeit gesehen und gelegentlich gewählt hatte.53 »Rote Assimilation« konnte im Zusammenhang mit der jüdischen Jugendbewegung Deutschlands für vieles stehen. Der Begriff war Mittel der Abgrenzung und Denunziation, manchmal aber auch Selbstvergewisserung und Ausbruch aus Konventionen. Schon zwanzig Jahre vor Otto Heller hatte der Berliner Arzt Felix Theilhaber 1911 den Untergang der deutschen Juden prognostiziert. Allerdings lagen die Ursachen für Theilhaber in Mischehen, sinkenden Geburtenraten und allgemeiner Assimilation. Für Heller dagegen war »Der Untergang des Judentums« 1931 allein durch die »Lösung der Judenfrage« im kommenden Sozialismus erreichbar. Die gesellschaftlichen Umstände der Zwischenkriegszeit – das betraf die nicht erfüllten Versprechungen nach Emanzipation und Gleichheit ebenso wie die ökonomischen Verwerfungen durch Inflation und Krise – prägten die jüdischen Jugendgenerationen dieser Jahre nachhaltig. Als Alternative boten sich für viele Jugendliche, insbesondere aus der jüdischen Jugendbewegung, deshalb vor allem diese zwei politischen Optionen an: Kommunismus/Sozialismus oder Zionismus. Das Schlagwort von der »Roten Assimilation«, das sowohl von zionistischen als auch von nichtzionistischen Kreisen geprägt und benutzt wurde, beschrieb dabei zweierlei: einerseits die Angst und Warnung, die jüdische Jugend an den Sozialismus/ Kommunismus zu verlieren, und andererseits, im Prozess der Assimilation auch das eigene »Jüdische« aufgeben zu müssen. Die Beschreibung der komplexen Entscheidungen für oder gegen das Eine oder Andere ist heute notwendigerweise mit dem Wissen über die Resultate beider Optionen verbunden. Das betrifft die Gründung und Existenz Israels als Staat ebenso wie die Entwicklung und den 51 Prozess gegen die Leitung des staatsfeindlichen Verschwörerzentrums mit Rudolf Slansky an der Spitze, Berlin (Ost) 1953, S. 473f. 52 Robert Weltsch (1891–1982), Mitglied des zionistischen Studentenvereins »Bar Kochba« Prag, 1919–1938 Redakteur der »Jüdischen Rundschau« Berlin, 1938 Alija nach Palästina, Übersiedlung nach England, leitend im »Leo Baeck Institut« London, Redakteur des LBI-Yearbook. 53 Robert Weltsch: The Prague Trial, in: AJR Information, London, 1953, Nr. 1, Jan.
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Niedergang des real existierenden Sozialismus. Trotzdem kann das Ringen aus der jüdischen Jugendbewegung um den »richtigen Weg« ins Leben nur in und aus dem Zeitkontext richtig beschrieben und verstanden werden. Ihre Wege und Irrwege waren – zunächst – kein Spezifikum, auch keines jüdischer Jugend. Allerdings kommt ihrer Geschichte, zumal durch den Verlust dieser Generationen junger Jüdinnen und Juden, eine besondere Bedeutung zu.
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Kulturkritik fingierter Exoten und das linksalternative Milieu der 1970er und 1980er Jahre. Zur Rezeption von Hans Paasches »Lukanga Mukara« und Erich Scheurmanns »Der Papalagi«
Fiktive Exoten, die nach Europa reisen und dort aus einer fremden Außenperspektive und gleichzeitig »von innen heraus« Kultur- und Zivilisationskritik üben, kennt die Literaturgeschichte seit dem späten 17. Jahrhundert zuhauf.1 Auch wenn sich frühere Beispiele finden,2 gelten Montesquieus »Lettres persanes« (1721/1758) gemeinhin als Prototyp dieses Erzählmodells. Bei der Suche nach Nachahmern im deutschsprachigen Raum des frühen 20. Jahrhunderts stößt man unweigerlich auf zwei formal sehr ähnliche Texte: Hans Paasches »Die Forschungsreise des Afrikaners Lukanga Mukara ins innerste Deutschland« (1912/13, Buchausgabe: 1921)3 und Erich Scheurmanns »Der Papalagi. Die Reden des Südseehäuptlings Tuiavii aus Tiavea« (1920).4 Auch die Rezeptionsgeschichten der beiden Texte weisen Parallelen auf: Ursprünglich im Umfeld der Jugend-, Reform- und Wandervogelbewegungen der 1910er und 20er Jahre entstanden, haben sie ein beachtliches Revival in der Alternativkultur der 1970er und 1980er Jahre erfahren. Mit einer Auflage von insgesamt ca. 1,7 Millionen Exemplaren war »Der Papalagi« letztlich der ökonomisch erfolgreichere Text, der 1 Gerd Stein: Vorwort, in: ders. (Hg.): Exoten durchschauen Europa. Der Blick des Fremden als ein Stilmittel abendländischer Kulturkritik von den Persischen Briefen bis zu den PapalagiReden des Südseehäuptlings Tuiavii, Frankfurt a. M, 1984, S. 7–22, hier S. 7; vgl. die umfangreiche Studie von Winfried Weißhaupt: Europa sieht sich mit fremdem Blick. Werke nach dem Schema der »Lettres persanes« in der europäischen, insbesondere der deutschen Literatur des 18. Jahrhunderts, 2 Teile in 3 Bänden, Frankfurt a. M. u. a. 1979. 2 Vgl. die Tabelle in Weißhaupt: Europa (Anm. 1), S. 145–147. Als frühester Text wird hier Giovanni Paolo Maranas Espion du Grand-Seigneur (1684) aufgeführt. 3 Ich zitiere im Folgenden unter Angabe der Sigle ›LM‹ aus: Hans Paasche: Die Forschungsreise des Afrikaners Lukanga Mukara ins innerste Deutschland, Hamburg Bergdorf 1929. In der ersten Buchausgabe von 1921, in der die 1912 und 1913 sukzessive in der Zeitschrift »Der Vortrupp« erschienenen Briefe gesammelt wurden, variiert der Untertitel: In ihr ist nicht vom »Afrikaner«, sondern vom »Neger« Lukanga Mukara die Rede. Diese Änderung wurde in späteren Ausgaben wieder revidiert, weshalb ich mich im Fließtext auf die angegebene Variante beschränke. 4 Unter Angabe der Sigle ›P‹ zitiert aus: Erich Scheurmann: Der Papalagi. Die Reden des Südseehäuptlings Tuiavii aus Tiavea, Westberlin 1975.
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es in den 80er Jahren sogar auf die Lehrpläne deutscher Schulen schaffte. Diese Erfolgsgeschichte mag heute befremden, denn frei von den kolonialen und völkischen Ideologemen ihrer Zeit sind beide Texte nicht, wie die Forschung insbesondere am »Papalagi« gezeigt hat. Im Folgenden wird die Frage diskutiert, warum und wie sie in den 1970er und 80er Jahren dennoch überwiegend affirmativ rezipiert wurden. Nach einer kritischen Lektüre sollen dazu dazu die Paratexte diverser Ausgaben von Alternativ- und Raubdruckverlagen konsultiert werden, die ich im sozialen und diskursiven Umfeld des linksalternativen Milieus sowie insbesondere der Aussteiger- und Landkommunenszene der 1970er und 80er Jahre verorte.
»Lukanga Mukara« und »Der Papalagi« im Vergleich Wie in Montesquieus »Lettres persanes« etablieren Hans Paasche und Erich Scheurmann die Außenperspektive auf die eigene Kultur in einem Vorwort, das Briefe und Reden durch eine Herausgeberfiktion rahmt. Damit signalisieren beide, dass es sich bei den Dokumenten um authentische Äußerungen handelt. So behauptet Paasche, Lukanga Mukara während einer fünfmonatigen Reise nach »Innerafrika […] am Hofe des Königs Ruoama […] des Landes Kitara« (LM, S. 9) kennengelernt zu haben. Der zuvor von weißen Missionaren im Lesen und Schreiben unterrichtete Einheimische habe auf Paasches Anregung eine Reise nach Deutschland unternommen, von der er seinem König in neun kritischen Briefen berichtete. Ähnlich funktioniert die etwas ausführlichere und anders lokalisierte Rahmenfiktion des »Papalagi«: Scheurmann habe Tuiavii »auf der Insel Upolo, die zur Samoagruppe gehört, im Dorfe Tiavea, dessen Herr und oberster Häuptling er war«, kennengelernt und »über ein Jahr in seiner unmittelbaren Nähe« als »Mitglied seiner Dorfgemeinde« gelebt (P, S. 5f.). Tuiavii sei zuvor in einer Missionsschule des katholischen Maristenordens ausgebildet worden und habe sich einer »Völkerschaugruppe, die damals den Kontinent bereiste« (P, S. 5), angeschlossen. Das menschliche ›Exponat‹ schaut auch hier zurück auf die weißen Papalagi – »[s]prich: Papalangi« (P, S. 4) – und unterzieht deren Zivilisation einer Fundamentalkritik. Tuiavii trägt die elf, auf Samoanisch verfassten Reden vor deren eigentlichen Adressaten, seinen polynesischen Landsleuten, jedoch nicht vor. Stattdessen übergibt er sie an Scheurmann, der sie schließlich übersetzt und für ein deutsches Publikum publiziert habe. Beide Autoren motivieren die jeweilige Publikation durch das besondere epistemische Potenzial der sonst unverfügbaren Außenperspektive auf das Eigene.5 Paasche ist der Ansicht, »daß unerschlossene Länder und Urvölker […], 5 Ausgehend von Montesquieu entwickelt Fritz Kramer seine Überlegungen zum invertierten
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die alle Errungenschaften unserer Kultur nicht kennen und nicht entbehren«, den Europäern dabei helfen können, »uns selbst besser zu erkennen« (LM, S. 9). Sinngemäß schreibt Scheurmann über Tuiavii: »Mit seinen Augen erfahren wir uns selbst; von einem Standpunkt aus, den wir selber nie mehr einnehmen können« (P, S. 4). Indem die beiden edlen Wilden vormoderne Ursprünglichkeit, Naturverbundenheit und Ganzheitlichkeit repräsentieren, fungieren sie als positive Kontrastfiguren zur von sich selbst entfremdeten westlichen Zivilisation.6 Anders als bei den Reisenden der »Lettres persanes«7 legitimiert das ungetrübte Verhältnis zur eigenen Kultur eine überlegene Sprecherposition Tuiaviis und Lukangas. Wie Lukanga kritisiert Tuiavii die Kleidungs- (LM, 19–23, 30–32, P, S. 8–13) und Essgewohnheiten der Europäer (LM, 43–49, 57f., P, S. 10f.), die urbane Wohnsituation und Umweltverschmutzung (LM, S. 15f., P, S. 14–19), die Fixierung auf den abstrakten Wert des Geldes (LM, S. 12, P, S. 20–16), das streng getaktete Zeitregime (LM, S. 41f., 51f., P, S. 33–36), die moderne Technisierung (LM, S. 40, P, S. 42–46), den inflationären Gebrauch von Informations- und Unterhaltungsmedien (LM, S. 13f., 24–26, 38, P, S. 52–57) sowie die Konzepte der Arbeitsteilung, der Lohnarbeit (S. 17, P, S. 47–51) und des Besitzes (LM, S. 18, P, S. 27–32, 37–41). Die Texte etablieren damit eine kritische Perspektive auf jene Phänomene, die etwa zeitgleich von der klassischen Modernesoziologie Webers, Simmels und Durkheims unter Stichwörtern wie Modernisierung, Rationalisierung, Bürokratisierung, Mechanisierung oder Entzauberung der Welt verhandelt wurden. Die ans Individuum gerichteten biopolitischen Forderungen des Verzichts auf Alkohol-, Tabak- und Fleischkonsum,8 die latente Bildungsfeindlichkeit, der Drang zurück zur Natur und die Kritik an den geschlechtsspezifischen Kleiderordnungen korrespondieren weiterhin mit den Diskursen der Jugendund Wandervogelbewegung, für die sich Scheurmann und insbesondere Paasche engagierten. Auch wenn sich Paasche mit dem Briefformat formal stärker an den »Lettres persanes« orientiert, gibt es zahlreiche sprachliche Korrespondenzen zwischen »Lukanga« und »Papalagi«. Dies zeigt sich insbesondere an periphrastischen ethnologischen Blick: Der rote Fes. Über Besessenheit und Kunst in Afrika, Königstein im Taunus 1987; vgl. auch grundlegend: Erhard Schüttpelz: Die Moderne im Spiegel des Primitiven. Weltliteratur und Ethnologie (1870–1960), München 2005. 6 Zum Motiv des edlen Wilden vgl. Gerd Stein (Hg.): Die edlen Wilden. Die Verklärung von Indianern, Negern und Südseeinsulanern auf dem Hintergrund der kolonialen Greuel vom 16. bis zum 20. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 1984. 7 Vgl. Tzvetan Todorov: Lettres persanes, in: ders.: Nous et les autres – La réflexion française sur la diversité humaine, Paris 1989, S. 389–401, hier S. 391. 8 Vgl. dazu den von Karl Braun, John Khairi-Taraki und Felix Linzner herausgegebenen Band: Avantgarden der Biopolitik. Jugendbewegung, Lebensreform und Strategien biologischer »Aufrüstung« (Jugendbewegung und Jugendkulturen. Jahrbuch 13), Göttingen 2017.
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Passagen, die eine Unkenntnis der europäischen Kultur markieren und diese als arbiträre Oberfläche erscheinen lassen. Beispielsweise beschreibt Tuiavii das Geld, das Lukanga als »kleine Metallstücke und buntes Papier« (LM, S. 12) bezeichnet, als »rundes Metall und schweres Papier« (P, S. 20–26).9 Neben diesen Konvergenzen lassen sich auch Unterschiede benennen. Die devoten Anreden Lukangas an den König entfallen im »Papalagi«. Tuiaviis selbstbewusstes Auftreten als Häuptling artikuliert sich in einem bestimmteren Ton und führt zu entschiedeneren Wertungen. Der etwas kürzere Text des »Papalagi« ist zudem inhaltlich strukturierter, während sich die Briefe Lukangas selten in Gänze einem festen Themenbereich zuordnen lassen. Einen weiteren Kontrast zum »Papalagi« bilden zwei stärker narrativierte Briefe Lukangas, die den themen- und sachbezogenen Duktus der anderen Briefe durchbrechen: Der siebte Brief erzählt von einem studentischen Trinkgelage anlässlich des Geburtstags des Kaisers. Gegenstände und Handlungsfolgen werden dabei wie in einer ethnologischen Ritualbeschreibung geschildert, wobei die aus der Außenperspektive gewonnene Interpretation der Vorgänge als satirische Kritik funktionalisiert wird. Im neunten und letzten Brief berichtet Lukanga von einer Zusammenkunft junger Menschen auf dem Hohen Meißner, die nach dem Vorbild des Ersten Freideutschen Jugendtags entworfen ist, auf dem Paasche als Wortführer aufgetreten war. Lukanga wertet das Ereignis dementsprechend positiv und lässt seine Briefe, anders als die Reden Tuiaviis, mit einem hoffungsvollen Ausblick in die Zukunft Deutschlands enden.10 Scheurmann setzt dagegen andere inhaltliche Akzente. Insbesondere erhält der gegen die westliche Wissensproduktion und -vermittlung gerichtete Antiintellektualismus im »Papalagi« eine spezifischere, erkenntnistheoretische Stoßrichtung. So behauptet Scheurmann im Vorwort, gleichsam in Abgrenzung zu Immanuel Kants transzendentaler Wende, der Exot könne »das Ding an sich« (P, S. 6) sehen, während dieser im Kapitel über »die schwere Krankheit des Denkens« konstatiert, für einen Papalagi bedeute Erkenntnis, »ein Ding so nahe vor Augen [zu] haben, daß man mit der Nase daran, ja hindurch stößt« (P, S. 61).
9 Weitere Beispiele gibt Hanno Kühnert: Zwei Kultbücher und die Folgen. Ein Plagiat bekommt recht, in: Die Zeit, 24. 11. 1989. 10 Nicht nur das Berg- und Aussteigerszenario, sondern auch die prophetische Rede vom Entstehen eines neuen Volkes (LM, S. 83) lässt im »Lukanga« immer wieder Friedrich Nietzsches »Zarathustra« anklingen: vgl. Peter Morris-Keitel: »Umwertung aller Werte!« Hans Paasches »Lukanga Mukara« neu gelesen, in: Jahrbuch des Archivs der deutschen Jugendbewegung, 1988–1992, Bd. 17, S. 163–176.
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Zum Authentizitätsanspruch der Herausgeberfiktionen Während die Herausgeberfiktionen und die Maske des Exoten für die Autoren als publizistische Schutzschirme fungierten, stellte sich für ihre Leser*innen die Frage nach der Glaubwürdigkeit der Authentizitätsbehauptung von Reden und Briefen. Am »Papalagi« wurde diese Frage bereits im zeitgenössischen Feuilleton kontrovers diskutiert.11 Bei Paasche wurde eine solche Debatte dagegen bald unterbunden, als Franziskus Hähnel im Vorwort der Buchausgabe von 1921 auf die historischen Entstehungsumstände anspielte und das reale Vorbild Lukanga Mukaras offenlegte: »ein Negerbursche, den Hans Paasche zur Bedienung hatte, als er seine Hochzeitsreise mit seiner jungen Frau Ellen nach den Nilquellen machte« (LM, S. 5f.). Zudem wurden, anders als beim »Papalagi«, der Name und ein Portrait des Autors auf dem Cover abgebildet. Die verlegerische Entscheidung, die Authentizität der Autorschaft der Inszenierung eines authentischen Exoten vorzuziehen, sollte sich in den späteren Ausgaben des »Lukanga Mukara« wiederholen. Vielleicht liegt hierin einer der Gründe dafür, dass der bereits in den 1920er Jahren insgesamt 40.000 Mal verkaufte »Papalagi« das deutlich auflagenstärkere Buch werden sollte.12 Anders als bei »Lukanga« diskutierten Forschung und Feuilleton noch in den 1970er und 1980er Jahren den Authentizitätsanspruch der Reden Tuiaviis, meist unter Verweis auf einen einjährigen Samoa-Aufenthalt Scheurmanns zwischen 1914 und 1915, der die im Vorwort behauptete Provenienz der Texte belegen sollte.13 Scheurmanns Aussage, er habe in dieser Zeit über ein Jahr lang in einem samoanischen Dorf gelebt und dessen Sprache gelernt, ist jedoch unzutreffend. Nach Ausbruch des Ersten Weltkrieges hat er einen Großteil seines Aufenthaltes in neuseeländischer Haft verbracht, weshalb ihm allenfalls kurzer und oberflächlicher Kontakt zu den Eingeborenen möglich war.14 Gleichwohl hat Scheurmann den damaligen Tuiavii – d. h. das Stammesoberhaupt – des Dorfes Tiavea kennengelernt. In dem von Scheurmann herausgegebenen Fotoband »Samoa. Ein Bilderwerk« (1927) findet sich eine Abbildung des mutmaßlichen Häuptlings mit seiner Frau (Abb. 1), die Scheurmanns Schilderung eines zwei Meter großen, »massigen, freundlichen Riesen« mit 11 Während Paul Adolf Borchert den Text in seiner Rezension von 1921 naiv als authentisches Dokument las, zweifelte der Rezensent Hans Franck die Echtheit des fingierten und obendrein schlecht geschriebenen »Kulturtraktätchen[s]« an; vgl. Paul Adolf Borchert: Deutsche Handels-Warte, 1921, S. 224; Hans Franck: Erich Scheurmann, Das Papalagie, in: Zeitschrift für Bücherfreunde, 1921, NF 13, Beiblatt, Sp. 72. 12 Stein: Exoten (Anm. 1), S. 14. 13 Für einen Überblick entsprechender Zeitungsrezensionen vgl. Stein: Exoten (Anm. 1), S. 15. 14 Vgl. Hans Ritz: Die Sehnsucht nach der Südsee. Bericht über einen europäischen Mythos, Göttingen 1983, S. 124.
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»ungewöhnlich starkem Gliederbau« (P, S. 5) allerdings übertrieben erscheinen lässt. Eine Gruppe Marburger Studenten entschied sich deshalb, auf der Rückseite einer Raubdruckausgabe von 1971 ein anderes Bild abzubilden, das in späteren Raubdrucken und Zeitungsartikeln bisweilen als echter Tuiavii reproduziert wurde (Abb. 2).15
Abb. 1: Erich Scheurmann (Hg.): Samoa. Ein Bilderwerk, Konstanz 1927, Abb. 85.
Eine Zäsur in der Debatte um die Echtheit der Reden ist der 1975 veröffentlichte Aufsatz des Ethnologen Horst Cain,16 der nachwies, dass Scheurmann weder über ausreichende Sprachkenntnisse für eine korrekte Übersetzung, noch über das zu seiner Zeit zugängliche ethnologische Samoa-Wissen verfügte.17 Besonders deutlich wird dies an den periphrastischen Passagen: Tuiavii bedient sich komplizierter Umschreibungen von Praktiken und Objekten der westlichen Kultur, die 1920 in Samoa längst bekannt waren, da die Inselgruppe zu dieser Zeit bereits 15 Vgl. Ritz: Sehnsucht (Anm. 14), S. 122–126. 16 Horst Cain: Tuiavi’is Papalagi, in: Hans Peter Duerr (Hg.): Authentizität und Betrug in der Ethnologie, Frankfurt a. M. 1987, S. 252–270; zuerst publiziert als: Persische Briefe auf Samoanisch, in: Anthropos, 1975, Nr. 70, S. 617–626. 17 Vgl. dazu zu die beiden einschlägigen Bände des Ethnologen Augustin Krämers: Die SamoaInseln, 2 Bde., Stuttgart 1902/3; Hawaii, Ostmikronesien und Samoa, Stuttgart 1906.
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Abb. 2: Der »Papalagi«: Rückseite des Raubdrucks des Release-Verlags mit falschem Tuiaviibild.
seit 65 bis 80 Jahren kolonisiert war. Kein Samoaner würde also, wie in der ersten Kapitelüberschrift »Vom Fleischbedecken des Papalagi, seinen vielen Lendentüchern und Matten« (P, S. 8) sprechen.18 Überdies lassen zahlreiche logische Inkonsistenzen die Authentizität der Reden zweifelhaft erscheinen. Ein Beispiel aus vielen soll als Beleg genügen: Die »roten, häßlichen, gehörnten Tiere[]« (P, S. 10), von denen zunächst die Rede ist, werden später ganz selbstverständlich als »Rind[er]« (P, S. 33) bezeichnet. Der Häuptling Tuiavii äußert sich mithin in einer »pseudoprimitiven Ausdrucksweise«.19 Neben der an die europäische Heimat gerichteten Kulturkritik projiziert der Text dadurch auch ein exotistisches Wunschbild auf die Samoaner: In der Figur Tuiaviis zeichnet Scheurmann einen »eng an die Natur Gebundenen« (P, S. 4), den es so nie gegeben hat. Cain findet 18 Vgl. Cain: Papalagi (Anm. 16), S. 254f. 19 Ebd., S. 261.
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das bedenklich, da der Text »bei einem mit der Sprache und Ethnologie Samoas nicht vertrauten Publikum völlig falsche Vorstellungen von den dortigen Verhältnissen weckt«.20
Biografische und koloniale Kontexte Cain übergeht in seiner informierten Kritik das Machtverhältnis zwischen kolonialisierter Projektionsfigur und Kolonialmacht, das anhand der Biografie Scheurmanns zutage tritt. Scheurmann war Anhänger eines protektionistischen Kolonialrevisionismus, der dem Verlust der zum idyllischen Südseeparadies verklärten deutschen Kolonien nachtrauerte. Im Vorwort seines Samoa-Bildbandes stellt er im Euphemismus erneuerter Freundschaft sogar die koloniale Wiederaneignung in Aussicht: »Nachdem Deutschland dem Völkerbund beigetreten ist und eine Neuverteilung der Mandate über die ehemaligen Kolonien angeregt hat, besteht die begründete Hoffnung, dass auch ›Samoa, die Perle der Südsee‹ wieder in seine Obhut kommt; dieses Ereignis würde den deutschen Kolonisten neue Möglichkeiten geben und das freundschaftliche Band zwischen den Deutschen und den Samoanern aufs neue knüpfen.«21 Scheurmanns Kolonialideologie hat sich auch in den »Papalagi« eingeschrieben, etwa wenn Tuiavii religiöse Begriffe, theologisch konnotierte Metaphern und den Adressaten Gott22 aufruft und damit letztlich die christliche Missionierung – den Vorboten der Kolonialisierung – Samoas affirmiert. Im letzten Kapitel (»Der Papalagi will uns in seine Dunkelheit hineinziehen«) heißt es beispielweise, die Papalagi hätten den Samoanern »das strahlende Licht des Evangeliums« (P, S. 65) gebracht, sich von diesem Licht aber mittlerweile selbst entfernt (P, S. 66). Die vielbeschworene Natürlichkeit des Exoten wird so in ein christliches Denkschema integriert. Der emanzipatorische Anspruch von Tuiaviis abschließendem Appell an die Samoaner, sich von den korrumpierten Reichtümern und Denkweisen der europäischen Zivilisation fernzuhalten (P, S. 69), wird so unterlaufen. Dieser Eindruck verstärkt sich, wenn man Scheurmanns spätere publizistische Tätigkeiten in den Blick nimmt: In der autobiografischen Erzählung »Buch der Sehnsucht und der Erfüllung« (1929) nimmt er rassistische Hierarchisierungen der von ihm beobachteten Südseevölker vor und stellt die These von natürlichen Abstoßungsverhältnissen zwischen unterschiedlichen
20 Ebd., S. 267. 21 Erich Scheurmann (Hg.): Samoa. Ein Bilderwerk, Konstanz 1927, S. 32. 22 Eine weitere Inkonsistenz der sogenannten Übersetzung manifestiert sich, wenn Tuiavii erst auf Seite 60 das spezifisch samoanische Wort Tagaloa verwendet, das in einer Fußnote als »Der höchste Gott in der Sage« erläutert werden muss.
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Rassen auf.23 1938 tritt Scheurmann in die NSDAP ein. Er verfasst die Erzählung »Ulfs Geschlecht« (1938), die der deutschen Blut-und-Boden-Ideologie verpflichtet ist, schreibt Gedichte anlässlich des Geburtstags von Adolf Hitler sowie die neue Samoa-Erzählung »Zweierlei Blut« (1936), in der Südseeromantik nun vollends mit der Ideologie des NS-Staates kompatibel ist. Thomas Schwarz, der diese Zusammenhänge erforscht hat, stellt fest: »Scheurmanns Verehrung, seine ›Bewunderung für Hitler‹ lässt sich nachweisen, und es wäre gut, wenn sich das unter Deutschlehrern herumspräche«.24 Hans Paasches Biografie hat im Vergleich deutlich weniger Makel. Zwar beteiligte er sich 1905 als Marineoffizier im damaligen Ost-Afrika an der Niederschlagung eines Aufstandes gegen die deutsche Kolonialmacht, die er in seinen Reiseerinnerungen von 1907 noch durch »das Recht des Stärkeren und das Vorrecht des Kulturmenschen« legitimierte.25 In den 1910er Jahren wandelte sich Paasche jedoch zum Pazifisten. Davon zeugt unter anderem seine Schrift »Meine Mitschuld am Weltkriege« (1919). In dem ebenfalls 1919 erschienenen Flugblatt »Das verlorene Afrika« distanzierte sich Paasche entschieden vom Kolonialismus, indem er die Befreiung der kolonisierten Völker Afrikas antizipierte: »Fahnen werden zerrissen werden oder nur über Heimat wehen, also nicht da, wo sie Symbol der Ausbeutung sind«.26 Im Zuge der Novemberrevolution 1918 wurde Paasche für einige Wochen zum Vollzugsrat der Arbeiter- und Soldatenräte gewählt. Am 21. Mai 1920 wurde er schließlich bei einer Durchsuchung seines Landguts von Mitgliedern der rechtsradikalen »Brigade Ehrhardt« ermordet. So wie er von der Jugendbewegung als Märtyrer betrauert wurde, stellten 23 Vgl. Thomas Schwarz: Ozeanische Affekte. Die literarische Modellierung Samoas im kolonialen Diskurs, Berlin 2013, S. 207f. Die Bewohner der Fidschi-Inseln fungieren hier als Gegenmodell zum edlen Wilden. 24 Ebd., S. 208f.; vgl. Günther Senft: Weird Papalagi and a Fake Samoan Chief. A Footnote to the Noble Savage Myth, in: Rongorongo Studies. A forum for Polynesian philology, 1999, Nr. 9, S. 23–32 und S. 62–75, hier S. 62f. 25 Hans Paasche: Im Morgenlicht. Kriegs-, Jagd- und Reise-Erlebnisse in Ostafrika, Berlin 1907, S. 121; vgl. Stein: Exoten (Anm. 1), S. 13. Die kurzen Überblicksbiografien stellen diesen Aspekt von Paasches Lebenslauf meist sehr kurz und nachsichtig dar, sodass die Aktualisierbarkeit des »Lukanga Mukara« ebenso bewahrt blieb wie die Heroisierbarkeit seines Autors. Vgl. Reinhold Lütgemeier-Davin: Lebensreformer, Antipreuße, Revolutionär. Hans Paasche (1881–1920), in: Jahrbuch des Archivs der Jugendbewegung, 1981, Bd. 13, S. 187–194; Helga Paasche: Ein Leben für unsere Zukunft. Hans Paasche zum 65. Todestag, in: Jahrbuch des Archivs der deutschen Jugendbewegung, 1985, Bd. 15, S. 305–324; Morris-Keitel: Werte (Anm. 10); kritische Gegendarstellungen finden sich dagegen bei Ritz: Sehnsucht (Anm. 14); Pierre Kodjio Nenguié: Reisen, Kulturvergleich und Selbstfindung im Medium der Ethnoliteratur. Zu Hans Paasches »Die Forschungsreise des Afrikaners ›Lukanga Mukara‹ in das innerste Deutschland«, in: Marianne Bechhaus-Gerst, Sunna Gieseke (Hg.): Koloniale und postkoloniale Konstruktionen von Afrika und Menschen afrikanischer Herkunft in der deutschen Alltagskultur, Frankfurt a. M. 2006, S. 143–157. 26 Hans Paasche: Das verlorene Afrika, Berlin 1919, S. 4.
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ihn in der Folge auch die Alternativverlage der 1970er und 80er Jahre und die größtenteils biografisch ausgerichtete Literaturwissenschaft dar. Gleichwohl kann auch »Lukanga Mukara« nicht von der postkolonialen Kritik an der rassistischen Projektion des naiven Wilden ausgenommen werden. Damit schienen sich die Leser*innen der 1970er und 80er Jahre jedoch ebenso wenig zu befassen wie mit den rechts-nationalen Tendenzen der Jugendbewegung, die etwa im Vorwort von Franziskus Hähnel anklingen, der die von Paasche herausgegebene Zeitschrift »Der Vortrupp« als Teil »jener Kräfte, die um die Aufartung unseres Volkes bemüht waren« (LM, S. 5), bezeichnet. Diese Formulierung wurde in den meisten Raubdrucken wiedergegeben und hätte fünzig Jahre später auf Skepsis stoßen müssen.
»Eine Wohngemeinschaft in der Nähe von Nürnberg«: Einblicke in die Alternativkultur der 1970er und 80er Jahre Horst Cain kritisierte 1975 auch die naive Rezeptionshaltung einiger linksalternativer Leser*innen: »Daß die Echtheit des Textes nicht bezweifelt wird, geht u. a. daraus hervor, daß meines Wissens eine Wohngemeinschaft in der Nähe von Nürnberg […] einen enthusiastischen Brief an den Oberbürgermeister von Apia, der Hauptstadt West-Samoas, schrieb, den es allerdings gar nicht gibt.«27 Die Quelle, auf die Cain sich beruft, belegt diese Geschichte allerdings nicht.28 Gleichwohl gewährt der 1973 in der Satirezeitschrift »Pardon« erschienene Artikel einen Einblick in das subkulturelle Umfeld, das im Folgenden untersucht werden soll. Die Reporterin Elsemarie Maletzke berichtet von einer Landkommune im fränkischen Dorf Kucha, die bereits zwei Jahre zuvor durch eine Titelgeschichte des »Spiegel« deutschlandweit bekannt geworden war.29 »Nach der Studentenrevolte ratlos zurückgeblieben« erprobten die Kommunard*innen abseits der verwüsteten politischen Kampfplätze als Vorhut der sich im linken Milieu gerade formierenden ökologischen Bewegung30 einen zurückgezogenen 27 Cain: Papalagi (Anm. 16), S. 253. 28 Elsemarie Maletzke: Die Linken auf dem Lande – ratlos. Protokoll einer dynamischen Landpartie zu den Ursprüngen des Kommunismus, in: Pardon, 1973, Nr. 12, S. 20–22, 75f. Ein Spiegel-Artikel über den »Papalagi« von 1980, der dessen Echtheit anzweifelt, erzählt die gleiche Anekdote, die der unbekannte Autor von Cain übernommen zu haben scheint, ohne sie zu überprüfen. Vgl. N.N.: Gedankenmatten nagen, in: Der Spiegel, 26. 05. 1980, Nr. 22, S. 222–228, hier S. 228. 29 Peter Brügge: »Wir wollen, daß man sich an uns gewöhnt«, in: Der Spiegel, 09. 08. 1971, Nr. 33, S. 36–51. 30 Vgl. u. a. Sven Reichardt: Authentizität und Gemeinschaft. Linksalternatives Leben in den siebziger und frühen achtziger Jahren, 2. Aufl. Berlin 2014, S. 156–186; Jens Ivo Engels, Umweltschutz in der Bundesrepublik – von der Unwahrscheinlichkeit einer Alternativbe-
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Lebensentwurf, den Maletzke nicht ohne Sympathien nach Inkonsistenzen und Widersprüchen zwischen Ideal und Wirklichkeit abklopft. Neben unbeholfenen und letztlich erfolglosen Versuchen, eine autarke Öko-Landwirtschaft zu etablieren, rückt dabei ein Gemeinschaftsleben in den Blick, das sich dezidiert von der bürgerlichen Lebensweise abgrenzt: Freikörperkultur, ein promiskuitives Sexualleben, experimenteller Drogenkonsum, antiautoritäre Strukturen des Arbeits- und Zusammenlebens sowie offene, persönliche und unmittelbare Kommunikation bestimmten die Vorstellungen und Ideale der Aussteiger*innen. Der charismatische Anführer der Kommune war Raymond Martin, der mit seiner Zeitschrift »Päng. Die beste Zeitung der Welt« (später Pängg) »das ideologische Rückgrat der Klein-Gesellschaft« bildete.31 In seinem 1969 gegründeten UPN-Volksverlag32 publizierte Martin auch Raubdruck-Ausgaben von »Papalagi« und »Lukanga Mukara«.33 Die Kritik der fingierten Exoten an der modernen Industrie- und Konsumgesellschaft deckte sich offenbar mit dem von den Kommunard*innen empfundenen »Unbehagen an der Kultur«. Interessanter als die Frage, ob sie den Authentizitätsansprüchen der Herausgeberfiktionen naiv glaubten oder nicht, ist die performative Konsequenz ihrer Lektüren: Sie nahmen die kritische Außenperspektive der edlen Wilden ernst und versuchten sich deren primitiver Lebensweise mimetisch anzunähern, sie nachzuspielen und schließlich in einer ökologischen Praxis umzusetzen. Cain hat die in der Wohngemeinschaft praktizierte »kollektive Abwendung von der Industriegesellschaft«34 treffend als Versuch charakterisiert, »sich an der ihnen attraktiver erscheinenden Lebensweise anderer Völker zu orientieren«.35 Circa fünfzig Jahre nach ihrer Erstpublikation versorgten »Lukanga Mukara« und »Papalagi« eine neue Alternativkultur mit ihren Vorbildern. Die Kommunard*innen aus Kucha waren bei weitem nicht die einzigen »Papalagi«-Leser*innen ihrer Zeit und UPN nicht der erste Alternativverlag, der die beiden Texte verbreitete. Seit Anfang der 1970er Jahre kursierten sie unter anderem in Raubdrucken der Westberliner Verlage Klaus Bär (1973), Jakobson
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wegung, in: Sven Reichardt, Detlef Siegfried (Hg.): Das alternative Milieu. Antibürgerlicher Lebensstil und linke Politik in der Bundesrepublik Deutschland und Europa 1968–1983, Göttingen 2010, S. 405–422. Maletzke: Die Linken (Anm. 28), S. 75. UPN steht für »Undefinierbare Produkte aus Nürnberg«. Zwei heute antiquarisch leicht erhältliche Ausgaben wurden 1976 veröffentlicht (Abb. 8). Es muss jedoch bereits vorher zumindest vom »Papalagi« einen anderen Raubdruck bei UPN gegeben haben, wie aus einem in »Päng« veröffentlichten Pressespiegel mit einer »Papalagi«Rezension aus der Zeitschrift »Sounds« von 1974 hervorgeht. Vgl. Päng. Die beste Zeitung der Welt, Herbst 1974, Nr. 10, S. 4. Brügge: Gewöhnt (Anm. 29), S. 40. Cain: Papalagi (Anm. 16), S. 253.
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(1975) und Pro Media, des Hamburger Release-Kollektivs (1973), Herrmann Cropps Packpapier-Verlag aus Osnabrück und des in Heidelberg von Werner Pieper gegründeten Verlags Die Grüne Kraft.36 Diese und andere Verlage bildeten eine Raubdruck-Szene, die durch alternative Buchhandlungen und Kommunen nach dem Modell des UPN-Kollektives in ländlichen, aber auch in urbanen Umgebungen regional eingebunden sowie überregional vernetzt war.37 Zur Selbstverständigung und Vernetzung dienten den Mitgliedern der Alternativkultur die zahlreichen Stadtmagazine und Szeneblätter, in denen auch »Papalagi« und »Lukanga Mukara« gelegentlich beworben und besprochen wurden.38
Programm und Ästhetik der Alternativpresse am Beispiel des Packpapier-Verlags In der Alternativpresse bildeten sich die intellektuellen Interessen des linksalternativen Milieus ab. Vor dieser Folie verspricht ein exemplarischer Blick in eines der Verlagsprogramme, in denen »Papalagi« und »Lukanga Mukara« erschienen, eine diskursive Verortung ihrer Rezeptionskontexte. Die Spannbreite der angrenzenden Themen, Texte und Autor*innen lässt sich am Programm des bis heute aktiven Packpapier-Verlags illustrieren.39 Im Programm finden sich vegane Kochbücher, Texte über Heilkräuter, alternative Medizin, über Drogen und Psychonautik, Dokumentationen über alternative soziale Bewegungen, Musikbücher und Liedersammlungen – etwa ein Wandervogel Liederbuch –, die Reihe »Projekt Utopie & Chaos« mit historischen Autoren wie Morus und Bacon sowie Texten aus dem Umfeld der zeitgenössischen Alternativbewegung und schließlich einige Raubdrucke literarischer Klassiker. In der bunten Zusammenstellung politischer Sachbücher wurden neben anarchistischen Klassikern wie Bakunin, Kropotkin und Mühsam auch Texte von Rudi Dutschke, Ulrike 36 Das Publikationsdatum wurde von vielen Verlagen nicht angegeben. 37 Für einen ausführlichen Überblick zur Alternativpresse vgl. Reichardt: Authentizität (Anm. 30), S. 223–315; zu Raymond Martin vgl. insb. S. 253, 302f., 490 und zu Werner Pieper S. 473. 38 Vgl. etwa Werner Pieper: Papalagi & Lukanga Mukara, in: Humus, 1978, Nr. 1/2, S. 140; Kompost. Eine Zeitung der Grünen Kraft, 1976, Nr. 19, S. 6f. Hier wurde ein Ausschnitt aus »Lukanga Mukara«, das Titelblatt der dritten Auflage der Erstausgabe sowie ein kurzer Kommentar zum vermeintlichen Plagiat Scheurmanns abgebildet. Wie der Titel sagt, war die Zeitung Teil des Verlags Grüne Kraft, der auch eine Ausgabe des »Lukanga« vertrieb. 39 Da historische Programme nicht oder allenfalls in Kartons im Keller des Verlegers Herrmann Cropp archiviert sind, konnte ich nur auf ein Programm von 2018 zurückgreifen. Es ist jedoch davon auszugehen, dass ein Großteil der undatierten Titel sich schon lange, meist seit den 1970er Jahren, im Programm befindet. Für diese Annahme spricht, dass die Titel heute ebenso aus der Zeit gefallen wirken (z. B. Texte von Andreas Baader und Ulrike Meinhof) wie das Design und die Drucktechnik, die sich bei alten Titeln nicht geändert zu haben scheinen, während Titel aus den 2000er Jahren oft ein deutlich moderneres Aussehen haben.
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Meinhof und Andreas Baader, aber auch wissenschaftliche Arbeiten von Kant, Malinowski und Max Weber aufgenommen. Im Kontext der Kulturkritik edler Wilder verdient insbesondere das in der Alternativszene verbreitete Interesse für die indigene Bevölkerung Nordamerikas Erwähnung, das vom Packpapier-Programm mit der Reihe »Indianer sprechen: Reden, überlieferte Texte, Gedichte« bedient wurde.40 Die kulturkritischen Texte, deren Authentizität teilweise fraglich ist, funktionieren meist nach einem ähnlichen Schema wie »Papalagi« und »Lukanga«. Im Release-Verlag eröffnete der »Papalagi« gar die Reihe »Indianer heute«, weil Tuiavii »geistig […] auf der gleichen universellen Ebene« wie die Indigenen Nordamerikas stehe.41 Schließlich sind aus dem Packpapier-Programm die Anleitungen zum Selbermachen und Selbstversorgen in der Reihe »Einfälle statt Abfälle« hervorzuheben, die ein Bedürfnis nach einfachen, ganzheitlichen und von der industriellen Zerstückelung bewahrten Tätigkeiten adressierten, das bereits die Lebensreform um 1900 sowie »Lukanga« und »Tuiavii« stark machten.42 Alternative Varianten des Selbermachens und Bastelns manifestierten sich neben Fahrrad-Selbsthilfe-Werkstätten, selbstgebastelten Lehmöfen, Kompostklos und Ethnoschmuck auch in den verlegerischen Praktiken der Alternativpresse,43 die sich in der Buchgestaltung einiger Raubdrucke von »Lukanga Mukara« und »Papalagi« widerspiegelten. Ein Beispiel für die durch günstigen Offset-Druck und Montagetechniken möglich gewordene bricolage-Ästhetik ist die »Papalagi«-Ausgabe, die Packpapier, und in ähnlicher Form auch einige andere Verlage, verbreiteten. Ökologisch nachhaltig und dem Verlagsnamen entsprechend, besteht der Umschlag tatsächlich aus dunklem Packpapier. Der Text selbst wurde aus der Erstausgabe von 1920 kopiert und deren Frakturtype und Satz somit übernommen. Die großzügigen Stege zwischen Satzspiegel und Seitenrand wurden jedoch fast vollständig abgeschnitten, sodass das kleinformatige Packpapier-Heftchen nur noch halb so groß ist wie das Original (Abb. 3, 4). Die Raubdrucker fügten elf zusätzliche Seiten mit Comicbildern ein, die in einem simplen, an Hergés Tintin erinnernden Ligne claire-Stil gezeichnet sind und zu den jeweiligen Textpassagen passende Szenen einer of40 Darin erschienen Titel wie John Mohawk Sotsisowah: Botschaft an die Europäer; Die Botschaft der Haudenosaunee an die westliche Welt; oder auch Russel Means: Die natürliche Ordnung wird sich durchsetzen, alle Osnabrück o. J. In Werner Piepers Zeitschrift »Der grüne Zweig« erschienen zwei Themenhefte über nordamerikanische Indianer. 41 Erich Scheurmann: Der Papalagi, Hamburg 1973, S. 5. 42 Vgl. z. B. »Es ist eine Freude, eine Hütte zu bauen, die Bäume im Walde zu fällen und sie zu Pfosten zu behauen, die Pfosten dann aufzurichten, das Dach darüber zu wölben und am Ende, wenn Pfosten und Träger und alles andere gut mit Kokosfaden verbunden ist, es mit dem trockenen Laube des Zuckerrohres zu decken« (P, S. 49); »[D]er Mensch ist nicht nur Hand oder nur Fuß oder nur Kopf; er ist alles vereint.« (P, S. 51). 43 Vgl. Anja Schwanhäusser: U-Zeitungen. Neue Medien für die Avantgarde der Eventkultur, in: Reichardt, Siegfried: Milieu (Anm. 30), S. 206–221, insb. S. 213–217.
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fenbar englischsprachigen Großstadt zeigen (Abb. 5). Die Abbildungen sind selbst Raubkopien jener Illustrationen, die der Comiczeichner Joost Swarte 1974 für die niederländische Übersetzung des »Papalagi« angefertigt hatte (Abb. 6).44 Wenn dem historischen Schriftbild in der Packpapier-Ausgabe ein popkulturaffines Medium zur Seite gestellt wird, wirken die Bilder jedoch eher kontrastiv denn illustrativ: Die deutlichen Konturen und locker geschwungenen Kurven der Ligne claire differieren von den gebrochenen Bögen und verschnörkelten Kanten der oftmals als »deutsche Schrift« reklamierten Fraktur, deren germanische Erscheinung die Verleger auch durch die englischen und französischen Schriftzüge im Comic unterliefen. Auf erläuternde Kommentare oder ein Vorwort verzichtete die »Papalagi«-Ausgabe von Packpapier. Die Frage, ob es sich bei den Reden um einen authentischen Text oder um Fiktion handelte, wurde damit gar nicht erst als Problem aufgefasst und der Lektüre der Leser*innen überlassen.
Abb. 3: Der »Papalagi«: Originalausgabe im Felsen-Verlag von 1922.
44 Vgl. Erich Scheurmann: De Papalagi. Redevoeringen van Tuiavii van Tiavea ’n Zuidzee Opperhoofd, Amsterdam 1975.
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Abb. 4: Der »Papalagi«: Raubdruck des Packpapier-Verlags und Raubdruck mit einer ComicIllustration von Joost Swarte.
Abb. 5: Der »Papalagi«: Comic-Illustration und Schriftbild im Raubdruck des Packpapier-Verlags.
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Abb. 6: Cover der niederländischen Übersetzung des »Papalagi«: »De Papalagi«. Redevoeringen van Tuiavii van Tiavea ’n Zuidzee Opperhoofd, Amsterdam 1975.
»Der Papalagi« zwischen Anarchismus und »Ethnoboom« Eine verwandte Klientel, bei der insbesondere die Texte Anklang fanden, siedelte sich in den 1970er Jahren nicht in Landkommunen, sondern am Rande der institutionalisierten Ethnologie an. Auch hier suchten die Studierenden nach dem Abklingen der 68er-Proteste im Blick zurück auf vormoderne Traditionen oder außereuropäische Kulturen nach Alternativen zur als »katastrophal« empfundenen Moderne.45 Die Ethnologie wurde zum breitenwirksamen Dis-
45 Für eine kritische Sicht vgl. Hans Jürgen Heinrichs: Die Katastrophale Moderne. Endzeitstimmung – Aussteigen – Ethnologie – Alltagsmagie, Frankfurt a. M. 1987.
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kursphänomen und avancierte im Zuge des sogenannten »Ethnobooms« zum Massenfach an den Universitäten.46 Es entstand eine »ethnologische Subkultur«, die in der Begegnung mit dem Fremden »nach einer neuen, anti-akademischen Form des Wissens« suchte.47 Unter anderem befasste man sich dabei mit bewusstseinserweiternden Praktiken wie Meditation, Drogenexperimenten und Schamanismus, wodurch man sich dem Exotismus der Hippie- und Kommunenbewegung annäherte. Ein wichtiger Exponent dieser Strömung ist Hans Peter Duerr, dessen exzentrische Monografie »Traumzeit – über die Grenze zwischen Wildnis und Zivilisation« zur »Fiebel eines ethnophilen Jahrzehnts« wurde.48 Duerr hat ein bemerkenswertes Vorwort für die »Papalagi«-Ausgaben bei Klaus Bär (1973) und Jakobson (1975) verfasst.49 Der »Unter dem Pflaster liegt der Strand« betitelte Text war zuvor in einem gleichnamigen, von Duerr im linken Karin Kramer Verlag herausgegebenen Sammelband mit historischen und zeitgenössischen Positionen zum Anarchismus erschienen. Das Vorwort entfaltet eine eigene Agenda, die »Tuiavii« gleichsam als Fürsprecher einer Kritik an der westlichen Rationalität ins Feld führt, die Erklärungen gegenüber Erfahrung bevorzuge und dazu tendiere, sich Fremdes und Deviantes unterschiedslos einzuverleiben, statt es in seiner jeweiligen Alterität anzuerkennen. Anarchistisch gibt sich der Text nicht nur durch die titelgebende Referenz auf die vielzitierte Parole aus dem Umfeld der Proteste des Pariser Mai 68, sondern auch und vor allem in formaler Hinsicht. Duerr subvertiert die Konventionen wissenschaftlichen Schreibens, indem er Fußnoten ins Leere laufen lässt statt Nachweise zu liefern,50 sich der Übersetzung von Tuiaviis Metaphern und Bilder in begriffliche Eigentlichkeit widersetzt,51 seine Sätze in eigenwilligen und von Tippfehlern 46 Vgl. Dieter Haller: Die Suche nach dem Fremden. Geschichte der Ethnologie in der Bundesrepublik 1945–1990, Frankfurt a. M. 2012, S. 242f. In den Publikationen von Fritz Kramer oder studentischen Initiativen wie der Zeitschrift Trickster wurden methodische, theoretische und politische Debatten um die Standortbestimmung der Disziplin ausgetragen (vgl. ebd., S. 244f., 261–264). 47 Vgl. dazu Rosa Eidelpes: Gegenkultur: Zur Rolle der »Primitiven« für Zivilisationskritik um 1900 und die »alternative Ethnologie« um 1980, in: Detlef Siegfried, David Templin (Hg.): Lebensreform um 1900 und Alternativmilieu um 1980. Kontinuitäten und Brüche in Milieus der gesellschaftlichen Selbstreflexion im frühen und späten 20. Jahrhundert (Jugendbewegung und Jugendkulturen. Jahrbuch 13), Göttingen 2019, S. 107–123, hier S. 113. 48 Eidelpes: Gegenkultur (Anm. 47), S. 112. Vgl. Hans Peter Duerr: Traumzeit. Über die Grenze zwischen Wildnis und Zivilisation, Frankfurt a. M. 1978. 49 Hans Peter Duerr: Nachwort. Unter dem Pflaster liegt der Sand, in: Erich Scheurmann: Der Papalagi. Die Reden des Südseehäuptlings Tuiavii aus Tiavea, Westberlin 1975, S. 70–75, zuvor in: Hans Peter Duerr (Hg.): Unter dem Pflaster liegt der Strand, Berlin 1974, S. 154–159. 50 Vgl. Fußnote 12: »Das Zitat ist aus einem Gedicht eines lateinamerikanischen Revolutionärs, dessen Name ich leider vergessen habe« (P, S. 75). 51 »Aufklären, was Tuiavii meint, wenn er seinen Brüdern mitteilt, daß die Denker der Papalangis von ihren Jünglingsjahren bis zum Mannesalter wie die Eisvögel an einer Stelle sitzen? Wo er doch wohl im Grunde damit sagen will, daß die Denker der Papalangis von ihren
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durchsetzten Hypotaxen verschachtelt und Zitate, Anekdoten und Fußnoten eklektisch zusammenwirft. Duerr verwickelt Tuiavii so in ein sprunghaftes Gespräch mit westlichen Denkern wie Diderot, Rousseau, Kant, Marx, Wittgenstein, Benjamin und Lévi-Strauss, das die in den Reden angedeuteten philosophiehistorischen Bezüge akzentuiert und den Exoten als Repräsentant unübersetzbarer Fremdheit und Alterität in den Kanon des westlichen Denkens einreiht. Ähnlich wie die Nürnberger Kommunard*innen, wenn auch in einer anderen intellektuellen Sphäre, adressiert Duerr den fremden Häuptling als Autorität, deren Wort auch ohne Überprüfung seines tatsächlichen Ursprungs Gültigkeit besitzt.52 Die scheinbar stillschweigend vorausgesetzte Behauptung, Tuiavii sei eine authentische Figur, ist damit weniger konstative Aussage, denn performative Setzung.
Zwischen Dilettantismus und Professionalisierung: Auseinandersetzungen zwischen Raubdruck- und Kommerzverlagen Auch wenn die alternativen Verlage und ihre Mitarbeiter ökonomischen Sachzwängen unterlagen,53 ging es ihnen in der Regel nicht um wirtschaftlichen Erfolg. Im Gegenteil versuchten sie, die als determinierend abgelehnten Bedingungen des Marktes auszuhebeln und die für die Szene relevanten Texte möglichst niedrigschwellig zugänglich zu machen.54 Das spiegelte sich auch in der Preispolitik wider: Statt des üblichen Buchpreises von zehn bis 20 Mark konnte man ein Heft des Packpapier-Verlags bereits zum »Volkspreis« von ein bis zwei Mark erwerben.55 Was eventuell bestehende Autorenrechte anging, machte die linke Kritik an der bürgerlichen Kategorie des Besitzes auch vor immateriellen Gütern nicht halt. Laut Herrmann Cropp galt: »Antiautoritär ist auch unsere
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Jünglingsjahren bis zum Mannesalter wie die Eisvögel an einer Stelle sitzen« (P, S. 72, Unterstreichung im Original). Eine ähnliche Rolle nimmt in Duerrs Texten der mexikanische Schamane Don Juan ein, bei dem der US-amerikanische Ethnologe Carlos Castañeda in eine spirituelle, bewusstseinserweiternde Lehre gegangen sein will. Die von Castañeda fingierten »Lehren des Don Juan« (1968) wurden wie Tuiaviis Reden lange Zeit als faktuale Erzählungen rezipiert. Vgl. Duerr: Traumzeit (Anm. 48). Maletzke berichtet etwa davon, dass Martin, der »Großverdiener im Haus«, gelegentlich wie der Vorgesetzte eines wirtschaftlichen Unternehmens auftritt: »Wer sich die schöne neue Welt nicht am Fließband verdienen will, kann für Stundenlohn bei Raymond arbeiten«; vgl. Maletzke: Die Linken (Anm. 28), S. 75f. Vgl. P. P. Zahl, Raubdruck. Linke Räuber? P.P. Zahl rotzt Päng, in: Kompost. Eine Zeitung der Grünen Kraft, Sommer 1979, Nr. 29, S. 7. Diese Preispolitik versucht der Verleger bis heute zu erhalten. Ein Exemplar von »Lukanga Mukara« lässt sich beispielsweise für 2,50 € erstehen.
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Einstellung zum geistigen Eigentum«,56 und Werner Pieper proklamierte: »Häuser besetzen, Texte besetzen«.57 Dabei nahmen die Verlage es in Kauf, ihre Autor*innen für deren Arbeit oft nicht oder nur gering entlohnen zu können.58 Dass die Verlage auch untereinander raubdruckten, zeigt die »Lukanga«Ausgabe des UPN-Volksverlags von 1976, der man kurzerhand eine Kopie von Herrmann Cropps Vorwort zur Ausgabe von Packpapier und Grüner Zweig voranstellte.59 Bemerkenswert ist dieser kurze, »Ein verschollenes Buch!« betitelte Paratext, weil er die Authentizität des edlen Wilden »Lukanga« zugunsten der Offenlegung von Paasches Autorschaft fallen lässt. Cropp idealisiert Paasche als »eine[n] der ersten Märtyrer, den die Nationalsozialisten auf dem Gewissen haben«, und inszeniert ihn als Vorreiter der Sponti- und Happeningkultur der 1970er: »Ein echter Provo, seine Happenings und Streiche würden ein Buch extra füllen«.60 Der – wohlgemerkt im gleichen Verlag erscheinende – »Papalagi« sei dagegen eine »lange nicht so deutlich engagierte« Kopie, wie Cropp unter Berufung auf die Aussage eines gewissen »Alten vom Weißen Berg« belegen will: »Dazu der Alte vom Weißen Berg: ›Ich kenne den Verfasser des Papalagi persönlich und weiß wie das Buch entstanden ist. Das ist kopiert, das ist regelrecht, ja man könnte sagen abgeschrieben‹«.61 Bei dem »Alten« handelt es sich um Willy Ackermann, einen Zeitgenossen Scheurmanns, der in den 1920er Jahren die zivilisationskritische Wendepunkt-Gemeinschaft gründete, ab 1931 bis zu seinem Tod 1985 mit seiner Frau Frieda ein weitestgehend autarkes Aussteigerleben in einem niedersächsischen Waldgebiet führte und sich noch in der Alternativpresse der 1970er und 80er gelegentlich zu Wort meldete.62 In Cropps Vorwort nimmt die Figur des »Alten vom Weißen Berg« eine »Lukanga« vergleichbare 56 Herrmann Cropp: Tuiavii aus Tiavea und Lukanga Mukara – die Hofnarren einer neuen Alternativschickeria?, in: Flugblatt des Packpapier-Verlags mit einer Zusammenstellung von Artikeln von Werner Pieper, Herrmann Cropp und H.D. Heilmann aus einem Sonderdruck der taz zur Buchmesse 1983. 57 Werner Pieper: Die Gedanken sind frei – Wer will sie verbraten?, in: Flugblatt (Anm. 56). 58 Werner Pieper schrieb dazu lakonisch: »Autoren müssen leben, ganz klar. Viele von ihren Hirnergüssen. Sollen sie. Ich kann als Verleger nur selten Honorare bar zahlen, in Büchern ist mir lieber«; Pieper: Gedanken (Anm. 57). 59 Vgl. Pieper: Gedanken (Anm. 57). Davon abgesehen übernahm Martin Paratexte und Vermarktungsstrategien, die sonst dem erfolgreicheren »Papalagi«-Buch zuteil wurden. So zierte bereits das Umschlagbild die auf den Papalagi bezogene Charakterisierung »Eine Kritik der europäischen Kultur, verfaßt von einem Exoten«. Zudem änderte er den Titel zu »Die Wasungu«, was der im Lukanga verwendeten afrikanischen Bezeichnung für die Europäer entsprach und damit ein Analogon zum Titel des »Papalagi« schuf (vgl. Abb. 8). 60 Hans Paasche: Die Forschungsreise des Afrikaners »Lukanga Mukara« ins innerste Deutschland, Osnabrück o. J. [ca. 1978], S. 1. 61 Ebd. 62 Vgl. Willy Ackermann: 45 Jahre Landkommunenerfahrung, in: Kompost. Eine Zeitung der Grünen Kraft, 1975, Nr. 16/17, S. 4f. Vgl. zu Ackermanns Verbindungen in die Jugendbewegung: Archiv der deutschen Jugendbewegung, P 1 Nr. 12.
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Vorbildrolle des authentischen Naturmenschen ein.63 Gleichsam aus einer fünfzig Jahre zurückliegenden Vorzeit kommend, knüpfte Ackermann ein Band zwischen der Aussteigerbewegung der 1970er und der Jugendbewegung der 1920er Jahre, die in der Rezeption von »Papalagi« und »Lukanga Mukara« sonst eine untergeordnete Rolle spielte.64 Cropp führt dabei gezielt das gesprochene Wort eines authentischen Zeitzeugen an, den er persönlich kannte,65 und nicht etwa eine schriftlich dokumentierte Quelle – eine Haltung, die typisch für das Unmittelbarkeits- und Authentizitätsbegehren des linksalternativen Milieus war.66 Mit juristischen Konsequenzen des von Ackermann vorgebrachten Plagiatsvorwurfs schienen sich bis dahin weder Paasche noch seine Leser*innen beschäftigt zu haben, denn auf eine Klage hat Paasche, so eine immer wieder erzählte Geschichte, wohlwollend verzichtet.67 Weniger großmütig verhielten sich die Verleger des Züricher Alternativverlags Tanner + Staehlin, die 1977 die Rechte am »Papalagi« erwarben. Um der Praxis des wechselseitigen Raubdruckens ein Ende zu bereiten, erhoben sie eine Anklage gegen jene Verlage, die den »Papalagi« weiterhin illegal vertrieben. Das Berliner Landesgericht gab Tanner + Staehlin Recht und drohte den Verlagen Pro Media und Jakobson im Falle einer Zuwiderhandlung gegen das Vertriebsverbot ein Ordnungsgeld von 500.000 Mark an. Beim Osnabrücker Packpapier-Verlag führte die Polizei gleich mehrere, weitestgehend erfolglose Hausdurchsuchungen nach Restbeständen durch, die von Cropp in einem Comic-Panel humoristisch verarbeitet wurden (Abb. 7). Die etablierten Alternativverlage reagierten darauf empört und nutzten ihre publizistische Reichweite, um ihre Sicht auf die Ereignisse darzustellen. Ein interessantes Dokument dieses Aufbegehrens ist die nichtlizensierte »Solidaritätsausgabe« des »Papalagi«, die 1978 von einer kurzfristig gegründeten »Verlagsgemeinschaft zur kostenlosen Veröffentlichung der Reden des Südseehäuptlings Tuiavii aus Tiavea« aus zahlreichen alternativen Verlagen, Buchhandlungen und Bioläden veröffentlicht wurde (Abb. 9).68 Das Buch erschien mit 63 In einer Ausgabe der Öko-Zeitschrift Humus findet sich der Leserbrief eines jungen Paares, das davon berichtet, eine kurze Zeit bei Ackermann und seiner Frau gelebt zu haben, von dem harten Arbeitsalltag auf dem Hof sowie Ackermanns zurückweisender Strenge jedoch wenig angetan war und dann auch »schnell rausgeschmissen« wurde; vgl. Veronika + Picouw: Vom weissen Berg, in: Humus Nr. 5, S. 8. 64 Zu den Verbindungen zwischen »Lebensreform um 1900 und Alternativmilieu um 1980« allgemein vgl. Siegfried, Templin: Lebensreform (Anm. 47). 65 So Cropp am 24. 07. 2019 in dem Mailwechsel, den ich mit ihm führte. 66 Vgl. dazu Reichardt: Authentizität (Anm. 30), insb. S. 65f. 67 Vgl. u. a. Kühnert: Kultbücher (Anm. 9). 68 Erich Scheurmann: Der Papalagi. Die Reden des Südseehäuptlings Tuiavii aus Tiavea … und seine papakapitalistische Verwertung … oder: alternative Geschäftemacher bitten um POLIZEI Schutz!, Köln o. J. [ca. 1978], hier S. 2.
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Abb. 7: Comicpanel zur Razzia beim Packpapier-Verlag.
Abb. 8: Cover der Raubdrucke von »Lukanga Mukara« und »Der Papalagi« im UPN-Volksverlag.
dem Untertitel »Der ›Papalagi‹ … und seine papakapitalistische Verwertung …« in einer Auflage von bloß 500 Exemplaren – allerdings mit der ausdrücklichen Aufforderung zum Nachdrucken. Im neu hinzugefügten »12. Kapitel« wurde der Rechtsstreit aus Sicht der Raubdrucker*innen aufgerollt und mit Abbildungen von Prozessakten sowie einigen Briefen dokumentiert. Robert Tanner habe sich Werner Pieper bei einer Reise zu Scheurmanns Witwe angeschlossen, von der
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Abb. 9: Cover der ›Solidaritätsausgabe‹ des »Papalagi«.
Pieper weitere »Papalagi«-Materialien und Fotos von der Samoa-Reise erbitten wollte. Entgegen einer ersten Absprache zwischen den dreien, nach der das Copyright am »Papalagi« frei »zum Gebrauch durch alle Freaks« bleiben sollte,69 habe Tanner später, »hinter jedermanns Rücken«,70 die Rechte zur exklusiven Vermarktung des Textes erworben. Tanner stand in der Szene als »Bösewicht« da, die vom Prozess finanziell geschädigten Verleger als »Opfer«. Neben einem Aufruf zu Solidaritätsspenden verwies die Autorin des zwölften Kapitels vor allem auf die Alternativlektüre »Lukanga Mukara«. Der Verlag Pro Media, der bei einer gescheiterten Klage auf Freisetzung des »Papalagi«-Copyrights 10.000 Mark verlor, hatte kurz zuvor die Rechte am »Lukanga« zwecks freier Verfügbarmachung erworben. Als weitere Reaktion auf den »Papalagi«-Prozess er69 Ebd., S. 2. 70 Pieper: Gedanken (Anm. 57).
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schien zudem eine Gemeinschaftsausgabe »Lukanga Mukaras« von Packpapier und Grüner Zweig (Abb. 10). Doch auch von diesem Titel sollte Anfang der 1980er Jahre mit Helmut Donat ein kommerziell orientierter Verleger das exklusive Copyright erwerben.
Abb. 10: Cover der Raubdruckausgabe von »Lukanga Mukara« bei Packpapier und Grüner Zweig.
Die Aneignung der zuvor in nichtkommerziellen Raubdrucken verbreiteten – und ohne diese wohl nie bekannt gewordenen – Texte durch gewinnorientiertere Verlage lässt sich als Beispiel für die These anführen, die Subkultur der 1960er und 1970er Jahre habe die neoliberale Konsumgesellschaft und die individualisierte Eventökonomie, die sich ab den 1980er Jahren konstituieren sollte, wesentlich mit vorbereitet.71 Wie eine zeitgenössische Diagnose dieses
71 Vgl. exemplarisch: Stephan Malinowksi, Alexander Sedlmaier: »1968« als Katalysator der Konsumgesellschaft. Performative Regelverstöße, kommerzielle Adaption und ihre gegenseitige Durchdringung, in: Geschichte und Gesellschaft, 2006, Nr. 2, S. 283–300; aus soziologischer Perspektive u. a.: Luc Boltanski, Ève Chiapello: Le nouvel esprit du capitalisme, Paris
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Befundes wirken Werner Piepers Äußerungen anlässlich des erneuten Aufkochens der Raubdruckdebatte nach Donats Klagedrohungen von 1983: »Der Markt ist durch Volksausgaben vorbereitet, jetzt kann der Preis um ein Mehrfaches angehoben werden, eine ›seriöse‹ Ausgabe kommt auf den Markt und jedermann kann es sich ins Bücherregal stellen. Sollen wir uns jetzt freuen, daß das Buch mehr Verbreitung findet? Ist es gut, daß Makroläden Pleite machen, weil jetzt auch Supermärkte eine Müsli-Ecke haben? Warum verleiht Neckermann nicht den Hippies Medaillen, weil diese vor Jahren als Kundschafter die Plätze für den neuen Tourismus aufgerissen haben? Es scheint solche zu geben, die leben und entdecken, und solche, die abschreiben und abstauben. Wobei Abstauber meist auch das Geld haben – und das Recht auf ihrer Seite. Zumindest auf dem Papier.«72 Was Pieper noch durch die Feststellung positiv wendete, dass die Samen der Raubdrucker dennoch aufgingen, »und sei es in fremden Gärten«, konnte Cropp nur als Herrschaft »einer neuen Alternativschickeria« bezeichnen, die sich von den ursprünglichen Anliegen weit entfernt hatte.73 Ähnlich wie Duerr rekurrierten Cropp und Pieper in ihrer Argumentation auf die Autorität der edlen Wilden, deren Kritik am Eigentum sie zitierten, um sie gegen ihre Gegner zu wenden und ihre eigene verlegerische Praxis zu legitimieren: »Unter denen, die schreiben und Geschriebenes verkaufen, gibt es allzu viele, die nicht schreiben, um den Lesern Notwendiges zu sagen, sondern nur, um recht viel Geld zu bekommen« (vgl. LM, S. 25).74 Tanner und Donat verabschiedeten sich dagegen im Zuge ihrer Neuorientierung auf bürgerliche Konsument*innen auch von den antibürgerlichen, auf Unmittelbarkeit und persönlichen Kontakt abzielenden Codes der Szene. Statt der Mündlichkeit suggerierenden Umgangssprache der Alternativpresse wählten die neuen Rechteinhaber die kommunikative Vermittlung über Anwälte und damit deren – aufs Schriftliche reduzierte – Juristensprache, die aus der Sicht der Raubdrucker*innen bürokratisch und vom politischen Establishment korrumpiert war. Der auf einem Flugblatt von 1983 abgedruckte Briefwechsel zwischen Cropp, Pieper, der Paasche-Erbin Helga Paasche sowie Donat und dessen Anwalt illustriert das wechselseitige Befremden dieser beiden als unvereinbar empfundenen Gesprächskulturen, deren Differenz Cropp in der rhetorischen Frage zuspitzte: »Was ist nun Recht? – Ein Wort zwischen Menschen oder ein hinterrücks abgeschlossener Vertrag?«75
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1999; Andreas Reckwitz: Die Erfindung der Kreativität. Zum Prozess gesellschaftlicher Ästhetisierung, Berlin 2012. Pieper: Gedanken (Anm. 57). Ebd., Cropp: Hofnarren (Anm. 56). Pieper: Gedanken (Anm. 57). Cropp: Hofnarren (Anm. 56).
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Der erneute Rechtsstreit, den Tanner in den 1980er Jahren gegen den von Donat aktualisierten Plagiatsvorwurf initiierte, nimmt sich vor diesem Hintergrund wie ein Wettbewerb zweier konkurrierender Unternehmen aus: Der Frankfurter Politikwissenschaftler Iring Fetscher hatte die Donat-Ausgabe von »Lukanga Mukara« 1984 für die »Zeit« rezensiert und 1986 ein Nachwort verfasst, in dem er schrieb, der »Papalagi« sei lediglich »ein ungeschicktes Plagiat, das den Afrikaner in einen Südseehäuptling verwandelt und seine Kritik verharmlost«.76 Die Verleger von Tanner + Staehlin forderten beim Stuttgarter Landgericht die Tilgung des Satzes aus Fetschers Nachwort, da dieser ein Mittel unlauteren Wettbewerbs sei. Dieser Forderung wurde stattgegeben und Donat dazu aufgefordert, die entsprechenden Aussagen im Nachwort zu streichen.77 Ob der »Papalagi« nun tatsächlich ein Plagiat sei oder nicht, wollte das Gericht nicht abschließend entscheiden.78 Es wäre unzutreffend, die zuvor von den Raubdrucker*innen in Anschlag gebrachten Autoritätsargumente als Bestätigung des Eindrucks zu lesen, dass die alternative Szene die beiden Figuren naiv als tatsächlich existente Repräsentanten fremder Kulturen begreife. Gerade in der Solidaritätsausgabe wird ersichtlich, dass Scheurmanns Autorschaft und seine NS-Vergangenheit bekannt waren: Im zwölften Kapitel ist unter anderem ein Brief von Scheurmanns Sohn veröffentlicht, in dem dieser seine Vertrautheit mit der Kommunenszene und sein Wohlwollen gegenüber den Raubdrucker*innen verkündet und sich von seinem Vater distanziert, »weil ich meinen Vater kannte und zB, [sic.!] daß er Nazi geworden ist und Gedichte für Hitlers Geburtstag geschrieben hat«.79 In der Züricher Ausgabe von 1977 sucht man eine solche Distanzierung vergeblich. Dabei sticht diese nicht nur durch das professionelle Layout und die Illustrationen von Maxine Eerd-Schenk, sondern auch durch die beiden Nach76 Iring Fetscher, Nachwort von Iring Fetscher, in: Hans Paasche: Die Forschungsreise des Afrikaners »Lukanga Mukara« ins Innerste Deutschlands, Bremen 1988, S. 109. 77 Kühnert: Kultbücher (Anm. 9). 78 Dass Scheurmann »Lukangas« Briefe tatsächlich kannte und sich beim Schreiben des »Papalagi« an ihnen orientierte, legt neben den inhaltlichen und formalen Ähnlichkeiten auch eine Überschneidung in den Biografien beider Autoren nahe: Hans Paasche war Mitherausgeber der Zeitschrift Der Vortrupp, in der die Briefe Lukangas 1912 und 1913 sukzessive erschienen. Für diese Zeitschrift arbeitete auch Scheurmann, allerdings erst nachdem sich Paasche wegen inhaltlicher Differenzen aus dem Projekt zurückgezogen hatte, sodass Scheurmann die Briefe höchstwahrscheinlich einsehen konnte. Das im Plagiatsstreit von Hanno Kühnert vorgetragene Argument, die stärker narrativierten Briefe sieben und neun hätten im »Papalagi« keine Entsprechung gefunden, weil sie zu dessen Entstehungszeit noch nicht veröffentlicht waren, ist unzutreffend. Sie erschienen bereits 1913 im Vortrupp. Neu hinzugefügt wurde in der Buchausgabe der vierte, sechste und achte Brief, die bereits verhandelte Themen aufgreifen und konziser fassen, insgesamt aber eher Redundanzen erzeugen. 79 Scheurmann: Papalagi (Anm. 68), S. 31.
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worte von Bertold Diel und André Grab aus der Masse der vorherigen Ausgaben heraus. Was auf den ersten Blick wie eine ordentliche Edition wirkt,80 erweist sich bei genauerem Hinsehen jedoch als philologische Skrupellosigkeit. Diel stellte die Reden Tuiaviis wider besseres Wissen, »im Dienste profitbewußter Legendenbildung«,81 als authentische Dokumente dar und schrieb diesen gar ein kolonialismuskritisches Potenzial zu: »Das Buch kann […] auch ›Verständnis‹ wecken für historische Fehlleistungen: Missionierung plus Kolonialisierung zum Beispiel«.82 Dabei spart André Grabs anschließender »Versuch einer Biografie« Scheurmanns oben skizzierte Kolonialideologie und NS-Vergangenheit bewusst aus. Vor dieser Folie wirkt die Idealisierung des angeblichen Tuiavii-Übersetzers, in der Grabs Text kulminiert, geradezu zynisch: »Erich Scheurmanns Leben war geprägt von unerschöpflichem Lebensmut. Er verstand es, immer wieder das vergessene Wesentliche des menschlichen Lebens in den Vordergrund zu rücken. Sein Werk ›Der Papalagi‹ ist wohl der beste Beweis dafür«.83 Dass hier ein wenig dick aufgetragen wurde, ist den Verantwortlichen möglicherweise selbst aufgegangen – die beiden Nachworte von Diel und Grab fehlen in späteren Auflagen. Die in der Ausgabe von 1992 angegebene Auflagenzahl (958.000–1.000.000) verdeutlicht jedoch, wie erfolgreich Tanner + Staehlins Vermarktung des Authentischen war. In der 1978 erschienenen Neuauflage des Samoa-Bandes setzte sich dieses Vorgehen fort. Der Bildband wurde nun als »Band 1« der »Materialien zum Papalagi« beworben, gut zwei Drittel der Bilder wurden herausgenommen, das Foto des Tuiavii als erstes Bild nach vorne verschoben und Scheurmanns Text von André Grab »überarbeitet[]«:84 Grab strich die kolonialrevisionistischen Passagen sowie jene Darstellungen der Samoaner*innen, die nicht mit den Reden Tuiaviis übereinstimmten.85 Auch Begriffe wie »Rasse« und »Entartung« fielen der »Bearbeitung« zum Opfer.86 Nur so ließ sich unbeschwert im illusorischen »Traum vom Zurückkommen« schwelgen, den die Verleger*innen und mit ihnen 80 Als solche wird die Ausgabe z. B. im Spiegel-Artikel von 1980 bezeichnet: N.N.: Gedankenmatten (Anm. 28), S. 224. 81 Stein: Exoten (Anm. 1), S. 17. 82 Bertolt Diel: Nachwort, in: Erich Scheurmann: Der Papalagi, Zürich 1977, S. 157–161, hier S. 160. 83 André Grab: Erich Scheurmann – Versuch einer Biografie, in: Scheurmann: Papalagi (Anm. 82), S. 164–174, hier S. 174. 84 Erich Scheurmann: Samoa gestern. Eine Dokumentation mit Fotografien von 1890–1918 und Text. Materialien zum Papalagi 1, Zürich 1978, S. 9. 1990 erschien, mit erneut abgewandeltem Titel, eine Ausgabe bei Goldmann, in der Text und Bilder sich nun abwechselten. Vgl. Erich Scheurmann: Samoa aus der Sicht des Papalagi. Ein Bericht mit vielen historischen Fotografien, München 1990. 85 Vgl. Ritz: Sehnsucht (Anm. 14), S. 124. 86 Stein: Exoten (Anm. 1), S. 16f. Zu den Streichungen gehören z. B. Passagen, in denen vermeintliche Schönheitsfehler sowie die karnivoren Essgewohnheiten der Samoaner geschildert werden.
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viele Leser*innen im »Papalagi« erkennen wollten. In diesem Sinne beschließt die Übersetzerin Eerd-Schenk ihre Nachbemerkung: »Ich habe eine Tochter von sechs Jahren und ich hoffe, daß dieses Kind mehr auf die Wünsche seiner Seele hören lernt, anstatt auf ›materialistische Gelüste des Körpers‹. Ein bisschen mehr Liebe zu sich selber und zu den anderen wäre mein größter Wunsch; so habe ich dieses Buch verstanden«.87
Vom Raubdruck zur Schullektüre Eerd-Schenks Gedanke an ihre kleine Tochter erweist sich retrospektiv als richtungsweisend, denn »Der Papalagi« hat es bis in die jüngere Vergangenheit auf die Lehrpläne deutscher Schulen geschafft.88 An einem pädagogischen Begleitheft von 1985 lässt sich nachvollziehen, wie die schulische Vermittlung des Textes umgesetzt wurde.89 Die von Winfried Hermann vorgeschlagenen Unterrichtseinheiten fragen vor allem nach der Aktualität der in den Reden artikulierten Kulturkritik, bemühen sich um einen Abgleich mit dem obligatorischen Lehrplan (die Stadt im Expressionismus, Bühlers Zeichenmodell), gehen auf den Entstehungskontext aber nur wenig ein. Zwar finden der Spiegel-Artikel von 1980, der das unkritische Pathos der »Papalagi«-Rezeption hinterfragt,90 sowie Cains Kritik am »Papalagi« Erwähnung, doch ist Hermann letztlich der Meinung, dass »auch die Untersuchung von Cain und das Zitat aus dem SPIEGEL keine hinreichenden, alles erklärenden Beweise sind«. Die Rahmenfiktion sei letztlich vor allem ein »Mittel der Kritik«, die der Autor nur unter der Maske des Exoten habe frei äußern können.91 So wie das linksalternative Milieu und die ökologische Bewegung 1980 mit der Gründung der Grünen eine systemimmanente Interessensvertretung erhalten hatten, wurden aus ehemaligen »Papalagi«-Lesern also Deutschlehrer, die ihre einst neben dem Studium betriebenen Lektüren in die Institution Schule trugen und pädagogisch funktionalisierten. Generationen von Schülern wurden so mit einem rassistischen Text eines Kolonialrevisionisten und späteren NS-Mitläufers in »literarischer Zivilisationskritik« unterrichtet.
87 Eerd-Schenk, in: Scheurmann: Papalagi (Anm. 82), S. 175. 88 Noch 2010 wurde der Text im gymnasialen Lehrplan des hessischen Kultusministeriums aufgeführt; vgl. Schwarz: Affekte (Anm. 23), S. 225. 89 Winfried Hermann: Stundenblätter »Der Papalagi. Ein Südseehäuptling erlebt unsere Zivilisation«. Literarische Zivilisationskritik. Eine Unterrichtseinheit für die Klassen 9/10, Stuttgart 1985. 90 Der Artikel bezieht sich auch auf Cains Aufsatz und konstatiert fast schon etwas gehässig: »Zweifel herrschen, freilich, an der Authentizität der Tuiavii-Reden – wenn auch nicht in alternativen Zirkeln«, vgl. N.N.: Gedankenmatten (Anm. 28), S. 228. 91 Hermann: Stundenblätter (Anm. 89), S. 67.
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Schluss Die Rezeptionsgeschichten von Hans Paasches »Lukanga Mukara« und Erich Scheurmanns »Der Papalagi« erwiesen sich als eng miteinander verflochten. Der im Vergleich zu »Lukanga Mukara« größere Erfolg des »Papalagi« erklärte sich dabei aus der unterschiedlichen paratextuellen Rahmung und Vermarktung durch die Alternativverlage der 1970er und 80er Jahre. Stärker noch als die Faszination für den von Nazis ermordeten ›Proto-Sponti‹ Hans Paasche wirkte auf die Leser*innen die natürliche Ursprünglichkeit eines authentischen Wilden, die im Fall des »Papalagi« wohl auch aus einem pragmatischen Grund in den Vordergrund gerückt wurde: Wegen seiner NS-Vergangenheit war der tatsächliche Autor als Identifikationsfigur schlicht ungeeignet. Aufgrund der in der linken Alternativkultur verbreiteten Präferenz für das Natürliche, Ursprüngliche und Unverfälschte, für persönliche Unmittelbarkeit und das direkt gesprochene Wort entwickelten die Reden des Südseehäuptlings Tuiavii langfristig ein größeres Attraktionspotenzial als die Briefe des Afrikaners Lukanga Mukara. Das Begehren nach authentischen Figuren ließ authentische Autorschaft in den Hintergrund treten. Mit Sven Reichardt verstehe ich die Authentizitätszuschreibungen der »Papalagi«- und »Lukanga«-Leser*innen weniger als naive Behauptungen, die es minutiös zu überprüfen und zu widerlegen gälte, denn als »Machtstrategie, mit der man im linksalternativen Milieu gültige und legitime Handlungsmuster auswies«.92 Gerade in den milieuinternen Konflikten um Urheberrechte und Plagiate kamen diese Strategien der Selbstbehauptung und Distinktion zum Einsatz. An der Solidaritätsausgabe zeigte sich, dass der Rückgriff auf die Autorität fingierter Exoten dabei nicht immer mit einer naiven, unkritischen Rezeptionshaltung einhergehen musste, sondern bisweilen in reflektierte Argumentationen eingebettet wurde. Durch die fiktiven Texte wurden gesellschaftliche Defizite in mythische Narrative überführt, die sich selbst im Wissen über konträre historische Fakten für gegenkulturelle politische Agenden funktionalisieren ließen. Die verlegerischen Entscheidungen der »Papalagi«Raubdrucker*innen haben dabei zumindest unbewusst dazu beigetragen, beim breiten Publikum jene naiven Lektüren zu provozieren, die Tanner + Staehlin später durch gezielte Täuschungsmanöver als dominanten Lesemodus etablieren sollten. Die hier vorgelegte Rezeptionsgeschichte ist eng mit der Geschichte der deutschen Gegenkultur nach 1968 verzahnt. Abschließend lässt sich jedoch ein transnationaler Ausblick hinzufügen, denn insbesondere der »Papalagi« wurde in zahlreiche europäische und asiatische Sprachen übersetzt und zirkuliert bis heute weltweit. 1981 erschien beispielsweise eine französische Ausgabe, der 2001 gar eine 92 Reichardt: Authentizität (Anm. 30), S. 57–71, hier S. 67.
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Neuübersetzung zur Seite gestellt wurde.93 Während das von Tanner + Staehlin angefeuerte Interesse am »Papalagi« und dem Genre der persischen Briefe spätestens in den 1990er Jahren abebbte,94 wird das Buch noch heute als »Le livre qui a traversé le XXe siècle à pieds nus!« in den Anthropologieabteilungen renommierter Pariser Buchhandlungen beworben.95 Diese Fehleinordnung mag dem Nachwort von Dominique Roudière, der Übersetzerin der Ausgabe von 2001, geschuldet sein, das Scheurmanns Authentizitätsfiktion unkritisch übernimmt und so die aus heutiger Sicht befremdliche Blindheit reproduziert, die in den 1970er und 80er Jahren gegenüber den kolonialistischen Tendenzen des Texts herrschte. Vereinzelt findet man auch heute noch Idealist*innen und Aussteiger*innen, die exotischen Wilde wie Tuiavii und Lukanga als Vorbild für die eigene Lebensweise heranziehen.96
93 Erich Scheurmann: Le Papalagui. Les étonnants propos de Touiavii, chef de tribu, sur les hommes blancs, übers. von Dominique Roudière, Benaix 2001. 94 Vgl. Fritz W. Kramer: Als fremd erfahren werden. Eine Lektüre der Reisebeschreibungen von Dorugu und Ham Mukasa, in: Paideuma, 2011, Nr. 57, S. 37–57, insb. S. 39f. 95 So wird es auf der Banderole der Ausgabe von 2001 formuliert. 96 Vgl. das einwöchige Papalagi-Festival: https://mbele.de/2018/09/08/papalagi-festival-2019; https://vorwaertsev.de/2018/09/10/papalagi-festival-2018 [10. 07. 2019].
Bernd Wedemeyer-Kolwe
Forschungsgegenstände und Forschungsgenerationen – Die Forschungsgeschichte der Lebensreformbewegung als Reflexionsproblem: Verläufe, Interpretationen, Selbstbilder1
Einleitung Wissenschaftliche Forschung steht immer in enger Wechselbeziehung mit den jeweils aktuellen Trends in der Forschung und dem Einfluss der jeweiligen wissenschaftlichen Persönlichkeiten. Forschungsverläufe und -interpretationen sowie Methoden und Theorien sind aber auch Spiegelbilder allgemeiner zeitgenössischer Befindlichkeiten, und sie sind Reflexe autobiografischer Verläufe der Akteurinnen und Akteure selbst. Dies dürfte vor allem für Forschungsthemen wie soziale Bewegungen gelten, die sensible Seismografen der jeweiligen Geschichtsepoche sind, und zwar sowohl für die zu erforschenden Epoche als auch für die Forschenden selbst. Der vorliegende Text befasst sich mit der Forschungsgeschichte eines zentralen Bestandteils der sozialen Bewegungen, der Lebensreformbewegung, seit den späten 1960er Jahren unter dem besonderen Blickpunkt der sich wandelnden Themen- und Interpretationsverläufen. Dabei soll reflexiv die ältere und jüngere Forschung in den Blick genommen und geprüft werden, ob die kritische Relativierung früherer Forschung für das Interpretationsschema der eigenen bzw. künftigen Forschung von Nutzen sein kann. Der folgende Abschnitt befasst sich zunächst mit den Definitionen der Begriffe und Phänomene »soziale Bewegung« und »Lebensreform«. Anschließend werden Interpretationen und Deutungshorizonte der Forschungsgeschichte zur Lebensreformbewegung referiert und zum Schluss ausgewählte autobiografische Zugänge der Forschenden zum Thema sowie zeitgeschichtliche Einflüsse auf die Forschungsperspektiven untersucht, um dann abschließend ein Resumé daraus zu ziehen.
1 Einführungsvortrag, gehalten auf dem siebten Workshop zur Jugendbewegungsforschung im Archiv der deutschen Jugendbewegung, 10.–12. Mai 2019. Der Text wurde gekürzt, aktualisiert und mit Anmerkungen versehen; der Vortragsstil wurde weitgehend beibehalten.
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Bernd Wedemeyer-Kolwe
»Soziale Bewegungen«: Definitionen Die Forschungsgeschichte der sozialen Bewegungen beginnt in ihrer wissenschaftlichen Breite in den 1960er Jahren. Zwar gab es schon ab der Zeit um 1900 vereinzelt Ansätze, bestimmte Gruppen der sozialen Bewegungen historisch zu erfassen und zu dokumentieren. Doch in der Regel entstanden derartige Studien aus den Bewegungen – Jugendbewegung, völkische Bewegung, Lebensreformbewegung – selbst heraus. Sie funktionierten als deren genuiner Bestandteil und gehörten zur selbsthistorisierenden, z. T. auch hagiografischen Eigenliteratur. Ihre Funktion lag deshalb nicht unbedingt nur in einer wissenschaftlich(selbst)kritischen Aufarbeitung, sondern es handelte sich auch um manipulative Versuche, sich über eine Darstellung der eigenen Bedeutungsgeschichte zu legitimieren, zu nobilitieren und gegen vermeintliche Konkurrenz abzugrenzen. Mit diesen Konstruktionen prägten sie lange Zeit auch die akademische Geschichtsschreibung, die die Rhetorik und die Inhalte der Eigenliteratur oft ungeprüft übernahm.2 Ab den 1960er Jahren befasste sich dann die akademische Geschichtsschreibung erstmalig auf breiterer Basis mit dem Thema »Soziale Bewegungen«. Zur Geschichte der Jugendbewegung entstanden erste fundierte historisch-kritische Arbeiten,3 in weiteren frühen wegweisenden Studien wurden erstmals Aspekte der völkischen Bewegung in der Weimarer Republik analysiert,4 und aus kunstund kulturhistorischer Sicht wurden die ersten quellengesättigten Arbeiten zur Geschichte der Lebensreformbewegung veröffentlicht; 1974 entstand schließlich die erste universitäre Studie – eine Dissertation – zur Lebensreform als »sozialreformerische Bewegung«, die sich in den nächsten Jahrzehnten als Standardwerk für die Forschung erweisen sollte.5 2 Vgl. aus der Fülle an Literatur z. B. Hans Blüher: Wandervogel. Geschichte einer Jugendbewegung, 3 Bde., Berlin 1912; Else Frobenius: Mit uns zieht die neue Zeit. Eine Geschichte der deutschen Jugendbewegung, Berlin 1927; Max Robert Gerstenhauer: Der völkische Gedanke in Vergangenheit und Zukunft. Aus der Geschichte der völkischen Bewegung, Leipzig 1933; Arno Vossen (d.i. Wilke Hermann): Sonnenmenschen. Sechs Jahrzehnte FKK in Deutschland, Hamburg 1956; vgl. dazu auch Eckart Conze: Die deutsche Jugendbewegung. Historisierung und Selbsthistorisierung nach 1945, in: Eckart Conze, Susanne Rappe-Weber (Hg.): Die deutsche Jugendbewegung. Historisierung und Selbsthistorisierung nach 1945 (Jugendbewegung und Jugendkulturen. Jahrbuch 14), Göttingen 2018, S. 15–32. 3 Harry Pross: Jugend, Eros, Politik. Die Geschichte der deutschen Jugendverbände, Bern 1964; Walter Laqueur: Die deutsche Jugendbewegung. Eine historische Studie, Köln 1962; vgl. dazu Conze: Jugendbewegung (Anm. 2), S. 20f. 4 George L. Mosse: The Crisis of German Ideology. Intellectual Origins of the Third Reich, New York 1964 (dt. 1979); Peter Gay: Weimar Culture. The Outsider as Insider, New York 1968 (dt. 1970). 5 Jost Hermand: Der Schein des schönen Lebens. Studien zur Jahrhundertwende, Frankfurt a. M. 1972; Janos Frecot, Johann Friedrich Geist, Diethart Kerbs: Fidus 1868–1948. Zur ästhetischen
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Der Begriff der »Bewegung«, der ursprünglich als Selbstbezeichnung jener heterogenen Gruppen fungierte, wurde von der damaligen Forschung im Wesentlichen so übernommen Erst in den 1980er Jahren begann man, den Begriff zu definieren und dabei die involvierten Gruppen unter gemeinsamen Aspekten zusammenzudenken. Dies geschah zu einem Zeitpunkt, als die damalige Sozialund Politikwissenschaft die Erforschung der zweiten Welle der »sozialen Bewegungen« der 1960er und 1970er Jahre als Thema für sich entdeckte. Die neue Thematik war der Anlass für die Forschung, ihre Aufmerksamkeit auf historische Bezüge zwischen den sozialen Bewegungen um 1900 und den als »neu« apostrophierten Bewegungen der 1960er und 1970er Jahre zu richten und Kontinuitäten und Bezüge zwischen den beiden Epochen anzudenken, zu belegen, zu verwerfen und auch zu konstruieren.6 Ein wichtiger Anstoß dazu kam u. a. von zwar akademisch ausgebildeten, jedoch in der Regel außeruniversitär verankerten Personen aus der Journalistik und aus Institutionen des zweiten Bildungswegs.7 1985 legte der Politologe Joachim Raschke schließlich eine erste epochenübergreifende Definition des Begriffs der »Bewegung« vor, in die er auch die Reformbewegungen der vorletzten Jahrhundertwende mit einschloss.8 Danach charakterisierte Raschke eine »soziale Bewegung« als heterogenen, variablen, durch ein ausgeprägtes »Wir-Gefühl« und einen ausgesprochenen Suchcharakter geprägten Zusammenschluss von Personen oder Gruppen. Diese Zusammenschlüsse seien auf eine kulturelle und soziale Veränderung der Gesellschaft oder – bei Gegenbewegungen – auf die Verhinderung von Veränderung ausgerichtet und verfolgten über eine Negativanalyse der bestehenden Verhältnisse eine gesellschaftliche, soziale oder religiöse Utopie. Dabei wies er der industriellen Phase die neokonservative und nationalsozialistische Bewegung, die Arbeiter-, Frauen- und Friedensbewegung und die Lebensreform- und Jugendbewegung zu. Insgesamt gelten dabei, nach Raschke, soziale Bewegungen als moderneimma-
Praxis bürgerlicher Fluchtbewegungen, München 1972; Wolfgang Krabbe: Gesellschaftsveränderung durch Lebensreform. Strukturmerkmale einer sozialreformerischen Bewegung im Deutschland der Industrialisierungsperiode, Göttingen 1974. 6 Vgl. dazu Detlef Siegfried, David Templin (Hg.): Lebensreform um 1900 und Alternativmilieu um 1980. Kontinuitäten und Brüche in Milieus der gesellschaftlichen Selbstreflexion im frühen und späten 20. Jahrhundert (Jugendbewegung und Jugendkulturen. Jahrbuch 15), Göttingen 2019. 7 Vgl. dazu z.B. Christoph Conti: Abschied vom Bürgertum. Alternative Bewegungen in Deutschland von 1890 bis heute, Reinbek 1984; Ulrich Linse: Ökopax und Anarchie. Eine Geschichte der ökologischen Bewegungen in Deutschland, München 1986. 8 Joachim Raschke: Soziale Bewegungen. Ein historisch-systematischer Grundriß, Frankfurt a. M. 1985.
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nent bzw. der Moderne direkt zugehörig. Sie seien gleichzeitig Produkt und Produzent sowie Ursache und Wirkung des sozialen Wandels.9 Die Definition und die historische Einteilung Raschkes wurden in der Folgezeit von der Forschung übernommen.10 Modifikationen ergaben sich dabei höchstens über Teilaspekte. So hatte Raschke zwar den Nationalsozialismus den sozialen Bewegungen zugerechnet; die politischen Entwicklungen des letzten Jahrzehnts veranlassten die Forschung verstärkt dazu, zusätzlich die Neue Rechte und den Neokonservatismus den neuen sozialen Bewegungen zuzuordnen und darauf hinzuweisen, dass etliche moderne – aber auch historische – Gruppen der sozialen Bewegungen sich einem klassischen Rechts-Links-Schema entzögen und gemeinsame Schnittpunkte aufweisen würden; beispielhaft werden hier ökologische, geopolitische, postmaterialistische und antikapitalistische Positionen genannt.11
»Lebensreformbewegung«: Definitionen Die ersten Jahrzehnte der über 50-jährigen Forschungsgeschichte zur Lebensreform sind durchgängig durch eine enge Definition des Phänomens gekennzeichnet. Danach sei die Lebensreformbewegung eine »sozialreformerische Bewegung«, die sich im Umfeld der zeitgenössischen Reform- und Protestbewegungen positioniert habe und die der negativ gedeuteten, durch Verstädterung und Kapitalismus geprägten modernen Industriegesellschaft ein positives Utopia entgegensetzten wollte. Die Lebensreform strebte keine Revolution an, sondern sie setzte auf eine bewusste Veränderung des Individuums, deren »Selbstreform« die gesamte Gesellschaft renovieren sollte. Das Ziel der Lebensreform sei ein selbstbestimmtes, gesundes und naturbewusstes Leben in einer überschaubaren und sich selbst versorgenden Gemeinschaft in einer als »natürlich« benannten Umgebung gewesen. Zu den Ingredienzien der Lebensreform gehörten eine gesunde Ernährung (Vegetarismus), natürliche Heilmittel (Naturheilkunde), ein natürliches Körperbewusstsein und ein gesunder Körper 9 Ebd., S. 109f. 10 Roland Roth, Dieter Rucht (Hg.): Neue soziale Bewegungen in der Bundesrepublik Deutschland, Bonn 1987; Roland Roth (Hg.): Die sozialen Bewegungen in Deutschland seit 1945. Ein Handbuch, Frankfurt a. M. 2008. 11 Thomas Kern: Soziale Bewegungen. Ursachen, Wirkungen, Mechanismen, Wiesbaden 2008, S. 53f. Vgl. dazu auch Cécilia Fernandez, Olivier Hanse (Hg.): A Contre-Courant. Résistance Souterraines à l’Autorité et Construction de Contrecultures dans les Pays Germanophones au XXe Siècle. Gegen den Strom. Untergrundbewegungen und Gegenkulturen in den deutschsprachigen Ländern des 20. Jahrhunderts, Bern 2014; Catherine Repussard (Hg.): Lebensreform – Antiglobalisierung. Metamorphose der Alternativbewegungen? De la Lebensreform à l’Altermondialisme. Métamorphoses de l’Alternativité? Strasbourg 2016.
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(Körperkultur) sowie eine natürliche Wohnumgebung (ländliche Siedlung). Ihre ideologischen Merkmale seien die Ausbildung von monomanen Heilslehren, ein gnostisches Sendungsbewusstsein und eine eschatologische Verhaltensweise.12 Im Kontext dieser Definition entstanden in den nächsten zwei Jahrzehnten etliche Grundsatzstudien – einige davon als Dissertationen – zu Teilaspekten der Lebensreformbewegung, wie etwa zur Siedlung, zur Naturheilkunde, zur Freikörperkultur und zum Vegetarismus.13 Kurz vor und zur Jahrtausendwende rückte die Lebensreform als Forschungsgegenstand in einen breiteren Kontext und wurde zum Teilgegenstand mehrerer grundsätzlicher Handbücher zu Reformbewegungen um 1900.14 Zur Jahrtausendwende erschien schließlich im Rahmen der Ausstellung »Die Lebensreform. Entwürfe zur Neugestaltung von Leben und Kunst um 1900« des Museums Mathildenhöhe Darmstadt ein Katalog, der einen Paradigmenwechsel in der Forschung einleiten sollte. In seiner Einführung verließ der Kunsthistoriker Klaus Wolbert die enge Auslegung von Lebensreform als selbstreformerische sozialutopische Bewegung und legte stattdessen eine breite »Definition von Lebensreform zugrunde, die weit über das Gebiet der traditionell als genuin reformerisch bezeichneten Aufgabenfelder hinausgreift«, da sie ein »zeitübergreifendes, interdisziplinäres Epochenpanorama« sei.15 Gestützt auf diese Annahme entschied sich die daran anknüpfende Forschung ebenfalls für eine thematische Ausweitung des Feldes. Zwar zog dies eine tendenzielle Überblendung lebensreformerischer Träger mit ihrer Rezeption nach 12 Vgl. Krabbe: Gesellschaftsveränderung (Anm. 5), S. 12f.; Frecot, Geist, Kerbs: Fidus (Anm. 5), S. 13f. sowie Janos Frecot: Die Lebensreformbewegung, in: Klaus Vondung (Hg.): Das wilhelminische Bildungsbürgertum. Zur Sozialgeschichte seiner Ideen, Göttingen 1976, S. 138– 152. 13 Vgl. Ulrich Linse: Zurück o Mensch zur Mutter Erde. Landkommunen in Deutschland 1890– 1933, München 1983; Ortrud Wörner-Heil: Von der Utopie zur Sozialreform. Jugendsiedlung Frankenfeld im Hessischen Ried und Frauensiedlung Schwarze Erde in der Rhön 1915 bis 1933, Darmstadt 1996; Cornelia Regin: Selbsthilfe und Gesundheitspolitik. Die Naturheilbewegung im Kaiserreich (1889–1914), Stuttgart 1995; Giselher Spitzer: Der deutsche Naturismus. Idee und Entwicklung einer volkserzieherischen Bewegung im Schnittfeld von Lebensreform, Sport und Politik, Ahrensburg 1983; Oliver König: Nacktheit. Soziale Normierung und Moral, Opladen 1990; Judith Baumgartner: Ernährungsreform – Antwort auf Industrialisierung und Ernährungswandel. Ernährungsreform als Teil der Lebensreformbewegung am Beispiel der Siedlung und des Unternehmens Eden, Frankfurt a. M. 1992. 14 Vgl. Uwe Puschner, Walter Schmitz, Justus H. Ulbricht (Hg.): Handbuch zur »Völkischen Bewegung« 1870–1918, München 1996; Diethart Kerbs, Jürgen Reulecke (Hg.): Handbuch der deutschen Reformbewegungen 1880–1933, Wuppertal 1998; Justus H. Ulbricht, Stefanie von Schnurbein (Hg.): Völkische Religion und Krisen der Moderne. Entwürfe »arteigener« Glaubenssysteme seit der Jahrhundertwende, Würzburg 2001. 15 Klaus Wolbert: Die Lebensreform. Anträge zur Debatte. In: Kai Buchholz, Rita Latocha, Hilke Peckmann, Klaus Wolbert (Hg.): Die Lebensreform. Entwürfe zur Neugestaltung von Leben und Kunst um 1900, 2 Bände, Darmstadt 2001, 1. Band, S. 13–21, hier S. 17f.
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sich. Aber dadurch entstand auch ein Paradigmenwechsel, der die These von der Zugehörigkeit der Lebensreform zu den sozialen Bewegungen zugunsten der Annahme abschwächte, die Lebensreform sei integrativer Teil der Gesellschaft und nicht eine randständigen Protestbewegung gewesen; ein Blickwinkel, der neue Perspektiven eröffnete.16 In der Folgezeit entstanden ganz unterschiedlichen Studien zum Thema mit breiten Thesen, Ansätzen und Zugängen, die von Sport über Literatur, bildende Kunst und Musik bis zu Lebensstilformen reichten und – nicht immer präzise, aber oft mit überraschenden Verweisen – mit lebensreformerischen Aspekten verknüpft wurden.17 Zwar gab es auch kritische Stimmen. So meinte die Literaturwissenschaftlerin Alexandra Pontzen in einer Buchbesprechung: »Mitunter drängt sich der Eindruck auf, dass ein bereits vorhandenes Material für das obligatorische Thema ›Lebensreform‹ nachträglich zurechtgebogen worden ist«.18 Jedoch hatte die Kontextausweitung auch den positiven Aspekt, dass das Forschungsfeld »Lebensreform« als ehemalige Außenseiterthematik in den akademischen historischen Wissenschaftsdisziplinen angekommen ist. Was bis in die 1980er und 1990er Jahre in der Lehre – zumindest nach den Erfahrungen des Verfassers in Göttingen – immer noch tendenziell ausgeklammert wurde, gehört gegenwärtig an geistes- und sozialwissenschaftlichen Fakultäten zum herkömmlichen Lehr- und Forschungskanon.
Lebensreformbewegung: Interpretationen und Deutungshorizonte Die unterschiedlichen Definitionen von »Lebensreform« führen zu der Frage, in welchen wissenschaftlichen Deutungshorizonten die gesellschaftliche Praxis der Lebensreform während ihrer Forschungsgeschichte angesiedelt worden ist und in welchen Kontexten sich die historischen Interpretationen bis heute bewegen.19 16 Eine neue Studie zur Lebensreform in der Schweiz zwischen 1945 und den frühen 1980er Jahren spricht die dortige geografisch und kulturell spezielle Szene dagegen nachvollziehbar als Milieu an; vgl. Eva Locher: Natürlich, nackt, gesund. Die Lebensreform in der Schweiz nach 1945. Frankfurt a. M. 2021. 17 Vgl. aus der Fülle an Studien Florentine Fritzen: Gesünder leben. Die Lebensreformbewegung im 20. Jahrhundert, Stuttgart 2006; Mischa Kläber: Moderner Muskelkult. Zur Sozialgeschichte des Bodybuildings, Bielefeld 2014; Pamela Kort: Künstler und Propheten. Eine geheime Geschichte der Moderne 1872–1972, Frankfurt a. M. 2015; Thorsten Carstensen, Marcel Schmid (Hg.): Die Literatur der Lebensreform. Kulturkritik und Aufbruchstimmung um 1900, Bielefeld 2016; Monika De Weerdt, Andreas Schwab (Hg.): Monte Dada. Ausdruckstanz und Avantgarde, Bern 2018. 18 Vgl. Anm. 26; Alexandra Pontzen: Kühne Thesen, in: Literaturkritik. Rezensionsforum vom 06. 03. 2017, verfügbar unter https://literaturkritik.de/carstensen-schmid-die-literatur-der-le bensreform-kuehne-thesen,23105.html [25. 11. 2020]. 19 Vgl. zum folgenden auch Detlef Siegfried, David Templin: Einleitung, in: Siegfried, Templin: Lebensreform (Anm. 6), S. 11–28.
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Die Forschung befasst sich mit der Lebensreform – nicht zufällig – seit den späten 1960er Jahren, mithin seit der großen Welle einer zweiten »alternativen« Bewegung, obwohl diese von ihrem Vorgänger um 1900 – so die ZEIT-Sonderausgabe »anders leben« von 2013 – angeblich kaum oder gar keine Kenntnis besessen habe. Selbst die Partei »Die Grünen«, so die Grünen-Politikerin Antje Vollmer 2013 im ZEIT-Gespräch, »kannten diese historischen Wurzeln nicht«.20 Am Anfang der wissenschaftlichen Beschäftigung standen Analysen zu einem der wichtigsten Protagonisten, dem Jugendstilmaler Hugo Höppener, genannt Fidus. Im Rahmen der Deutung seiner Person stufte man die Lebensreform als »romantisch-utopische(n) Antikapitalismus« ein, den man als antimodernen Rückzug in eine »neue Innerlichkeit« auffasste. Die soziale Trägerschaft der Lebensreform sei der orientierungslose alte Mittelstand um 1900 gewesen, der der Gesellschaft eine bürgerlich-idealistische Selbstreform entgegengesetzt und die soziale Frage damit privatisiert habe; inklusive ihres Hangs zum völkischen Gedankengut. Lebensreform galt als kompensatorische »Ersatzreligion«, eben als Kennzeichen politischer Ohnmacht. Im Kern seien dabei die Lebensreform bzw. ihre Träger gescheitert. Diese frühe Theorie wurde in der Forschung bemerkenswerterweise, wenn auch nur singulär, 2013 wieder aufgegriffen und als »Streben nach (gesellschaftlicher) Harmonie« bzw. als »soziale Dynamik der politischen Ohnmacht« bezeichnet.21 Im Verlauf der 1970er Jahre wurde das Bild differenzierter. Wolfgang Krabbe diagnostizierte 1974 eine therapeutische Funktion der Lebensreform als möglichen individuellen Weg aus der sozio-ökonomischen Fehlentwicklung der Moderne. Ihre Utopien seien überzeitliche Transzendenzstrategien und geleitet vom Wunsch nach Bewusstseinsveränderung; ihre Träger seien die städtisch-bürgerlichen Mittelschichten; ihre völkischen Anteile seien gering. Auch Ulrich Linse machte in den 1980er Jahren in der Klientel der Lebensreform eine »kulturelle Unzufriedenheit« aus, die zwischen bürgerlicher Protesthaltung und »privatistischer Lebenskunst« oszilliere, wobei der Aspekt der »(Selbst)Ver-
20 Christian Staas (Hg.): Anders leben. wilder denken, freier lieben, grüner wohnen. Jugendbewegung und Lebensreform in Deutschland um 1900, Hamburg 2013, S. 104. Die Forschung urteilt hier differenzierter; vgl. Silke Mende: »Nicht rechts, nicht links, sondern vorn«. Eine Geschichte der Gründungsgrünen, München 2011. Zumindest die ökologisch-völkischen Wurzeln des Gründungsmitglieds Baldur Springmann (1912–2003) dürften bekannt gewesen sein. Zudem hatte wohl Antje Vollmer selbst Kenntnis der geschichtlichen Vorläufer, da sie ihre eigene Dissertation über die Jugendbewegung geschrieben hat; vgl. Antje Vollmer: Die Neuwerkbewegung 1919–1935. Ein Beitrag zur Geschichte der Jugendbewegung, des religiösen Sozialismus und der Arbeiterbildung, Berlin 1973. 21 Frecot, Geist, Kerbs: Fidus (Anm. 5), S. 17f., S. 52f.; Hermand: Schein (Anm. 5), S. 125; Marc Cluet: Vorwort, in: Marc Cluet, Catherine Repussard (Hg.): »Lebensreform«. Die soziale Dynamik der politischen Ohnmacht, Marburg 2013, S. 11–50, hier S. 33f.
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marktung« lebensreformerischer Elemente nicht verkannt wurde.22 In der Folgezeit wurde in der Forschung das ambivalente, ja widersprüchliche Phänomen des vermeintlich »bürgerlich-antibürgerlichen« bzw. des daran anknüpfenden »rückwärtsgewandt-fortschrittlichen« Charakters der Lebensreformbewegung diskutiert; ein Phänomen, das ein typisches Merkmal etlicher Protest- und Suchbewegungen nicht nur der vorletzten Jahrhundertwende war. Nach Ulrich Beck enthält die Moderne immer auch einen modernekritischen Impetus; es sei eine Verfahrensweise der reflexiven Moderne, zu sich selbst in Opposition zu gehen und ständig nach Lösungen selbstverursachter Probleme zu suchen. Nach dieser Deutung wäre die Lebensreform ein Teil der lösungsorientierten reflexiven Moderne und als Korrektur der Moderne einer ihrer konstitutiven Bestandteile; tatsächlich hat sich die Lebensreform nicht unbedingt als rückwärtsgewandt aufgefasst, sondern sich auch als »vernünftig«, »modern« und »fortschrittlich« beschrieben.23 Anknüpfend an diese These wurde gelegentlich geäußert, die Lebensreform sei sogar als Speerspitze der Moderne aufzufassen, da die Moderne sich ständig in eine randständige Opposition zwinge, um die daraus resultierenden Kulturaspekte zu modernisieren und zu vermarkten; dies gelte gerade auch für die Lebensreform. 2006 schrieb Florentine Fritzen dann auch resümierend: »Die Modernekritik (der Lebensreform) modernisierte die Moderne«.24 In den darauffolgenden Jahren verließen die historischen Zuweisungen von Lebensreform die gesellschaftlichen Ränder, und ihre Trägerschaft wurde zunehmend in der Mitte der modernen bürgerlichen Mittelschicht verortet. In den jüngeren Publikationen gilt Lebensreform »als Motor für die Kommerzialisierung weiterer Lebensbereiche« oder auch »als Vorläufer heutiger Körperkonzepte und -praktiken«, deren »hygienische Selbstsorge des Individuums im Zeichen von Eugenik und Rassenhygiene biopolitisch-normalistisch« zu verstehen sei.25 Ihre Funktion wurde als »biopolitisch-körperliche Aufrüstung« gedeutet, die »auf vernünftiges Bewirtschaften biologischer Ressourcen« des eigenen sowohl auch des Bevölkerungskörpers abgezielt habe. Im Kern ging es der Lebensreform dabei »um Optimierung der individuellen Gesundheit und des persönlichen Wohlbefindens durch eine Umgestaltung des alltäglichen Le-
22 Krabbe: Gesellschaftsveränderung (Anm. 5), S. 11–27, S. 171 sowie Linse: Mensch (Anm. 13), S. 31f. 23 Vgl. Ulrich Beck: Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, Frankfurt a. M. 1986, S. 25f. und 76f.; Raschke: Bewegungen (Anm. 8), S. 32f. und S. 77f. sowie Bernd Wedemeyer-Kolwe: Aufbruch. Die Lebensreform in Deutschland, Darmstadt 2017, S. 158– 164. 24 Fritzen: Gesünder leben (Anm. 17), S. 36. 25 Andreas Schwab: Monte Verità. Sanatorium der Sehnsucht, Zürich 2003, S. 34f.; Maren Möhring: Marmorleiber. Körperbilder in der deutschen Nacktkultur 1890–1930, Köln 2004, S. 385.
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bensstils«.26 Zwar wird noch auf das »Alternative« der Lebensreform verwiesen, jedoch wird Lebensreform nicht mehr als soziale Bewegung aufgefasst, sondern als individualistisch gelebte bürgerliche Distinktionsstrategie gedeutet, die im Wesentlichen über den Körper und seine Zurichtung ablief.27 Dieses Interpretationsschema sieht dabei historische Parallelen zur gegenwärtigen »Gesellschaft der Singularitäten«, wie der Soziologe Andreas Reckwitz das Phänomen bezeichnet hat. Andreas Reckwitz selbst zieht in seinem Gegenwartskonzept der »Singularisierung des Körpers« durch »körperorientierte Bewegungskulturen« eine historische Verbindung zur Lebensreform um 1900 und greift dadurch das in der Forschung gewandelte Verständnis von »Lebensreform« vom Außenseiterphänomen zur modernen Körperpraktik auf.28
Lebensreform: Autobiografische Zugänge und zeitgeschichtlicher Einfluss Paradigmenwechsel sind in der Forschung natürlich nichts Ungewöhnliches; im Gegenteil: Unterschiedliche Sichtweisen auf Forschungsthemen und die Entwicklung und Anwendung neuer Theorien und Methoden sind geradezu konstitutiv für den Wissenschaftsprozess. In diesem Kontext ist es dabei zusätzlich aufschlussreich, sich mit den zeitgeschichtlichen Einflüssen und autobiografischen Hintergründen des Forschungsumfeldes zu befassen, da sie ein Baustein zur Erklärung der Paradigmenwechsel des Themas »Lebensreform und soziale Bewegungen« sind. Die ersten beiden Generationen der Lebensreformforschung in den 1960er und 1970er Jahren verfügten über eine gewisse biografische Nähe zu ihrem Forschungsfeld. Darüber hinaus hielten sie sich zum Teil selbst im Kontext der 1968er Bewegung auf oder sympathisierten mit ihr; zumindest war ihnen klar, dass sie ihre Forschungsfragen vor dem Hintergrund ihrer eigenen Imprägnierung und ihres sozialen Milieus formulierten. Ihre Lebensläufe weisen etliche Brüche auf, und sie bewegten sich auch nicht (durchgehend) im traditionellen
26 Karl Braun, Felix Linzner: Einleitung der Herausgeber, in: Karl Braun, Felix Linzner, John Khairi-Taraki (Hg.): Avantgarden der Biopolitik. Jugendbewegung, Lebensreform und Strategien biologischer »Aufrüstung« (Jugendbewegung und Jugendkulturen. Jahrbuch 13), Göttingen 2017, S. 9–18, hier S. 16; Stefan Rindlisbacher: Jugendzeitschriften zwischen Wandervogel und Lebensreform (1904–1924), in: Aline Maldener, Clemens Zimmermann (Hg.): Let’s historize it! Jugendmedien im 20. Jahrhundert, Köln 2018, S. 37–60, hier S. 46f. 27 Vgl. dazu auch zuletzt Eva Locher, Stefan Rindlisbacher, Andreas Schwab (Hg.): Lebe besser! Auf der Suche nach dem idealen Leben, Bern 2020. 28 Andreas Reckwitz: Die Gesellschaft der Singularitäten. Zum Strukturwandel der Moderne, Berlin 2017, S. 287f. und S. 327.
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Rahmen einer geregelten Hochschullaufbahn, sondern wichen, analog zu ihrem Außenseiterthema, von ihr ab. So waren Peter Gay (1923–2015) und George Mosse (1918–1999) zwei nach Amerika emigrierte deutschjüdische Historiker, die als späte Zeitzeugen noch Kontakt zu diversen Gruppen der sozialen Bewegungen hatten. Dass Peter Gay sein Buch über die Weimarer Republik ausgerechnet »Die Republik der Außenseiter« genannt hat, zeigt nicht nur seine historische Sichtweise auf die Epoche, sondern spiegelt auch sein mit Brüchen durchsetztes eigenes Leben. Ähnliches gilt für den Journalisten und Sozialwissenschaftler Harry Pross (1923–2010), den emigrierten deutschjüdischen Historiker Walter Laqueur (1921–2018) oder den emigrierten Journalisten Jost Hermand (geb. 1930). Der Historiker Klaus Vondung machte schon 1976 darauf aufmerksam, dass die Forschungsmotive jener Autoren aus »einem andersgearteten Erfahrungshintergrund« stammten und sie deshalb im Intellektuellenmilieu ihrer Zeit einen »besonderen Personenkreis« repräsentierten.29 Die zweite Forschungsgeneration der ab den späten 1930er Jahren Geborenen, die die Lebensreform verstärkt unter Außenseiterprämissen betrachtete, hielt sich ebenfalls selbst höchstens am Rand der Hochschule und deren damals eng gefassten Themenkanon auf und war noch durch die Veränderungen der 1968er Zeit besonders imprägniert. So verknüpfte der Kunsthistoriker und selbsternannte »geistige Gastarbeiter« Harald Szeemann (1934–2005) die Motive für sein 1978 erstelltes Projekt »Monte Verità« – er bezeichnete es als »alternative Ausstellung« – direkt mit seiner Zeitgenossenschaft: »Erst einmal die Nach-68erResignation, als die nicht gelungene Revolution, die zu einer Reihe von Wiederentdeckungen führte, von dem, was man den dritten Weg, also den Weg zwischen Kapitalismus und Kommunismus nennt […], also der dritte Weg der Lebensreform, [dann] meine persönliche Motivation […], Ausstellungen zu machen, die Teil meines Lebens sind«.30 Ulrich Linse – zunächst Lehrer in einer Einrichtung für den zweiten Bildungsweg, später Professor an der Fachhochschule München31 – hat in seinen Büchern und Aufsätzen ebenfalls immer wieder selbstreflexiv auf seine Motivlage zwischen eigener Bildungsbiografie, Famili29 Klaus Vondung: Probleme einer Sozialgeschichte der Ideen, in: Vondung: Bildungsbürgertum (Anm. 12), S. 5–19, hier S. 7. 30 Harald Szeemann: Harald Szeemann (Hg.): Monte Verità. Berg der Wahrheit. Lokale Anthropologie als Beitrag zur Wiederentdeckung einer neuzeitlichen sakralen Topgraphie, Mailand 1978, S. 7; das Zitat in Andreas Schwab: Harald Szeemann und der Monte Verità. Im Medium der Ausstellung zusammenfügen, was in der Realität gescheitert ist, in: Fernandez, Hanse: Contre-Courant (Anm. 11), S. 277–300, hier S. 289; vgl. auch Hans-Joachim Müller: Harald Szeemann. Ausstellungsmacher, Bern 2006. 31 Vgl. zu Linses wissenschaftlichen Biografie Judith Baumgartner, Bernd Wedemeyer-Kolwe: Einleitung, in: Judith Baumgartner, Bernd Wedemeyer-Kolwe (Hg.): Aufbrüche Seitenpfade Abwege. Suchbewegungen und Subkulturen im 20. Jahrhundert. Festschrift für Ulrich Linse, Würzburg 2004, S. 7–10.
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engeschichte und seiner Nähe zur 1968er Generation und alternativen Bewegung hingewiesen.32 Wolfgang Krabbe (geb. 1942), dessen Doktorvater ihm das akademisch nichtkonforme Thema »Lebensreform« damals stellte, hätte seine Studie, für die er sich inhaltlich noch rechtfertigen musste, so nicht durchführen können, ohne ebenfalls von den »Zeitumständen« der 1968er Jahre beeinflusst worden zu sein.33 Und auch die 1972 erschienene Fidus-Biografie des Autorenkollektivs Janos Frecot (geb. 1937), Diethart Kerbs (1937–2013) und Johann Friedrich Geist (1936–2009) war zunächst ein ungeliebtes außeruniversitäres Kind seiner Zeit. Der Kunstphilosoph Gerd Mattenklott schrieb 28 Jahre später über die Zeitumstände: »Wenig vorher wäre es undenkbar gewesen, einem Künstler […] und Autor dubioser Lebensreformprogramme eine derart aufwendig erarbeitete Studie zu widmen. Die akademischen Geisteswissenschaften hatten sich der Popularkultur noch kaum geöffnet und mußten sich durch deren hier demonstrativ vollzogene Aufwertung herausgefordert fühlen. Höchst ungewöhnlich, ja verwegen mußte es erscheinen, daß junge Wissenschaftler, die dazu noch im Kollektiv auftraten, sich am Beginn ihrer Karriere mit einer derartigen Arbeit der gelehrten Welt empfahlen«.34 Die nachfolgende Forschungsgeneration der zwischen Mitte der 1950er und Mitter der 1960er Jahre Geborenen verfügte, einer stichprobenartigen Umfrage des Verfassers zufolge, zum Teil ebenfalls über eine gewisse biografische Nähe zu ihrem Forschungsfeld, das an etlichen Hochschulen in den 1980er Jahren und auch später immer auf noch Ressentiments stieß. So berichteten Kolleginnen und Kollegen dem Verfasser von ihrem damaligen Wunsch, vor dem Hintergrund der eigenen Nähe zu zeitgenössischen alternativen Strömungen oder entsprechender Bezüge in ihren Familien in ihren akademischen Qualifikationsarbeiten selbst »mal was Unbekanntes zu machen« bzw. »nie Mainstream machen zu wollen«. Auch wenn es dabei durchaus zu alternativen Möglichkeiten in der Forschung und Darstellung von Abschlussarbeiten kommen konnte,35 stießen einige Ab32 Vgl. etwa Linse: Ökopax (Anm. 7), S. 7f.; Ulrich Linse: Ulmer Arbeiterleben vom Kaiserreich zur frühen Bundesrepublik. Mit zahlreichen zeitgenössischen Originalbildern von Friedrich Linse, Ulm 2006, S. 8f.; Ulrich Linse: Die wissenschaftliche Wiederentdeckung des historischen Alternativmilieus. Annotierte persönliche Erinnerungen, in: Siegfried, Templin: Lebensreform (Anm. 6), S. 125–148. Dass anarchistische Gruppen der 1970er Jahre Linses historische Texte zum Anarchismus als Raubdruck unerlaubt wiederveröffentlichten, mag die damalige Situation zusätzlich verdeutlichen. 33 Telefonische Auskunft von Prof. Dr. Wolfgang Krabbe, Münster, vom 28. 03. 2019; vgl. auch Krabbe: Gesellschaftsveränderung (Anm. 5), S. 11. 34 Gerd Mattenklott: Körperkult, Ökosophie und Religion. Ein kritisches Vorwort, in: Frecot, Geist, Kerbs: Fidus (Anm. 5). Erweiterte Neuauflage, München 1997, S. VII. 35 Vgl. z. B. die »Doppelstudienarbeit« an der Universität Hannover, Fachbereich Architektur, von Hans-Ulrich Heimer, Rolf Maniszewski, Jürgen Padberg, Christoph Weymann: Die Meuterei der Bürgerkinder oder wie kommt das Schiff ins Traumland. Die Kommune- und Siedlungsbewegung der 20er Jahre, Hannover 1983, bei der eigene Erfahrungen und Vor-
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solventinnen und Absolventen aber oft auf die Skepsis potentieller Betreuerinnen und Betreuer, denen entweder »etwas Normales« lieber gewesen wäre oder die Themen wie Lebensreform, Anarchismus, Jugendbewegung oder völkische Bewegung sogar ablehnten und die Anmeldung derartiger Arbeiten zumindest einzuschränken versuchten; z. T. überblendete man dabei unzulässig die angeblich unkritische Persönlichkeit der Absolventin und des Absolventen mit dem jeweils gewählten, angeblich unseriösen Thema.36 Durch derartige Erfahrungen konnte sich die Grundtendenz, dem akademischen Betrieb ohnehin kritisch bis distanziert gegenüberzustehen – die potenziert wurde durch das z. T. eigene nichtakademische Herkunftsmilieu37 – verstärken. Auch daher wurden bewusst Berufschancen außerhalb der Universität wahrgenommen, sofern während der »Akademikerschwemme« in den 1980er und 1990er Jahren, in denen Umschulungen in andere Berufsfelder nach dem Studium ohnehin an der Tagesordnung waren, überhaupt entsprechende Wahlmöglichkeiten bestanden hatten.38 Ab den 1980er fanden sich jedoch immer mehr jener Milieuinseln, auf denen sich Anhänger und Anhängerinnen der damaligen Alternativszene der Geschichte der Lebensreform und der zeitgenössischen Alternativbewegung widmeten und ihre private Themenwahl universitären bzw. konventionellen beruflichen Belangen überordneten. Eine solche Göttinger Enklave befand sich zu der Zeit am damaligen sogenannten Institut für Volkskunde, heute Institut für Kulturanthropologie / Europäische Ethnologie, an der sich eine entsprechende Gruppe um den unkonventionellen Hochschullehrer Prof. Dr. Helmut Möller stellungen mit alternativen Wohn- und künftigen Lebensweisen der Auslöser für eine historische Studie waren. 36 Vgl. als Beispiel Helmut Zander: Anthroposophie in Deutschland. Göttingen, 2 Bände, 2007, hier Band 2, S. 975 und S. 1717f. Zander (geb. 1957) hatte Mühe, seine geplante Habilitation – heute ein Standardwerk mit mehreren Auflagen – aufgrund der angeblich unseriösen Thematik an einer Universität einzureichen: »An einer zweiten (Universität) hieß es schlicht, Esoterikforschung sei unseriös« (S. 1717). 37 So stammt z. B. der Verfasser (geb. 1961) aus einer seit den 1920er Jahren in der politisierten Arbeiterklasse beheimateten Familie mit niedrigen Bildungsabschlüssen und sympathisierte selbst mit dem Aussteigermilieu der 1970er Jahre. Die Distanz des traditionellen Bildungsbürgertums gegenüber sozialen Aufsteigerinnen und Aufsteigern hat eine lange historische Tradition; vgl. Stefanie Demand: Wenn die Eltern nicht studiert haben, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 2020, Nr. 226, S. 22: »Einen Doktortitel erreichen Arbeiterkinder zehnmal so selten wie Akademikerkinder«. 38 Die Angaben beziehen sich u. a. auf Auskünfte von Dr. Cornelia Regin (geb. 1959, Hannover), apl. Prof. Dr. Uwe Puschner (geb. 1954, Berlin), Dr. Justus H. Ulbricht (geb. 1954, Dresden) und Prof. Dr. Meike Werner (geb. 1957, Nashville, USA). In diesem Bezug sicherlich eine Ausnahme, wenn auch typisch für die Befindlichkeit der Zeit, ist die Bemerkung von Meike Werner: »Meine Großkusine (Kusine zweiten Grades, angeheiratet): Ihre Mutter ist auf dem Schurrenhof aufgewachsen und ich erinnere die Erzählungen darüber lebhaft, auch das etwas Geheimnisvolle, wenn die Sprache auf die Hippies von damals kam« (Mail von Prof. Dr. Meike Werner, Nashville USA, vom 04. 12. 2020).
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(1926–2013) sammelte; offiziell bekannt durch eine wegweisende Studie zur »kleinbürgerlichen Familie im 18. Jh.«, inoffiziell berüchtigt durch seine Leidenschaft für die Geschichte des neuzeitlichen Okkultismus, an dessen Rändern er sich seit den 1970er Jahren auch intensiv mit Lebensreform, völkischer Bewegung und Jugendbewegung befasste. Seine Seminarthemen hatten so reizvolle Titel wie: Geheimbünde, Geschichte der Rauschmittel, Verschwörungstheorien, Prophezeiung und Propaganda, moderner Okkultismus, Rosenkreuzer und Illuminaten oder Hexen in alter und neuer Zeit. Akademisches Establishment und konventioneller Hochschulbetrieb waren Möller als Einzelgänger zutiefst verhasst. Aufgrund seiner Themen und seines Außenseiterstatus umwehte ihn der Ruf, »der Wissenschaftler des in hippieesken studentischen Kreisen extrem angesagten [Alternativen], Okkulten und Grenzwissenschaftlichen zu sein […]«. Seine Studierenden waren in der Regel Personen, »die mit dem Themenkanon der konventionellen Volkskunde nicht viel anfangen konnten und wollten«.39 Die Abschlussarbeiten, die Möller betreute, waren thematisch entsprechend imprägniert und reichten von »Die deutschen Okkultgruppen 1875–1937« (1980) über »Die Republik Freies Wendland« (1981) bis zu »Kleinunternehmerische Selbständigkeit und alternativer Lebensstil im Göttinger Raum« (1988). Seine Absolventinnen und Absolventen blieben auch nach dem Studium in der Regel im alternativen Milieu verhaftet: Journalist der Alternativszene, Esoterikbuchhändler, Antiquar, Trainerin für philippinische Stockkampfkunst, Betreiber einer Button- und Postkartenmanufaktur, Aussteiger und Landkommunenbewohner. Ein Absolvent gehörte der »Bewegung Undogmatischer Frühling« an und hatte unter dem Pseudonym »Mescalero« den damals bundesweit skandalträchtigen »Buback-Nachruf« verfasst. Ein anderer geriet über seinen Drogenkonsum in Konflikt mit der Justiz. Gerüchten zufolge habe Möller seinem Absolventen mittels eines entlastenden Briefes an die Behörden Beistand zu leisten versucht, in dem er angeblich darauf hingewiesen haben soll, dass toxische Selbstversuche in der Volkskunde – Möller nannte als Beispiel seinen eigenen akademischen Lehrer, Prof. Dr. Will-Erich Peuckert (1895–1969), der seinerzeit mit Halluzinationen hervorrufender »Hexensalbe« experimentierte – zum klassischen Forschungskanon gehörten. In den jüngeren und jüngsten Forschungsgenerationen – in der Regel zwischen 1970 und 1990 geboren – scheinen biografische Bezüge zum Thema Lebensreform und alternative Bewegungen weit weniger eine Rolle zu spielen als für die vorherige Generation. Bei den wenigen, vom Verfasser recherchierten Le39 Die Zitate sowie die folgenden Ausführungen in Bernd Wedemeyer-Kolwe: Zwischen akademischer Kultur und kulturgeschichtlicher Subkultur: Der Göttinger Volkskundler Helmut Möller (1926–2013), in: Kulturen. Zeitschrift für Kulturwissenschaften 2016, Nr. 1, S. 47–68, Zitate S. 56. Der Nachlass von Helmut Möller lagert im Archiv des Instituts für Grenzgebiete der Psychologie und Psychohygiene (IGPP), Freiburg, Bestand 10/38.
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Bernd Wedemeyer-Kolwe
bensverläufen lässt sich der Eindruck gewinnen, dass sich viele Forschende – im Gegensatz zur letzten Generation – eher innerhalb des Universitätsmilieus aufhalten bzw. aufgehalten haben und konventionellere Lebensläufe aufweisen. Auffällig scheint eine Distanz zur Idee des Außenseiterstatus alternativer und lebensreformerischer Lebenswelten zu sein. Zugleich hat Lebensreform heutzutage ihre ideologischen Versatzstücke verloren, ihre einstmals extremen Praktiken sind rezeptionell abgemildert und bürgerliches Allgemeingut geworden. Vor allem der Bezug der jüngeren Generationen zur Formung des eigenen Körpers – Fitness, Gesundheit, »Achtsamkeit« – und die gegenwärtig breite bürgerliche Rezeption nationaler und westlicher Naturkonstruktionen – Barfußschuhe, Badezimmer mit Holzeinrichtung, Wohnungen mit nackten Steinwänden, auf Naturkonstruktionen basierende Lebensmittelangebote, naturbelassene Möbel, numinose z. T. neovölkische Waldkonzepte, Co2 freie Kunstwerke, Urban Gardening – zeigt die soziale und gesellschaftliche Aneignung einstmaliger Außenseiterentwürfe, gerade auch vor der Folie problematischer ökologischer Zukunftsperspektiven. Auch hier und für die neue Generation also scheint das Thema Lebensreform auch ein Zugang zu sein, Anregungen für das Verständnis von Gegenwartsproblemen zu transportieren. Meine nicht abgesicherte These – die aufgrund fehlender Forschung hier spekulativ bleiben muss – wäre daher, dass jüngere Kolleginnen und Kollegen aufgrund ihrer Zeitgenossenschaft und ihres biografischen Hintergrundes ein eigenes, ganz anderes Bild von Lebensreform entwerfen, ja entwerfen müssen und zwangsläufig zu anderen Ergebnissen kommen als noch vor 20 Jahren.
Schlussfolgerungen Welche allgemeinen Schlüsse lassen sich am Beispiel der auf die Lebensreformforschung bezogenen Thesen für die wissenschaftliche Forschung formulieren? Forschung, zumindest geisteswissenschaftliche Forschung, ist erstens immer subjektiv: die Wahl des Themas, der Sekundärliteratur, der Quellen, der Methoden, der Theorien und die Ergebnisse selbst sind kontext- und zeitabhängig. Sie sind abhängig von der jeweiligen Forschungsgeschichte, von den akademischen Lehrerinnen und Lehrern und von eigenen biografischen Zugängen; auch dieser Beitrag unterliegt jenen Abhängigkeiten. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sind, zweitens, Teil einer Forschungstradition, die sich wandelt, widerlegt und erneuert, und sie sind zugleich Teil einer Zeitgenossenschaft, ohne die die gewählten Themen so nicht gewählt würden. Die eigene Position ist als Teil dieser Tradition zu verstehen, und ein entsprechendes Bewusstsein dafür fördert die bessere Einordnung und Interpretation der gewählten Zugänge und Perspektiven.
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Das Bewusstsein für diese Subjektivität ist, drittens, Chance und Privileg. Im Gegensatz zu anderen Berufen haben Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler den Vorteil, Sinn- und Identitätsfragen im Rahmen ihrer Forschung reflektieren und formulieren zu können.
Werkstatt
Lorenz Hegeler / Leon Kernwein
Zur Ausstellung »Gelebte Utopien – Siedlungsprojekte der Lebensreform« »Die unabhängige, selbstversorgende ländliche Ansiedlung […] war das Zentralprojekt, die wichtigste Idee, die eigentliche Utopie und die grundlegende Sehnsucht in der Lebensreformbewegung.«1
Mit eben jener Sehnsucht der Lebensreform befasst sich die Jahresausstellung des Archivs der deutschen Jugendbewegung 2019/2020. In diesem Rahmen werden Bilder und Dokumente des Archivs vorgestellt, unter denen sich auch neue und bisher unbearbeitete Bestände befinden. Die Ausstellung gibt eine Einführung in die Siedlungsprojekte der Lebensreform ab dem Ende des 19. Jahrhunderts und versucht eine Annäherung an ein äußerst diverses Themenfeld. In insgesamt zwölf Ausstellungstafeln spiegelt sich die Arbeit von dreizehn Studierenden des Faches Europäische Ethnologie/Volkskunde der Julius-Maximilians-Universität wider, die sich im Wintersemester 2018/2019 unter der Leitung von Felix Linzner intensiv mit jener Thematik beschäftigt haben. Die Tafeln sind dabei inhaltlich miteinander verknüpft und skizzieren beispielhaft verschiedene Siedlungen. Einführend werden die Grundzüge der Lebensreform und der Siedlungsbewegungen dargestellt. Hierbei wird insbesondere auf die Motivationen zur Siedlungsgründung eingegangen. Den Einstieg in die verschiedenen Siedlungsprojekte bildet die im Jahr 1921 auf dem Vogelhof in der Schwäbischen Alb gegründete Hellauf-Siedlung. Im Sinne einer christlich-völkischen Ausrichtung lag ihr Fokus auf dem »Streben zum ›Hellen‹ in Gesinnung und Lebensführung«.2 Eine eigene Tafel ist zudem der Hellauf-Schule gewidmet, die als Angliederung an den Vogelhof 1925/26 von Friedrich Schöll, einem Mitgründer der Hellauf-Siedlung, ins Leben gerufen wurde. Als »Weltanschauungsschule« sollte hier bereits den Jüngsten die völkische Ideologie zur »Schaffung einer arisch-christlichen Lebensgemeinschaft«3 vermittelt werden. Ähnlich gestaltete sich die 1919 vom Ehepaar Hunkel gegründete Siedlung Donnershag im rhönhessischen Sontra, wobei hier der rassenhygienische Gedanke besonders stark ausgeprägt war. Als Ziel galt die »Er1 Bernd Wedemeyer-Kolwe: Aufbruch. Die Lebensreform in Deutschland, Darmstadt 2017, S. 124. 2 Friedrich Schöll: Zweiter Siedlerbrief, in: Ulrich Linse (Hg.): Zurück o Mensch, zur Mutter Erde. Landkommunen in Deutschland 1890–1933, München 1983, S. 205. 3 Ebd., S. 200.
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neuerung der germanischen Rasse«,4 welche über eine regelrechte Zucht von vermeintlich deutsch-nordischen Kindern aus polygamen Ehen erfolgen sollte. Hier deutet sich die spätere nationalsozialistische Blut-und-Boden-Ideologie bereits an. Während die Existenz der beiden völkischen Siedlungen zunächst auf landwirtschaftlichen Erzeugnissen und eigenen Verlagen basierte, war die auf der nächsten Tafel dargestellte Siedlung in Blankenburg stets von Mäzenen abhängig. Die von der Jugendbewegung beeinflusste Siedlungsgemeinschaft bewegte sich vor einem gänzlich konträren ideologischen Hintergrund. Sie wurde alsbald politisch aktiv und als kommunistisches »Spartakistennest«5 noch im Gründungsjahr 1919 wieder aufgelöst. Die sechste Tafel beschäftigt sich mit der Siedlung Loheland in der hessischen Rhön, die von Frauen gegründet wurde. Mit der Vermittlung lebensreformerischer Ideale sowie handwerklicher und landwirtschaftlicher Kenntnisse sollte die Selbstbestimmung der Frauen in einer von Männern dominierten Welt gefördert werden. Ebenso war es möglich, eine Ausbildung zur Gymnastiklehrerin in der angegliederten Gymnastikschule zu absolvieren, die im Sinne der Körperkultur stand. Auch in Schwarzerden in der Rhön gelang es drei jungen Frauen aus der Wandervogelbewegung, eine Bildungsstätte und eine Gymnastikschule zu errichten. Wie in Loheland sollte die Siedlung zunächst nur von Frauen bewohnt und bewirtschaftet werden. Um die Existenz von Schwarzerden zu sichern, traten die Bewohnerinnen bewusst mit jenem kapitalistischen Wirtschaftssystem in Kontakt, das sie prinzipiell ablehnten, und beharrten nicht wie manch andere Siedlung auf Unabhängigkeit und Isolationismus. Beiden Siedlungen kann retrospektiv eine Vorreiterrolle in der Frauenemanzipation attestiert werden. Die bereits 1893 gegründete Obstbaukolonie Eden Oranienburg existiert in veränderter Form bis heute und gilt als eine der erfolgreichsten Siedlungen der Lebensreform. Der Verkauf von Produkten aus dem Obst- und Gemüseanbau sorgte durchgehend für wirtschaftliche Stabilität. Als Hochburg des Vegetarismus zog die Siedlung mit kulturellen Angeboten und Veranstaltungen wie dem Vegetarierkongress 1932 zahlreiche Lebensreformer nach Oranienburg. Einer vegetarischen Lebensweise verschrieben sich auch die Bewohner des im Jahr 1900 gegründeten Monte Verità. Das lebensreformerische Sanatorium im schweizerischen Ancona besaß eine große Reichweite und galt als Treffpunkt für Andersdenkende und Intellektuelle wie Hermann Hesse oder Erich Mühsam. Verschiedene Ideologien und Ziele der Bewohner*innen führten letztlich zum Ende 4 Peter E. Becker: Zur Geschichte der Rassenhygiene. Wege ins Dritte Reich, Stuttgart u. a. 1988, S. 231. 5 Michael Früchtel: Der Architekt Hermann Giesler. Leben und Werk (1898–1987), Tübingen 2008, S. 27.
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des Monte Verità. Der Gartenstadt ist die zehnte Tafel gewidmet. Dieses städtebauliche Konzept, dessen Grundsätze die Zonierung der Funktionen Wohnen und Arbeiten, ein einheitlicher Baustil sowie eine umfassende Begrünung des gesamten Areals bilden, geht auf einen Entwurf des Engländers Sir Ebenezer Howard aus dem Jahr 1898 zurück. Zahlreiche lebensreformerische Siedlungen, wie beispielsweise die Gartenstadt Hellerau bei Dresden, beriefen sich auf dieses Konzept, das naturnahes Wohnen und Arbeiten ermöglichen sollte. Einige der genannten Siedlungen existieren bis heute, wenngleich in veränderter Form. Darüber gibt die abschließende Tafel der Ausstellung einen exemplarischen Einblick. So ist zum Beispiel die ursprüngliche Frauensiedlung Loheland, die 2019 ihr 100-jähriges Bestehen feierte, heute für alle Geschlechter zugänglich. Sie umfasst neben einer Waldorfschule und einer Schreinerei eine Berufsfachschule für Sozialassistenz. Auch nach hundert Jahren bilden hier die Stichworte Gemeinschaft und Natur das Leitbild der Siedlung. Nach der Auseinandersetzung mit der Gesellschaft zu Beginn des 20. Jahrhunderts, der Lebensreform sowie den verschiedenen Siedlungen und ihren Bewohner*innen mit den unterschiedlichsten Ideologien, Zielen und Lebensweisen stellten sich die Studierenden im Blick auf das oben angeführte Zitat von Wedemeyer-Kolwe die Frage, ob es denn eine idealtypische Siedlung gegeben hat oder gar gibt. Wurde die »grundlegende Sehnsucht« der Lebensreformer, eine »unabhängige, selbstversorgende ländliche Ansiedlung«6 aufzubauen, erfüllt? Bilanzierend ist festzustellen, dass keine wirklich autonome Siedlung existiert(e). Der Verkauf von meist landwirtschaftlichen Produkten an Außenstehende war für viele der genannten Siedlungen existentiell wichtig. Eine reine Selbstversorgung gelang keinem der genannten Beispiele. Dennoch entwickelten sich Gemeinschaften, die auf unterschiedliche Art und Weise einen alternativen Lebensentwurf darstell(t)en. Dieser Versuch, der bürgerlichen Welt zu entfliehen, eint die genannten Siedlungen. Entgegen dem Kapitalismus, der Industrialisierung und im Blick auf die Wohnungsnot wurden eine »Rückkehr zur Natur« und das einfache, bäuerliche Leben propagiert. Die Ausstellung erhebt freilich nicht den Anspruch auf eine vollständige, detaillierte Darstellung dieser Bewegung in ihrer Komplexität, die sich über keinen klar abzugrenzenden Zeitraum sowie in unterschiedlicher Ausprägung vollzog. Ihr Ziel ist vielmehr, einen Einblick in die Pluralität der Siedlungsbewegungen anhand ausgewählter Beispiele zu liefern. Durch die Auseinandersetzung mit diesem zentralen kulturellen Phänomen der Lebensreformbewegung konnten im Sinne einer »historisch argumentierende[n] Gegenwartswissenschaft«7 Erkenntnisse über Lebenswelten, Alltage, Motivationen und Ziele der Siedler*innen sowie die sie umgebenden Diskurse gewonnen 6 Wedemeyer-Kolwe: Aufbruch (Anm. 1). 7 Wolfgang Kaschuba: Einführung in die Europäische Ethnologie, München 42012, S. 85.
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werden. Ebenso zeigte sich, wie Gesellschaften und Lebensmodelle neu entworfen werden (können). Zu erwähnen sei auch eine erste Aufarbeitung einer, dem Archiv erst kürzlich übertragenen, Schenkung zum Vogelhof, die wichtiges Forschungsmaterial zur Siedlung Hellauf bietet. Letztlich kann das Format dieser Ausstellung im Archiv der deutschen Jugendbewegung als Einführung und Anreiz zur intensiveren Beschäftigung mit dem Thema Siedlungsbewegungen der Lebensreform dienen, das einen wichtigen Bestandteil der deutschen Jugendbewegung sowie des Reform- und Alternativmilieus darstellt.
Zur Ausstellung »Gelebte Utopien – Siedlungsprojekte der Lebensreform«
Ausstellungstext »Gelebte Utopien – Siedlungsprojekte der Lebensreform«
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Abb. 1a: Einführung
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Abb. 1b: Einführung
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Abb. 2: Blankenburg
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Abb. 3: Donnershag
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Abb. 4: Eden
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Abb. 5: Gartenstadt
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Abb. 6: Vogelhof
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Abb. 7: Hellaufschule
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Abb. 8: Loheland
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Abb. 9: Monte Verità
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Abb. 10: Schwarzerden
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Abb. 11a: Impressum und Abbildungsnachweise
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Abb. 11b: Impressum und Abbildungsnachweise
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Abb. 11c: Impressum und Abbildungsnachweise
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Abb. 12: Ausblick
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Zur Ausstellung »Gelebte Utopien – Siedlungsprojekte der Lebensreform«
Abb. 13: Projekt und Dank
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Nicole Nunkesser
Vereinnahmung des städtischen Raums und jugendkulturelle Selbstinszenierungen durch junge Frauen im Ruhrgebiet der 1950 Jahre
Im laufenden Dissertationsprojekt zum Thema wird die Frage nach weiblicher jugendkultureller Selbstinszenierung junger Frauen und die sich bedingende Vereinnahmung des städtischen Raums durch junge Frauen im Ruhrgebiet der 1950er Jahre verfolgt. Erörtert werden soll, welche (Frei)Ra¨ume und Möglichkeiten der Partizipation am öffentlichen Leben sich junge Frauen der Jahrgänge 1940 bis 1945 entgegen den vorherrschenden weiblichen Leitbildern der Zeit schufen, besetzten und verloren. Hierin formuliert sich die Hypothese, dass durch die milieuspezifisch zu interpretierende Teilnahme an jugendlicher Konsumkultur junge Frauen im Ruhrgebiet der 1950er Jahre Räume konstituierten, die sich vielschichtig darstellen und den Körper performativ als Medium von Selbstinszenierungen in den Fokus rücken. Zentrale Fragen lauten damit: – Welche (Frei)Räume suchten junge Frauen im Alter von 15–20 Jahren in den 1950er Jahren entgegen den ihnen gesellschaftlich zugesprochenen? – Wie und in welchen Arten und Weisen verschafften sie ihrer Sehnsucht nach Räumen der Partizipation Ausdruck? – Wie wurde der öffentliche städtische Raum als Bühne performativer Selbstdarstellung durch junge Frauen genutzt? – Inwiefern wurden durch distinktives jugendkulturelles Verhalten dieser jungen Frauen geschlechtsspezifische Rollenmuster dekonstruiert und neue Räume der Selbstentfaltung konstituiert? Unter diesem Verständnis fungiert der öffentliche städtische Raum als Bühne, wird zum Laboratorium jugendlicher Inszenierung, konstituiert und wandelt sich hierüber.1 Jugendliche dieser Dekade profitierten zum Teil von steigenden finanziellen Möglichkeiten, sie interpretierten die beginnende konsumindustrielle Vereinnahmung von Jugend in den 1950ern durch audiovisuelle Medien 1 Vgl. Birgit Bütow, Ramona Kahl, Anna Stach (Hg.): Körper. Geschlecht. Affekt. Selbstinszenierungen und Bildungsprozesse in jugendlichen Sozialräumen, Wiesbaden 2013, S. 28.
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und Musik für die Gestaltung eigener Räume. Diese eroberten Räume standen jedoch unter stetiger Beobachtung – einerseits resultierend aus der gesellschaftlichen Erwartung an die jüngere Generation als Hoffnungsträger*innen, andererseits durch gesellschaftliche Zuschreibungen von unmoralischem Verhalten. Während es über die männliche Inbesitznahme des öffentlichen Raumes im Zuge der zeitgenössischen Jugendforschung der 1950er Jahre, sowie der historischen Forschung zu dem »Halbstarkenphänomen« differenzierte Darstellungen gibt2, wird die Präsenz der Mädchen bzw. jungen Frauen an Jugendorten als marginal diskutiert, insbesondere in der wissenschaftlichen Zitation durch die Jugendforschung der 1950er. Indem jungen Frauen der 1950er Jahre eine Mädchen-Kultur »innerhalb der eigenen vier Wände«, etwa im eigenen Zimmer3 zugesprochen wird, wird damit die Möglichkeit alternativer Formen des Widersetzens gegen elterliche und gesellschaftliche Konventionen verschwiegen. Nur wenige wissenschaftliche Untersuchungen richteten bislang die Perspektive auf junge Frauen in den 50er Jahren.4 Einigkeit herrscht über die Betonung des Ausschlusses der Mädchen vom Widerstand gegen gesellschaftliche Konventionen, aber auch aus öffentlichen Räumen. Mädchen werden weiterhin in den »Innenräumen« der Gesellschaft verortet.5 Die Quellenbasis der Analyse basiert auf zeitgenössischen Fotografien (Stadtund Pressefotografie, Privatfotografien), Printmedien (Jugendmagazine BRAVO und Twen), Interviewsequenzen (Sekundäranalyse von Forschungsergebnissen zu den 1950er Jahren) und Expert*innengesprächen. Anders als Interviews lässt 2 Vgl. Günther Kaiser: Rebellierende Jugend. Eine soziologische und kriminologische Studie über die sogenannten »Halbstarken«, Heidelberg 1959; Thomas Grotum: Die Halbstarken. Zur Geschichte einer Jugendkultur der 50er Jahre, Frankfurt a. M. 1994; Sebastian Kurme: Halbstarke. Jugendprotest in den 1950er Jahren in Deutschland und den USA, Frankfurt a. M. 2006. 3 Das blieb allerdings bis Mitte der 1960er Jahre für viele Mädchen ein Traum. 4 Vgl. Edith Göbel: Mädchen zwischen 14 und 18. Ihre Probleme und Interessen, ihre Vorbilder, Leitbilder und Ideale, und ihr Verhältnis zu den Erwachsenen, Berlin u. a. 1964; Waltraut Küppers: Mädchentagebücher in der Nachkriegszeit, Stuttgart 1964. Elisabeth Pfeil: Die 23 Jährigen. Eine Generationenuntersuchung am Geburtenjahrgang 1941, Tübingen 1968; Angela McRobbie, Jenny Garber: Ma¨ dchen in Subkulturen, in: John Clarke u. a. (Hg.): Jugendkultur als Widerstand, Bodenheim 1979, S. 217–237. Christina Bartram, Heinz-Hermann Krüger: Vom Backfisch zum Teenager – Mädchensozialisation in den 50er Jahren, in: HeinzHermann Krüger (Hg.): Die Elvis-Tolle, die hatte ich mir unauffällig wachsen lassen. Lebensgeschichte und jugendliche Alltagskultur in den fünfziger Jahren, Leverkusen 1985, S. 84– 102. Kasper Maase: ›Lässig‹ kontra ›zackig‹ – Nachkriegsjugend und Männlichkeiten in geschlechtergeschichtlicher Perspektive, in: Chrstina Benninghaus, Kristina Kohltz (Hg): Sag mir wo die Mädchen sind, Wien 1999. Philip Jost Janssen: Jugendforschung in der fru¨ hen Bundesrepublik. Diskurse und Umfragen, Köln 2010. 5 Vgl. Giesela Thiele, Carl Taylor: Jugendkulturen und Gangs. Eine Betrachtung zur Raumaneignung und Raumverdrängung nachgewiesen an Entwicklungen in den neuen Bundesländern, Berlin 1998.
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das Medium Fotografie als Quelle vielfältige Blicke und Interpretationen zu. Methodisch lehnt die genutzte Bildanalyse an das »seriell-ikonografische« Fotoanalyseverfahren nach Pilarczyk und Mietzner6 an. Dieses Verfahren ermöglicht neben der Auswertung größerer Bestände auch Einzelbildanalysen. Nach Pilarczyk und Mietzner7 liegt das Ziel der seriellen Fotoanalyse im dem »Aufspüren von kontinuierlichen bzw. diskontinuierlichen Entwicklungen, Auffälligkeiten und Differenzen«. In einer Pendelbewegung zwischen einer hermeneutisch begründeten analytischen Ebene beschreibt sich das methodische Arbeiten dieses bildanalytischen Forschungsverfahrens in der »ikonografischikonologischen Einzelbildinterpretation«. Zur Prüfung der angeführten Hypothesen empfiehlt sich die weitere Validierung eines größeren Bildbestandes. Die laufende Arbeit besteht darin, verschiedene Fotografien der 1950er Jahre von jungen Frauen im urbanen Raum innerhalb eines »synchronen Vergleichs« zueinander in Beziehung zu setzen und gegebenenfalls auch einen kontrastierenden Vergleich öffentlicher und privater Fotografien anzustoßen.8 Welche Interpretationen aber auch Inszenierungen weiblicher Leitbilder verdeutlichen sich in den Bildquellen, inwiefern nahmen sie reziprok Einfluss auf die jungen Frauen? Die Fotografie dient hier als historische Quelle für die Diskussion der Fragen, wie junge Frauen der 1950er Jahre durch ihre Körperinszenierungen Raum vereinnahmten und hervorbrachten. Die für die Analyse relevanten Fotografien irritieren – so die hier verfolgte These – das im »kollektiven Gedächtnis« gespeicherte Narrativ »Mädchen/Frau in den 1950er Jahren«, erinnert als »verträumter Teenager mit Pferdeschwanz und Petticoat«. So gilt es, die gängigen Mädchenleitbilder der Zeit zu bestimmen und dahingehend zu hinterfragen, wie sie wiederum von den jungen Frauen gedeutet und interpretiert oder auch modelliert wurden. Welchen Aufschluss gibt die Fotografie vom März 19599 über Raumaneignungen und Raumkonstitutionen durch weibliche Jugendliche? Diese Fotografie des Herner Stadtfotografen Gerd Peters entstammt einer kleinen zwölf Fotografien umfassenden Serie.10 Die fotografierte CafeEspresso Milch-Bar lag in
6 Vgl. Ulrike Pilarczyk, Ulrike Mietzner: Das reflektierte Bild. Die seriellikonografische Fotoanalyse in den Erziehungs- und Sozialwissenschaften, Bad Heilbrunn 2005. 7 Ebd., S. 142. 8 Vgl. Nicole Nunkesser: Girl Trouble – Teddy Girls im London der 1950er Jahre, in: GENDER – Zeitschrift für Geschlecht, Kultur und Gesellschaft, 2020, Nr. 02, S. 116–134. 9 Die Serie verdankt ihre Entdeckung den Recherchen des Historikers Ralf Piorr, der sie im Keller des Herner Rathauses entdeckte. Der Bestand Gerd Peters umfasst 600 Papierumschläge mit gefalteten Pergaminhüllen aus den Jahren 1955–1965. 10 Die Serie ist unter dem Titel »Herner Halbstarke« im Pixelprojekt Ruhrgebiet archiviert: https://www.pixelprojekt-ruhrgebiet.de/_/de_DE/series/herner-halbstarke82f4.html [29. 05. 2020]. Entgegen dem vorliegenden Material sind dort nur sechs Fotografien digitalisiert. Die
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Gerd Peters, Stadtfotograf, März 1959, Herne.
einer Seitenstraße der Bahnhofstraße in der Stadt Herne und gehörte zu einer kleinen Geschäftszeile auf dem Vorplatz des Hauptbahnhofs. Einige der zur Serie gehörenden Fotografien erlauben einen Einblick in ein gemeinsames Kickerspiel acht junger Männer in einer Spielhalle. Eindeutig sind jugendkulturelle Akzente, die dem »Halbstarkenphänomen« zugeschrieben werden können, auszumachen (Lederjacken, Jeanshosen, typische Frisuren und Mäntel). Lässig und völlig unbeeindruckt vom Fotografen verfolgten die jungen Männer ihr Spiel. Es fällt auf, dass junge Frauen innerhalb der Fotografien unterrepräsentiert sind. Gründe dafür bleiben aktuell spekulativ. Was allerdings schon jetzt deutlich wird und die These der Raumvereinnahmung stützt, ist die grundsätzliche Partizipation weiblicher Jugendlicher am jugendkulturellen Geschehens im urbanen Autorin dankt Ralf Piorr für die freundliche Unterstützung durch die Zurverfügungstellung der gesamten Serie.
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Raum. Das verwundert nicht, so waren junge Frauen trotz bekannter Einschränkungen in den 1950er Jahren nicht ausschließlich auf ihren familiären Kreis beschränkt und eingeschränkt. Zu hinterfragen ist dennoch, wie sie mit »Einschränkungen« umgegangen sind und sich diesen widersetzten? Wenn Gerd Peters 1959 männliche Jugendliche in einer Spielhalle fotografierte, drängt sich jedoch die Frage auf, ob auch gleichzeitig Mädchen in der Spielhalle waren? Oder aber mieden junge Frauen aufgrund gesellschaftlicher Konventionen Räume dieser Art? Nahmen sie hingegen als Beobachterinnen teil und wollten auch nur als solche wahrgenommen werden? Interessant sind hier beispielsweise die beiden jungen Frauen in Abb. 1, die links neben dem Eingang der Milchbar einander zugewandt stehen. Fast unsicher wirkt die rechts stehende junge Frau mit den kurzen Haaren. Während die Frau im mit den verschränkten Armen im Eingang der Milchbar das Geschehen und die Anwesenheit des Fotografen mit ihrem Blick taxiert, wirkt es, als weiche die junge Frau hingegen dem Blickkontakt zum Fotografen aus (oder nähme ihn schlicht nicht wahr). Beide Mädchen vergraben lässig ihre Hände in ihren modischen Kapuzenmänteln. Die Mädchen scheinen sich für das gemeinsame Treffen zurecht gemacht zu haben und tragen feine Schuhe, die sich aufgrund ihrer Funktionalität nicht für einen längeren Marsch anbieten, zur Schau. Die Gruppe Jugendlicher links im Bild nimmt keine Notiz vom Fotografen Peters. Zwei weitere junge Frauen im Gespräch miteinander wirken hingegen selbstsicher, offener und gegenüber dem Ort vertrauter. Spannend ist hier die Körperhaltung der jungen Frau links mit Regenschirm. Das Spielbein ist im Sinne eines »Stand- und Spielbein Kontrapost« nach links vorne gestreckt und der Regenschirm mittig selbstbewusst vor ihren Körper gesetzt. Die Milchbar wird hier zum Treffpunkt, zum »Jugendraum«, der vom geschlossenen Raum in den öffentlichen Raum hineinragt, indem mehrere Jugendliche den Vorplatz zum Eingang vereinnahmen. Vom legitimierten Raum der Milchbar, der Jugend zugesprochen wird, erweitert diese ihre Möglichkeiten durch Vergemeinschaftung und Abgrenzung gegenüber Erwachsenen. Jugendliche erlebten die 1950er Jahre als Spannungsverhältnis zwischen den Versprechungen des wirtschaftlichen Aufschwungs und dem gleichzeitig restriktiven Festhalten an alten Werten und Normen der Erwachsenengeneration. Sie erlebten, wie und in welcher Geschwindigkeit die Ruhrgebietsstädte nach flächendeckenden Zerstörungen des Zweiten Weltkrieges wuchsen. Sie beobachteten und intendierten die Re-Urbanisierung und suchten und fanden etablierte und nicht etablierte Räume. Insbesondere junge Frauen dürften diese Zeit als ambivalent in Bezug auf Frauenbilder wahrgenommen haben. Einerseits erlebten sie selbstständige Frauen, die als Kriegerwitwen um einen Platz in der Gesellschaft rangen11, andererseits ein propagiertes Frauenbild, das Häuslichkeit 11 Hierzu hält Seegers fest, dass 5,3 Millionen verstorbene Soldaten ca. 1,2 Millionen Witwen,
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und Fürsorge idealisierte. »Gutes Benehmen«, begründet in Moral und Anstand, wurde nicht zuletzt in Westdeutschland durch die Kampagne »Schmutz und Schund« kolportiert. Eine selbstbestimmte Entwicklung der eigenen Sexualität wurde den Kindern und Jugendlichen nicht zugestanden. Die Angst der Erwachsenen war zu groß und die Folgen einer vermeintlichen »Amerikanisierung«12 durch den neuen Konsummarkt, der die Jugend als Kunden entdeckte, nicht absehbar. Den Ängsten und Vorurteilen der Elterngeneration wurde letztlich durch Abwertung und Verurteilung der Jugendmusik Vorschub geleistet. Auch wenn der öffentliche Diskurs um die 1950er Jahre die Freizeitaktivitäten und das Konsumverhalten von Jugendlichen wie Kinogänge, Tanzen oder Treffen in Cafés in den Fokus rückte, kann dies nicht für alle Jugendlichen gleichermaßen gelten.13 Dies war habituellen, ökonomischen und infrastrukturellen Gründen geschuldet. Das der amerikanischen Populärkultur entstammende medial inszenierte Leitmotiv des »Teenagers«, dieses Leitbild eines Mädchens in engen Hosen oder Petticoat, entsprach nicht den Kleidungs- und Anstandserwartungen der Eltern. In Kontrast dazu steht der männlich rebellierende »Halbstarke«, der die öffentliche Sphäre vereinnahmte, wohingegen sich die jungen Frauen in ihrem Aktionsradius auf die »häusliche Sphäre« beschränkt sahen. In verschiedenen Ruhrgebietsstädten war es insbesondere durch männliche Jugendliche in den Jahren 1956/1957 zu »Halbstarkenkrawallen« gekommen. Junge Frauen, die unmittelbaren Kontakt zu männlichen »halbstarken« Jugendlichen hatten, liefen Gefahr sozial marginalisiert zu werden. Denn indirekt wurden sie durch die Zuschreibung »unkonformen Verhaltens« adressiert.14 Die Folgen gesellschaftlicher Ausgrenzung junger Frauen waren in den 1950er Jahren weitreichender als für junge Männer. Vielen Frauen dieser Generation boten sich – abhängig vom sozialen Habitus – nach einer Ausbildung und wenigen Berufsjahren kaum Alternativen zur »nicht entlohnten Reproduktionsarbeit«, dem Rückzug in die häusliche Sphäre.15 Die 1950er Jahre waren bestimmt durch starre Geschlechterund Rollenbilder. Mit welchen Stilmitteln, Verhaltensattitüden, Symboliken stellten junge Frauen einerseits Geschlecht im sozialen urbanen Raum des
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fast 2,5 Millionen Halbwaisen und 100.000 Vollwaisen hinterließen; vgl. Lu Seegers: Kriegerwitwen und ›Töchter ohne Väter‹ in der Bundesrepublik, Frankfurt a. M. 2012, S. 31. Vgl. hierzu Kasper Maase: BRAVO Amerika. Erkundungen zur Jugendkultur der Bundesrepublik in den fünfziger Jahren, Hamburg 1992. Vgl. Detlef Siegfried: Time is on my side. Konsum und Politik in der westdeutschen Jugendkultur der 60er Jahre, Göttingen 2006. Vgl. Nunkesser: Girl (Anm. 8), S. 119. Susanne Frank: Stadt-, Raum- und Geschlechterforschung: Theoretische Konzepte und empirische Befunde, in: Beate Kortendiek, Birgit Riegraf, Katja Sabisch (Hg.): Handbuch interdisziplinäre Geschlechterforschung Geschlecht und Gesellschaft, Wiesbaden 2019, S. 1347–1357, hier S. 1349.
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Ruhrgebiets der 1950er Jahre her und inwiefern hinterfragten sie andererseits dabei Geschlechterbilder und Konventionen? Der öffentliche urbane Raum des Ruhrgebiets bot den jungen Frauen »Experimentierräume, die die Grenzen zwischen geschlechtsspezifischer Strukturen überschreiten […]«16. Hier dürfte sich die Raumtheorie als theoretische Grundlage zur Geltendmachung und Plausibilisierung des Themas im Zuge des Dissertationsprojektes als nützlich erweisen. Wenn einerseits die Nachkriegszeit weiterhin von existenzieller Not geprägt war, vollzog sich anderseits eine Reorganisation des urbanen Raums – wie etwa in den Innenstädten des Ruhrgebiets. An dieser Reorganisation und der Frage, »Wem gehört die Stadt?«, suchten die jungen Frauen im Ruhrgebiet zu partizipieren und aktiv mitzugestalten, indem sie Tanzveranstaltungen, Espresso Bars, Milchbars oder den »Rummel«, die Kirmes besuchten. Dies geschah entgegen den Ansprüchen der Erwachsengeneration und beschreibt einen Aushandlungsprozess um Partizipation und die Konventionen weiblicher Attitüden und das Widerstreben gegen Ausschlusskriterien.
16 Antje Flüchter: Verkörperungen im Raum. Einige Überlegungen aus der Perspektive einer Frühneuzeithistorikerin, in: Sonja Lehmann, Karin Müller-Wienbergen, Julia-Elena Thiel (Hg.): Von Mustern und Maschen. Zur Verschränkung von Geschlecht und Raum, Bielefeld 2015, S. 85–90, hier S. 90. Vgl. auch Nunkesser: Girl (Anm. 8), S. 122.
Pia Kleine
»The Future is Ours«? Techno als jugendkulturelles Phänomen in den 1990ern*
Mit den Worten »Ein Gespenst geht um in Europa. Es ist das Gespenst der ›ravenden‹ Gesellschaft«1 leitete der damalige 27-jährige Redakteur Jürgen Laarmann in seinem Fanzine Frontpage die Diskussion um die Bedeutung von Techno in den 1990er Jahren ein. Die bewusste Abwandlung der prominenten Anfangsworte des Kommunistischen Manifestes bekräftigten seine Vorstellung einer sogenannten »Raving Society«2 die vom Musikgenre Techno ausgehe und über die Musik hinaus einen alternativen jugendkulturellen Lebensentwurf anbiete. Diesem Selbstverständnis, welches von Seiten der Bewegung insbesondere in dem Fanzine Frontpage publik gemacht wurde, standen Zeitungsartikel in den Feuilletons3 und wissenschaftliche Stimmen4 gegenüber. Die schreibende Erwachsenengeneration beobachtete skeptisch, teils aber auch mit Bewunderung die neu erwachsende Jugendbewegung. Im Mittelpunkt der Betrachtung stand häufig die seit 1989 in Berlin stattfindende Love Parade, die in den ersten Jahren als politische Demonstration angemeldet wurde und die von Jahr zu Jahr mehr Tanzende auf zentralen Berliner Straßen versammelte.5 Politische Aussagen wurden während der Love Parade jedoch nicht skandiert und auch zu aktuellen gesellschaftlichen Themen wurde keine Stellung von Seiten der Tanzenden oder der Veranstalter bezogen. Aufgrund dieser Sprachlosigkeit und anderer neuar* Titel der Bachelorarbeit, 2018 eingereicht an der Westfälischen-Wilhelms-Universität Münster, Gutachter: Prof. Dr. Thomas Großbölting und Prof. Dr. Olaf Blaschke. 1 Frontpage 3.09 (6.94). 2 Ebd. 3 Vgl. bspw. Johannes Leitha¨user: Die Zuschauer werden schnell eingemeidet. »Love Parade«: Hunderttausende beim Fest der Techno-Jugend in Berlin, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 15. 07. 1996, S. 9; Cordt Schnibben: Techno. Die Party-Partei, in: Der Spiegel, 1996, Nr. 29, S. 92– 94. 4 Thomas Lau: Rave New World. Ethnographische Notizen zur Kultur der »Technos«, in: Hubert Knoblauch (Hg.): Kommunikative Lebenswelten. Zur Ethnographie einer geschwa¨ tzigen Gesellschaft, Konstanz 1996, S. 245–260. 5 Vgl. Christian Kemper: mapping techno. Jugendliche Mentalita¨ ten der 90er (Europa¨ische Hochschulschriften 482), Frankfurt a. M. 2004, S. 99f.
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tiger Verhaltensweisen fragten Presse und insbesondere auch Wissenschaftler*innen, was diese Jugend antreibe, was sie bewege und warum sie sich gerade auf diese Art und Weise ausdrückten; teilweise wurde die »Techno-Generation« im Kontext früherer Jugendkulturen analysiert und bewertet. Alle drei Quellengattungen wurden unter anderem hinsichtlich des Jugendkultur-Narratives untersucht: Warum wurde Techno in den 1990ern so bedeutend? Fügte sich Techno in das Bild vorheriger Jugendkulturen und wurde Techno mit denselben Begriffen und Definitionen beschrieben oder fanden die zeitgenössischen Quellen neue Erklärungsmuster für das spezifische Phänomen? Mit welchen jugendkulturellen oder gesellschaftlichen Gruppierungen fanden Zusammenschlüsse statt, von welchen grenzten sie sich ab und warum? An diesen Diskurs lassen sich weitere Kategorien, wie die Kommerzialisierung, ein hedonistisches Lebensgefühl und ein politisches Verständnis von Techno anlagern. Vordergründig ist, dass sich die drei Medien gegenüberstanden und ein gesellschaftliches Bild von Techno entwarfen – kohärent oder nicht. Dem Appell folgend, die jüngste Vergangenheit in das Blickfeld zu rücken,6 wurde Techno als ein kultureller Aspekt der 1990er begriffen und geschichtswissenschaftlich bearbeitet. So hat bereits Jürgen Danyel Techno in seine Ausführungen zu der Konzeption der Ausstellung »Alltag Einheit. Porträt einer ¨ bergangsgesellschaft« aufgenommen.7 Im neuen Humboldt-Forum wird U zudem die »Tresortür« des über Berlin hinaus bekannten Techno-Clubs Tresor zu sehen sein, der als einer der ersten in den 1990er Jahren öffnete.8 Die Zeitungsartikel, die Fanzine-Aussagen, aber auch die sozialwissenschaftlichen Studien der 1990er Jahre zu Techno können nicht unreflektiert übernommen, sondern müssen methodisch als historische Quellengattungen begriffen und geschichtswissenschaftlich aufgearbeitet werden. So gelten zunächst einmal folgende charakteristische Aussagen über den Gegenstand Techno: Die vorangehenden Strömungen von Techno sind vielfältig, neben der Band Kraftwerk sind auch Ursprünge in Detroit und Chicago zu suchen, die schon früh bekannt waren für außergewöhnliche Veranstaltungsorte.9 In Deutschland konzentrierte sich die Bewegung zunächst in Frankfurt a. M., sammelte sich nach 6 Marcus Böick, Angela Siebold: Die Jüngste als Sorgenkind? Plädoyer für eine jüngste Zeitgeschichte als Varianz- und Kontextgeschichte, in: Deutschland Archiv, 2011, Nr. 44, H. 1, S. 105– 113. 7 Vgl. Jürgen Danyel: Alltag Einheit: Ein Fall fu¨ rs Museum!, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, 2015, Nr. 65, H. 33–34, S. 34f. 8 Humboldt-Forum: Tresortür, verfügbar unter: https://www.humboldtforum.org/de/inhalte/t resortuer [15. 03. 2020]. 9 Antje Schneider, Liv Töpfer: Jugendkultur Techno. Jeder tanzt für sich alleine?, Chemnitz 2000, S. 43.
»The Future is Ours«? Techno als jugendkulturelles Phänomen in den 1990ern
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der Wiedervereinigung aber vor allem in Ost-Berlin und an den brachliegenden Orten der Stadt. Als zentrales Start-Ereignis wird die Love Parade beschrieben, die anfangs mit 150 Besucher*innen und später mit 600.000 Teilnehmer*innen unter den Motti »Friede, Freude, Eierkuchen«, »The Future is Ours« oder »My House is Your House and Your House is Mine« durch Berlin zog – erst als Demonstration, später als Techno-Marke kommerzialisiert.10 Neben diesem Event standen die vielen Clubs, die überall in Deutschland nach und nach öffneten, und die sogenannten Raves, die an ungewöhnlichen, häufig illegalen Orten abgehalten wurden. Konzipiert wurden sie als Orte der Alltagsflucht – ohne räumliche und zeitliche Einschränkung. Die »Technokörper«, die in einer Gesellschaft, die immer technologisierter erschien, auftraten, tanzten zur aufgelegten Musik der DJs und DJanes. Tanzen im Techno bedeutete einerseits ein verändertes eigenes Körpergefühl, andererseits aber auch ein nach außen bewusst präsentiertes Körperbild. Die tanzenden Körper wurden als ausdauernde, leistungsfähige »Maschinen« inszeniert, menschliche Grenzen sollten überwunden werden. Diese Art des Feierns und Tanzens erklärt auch den wichtigen Aspekt der Drogen für die Bewegung. Innerhalb der Techno-Szene strebten die Teilnehmenden an, körperliche und natürliche Bedürfnisse zu unterdrücken, um für eine lange Zeit aktiv und fit sein zu können. Hilfreich für diesen körperlichen Ausnahmezustand waren Speed, Kokain oder Ecstasy. Diese Drogenarten hielten wach, steigerten körperliche Leistungen und ermöglichten im Einklang mit der Musik und der Konzeption des Raumes emotionsbetonte und bewusstseinserweiternde Erfahrungen.11 Strukturell sind erst einmal nicht allzu viele demographische Merkmale feststellbar; Techno wurde meist bei den unter 25-Jährigen gehört, die Organisatoren sind meist älter.12 Beim Bildungsgrad lässt sich beobachten, dass laut einer Studie aus dem Jahr 1995 meistens Volks- und Hauptschüler*innen, am wenigsten Gymnasialabsolvent*innen Techno hörten und sich damit identifizierten.13 Unter Gender-Perspektive ist auffällig, dass die Bewegung selbst als sehr ausgeglichen charakterisiert wurde, auf der höheren Ebene aber vor allem 10 Vgl. Kemper: mapping (Anm. 5), S. 43f.; Erik Meyer: Zwischen Parties, Paraden und Protest. Zur politischen Soziologie der Techno-Szene, in: Ronald Hitzler, Michaela Pfadenhauer (Hg.): Techno-Soziologie. Erkundungen einer Jugendkultur, Opladen 2001, S. 54–59. 11 Vgl. Joachim C Ha¨berlen, Leonie Krawath: Mit der Technik tanzen. Technoko¨ rper im Berlin der fru¨ hen neunziger Jahre, in: Body Politics, 2018, Nr. 6, H. 9, S. 112; Kemper: mapping (Anm. 5), S. 76–79. 12 Vgl. Michael Weipert: »Music ist the key«. Die Loveparade als Katalysator einer Technogeneration, in: Barbara Stambolis, Ju¨ rgen Reulecke (Hg.): Good-bye memories? Lieder im Generationengeda¨ chtnis des 20. Jahrhunderts, Essen 2007, S. 448–450; vgl. Kemper: mapping (Anm. 5), S. 76. 13 Vgl. Oliver Dumke: Im Spiegel der Zeit. Das Pha¨ nomen »Techno«. Eine Zeitdiagnose aus kirchlicher Sicht, Frankfurt a. M. 1996, S. 373.
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männliche Protagonisten die entscheidende Rolle spielten – außer eine Handvoll DJanes, die selbst auflegten. Die Bewegung war hierarchisch angeordnet: von der Spitze der Szene, die sich umfassend mit Techno beschäftigte, hin zu den Jugendlichen, die gelegentlich zu Techno feiern gingen, gleichzeitig aber noch ein »normales« Leben führten. Jugendkultur bedeutete für sie keine ganzheitliche Vereinnahmung, sondern eine gelegentliche Ausflucht am Wochenende.14 Theoretisch orientiert sich der geschichtswissenschaftliche Gegenstand Techno am Jugendkultur-Diskurs seit den 1950er Jahren. Mit der Bezeichnung als »Jugendkultur« geht einher, dass bestimmte Vorstellungen kursierten, was diese ausmachte und welche Merkmale vorhanden sein mussten, um als solche bezeichnet zu werden. An diesen Maßstäben wurden schließlich die Raver*innen in ihrer Selbst- und Außenwahrnehmung gemessen. Jugendkulturen wurden außerhalb der Gesellschaft verortet und es wurde ihnen eine gewisse politische Protestkultur zugeschrieben; diese Aspekte sind innerhalb der Forschung aber auch strittig. Jugendkulturen seien immer auch ein Produkt der gegenwärtigen gesellschaftlichen Veränderungen, stellte der Historiker Konrad Jarausch fest. Es gebe nicht mehr nur eine vorherrschende Jugendkultur, sie hätten sich stattdessen mit der Zeit vervielfältigt. Sie seien mehr in die Gesellschaft integriert und kommerzialisiert worden.15 In den drei Quellentypen (Frontpage Fanzine, Zeitungsartikel und wissenschaftliche Aufsätze) konnten anhand der Vorüberlegungen und mithilfe der aufgestellten Kategorien folgende Ergebnisse herausgearbeitet werden: Es stellte sich heraus, dass alle drei Medien Techno nicht nur als ein rein musikalisches Phänomen betrachteten. Es ist von Jugendkultur, Jugendstil oder Techno-Habitus die Rede, diese Begrifflichkeiten zeugen von einem veränderten Verständnis von Jugendkultur. Es wurde eingestanden, dass die Techno-Generation im Sinne einer Jugendkultur nach neuen Maßstäben bemessen werden müsse. Es blieb von allen Seiten relativ offen, was das Leben in der Techno-Jugendkultur nun bedeutet: Es sei eine Affinität zu bestimmten Dingen, es sei die Art zu tanzen und eventuell auch die Lebensweise, für das Wochenende zu leben. Weitere Besonderheit ist, dass nicht mehr zwangsläufig Abgrenzungen nach außen stattfanden. Lange als Charakteristikum von Jugendkulturen gesehen, fiel es nun den Techno-Jugendlichen nicht mehr schwer, sich in die Gesellschaft zu integrieren. Frontpage und Anhänger*innen grenzten sich nicht bewusst von anderen Jugendkulturen oder den Eltern ab. Mit diesem Vorgehen haderten die 14 Ronald Hitzler: Erlebniswelt Techno. Aspekte einer Jugendkultur, in: ders. (Hg.): TechnoSoziologie. Erkundungen einer Jugendkultur, Opladen 2001, S. 20–22. 15 Konrad H. Jarausch: Jugendkulturen und Generationskonflikte 1945 bis 1990. Zuga¨ nge zu einer deutsch-deutschen Nachkriegsgeschichte, in: Christoph Kleßmann, Peter Lautzas (Hg.): Teilung und Integration. Die doppelte Nachkriegsgeschichte als wissenschaftliches und didaktisches Problem, Bonn 2005, S. 228.
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erwachsenen Schreiber*innen, die unter der Prägung ehemaliger Generationen und deren Politisierung standen. Immer wieder bemängelten sie die fehlende politische Haltung und erkannten stattdessen eine hedonistische Grundhaltung und die mangelnde Ablehnung gegenüber einer Kommerzialisierung des Technos. Für die Frontpage-Redaktion waren diese beiden Aspekte unproblematisch, ebenso wie die plakativ skandierten, aber inhaltsleeren politischen Aussagen. Parolen, wie dass der Weltfrieden durch die »Raving Society« eingeführt werde, bedeuteten keine weitere ernsthafte Auseinandersetzung. Spannend ist an dieser Stelle die Betrachtung von Leserbriefen, die die Oberflächlichkeit und Selbsterhöhung der Redaktion kritisierten. Im Verhältnis der drei Quellen-Gattungen zueinander kann festgehalten werden, dass die Jugend nicht zwingend die Stimme gegen das gesellschaftliche Gegenüber in Form von Erwachsenen, Politik und deren Entscheidungen erhob und sich nur an ihr aufrieb, wenn es um die eigene Betroffenheit ging. Ein Beispiel stellt der Protest gegen die Behörden, die die Love Parade nicht mehr als Demonstration genehmigen wollten, dar. In diesem Moment wurde konkret von gesellschaftlichen Restriktionen gesprochen, man solidarisierte sich mit anderen Techno-Communities im Ausland und gründete eine »IG Techno«16, in der gemeinsam auf solche Vorgänge reagiert werden sollte. Als dann die Love Parade doch wieder als Demonstration stattfinden durfte, verflog der aktive politische Ton schnell. Dagegen fiel der Erwachsenengeneration ein Umgang mit dieser neuen Art der Jugendlichkeit schwer. Es wurden Erklärungsmuster aus der gegenwärtigen Situation der 1990er Jahre gesucht. War die Jugendkultur Techno ein Spiegel des wiedervereinigten Deutschlands? Im Techno machten die Erwachsenen Diskurse der 1990er Jahre ausfindig: Politikverdrossenheit, übersteigerte Selbstbezüge, Zunahme von Konsum und Digitalisierung. Es schien plausibel , dass die jungen Menschen nach den einschneidenden Eindrücken des Kalten Krieges und des geteilten Deutschlands nun Hedonismus ohne Sorgen und politische Restriktionen zelebrieren wollten. Die Frontpage-Generationen widersprachen diesem Bild nicht, anfangs noch mit dem Selbstanspruch, »Love, Peace and Unity« erfüllen zu wollen, Diversität zu feiern und sich als eine Gemeinschaft in Offenheit und Toleranz zu begreifen, lauteten spätere Credos »Raven ist geil und macht Spaß« oder »Spaß, Spaß, Spaß«17. Das Heft wurde zu einem reinen Unterhaltungsheft und verlor die ursprünglichen Motive eines Fanzines spätestens, als es mit Werbung vermarktet und ein Aufpreis verlangt wurde.
16 Frontpage 4.08 (4.95), S. 90. 17 Die drei Phrasen in: Frontpage 4.10 (6.95), S. 7f.; Frontpage 5.06 (2.96), 1; Frontpage 3.08. (5.94), S. 4.
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Wenn nun noch einmal nach dem Kontext der Jugendbewegungs- oder Jugendkulturforschung gefragt wird, ist festzuhalten, dass Techno in den 1990er Jahren auch ein sich wandelndes Verständnis von Jugendkulturen mitschreibt. In der Forschung ist konstatiert worden, dass Protest oder Revolutionäres nicht mehr im Vordergrund stehen mussten und insbesondere freizeitliche Aspekte an Bedeutung gewannen. Jugendliche mussten nicht mehr rundum Teil einer Jugendkultur sein, sondern konnten ihre Interessen an bestimmten Orten zu bestimmten Zeiten ausleben. Zu überlegen wäre für die jüngste Zeitgeschichtsforschung, sozialwissenschaftliche Begriffe wie Szene auf jugendliche Zusammenschlüsse der 1990er Jahre hin zu untersuchen. Aus heutiger Sicht lässt sich sagen, dass Techno und andere Jugendkulturen der 1990er Jahre noch immer die Jugendlichen beeinflussen. Spannend ist, dass Techno im Gegensatz zu den 1990ern eine politische Stimme gefunden hat, wenn Veranstaltungen unter dem Motto »AfD wegbassen« initiiert werden oder der »Zug der Liebe« durch Berlin zieht, der sich von der unpolitischen Love Parade abgrenzt und für politische Themen einsteht.18
18 Mike Szymanski: Als wäre mal wieder Love Parade. Protest gegen die AfD in Berlin, in: Süddeutsche Zeitung, 27. 05. 2018, verfügbar unter: https://www.sueddeutsche.de/politik/pro test-gegen-die-afd-in-berlin-als-waere-mal-wieder-loveparade-1.3992938 [27. 03. 2020] und Zug der Liebe, verfügbar unter: https://zugderliebe.org [27. 03. 2020].
Sungyoun Chung
Geformte Freiheit. Volkstanz und Körperbild in der Jugendbewegung
In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erlebte Deutschland Bevölkerungswachstum, Verstädterung und rasche Veränderungen im Lebensumfeld.1 Nach Thomas Nipperdey, der die wilhelminische Gesellschaft als »segmentierte Gesellschaft« definierte, bewirkte dieser Wandel eine Ungleichheit zwischen den sozialen Sektoren sowie eine Diskrepanz zwischen der sozialen bzw. wirtschaftlichen Struktur der Moderne und den bestehenden Werten der Vormoderne.2 In dieser Zeit des Wandels wurde das Leben der Jugendlichen von unterschiedlichen Erwartungen von außen stark beeinflusst. Die bürgerlichen Eltern wollten ihren Kindern gute Erziehungsmöglichkeiten bieten, um den sozialen Status der Familie zu stabilisieren. Der Staat war daran interessiert, junge Männer zu zukünftigen Soldaten oder Führern der Nation auszubilden.3 Infolgedessen unterlagen die Jugendlichen der bildungsbürgerlichen Schichten dem Druck der Eltern, der Kontrolle des Staates und auch einer strengen Kultur, sodass kaum Freiraum für selbstständige Beschäftigung und Unterhaltung bestand.4 Eine Reaktion auf diese Tendenzen stellte seit Ende des 19. Jahrhunderts die aufkommende Fahrtenkultur der bildungsbürgerlichen Jugend in der Jugendbewegung dar: gegen das schlechte Schulumfeld, das keine freien Körperaktivi1 Gerd Hohorst, Jürgen Kocka, Gerhard A. Ritter (Hg.): Sozialgeschichtliches Arbeitsbuch II. Materialien zur Statistik des Kaiserreichs 1870–1914, München 1978, S. 45–66; Hermann Giesecke: Vom Wandervogel bis zur Hitlerjugend. Jugendarbeit zwischen Politik und Pädagogik, Gießen 1981, S. 1. 2 Thomas Nipperdey: War die wilhelminische Gesellschaft eine Untertanen-Gesellschaft?, in: ders.: Nachdenken über die Deutsche Geschichte, München 1990, S. 213f. 3 Vgl. Helen Roche: Sparta’s German Children. The Ideal of Ancient Sparta in the Royal Prussian Cadet-corps, 1818–1920, and in National-socialist Elite Schools (the Napolas), 1933–1945, Swansea 2013. 4 Vgl. Bernd Wedemeyer-Kolwe: »Der neue Mensch«. Körperkultur im Kaiserreich und in der Weimarer Republik, Würzburg 2004; Daniel Tröhler: Shaping the National Body. Physical Education and the Transformation of German Nationalism in the Long Nineteenth Century, in: Nordic Journal of Educational History, 2017, Nr. 4, S. 31–45.
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täten erlaubte, und gegen das moderne Großstadtleben. Die Jugendlichen sangen, tanzten, genossen ihre Freiheit in der Natur, weit weg von der Stadt, und widersetzten sich den Zwängen der Modernität. Die Kultur der Jugendfahrt, die zunächst der Wandervogel seit 1901 organisiert hatte, weitete sich bereits um 1913 auf verschiedene Organisationen aus. Die Jugendfahrt wurde zum einen von den Zielen der Lebensreformbewegung beeinflusst, die auf die Emanzipation des Körpers abzielte, und zum anderen von der Reformpädagogik, die den Kunstunterricht und das körperliche Training harmonisieren wollte.5 Trotz ihrer Vielfalt bestand unter den Jugendbewegungen dieser Zeit Einigkeit in dem Ziel, das Bewusstsein der Jugendlichen in Bezug auf die »Modernisierung« und ihre sozialen Probleme zu wecken. In der Praxis nutzten die Jugendgruppen verschiedene körperlichen Aktivitäten während der Fahrten. Dabei waren Singen und Tanzen die repräsentativen Spielformen, die den meisten Teilnehmern in Erinnerung blieben. Die Jugendlichen versuchten, die Traditionen des deutschen »Volkes« als Alternative zum modernen und urbanen Leben aufzugreifen. Aufgrund der Sehnsucht nach Volkstraditionen wurden Volkslieder und Volkstänze mit Harmonika, Mandoline oder Gitarrenbegleitung während der Fahrt eingeübt. Eines der bemerkenswertesten Produkte war das Liederbuch »Zupfgeigenhansl«, welches Hans Breuer 1908 als Sammlung deutscher Volkslieder veröffentlichte.6 Auch Volkstänze wurden praktiziert; man beließ es also nicht nur beim Sammeln, Schreiben und Publizieren. Allerdings gelang es nicht, das schriftliche Aufzeichnen von Bewegungen zu systematisieren und einheitlich zu organisieren. Überhaupt blieb das Manko bestehen, dass sich die Schrittfolgen von Tänzen anhand von Büchern kaum effizient erlernen lassen.
Merkmal und Wirkung der beweglichen Praxis im Volkstanz Die Jugendlichen führten Volkstänze aus verschiedenen Regionen auf. Volkstanz war eine Form des Gruppentanzes, die von vielen Teilnehmern auf lokalen Festen dargeboten wurde. Ein allgemeines Merkmal der Volkstänze besteht darin, dass die Rollen von Männern und Frauen geteilt werden. Der Paartanz war eine verbreitete Form des Gesellschaftstanzes, wie etwa der Walzer, aber eben auch der Volkstanz. Im Vergleich zu anderen Gruppentänzen dieser Zeit, wie dem modernen Bühnentanz oder dem Ausdruckstanz, in denen Geschlechtsunterschiede 5 Jürgen Oelkers: Physiologie, Pädagogik und Schulreform im 19. Jahrhundert, in: Philipp Sarasin, Jakob Tanner (Hg.): Physiologie und industrielle Gesellschaft. Studien zur Verwissenschaftlichung des Körpers im 19. Und 20. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 1998, S. 245–285. 6 Wolfgang Kaschuba: Volkslied und Volksmythos, der »Zupfgeigenhansl« als Lied- und Leitbuch der deutschen Jugendbewegung, in: Jahrbuch für Volksliedforschung, 1989, S. 41–55.
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eine geringere Rolle als früher (z. B. im Ballett) spielten, oder der Revue, die hauptsächlich Frauenkörper zum Vergnügen der Zuschauer zeigte, war die Geschlechtsrollenteilung im Volkstanz charakteristisch. Wenn jugendbewegte Fahrten geschlechtergetrennt stattfanden – erst seit 1911 führten Mädchen eigene Fahrten durch –, übernahmen die Jungen auch die weibliche Rolle beim Tanz. Ein zweites Merkmal des Volktanzes war, dass viele Bewegungen zusammen mit einem Partner ausgeführt oder physisch von einem Partner getragen wurden. Volkstanz war Gruppentanz in dem Sinne, dass mehrere Paare gleichzeitig tanzten oder die Tanzenden in Geschlechtergruppen männlich und weiblich getrennt tanzten. Grundsätzlich bestand eine Bewegungskomposition aus einem Mann und einer Frau. In den Duett-Tänzen gab es viele Bewegungen, die Hände miteinander zu halten und ihre Position zu ändern. Darüber gab es auch die Bewegungen, die den Partner in der Sprungbewegung anhoben und das Gewicht des Partners unterstützten. Diese zwei Merkmale prägten das Tanzen in der Jugendbewegung zu Beginn des 20. Jahrhunderts im Verständnis der Teilnehmerinnen und Teilnehmer. Durch den Volkstanz verfolgten die Jugendlichen die ideologischen Ziele, Traditionen des Volks zu erlernen und auch traditionelle Geschlechterrollen nachzuahmen.7 Zwar gab es an den bestehenden Geschlechterrollen, an der sozialen Stellung der Frauen seit Anfang des 20. Jahrhunderts und besonders in der Weimarer Zeit viel Kritik, aber im Volkstanz wurden die traditionellen Geschlechterrollen eher kritiklos reproduziert. Obwohl die Teilhabe von Mädchen an den Fahrten und anderen Spielformen ermöglicht wurde, erwarteten sowohl weibliche als auch männliche Jugendliche, dass die Mädchen die weiblichen Parts übernahmen.8 Geralde Schmidt-Dumont bewertete diese Mädchen-Teilnahme in zwei Richtungen: die Teilnahme an Fahrten brachte den Mädchen einerseits Freiräume außerhalb von Haus und Familie, was man »unzweifelhaft auch als einen Erfolg für Emanzipation der Frauen und Mädchen werten« müsse. Volkstänze funktionierten demnach als Freiraum. Andererseits wurden den Mädchen auf Fahrt (und auch in der Volktänzen) »wieder ein spezifisch weiblicher Platz zugewiesen«.9
7 Vgl. Robbert-Jan Adriaansen: The rhythm of eternity. The German youth movement and the experience of the past, 1900–1933, New York 2015, S. 158–167. 8 In einem fiktiven Dialog stellte Hans Breuer das Mädchenbild der Jugendbewegung im Vergleich zum Jungenbild. Symbolisch zeigt das eine gewöhnte (männliche) Denkweise in der deutschen Jugendbewegung um 1911; Hans Breuer: Das Teegespräch, in: Wandervogel, 1911, 5. Jg., S. 31–38; Gerhard Ziemer, Hans Wolf: Wandervogel und Freideutsche Jugend, Bad Godesberg 1961, S. 223–233. 9 Geralde Schmidt-Dumont: Sexualität und Beziehung der Geschlechter in der Jugendliteratur 1885–1920, in: Gertrud Lehnert (Hg.): Inszenierungen von Weiblichkeit. Weibliche Kindheit und Adoleszenz in der Literatur des 20. Jahrhunderts, Opladen 1996, S. 204.
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Doch verstärkte sich das Gefühl der Verbindung, das während der Fahrt und des Gemeinschaftslebens entstand, durch eine angenehme Zeit des Tanzens. Weil der Volkstanz ein Gruppentanz war, bei dem Partner- und andere Paargruppen harmonisch zusammenwirkten, wurde das Vertrauens- und Solidaritätsgefühl belebt. Erinnerungen an das gemeinsame Tanzen hatten starke Symbolwirkung. Die Jugendlichen praktizierten den authentischen »Volks«-Tanz in der Natur, zusammen mit Kameraden und Kameradinnen. Dies bestärkte das Gefühl der Zugehörigkeit zu einer neuen Generation und das Selbstbewusstsein der Jugendlichen.10
Geformte Freiheit: Körperbild im Tanz in der Jugendbewegung Volkstanz in der Jugendbewegung am Anfang des 20. Jahrhunderts zeigte ein Körperbild, das die Zwänge der Modernität ablehnte und nach Freiheit strebte. Als Alternative zum modernen Großstadtleben akzeptierten die Jugendlichen die mittelalterliche Lebensweise in romantisierter und idealisierter Form. Der Wert der körperlichen Erfahrung in der Natur wurde durch die Freude am Tanzspiel gesteigert und die Erfahrung des Gemeinschaftslebens durch den Gruppentanz erneut betont, sodass Tanz mit dem Gefühl der Zugehörigkeit als eine antimoderne kollektive Praxis erfahren wurde. Andererseits erlebten die Jugendlichen beim Tanz die traditionelle Form des Paartanzes, bei dem Männer führen und Frauen folgen. Dieser Tanz spiegelte die traditionellen Geschlechterrollen und die dominierenden Werte der Gesellschaft wider. Volkstanz ist ein Tanz, bei dem die Partner, männlich und weiblich, die sexuelle Identität des Anderen im Rahmen der geplanten Bewegung betonen. Diese Geschlechterverteilung bestand auch, wenn die Jungen eine weibliche Rolle übernahmen. Volkstanz ermöglichte Freiraum für jugendliche Körperaktivitäten. Um die Frage zu beantworten, ob die Jugendlichen durch Tanz wirklich Freiheit empfinden konnten, sollte die praktizierte Dimension der Freiheit beachtet werden. Die in der Jugendbewegung verfolgte Freiheit war eine Reaktion auf die Zwänge der Moderne. So kann die Entwicklung der Jugendbewegung und der Fahrt – trotz ihrer Vielfalt – unter dem Ziel der Freiheit eingeordnet werden. Aber zum jugendbewegten Volkstanz gehörte auch die bewusste Neigung zu romantisierten Werten der Volkstümlichkeit und die Akzeptanz der traditionellen Geschlechterrollen. Demnach lässt der Volkstanz viele Elemente des Konservatismus erkennen. Obwohl der Volkstanz der Jugendbewegung also vom Konservatismus der Weimarer Zeit geprägt wurde, war er auch ein Ausdruck der Freiheit. Das Konzept der Freiheit durch Volkstänze bestand bei genauerer Betrachtung in 10 Vgl. Urlich Linse: Barfüßige Propheten. Erlöser der zwanziger Jahre, Berlin 1983.
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einer regulierten, durch die Volkstümlichkeit geformten Freiheit. Dieses Konzept der »Freiheit durch Tanz« wurde in der Weimarer Zeit im Ausdruckstanz explizit formuliert und war auch im Gesellschaftstanz weit verbreitet. Durch vergleichende Analysen verschiedener Tanzformen dieser Periode könnte der Einblick vertieft werden.
Laura Dolezich
Zwischen Hachscharah und Studium – Innensichten auf den Jungjüdischen Wanderbund anhand des Tagebuchs von Eva Schiffmann
»Ich weiß nicht, warum ich nicht abgehe und einen Beruf ergreife für Palästina! Ich kann den Mut dazu nicht aufbringen! Ich möchte auch das Gefühl nicht haben, daß mir irgendein Weg verschlossen ist; ich möchte die Möglichkeit zu allem. Die Wahl wird zwar schwer, aber von Leuten allein, die Palästina als letzte Rettung betrachten, kann das Land nicht aufgebaut werden.«1
Das Zitat ist dem Tagebuch von Eva Schiffmann entnommen. In den wenigen Sätzen zeigt sich ein innerer Konflikt der Tagebuchschreiberin zwischen ihrer Identifikation als Mitglied des zionistisch-sozialistischen Jungjüdischen Wanderbundes (JJWB), der seine Mitglieder auf eine Ausreise als Pioniere zum Aufbau eines jüdischen Staates in Palästina vorbereitete, und ihren eigenen Zukunftswünschen, die u. a. ein Studium beinhalteten. Im folgenden Beitrag2 soll genauer auf diesen Zwiespalt eingegangen werden, da er sowohl Innensichten auf den JJWB und dessen normative Anforderungen an seine Mitglieder eröffnet als auch einen Einblick in die individuelle Lebensplanung eines jüdischen Mädchens in der Weimarer Republik gewährt. Inneren Zwiespälten und Konflikten begegnet man beim Lesen des Tagebuchs von Eva Schiffmann immer wieder: Zwischen den strengen bürgerlichen Moralvorstellungen der Mutter und dem aufgeklärten, modernen Weiblichkeitsverständnis von Eva, die Bubikopf und »strumpffrei« kurze Röcke trägt; zwischen der (ost-)jüdischen Identität des Elternhauses und der deutschen Identität in Schule und Freundeskreis; oder zwischen platonischer und sexueller Beziehung zu ihren männlichen Altersgenossen. Insgesamt ermöglicht das Tagebuch tief1 Tagebuch (TB) von Eva Schiffmann, Eintrag vom 13. 09. 1929, in: Stadtarchiv Gotha, Nr. 8.1.16/ 1. Erstmals ist das TB im Rahmen einer Seminarfacharbeit (2017) von zwei Schülerinnen aus Gotha historisch untersucht worden. Desweiteren hat ein Seminar an der FSU Jena im WS 2017/18 unter Leitung von Frau Prof. Dr. Anke John und Herrn Dr. Axel Doßmann stattgefunden, in dem einzelne Tagebucheinträge didaktisch aufgearbeitet wurden. 2 Der Beitrag basiert auf meiner Abschlussarbeit an der FSU Jena mit dem Titel »Jüdisch, weiblich, jugendbewegt – Innen- und Außensichten auf den JJWB anhand eines Tagebuchs aus den 1920er Jahren«, die ich im WS 2019/20 verfasst habe.
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gehende Einsichten in die Gefühlswelt und Alltagswahrnehmung einer jüdischen Jugendlichen aus der Kleinstadt Gotha in den 1920er Jahren. 1925 beginnt die damals 13-jährige Eva mit dem Schreiben des Tagebuchs, das, wie sie im ersten Eintrag festhält, ihre beste Freundin sein soll: »Ich will so tun, als schreibe oder erzähle ich ihr meine Erlebnisse und Gedanken. Es ist schade, daß das Tagebuch nicht auch sprechen kann.«3 In einer Familie mit fünf älteren Geschwistern aufwachsend und als einzige der Töchter eine höhere Schule besuchend, bietet das Tagebuchschreiben für Eva eine Rückzugsmöglichkeit und einen Ort der Reflexion. Im Tagebuch schreibt sie u. a. über die neuesten Kinofilme und Theatervorstellungen, die sie besucht hat, über ihre Herausforderungen an der Aufbauschule, über Treffen mit Klassenkameraden und Freundinnen, über Taschengeld und häusliche Verpflichtungen. Aber auch ihre Fragen nach der Existenz Gottes und ihre Gedanken zu Frieden, zu Gerechtigkeit, zu Sexualität und zum modernen Frauenbild hält sie darin fest. Außerdem schreibt sie über den JJWB, in dem sie, ihre Geschwister und Cousinen organisiert waren und der über eine Ortsgruppe in Gotha verfügte. Eva berichtet über einzelne Bundestage, über Heimabende, über Veranstaltungen der Ortsgruppe und über ihre Tätigkeit als Leiterin einer Jüngerengruppe. Das Tagebuch eröffnet Innensichten auf den JJWB und ist damit auch für die Forschung zur Geschichte der jüdischen Jugendbewegung historisch wertvoll, da Egodokumente über die jüdische Jugendbewegung, insbesondere über den JJWB, rar sind. Der JJWB entstand 1920 aus Wandergruppen des Verbands jüdischer Jugendvereine Deutschlands (VJJD) und gehörte, wie auch der erste jüdische Wanderbund Blau-Weiß und der Brith Haolim, zum zionistisch ausgerichteten Teil der jüdischen Jugendbewegung.4 Diese charakterisiert Chaim Schatzker wie folgt: »Die zionistische Chaluz (Pionier-) Bewegung forderte den Einsatz der jüdischen Jugendbewegung im Dienste der Verwirklichung der zionistischen Ideologie, Bekenntnis und Rückkehr zum jüdischen Volk und zum jüdischen Gedankengut, eine Berufsumschichtung, Vorbereitung (Hachscharah) und schließlich die Übersiedlung nach Palästina und die Eingliederung in die palästinensische Arbeiterschaft.«5 Diese Beschreibung trifft auf den JJWB zu. Zwar zog sich die Einigung der einzelnen Mitgliedergruppen auf eine gemeinsame zionistische Ausrichtung des Bundes bis 1922 hin, aber die damals verfasste und nach dem Ort des Bundestags benannte »Frankenberger Formel«, bei der man 3 TB, 27. 07. 1925. 4 Vgl. Hermann Meier-Cronemeyer: Die jüdische Jugendbewegung, Teile 1 und 2, in: Germania Judaica, Neue Folge 27/28, Köln 1969, S. 1–122, hier S. 59. 5 Chaim Schatzker: Die jüdische Jugendbewegung in Deutschland (1919–1933), in: Werner Kindt (Hg.): Die deutsche Jugendbewegung. Die bündische Zeit, Bd. 3, Köln 1974, S. 769–794, hier S. 771.
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sich zur jüdischen Volksgemeinschaft bekannte und sich zur Mitarbeit beim Aufbau eines jüdischen Kulturzentrums in Palästina verpflichtete, hatte für den Bund bis zu seiner Auflösung Bestand.6 Im Gegensatz zum jüdischen Wanderbund Blau-Weiß verband der JJWB seine zionistische Haltung mit einer sozialistischen, die 1925 zum Zusammenschluss von JJWB und Brith Haolim führte. Der neue Bund behielt den Namen JJWB. Zu seinen Hauptzielen zählten die Hachscharah und anschließende Alijah sowie der Zusammenschluss mit der jüdischen Arbeiterschaft in Palästina.7 Aufgrund der wirtschaftlichen und sozialen Krisensituation in Palästina ab 1925 und dem damit verbundenen Einreiseverbot durch die britische Mandatsmacht ließen sich die Ziele des Bundes nur schwer umsetzen. Die Bundesleitung beschloss, den Mitgliedern eine längere und gründlichere handwerklich-landwirtschaftliche Ausbildung zu bieten, um einer möglichen Arbeitslosigkeit in Palästina vorzubeugen. Außerdem wurde der Hachscharah-Kibbuz »Cheruth« gegründet, um den Ausreisewilligen auch die soziale Eingewöhnung in eine Kibbuzgemeinschaft in Palästina zu erleichtern.8 Die Ziele und Anforderungen des Bundes an seine Mitglieder wurden in der Bundeszeitschrift Der junge Jude, die sich an JJWB-Mitglieder, aber auch allgemein an Anhänger der zionistischen Bewegung, richtete, immer wieder betont. 1929 heißt es in einem Artikel zur Chaluziuth (Pioniertum): »Der Weg des Bundes ist Chaluziuth. […] Es muß uns gelingen, unsere Menschen so zu erfassen, daß sie stärker als bisher den Weg der Chaluziuth aus innerer Notwendigkeit heraus gehen müssen. […] Es muss ihnen klar werden, daß Chaluziuth der einzige Weg ist, der uns aus der Problematik der Galuth [ jüdische Diaspora, L. D.] herausführt und daß dieser Weg die äußere Konsequenz einer bestimmten inneren Einstellung ist.«9
Um das bestimmende Ziel, die Alijah, zu erreichen, wurde im Bund Erziehungsarbeit geleistet, z. B. während der Heimabende der einzelnen Ortsgruppen, bei Führerschulungen oder bei Bundestagen, während derer die Mitglieder an verschiedenen Arbeitsgemeinschaften teilnehmen konnten. Trotz des allgemeinen Konsenses über die Hauptziele des Bundes, die in der Bundeszeitschrift
6 Die Frankenberger Formel findet sich abgedruckt in: Alfred Einstein: Von Freudenberg bis Frankenberg, in: Georg Lubinski (Hg.): Der junge Jude, 1930, Nr. 4, S. 127. Zur ideologischen Entwicklung des Bundes in seiner Anfangszeit siehe Richard Markel: Brith Haolim. Der Weg der Alija des Jung-Jüdischen Wanderbunds, in: Bulletin des Leo-Baeck-Instituts, 1966, Nr. 33– 36, S. 119–189, hier S. 137ff. 7 Vgl. Markel: Brith Haolim (Anm. 6), S. 146. 8 Vgl. Meier-Cronemeyer: Judaica (Anm. 4), S. 71. Siehe auch Markel: Brith Haolim (Anm. 6), S. 148f. 9 Heinrich Schupler: Chaluziuth, in: Georg Lubinski (Hg.): Der junge Jude, 1929, Nr. 1, S. 28–30, hier S. 29, http://sammlungen.ub.uni-frankfurt.de/cm/peri-odical/titleinfo/3497353 [09. 03. 2020].
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propagiert wurden, gingen nicht alle Mitglieder mit diesen konform. In internen Rundschreiben aus dem Jahr 1928 wird deutlich, dass einige (führende) Mitglieder eine Hachscharah und Alijah nicht zwangsläufig in ihre Zukunftspläne einbauen wollten. Alfred van der Walde hält im Rundschreiben von März 1928 beispielsweise fest, »dass wir das Erfüllen des eigenen Lebens im Rahmen eines unpersönlichen Ziels [Schaffung einer sozialistischen Gemeinschaft in Palästina, L. D.] anstreben. Das Mittel dazu ist der Bund.«10 Van der Walde kritisiert, dass es Personen im Bunde gebe, die mit großem Aufwand andere zur Hachscharah erziehen wollen, selbst diesen Schritt aufgrund von individuellen Bedürfnisse aber nicht vollziehen und daher »ganz zu Unrecht die Fahnenträger der Chaluziuth«11 seien. Fritz Noack widerspricht ihm in seinem Beitrag »Ziel und Weg im Jungjüdischen Wanderbund«, denn er hält es für wichtig, dass nicht jede Person zwangsläufig zu einem landwirtschaftlichen oder handwerklichen Beruf verpflichtet werden könne, wenn das nicht ihren Neigungen entspreche. Der Bund solle solche Personen »nicht in einen Beruf aus ideologischen Gründen hineinjagen, [da, L. D.] solche Menschen auch für Palästina nur eine Belastung sind.«12 Auch bei Eva lösen die normativen Anforderungen des Bundes einen inneren Konflikt aus, wie das eingangs angeführte Zitat zeigt. Der Bund eröffnet ihr auf der einen Seite einen sozialen Raum, in dem sie mit anderen Jugendlichen außerhalb des Aufsichtsbereichs von Erziehern, Lehrern oder Eltern ihre Freizeit verbringen und dem Regelkatalog von Schule und Elternhaus entfliehen kann. Im Rahmen von Bundesveranstaltungen werden ihr Freiheiten gewährt, die sie sonst nicht hat. Über das Kostümfest der JJWB Ortsgruppe 1928 schreibt sie: »Es war sehr schön. Wir haben viel getanzt. Nach 9 gingen wir nach Hause. Anna und Käte und noch ein paar waren einmal rausgegangen. Ich ging dann auch hinaus. Da hatten sie geraucht und ich habe auch gerade noch ein kleines Stück einer Zigarette erwischt.«13 Das Rauchen von Zigaretten wurde ihr zuvor von ihren Eltern strengstens verboten. Die Heimabende ermöglichen Eva außerdem über gesellschaftliche Tabuthemen wie Sexualität und sexuelle Aufklärung zu sprechen: »Wir lesen jetzt Kostja Rjabzew und sprechen darüber. Neulich hatten wir eine lebhafte Diskussion ob Freundschaft zwischen Jungen und Mädchen bestehen kann. Ich glaube, es kann es in wenigen Fällen geben, aber meistens wird es wenigstens
10 Alfred van der Walde: Zum ›neuen Kurs‹ im Bunde, Rundschreiben 2, S. 1–4, hier S. 1, https://archive.org/de-tails/rundschreibenjun1201jung_ead [05. 12. 2019]. 11 Ebd. 12 Fritz Noack: Ziel und Weg im Jungjüdischen Wanderbund, Rundschreiben 2, S. 5–9, hier S. 9, https://archive.org/de-tails/rundschreibenjun1201jung_ead [05. 12. 2019]. 13 TB, 13. 03. 1928.
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einseitig Liebe. In Kostja steht auch vieles über die sexuelle Frage.«14 Auch als Gruppenleiterin spricht sie das Thema sexuelle Aufklärung an: »Meine Gruppe macht mir jetzt viel Spaß. Ich habe die Kleineren entfernt u. arbeite jetzt mit 12– 15jährigen. Da ich gemerkt habe, wie sehr es sie interessiert, spreche ich mit ihnen über die sexuelle Frage.«15 Die Bundestage und Lager bieten neben dem Austausch über jüdische oder jugendliche Themen und Sinnfragen zudem die Möglichkeit, ohne die wachsamen Augen von Eltern und Lehrern mit den anderen Jugendlichen näher in Kontakt zu treten. Am 11. 10. 1928 schreibt Eva: »Ich korrespondiere jetzt (seit Lager) mit Paul Enoch und Heinz Oestreicher aus Darmstadt. Zwei nette Jungen. Wir können uns alle drei gut leiden. Mehr nicht. Das ist doch eigentlich so eine geistige Freundschaft.«16 Für Eva ist der Bund der Ort, an dem ein gleichberechtigter, ungezwungener Umgang zwischen Jungen und Mädchen möglich gemacht werden kann, während in Schule und Elternhaus hohe (bürgerliche) Moralvorstellungen an sie als Mädchen bezüglich des Verhaltens gegenüber Jungen gerichtet werden.17 Anstelle eines freundschaftlichen Verhältnisses wünscht sich die Tagebuchschreiberin einen kameradschaftlichen Umgang zwischen Jungen und Mädchen im Bund. Dabei stellt sie jedoch fest, dass diese Erwartungen von Seiten ihrer männlichen Altersgenossen enttäuscht werden. Über das Mittlerenlager und den Bundestag 1929 schreibt sie: »Es war teils schön, teils nicht. […] Ich habe die Erfahrung gemacht, daß Mädels viel mehr kameradschaftlich mit den Jungen zusammen sein wollen, und die Jungen immer gleich Liebeleien anfangen, u. ihre sexuellen Gelüste u. Triebe befriedigen wollen. Mir sind jetzt alle Jungen gleichgültig.«18 Eva greift hierbei einen Punkt auf, der in der Jugendbewegung allgemein für Mädchen und Jungen ein relevantes Thema war: Das Kameradschaftsideal im Jugendbund. Für den JJWB war dieses insofern relevant, als übergreifende Ziele des Bundes, wie z. B. die Etablierung eines Kibbuz während der Hachscharah und die anschließende Alijah, mittels des Kameradschaftsideals von Mädchen und 14 TB, 05. 09. 1928. Es handelt sich um das Buch »Das Tagebuch des Schülers Kostja Rjabzew« von Nikolai Ognew. 15 TB, 29. 10. 1929. 16 TB, 11. 10. 1928. 17 In der Schule gibt es beispielsweise getrennte Schulhöfe (TB, 22. 01. 1928) und die Lateinlehrerin rät den Schülerinnen: »Man soll mit den Jungen reden, aber immer eine Fremdheit bestehen lassen usw.« (TB, 23. 09. 1929.) Über die Haltung ihrer Mutter zu diesem Thema schreibt Eva: »Wenn mal von Jungen die Rede ist, gibt sie mir immer zu verstehen, ich sollte ja nicht mit ihnen gehen. Sie denkt wie Heinrich [Schulleiter, L.D.]: 3 m Abstand! Warum sie so aufpaßt, weiß ich nicht, entweder hat sie Verdacht, daß denkt sie, ich ginge mit Jungen, oder sie will mich davor hüten, in die Versuchung zu kommen.« (TB, 31. 05. 1928). 18 TB, 08. 09. 1929.
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Jungen verfolgt werden konnten. Im Gegensatz zu völkisch ausgerichteten Bünden, in denen das Kameradin-Sein der Mädchen aufgrund des geschlechtspolaren Rollenverständnisses stark abgewertet wurde und die Kameradin als »Handlangerin« des heroisch-soldatischen Mannes galt, hielt man in linken Jugendbünden vor allem zu Beginn der 1930er Jahre am Ideal der Kameradin im Sinne der »Genossin« bzw. »Chaveroth« fest.19 Neben diesen positiven Auswirkungen auf ihren Alltag bringt die Mitgliedschaft im JJWB und insbesondere die ideologische Ausrichtung des Bundes die Tagebuchschreiberin auf der anderen Seite in einen inneren Zwiespalt: Innerhalb des Bundes kam es immer wieder zu inhaltlichen Auseinandersetzungen zwischen mehrheitlich kommunistisch und mehrheitlich zionistischen Mitgliedergruppen. 1930 führten diese zu einem Bundestagsbeschluss, der eine Mitgliedschaft im JJWB für KPD-Mitglieder unmöglich machte.20 Auch Eva fühlt sich offensichtlich genötigt, eine Entscheidung zwischen einer inneren kommunistischen und zionistischen Haltung zu fällen, wenn sie schreibt: »Augenblicklich kann ich eine andere Frage nicht loswerden. Ich sage immer, ich bin Zionist. Ich bin mir aber noch gar nicht klar darüber ob ich nicht lieber Kommunist sein müßte. Gleichheit für alle Menschen ist doch ein höheres Ziel als nur das Los der Juden zu bessern. Gestern abend ist mir da eine Lösung gekommen. Ich will für alle Menschen arbeiten. Ich kann doch aber nicht für alle zu gleicher Zeit etwas tun. Da fang ich mit denen an, die mir am nächsten stehen und das sind die Juden.«21 Zum anderen führen sie die Forderung des Bundes nach der Unterordnung unter ein höheres Ziel in eine Sinnkrise, denn sie schreibt weiter: »Wenn ich nun aber weiterdenke: Wir JJWBler wollen doch eigentl. auf Hachscherah gehen. Nehmen wir an ich habe nun keine Lust dazu, möchte lieber studieren; gehe meines Zieles wegen aber doch. Ich arbeite nun, andere arb. auch. Und wirklich: Viele Jahre p später: (Ich bin längst tot) gibt es ein jüd. Land. Die Juden sind alle gleichgestellt. Sie sind alle glückl. u. zufrieden. Was haben sie vom Leben? Was habe ich gehabt? Jeder wird geboren, lebt und stirbt. Wie blödsinnig ist doch das ganze Leben.«22 Des Weiteren zeigt sich an diesem Eintrag, dass Eva eine akademische Ausbildung anstelle der Hachscharah für sich in Betracht zieht. Das bringt sie in eine Entscheidungssituation zwischen den Idealen und Anforderungen des Bundes und ihren eigenen Zukunftswünschen, in der sie sich zunächst für ein Studium 19 Vgl. Irmgard Klönne: Mädchen in der Jugendbewegung, in: Elke Kleinau, Claudia Opitz (Hg.): Geschichte der Mädchen- und Frauenbildung, Bd. 2: Vom Vormärz bis zur Gegenwart, Frankfurt a. M. 1996, S. 248–270, hier S. 269. 20 Vgl. Markel: Brith Haolim (Anm. 6), S. 173. 21 TB, 11. 10. 1928. 22 Ebd.
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entscheidet, wie sie am 1. 1. 1929 festhält: »Ich habe zu keiner andern Ausbildung Lust als zum Studieren. Wenn ich das Abitur habe, nehme ich eine Stelle an, verdiene Geld u. studiere.«23 Wenig später zeigt sich diese Haltung auch an ihrer Ich-Konstruktion im Tagebuch, bei der sie zwischen JJWBlerin-Sein und Zionistin-Sein klar unterscheidet: »Ich bin wieder Zionist. Wir sprachen in der Schule von der Verteilung der Rassen auf der Welt. Da ist so sh schrecklich, so schmerzlich, wenn man da g hören muß, daß die Juden auf jedes Land verteilt sind in so und soviel %. Wir müssen ein Land haben, damit man uns achtet. Aber ich bin kein JJWBler. Ich will nicht als Landarbeiterin selbst mit bauen. Ich habe keine Lust dazu, und bin nicht so edel, um es nur für die Idee zu tun. Ich will aber viel Geld verdienen, und viel für den Aufbau Palästinas geben. Aber ich bin ja ein richtiger Kapitalist?«24 Sieben Monate später ist sie sich allerdings nicht mehr so sicher, ob das die richtige Entscheidung ist, denn es folgt der eingangs zitierte Eintrag. Besonders interessant ist dabei der Satz: »Ich möchte auch das Gefühl nicht haben, daß mir irgendein Weg verschlossen ist; ich möchte die Möglichkeit zu allem.«25 Dass sie den Satz ernsthaft vertreten kann, ist nicht selbstverständlich, sondern auf die gesellschaftlichen Entwicklungen in der Weimarer Republik zurückzuführen. Für Eva hat die Weimarer Republik Möglichkeiten eröffnet, die ihren älteren Geschwistern, die noch im Kaiserreich aufgewachsen waren, nicht vergönnt gewesen sind, beispielsweise die Möglichkeit, das Abitur an der Aufbauschule abzulegen. Auch wahrnehmungsgeschichtlich ist es bedeutsam, dass ein jüdisches Mädchen aus einer mittelständischen Familie und in einer Kleinstadt lebend Ende der 1920er Jahre davon überzeugt ist, die Möglichkeit zu haben, selbst über ihre Zukunft zu bestimmen und sich verschiedene Wege zur Lebensgestaltung offenhalten zu können. Ob Eva ihren inneren Zwiespalt, hervorgerufen durch die normativen Anforderungen des Bundes, die im Kontrast zu ihren eigenen Wünschen und Zukunftsplänen standen, auflösen konnte, bleibt im Tagebuch offen, denn dieses endet 1930 – bis auf die letzte freie Seite beschrieben – ohne Hinweis darauf. Festgehalten werden kann, dass sie 1929 die Leitung einer Jüngerengruppe übernahm und dementsprechend zu diesem Zeitpunkt nicht offenkundig mit den Idealen gebrochen haben konnte, obwohl sie weiterhin einen akademischen Werdegang anstrebte. Wie das Leben der Tagebuchschreiberin ab Juli 1930 weiterging, lässt sich über die von Eva Ebenstein (Ledigname Schiffmann) verfasste Autobiografie26 re23 24 25 26
TB, 01. 01. 1929. TB, 10. 02. 1929. TB, 13. 09. 1929. Eva Ebenstein: Erlebtes. Stadtarchiv Gotha, Nr. 8.1.16/2.
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konstruieren sowie über die Erinnerungen ihrer Tochter Dr. Zivit Abamson und ihres Neffen Dr. Adir Shifron.27 In ihrer Autobiografie schreibt Eva Ebenstein, dass sie nach dem Abitur eine Zeit lang auf einem landwirtschaftlichen Gut arbeitete, diese Tätigkeit jedoch abbrach und eine Ausbildung zur Kindergärtnerin begann. Im Anschluss daran ging sie nach Berlin, um dort für die 1933 gegründete Jüdische Jugendhilfe e.V. tätig zu sein. Dabei lernte sie auch ihren ersten Ehemann kennen, mit dem sie im Juni 1934 nach Palästina emigrierte. Dort schlossen sie sich einem Kibbuz an und heirateten 1936. Das Tagebuch begleitete Eva auf all ihren Lebensstationen – die von Gotha in einen Kibbuz und anschließend über Tel Aviv nach Wien reichten – und wurde erst nach ihrem Tod 2003 von ihrer Tochter entdeckt. Da sich die Psychologin Dr. Zivit Abramson beruflich in der Nähe von Gotha aufhielt, brachte sie das Tagebuch in das dortige Archiv, mit dem Wunsch, dass es wissenschaftlich genutzt würde. Es ist somit ihr zu verdanken, dass sich das Tagebuch seit 2010 im Gothaer Stadtarchiv befindet. Ein umfassendes Erschließungsprojekt des Tagebuchs wird aktuell von der Professur für Geschichtsdidaktik an der FriedrichSchiller-Universität (FSU) Jena unter Leitung von Frau Prof. Dr. Anke John und der Thüringer Universitäts- und Landesbibliothek Jena (ThULB) durchgeführt.
27 Die Gespräche mit Dr. Zivit Abramson und Dr. Adir Shifron haben am 14. 12. 2019 und 28. 12. 2019 stattgefunden.
Ulrike Pilarczyk
Nationaljüdische Jugendkultur und zionistische Erziehung in Deutschland und Palästina zwischen den Weltkriegen. Ein DFG-Projekt an der TU Braunschweig
Ziel des Projektes ist die Analyse und Rekonstruktion des Zusammenhangs zwischen sozialen, politischen und kulturellen Rahmenbedingungen sowie internen Transformationen nationaljüdischer Erziehungsvorstellungen und -projekte hin zu konsequent zionistischer Erziehung in Deutschland und Palästina zwischen den beiden Weltkriegen. Über den Begriff einer nationaljüdischen Jugendkultur werden die vielfältigen sozialen und kulturellen Bewegungen gefasst, in denen die jüdische, vornehmlich bildungsbürgerliche Jugend ihr individuelles und kollektives Selbstverständnis als ein nationales und pädagogisches Projekt definierte. Die projektleitende Annahme der Forschungen ist die Existenz, Kontinuität und Dynamik pädagogisch relevanter Netzwerke, in denen mehrere Generationen jugendkulturell und nationaljüdisch inspirierter Frauen und Männer länderübergreifend die pädagogischen Entwicklungen der Zwischenkriegszeit in Deutschland und Palästina gestalteten. Leitkriterien sind daher Intergenerationalität, Transnationalität und Gender. Die Erschließung der Netzwerke sowie die Analyse und Interpretation der darüber verhandelten pädagogischen Frage- und Zielstellungen sind auf der Grundlage umfangreicher historischer Quellenerhebungen fallbezogen und auf drei bedeutsame pädagogische Entwicklungen dieses Zeitraumes konzentriert. (1) Im ersten Teilprojekt wird die Entwicklung sozial- und reformpädagogischer Vorstellungen untersucht, die sich im Milieu einer nationaljüdischen Jugendkultur im und nach dem Ersten Weltkrieg von Deutschland aus zum Zionismus hin entwickelten, am Beispiel der Pädagogik von Siegfried Lehmann und seinen pädagogischen Projekten in Deutschland, Litauen und Palästina 1916–1933. (2) Das zweite Teilprojekt untersucht die Entwicklung der sich etwa zeitgleich profilierenden jugendbewegt autonomen Erziehungsvorstellungen einer jüngeren Generation nationaljüdisch orientierter Jugend hin zum Konzept zionistischer Arbeits- und Gemeinschaftserziehung im Verlauf der 1920er Jahre und unter dem Einfluss der jüdisch-palästinensischen Arbeiterbewegung bis 1933, am Beispiel der Transformation des Jung-Jüdischen Wan-
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derbundes zum zionistischen Bund Brit Haolim und der Gründung des Kibbuz Givat Brenner in Palästina (1928). (3) Das dritte Teilprojekt erforscht die sich prinzipiell auf dieses Erziehungskonzept gründende zionistische Jugend-Alija-Erziehungspraxis nach 1933 in Palästina, im Spannungsfeld von Erziehungsvorstellungen der Kibbuzbewegungen und fortlebender jugendbewegter und reformpädagogischer Traditionen. In vergleichender Perspektive werden manifeste Erziehungspraxen ausgewählter deutscher Jugend-Alija-Gruppen in den Kibbuzim Givat Brenner, Ein Charod und in Siegfried Lehmanns im Jugenddorf Ben Schemen untersucht. Die Forschungen werden von Prof. Dr. Ulrike Pilarczyk in Kooperation mit dem Koebner-Minerva Center for German History an der Hebrew University in Jerusalem (Prof. Dr. Ofer Ashkenazi) geleitet. Zu dem deutsch-israelischen Team gehören außerdem die Wissenschaftler*innen Knut Bergbauer, Marco Kißling, Beate Lehmann und Dr. Miriam Szamet. Den Aufbau eines nachhaltigen Datenmanagements zur Sicherung und Erschließung der gesammelten Quellen übernimmt das Archiv der Bibliothek für Bildungsgeschichtliche Forschung (BBF) am DIPF/Leibniz-Institut für Bildungsforschung und Bildungsinformation unter der Leitung von Dr. Bettina Reimers in Berlin. Die erste Förderphase endet im Sommer 2021.
Halbzeitbilanz und Perspektiven Das Projekt begann im Juli 2018 mit seiner Arbeit und konnte sich materiell und personell auf umfangreiche Vorarbeiten stützen. So stehen der laufenden Forschung mit dem von Prof. Dr. Ulrike Pilarczyk aufgebauten »Archiv der jüdischen Jugendbewegung« an der TU Braunschweig eine Forschungsbibliothek und umfangreiche Datenbestände (Fotos, Dokumente) aus vorhergehenden bildungs(-historischen) Untersuchungen zu Verfügung. Zudem hatten alle am Projekt beteiligten Wissenschaftler*innen zuvor zum Thema bzw. zu damit verbundenen Forschungsgegenständen gearbeitet und verfügten somit über einschlägige wissenschaftliche Vorerfahrungen. Im Dezember 2018 fand an der HU-Jerusalem eine Auftaktveranstaltung mit allen Mitarbeiterinnen und den israelischen und deutschen KooperationsPartner*innen statt. Mit den Erhebungen historischer Quellen wurde ab Oktober 2018 in Israel begonnen. Erste Forschungsergebnisse wurden im Rahmen der Fachtagung: »Hachschara und Jugend-Alija in Deutschland und Palästina« in
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Schulmuseum Steinhorst/ Niedersachsen präsentiert.1 Neben den Projektmitarbeiter*innen konnten zwei Fachkollegen für Vorträge gewonnen werden. Im Rahmen dieser Tagung wurde im Schulmuseum Steinhorst die Ausstellung »… unter normalen Umständen wäre ich kein ›Bauer‹ geworden…« eröffnet. Sie war das Ergebnis zweier schon bestehender Ausstellungs-Projekte, die hier zusammengeführt wurden. Das war zum einen die Ausstellung: »Zwischen/Raum. Landwerk Neuendorf. Jüdisches Hachschara- und Zwangsarbeitslager Neuendorf im Sande 1932–1943« vom Verein »KulturScheune Neuendorf im Sande« (Arnold Bischinger), die sich der Geschichte dieses besonderen Ortes angenommen hatte. Die andere, kleinere Ausstellung war als Seminarprojekt unter dem Titel »Schützende Inseln« an der TU Braunschweig unter der Leitung von Prof. Dr. Ulrike Pilarczyk konzipiert worden. Auf der Grundlage von Ego-Dokumenten (Texte und Fotos) verdeutlichte sie die Ausgangsbedingungen und allgemeine Praxis von Hachschara in Deutschland und Jugend-Alija in BritischPalästina. Die Quellenrecherchen des DFG-Projektes konzentrieren sich auf textförmige und visuelle Dokumente in privaten und staatlichen Archiven in Israel, darüber hinaus wurden Quellen in den USA, in Litauen und in Deutschland erhoben. Gerade Archive von Kibbuzim und Kibbuzverbänden sowie Privatarchive sind für die Rekonstruktion persönlicher Lebensgeschichten besonders wichtig. Bisher konnte im Zusammenhang mit dem DFG-Projekt ein umfangreicher Bestand an historischen Dokumenten (Korrespondenzen, Protokolle und Periodika) gesammelt, gesichert und erschlossen werden. Dazu kommen zahlreiche Digitalisate aus Fotoalben ehemaliger jüdischer Jugendbewegter. Zeitgleich wird der Buch-Bestand der Bibliothek des »Archivs der Jüdischen Jugendbewegung« laufend erweitert und durch digitalisierte Bücher und Artikel ergänzt. Inzwischen, wohl aufgrund der Präsentation auf der Web-Site des Projektes und verschiedener Presseberichte, werden die Mitarbeiter*innen des Projektes auch um ihre Expertise zu Fragen der jüdischen Jugendbewegung gebeten, bzw. werden spezifische Fragestellungen – vor allem über lokale Zusammenhänge der jüdischen Jugendbewegung – an das Projekt herangetragen. Auch wenn diese nicht immer zu beantworten sind, oft nur Hinweise gegeben werden können und dem Projekt die Ressourcen fehlen, als wissenschaftliche Serviceeinrichtung zu fungieren, sind diese gegenseitigen Hilfestellungen und der damit verbundene wissenschaftliche Austausch unabdingbar. Auf Basis des erhobenen Materials haben sich alle Mitarbeiter*innen mit eigenen Forschungsergebnissen zu den Themen ihrer Projektteile als Vortra1 Der Tagungsbericht ist unter: https://www.hsozkult.de/conferencereport/id/tagungsberichte -8342 einsehbar. Die Beiträge sind publiziert: Ofer Ashkenazi, Ulrike Pilarczyk (Hg.): Hachschara und Jugend-Alija. Wege jüdischer Jugend nach Palästina 1918–1941, Gifhorn 2020.
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gende an Tagungen und Konferenzen beteiligt und publiziert.2 Für das Frühjahr 2021 ist zum Abschluss der ersten Förderphase im Selma-Stern-Zentrum für Jüdische Studien in Berlin eine internationale Konferenz geplant: »Yewish Youth in Transit/ Jüdische Jugend im Übergang«. Auf dieser Tagung sollen nicht nur Forschungsergebnisse des Projektes vorgestellt, sondern diese auch in einen breiteren Kontext internationaler Forschung einordnet werden, um neben dem Erreichten die Forschungsziele für das Anschlussprojekte zu präzisieren. Was die avisierte Verlängerung des Projektes über den ersten Förderzeitraum hinaus betrifft, zeichnet sich bereits ab, dass es Themen und Dokumenten-Bestände gibt, die im Rahmen des ersten Projektzeitraumes nicht bearbeitet bzw. erhoben und erschlossen werden können, die aber für die Geschichte der zionistischen Jugendbewegung von großer Bedeutung sind. Um nur einige der Perspektiven für weitere Forschungen hier zu skizzieren: So stellt allein der Komplex der so genannten »Auslands-Hachschara«, d. h. der Ausbildung und Erziehung jüdischer Jugendbewegter aus Deutschland in Europa auf die Alija die projektleitende Frage nach »Transnationalität« noch einmal anders und neu. Das gilt ebenso für den Einfluss internationaler Organisationen (z. B. der Hadassa) auf die Jugend-Alija in Palästina in den 1930er Jahren – hier gewinnen außerdem die Kriterien »Gender« und »Intergenerationalität« eine neue Dimension. Wenig erforscht ist außerdem die Entwicklung der religiösen zionistischen Jugendbewegung in Deutschland. Auch die Entwicklung der jüdischen Jugendbünde nach 1933, ihre Beziehungen untereinander und zu den überbündischen Organisationen und den Kibbuz-Bewegungen in Palästina sowie der Zusammenhang von Jugend-Alija und Kibbuzgründungen in Palästina sind Forschungsdesiderate im Horizont der zukünftigen Forschung des Projekts.
2 Siehe dazu https://www.tu-braunschweig.de/allg-paed/dfg/publikationen [26. 05. 2020].
Rezensionen
Hans-Ulrich Thamer
Bodo Mrozek: Jugend – Pop – Kultur. Eine transnationale Geschichte, Berlin: Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft 2019, 866 S., ISBN 978-3-518-29837-4, 34,– €
Im Juni 1962 kam es im Münchner Stadtteil Schwabing, seit der Jahrhundertwende klassischer Ort der Künstler und der Intellektuellen, nach einem JazzKonzert in einem Universitätsgebäude zu Krawallen, ausgelöst von Jugendlichen, die die Kapelle nach dem angekündigten Ende des Konzerts durch die Blockade des Ausgangs zum Weiterspielen zwingen wollten. Es kam zu Tumulten, eine Glastür zerbrach, ein Polizeiwagen wurde blockiert und schließlich wurden neun Teilnehmer verhaftet und wegen »Aufruhrs« angezeigt. Die Proteste wiederholten sich in den folgenden Nächten und hatten weitreichende polizeiliche und politische Folgen. Wiederholt sangen, tanzten und spielten Jugendliche danach auf verschiedenen Plätzen Schwabings Gitarre und lockten damit ein immer größeres Publikum von Studenten und Nachtbummlern an, die den Versuch von Polizeistreifen, die Ansammlungen wegen Ruhestörung aufzulösen, mit Steinund Flaschenwürfen sowie Sitzblockaden beantworteten. Die Alarmhundertschaften der Polizei griffen immer wieder zum Gummiknüppel und rechtfertigten anschließend das harte Vorgehen, mit dem man den vergleichsweise banalen Anlässen der Krawalle begegnete, mit dem üblichen Argument der Aufrechterhaltung von »Ruhe und Ordnung«. Die Krawallnächte führten zu einer schrittweisen Politisierung vieler junger Münchner und wurden im Rückblick als Fortsetzung der »Halbstarken-Krawalle« der fünfziger Jahre sowie als Vorstufe zu den politisch motivierten Studentenprotesten der Jahre 1967/68 betrachtet. Gemeinsamkeiten und signifikante Unterschiede zwischen diesen Formen der riots und politischen Proteste herauszuarbeiten, sind das Thema der vorliegenden Untersuchung, die einen weiten Horizont eröffnet und auch Zeitgenossen sicherlich manche unbekannte Information und Erkenntnis liefern dürfte. Dass unter den Jugendlichen in Schwabing, die durch ihr Gitarrenspiel und die russische Folklore, die sie darboten, den Ordnungssinn der Obrigkeit und die kulturellen Präferenzen nicht weniger Bürger herausforderten, auch Mitglieder des »bundes deutscher Jungenschaften«(bdj) waren, dem kleinen, aber stilprägenden bürgerlichen Jugendbund aus bündischer Tradition, auch das wird in der detailgenauen Un-
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tersuchung Mrozeks erwähnt und zeigt, wie fließend nicht nur die kulturellen Übergänge von den 1950er in die 1960er Jahre waren, sondern wie komplex auch das Nebeneinander von traditioneller, bürgerlich-jugendbewegter Kultur und jugendlicher Protestbewegung war, die man damals gar nicht mit dem Begriff »Kultur« nobilitieren wollte. Ein Jahr später, im Oktober 1963 zur 50. Wiederkehr des Meißner-Festes der deutschen Jugendbewegung, deren Stil in der Wiederbelebungsphase der 1950 und 1960er Jahre immer stärker von den Jungenschaften desselben bdj geprägt wurde, grenzten sich die Festredner dann auch von der sich ausbreitenden Massenkultur ab und beschworen noch einmal die bürgerlichen Werte der Selbstverwirklichung. Die »scheppernden Sounds«, die Mrozek thematisiert, waren damals auf dem Meißner nicht zu hören. Nicht nur der Zusammenhang dieser schrillen Töne und einer ebenso schrillen Mode mit einem lauten Benehmen und Jugendkrawallen, die zu Konflikten mit Polizei und staatlicher Administration, aber bald auch zur Etablierung einer neuen Jugend- und Popkultur führten, werden in dieser breit angelegten, materialreichen und analytisch überzeugenden Studie behandelt. Sie versteht sich auch als Beitrag zu einer Kulturgeschichte der Modernisierung oder, wie der Verf. kritisch ausführt, einer »Westernisierung«,wie man die Adaption amerikanischer Musikkultur und Kommunikationstechniken und ihre Verflechtung mit europäischen kulturellen Praktiken, in diesem Falle besonders mit französischen Vorbildern, in den historischen Sozialwissenschaften neuerdings benennt Die sich allmählich ausbreitende Musikkultur der Rock- und Popmusik stieß auch jenseits des »Eisernen Vorhangs«, der vor allem im geteilten Deutschland und Berlin, auch in Polen und in der Tschechoslowakei die ein oder andere Lücke hatte, auf offene Ohren. Die Internationalisierung ist darum der zweite, innovative Ansatz des Buches, das (wie auch andere Studien zur 68er Bewegung) deutlich macht, dass der Siegeszug der Protest- und Popkultur in Deutschland in den 1960er Jahren nicht ausschließlich als Reaktion auf den Nationalsozialismus zu begreifen ist. Was die bürgerlichen und vorwiegend älteren Zeitgenossen in den USA wie in Europa, einschließlich der DDR, zunächst als Kulturbruch und Ausdruck einer verflachenden Massenkultur bzw. einer »westlich-kapitalistischen Dekadenz« verstanden, galt zehn Jahre später als selbstverständlicher Teil einer bunten und vielfältigen Popkultur sowie eines charakteristischen und auch wirtschaftlich folgenreichen neuen Lebensstils. Diese wurde schließlich nur in der DDR weiterhin, wie Mrozek an umfangreichem Aktenmaterial der DDR-Staatssicherheit belegt, als anti-sozialistische Zersetzungsstrategie verfolgt, ohne dass die Attraktivität westlicher Pop-Musik durch staatliche Repression wirklich eingedämmt werden konnte. Denn der Siegeszug des Transistor-Radios und der modernen technischen Zivilisation insgesamt war grenz- und systemüberschreitend. Die massenwirksame Verflechtung der zunächst randständigen Pop-
Jugend – Pop – Kultur. Eine transnationale Geschichte
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Musikkultur mit moderner Rundfunk- und Kommunikationstechnik ist nur ein Aspekt der breiten Kontextualisierung, um die sich der Verf. bemüht, um die Dynamik dieses kulturellen Umbruchs zu erklären. Den größten Teil der materialreichen Untersuchung nimmt die kenntnisreiche musik- und kommunikationsgeschichtliche Beschreibung des neuen Sounds und der davon provozierten Emotionen und Konflikte ein, von der Rock-Musik und dem Hüftschwung des Rock’n’Roll seit den späten 1950er Jahren über die auffälligen und krawallauslösenden Tourneen bzw. Rundfunk-Auftritte der Rock-Stars bis zur Pop-Musik der frühen 1960er Jahre, dem neuen, alle Konventionen und traditionellen Körperpraktiken auflösenden Twist, der als Modetanz schließlich auch die Tanzschulen und Tanzkultur der Erwachsenen erreichte. Der Verf. verwendet einen offenen und breiten, die verschiedenen Musikstile, Tänze und Kleidungsmoden umfassenden Begriff von Popkultur, der es ihm erlaubt, die sich wandelnden medialen Repräsentationen und Selbstvergewisserungsformen der »dynamischen Zeiten« mitsamt ihres zeitgeschichtlichen und demographischen Kontextes zu erfassen und damit andere Zäsuren zu setzen, als dies in der politik- und sozialgeschichtlich orientierten Zeitgeschichte üblich ist. Das Buch stellt eine Sozialgeschichte in Erweiterung dar, indem es von einer dynamischen und sozialen Erweiterung und Verbreitung einer Musikkultur und den damit verbundenen Protest-und Konfliktformen bzw. der sich daraus entfaltenden devianten Lebensstile erzählt, die anfangs von verschiedenen Unterund unteren Mittelschichten getragen wurden, und die dann schichten- und generationenübergreifend in eine vielfältige Popkultur der Mitte der sechziger Jahre mündete. Sie verband sich mit allgemeinen gesellschaftlichen und politischen Wandlungsprozessen und beförderte, anstiftend und angeregt von vielfältigen äußeren sozialen, kulturellen und technischen Anstößen, eine neue Phase der Demokratisierung und Medialisierung. Was 1956/57 noch als Ausdruck von bedrohlicher Devianz galt, war 1966 ein prägendes Element einer sich entfaltenden post-bürgerlichen Gesellschaft. Indem der Verf. mit überzeugenden Argumenten das Jahr 1966 und nicht »1968« in den Fluchtpunkt seiner Studie stellt, relativiert er eine inzwischen schon fast klassisch gewordene Periodisierung der jüngeren Zeitgeschichte und kratzt, wie schon andere Interpreten, aber aus anderer Perspektive, am Mythos des Jahres 1968. Wichtiger noch: Mit der Entdeckung nationaler und sozialer bzw. kultureller Grenzüberschreitungen werden ein bislang segmentiertes Kapitel einer Musikund Soundgeschichte in eine Kulturgeschichte der sich permanent dynamisierenden Nachkriegsjahrzehnte eingebunden und nicht nur spezifische musikgeschichtliche Konstellationen der Popkultur kenntnisreich und analytisch scharfsinnig beschrieben. Es wird auch das kulturelle Konstrukt »Jugend« für die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts neu und ergänzend beschrieben.
Detlef Siegfried
Joachim C. Häberlen: The Emotional Politics of the Alternative Left. West Germany, 1968–1984, Cambridge: Cambridge University Press 2018, 309 S., ISBN 978-1-108-47174-9, 92,99 €
Joachim C. Häberlens Buch bettet sich ein in zwei neuere Tendenzen in der Zeitgeschichtsforschung. Die eine rekonstruiert die Konturen des alternativen Milieus in der Bundesrepublik und verfügt mit Sven Reichardts Buch über eine Gesamtdarstellung, an der sich Ausdifferenzierungen reiben, während Detailstudien mit unterschiedlichen Ansätzen Einzelphänomene vertiefend analysieren.1 Die andere, getragen von Autoren wie Pascal Eitler, Maik Tändler und Jens Elberfeld, widmet sich an der Schnittstelle von Körper-, Sexualitäts- und Emotionsgeschichte übergeordneten Fragen der Psychologisierung und Subjektivierung in der westdeutschen Gesellschaft und stößt im Alternativmilieu auf üppig sprudelnde Quellen, ohne es selbst ins Zentrum des Interesses zu stellen. Beide Zugänge haben die Zeitgeschichtsschreibung um neue Perspektiven bereichert, die sich inzwischen auch in Gesamtdarstellungen niederschlagen.2 Das anzuzeigende Buch bewegt sich an der Schnittstelle dieser beiden Strömungen, indem es untersucht, welche Rolle Emotionen für innere Konstitution, Politikverständnis und Subjektivierungspraktiken im Alternativmilieu spielten. Die Relevanz von Gefühlen in diesem kurzlebigen, allerdings einflussreichen, von den späten 1960er bis etwa Mitte der 1980er Jahre bestehenden sozialen Milieu ist kaum zu überschätzen, zum einen weil sie als Gegenpol zu einer »Rationalität« des Kapitalismus konstruiert, zum anderen, weil ihnen eine entscheidende Rolle bei der Entwicklung einer linken Subjektivität zugemessen wurde. Wie sich junge Linke in der Bundesrepublik durch emotionale Praktiken transformieren wollten, untersucht Häberlen für die 1970er Jahre in einzigartiger Breite und Komplexität, auf der Grundlage einer großen Menge alternativer Zeitungen und anderer milieuspezifischer Publikationen. Die Analyse verfährt im Wesentlichen nicht chronologisch, sondern systematisch und beleuchtet nach einem einfüh1 Sven Reichardt: Authentizität und Gemeinschaft. Linksalternatives Leben in den siebziger und frühen achtziger Jahren, Berlin 2014. 2 Zentral jetzt bei Frank Biess: Republik der Angst. Eine andere Geschichte der Bundesrepublik, Reinbek 2019.
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renden Durchgang zur langen Linie lebensreformerischer Bestrebungen, zu theoretischen Quellen in Situationismus und freudianischem Marxismus sowie Aufbrüchen unter Jugendlichen der 1950er und 1960er Jahre in drei Kapiteln das Kernthema, die linke »Emotionspolitik« der 1970er Jahre. Erstens wird die alternative Bestimmung des Politischen analysiert, die sich aus der Gegenpoligkeit zum Kapitalismus als Inkarnation des »Rationalismus« ergab, einem Regime der Angst, das durch die Mobilisierung von Gefühlen, Phantasie und Träumen bekämpft werden sollte. Zweitens schaut Häberlen genauer auf die Deutungen des Kapitalismus, dem eine zerstörerische Einwirkung auf Persönlichkeit und zwischenmenschliche Beziehungen attestiert wurde, was wiederum normative Rückwirkungen auf die Perzeption gehabt habe – also die Wahrnehmungen in diesem Milieu bestimmte. Drittens wird analysiert, durch welche experimentellen Praktiken hier Gefühle der Intimität und Intensität erzeugt wurden, die die emotionale Leere des Kapitalismus kompensieren konnten. Hier kommt die praktische »Emotionspolitik« dieses Milieus in aller Farbenpracht zur Geltung: der Versuch, »Ganzheitlichkeit« etwa durch Überwindung der genitalen Fixierung in der Sexualität zu erreichen, die Hausgeburt als antiszientistisches Ideal, die Überwindung von Einsamkeit und Isolation durch Feste und militante Aktionen. Das abschließende Kapitel diskutiert den Tunix-Kongress von 1978 und insbesondere die Hausbesetzungen von 1980/81 als Abschluss des »therapeutischen Jahrzehnts«3 und Rückkehr zum politischen Aktivismus. Weil der Autor die Gefühle, denen in dieser Szene eine so bedeutende Rolle beigemessen wurde, ernst nimmt und ganz ins Zentrum seiner Analyse stellt, bekommt er nicht nur einen strukturellen Kern des Alternativmilieus zu fassen, sondern kann auch ihre zentralen Argumentationsmuster erklären, wie etwa das Postulat, das Private sei politisch und Gefühle besäßen ein subversives Potenzial. Gefühle »unmittelbarer Betroffenheit« (S. 105) und individuelle Wünsche werden vom Kapitalismus unterdrückt, so die Vorstellung, während die Verwirklichung von »Träumen« das Ziel alternativer Politik ist. Die Arbeit am Selbst erscheint so nicht als therapeutische Selbstbezogenheit, sondern sie ist als Arbeit gegen internalisierte Unterdrückungsverhältnisse Teil des politischen Kampfes, der sich also in den alternativen Individuen selbst abspielt. Häberlen würdigt das Standardwerk von Sven Reichardt angemessen respektvoll, verhält sich aber in bestimmten Punkten auch kritisch, etwa dort, wo er ihm attestiert, »remarkably static« (S. 22) in der Beschreibung der im Alternativmilieu vorherrschenden Normen zu sein. Hier ist Häberlens Studie in der Tat weiterführend, weil er die in dieser Szene selbst aufkommenden Gegenstimmen systematisch stark macht und auf diese Weise die inneren Friktionen betont. Das 3 Maik Tändler: Das therapeutische Jahrzehnt. Der Psychoboom in den siebziger Jahren, Göttingen 2016.
The Emotional Politics of the Alternative Left. West Germany, 1968–1984
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alternative »Emotionsregime« bedeute Entpolitisierung, einen Rückzug von der Gesellschaft, während Dichotomien nicht (wie behauptet) überwunden, sondern befestigt würden – so jedenfalls die kritischen Minderheitspositionen, die sich weitgehend mit jener Kritik deckten, die sonstige Linke am »alternativen« Selbstverständnis übten. Zu diesem gebrochenen Bild gehört auch, dass Häberlen immer wieder auf das Scheitern vieler Gefühlsexperimente verweist, ihnen aber dennoch ein großes politisches Potenzial attestiert. Abgrenzungsfragen werden allerdings auch von ihm kaum diskutiert, vor allem diejenige, wer eigentlich zur »alternativen« oder »radikalen Linken« (diese Begriffe gebraucht der Verfasser synonym) zu rechnen ist – woraus sich eine genauere theoretische Positionierung ergäbe, zum Beispiel in der Haltung zu Vernunft und Gefühl. Diese Frage ist auch schwer zu beantworten, weil die Fluktuation zwischen den linken Szenen beträchtlich war, wie Häberlen durchaus sieht. Aber was genau bedeutet es eigentlich konzeptionell, wenn Akteure zwischen den im »roten Jahrzehnt« (Gerd Koenen) ebenfalls einflussreichen KGruppen (in diesem Buch stets mit dem Adjektiv »dogmatic« aus dem Feld gekegelt) und »Spontis«, sonstigen als »alternativ« aufgefassten oder sozialistischen Gruppen wechselten? Doch offenbar, dass die von vielen Akteuren behaupteten Gegensätze zwischen den Polen so trennscharf nicht waren, sondern eher Mischverhältnisse vorherrschten. Die Gleichsetzung von links und alternativ bleibt empirisch ungenau, insbesondere aufgrund der Persistenz linkssozialistischer und kommunistischer Positionen in der Linken (letztere erodierend, aber gerade in dieser Dekade noch markant sichtbar).4 Leider gehen zudem in der strukturell angelegten Analyse die Wandlungsprozesse zwischen den frühen und den späten 1970er Jahren verloren, mit deren genauerer Betrachtung die Verschiebungen innerhalb des Milieus in den Blick kämen. Nähme man Rolf Schwendters Typologie, der schon 1968 als Idealtypen eine »rationalistische« und eine »emotionale Subkultur« identifizierte, allerdings in dem Bewusstsein, dass realiter immer nur Mischformen in Erscheinung traten, dann könnte man genauer ausloten, wie sich die Attraktivität dieser Idealtypen in dieser Dekade verschob.5 Wie gesagt, der Autor ist sich über die Heterogenität der Szene durchaus im Klaren, aber der ausschließliche Fokus auf den einen Idealtypus, den der emotionalen Subkultur, reduziert die Pluralität der Linken, die zu einem beträchtlichen Teil – gerade in der deutschen Linksintelligenz – das Paradigma der »Rationalität« nicht ad acta gelegt hatte, sondern mit der Kritischen Theorie 4 Ebenso wie die suggestive, aber nur begrenzt zutreffende These von Andrei S. Markovits, Philip S. Gorski: Grün schlägt Rot. Die deutsche Linke nach 1945, Hamburg 1997. Vgl. Silke Mende: »Nicht rechts, nicht links, sondern vorn«. Eine Geschichte der Gründungsgrünen, München 2011. 5 Rolf Schwendter: Theorie der Subkultur, Köln 1971; ein erster Entwurf erschien 1968 in: Song, 1968, H. 8, S. 3ff.
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zwischen »instrumenteller« und »kritischer Vernunft« unterschied. Und dennoch vom Trend der Emotionalisierung linker Politik nicht frei war – selbst der auch anzutreffenden Begeisterung für Theorie in diesen »wilden Jahre des Lesens«, wie Ulrich Raulff es beschreibt, wurden Begriffe wie »Rausch« und »Erotik« appliziert.6 Ein Fingerzeig, wohin die Reise gehen würde. Wohl wahr, eine Befreiung der Gefühle galt als Angelpunkt der Politisierung des Privaten und Grundlage für Experimente mit Körper, Sexualität und persönlichen Beziehungen, aber dies betraf nicht nur »Spontis« und Alternativmilieu, sondern es handelt sich um eine Erweiterung des Begriffs des Politischen, die schon in den 1960er Jahren erkannt wurde und auf unterschiedliche Weise in der gesamten Linken und manchen der neuen sozialen Bewegungen, besonders in der Frauenbewegung präsent war, denen man unrecht täte, subsummierte man sie umstandslos unter dem Rumbrum »alternativ«, »radikal« oder auch nur »links«. Und andersherum: Nimmt man ernst, dass die meisten linken Wohngemeinschaften der 1970er Jahre etwas anderes waren als die Kommunen der späten 1960er Jahre, nämlich keine therapeutischen, sondern Zweckgemeinschaften, dann liegt der Schluss nahe, dass auch in der linken Szene die Bereitschaft zu emotionalen Gruppenexperimenten begrenzt war. Dieses Plädoyer für eine Erweiterung der Perspektive soll das Verdienst von Joachim C. Häberlens materialreicher Studie nicht schmälern, Gesellschaftsbild, Normen und Praktiken des »emotionalen Regimes« im Alternativmilieu umfassend erschlossen und so anregend diskutiert zu haben, dass sie nicht nur zum Widerspruch, sondern auch zum Weiterforschen ermuntert.
6 Philipp Felsch: Der lange Sommer der Theorie. Geschichte einer Revolte 1960–1990, München 2015, S. 12; Moritz Neuffer: Das Ende der »Alternative«, in: Zeitschrift für Ideengeschichte, 2012, 6. Jg., H. 4, S. 50–61, hier S. 50; Ulrich Raulff: Wiedersehen mit den Siebzigern. Die wilden Jahre des Lesens, Stuttgart 2014.
Paul Ciupke
Britt Großmann: Elisabeth Busse-Wilson (1890–1974). Eine Werk- und Netzwerkanalyse, Weinheim u. a.: Verlag Beltz Juventa 2017, 482 S., ISBN 978-3-7799-1325-2, 68,– €
Das nicht nur im Hinblick auf sein Gewicht schwere, an Seiten umfangreiche und fußnotengesättigte Buch, welches offenbar in einem längeren Zeitraum entstanden ist, behandelt die Biografie Elisabeth Busse-Wilsons im Kontext ihrer Veröffentlichungen, Kreise und Netzwerke in der Jugendbewegung und der sich daran anschließenden pädagogischen Felder. Dafür wertete Britt Großmann neben den Schriften umfängliches Quellenmaterial aus verschiedenen Archiven, nicht zuletzt auch aus dem Archiv der deutschen Jugendbewegung, aus und darüber hinaus bisher nicht öffentlich zugängliche Zeugnisse wie Tagebücher, Selbstdarstellungen Busse-Wilsons sowie unveröffentlichte Manuskripte, welche die Familie zur Verfügung stellte.* Die Erschließung von Werk und Lebensgeschichte ist äußerst verdienstvoll, ist doch Elisabeth Busse-Wilson (1890–1974) eine der wichtigen weiblichen Protagonistinnen und Chronistinnen der Jugendbewegung. In den Jahren der Weimarer Republik ist sie besonders hervorgetreten mit zwei bis heute bemerkenswerten Schriften: »Die Frau und die Jugendbewegung« und »Stufen der Jugendbewegung«. Als gebildete und selbstbewusste Frau vermochte sie es dennoch nicht, sich im Laufe der Jahrzehnte vor allem in beruflicher Hinsicht dauerhaft institutionell zu etablieren und abzusichern. Hier liegt eine zentrale Fragestellung der Arbeit. In ihrer Zusammenfassung geht Britt Großmann deshalb auch von einer nicht geglückten Emanzipation aus: » Es gelang ihr nicht, sowohl ihre beruflich-gesellschaftlichen Positionen als auch ihre sozialen Beziehungen dauerhaft in der Art und Weise zu gestalten, wie sie es für sich definiert hatte […].« (S. 443) Das für Frauen damals wahrlich nicht seltene Scheitern einer hoffnungsvoll begonnenen akademischen Karriere aufgrund der üblichen, männlich dominierten Machtverhältnisse war Teil der Kette einer von ihr so erfahrenen kontinuierlichen Nichtanerkennung ihrer Person, aber auch Nicht* Zwischenzeitlich ist der gesamte Nachlass von Elisabeth Busse-Wilson von der Familie an das AdJb abgegeben worden und steht dort unter Signatur AdJb, N 17 der Forschung zur Verfügung.
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achtung ihres erwarteten gesellschaftlichen Ranges, den sie in bildungsbürgerlicher Manier sich selbst aufgrund ihrer akademischen Titel offenbar zuschrieb. Hier tut sich ein Spannungsverhältnis auf zwischen realen Diskriminierungserfahrungen auf Grund des Geschlechts und eigenem, dem Herkunftsmilieu verhafteten Erwartungs- und Distinktionsverhalten. Die Verfasserin Britt Großmann sieht in der Aufarbeitung des Werkes und seinen diversen Einflussgrößen aber auch einen Beitrag zur Diskursgeschichte der Sozialpädagogik. Man sollte an dieser Stelle unbedingt die Volksbildung der Weimarer Jahre noch ergänzen, denn auch hier war Busse-Wilson gut vernetzt und lange Jahre beruflich engagiert. Die Auseinandersetzung mit der Lebensgeschichte Busse-Wilsons geschieht biografisch-chronologisch; in sieben Kapiteln werden die Lebensstationen detailliert, gespickt mit vielen Quellenverweisen, geschildert. Aus einer bildungsbürgerlichen Familie stammend studierte sie Geschichte und Kunstgeschichte und wurde in Leipzig promoviert. Die entscheidende Hürde aber, von ihr selbst als »Tor zum Geist und zum Leben« charakterisiert, bildete schon die Abiturprüfung 1909. Da seit 1907 in Thüringen Frauen zum Studium zugelassen waren, ging Busse-Wilson zur Universität in Jena. Über freistudentische Kontakte gelangte sie in den berühmten Sera-Kreis, ein unter anderem von Eugen Diederichs inspirierter elitärer und teilweise romantisch-esoterisch anmutender Zirkel, aus dem etliche, später bekannt gewordene Hochschullehrer und Intellektuelle hervorgegangen sind. Nach zwei Semestern zog sie weiter nach Leipzig und studierte unter anderem bei dem, neuen Fragestellungen und Herangehensweisen aufgeschlossenen Historiker Karl Lamprecht. Nach weiteren Stationen in Bonn und München kehrte sie schließlich nach Leipzig zurück. Ihr geistiger Bezugspunkt blieb aber die Jugendbewegung, vor allem die im und nach dem Ersten Weltkrieg dominante Strömung der Freideutschen. Ihre Berührungspunkte mit den Freideutschen und Sichtweisen auf deren Diskurse werden im dritten Kapitel ausgiebig erörtert. Sehr kritisch sah Busse-Wilson auf die neureligiösen Strömungen, Geheimbünde und politischen Sekten, denen sie schon Mitte der 1920er Jahre »progromistische« Tendenzen attestierte. Auch einer Figur wie Gustav Wyneken, die von manchen wie ein »Guru« der Jugendbewegung angesehen wurde, stand sie recht distanziert gegenüber. Mit ihrer Schrift »Die Frau und die Jugendbewegung« wandte sie sich deutlich gegen Männerbundphilosophien à la Hans Blüher. Die Zeiten bis Anfang der 1930er Jahre waren ihre produktivsten. Neben verschiedenen publizistischen Aktivitäten widmete sie sich zunächst vor allem der Volksbildung, z. B. an der Volkshochschule Hannover, die damals von einer Frau, nämlich Ada Lessing, geleitet wurde, aber auch an der dortigen Leibniz-Akademie, an der ihr Mann, Kurt Busse, beschäftigt war. Mitte der 1920er Jahre wurde dieser entlassen und damit scheint auch die Tätigkeit von Elisabeth Busse
Elisabeth Busse-Wilson (1890–1974). Eine Werk- und Netzwerkanalyse
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Wilson beendet gewesen zu sein. Sie konzentrierte sich fortan auf andere freie Berufstätigkeiten. Versuche aber, eine Stelle an einer der vielen in Preußen neugegründeten Pädagogischen Akademie zu bekommen, scheiterten. Anfang der 1930er Jahre erschien dann ihre beachtete Studie »Das Leben der Heiligen Elisabeth von Thüringen«, eine Dekonstruktion des verbreiteten mythischen Bildes einer mütterlichen Wohltäterin, das dem weitverbreiteten geschlechtsstereotypischen Frauenbild der Zeit entsprach. Nach 1933, inzwischen war sie selber Mutter und ab 1938 alleinerziehend, schlug sie sich, da sie dem NS-Regime kritisch gegenüberstand, mit Aushilfsjobs, freien Aufträgen und teilweise auch berufsfremden nichtakademischen Tätigkeiten durch. Zwischenzeitlich arbeitete sie als Lehrerin. Selbst nach 1945 gelang sie nicht in eine gesicherte Berufstätigkeit, obwohl sie politisch als unbelastet galt. Schlimmer noch war für sie offenbar, dass sie auch als Publizistin nicht mehr Fuß fassen konnte. Ihre Skripte blieben beinahe gänzlich unveröffentlicht. So scheiterte selbst eine Mitarbeit an der dreibändigen Dokumentation der Jugendbewegung; der von ihr verfasste Beitrag zur Siedlung Schwarzerden wurde nicht berücksichtigt. Die Studie hinterlässt einen in verschiedenen Hinsichten ambivalenten Eindruck. Trotz der Vielzahl an Ego-Zeugnissen und der Fülle von zitierten Quellen und Werken bleibt die Hauptperson an vielen Stellen schwer greifbar und das Bild gespalten. Britt Großmann verdeutlicht das kritisch an verschiedenen Stellen. Diese Widersprüchlichkeit wird auch an Busse-Wilsons letztlich doch sehr bürgerlichem Habitus gelegen haben, der z. B. regelmäßig herablassende Urteile über die arbeitende Bevölkerung und die dazu gehörenden proletarischen Frauen einschloss. Sie machte für ihre Klasse der Bildungsbürgerlichen natürlich einen geistigen Führungsanspruch geltend. Man muss sich durch dieses an Hinweisen und Anmerkungen reiche Buch »ackern«, aber es lohnt sich, denn es vermittelt viele differenzierte Blicke in die zeitgebundenen Ansichten, Diskurse, Aktionen und auch in die damit verbundenen Irrtümer bzw. Niederlagen einer jugendbewegten und im Bildungsbereich tätigen Frauengeneration. Manchmal hätten kurze und klare Zusammenfassungen mit Kontextinformationen und zeitgeschichtlichen Einordnungen der Lesbarkeit und Rezeptionsmöglichkeit gut getan, ihr Fehlen ist aber kein entscheidender Mangel.
Jürgen Reulecke
Heike Christina Mätzing: Georg Eckert 1912–1974. Von Anpassung, Widerstand und Völkerverständigung, Bonn: J. H. W. Dietz-Verlag 2018, 592 S., ISBN 978-3-8012-4262-6, 48,– €
In den letzten Jahren ist eine beträchtliche Zahl biographisch-generationengeschichtlich orientierter Publikationen erschienen, die sich mit der Lebensgeschichte von Personen der sog. »Jahrhundertgeneration«, d. h. der Ende des 19. Jahrhunderts bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs Geborenen und deren gesellschaftlicher Bedeutung und Engagement im Verlauf des 20. Jahrhunderts beschäftigen. Die umfang- und detailreiche Biographie des sozialdemokratischen Geographen, Ethnologen, Historikers und Pädagogen Georg Eckert – geboren 1912 in Berlin, gestorben 1974 in Braunschweig –, welche die Historikerin Heike Christina Mätzing Ende 2018 publiziert hat, ist ein eindrucksvolles Beispiel dafür. Es sind mit Blick auf die Angehörigen dieser Jahrhundertgeneration meist drei Lebensphasen, die in den Darstellungen und Analysen ausführlicher behandelt und interpretiert werden: die kindlichen und jugendlichen Erfahrungen und Prägungen während des Ersten Weltkriegs und der Weimarer Republik, die Herausforderungen und Aktivitäten im Dritten Reich einschließlich des Zweiten Weltkriegs und die Art und Weise der Neuorientierung bzw. des gesellschaftlichen Engagements nach dem Krieg in West und Ost. Der Untertitel des Buches von Mätzing »Anpassung, Widerstand und Völkerverständigung« verweist auf die Kernfragen der sich daraus ergebenden Hauptkapitel, denen sie allerdings wegen einer historischen Besonderheit noch ein spezielles viertes Kapitel hinzugefügt hat, das ausführlich die Erfahrungen Eckerts in den Jahren 1941 bis 1944 als deutscher Wehrmachtsbeamter in Griechenland behandelt. Das ist bereits ein Hinweis auf den vielschichtigen Lebenslauf Eckerts, dessen Mutter aus einer böhmisch-russischen und Vater aus einer fränkischen Familie stammt. Diese hatten sich in der Schweiz kennengelernt, dort geheiratet und waren dann Mitte 1912 nach Berlin gezogen, wo der Vater Redakteur in einem Verlag wurde, der Sohn am 12. August zur Welt kam und das einzige Kind blieb. Mätzing hat das familiäre Umfeld Eckerts und seine kindliche Prägung ausführlich dargestellt und ist dann nach ihren Recherchen über seinen Lebensweg schließlich zu dem Gesamturteil gekommen, er sei »von früher Jugend bis zu seinem Lebensende im besten Sinne wie ein Kind (geblieben): neugierig und
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offen, vorurteilsfrei und authentisch, stets begierig nach neuem Wissen und daran interessiert, sich weitere Bereiche zu erschließen und das Feld seiner Möglichkeiten auszudehnen« (S. 489). Dieses Urteil verbindet die immense Vielfalt von Erfahrungsräumen und Aktivitäten Eckerts, die Mätzing in etwa dreißig Archiven recherchiert, mit einer Vielzahl von Zeitzeugen erörtert und dann in den nahezu hundert Unterkapiteln ihres Buches sorgfältig dargestellt hat. Zunächst einige Informationen zur ersten Lebenslaufetappe von Georg Eckert, wie sie von Mätzing dargestellt und analysiert worden ist – ausgehend von dem Aufgreifen eines Zitats des Historikers Richard J. Evans, der die sog. »Jahrhundertgeneration«, zu der Eckert gehörte, als eine »Generation des Unbedingten«, d. h. als eine zum Teil gewalttätige Generation, die »aufgrund ihrer Erfahrungen zu allem bereit gewesen sei«, interpretiert hat (S. 65). Während seines Besuchs einer Berliner Oberrealschule mit Abitur im März 1931 war Eckert kurze Zeit Mitglied einer bündischen Pfadfindergruppe, trat jedoch bald in die Sozialistische Arbeiterjugend ein und gründete eine eigene Sozialistische Schülergruppe (SSG), wurde dann zunächst ein »Reichsleiter« dieser SSG und anschließend nach Beginn seines Studiums in den Fächern Germanistik, Geschichte, Geographie und Völkerkunde der Vorsitzende der Berliner Sozialistischen Studentenschaft. Er musste sich jedoch im Frühjahr 1933 infolge erheblichen politischen Drucks zunächst nach Hildesheim, dann nach Bonn zurückziehen, wo er (mit Unterbrechungen) bis zu seiner Promotion und seinem Staatsexamen bis Mitte 1936 studiert hat. Während dieser Zeit war er kurzfristig auch in Koblenz im Reichsarbeitsdienst aktiv und hatte sich daraufhin entschlossen, in die SA einzutreten sowie Mitglied des Nationalsozialistischen Deutschen Studentenbundes und des NS-Lehrerbundes zu werden. Mit der Frage nach den Gründen für den Weg Eckerts in die NSDAP und wie er sich nach 1945 dann dazu mit einer »Schutzbehauptung« geäußert hat, hat sich Mätzing ausführlich beschäftigt, ohne allerdings aufgrund der Quellenlage zu einem klaren Urteil kommen zu können, ob Eckert damals eine »nicht untypische Anpassung an das NS-System« oder diese Anpassung quasi als »Tarnung eines politischen Dissidenten« vollzogen hat (dazu S. 134ff.). Nach seinem Referendariat übernahm er anschließend Lehreraufgaben, engagierte sich auch in der NS-Volkswohlfahrt und heiratete zudem im Oktober 1939, ehe er dann Anfang 1940 als Funker am Frankreichfeldzug teilnahm und Gefreiter wurde. Die zweite entscheidende Lebensphase Eckerts, der sich inzwischen intensiv für die Meteorologie und für volkskundliche Fragestellungen interessierte, begann nun vor allem ab Mitte 1941 mit seinem Einsatz als »Marinemeteorologe«, d. h. als ein »Wehrmachtsbeamter auf Kriegsdauer«, zuständig für den Marinewetterdienst und abgeordnet nach Griechenland an die dortige Marinewetterwarte Saloniki.
Georg Eckert 1912–1974. Von Anpassung, Widerstand und Völkerverständigung
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Ihn dort »zu verorten«, falle – so Mätzing – allerdings schwer, weil sein dortiges »Tätigkeitsfeld […] einem verwobenen Flechtwerk« gleiche (S. 250): Militärische Verwaltungsaufgaben und ethnologische Forschungen (mit Habilitation an der Universität Bonn im Fach Amerikanistik während eines Fronturlaubs), persönliche Beziehungen in Saloniki, die zu Kollaboration mit den Griechen und einem antinazistisch orientierten Engagement sowie schließlich zu engen Kontakten mit der dortigen jüdischen Gemeinde führten. Eckert gründete mit Kollegen schließlich einen Deutschen Antifaschistischen Kampfbund und desertierte Ende 1944 zur griechischen Widerstandsorganisation ELAS, wurde dann beim Vormarsch der britischen Truppen ein »Ehrengefangener«, der nach Lageraufenthalten zunächst in Griechenland und in Italien schließlich Anfang September 1945 mit einer schweren Tbc-Erkrankung in das Lazarett des britischen Fliegerhorsts in Goslar kam. Da die britische Militärregierung inzwischen die Bildung politischer Parteien erlaubt hatte, trat er dann im Oktober dem dort neugegründeten SPD-Ortsverein Goslar bei. Seine nach 1945 in seiner dritten Lebensphase beginnende vielseitige Karriere, in der sich – so Mätzing – »Wissenschaft und Politik miteinander verschränkten«, sei ohne sein nun wieder beginnendes Engagement in der SPD nicht denkbar gewesen (S. 492). In Richtung Wissenschaft habe er zwar sein großes Ziel verfolgt, einer der führenden deutschen Professoren im Fach Ethnologie zu werden, doch gelang es ihm nur, ab Ende 1946 eine Dozentenstelle für Geschichtsdidaktik an der Pädagogischen Hochschule Braunschweig mit der Amtsbezeichnung »Professor« zu bekommen. Als »Vordenker eines neuen Geschichtsunterrichts« waren seine Themenschwerpunkte bei der Lehrerausbildung von nun an z. B. die Geschichte der SPD in der Zeit vor dem NS-Regime, die internationale Geschichte der Arbeiterbewegung und – aus ethnologischer Sicht – der Lebensalltag der Menschen in ihren Lebensräumen. Bereits 1951 gründete er das »Internationale Jahrbuch für Geschichtsunterricht« und zehn Jahre später das bis heute mit großem Erfolg erscheinende »Archiv für Sozialgeschichte«, dessen Schriftleitung nach dem Tode Eckerts Anfang 1975 dann viele Jahre der Historiker Dieter Dowe übernahm, der die vorliegende Publikation Mätzings intensiv unterstützt hat. Die Gründung 1949/51 einer »weltweit einzigartigen Institution« (S. 495), nämlich des Internationalen Schulbuchinstituts in Braunschweig (heute mit dem Namen »Georg-Eckert-Institut für internationale Schulbuchforschung«) ging weiteren Initiativen und führenden Positionen Eckerts in diversen Gremien in den folgenden voraus, in der er z. B. eng mit Willy Brandt und Walter Scheel zusammenarbeitete. Mätzings Gesamtbeurteilung des Lebens von Eckert bis zu seinem Tod am 7. Januar 1975 lautet, er sei »mit ungewöhnlich vielen Begabungen und Talenten beschenkt […] und im besten Sinne ein Generalist« und »Mann des Ausgleichs« gewesen, der es verstanden habe, »scheinbar voneinander Getrenntes … zum
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Nutzen aller miteinander zu verbinden« (S. 498). Dieses Urteil bezog sich allerdings nicht auf das Privatleben Eckerts: Er habe – so Mätzing – »einfach nicht für ein bürgerliches Familienleben« getaugt, und es sei zweifelhaft, ob er sich ein solches überhaupt gewünscht habe. Mit dieser knappen Bemerkung am Ende ihrer Analyse kommt eine Perspektive in den Blick, die Mätzing allerdings nur vage in Bezug auf Eckert verfolgt hat: die Frage nach den, die Lebensläufe der Angehörigen der »Jahrhundertgeneration« bestimmenden psychohistorischen Prägungen als Kriegskinder und dann in den jugendbündischen Gruppen nach dem Krieg, zu denen inzwischen diverse Untersuchungen vorliegen. Hierzu ließe sich, wie sich bereits auch schon aus den vielen, zum Teil sehr umfangreichen von Mätzing in ihre Publikation eingefügten Zitaten – vor allem aus dem Briefwechsel mit seiner Frau – ergibt, manches nachtragen. Insgesamt aber ist das Werk Mätzings eine ungewöhnlich umsichtige Biographie eines Angehörigen der »Generation des Unbedingten« (s. o.), in der dessen Lebensstufen und Erfahrungsräume »Anpassung, Widerstand und Völkerverständigung« immens detailreich vorgestellt und interpretiert werden.
Jürgen Reulecke
Wolfram Wette (Hg.), unter Mitwirkung von Helmut Donat: Weiße Raben. Pazifistische Offiziere in Deutschland vor 1933 (Schriftenreihe Geschichte & Frieden 45), Bremen: Donat-Verlag 2020, 496 S., ISBN 978-3-943425-85-7, 29,80 €
Bis vor wenigen Jahren ist die Bedeutung jener Offiziere des Ersten Weltkriegs, die sich bereits kurz vor Kriegsende, vor allem aber ab 1918 in der Öffentlichkeit über den »Irrweg des preußisch-deutschen Militarismus« (S. 9) geäußert und pazifistische Ideen vertreten haben, kaum beachtet worden: In den Formen der gesellschaftlichen »Vergangenheitsbewältigung« nach 1918 und weitgehend dann auch nach 1945, d. h. seit Beginn der westdeutschen Wiederbewaffnungsdebatte um 1948 spielten in der öffentlichen »Erinnerungskultur« kritische Beiträge zur deutschen Kriegsgeschichte und dem damaligen sog. »Schwertglauben« nahezu keine Rolle. Erst im Laufe der 1980er Jahre lieferten erste Forschungen in Richtung einer Geschichte der europäischen Friedensbewegung Hinweise auf jene Minderheit von deutschen Offizieren des Ersten Weltkriegs, die sich in der Weimarer Republik aufgrund ihrer persönlichen Erfahrungen ausdrücklich für einen »organisierten Pazifismus« eingesetzt haben und »für Demokratie, Frieden und soziale Gerechtigkeit, gegen Antisemitismus, Rechtsextremismus und Fremdenhass, für Aussöhnung mit Frankreich und Polen« eintraten (S. 9). In den 1990er Jahren kam es dann bei einigen Treffen historischer Fachleute zu dem Plan, entsprechende biographische Recherchen durchzuführen, die schließlich, intensiv unterstützt durch den Bremer Historiker und Verleger Helmut Donat, unter der Leitung von Wolfram Wette, damals Historiker im Militärgeschichtlichen Forschungsamt in Freiburg und ab 1998 Professor für Zeitgeschichte an der dortigen Universität, zu einem 1999 erschienenen Aufsatzsammelband mit detailreichen exemplarischen Biographien von insgesamt achtzehn »pazifistischen Offizieren« führten. Da sich jedoch trotz einiger positiver Rezensionen die damalige Hoffnung der Autoren auf eine breite öffentliche Resonanz ihrer Ergebnisse in der Folgezeit nicht erfüllte, kam es 2019 zu der Entscheidung, 2020 noch einmal eine überarbeitete Fassung des Bandes von 1999 mit dem Titel »Weiße Raben« herauszubringen, um erneut den pazifistischen Offizieren der 1920er und 1930er Jahre »Anerkennung und Würdigung« zukommen zu lassen. In seinen beiden Vorworten von 1999 und 2020 hat Wolfram Wette die bisher erwähnten Perspektiven kurz und präzise vorgestellt,
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um anschließend in seinem Einleitungsbeitrag mit dem Titel »Befreiung vom ›Schwertglauben‹ – pazifistische Offiziere in Deutschland vor 1933« den »Forschungsgegenstand« in einleuchtender Weise zu erörtern und das historische Umfeld der anschließenden achtzehn Biographien zu erläutern (S. 11–41). Diesen Einzelbeiträgen – übrigens mit einer Vielzahl von Abbildungen – haben Helmut Donat und Wolfram Wette dann eine fast neunzig Seiten umfassende Bibliographie zum Forschungsgegenstand »Pazifistische Offiziere« hinzugefügt. Etwa die Hälfte der in der Publikation vorgestellten Offiziere gehörte zu den bereits um 1850/60 geborenen Zeitgenossen und war also im frühen Kaiserreich aufgewachsen, während die übrigen Offiziere aus der Altersgruppe der seit den späten 1870er Jahren Geborenen stammen, die ihre zum Teil recht unterschiedlichen jugendlichen Prägungen in der gesellschaftlichen Umbruchzeit seit Ende des 19. Jahrhunderts erfahren haben. Die Jüngste der im vorliegenden Band behandelten Personen, der Reichswehroffizier Carl Mertens, dessen Biographie Helmut Donat dargestellt hat, wurde 1902 geboren und gehörte im Lauf der 1920er Jahre zu jenen Pazifisten, die Deutschland als ein »Land der Verdummung und des Kadavergehorsams« mit einer erheblicher Kriegsgefahr für Europa interpretiert haben (S. 273). Vor allem der Blick auf generationelle Prägungen in den frühen familiären und beruflichen Umwelten wie auch z. T. die Erfahrungen in der Schule und in jugendlichen Kreisen besitzt in den biographischen Annäherungen der Autoren eine bemerkenswerte Funktion, weil diese Erfahrungsräume auch jene spezielle männliche Minderheit geprägt haben, deren Mitglieder damals dem inzwischen häufig zitierten Aufruf Hans Paasches von 1918 »Ändert euren Sinn« gefolgt waren und nach Kriegsende 1918/19 ihre nachdrückliche Ablehnung einer zukünftigen nationalistisch-kriegerischen Eroberungspolitik begründet haben. In der »normalen Männerwelt« der 1920er Jahre spielten dagegen die Überlegungen pazifistischer Offiziere wie solche von Mertens, Paasche u. a. absolut keine Rolle, im Gegenteil! Es war damals nur jene Minderheit der »Weißen Raben«, die sich wie Paasche klar geäußert hat und engagiert in der Öffentlichkeit auftreten wollte. Die Stationen der individuellen Wandlung des vor dem Ersten Weltkrieg in Jugendbewegungskreisen aktiven Hans Paasche von einem »kaiserlichen Offizier zum deutschen Revolutionär« (geboren 1881, im Mai 1920 als Pazifist von einem Reichswehrregiment ermordet), werden im vorliegenden Band von dem Bremerhavener Historiker Lothar Wieland umsichtig behandelt. An Paasches Bedeutung wird übrigens in jugendbewegten Kreisen noch heute oft erinnert, zumal nach seiner Ermordung zur Erinnerung an ihn 1920 im Werratal auf der Jugendburg Ludwigstein eine uralte Linde »Paasche-Linde« genannt worden ist. Die Verfasser der Biographien der achtzehn exemplarischen »Weißen Raben« haben zum einen umsichtig deren Selbstsicht und geistig-intellektuellen Horizonte, deren Kriegserfahrungen und die anschließenden Gründe für ihren Weg
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vom Offizier zum Pazifisten erläutert sowie die zum Teil aggressiven Reaktionen der Öffentlichkeit auf ihr Auftreten und ihr Gesellschaftsbild dargestellt. Mit dem Hinweis auf Paasche im Umfeld von Burg Ludwigstein ist aber zum anderen bereits auch das Thema Jugendbewegung angesprochen, das als lebensprägendes und handlungsbestimmendes Feld in einigen der Biographien ausdrücklich behandelt wird. Als Beispiel sollen dafür im Folgenden einige Hinweise auf einen besonders engagierten damaligen »Offizier im Kampf um ein anderes Deutschland«, d. h. auf den Lebensweg des Kapitänleutnants Heinz Kraschutzki (1891–1982) genannt werden, der im vorliegenden Sammelband von Helmut Donat vorgestellt wird: Geboren in Danzig als Sohn eines Stabsarztes, der 1897 nach Karlsruhe versetzt wurde, besuchte Kraschutzki dort das Gymnasium und wurde mit elf Jahren Mitglied einer Wandervogelgruppe. Seine Eltern waren zudem sehr musikalisch und engagierten sich außerdem im Naturschutz, was ihn ebenfalls prägte. 1906 erfolgte ein weiterer Umzug der Familie nach Magdeburg, wohin der Vater als »Generalarzt« berufen worden war. Der Sohn wurde auch hier Mitglied bei den Wandervögeln, ließ in diesem Kontext – so Donat – »keine Gelegenheit aus, der großen Stadt zu entfliehen« (S. 399), und entschied sich 1910, ein »Seeoffizier« zu werden. Infolge seiner ihn dann in der kaiserlichen Marine bedrückenden Erfahrungen mit den dortigen »Drillmethoden« und »Trinksitten« näherte er sich als junger Offizier zunehmend der damaligen »Friedensbewegung«, und als er zufällig bei einer Dampferfahrt eine Wandervogelgruppe singen hörte, wurde ihm klar, »dass die Kasino-Mentalität, die oberflächlichen Vergnügungen sowie die geistige Öde und Abgeschottetheit des Offizierkorps nicht seine Welt« waren (S. 403). Seine weiteren Entwicklungen in Richtung Antimilitarismus begannen vor allem dann auch mit der Lektüre des ihn stark beeindruckenden Aufsatzes von Hans Paasche mit dem Titel »Forschungsreise des Afrikaners Lukanga Mukara ins innerste Deutschland« in der von diesem mit herausgegebenen lebensreformerischen Zeitschrift »Der Vortrupp« 1912/13. Anfangs durchaus kriegsbegeistert entwickelte sich Kraschutzki nun vor allem auch infolge der lebensreformerischen und antimilitaristischen Artikel in dieser Zeitschrift zu einem Offizier, der die kaiserliche Kriegspropaganda nachdrücklich ablehnte. Zufällig lernte er auch Personen aus »Marine-Guttemplerlogen« kennen, die sich für Solidarität und Frieden sowie vor allem für die Enthaltsamkeit von Alkohol einsetzten. Das führte dann unmittelbar nach dem Kriegsende dazu, dass er einerseits jugendbewegte Bestrebungen unterstützte und selbst Artikel in der pazifistisch ausgerichteten Zeitschrift »Junge Menschen«, hg. von Walter Hammer (ursprünglich Wandervogel im Wuppertal), verfasste, andererseits bei den Guttemplern die Leitung einer »Wehrloge« übernahm, die antinationalistische Initiativen von Jugendlichen förderte, und wurde dann in Schleswig-Holstein einer der Vorsitzenden der Deutschen Frie-
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densgesellschaft, in deren Auftrag er dann im August 1925 in Frankreich ein großes Jugendlager zur Unterstützung internationaler Verständigung in Mitteleuropa mit durchführte. Nach seiner detailreichen Darstellung dieser und vieler weiterer Handlungsfelder von Kraschutzki kommt sein Biograph Helmut Donat im Vergleich zu anderen »Weißen Raben« dann zu dem Schluss, dieser sei letztlich bis ins hohe Alter »stets ›jung‹ geblieben«: Er sei »weder ein fanatischer Weltverbesserer noch ein wirklichkeitsfremder Phantast« gewesen, sondern »eine historische Gestalt des deutschen Pazifismus«, welche letztlich lebenslang die Banalität betont habe, »dass Friede, soll er Früchte tragen und Wirklichkeit werden, bei jedem selbst beginnen« müsse (S. 423). Insofern ist der Lebenslauf von Kraschutzki ein besonders eindrucksvolles Beispiel für das Wirken pazifistischer Offiziere vor 1933, deren jeweiliger Lebenslauf – so Wolfram Wette in seinem Einleitungsbeitrag zur Neuauflage des Buches von 1999 – »als ein Beitrag zur Gestaltung einer humanen und zivilen Gesellschaft« zu würdigen ist und deshalb ausdrücklich zu einer »Geschichte des ›anderen‹ Deutschland« gehört (S. 27), einer Geschichte, die – so die zentrale Motivation für die aktuelle Wiederauflage der Publikation von 1999 über die »Weißen Raben« – nachdrücklich und intensiv auch heute reflektiert werden sollte.
Michael Philipp
Horst-Pierre Bothien, Matthias von Hellfeld, Stefan Peil, Jürgen Reulecke: Ein Leben gegen den Strom. Michael »Mike« Jovy. Widerstandskämpfer, Jungenschafter, Diplomat, Münster: LIT Verlag 2017, 182 S., ISBN 978-3-643-13930-6, 14,90 € »Gegen den Strom« nannte Arno Klönne 1958 seine erste Arbeit zur Jugendopposition im NS-Staat, in der er auch die bündische Gruppe von Michael Jovy erwähnte. Diese Formulierung greift eine nun erschienene Dokumentation über Jovy auf, die mit dem Titel »Ein Leben gegen den Strom« seine gesamte Biographie unter das Zeichen der Nonkonformität stellt. Dies beginnt mit der Teilhabe des 1920 Geborenen an illegalen Jungenschaftsgruppen, 1941 Prozess und Haft wegen »Vorbereitung zum Hochverrat«, Strafbataillon 999, Desertion 1944; es folgten der Aufbau jungenschaftlicher Gruppen im Sommer 1945, der Kampf gegen die Wiederbewaffnung Anfang der 1950er Jahre und schließlich seine Karriere im Diplomatischen Dienst bis zu seinem Tod im Januar 1984. Die reich bebilderte Publikation ist keine historische Studie, sondern eine biographische Kollage aus Kurztexten, Fotos, Dokumenten sowie Beschreibungen, die wesentlich auf Materialien aus Jovys Nachlass und – für die Nachkriegszeit – auf Mitteilungen seiner Kinder beruhen. Jovys bündische Aktivitäten während der NS-Zeit sind bereits ausführlich untersucht, etwa in einer von Arno Klönne betreuten Dissertation aus dem Jahr 1994 von Horst-Pierre Bothien, der zu diesem Thema auch im vorliegenden Band geschrieben hat. Der 12-jährige Jovy trat in Bonn in den katholischen Jugendbund Neudeutschland ein, kam 1936 in Kontakt mit dem illegalen bündischen Grauen Orden und bildete mit einigen Freunden eine jungenschaftlich geprägte Gruppe. Auf Auslandsfahrten trafen sie mit dem politischen Exilanten Karlo Otto Paetel zusammen und schmuggelten anti-nationalsozialistische Schriften nach Deutschland. Matthias von Hellfeld, der sich schon in seiner 1987 gedruckten Dissertation »Bündische Jugend und Hitlerjugend« mit Jovy auseinandergesetzt hatte, ordnet ihn in die politischen Entwicklungen der Kriegs- und Nachkriegszeit ein. Paetel habe den 18-/19-jährigen Jovy wesentlich geprägt – im Vorwort des Bandes sprechen die Herausgeber gar von Paetel als einem Ersatz für den früh gestorbenen Vater. Allerdings sind sich Paetel und Jovy nur zwei Mal begegnet, 1938 in Südfrankreich, im Jahr darauf in Paris. Damals sei Jovy von Paetels Nationalbolschewistischem Manifest beeinflusst worden, und diese Faszination habe
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auch nach 1945 angehalten. Mehrfach zitiert Hellfeld aus Briefen Jovys an Paetel, die in dessen Nachlass im Archiv der deutschen Jugendbewegung liegen. Im Oktober 1948 schreibt Jovy etwa, er wolle seine Jungen zu »einem gesunden und guten Nationalbewusstsein« erziehen, das »Weltoffenheit und internationale Einstellung« ergänzen sollten. Hier hätte man gern mehr erfahren, auch etwa über die Reaktionen Paetels auf Jovys Briefe, in denen dieser seine Enttäuschung über die geistige Situation im Deutschland der Nachkriegszeit mitteilte. Wichtig blieb für Jovy seine Tätigkeit als Jugendführer, wie er im September 1950 gegenüber Paetel betonte, er »sehe keine andere möglichkeit als den weg weiterzugehen, den wir 1938 begonnen haben, einzelne junge menschen zu gewinnen und sie mit dem größtmöglichen geistigen rüstzeug und verantwortungsbewusstsein ins leben zu schicken.« Nur kurz nennt von Hellfeld Jovys 1953 vorgelegte Dissertation, für die er ein »nahezu autobiographisches Thema« gewählt habe: »Deutsche Jugendbewegung und Nationalsozialismus«. Auf die historiographische Besonderheit, einen Gegenstand mit existentieller persönlicher Bedeutung wissenschaftlich zu erforschen, geht von Hellfeld nicht weiter ein. Dabei zitiert er einen Brief Jovys vom Januar 1951 über dessen Enttäuschung, dass die Opposition Jugendlicher gegen den NS-Staat weithin ignoriert werde. Doktorvater war der Kölner Ordinarius Theodor Schieder, der nicht gerade ein Gegner des Nationalsozialismus war. Detailliert stellt Jürgen Reulecke Jovys intensive Zeit in der Jungenschaft von 1945 bis 1952 dar, in der er vom Kölner Bottmühlenturm aus einer der wichtigsten Protagonisten der rasch überregional entstehenden bündischen Szene wurde. Dabei sind die zahlreichen »Bündigungen«, geprägt von Kurzlebigkeit und persönlichen Rivalitäten wie seit den Anfängen der Jugendbewegung, von eher organisationsgeschichtlichem Interesse. Jovys aktive Gegnerschaft zum Nationalsozialismus scheint keine Rolle gespielt zu haben – immerhin waren die meisten der damaligen aktiven Älteren wie Walter Scherf Wehrmachtssoldaten oder HJ-Mitglieder gewesen. Über etwaige Diskussionen darüber teilt Reulecke nichts mit, aber er erwähnt den ersten der von Jovy herausgegebenen Rundbriefe »feuer« vom November 1946, der die »Weiße Rose« thematisierte. 1950 erschien in Heft 7 ein Bericht Jovys über seinen Prozess von 1941, aus dem von Hellfeld in seinem Beitrag zitiert. Wie wurden solche Äußerungen von Jovys jungenschaftlichen Freunden aufgenommen? Waren die endlosen Diskussionen der verschiedenen Gruppen überwiegend selbstreferentiell, berührte die Frage einer Politisierung der Jungenschaft auch allgemeinere gesellschaftliche Diskurse? Seine Positionierung gegen die Wiederbewaffnung Anfang der 1950er Jahre – Jovy engagierte sich im »Arbeitskreis der Jugend gegen Rekrutierung in Nordrhein-Westfalen« – war für ihn eine Konsequenz seiner Erfahrungen. Dies führte allerdings zur Distanzierung anderer Jungenschafter von Jovy. Diese Entwick-
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lung erfolgte zeitgleich mit dem Ende seines Studiums, mit dem sich die Frage der Berufswahl stellte. Für Jovys Entscheidung, im restaurativen Klima der Bundesrepublik Diplomat zu werden, findet Stefan Peil in seinem Beitrag keine schlüssige Erklärung. Er beschreibt die Laufbahn, die Jovy unter anderem als Botschafter in den Sudan und nach Rumänien führte. Peil erwähnt eine bizarre Episode vom Frühjahr 1980, als es zu einem Schlagabtausch auf offener Bühne mit dem bayerischen Ministerpräsidenten Franz-Josef Strauß kam. Dabei kritisierte Jovy auch die hohen Pensionen ehemaliger Richter des Volksgerichtshofs – ein angesichts der üblichen diplomatischen Zurückhaltung ungewöhnlicher Vorgang. Dass Jovy gegenüber dem tobenden Strauß auf seiner Meinung beharrte, zeigt einmal mehr seine Standfestigkeit. Zugleich wirkte hier das Trauma des Prozesses von 1941 nach, der auch nach dem Ende des Nationalsozialismus noch Wirkung gezeitigt hatte: 1952 hatte der Verfassungsschutz versucht, Jovys Anstellung beim Auswärtigen Amt zu verhindern – unter Berufung auf die Akten des Volksgerichtshofs, »in denen ja alles zu lesen wäre«, wie Jovy in einem Brief an Paetel vom Mai 1955 berichtete. In jenem Brief ging Jovy auch auf seine Dissertation ein; er wolle sich um eine Veröffentlichung durch das Institut für Zeitgeschichte bemühen: »Mal sehen, ob sie doch noch gedruckt wird.« Vermutlich wusste Jovy nicht, dass in dem Münchener Institut damals zahlreiche ehemalige Wehrmachtsoffiziere tätig waren, die mit der Organisation Gehlen kooperierten. Über einen eventuellen Schriftverkehr Jovys mit dem IfZ liefert der vorliegende Band keine Informationen. Erst 1984 erschien Jovys Dissertation im Druck, mit einer Einleitung von Arno Klönne. Der kurz zuvor verstorbene Jovy hatte noch ein Vorwort beigesteuert. Darin schrieb er über die Wahrnehmung des Widerstands, dieser sei in Deutschland lange Zeit in einem »Zwielicht« verblieben: »Einem trüben Zweifel an seiner Rechtmäßigkeit, der Angst vor Infragestellung staatlicher Autorität, der Fast-Kriminalisierung seiner Taten, dem verachtenden Verratsverdacht und erschreckenden Vorwurf des Eidbruchs, einer sich der Selbstreinigung verweigernden deutschen Justiz, der moralisch unzulässigen Verteidigung mit einem Befehlsnotstand, der Menschenschwäche und Unfähigkeit, eigenes Verschulden einzusehen, der nur Karriere denkenden Ablehnung von Verantwortung und der schäbigen Selbstverteidigung und Selbsteinstufung, immer nur ein Mitläufer gewesen zu sein.« Dieser skeptische Rückblick Jovys ist im vorliegenden Band nicht noch einmal abgedruckt, aber er hätte als Zeugnis seines Lebensthemas in diese Hommage an ein bündisch geprägtes Leben gegen den Strom gepasst.
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Jens Brachmann: Tatort Odenwaldschule. Das Tätersystem und die diskursive Praxis der Aufarbeitung von Vorkommnissen sexualisierter Gewalt, Bad Heilbrunn: Verlag Julius Klinkhardt 2019, 560 S., ISBN 978-3-7815-2299-2, 44,90 € Der Titel dieser Studie zeigt ihren Gegenstand unmissverständlich an. Es handelt sich um eine weitere Untersuchung zur Aufarbeitung sexualisierter Gewalt an der Odenwaldschule. Über die Besprechung des Buches hinausgehend, wird die vorliegende Rezension auch zum Anlass für einige grundlegende Überlegungen zu Fragen der Aufarbeitungsforschung genommen. Nach einer Reihe von Publikationen zu den Missbrauchsvorfällen an der Odenwaldschule, etwa die verschiedenen bildungshistorischen Studien des Erziehungswissenschaftlers Jürgen Oelkers (2011, 2014, 2016), die Untersuchung des Journalisten Christian Füller (2011) sowie die autobiografischen Berichte von Betroffenen, etwa von Tilmann Jens (2011), von Jürgen Dehmers (2011) oder von Max Mehrick (2018), legte der Bildungshistoriker Jens Brachmann 2019 seine zweite Publikation zum sexuellen Missbrauch im Kontext der Reformpädagogik vor.1 Bei seiner ersten Studie mit dem Titel »Reformpädagogik zwischen Re-Education, Bildungsexpansion und Missbrauchsskandal. Die Geschichte der Vereinigung Deutscher Landerziehungsheime 1947–2012« aus dem Jahre 2015 handelte es sich um eine Aufarbeitungsstudie, die von der Vereinigung der Deutschen Landerziehungsheime in Auftrag gegeben wurde.2 Die vier Jahre später vorgelegte Veröffentlichung aus dem Jahre 2019 stellt die Publikation der Ergebnisse einer der beiden Studien dar, die vom Trägerverein der Odenwaldschule und dem Betroffenenverein Glasbrechen 2013 zur Aufarbeitung der Vorkommnisse zur sexualisierten Gewalt 1 Jürgen Oelkers: Eros und Herrschaft. Die dunklen Seiten der Reformpädagogik, Weinheim 2011; ders.: Reformpädagogik nach der Odenwaldschule – wie weiter?, Weinheim 2014; ders.: Pädagogik, Elite, Missbrauch. Die »Karriere« des Gerold Becker, Weinheim 2016; Christian Füller: Sündenfall. Wie die Reformschule ihre Ideale missbrauchte, Köln 2011; Tilman Jens: Freiwild – Die Odenwaldschule. Ein Lehrstück von Opfern und Tätern, Gütersloh 2011; Jürgen Dehmers: Wie laut soll ich denn noch schreien? Die Odenwaldschule und der sexuelle Missbrauch, Reinbek 2011; Max Mehrick: Der lange Weg zurück. Das verlorene Leben, Kröning 2018. 2 Jens Brachmann: Reformpädagogik zwischen Re-Education, Bildungsexpansion und Missbrauchsskandal. Die Geschichte der Vereinigung Deutscher Landerziehungsheime 1947–2012, Bad Heilbrunn 2015.
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vergeben worden sind. In diesem Zusammenhang waren zwei Aufarbeitungsaufträge erteilt worden. Der eine ging an Heiner Keupp und das Institut für Praxisforschung und Projektberatung in München und betraf den sozialpsychologischen Teil, der andere an Jens Brachmann und sein Team am Institut für Allgemeine Pädagogik und Sozialpädagogik der Universität Rostock und war eher bildungs- und kulturhistorisch ausgerichtet. Beide Teams veröffentlichten ihre Studien im Jahre 2019.3 Ziel der Untersuchung von Brachmann war, so die damalige Ausschreibung, sowohl den Zeitraum von 1968 bis 1988 zu untersuchen, in dem der überwiegende Teil der sexuellen Übergriffe stattfand, als auch die Phase 1989 bis 2010, in der die Vorfälle zunehmend öffentlich wurden (S. 9). Zugrunde liegt ein interdisziplinäres und partizipatives Konzept; in diesem Zusammenhang wurde auch eine Begleitgruppe zur Unterstützung, Beratung und Abstimmung gebildet. Vor dem Hintergrund des Insolvenzverfahrens der Schule im Jahre 2015 kam es zur Unterbrechung des Projektes. Die daraus resultierenden Konsequenzen und Schwierigkeiten für die Forschung beschreiben Brachmann und sein Team in der Einleitung und geben damit zugleich grundsätzlichen Einblick in die spezifischen Herausforderungen, mit denen Aufarbeitung konfrontiert ist. Diese betreffen etwa Archivzugang, Akteneinsicht, Schutzfristen, Datenschutz sowie das Auffinden von Zeitzeug*innen und deren Befragung, aber auch Fragen der Haftungsfreistellung der Forschenden, die in diesem Fall nicht erteilt worden war (S. 15). Die zeitliche Unterbrechung und die damit verbundenen Probleme haben schließlich auch dazu geführt, dass die beiden Teilstudien in Eigenregie durchgeführt und getrennt veröffentlicht wurden. Die vorliegende Studie von Brachmann und seinem Team legt die Ergebnisse des Rostocker Projektes vor und befasst sich mit den »Ausgangsbedingungen, der Entstehung und der Verlaufsgeschichte eines pädokriminellen Netzwerkes an der Odenwaldschule« (S. 11). Besonders fokussiert wird, wie es zur »Entprofessionalisierung der pädagogischen Arbeit« und zur strategischen Ausgestaltung eines sogenannten Tätersystems« kam (S. 11). Dabei stelle der »ambivalente Schulentwicklungsprozess im Zusammenhang mit den Aufklärungs- und Aufarbeitungsambitionen der jeweils verantwortlichen Schulleitungen einen wichtigen Teil der Untersuchung dar« (S. 11f.). Neben Jens Brachmann, federführender Autor der Publikation, haben Andreas Langfeld, Bastian Schwennigcke und Steffen Marseille jeweils einzelne Kapitel zu verantworten. Wie bereits im Titel der Gesamtstudie benannt, der die »diskursive Praxis der Aufarbeitung« fokussiert, orientiert sich die Studie theoretisch und methodisch an diskurs- und inhaltsanalytischen Zugängen und nimmt verschiedene Diskursfelder (Ermittlungsarbeit, Entschädigung, Wiedergutmachung, Glaubwürdigkeit und Zu3 Heiner Keupp u. a.: Die Odenwaldschule als Leuchtturm der Reformpädagogik und als Ort sexualisierter Gewalt. Eine sozialpsychologische Perspektive, Heidelberg 2019.
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kunftsfähigkeit) in den Blick. Nach der Einleitung und der Darstellung der theoretischen Perspektiven befasst sich das dritte Kapitel mit den Tätern, den Tätersystemen und den Ermöglichungsbedingungen. Hierbei wird ein »Verfahren aus Biografie-, Organisations- und bildungshistorischer Netzwerkanalyse« gewählt (S. 12). Das vierte Kapitel, von Andreas Langfeld geschrieben, fragt nach der Ermöglichung und Legitimation sexualisierter Gewalt, das fünfte dreht sich um die die öffentliche Aufklärungskampagne, umfasst dabei den Zeitraum von 1999 bis 2013, und ist von Bastian Schwennigcke verfasst. Das sechste widmet sich schließlich dem Scheitern der Odenwaldschule und enthält Unterkapitel von Schwennigcke und Marseille. Das Buch endet mit einem Fazit zur Odenwaldschule als Tatort, den Tätern und den Tätersystemen. Es greift damit die Begriffe des grundlegenden dritten Kapitels erneut auf und präsentiert präzise, klare und gut begründete Analysen zu den einzelnen Aspekten. Während die Rekonstruktion des diskursiven Prozesses der Aufarbeitung im fünften Kapitel sich wesentlich auf öffentliche und mediale Darstellungen bezieht, bilden insbesondere Schülerakten, Memoranden, Briefe, unter anderem von Eltern, sowie Rundbriefe der Schule wichtige Quellen für das dritte Kapitel zum Tätersystem. Die Studie ist von anderen Rezensionen schon als »unbestechlich«, »akribisch« und »umfassend« gelobt worden.4 Kritisiert werden von Heekerens lediglich zwei Details zu Personenangaben, in einem Fall die fehlende Kontextualisierung von Angaben zu dem kooperierenden Psychologen Manfred MüllerKüppers, der seit 1958 die Kinder- und Jugendpsychiatrie Heidelberg leitete und 1971 dort auf die gleichnamige Professur berufen wurde. Das zweite Monitum betraf die korrekte Verortung des Zuständigkeitsbereiches der Juristin Barbara Just-Dahlmann, die 1968 an der Odenwaldschule am 23. 11. 1968 einen Vortrag zur Sexualstrafrechtsreform gehalten hat, was von Brachmann in einen Zusammenhang mit ihrer Zuständigkeit als Oberstaatsanwältin im Kontext der Entlassung eines Lehrers wegen Missbrauchs im Oktober 1968 gebracht wird (S. 49, 51f.). Diesbezüglich wäre allerdings auch eine andere Lesart als die von Brachmann und auch die von Heekerens denkbar, denn es gibt Hinweise darauf, dass Just-Dahlmann ein eigenes Kind auf der Odenwaldschule hatte, was noch einmal ein anderes Licht auf die Rolle der Juristin Just-Dahlmann und den Briefwechsel zwischen ihr und dem damaligen Schulleiter, Walter Schäfer, werfen würde. Ob sie also tatsächlich von Walter Schäfer als Mannheimer Oberstaatsanwältin angefragt war oder vielmehr als juristische Expertin in ihrer Rolle als Unterstützerin der Schule, dürfte vor diesem Hintergrund noch 4 Hans-Peter Heekerens. Rezension vom 08. 10. 2019 zu: Jens Brachmann: Tatort Odenwaldschule. Das Tätersystem und die diskursive Praxis der Aufarbeitung von Vorkommnissen sexualisierter Gewalt, Bad Heilbrunn 2019, in: https://www.socialnet.de/rezensionen/25518.p hp [22. 06. 2021].
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einmal zu überprüfen sein. Just-Dahlmann war eine prominente Juristin, die sich nicht nur im Kontext der Sexualrechtsreform 1969 engagierte, die sie mit angestoßen hatte, sondern sie war vor allem als Juristin bekannt, die sich für die Aufklärung von NS-Verbrechen einsetzte und deren schleppende Verfolgung kritisierte. Darüber hinaus engagierte sie sich in der Evangelischen Kirche und für die christlich-jüdische Zusammenarbeit. Damit passt sie sehr gut in ein Muster liberaler bürgerlicher Kreise, eher protestantisch geprägt, die ihre Kinder auf die Odenwaldschule schickten und sich für das Modell der Reformschule engagierten. Just-Dahlmanns Vortrag und der Briefwechsel mit ihr standen im Kontext der ersten, in der Nachkriegszeit bekannt gewordenen Missbrauchsvorfälle an der Odenwaldschule im Jahre 1968. Anfang Oktober hatten sich neun Schüler wegen Missbrauchs durch einen Lehrer an den Schulleiter gewandt. Dieser wurde in der Folge Ende Oktober entlassen. Wie die Schulleitung und der sogenannte Schulpsychologe, Dr. Jouhy, der aus der französischen Résistance kam und in Frankreich bis zu seinem Wechsel an die Odenwaldschule 1951 in der Heimerziehung tätig war, in diesem Fall vorgingen, wie die Eltern informiert wurden und wie es den betroffenen Schülern weiter erging, wird von Brachmann genau dargestellt. Sehr aufschlussreich sind in diesem Zusammenhang die psychologischen Beurteilungen, die die Folgen bei den von sexuellem Missbrauch betroffenen Schülern als unschädlich einstuften. Mit der Behauptung von Unschädlichkeit und Folgenlosigkeit wurde einem Argumentationsmuster gefolgt, das sich um 1970 auch andernorts in der Psychologie und den Sexualwissenschaften fand, etwa prominent von dem Sexualwissenschaftler Eberhard Schorsch vertreten, unter anderem in der Zeitschrift »betrifft: erziehung« 1973, die erziehungswissenschaftliche Zeitschrift mit der höchsten Auflagenzahl, in der viele Autoren aus dem Umfeld des Max-PlanckInstituts für Bildungsforschung publizierten.5 Auch in den Stellungnahmen der Eltern der betroffenen Schüler bildet sich das Muster der »Ignoranz gegenüber den Opfern« ab.6 Die Reaktionen der Eltern zeigen, wie die Folgen sexualisierter Gewalt bagatellisiert und beschönigt sowie als etwas dargestellt wurden, was sich schon wieder beruhigen werde. Beruhigung scheint überhaupt das zentrale Stichwort für den Umgang mit diesen neun bekannt gewordenen Fällen im Jahre 1968 zu sein. Die Betroffenen gehörten zur sogenannten Familie des Lehrers, das heißt sie lebten mit ihm in einem Haus. Diese Form der »Familialisierung« an der Odenwaldschule stellt bekanntermaßen eine der Gelegenheitsstrukturen für die systematische Aus5 Meike S. Baader: Zwischen Politisierung, Pädosexualität und Befreiung aus dem »Getto der Kindheit«. Diskurse über die Entgrenzung von kindlicher und erwachsener Sexualität in den 1970er Jahren, Meike S. Baader, Christian Jansen, Julia König, Christin Sager (Hg.): Tabubruch und Entgrenzung. Kindheit und Sexualität nach 1968, Köln 2017, S. 55–84. 6 Ebd., S. 69, 78.
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übung sexualisierter Gewalt dar. In Brachmanns Analyse des gescheiterten Neuanfangs der Schule nach 2010 spielt die Fortsetzung des Familienprinzips eine wichtige Rolle, zugleich warnt er aber davor, sich bei der Frage nach den Ermöglichungsbedingungen ausschließlich darauf zu fokussieren, denn dies würde von anderen Strukturen ablenken. Übergriffe erfolgten auch beim Wandern und bei Ausflügen, wie es ein Bericht der Schüler zu den Fällen um 1968 eindrücklich zeigt, wobei bereits Praktiken der Erniedrigung vorausgegangen waren, sodass mit Widerstand nicht mehr zu rechnen war (S. 41). Der erste bekannt gewordene Fall eines missbrauchenden Lehrers im Jahre 1968 wurde weitgehend intern bearbeitet. Der Lehrer wurde entlassen, die Eltern informiert, aber weitere Schritte folgten nicht. Auf die Signale der betroffenen Schüler, die in den folgenden Jahren traumabedingte Verhaltensweisen zeigten, wurde nicht angemessen reagiert. Stattdessen verließen die Schüler vorzeitig die Schule; in einem Fall wurde ein psychiatrisches Gutachten eingeholt, das die »ungünstigen Familienverhältnisse« als Ursache diagnostizierte und auf die Vorgeschichte nicht Bezug nahm (S. 44). Dieses Gutachten sowie die Einschätzung des sogenannten Schulpsychologen Dr. Jouhy, ab 1968/1969 dann als Professor für Sozialpädagogik an der Universität Frankfurt tätig, legt die weiterführende Frage nach der Rolle von Stellungnahmen, Gutachten und Begutachtungen in Fällen von sexualisierter Gewalt, die sich auch in anderen Aufarbeitungen zu sexualisierter Gewalt stellt, nahe.7 Gerade unter dem Aspekt anderer und weiterer Aufarbeitungsforschung sind die Begriffe »Tätersystem« sowie »pädosexuelle Netzwerke« von Bedeutung. Beide Begriffe nehmen in der Aufarbeitungsforschung zu sexualisierter Gewalt eine Schlüsselstellung ein. Während das Tätersystem, für eine Institution wie die Odenwaldschule zutreffend, eine gewisse Geschlossenheit suggeriert, ist der Netzwerkbegriff offener und impliziert die unterschiedlichsten Positionen. Er schließt die Täterschaft ein, aber auch Komplizenschaft, Personen- und Institutionenschutz sowie den Schutz von Narrativen und mit diesen verbundenen Identitäten. Grundsätzlich bedarf der Netzwerkbegriff für zukünftige Aufarbeitungen einer weiteren Reflektion und Präzisierung. Wie stark die Netzwerke rund um die Odenwaldschule über diese hinausreichten, macht die Studie an vielen Stellen deutlich. Diese reichten bekanntlich bis in den Berliner Senat, die Evangelische Kirche, das Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin und die Jugendbewegung, um nur einige Beispiele zu nennen. Weiterführend für Aufarbeitung von sexualisierter Gewalt in pädagogischen Kontexten und damit verbundener Aspekte ist auch die Frage nach der Professionalität der pädago7 Meike Sopia Baader, Caroline Oppermann, Julia Schröder, Wolfgang Schröer: Ergebnisbericht »Helmut Kentlers Wirken in der Berliner Kinder- und Jugendhilfe, Hildesheim 2020, https://doi.org/10.18442/129.
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gischen Fachkräfte, die Brachmann und sein Team für die Odenwaldschule unter der Perspektive der »Entprofessionalisierung« diskutieren. Die Ergebnisse zu den Tätern sind hier höchst aufschlussreich. Brachmann identifiziert fünf Haupttäter und diskutiert die alleinige Fokussierung auf Gerold Becker kritisch (S. 433). Neben anderen Gemeinsamkeiten waren die meisten von ihnen unzureichend qualifiziert. Der von Brachmann herausgearbeitete Umstand der mangelnden Professionalität ist von großer Bedeutung für die Beschreibung und Charakterisierung des Systems. Ob der Begriff der Entprofessionalisierung dabei wirklich treffend ist, bleibt zu fragen und weiter zu beforschen, denn er suggeriert einen voranschreitenden Prozess. Stattdessen handelt es sich eher um eine ganz spezifische Form der Personalauswahl, bei der fachliche Professionalität nicht das entscheidende war und die bereits für die ältere Geschichte der Schule zutraf. Ein antiprofessioneller Gestus schien durchaus Resonanz zu erfahren, andere Hintergründe und Netzwerke scheinen eine wichtigere Rolle gespielt zu haben als Professionalität. Die Haupttäter hatten in der Regel kein abgeschlossenes Studium, verfügten aber »über Empfehlungen von der Schule nahestehenden Honoratioren ohne Prüfung ihrer pädagogischen oder fachlichen Eignung« (S. 435). »Die Täter verfolgten ähnliche Lebensentwürfe, hatten überwiegend eine bündische Vergangenheit, waren ausgehend von ihren persönlichen Erfahrungen im Wandervogel-, Pfadfinder-, oder im evangelischen Jugendbundmilieu später i. d. R. involviert in die Burg-Waldeck-Szene, blickten auf vergleichbare unstete Berufsbiografien zurück und fanden mit ihrem Wechsel an die Odenwaldschule einen wenigstens vorübergehenden oder gar dauerhaften beschäftigungs- und lebensgeschichtlichen Anker« (S. 434). Der ersten »weitgehend sanktionslosen« Causa im Jahre 1968 misst Brachmann eine Art »Schlüsselszene« zu. »Unmittelbar danach kamen vermehrt weitere Intensivtäter an die Schule« (S. 444). Dieser Zeitpunkt lag aber vor der Übernahme der Leitung durch Gerold Becker im Jahre 1972. Die identifizierten Haupttäter waren männlich und vor diesem Hintergrund wird in dieser Studie auch vorwiegend vom männlichen Tätersystem gesprochen. Allerdings gab es auch Täterinnen und in einer systemischen Sicht würden auch diejenigen Lehrerinnen und Fachkräfte zum System gehören, die sich am Täterund Institutionenschutz beteiligt haben oder gar, wie in einem Fall, explizit mit dafür gesorgt haben, dass der Täter ungehindert und in seinem Sinne Zugriff auf Schüler hatte. Insgesamt vermutet Brachmann aufgrund der Aktenmaterialen und Sekundärdaten »weit mehr als zwei Dutzend Täter«, die Anzahl der Betroffenen liege »wahrscheinlich im mittleren (wenn nicht im oberen) dreistelligen Bereich« (S. 441). Brachmann und sein Team haben nicht nur eine sehr verdienstvolle und höchst quellenreiche Geschichte zur Odenwaldschule und dem Missbrauch vorgelegt, sondern auch eine weitere bundesdeutsche Geschichte zum Umgang
Tatort Odenwaldschule. Das Tätersystem und die diskursive Praxis der Aufarbeitung
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mit sexualisierter Gewalt. Bereits die Studie von Walter u. a. zur Pädosexualität und den Grünen hat berechtigterweise diesen Untertitel geführt.8 Im Kontext der Odenwaldschule waren Netzwerke am Werk, die auch deshalb so lange und gut funktioniert haben, weil hier ein liberales Milieu, Argumente der Bildungsreform, Vertreter der Bildungsforschung, der wissenschaftliche Fachdiskurs, die Protestantische Eliten, Gegner und Verfolgte des Nationalsozialismus sowie deren Familien und auch die Medien miteinander verknüpft waren und interagierten. Schließlich war das Selbstverständnis, »eine wirklich antifaschistische Schule«9 zu sein identitätsstiftend für die Schule nach innen wie nach außen und stellte eine Form des Schutzes gegenüber kritischen Anfragen dar. Exemplarisch für jenen Konnex steht beispielsweise auch der Name Martin Bonhoeffer, der, als Sozialpädagoge, aus einer Widerstandsfamilie kommend, sowohl in der Berliner Kinder- und Jugendhilfe als zuständiger Mitarbeiter im Senat Teil des Netzwerkes war, das im Kontext der Berliner Kinder- und Jugendhilfe pädosexuelle Aktivitäten stützte10 und darüber hinaus in der Odenwaldschule wirkte und dort etwa in Ferienfahrten eingebunden war (S. 441). Bonhoeffer war ein Bekannter Beckers aus seiner Studienzeit am Göttinger Seminar. Auch im Fall des Sozialpädagogen Helmut Kentler war eine hochangesehene Einrichtung der Berliner Bildungsreform, das Pädagogische Zentrum, der institutionelle Ort, von dem aus sich Helmut Kentlers Wirken entfalten konnte.11 In diesem Fall sowie an der Odenwaldschule wurde nicht nur Täter- und Institutionenschutz praktiziert, sondern es wurden auch Narrative geschützt und verteidigt. Dies betrifft Narrative der Reformpädagogik, der Bildungsreform und ihrer Vorzeigeschule einschließlich der Kinder- und Jugendhilfe sowie der sogenannten emanzipativen Sexualpädagogik, die identitätsstiftend für ein liberales Milieu in der Geschichte der Bundesrepublik waren. Dazu, dass all dies in seinem Funktionieren und seinen Strukturen langsam besser verstehbar wird, hat die Studie von Brachmann mit unendlich vielen Details kenntnisreich und umfassend beigetragen. Da Aufarbeitungsforschung sich immer auch in verminten Geländen bewegt und die vorliegende darüber hinaus noch durch ganz spezifische Schwierigkeiten gehen musste, ist Brachmann und seinem Team für das, was sie vorgelegt haben, höchste Anerkennung zu zollen. Für die Zukunft wäre eine stärkere Vernetzung von Aufarbeitungsprojekten wünschenswert. Schließlich finden sich in vielen Details, etwa der Angabe, dass 8 Franz Walter, Stephan Klecha, Alexander Hensel (Hg.): Die Grünen und die Pädosexualität. Eine bundesdeutsche Geschichte, Göttingen 2015. 9 Wolfgang Edelstein: »Die Odenwaldschule ist für mich identitätskonstitutiv gewesen«, in: Margita Kaufmann, Alexander Priebe (Hg.): 100 Jahre Odenwaldschule. Der wechselvolle Weg einer Reformschule. Berlin 2010 2010, S. 142. 10 Baader: Ergebnisbericht (Anm. 6), S. 48f. 11 Ebd., S. 49.
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ein Lehrer als Täter mit Unterstützung der Odenwaldschule zum Wohngruppenleiter und Pflegevormund einer vom Jugendamt in Stuttgart finanzierten Wohngruppe wurde (S. 437f.), Hinweise, die mit anderen Aufarbeitungen zu pädosexuellen Pflegestellen zusammengeführt werden müssten.12 Nur so können Muster sowie die Netzwerke noch deutlicher erkennbar und weitere Betroffene erreicht werden. Hilfreich dafür wären auch Personenregister in den Studien. Je mehr Aufarbeitungen vorliegen, desto dringlicher ist eine Vernetzung der Forschung, um die isolierte Betrachtung je spezifischer Kontexte und Konstellationen zu überschreiten und Netzwerke, Muster, Strukturen, Gelegenheitsstrukturen und Bedingungen identifizieren zu können. Dies betrifft auch die Orte, Netzwerke, Strukturen und Praktiken der Jugendbewegung. Die Verbindungen zur Jugendbewegung bei den Haupttätern wird in der Studie von Brachmann herausgestellt, die Jugendbewegung wird darüber hinaus in der Untersuchung von Walter u. a. thematisiert und sie findet in der von Iris Hax und Sven Reiß vorgelegten Untersuchung zum »Wirken pädosexueller Netzwerke in Berlin« (2020) bezogen auf den »Nerother Wandervogel Nord« Erwähnung.13 Brachmanns Plädoyer, den Fall Odenwaldschule nicht zu exotisieren, sondern die Debatte um »Strukturähnlichkeit von Missbrauch begünstigenden Bedingungen« zu führen (S. 450), ist nachdrücklich zuzustimmen. Hierin liegt auch die Unabgeschlossenheit dieser wichtigen und weiterführenden Studie.
12 Ebd. 13 Iris Hax, Sven Reiß: Programmatik und Wirken pädosexueller Netzwerke in Berlin – eine Recherche, Berlin: Unabhängige Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs 2021.
Susanne Rappe-Weber
Kristine Alexander: Guiding Modern Girls. Girlhood, Empire, and Internationalism in the 1920s and 1930s, Vancouver: UBC Press 2017, 296 S., ISBN 978-0-7748-3588-6, 44,– $
Modern Girls – aus deutscher Perspektive scheint »Modernität« als prägender Begriff für das Selbstverständnis der Pfadfinderinnen in den 1920/30er Jahren zunächst nicht gerade naheliegend. Mit Katharina »Erda« Hertwig stand dem Bund Deutscher Pfadfinderinnen seit 1922 eine völkisch-national eingestellte Führerin vor, die den Mädchen das »Hochhalten der deutschen Frauenehre« als erstes Gebot aufgab, die Thusnelda (die Gemahlin von Arminius, dem Sieger der Varusschlacht, 9 n. Chr.), zur Schutzherrin des Bundes ausrief und die die Spindel zum Pfadfinderinnen-Symbol als Hüterinnen des »Grals germanischer Weiblichkeit« erklärte – von »Moderne« ist da auf den ersten Blick wenig zu erkennen. Doch selbst auf diese extrem rückwärtsgewandt erscheinende, deutsche Variante weiblichen Pfadfindertums lassen sich die von der kanadischen Historikerin Kristine Alexander vorgestellten Kriterien einer modernen Mädchenerziehung anwenden, wie die Lektüre der instruktiven Studie zeigt. Alexander vergleicht darin die Erziehungsprogramme der Pfadfinderinnen in England, Kanada und Indien, wobei sie sich inhaltlich auf die häuslichen Fertigkeiten und das bürgerschaftliche Engagement sowie die Praxis bei Lagern und Großveranstaltungen konzentriert. Ausgehend von den persönlichen Prägungen Robert Baden-Powells und der Rolle seiner Schwester Agnes bei der Gründung des Mutterverbandes sowie der Rolle seiner Ehefrau Olave im weiteren Verlauf, werden in der Einleitung die Grundzüge der Organisationsentwicklung in den drei Ländern dargestellt, wobei die Verf. sinnvollerweise auf ausführliche länderspezifische oder biografische Details weitgehend verzichtet. Abgeschlossen wird der kompakte Band mit einer Analyse des Konflikts, in dem sich die global agierenden Pfadfinderinnen als Teil der imperialen Strukturen einerseits und des Anspruchs auf Schwesterlichkeit andererseits befanden. Das Buch insgesamt diskutiert ein ausgewähltes Zeitfenster aus der Geschichte der Girl Guides konsequent anhand der Diskurse zu den Kategorien »gender, race, class, and age« und macht so Pfadfinder*innengeschichte im weiteren Sinne als Ertüchtigung junger Frauen für moderne Zeiten damit vielseitig wissenschaftlich anschlussfähig.
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Hinsichtlich der Anfänge betont die Verf. die Verwurzelung Robert BadenPowells (1857–1941) und seiner Schwester Agnes im 19. Jahrhundert in der Blütezeit des britischen Empire. Vor diesem Hintergrund traditioneller Werte hätten der Leitungswechsel zu der über 30 Jahre jüngeren Olave (1889–1977), aber auch die Umwälzungen des Ersten Weltkriegs erhebliche Erneuerungsschübe ausgelöst, ablesbar z. B. an zwei neuen Handbüchern aus den Jahren 1917 und 1918, die die Balance zwischen überkommenen Werten und neuen Anforderungen widerspiegeln. Die Herausforderungen der Nachkriegsgesellschaft, das Wahlrecht für Frauen und die neue Weltordnung wirkten sich ganz unterschiedlich auf die Pfadfinderinnen aus, wobei in Indien für die einheimischen Mädchen die Hürde hinzukam, als aus rassistischen Motiven ausgegrenzter Verband die Anerkennung seitens der britischen Gründer zu erlangen. Zahlenmäßig entwickelten sich die indischen Girl Guides nicht so dynamisch wie in den beiden anderen Ländern. Die Internationalisierung der Bewegung, organisatorisch schließlich ablesbar an der Gründung der World Association of Girl Guides and Girl Scouts 1928, war erst möglich, als sich die englischen Pfadfinder*innen der ersten Stunde vom viktorianischen Militarismus distanzierten und zu einer neuen Friedensagenda bekannten. Parallel dazu erweiterte sich in den untersuchten Ländern ganz allgemein der gesellschaftliche Spielraum für junge Frauen, die nun erstmals – wenn auch je unterschiedlich – von neuen Reisemöglichkeiten, der Ausbreitung von Massenmedien und längerer Schulbildung profitierten, woraus sich modernisierte Anforderungen an Werte und Praxis der Pfadfinderinnen ableiteten. Gerade die private Sphäre mit Ehestand, Haushaltsführung und Kindererziehung nahm in der Ausbildung der Girl Guides weiterhin einen zentralen Platz ein, wurde nun aber in dem Sinne modernisiert, dass nicht nur wissenschaftliche Kenntnisse und professionelle Vorgehensweisen propagiert, sondern gerade diese Tätigkeiten zur Grundlage des Staatswesens erhoben wurden. Es gab dabei universelle Themen, wie den Kampf gegen Kindersterblichkeit und schlechte Kindergesundheit oder die allgemeine Zuständigkeit der zukünftigen Ehefrauen für das häusliche Wohl, aber auch länderspezifische Aspekte wie die Auseinandersetzung mit der in Indien üblichen Kinderehe. Dass diese, ausschließlich auf die heterosexuelle Eheschließung ausgerichtete Bestimmung für Frauen innerhalb einer rein weiblichen Organisation verfochten wurde, brachte manche Widersprüche mit sich, etwa dort, wo die Girl Guides allein stehende, durchsetzungsstarke Frauen als Führerinnen erlebten. Wie das in der Programmatik stark verankerte, konventionelle Frauenbild von den Mädchen selbst reflektiert wurde, wie etwa die Erziehung zur Häuslichkeit im Kontrast zu den Outdoor-Erlebnissen oder den internationalen Verbindungen ankam, bleibt in der Studie mangels Quellen offen.
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Genauere Einsichten hat die Verf. für die Frage nach der staatsbürgerlichen Prägung, die die Girl Guides ihren Mitgliedern mitgaben, gewonnen. So ging die Loslösung der Kolonien (Kanada 1931, Indien 1947) mit einer starken Politisierung in diesen Ländern gegen das britische Empire einher, was aber von den Pfadfinderinnen – im Unterschied zu anderen Frauenorganisationen – kaum aufgegriffen wurde. Stattdessen wurde die individuelle Stärkung von Körper und Geist, basierend auf Selbstdisziplin und Training, quasi zu einer an die Frauen delegierten Staatsaufgabe erklärt (»healthy citizenship«). Das schloss auch eine Bereitschaft zu ehrenamtlicher Hilfsbereitschaft ein (»voluntary social service«), ein Konzept, das sich an Angehörige der Mittelklasse richtete, die grundsätzlich nicht auf Erwerbsarbeit angewiesen waren. Allerdings betont die Verf. die durchaus gewünschten, fließenden Übergänge zu bezahlter Arbeit, auf die Frauen aller Schichten letztlich jederzeit vorbereitet sein mussten. Tatsächlich waren z. B. unter den Pfadfinderinnen in England nicht wenige, die nach dem Ende der Schulzeit Geld verdienten, und angesichts der nunmehr erschwinglichen Freizeitvergnügungen das Interesse am disziplinierten Pfadfinderleben verloren. Zwischen am Gemeinwohl orientierter Hilfstätigkeit und Professionalisierungschancen sind auch Fertigkeiten auf dem Gebiet der Ersten Hilfe angesiedelt, einem weiteren Schwerpunkt der Pfadfinderinnenausbildung. Am Beispiel der Zeltlager, die als Orte des Naturerlebens und der Gemeinschaftsbildung den zentralen Erfahrungsraum der Pfadfinderinnen darstellten, erörtert die Verf., wie dort zeitgenössische Auseinandersetzungen um Religion, Gender und Nation von den Girl Guides reflektiert wurden. Den Mädchen wurden hier Fertigkeiten abverlangt, die sonst durchaus als »männlich« eingestuft wurden, und sie waren Risiken ausgesetzt, die im urbanen Alltag nicht vorkamen. Zudem wurde ihre christliche Prägung durch naturreligiöse Empfindungen herausgefordert und die Wahrnehmung von Naturschönheiten konnte den Stolz auf das eigene Land bekräftigen. Weiterhin ertüchtigten sie sich mit der Bewältigung technisch-praktischer Probleme über die üblichen Fertigkeiten hinaus. Diese zwischen Programmatik und tatsächlichem Erlebnis angesiedelten Erfahrungen waren von Baden-Powell ursprünglich für die von Verfall bedrohten Angehörigen der britischen »Herren-Rasse« konzipiert worden. Nun griffen jedoch auch– wie die Verf. betont – weibliche Angehörige der first nations (Inderinnen, australische Aboriginies usw.), diese Leitbilder in komplexen Vorgängen von Aneignung und Uminterpretation auf. Sichtbar wird dabei nicht zuletzt die universelle Adaptionsfähigkeit der Pfadfindermethode bzw. deren begrenzte Reichweite im Hinblick auf emanzipative Anliegen. In einem weiteren Schritt geht die Verf. auf die Präsentationsformen der Girl Guides bei Festumzügen, Bundesversammlungen usw. ein, wie sie in vielen Ländern dieser Jahre typisch waren, eben auch in England, Kanada und Indien. Dabei gingen traditionelle, die gegebene Ordnung stabilisierende Botschaften
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Hand in Hand mit neuen Erfahrungen, gerade im Fall der jungen Frauen. Ihnen bot sich etwa die Möglichkeit, mit ihren starken gesunden Körpern in der Öffentlichkeit auf die emanzipatorischen Errungenschaften der neuen Zeit aufmerksam zu machen. Bei diesen Aufmärschen versicherten sie sich der wechselseitigen Anerkennung mit den erwachsenen Angehörigen der Eliten, z. B. Bürgermeistern oder auch Angehörigen der Königsfamilie und den Baden-Powells, die den Raum bereitstellten und das Geschehen abnahmen. Die Verf. untersucht historische Festzüge in allen drei Ländern, aber auch das sportliche Training bzw. den quasi-militärischen Drill, die hinter diesen Massenveranstaltungen standen und als Übungsfeld für Selbstdisziplin, Unterordnung und Gehorsam galten. Das Marschieren in Formation erwies sich trotz der Herkunft aus der rein männlichen Sphäre des Militärs, was durchaus hinterfragt wurde, und dem damit einhergehenden Mangel an Spontaneität und Freiheit als beliebte, positiv erfahrene Neuerung für viele Mädchen. Dabei stellt die die Verf. dem offiziellen Bild durchaus die Realität von »order and disorder« – erkennbar auf manchen Fotografien – bei diesen Veranstaltungen entgegen. Hier wie auch in dem folgenden Kapitel geht es ihr um die Ambivalenzen bei vielen Praktiken, die den einzelnen Mitgliedern viel Spielraum ließen, ihre eigene Sicht auf das Geschehen zu entwickeln. Für das Ideal der weltumspannenden Schwesternschaft (»sisterhood«), das die internationale Ausrichtung der Pfadfinderinnen prägte, war die Vorstellung einer allgemeinen Gleichheit unabhängig von Rasse, Nation und Religion grundlegend, um die viele Bemühungen nach dem Ersten Weltkrieg kreisten. Bei internationalen Lagern mit Teilnehmerinnen aus vielen Nationen, erstmals am Sitz der Girl Guides in Foxlease (GB) 1924, intensivierten sich die oftmals schon vorher freundschaftlichen Verbindungen der Mädchen untereinander und überwanden damit Vorurteile, politische oder rassistische Abgrenzungen. Weil viele Angebote de facto nur eine ausgesprochen kleine, wohlhabende Minderheiten erreichten, verstärkte der Verband seine medialen Aktivitäten mit Zeitschriften, Magazinen und einem sehr erfolgreichen Programm, der Post Box zur Vermittlung von Brieffreundschaften. Eine echte politische Agenda war mit der Leitidee von sisterhood, etwa zur Unterstützung der antikolonialen Bewegungen in vielen Ländern, aber nicht verbunden. Auch eine Auseinandersetzung mit den Anliegen der indigenen Bevölkerung, etwa in Kanada, fand ausdrücklich nicht statt. Letztlich blieben der Verband und seine global dauerreisenden Repräsentanten, das Ehepaar Baden-Powell, einer rassistischen Doktrin verhaftet, derzufolge die Unterschiede zwischen unerzogenen (»untutored«) und wohlerzogenen (»educated«) Rassen bestehen bleiben müssten. Unter diesen Voraussetzungen konnte auch noch im Sommer 1939 ein zweiwöchiges internationales Camp in Ungarn abgehalten werden, bevor der Krieg dann alle in ihre nationalen Einbindungen zurückdrängte. Da gab es die deutschen Pfadfinderinnen längst
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nicht mehr: Mädchen dieser Altersgruppe waren, soweit sie die »rassischen«, ideologischen und gesundheitlichen Voraussetzungen mitbrachten, im BDM zwangsorganisiert. Wünschenswert wäre eine Anwendung der von Kristine Alexander an den anglophonen Beispielen England, Kanada und Indien entwickelten historiografischen Kriterien auf die Pfadfinderinnenverbände anderer Länder.
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Aline Maldener, Clemens Zimmermann: Let’ s historize it! Jugendmedien im 20. Jahrhundert, Köln: Böhlau Verlag 2018, 329 S., ISBN 978-3-412-50893-7, 35,– €
Nichts weniger als »die bislang überwiegend aktualistische Jugendmedienforschung zu historisieren« und so »erste Schneisen in ein bislang brachliegendes Gebiet der Medienforschung zu schlagen« (S. 11), setzt sich der hier vorgestellte Band zum Ziel.1 Dass dieses ambitionierte Unterfangen durchaus seine Berechtigung hat, verdeutlichen die Herausgeber*innen eindrücklich anhand eines konzisen Forschungsüberblicks über die Entwicklung der Jugendmedienforschung, in der – vereinzelte Schlaglichter ausgenommen – die historische Dimension jedoch eher gemieden wird. Möchte man ein »brachliegendes« (S. 11) Forschungsfeld vitalisieren, so ist eine Reflexion des Untersuchungsgegenstands an sich sowie seiner theoretischmethodischen Annäherung unabdingbar. Diesem Anspruch kommen die Herausgeber*innen einleitend auch nach, indem sie sich dem Begriff der Jugendmedien zunächst über eine Definition des Phänomens Jugend nähern: Jugend sei eine Kategorie, die vornehmlich – wenn auch epochenspezifisch variabel und soziokulturell bedingt – ein bestimmtes Lebensalter umfasst.2 Wenngleich dies nicht ganz falsch ist, wünscht man sich hier eine reflektiertere Herangehensweise. Denn Jugend ist keine Kategorie, sondern ein relationales Konstrukt, das allein über sein zentrales Charakteristikum der Liminalität zu verstehen ist.3 Ebenso eindimensional scheint der Definitionsversuch von Jugendmedien als Medien für oder von Jugendlichen mit verschiedenen Funktionen und Graden der Kommerzialisierung. Denn dass sich Jugendliche Medien – entgegen der Pro1 Der Band geht auf einen Workshop im Jahr 2016 am Lehrstuhl für Kultur- und Mediengeschichte an der Universität des Saarlandes zurück. 2 »Seit etwa 1960/70«, so die Herausgeber*innen in ihrer Einleitung, »würde man das Jugendalter auf zwölf oder 14 bis 25 Jahre ansetzen« (S. 12). 3 Vgl. Giovanni Levi, Jean-Claude Schmitt (Hg.): Geschichte der Jugend. Von der Antike bis zum Absolutismus, Bd. 1, Frankfurt a. M. 1995, S. 9ff.; Bodo Mrozek: Das Jahrhundert der Jugend?, in: Martin Sabrow, Peter Ulrich Weiß (Hg.): Das 20. Jahrhundert vermessen. Signaturen eines vergangenen Zeitalters (Lizenzausgabe für die Bundeszentrale für politische Bildung), Bonn 2017, S. 199–218, hier S. 200–203.
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duzentenintention – als »ihre« aneignen und die Definition mindestens noch um einen rezeptions- bzw. publikumsorientierten Ansatz zu erweitern ist, offenbart Andre Dechert in seinem sonst eher deskriptiven Beitrag. Letztlich bleiben die Herausgeber*innen eine griffige Definition von Jugendmedien schuldig und lassen dieses Problem als offene Frage stehen. Auch die Überlegungen zur theoretisch-methodischen Annäherung an den Untersuchungsgegenstand überzeugen nicht vollends. Neben der Orientierung an den drei »mediengeschichtlich gebräuchlichen Leitkategorien Produktion, Inhalt und Rezeption« (S. 15) soll bei der Analyse von Jugendmedien die »Figur des jungen, aktiv-eigeninitiativen ›Medienprosumenten‹« (S. 9) in den Fokus gesetzt werden. Das Aufgabengebiet einer historischen Jugendmedienforschung, so die Herausgeber*innen, liege darin, einen Blick auf die Innensicht Jugendlicher, auf die Aneignung von Medien sowie auf die produzierenden Institutionen zu richten. Des Weiteren gilt es, die Multimodalität, Materialität und Intermedialität von Medien zu berücksichtigen, das Konzept der Generation als analytische Kategorie einzubeziehen und darüber hinaus die »impliziten Kategorien von Jugendmedienforschung des 20. Jahrhunderts« (S. 20) zu reflektieren. Um einen zeitgemäßen methodischen Zugriff zu ermöglichen, fordern die Herausgeber*innen Fallstudien, die vor dem Hintergrund politischer, kultureller, ökonomischer und sozialer Entwicklungen zu kontextualisieren sind, sowie transnationale und komparative Ansätze. Dieses dargelegte Konglomerat aus diversen Aufgabenbereichen und methodischen Zugriffen evoziert beim Leser weniger das Bild eines systematischen Forschungsprogramms; vielmehr führt es zu einer Diffusion bezüglich dessen, was die historische Jugendmedienforschung wirklich leisten kann. Der Band ist in drei Teile gegliedert: Jugendmedien als (1) »Selbstermächtigungsorgane« (S. 24), (2) »Erziehungs- und Erbauungsinstrumente« (S. 25) sowie (3) »Vergemeinschaftungs-Agenten« (S. 27). Der erste Teil hält zwei sehr lesenswerte Beiträge bereit, die durch ihre methodisch klugen Zugriffe (vergleichende und transnationale Perspektive sowie stetige Kontextualisierung vor den sozialen, kulturellen wie politischen Transformationsprozessen der Zeit) neue Erkenntnisse zu Tage tragen. Im ersten betrachtet Stefan Rindlisbacher die eigenproduzierten Zeitschriften der deutschen und schweizerischen Wandervogelund Lebensreformbewegung (1904–1924) und legt schlüssig dar, dass diese für deren Mitglieder nicht nur Informations- und Identifikationsorgane waren, sondern auch als Diskursarenen der Auseinandersetzung über die Ziele der Bewegungen fungierten. Damit trugen sie zur Sichtbarmachung und Selbststilisierung der bürgerlichen Jugendbewegung bei, trieben aber auch gleichzeitig deren Ausdifferenzierung voran. Julia Gül Erdogan beleuchtet in ihrem Beitrag die Aneignung des Heimcomputers durch Hacker-Gruppen in West- und Ostdeutschland in den 1980er Jahren. Mit der kreativ-eigensinnigen Computer-
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nutzung (Programmierung, Hacking) konterkarierten die Computerfans die von den Entwicklern intendierten Anwendungszuschreibungen (Spielen, Lernen, Arbeiten) und griffen damit politische wie gesellschaftliche Strukturen an, was wiederum Gegenreaktionen seitens des Staates provozierte. Im zweiten Teil des Bandes sticht Friedericke Höhns Untersuchung heraus. Indem sie anhand katholischer und evangelischer Jugendzeitschriften das Meinungsbild konfessionell organisierter Jugendlicher zur westdeutschen Wehrdebatte der frühen 1950er Jahre beleuchtet und dieses mit der gesellschaftspolitischen Debatte um die Remilitarisierung abgleicht, kommt sie zu dem Ergebnis, dass sich über die Zeitschriften im Zirkel der Jugendlichen ein eigener thematisch belegter Diskurs herausbildete. Damit widerlegt Höhn zumindest für Teile des konfessionellen Milieus Helmut Schelskys Allgemeinformel einer politisch desinteressierten Jugendgeneration und verdeutlicht einmal mehr die gebotene Sensibilität bei der analytischen Verwendung des Konzepts der Generation. Die folgenden beiden Beiträge des zweiten Teils zur Entwicklung des Jugendfunks im öffentlich-rechtlichen Rundfunk der Bundesrepublik – Christoph Hilgert für die Jahre von 1945 bis in die frühen 1960er Jahre und Michael Kuhlmann für 1974 bis 1980 – fallen in ihrer Qualität deutlich ab. Auch wenn zumindest Hilgerts Beitrag die neue Erkenntnis der schrittweisen Anpassung der Wortprogramme an die jugendlichen Hörerwartungen bereithält, verbleiben beide Autoren in stark deskriptiven Untersuchungssphären und verfehlen eine tiefergehende Kontexteinbettung. Selbige Kritik lässt sich auch für die Beiträge von Michael G. Esch und Karl Siebengartner im dritten Teil konstatieren, denen darüber hinaus weitere Negativaspekte immanent sind: Esch, der die Sendung »Beat Club« als Quelle und Akteur in der Kanonisierung des Rock betrachtet,4 geht als Historiker und Zeitzeuge den nostalgisch anmutenden Weg einer Vergangenheitsdeutung auf Grundlage eigener Erinnerungen an die Sendung. Dadurch entfaltet sich in seiner Argumentation jedoch kein fruchtbarer methodischer Zugriff, sondern hinterlässt beim Leser vielmehr den Beigeschmack der Selbststilisierung. Dagegen ist Siebengartners Beitrag über Fanzines als Jugendmedien der Münchner Punkszene (1979–1982) durch exaltierte Deutungen geprägt.5 Dass es metho4 Zwar verfolgt Esch den interessanten Ansatz, neben der Produktion, Rezeption und Wirkung auch die musikalische Formsprache zu analysieren; allerdings betrachtet er die performative Ebene nicht vollumfänglich. Außerdem lassen sich Einzelbefunde im Abgleich mit neuerer Forschungsliteratur nicht halten. 5 Der vermutete, an den Quellen aber nicht nachgewiesene Bezug eines Fanzinebeitrags auf ein Zitat aus einem anderen Fanzine sowie die im Fernsehen einmalige performative Umsetzung des Ausspruchs durch den Fanzine-Herausgeber wird zu einer grundsätzlichen Intermedialität von Fanzines verallgemeinert; Konzertreisen aus der Stadt aufs Land und Reisen in die Schweiz werden zu Aneignungen translokaler bzw. transnationaler Räume hochstilisiert.
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disch besser geht, zeigt der Aufsatz von Nikolai Okunew, der verdeutlicht, dass ein Forschungsfeld von einer Perspektivverschiebung auf die Praktiken von Akteuren gehaltvoll profitieren kann. Denn in seinem Blick auf die von der DDRHeavy-Metal-Szene genutzten Medien und die damit in Zusammenhang stehenden Kulturpraktiken (Kassetten-, Schallplatten- und Printmedientausch, Eigenproduktion von Rundfunktiteln und Kassetten) zeichnet er ein dezidiertes Bild von der kollektiven Identität der Szene, die zwar von Anfang an stark auf westliche Magazine und Radiosender ausgerichtet war, aber dennoch mit der Auflösung der DDR implodierte. Wie die Besprechung der Einzelbeiträge offenbart, wird der Band den hochgesteckten Ansprüchen des Forschungsprogramms mit wenigen Ausnahmen nicht gerecht. Hinzu tritt ein temporales Loch im selbst gewählten Zeithorizont des 20. Jahrhunderts: Jugendmedien zur Zeit der Weimarer Republik sowie des Nationalsozialismus werden nicht beachtet. Diese Missstände schlagen sich auf die Gesamtkonzeption des Bandes dahingehend negativ nieder, dass er seinen Rezipienten weder »Umrisse« einer »Jugendmediengeschichte des 20. Jahrhunderts« (S. 24) präsentiert noch eine »Aneinanderreihung isolierter Fallstudien« (S. 23) vermeidet. Der Band offenbart ein ambitioniertes, dennoch aber eher unsicheres Hineintasten in ein weiterhin brachliegendes Forschungsfeld.
Jürgen Reulecke
Stiftung Hamburger Gedenkstätten und Lernorte zur Erinnerung an die Opfer der NS-Verbrechen – in Kooperation mit der Arbeitsgemeinschaft der KZ-Gedenkstätten in der Bundesrepublik Deutschland (Hg.): Zwischen Verfolgung und »Volksgemeinschaft«. Kindheit und Jugend im Nationalsozialismus (Beiträge zur Geschichte der nationalsozialistischen Verfolgung 1), Göttingen: Wallstein Verlag 2020, 147 S., ISBN 978-3-8353-3517-2, 18,– € Diese Veröffentlichung ist das erste Heft einer neugegründeten Zeitschriftenreihe, die in Zukunft zweimal im Jahr »Beiträge zur Geschichte der nationalsozialistischen Verfolgung« publizieren wird, wobei es vor allem um die Analyse der Bedeutung und Folgen der Konzentrationslagerzustände und deren gesellschaftsgeschichtlichen Wirkungen und Deutungen gehen soll. Das jetzt vorliegende erste Heft der Reihe enthält acht exemplarische Aufsätze zur lebensbestimmenden Situation von Kindern und Jugendlichen im NS-Staat, in denen es zum einen um die massive Ausgrenzung und Ermordung von Minderjährigen vor allem in Konzentrationslagern, zum anderen um Maßnahmen zu deren Integration in die »Volksgemeinschaft« des NS-Staates geht. Wie die Herausgeber der Reihe gehören auch die Verfasser der acht Beiträge fast alle zu den sog. »Kriegsenkeln«, geboren seit den 1950er Jahren. Nur eine Autorin ist ein »Kriegskind«, entsprechend geprägt durch eigene Kriegserfahrungen und die unmittelbare Nachkriegszeit. Die »Kriegsenkel«, also die Nachkommen der in der NS-Zeit aufgewachsenen Kriegskinder, sind es, bei denen seit einigen Jahren eine bemerkenswerte, auf die Prägungen ihrer Eltern und deren Auswirkungen auf das eigene Aufwachsen bezogene Neugier mit entsprechenden Folgen für die historische Erforschung und Interpretation entstanden ist. Die Verfasser der Aufsätze des vorliegenden Heftes gehören zu den Kriegsenkeln, die in den letzten Jahren bereits diverse umfangreiche Werke dazu publiziert haben. Ein bemerkenswerter Kernbegriff, den die Herausgeber der neu entstandenen Zeitschriftenreihe im Blick haben und in den folgenden Heften weiter intensiv umkreisen wollen, lautet daher »Rezeptionsgeschichte«: Dem nun vorliegenden ersten Heft mit dem Thema »Kindheit und Jugend im Nationalsozialismus« sollen weitere z. B. zu den »religionsgeschichtlichen Aspekten« nationalsozialistischer Verfolgung oder zur unmittelbar nach dem Kriegsende bestehenden psychischen Situation von im »Dritten Reich« Verfolgten hinzugefügt werden.
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Im einleitenden Aufsatz zum vorliegenden ersten Heft der »Beiträge« geht es Alfons Kenkmann (Jg. 1957) um die Bedingungen und Folgen des Aufwachsens von Kindern und Jugendlichen infolge der »Machtergreifung« der Nationalsozialisten und der Festlegung der »Hitlerjugend« als der rundum entscheidenden Staatsjugendorganisation. Die Folgen von deren »Verlockung und Zwang« werden von Kenkmann mit Blick auf den Verlauf von der Mitte der 1930er Jahre bis zum Kriegsende 1945 als massive »lebensweltliche Veränderungen« der gesamten jungen Generation dargestellt, die neben der Entstehung und Verfolgung einiger widerständiger »nicht konformen Jugendgruppen« wie z. B. der sogenannten »Edelweißpiraten« insbesondere zu radikalen Folgen für die Kinder und Jugendlichen aus, kommunistischen Familien einerseits und des jüdischen Bürgertums andererseits führten. Von den etwa eine Million zählenden jüdischen Kindern im Alter von bis zu vierzehn Jahren habe z. B. – so Kenkmann – bei Kriegsende nur noch ein halbes Prozent gelebt, nämlich 5.000. Die überlebenden, aber von der »Hybris der nationalsozialistischen Volksgemeinschaft« massiv betroffenen und seelisch angeschlagenen »Kriegskinder« hätten dann nach dem Krieg entweder ihre Traumata verdrängt oder keine Möglichkeit für deren Bewältigung gefunden. Nach dem zweiten Aufsatz des Heftes von Gisela MillerKipp (Jg. 1942), in dem die Verfasserin detailreich unter der Überschrift »Herrschaftsfunktion und politische Psychologie der Hitler-Jugend« die Mitgliederentwicklung und den Führungsaufbau von HJ und BDM (Bund deutscher Mädel) sowie eine Reihe von Beispielen für deren »Jugendpraxis« erläutert, die zu »Attraktion« versus »Aversion« geführt habe, folgen sechs weitere Aufsätze, die einzelne Detailbereiche des Handelns rings um die Erfahrungsfelder bzw. Handlungsorte der Heranwachsenden wie auch der in diesen Kontexten aktiven Frauen bzw. Mütter und Männer analysieren: Kathrin Kiefer (Jg. 1991) erläutert die sozialen Beziehungen von Geschwistern zwischen »Heimatfront« und Lageralltag, Diana Gring (Jg. 1969) das krasse Umgehen mit Schwangerschaften und Geburten am Beispiel des KZ Bergen-Belsen und Thomas Rahe (Jg. 1957) die Art und Weise, wie und womit in diesem KZ die dortigen Kinder miteinander gespielt und so »auf die Mangelsituation im Lager, auf Gewalt, Angst, Lebensgefahr und Massensterben« reagiert haben. Insa Eschebach (Jg. 1954) hat in ihrem darauf folgenden Aufsatz darüber berichtet, wie sich »Kinderhäftlinge«, die ihren Aufenthalt im Frauen-KZ Ravensbrück überlebt haben, in Erzählungen rückblickend an das Verhalten von »Lagermüttern« und (überwiegend polnischen) Lehrerinnen im Lager erinnerten, die sie dort trotz der krassen lebensbedrohenden Zustände zu beschützen und mit einer Grundbildung auszustatten versucht haben. Der nachfolgende siebte Beitrag des Heftes von Wiebke Hiemesch (Jg. 1985) liefert dann Informationen, unter welchen Bedingungen im KZ Ravensbrück in einem »Kinderblock« (Block 5) insgesamt etwa 2.000 Kinder, zumeist »minderjährige männliche Häftlinge« untergebracht waren und dort
Zwischen Verfolgung und »Volksgemeinschaft«
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intensiv die »Brutalität der Lagerrealität«, aber zum Teil auch »intragenerationale Solidaritätsstrukturen« kennengelernt haben, über die einige der wenigen Überlebenden anschließend berichtet haben. Die meisten dieser Kinder waren Juden oder haben zu den Sinti und Roma gehört, waren also sogenannte »Zigeunerkinder«. Der abschließende achte Beitrag, verfasst von Herbert Diercks (Jg. 1953), schlägt dann den Bogen zu den beiden einleitenden Aufsätzen des Heftes und liefert vor allem noch einmal – hier bezogen auf Hamburg – diverse Hinweise auf jugendliche Widerstandsbewegungen gegen die NS-Ideologie und deren repressiven Zwänge. Dabei geht es zum einen um die vielfältigen Aktivitäten einzelner Widerstandskreise, zum anderen um deren massive Verfolgung und Verurteilung durch die NS-Behörden (mit einer Reihe von Todesurteilen). Ausführlich liefert Diercks hier Informationen über jugendliche Widerstandsgruppen und auch einzelne Personen aus der Arbeiterbewegung, aus konfessionellen und jugendbewegt-bündisch geprägten Kreisen sowie aus der »Swing«Bewegung. Dass hier vom Verfasser des Aufsatzes Belege dafür geliefert werden, dass die Gesellschaft des NS-Staates keineswegs vollständig »nazifiziert« gewesen sei, wird von den Herausgebern und Redaktionsmitgliedern des vorliegenden Heftes ausdrücklich positiv bewertet: In den vergangenen Jahrzehnten sei nämlich diese Erkenntnis »sowohl im öffentlichen Bewusstsein als auch in der Forschung ein wenig in den Hintergrund gerückt«, obwohl dieses Thema »nicht zuletzt in Schulen und in den Gedenkstätten ein starkes handlungsorientierendes didaktisches Potential« besitze (S. 11). Herbert Diercks, der Verfasser dieses achten Aufsatzes, hat übrigens in diesem Sinn dem Heft noch eine längere Rezension hinzugefügt, in der er positiv und mit großem Dank eine 2020 in der »Landeszentrale für politische Bildung Hamburg« erschienene Publikation von Margot Löhr mit dem Titel »Die vergessenen Kinder von Zwangsarbeiterinnen in Hamburg – ermordet durch Vernachlässigung und Unterernährung« besprochen hat. Fazit: Das einleitend vorgestellte Ziel der neugegründeten Zeitschrift »Beiträge zur Geschichte der nationalsozialistischen Verfolgung« wird in diesem ersten Heft neben einem Vorwort und in einem einleuchtenden »Editorial« sowohl in den acht Aufsätzen mit ihren jeweils umfangreichen Anmerkungsapparaten und in der erwähnten Rezension exemplarisch und in recht einleuchtender Weise verfolgt. Die von den zurzeit dreizehn Redaktionsmitgliedern geplanten Weiterentwicklungspläne und ihre Hoffnungen auf ein reges Interesse an der neuen Zeitschrift aus Wissenschaft und Gesellschaft sind meines Erachtens einleuchtend – entsprechende Erfolge wären ausdrücklich zu begrüßen.
Justus Ulbricht
Thorsten Carstensen, Marcel Schmid (Hg.): Die Literatur der Lebensreform. Kulturkritik und Aufbruchsstimmung um 1900, Bielefeld: transcript Verlag 2016, 346 S., ISBN 978-3-8376-3334-4, 39,99 €
»Leben« war Kampfbegriff und Zauberwort der Jahrzehnte nach der Reichsgründung 1871 – und das nicht nur in Deutschland. Der französische Philosoph Henri Bergson lieferte mit seinem »elan vital« (etwa: Lebenskraft) ein wichtiges Stichwort. Der deutsche Wilhelm Dilthey fasste den Lebensprozess als Einheit von Erkennen, Vorstellen, Bewerten, Fühlen, Handeln und Wollen auf, setzte das »Erleben« ins Zentrum seines philosophischen Systems und wandte sich gegen eine einseitige Hochschätzung der Rationalität. In Jena dachte Rudolf Eucken über den »Sinn und Wert des Lebens« (Buchtitel 1908) nach und bestritt den Anspruch des Positivismus und der Naturwissenschaften, die einzig gültigen Welterklärungen der Moderne zu liefern. – Die recht unterschiedlichen Spielarten akademischer Lebensphilosophie wurden in popularisierter Form breit rezipiert, zumal zuvor Arthur Schopenhauer – vor allem aber die eklektizistische Rezeption Nietzsches – die Begriffe »Schönheit«, »Leben« »Vitalität«, »Intuition« und »Emotionalität« intellektuell aufgewertet hatten. Die radikale Veränderung aller Lebensbereiche sowie das Zerbrechen traditioneller Lebensformen bildeten den sozial- und mentalitätsgeschichtlichen Hintergrund für die zeitgenössischen Debatten um »das Leben«, »neue Lebensformen« und eine »Lebensreform«. Gerade im Bürgertum wurden die Erfahrungen mit und in der Moderne höchst kontrovers beurteilt, zumal diese sich als staats- und gesellschaftstragender »Mittelstand« verstehende Schicht selbst politisch, kulturell, sozial und lebensweltlich zu zerfallen, weniger dramatisch, sich zu differenzieren begann. Das Denken und Handeln der Lebensreformbewegung – darauf weist schon die Einleitung der Herausgeber klug und treffend hin – war dabei ebenso ambivalent wie die politische Mentalität und Praxis ihrer bürgerlichen Trägerschichten. Noch wichtiger aber ist die Einsicht, die in den Detailanalysen des Bandes bestätigt wird, dass unser Rückblick auf die Reformbewegungen der Jahrhundertwende zur Selbstbegegnung modernitätsskeptischer und -kritischer Geister in unserer angeblichen »Postmoderne« wird. Denn nicht wenige Denkfiguren und lebenspraktischen Konzepte der damaligen Reformer finden sich wieder im sog. »alternativen Milieu« unserer Gegenwart, im ökologischen Denken/Han-
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deln, in der Aufmerksamkeit für die sog. »Dritte Welt« (also der »einen Welt«, die wir teilen) ebenso wie in der Fülle reformpädagogischer Konzepte – sowie im konsumkritischen Kauf-, Ernährungs- und Alltagsverhalten zahlreicher unserer Zeitgenossen. Alle Forscher*innen, die sich seit den 1960er Jahren mit den Lebensreformbewegungen befasst haben, haben sich mit der Literatur und den Ego-Dokumenten, den Zeitschriften und »Events« der Lebensreform intensiv auseinandergesetzt. Doch dieser Band stößt weitgehend in eine erstaunliche Forschungslücke. Denn er untersucht detailliert und präzise in 15 Beiträgen die Beziehungen der Lebensreformer, ihrer Aktivitäten und Ideen zur zeitgenössischen Literaturlandschaft und verdeutlicht die Wechselwirkungen von Literatur und Leben in einer Präzision, die erfreut und neugierig macht. So wird der Lesende des »Einzug[s] eines neuen Körpergefühls in die Poesie um 1900« gewahr (Sven Halse), kann den »lebensreformerischen Diskurs« in der bekannten Kulturzeitschrift »Kunst- und Kulturwart« verfolgen. Man begegnet bekannteren Autoren wie Stefan George (Johann Thun), Gerhart Hauptmann (Peter Sprengel), Heimito von Doderer (Robert Walser-Jochum, Kirk Wetters), Hermann Hesse (Kathrin Geist) oder Rainer Maria Rilke (Erich Unglaub) und deren Beziehungen zur »Szene« der Reformer. Autoren wie Wilhelm Schwaner (Felix Saure), Heinrich Pudor (Kai Buchholz) und Wilhelm Speyer (Sophia Ebert) sind hingegen vermutlich heute nur noch Kennern der Materie bekannt. Wir sind eingeladen, durch die Lesehalle (und deren Bücherangebot) etwa der Naturheilanstalt Jungborn zu wandeln (Ekkehard W. Haring). Thomas Manns »Zauberberg«-Roman kennen Viele, doch wie genau dieser fiktionale Kunstort mit dem realen Erholungsrefugium Davos zusammenhängt wird erst bei der Lektüre hier deutlich (Marcel Schmid). In den Beiträgen werden nicht nur die literarischen Gewährsleute der Lebensreform, die oft kultisch verehrten Stichwortgeber des modernitätskritischen Denkens und Handels bzw. des utopischen Denkens der Reformer sichtbar, sondern auch der Niederschlag lebensreformerischer Praxis und deren Ideenwelt in der Literatur um und nach 1900. Die ausführlichen Anmerkungsapparate der Beiträge zeigen nicht nur, dass die einzelnen AutorInnen mit der bisherigen Forschung zur Lebensreform intim vertraut sind, sondern die Fußnoten weisen den Leser oder die Leserin oftmals auf Arbeiten hin, die das Interesse wecken, selbst weiter zu lesen an anderer Stelle. Bedauern muss man nur – was jedoch keine Kritik an den Herausgebern und den Autor*nnen ist – dass der Band recht spärlich bebildert ist. Doch, wie wir alle wissen, ist eine üppigere Illustration solcher Bände in der Regel ein schlichte Kostenfrage. So bleiben wir als Leser*innen meist auf die Bilder beschränkt, die die damaligen Zeitgenossen in ihren Herzen und Köpfen trugen, aus der Literatur empfingen oder an diese weitergaben. Wir teilen also die Träume von damals, sehen so manches – von den Beiträger*innen an die Hand genommen – klar oder
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kritisch und nehmen Teil an der Faszination für eine kulturelle Strömung, deren Visionen einer »besseren Gesellschaft«, eines »gesünderen Lebens« und eines nachhaltigen Umgangs mit der uns umgebenden Natur alles andere als »Schnee von gestern« sind – ideologische und politische Abgründe im Denken und Handeln einstiger »Reformapostel« inklusive. Und wer es bis jetzt noch nicht gemerkt hat, diese Rezension ist eine Lektüreempfehlung.
Susanne Rappe-Weber
Würzburger Beiträge zur Kestenberg-Forschung. Festgabe für Andreas Eschen zum 65. Geburtstag, hg. von Friedhelm Brusniak, Anna-Christine Rhode-Jüchtern und Theda Weber-Lucks (Würzburger Hefte zur Musikpädagogik 10), Weikersheim: Margraf-Publishers 2019, 168 S., ISBN 978-3-8236-1758-7, 48,– € Mit dem vorliegenden Band zieht die Internationale Leo-Kestenberg-Gesellschaft (ILKG) eine Bilanz ihrer rund 20-jährigen Tätigkeit, davon 15 Jahre formal als Verein, in dem die Herausgeber*innen, die meisten Verfasser*innen und der mit der Festschrift geehrte Andreas Eschen selbst Mitglieder sind. Seit dem Jahr 2000 wurden auf dessen Anregung hin vielfältige Aktivitäten zur Erforschung und zum Andenken an den Pianisten, Kulturpolitiker und Musikschaffenden Leo Kestenberg (1882–1962) unternommen. Zwar war Kestenberg auch zuvor kein Unbekannter. Er hatte selbst noch im Jahr 1961 seine Lebenserinnerungen herausgebracht1 und 1989 hat der Musikwissenschaftler Günther Batel eine wissenschaftliche Biografie über ihn vorgelegt.2 In Standardwerken zur Musikerziehung und -politik der Weimarer Republik fehlt sein Name nicht. Doch erst im Zuge der Erforschung der Karriere Kestenbergs außerhalb Deutschlands, von wo er 1933 fliehen musste, ist die ganze Bandbreite seines Schaffens und Einflusses deutlich geworden. Dafür dokumentierte die ILKG seine Tätigkeitsfelder in Berlin, Prag und Tel Aviv und sorgte für die Sicherung der entsprechenden Quellen.3 Erstmals wurden die Schriften Kestenbergs vollständig ediert.4 Sein Nachlass im Archiv der Universität Tel Aviv wurde gesichert, sodass für die neue Biografie von Wilfried Gruhn eine breitere Quellengrundlage zur Verfügung stand.5 Es folgten sieben internationale Konferenzen, bei denen es um den in-
1 Leo Kestenberg: Bewegte Zeiten. Musisch-musikantische Lebenserinnerungen, Wolfenbüttel u. a. 1961. 2 Günther Batel: Musikerziehung und Musikpflege. Leo Kestenberg. Pianist – Klavierpädagoge – Kulturorganisator. Reformer des Musikerziehungswesens, Wolfenbüttel u. a. 1989. 3 Susanne Fontaine, Ulrich Mahlert, Dietmar Schenk, Theda Weber-Lucks (Hg.): Leo Kestenberg. Musikpädagoge und Musikpolitiker in Berlin, Prag und Tel Aviv, Freiburg i. Br. u. a. 2008. 4 Leo Kestenberg: Gesammelte Schriften, Bde. 1–4, hg. von Wilfried Gruhn unter Mitarbeit von Ulrich Mahlert, Dietmar Schenk und Judith Cohen, Freiburg 2009–2013. 5 Wilfried Gruhn: »Wir müssen lernen, in Fesseln zu tanzen«. Leo Kestenbergs Leben zwischen Kunst und Kulturpolitik, Hofheim 2015.
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ternationalen Einfluss Kestenbergs auf die Musikerziehung ging, so 2016 u. a. in Tschechien, Frankreich und Kanada.6 Demgegenüber greifen die Beiträge des zu besprechenden Bandes Kestenbergs musikpädagogische Konzeption im Wesentlichen nur noch als Anregung für weiter gespannte Fragen auf. Den Auftakt bilden drei auf die ILKG selbst bezogene Beiträge. Ulrich Mahlert formuliert Wünsche an den Jubilar Andreas Eschen, der als stellvertretender Leiter im Jahr 2000 die Benennung der Musikschule Tempelhof-Schöneberg als »Leo Kestenberg Musikschule« erwirkt hat. Auf dem Wunschzettel steht u. a. gemeinsames Nachdenken, z. B. über Kestenbergs Auffassung: »Der musikalisch gebildete Musikdilettant ist das Ziel, nach dem die heutige Musikpädagogik strebt.« – Theda Weber-Lucks rekonstruiert die Stationen ihrer Spurensuche zu Leo Kestenberg, die sie startete, als der Wunsch »mehr zu erfahren« von der Namensgebung ausgelöst worden war. Hieraus entwickelte sich ein Institutionen- und Personen-Netzwerk, aus dem später die ILKG entstand, getragen von der Leo Kestenberg Musikschule und dem Archiv der Universität der Künste Berlin, namentlich Dietmar Schenk. Ein drittmittelgefördertes Forschungsprojekt ermöglichte Interviews mit Zeitzeug*innen u. a. in Israel, die Gestaltung eines Symposiums und einer Ausstellung. – Wilfried Gruhn fordert mit Blick auf die Zukunftsaufgaben der ILKG, es müsse gelingen, Kestenbergs bildungspolitischen Ansatz »kreativ weiterzuentwickeln«. Zwar sei etwa die Erschließung und Sicherung des in Tel Aviv lagernden Nachlasses noch nicht abgeschlossen, doch man sollte es nicht bei der historischen Rückschau belassen. Es müsse das gegenwärtige Verständnis des Musikunterrichts als »soziale Praxis« im Unterschied zur früher vorherrschenden Betonung von Inhalten und den damit verbundenen Werten in die Arbeit der ILKG einfließen. Jüngere Forschungen zur Musikpädagogik seien unbedingt einzubeziehen. Drei Texte nehmen sich dieser Herausforderung an. Christoph Richter diskutiert den Stellenwert der Kunst in der musikalischen Laienbildung. In Auseinandersetzung mit Hartmut Rosas Begriff der Unverfügbarkeit des Künstlerischen plädiert er dafür, dem »Unverfügbaren Zeit, Ruhe und Atmosphäre einzuräumen«, also als Lehrender – selbst im Anfangsunterricht – Voraussetzungen für das Spiel zwischen Können, Vorstellen und Experimentieren zu schaffen. – Helmke Jan Keden geht der gegenwärtig hohen Wertschätzung des gemeinschaftlichen Singens, auch im digitalen Raum, nach und deckt die teils überhöhten Erwartungen daran auf. Das reiche bis zur – falschen – Vorstellung, mit der Popularisierung dieser Praxis und der Ausdehnung in untere soziale Milieus ließe sich sozialer Aufstieg organisieren. Demgegenüber knüpften 6 Friedhelm Brusniak, Damien Sagrillo (Hg.): Vom Ersten Internationalen Kongress der Gesellschaft für Musikerziehung in Prag 1936 bis 2016 – Ein Beitrag zum Diskurs über »cultural heritage« (Würzburger Hefte zur Musikpädagogik 9), Weikersheim 2018.
Würzburger Beiträge zur Kestenberg-Forschung
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niedrigschwellige Singe-Events (Rudel-Singen, Straßen-Singen) an die »Offenen Singstunden« eines Fritz Jöde an und brächten den Wunsch nach authentischen Gemeinschaftserlebnissen zum Ausdruck. – Wie im Konzept der Community Music musikalische Fertigkeiten und Wissen über Musik erworben werden, ist das Thema von Damien Sagrillo. Als Beispiel wählt er die Praxis lokaler Blasorchester, an dem er anhand internationaler Literaturstellen aufzeigt, wie vielfältig die Auswirkungen des »Musizierens in Gemeinschaft« sind. Die Community Music-Blasorchester zeichnen sich durch einen hohen Anteil des »informellen Lernens« und eine überragende Bedeutung des Gemeinschaftsinteresses aus. Weitere vier Beiträge sind, ausgehend von der Biografie Kestenbergs, musikhistorisch ausgerichtet. Anne-Christine Rhode-Jüchtern fragt nach der Rezeption von Kestenbergs Reformen in der unmittelbaren Nachkriegszeit in Ostund Westdeutschland. Zunächst stellt sie vergleichend die Bedingungen für den Musikunterricht sowie die Lehrpläne dazu in der SBZ/DDR bzw. NordrheinWestfalen und Bayern nach 1949 vor. Während man in den allgemeinbildenden Schulen im Westen – anders als von Kestenberg gefordert – wieder traditionellen Singunterricht erteilte und die meisten NS-belasteten Lehrkräfte im Amt beließ, wurden in der DDR tatsächlich neue Wege mit ausdrücklichem Bezug auf die preußischen Reformen der Weimarer Republik beschritten. Die Analyse der Fach-Zeitschriften »Musik in der Schule« (SBZ/DDR) und »Musik im Unterricht« (BRD) zeigt das gleiche Bild. Zwar überlagerte später die Sowjetpädagogik die musikpädagogischen Ansätze, doch die konsequente Umsetzung der von Kestenberg, Schünemann und Loebenstein begründeten Reformen zu einer demokratischen Musikerziehung in Ost-Deutschland sollte stärker gewürdigt werden, so Rhode-Jüchtern. – Ruth Brusniak widmet sich zwei »Denk-Mälern«, den die Dichterin Else Lasker-Schüler und der Maler Oskar Kokoschka ihrem Freund Kestenberg noch zu seinen Lebzeiten gewidmet haben. Das bereits 1920 veröffentlichte Gedicht »Leo Kestenberg« fängt die Wirkung des Pianisten beim Musikvortrag auf das Kollektiv seiner Zuhörerschaft ein. Kokoschkas großformatiges Ölgemälde zeigt Kestenberg in dynamischer Pose mit Passion und Tatkraft, aber auch innerer Zerrissenheit und Selbstzweifeln. Beide Werke, die Kestenberg nachweislich schätzte, stehen für seine »Bewegten Zeiten« im Berlin der 1920er Jahre. – Als »Musikpädagogik der Vielfalt« fasst Friedhelm Brusniak Kestenbergs anregendes Wirken auf. Er habe sich selbst stets intensiv anregen lassen, im Hinblick auf seine Tätigkeit im preußischen Wissenschaftsministerium z. B. durch die Reichsschulkonferenz 1920 oder, in anderer Hinsicht, durch die Musikpädagogin Maria Leo (1873–1942). Unter seinen mit großer Ausdauer verfolgten Zielen habe die Bildung des gesamten Volkes durch und für die Kunst einen besonderen Stellenwert gehabt. Wie in der Ausbildung der entsprechenden Lehrkräfte die Anteile der Pädagogik im Verhältnis zum Künstlerischen ge-
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wichtet sein sollten, wurde unter Kestenberg wegweisend diskutiert und erprobt. Schließlich sei der Pluralität des Musiklebens Rechnung zu tragen, damit MusikErziehung gelingen könne, die v. a. der Freiheit diene. Andreas Eschen selbst ist ebenfalls mit einem Beitrag vertreten: Er deckt durch eine genaue Untersuchung der Rezeption von Theodor W. Adornos musiktheoretischen Schriften (1952–1954) auf, dass es sich bei dessen vermeintlich wirkungsmächtiger Verfemung des Singens um einen »modernen Mythos« handelt. Zentrale musikpädagogische Schriften der Folgejahre setzten sich zwar tatsächlich kritisch mit dem Begriff des Musischen auseinander und plädierten, unterschiedlich akzentuiert, für eine Abkehr vom extensiven Singen in der Schule. Adorno wurde dafür aber gar nicht herangezogen! Gleichzeitig sahen sich die Vertreter der Musischen Bildung für die Chöre der 1950er und 1960er Jahre vor starke Herausforderungen gestellt, fehlte es doch zunehmend an allgemein geteiltem Liedgut, während sich unter Jugendlichen »Schlager« immer mehr verbreiteten und zunehmend das »passive« Radiohören an die Stelle des Singens trat. Erst 1975 wurde publizistisch erstmals der Einfluss Adornos in diesem Zusammenhang beklagt. Den gesellschaftlichen Kontext musikpädagogischen Handelns in der Forschung stets zu beachten – mit dieser Forderung knüpft Eschen in gewisser Weise auch wieder an Kestenberg an. Insgesamt handelt es sich um einen anregenden, interdisziplinären Band mit originellen Beiträgen, der durch die Orientierung an Leo Kestenberg einen klaren gemeinsamen Bezugspunkt hat.
Günter C. Behrmann
Antje Harms: Von linksradikal bis deutschnational. Jugendbewegung zwischen Kaiserreich und Weimarer Republik, Frankfurt a. M. u. a.: Campus Verlag 2021, 580 S., ISBN 978-3-593-51292-1, 49,– €
Wenn es wie für vieles andere ein Ranking der Bücher zur Geschichte der Jugendbewegung gäbe, dann gebührte der in der Reihe »Geschichte und Geschlechter« des Campus Verlags erschienenen Studie von Antje Harms ein Spitzenplatz. So inhalts- und aspektreich wie in dieser bei Sylvia Palatschek in Freiburg geschriebenen Dissertation ist die seit Kindts Dokumentation zumeist als »Wandervogelphase« bezeichnete Phase der »Jugendbewegung zwischen Kaiserreich und Weimarer Republik« bislang in keiner anderen der dazu in stattlicher Zahl vorliegenden Publikationen behandelt worden. Die nahezu 600 Seiten sind in die drei Hauptkapitel »Politische Lager und Ideen in der bürgerlichen Jugendbewegung«, »Politische Sozialisation im wilhelminischen Kaiserreich, Erfahrungen des Umbruchs?« und »Jugendbewegte im Ersten Weltkrieg und in der Revolution 1918/19« gegliedert. Jedes dieser drei Kapitel ist thematisch in Unterkapitel aufgeteilt. Fazits zu den einzelnen Hauptkapiteln und ein sie abschließendes Endfazit summieren die wesentlichen Ergebnisse. Besonders beeindruckt hat mich neben der differenzierten inhaltlichen Strukturierung der Hauptkapitel die außerordentlich breite Fundierung durch archivische Quellen und Forschungsliteratur. Es dürfte schwer fallen, eine Quelle und Publikation zu finden, die in dem allein schon über 50 Seiten füllenden Verzeichnis nicht aufgeführt und in der Arbeit selbst nicht berücksichtigt wird. Methodisch schließt Harms bei der Wahl ihres Themas an die Forschungen der letzten Jahrzehnte an, die sich auf die heute zu den »jungen Erwachsenen« gezählte Altersgruppe konzentrieren. Die jungen Männer und Frauen in der »Jugendbewegung zwischen Kaiserreich und Weimarer Republik« haben mit wenigen Ausnahmen als Jungen und Mädchen Bünden des Wandervogels oder anderen Gemeinschaften der sich auf dem Meißnertag 1913 formierenden »Freideutschen Jugend« angehört. Wenn nicht schon mit der »mittleren Reife« hatte für sie jedoch mit dem Abitur eine neue Lebensphase begonnen. Blieben sie jugendbewegt, schlossen sie sich häufig Gemeinschaften Altersgleicher an, deren Mitglieder wie sie studierten oder sich beruflich bildeten. Sie traten damit aus
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einer Lebenswelt heraus, die bis dahin oft durch die Herkunftsfamilie, die Schule und das nachbarschaftliche Umfeld am Wohnort begrenzt war. Während die Abschnitte über die Jugendbünde des rechten und linken Lagers überwiegend anhand der zeitgenössischen Periodika entfaltet werden, nutzt Harms im Folgenden zusätzlich ein von ihr selbst erstelltes »Sample der Akteur*innen«. Da zu den jugendbewegten Vereinigungen kaum Mitgliederlisten vorhanden sind, hat sie aus einem breiten Quellenspektrum hundert Personen unter im Sinne der Fragestellung repräsentativen Kriterien ausgewählt und Angaben zu folgenden Aspekten ermittelt: Alter, Geschlecht, soziale Herkunft, Konfession, Familienstand, Bildungsgang und Beruf. Zusätzlich hat sie für die 70 Männer und 30 Frauen qualitative Daten zur individuellen Lebensgeschichte erhoben. Sie verfügt damit nicht zu jeder Person, aber zu einer jeweils nennenswerten Zahl über Daten zum politischen Engagement vor und nach 1914, zur Kriegs- und Revolutionserfahrung, Mitgliedschaft in Parteien sowie sozialen und politischen Netzwerken, dem Werdegang in der Weimarer Republik, der Einstellung zum und der Situation im Nationalsozialismus sowie zur politischen Vita nach 1945 (S. 195). Besonders hervorzuheben ist angesichts der Dominanz von Männern und Männerbünden in der Bewegung die systematische Einbeziehung der keineswegs randständigen Frauen. Obwohl bereits einige Studien zu lebenslangen Prägungen durch die Jugendbewegung vorliegen (Freideutscher Kreis, »jugendbewegt geprägt«), kann Harms schon mit ihren demographischen Daten das Wissen zu den sozialen Milieus der Jugendbewegten erweitern. Zwar ist hinlänglich bekannt, dass die meisten Jugendbewegten in kulturprotestantischen bildungsbürgerlichen Familien aufgewachsen sind. Umso mehr überrascht, dass die dem Bildungsbürgertum angehörenden Väter der Linken zumeist in freien Berufen, die der Rechten hingegen als Beamte im Staatsdienst tätig waren. Augenscheinlich hat dieser Unterschied die politische Sozialisation der Söhne und Töchter stärker beeinflusst als die gemeinsame Zugehörigkeit zur gehobenen Mittelschicht. Da die katholische Kirche die Bindung der Heranwachsenden an das kirchliche Leben auf vielfältige Weise zu wahren suchte, kann der geringe Anteil der Katholiken nicht verwundern (3 % der linken, 12 % der rechten Jugendbewegten). Protestantisch waren hingegen 85 % der Rechten und 52 % der Linken. Wo und wie, muss man sich daher fragen, ist die neben den Protestanten zweite fast gleich große Gruppen der Linken zu verorten? Nach den Daten von Harms, die allerdings auch getaufte Jüdinnen und Juden mit Bindungen an jüdische Vorfahren einbezieht, waren 42 % auf der Linken jüdisch (S. 202–206). Gegen diese Zurechnung lässt sich einiges einwenden. Sie wird gleichwohl signifikant, wenn man die jugendbewegten Rechten hinzunimmt. Denn unter ihnen gab es keinerlei jüdische Mitglieder.
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Was Antje Harms mit ihrem Datensatz in die Forschung eingebracht hat, zeigt sich vollends im zweiten und dritten Hauptkapitel: Hier werden im Wechsel zwischen Kollektiv- und Individualebene, quantitativen und qualitativen Daten soziale Differenzierungen sichtbar, die von den oft hoch aggregierten Umfragedaten heutiger repräsentativer Statistiken verdeckt werden. So diskutiert sie im Unterkapitel »Basisfaktoren der Sozialisation« ihre eigenen Forschungsergebnisse zu Elternhäusern, Familie und Schule im wilhelminischen Kaiserreich mit Blick auf »Geschlechternormen und sexuelle Konventionen«. Ansätze der Sozialisationsforschung hat sie hierbei ebenso im Auge wie national- und jugendgeschichtliche Befunde und jeweils vorliegende Studien zur Jugendbewegung (S. 208–290). Zudem stellt sie die immense Bedeutung von Krieg und Revolution (1914–1919) für die weiteren Lebenswege ihrer Protagonist*innen heraus und überprüft dafür auf empirischer Basis, ob Karl Mannheims Soziologie der Generationen so herangezogen werden kann, wie das in der Forschung zur Jugendbewegung zumeist geschehen ist. Damit wird der Blick frei für die in der Forschung bislang unterbelichtete Bedeutung der Elterngeneration im Prozess der Generationsbildung der jugendbewegten Söhne u n d Töchter in der wilhelminischen Gesellschaft: »Bürgerliche Jugendliche der 1890er Jahrgänge sind demnach in einer dynamischen Gesellschaft aufgewachsen, in der tradierte Ordnungen, Werte und Normen zunehmend fragwürdig wurden […] Dementsprechend verlief ihre Sozialisation in einem Spannungsfeld zwischen Aufbruch und Tradition.« Kultur- und Lebensreformbewegungen wie die Reformpädagogik und die Frauenbewegung trugen dazu bei, »dass sich die Denk- und Lebenswelten von Jugendlichen im späten Kaiserreich erweiterten« und die Lebensperspektiven auch in der Jugendbewegung selbst pluralisierten (S. 513). Die »individuelle wie kollektive Erfahrung der Diskrepanz zwischen den Normen der wilhelminischen Gesellschaft und dem über die Jugendbewegung erworbenen Freiraum und subkulturellen Lebensstil« ermöglichte, dass um 1913 ein lager- und geschlechterübergreifendes »Selbstverständnis als junge Generation« entstand, »das die Politisierung der Bewegung stark beförderte« und »in der Folge dann auch die politischen Deutungen des Ersten Weltkriegs« prägte (S. 515). Antje Harms folgt damit einem schon vor längerer Zeit von englischen Historikern angebahnten Perspektivenwechsel in der Periodisierung der deutschen Geschichte, wonach das wilhelminische Kaiserreich in mehrfacher Hinsicht schon der Moderne zuzurechnen ist. Davon zeugen die sich im ausgehenden 19. Jahrhundert sprunghaft vermehrenden Emanzipations- und Reformbewegungen, darunter die bürgerliche Jugendbewegung. Auf soziologisch/sozialgeschichtlicher Grundlage werden so neue Zugänge zur Geschichte der Jugendbewegung eröffnet. Es werden Zusammenhänge von fundamentalen gesellschaftlichen Wandlungen, Erziehung und Sozialisation im wilhelminischen
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Bürgertum, Vergemeinschaftung in altershomogenen freideutschen Gruppierungen männlicher und weiblicher junger Erwachsener, Politisierung und Generationsbildung sichtbar, die bislang in der Forschung nicht oder in fragwürdig erscheinender anderer Weise wahrgenommen wurden. Damit ist die seit ihren Anfängen überwiegend selbstreferentielle Geschichtsschreibung der Jugendbewegung an einem Wendepunkt angelangt. Noch lange wird die vom »Verband der Freunde der Universität Freiburg« mit dem »Monika-Glettner-Preis« ausgezeichnete Arbeit maßgebend bleiben.
Friederike Hövelmans
Hans-Werner Retterath (Hrsg.): »Deutsche Bursen« seit 1920. Studentische Wohnheime als Bildungseinrichtungen der »auslandsdeutschen Volkstumsarbeit« (Schriftenreihe des IVDE 22), Münster 2020, 234 S., ISBN 978-3-8309-4217-7, 29,90 € Der Sammelband greift ein Desiderat der Forschung zur auslandsdeutschen Bildungsarbeit während der Weimarer Republik auf, in dem die »Deutschen Bursen« als Bildungseinrichtungen, ihre gemeinsamen Intentionen wie auch die Heterogenität der verschiedenen Institutionen erstmals ausführlich thematisiert werden. Die historische Aufarbeitung des Auslandsdeutschtums findet seit geraumer Zeit statt, die Verknüpfung der bildungspolitischen Bestrebungen mit den reichsdeutschen Universitäten wurde allerdings bis jetzt noch nicht beleuchtet. Mit insgesamt acht thematischen Tiefenbohrungen bieten Retterath und seine Kolleg*innen einen institutionsgeschichtlichen Überblick über die Entwicklung und darüber, mit welchen Mitteln und Absichten auslandsdeutsche Studenten, in der Regel Männer, in den 1920er und 1930er Jahren im Deutschen Reich und speziell an dessen Universitäten aufgenommen wurden. Die Bursen stellen hierbei die thematische Klammer aller Beiträge dar: Sie waren die infrastrukturelle Basis für die Akquise potenzieller Studenten, um so zukünftige Multiplikatoren für auslandsdeutschen Regionen zu werben. Zu Beginn zeigt Retterath in seiner Einleitung eine chronologische Darstellung der Gründungsgeschichten wie auch die ideologisch heterogenen Ausrichtungen der verschiedenen Bursen auf, die sich um die Betreuung der Studenten aus den Grenzgebieten und dem Ausland bemühten. Die mittelalterliche Form der Burse als studentische Lern- und Lebensgemeinschaft mit engen Verbindungen an die jeweilige Universität hatte sich in der frühen Neuzeit gesellschaftlich überlebt. Nun wurde das Konzept für die gemeinsame Unterbringung auslandsdeutscher wie reichsdeutscher Studenten reaktiviert. Finanziert wurden diese Studentenwohnheime durch diverse Mischkalkulationen aus völkisch interessierten Stiftungen, aber auch kommunalen wie Reichsbehörden, Diözesen, der Caritas und den Universitäten selbst. Entsprechend vielfältig stellte sich die inhaltliche Schwerpunktsetzung der Einrichtungen dar, die sich im Spektrum zwischen dem Streben nach einer grenzüberwindenden völkischen Gemeinschaft bis hin zur Unterstützung des Völkerbund-Gedankens bewegte.
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Diese Diversität wird in den folgenden Aufsätzen deutlich, die ihren thematischen Schwerpunkt beispielhaft auf jeweils eine Burse setzen. Berthold Petzinna bearbeitet die Entwicklung eines »Akademischen Heims« für die Erziehung einer zukünftigen national-konservativen Elite und dessen Verbindung mit dem wissenschaftlichen Institut Max Hildebert Boehms in Berlin. Diese Verknüpfung sollte das gemeinsame Interesse an der Bildung einer »Volksgemeinschaft« institutionell fördern. Interessant ist die Verbindung Boehms zur bündischen Jugend über die Mitglieder des eigenen Instituts – so unterstützte sein Kolleg durch die mitgegründete Mittelstelle für Jugendgrenzlandarbeit ab 1925 den Versuch, das jugendbewegte Engagement zu erfassen und politisch zu steuern. Wolfgang Kessler zeichnet dann in seinem Artikel anhand exemplarischer Biografien die Aufnahme in die Marburger Burse, die älteste Institution ihrer Art, wie auch den weiteren Lebensweg der genannten Ehemaligen nach. Dafür listet er alle aus Polen und Rumänien stammenden Studenten und ihren Werdegang sehr detailreich nach Ursprungsregionen auf und zeigt ihre Rolle in der Volkstumsarbeit nach der Heimkehr. Begründet durch die lokale Aktionsebene als auch aufgrund der schwierigen Quellenlage bietet Kessler eine erste interessante Übersicht, die gerade bei den biografischen Lebenswegen noch weitere Ansatzpunkte zur Erforschung aufzeigt. In seinem Beitrag nähert sich Lionel Boissou den Bursen ebenfalls biografisch, indem er vier Lebensläufe ausführlich bearbeitet. Sowohl Herkunft als auch Zeitpunkt bilden hier zwei Gruppen – gemeinsam waren allen vier Separatisten ihre Unabhängigkeitsbestrebungen von der französischen Zentralregierung. Zwei Elsässer hielten sich 1930 gezielt für strategische Hilfestellungen in Marburg auf, die sie zurück in Frankreich verheimlichten. Zwei Bretonen verschlug es als Kollaborateure der deutschen Besatzung 1944 nur zufällig nach Marburg. Sie erlebten dort die letzte Phase der Burse als reine Unterkunft. In seinem Aufsatz über das Fahrtentum der Marburger Burse thematisiert Hans-Werner Retterath das Phänomen der Studienfahrten, die aus der Tradition der Jugendbewegung aufgegriffen wurden. Anhand dreier Reisen zwischen 1923–33 zeigt er die Vorgehensweise im »Volkstumskampf« und die Entwicklung von einer völkischen hin zu einer nationalsozialistischen Gesinnung auf. Retterath spricht von einer »Bursenideologie«, weil durch die Vorbereitungen der Fahrten, dem damit verbundenen Eliteanspruch für politische und berufliche Weiterentwicklungen bis hin zum gemeinsamen Ziel einer völkischen Indoktrination ein Zusammengehörigkeitsgefühl unter den Fahrtteilnehmern und Bursenbewohnern entstehen sollte. Diese Erfahrungsgemeinschaft ist bereits als jugendbewegtes Phänomen bekannt. Offensichtlich wurde es hier von den Studenten aufgegriffen und im eigenen Sinne genutzt. Cornelia Eisler beleuchtet mit ihrem Beitrag über die Stiftung »Deutsche Burse« in Münster eine andere Form der studentischen Burse und erweitert die Perspektive auf das ideologische
»Deutsche Bursen« seit 1920
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Spektrum dieser Einrichtungen: Die Münsteraner Burse stand in Konkurrenz zu der in Marburg, sowohl bei der Verteilung staatlicher Zuschüsse als auch aufgrund ihrer Attraktivität für die zu werbenden Studenten. Als katholische Einrichtung sah sie sich explizit nicht als völkisch, wohl aber als paternalistisch ausgerichtet. In diesem Kontext stellt Eisler die interessante These von der Infantilisierung der auslandsdeutschen Bevölkerung auf, die ebenfalls einen Eliteanspruch der Studenten in der eigenen Burse stützte. Trotz allem setzte die »Deutsche Burse« damit von 1928 bis 1935 einen Gegenpol zu der völkischnationalistischen Ausrichtung des überwiegenden Teils der Bursen. In den zwei abschließenden Artikeln beschäftigen sich Martin Göllnitz und Caroline E. Weber beide mit der Deutsch-Nordischen Burse Kiel. Göllnitz’ Beitrag zu ihrer Entstehungsgeschichte und der nationalsozialistischen Instrumentalisierung ab 1933 ergänzt Weber durch einen Ausblick, wie die inhaltliche Neuausrichtung der Stiftung in den 1950er Jahren das institutionelle Fortbestehen ermöglichte – nun zur Unterstützung des »deutsch-skandinavischen Wissenschaftsaustauschs«. Insgesamt bietet der Band über seine breit gefächerte Herangehensweise einen umfangreichen und interdisziplinären, ersten Eindruck zu dem Phänomen der – nicht nur für die auslandsdeutschen Studenten – interessanten »Deutschen Bursen« der Zwischenkriegszeit. Retterath spricht die ideengeschichtliche Verwandtschaft der Bursen mit der Jugendbewegung in ihrer Formensprache zwar an, nennt aber auch selbst eine konkretere Auseinandersetzung mit Liedgut, Kleidung und männerbündischem Gruppenverhalten als vertiefungswürdig. Aus Perspektive der Jugendbewegungsforschung zeigen sich dabei drei weitere Anknüpfungspunkte: Zum Einen sollte die Forschung zur Netzwerk-Geschichte ergänzt werden, gerade vor dem Hintergrund der allgemeinen gesellschaftspolitischen Relevanz des »wieder-entdeckten« Auslandsdeutschtums in der Weimarer Republik und dessen ideologischem Sendungsbewusstsein. Des Weiteren lässt sich die wissenschaftliche Anbindung der »Stiftung Deutsche Bursen«, ihrer Mitglieder sowie deren internen Verbindungen bisher nur bruchstückhaft zusammensetzen. Außerdem ist die Rekrutierung der auslandsdeutschen Studenten noch nicht nachzuvollziehen. Retterath formuliert hier selbst, »Zum ›Woher?‹ gehört auch das ›Wohin?‹« und bringt damit die Frage nach dem Nutzen und der Intention der Bursen auf den Punkt: Welche Studierenden konnten die Bursen nutzen und wie verlief deren weiterer biografischer Werdegang? Dies ist vor dem Hintergrund der Auswirkungen des Zweiten Weltkriegs, aber auch mit Blick auf die darauffolgend notwendige Neuorientierung und -strukturierung (Südost-)Europas interessant. Durch die Darstellung völkisch-nationaler Ideologien, deren Verbreitung und die Gewinnung der Jugend, hier ganz konkret einer akademischen Gesellschaftsschicht, erhofft sich Retterath, einen Beitrag zur Auseinandersetzung mit dem
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Friederike Hövelmans
aktuellen »Revival des Völkischen« leisten zu können. Das kann als gelungen bezeichnet werden.
Rückblicke
Susanne Rappe-Weber
Aus der Arbeit des Archivs. Tätigkeitsbericht für die Jahre 2019 und 2020
Weniger Großveranstaltungen und keine größeren Aktenübernahmen – im Rückblick stellt sich das Berichtsjahr 2019 von außen betrachtet relativ ruhig dar. In der Innenperspektive sorgten dagegen zwei größere gemeinsame Burgvorhaben für neue Herausforderungen: ein Audioguide für das Burggelände sowie eine gemeinsame Homepage für die unterschiedlichen Einrichtungen »des Ludwigstein«. Zudem wurde weiter an einem Museum der Jugendbewegung bzw. einer Archiverweiterung geplant sowie das Jubiläum zum 100-jährigen Bestehen der Jugendburg 2020 vorbereitet. Im Mai kam der Bewilligungsbescheid für das DFG-Projekt zur Jugendmusikbewegung, sodass die nötigen Vorbereitungen für das Bewerbungsverfahren und den Projektstart im Frühjahr 2020 getroffen werden konnten. Die Zusammenarbeit mit dem Bibliotheksverbund HEBIS hat sich eingespielt; alle Nachträge sind zwischenzeitlich eingearbeitet worden. Schenkungen aus Nachlässen stellen, neben den Neuerwerbungen, das Gros des Bibliothekszuwachses, z. B. aus dem Nachlass Busse-Wilson. Das AdJb ist darin mit mehr als 37.000 Einheiten vertreten. Das Berichtsjahr 2020 schloss noch bis Mitte März an die Planungen des Vorjahres an. Der Audioguide war fertig gestellt und stand seit dem Frühjahr in den Play Stores von Google und Apple zum Download zur Verfügung. Die neue Homepage, auf der die Ludwigsteiner Einrichtungen wieder unter einem Dach, aber gut voneinander unterschieden, auffindbar sind, war ebenfalls seit März »in Betrieb«. Zwei promovierte Musikwissenschaftlerinnen nahmen vor Ort die Arbeit auf. Seit März 2020 aber war die Entwicklung durch das Stichwort »Corona Pandemie« charakterisiert. Darunter fiel die zeitweilige Schließung des Lesesaals vom 16.03. bis 19. 04. 2020 ebenso wie die Umstellung der Arbeit auf Homeoffice für alle Fachkräfte sowie die Umsetzung der jeweils gültigen Hygieneverordnungen. Festzuhalten ist, dass der Betrieb des Archivs im Kontakt mit Jugendburg und Jugendbildungsstätte durchgehend aufrechterhalten wurde und dass Anfragen aller Art im üblichen Turnus bearbeitet wurden. Um wissenschaftliche Arbeiten zu unterstützen und Vorort-Besuche zu ersetzen, wurden vermehrt
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Susanne Rappe-Weber
digitale Kopien angefertigt und verschickt. Beschäftigt blieben in Präsenz neben der Archivleitung die Bundesfreiwillige, zwei Praktikant*innen und zwei Werkvertragsnehmer. Nach der Wiedereröffnung wurden in Zusammenarbeit mit der teilgeschlossenen Herberge wieder Aufenthalte von Nutzer*innen ermöglicht. Ausgefallen sind aber viele Aktivitäten, die sonst den Jahreslauf im Archiv prägen: der Workshop Jugendbewegungsforschung, universitäre Seminare und Exkursionsgruppen, Tage der offenen Tür, Besuchergruppen aller Art, ausländische Gastwissenschaftler*innen und schließlich die Archivtagung sowie die Herausgabe des Jahrbuchs. Diese Aktivitäten in ihrer Vielfalt und Breite im nächsten Jahr wiederzubeleben, wird mutmaßlich eine größere Herausforderung darstellen.
Archivstatistik 2019 und 2020 Auskünfte Benutzer
2014 203 114
2015 284 131
2016 294 122
2017 269 63
2018 289 103
2019 261 60
2020 214 42
Benutzertage Besucher
163 480
249 1045
281 1283
177 1346
217 933
230 554
188 100
Besuchergruppen Seminargruppen
15 8
16 8
25 11
29 11
17 16
19 6
4 2
Seminarteilnehmer Scanaufträge
147 417
125 627
210 1088
174 868
181 2487
105 3001
20 5460
Personal Bei den Stellen der Archivleiterin Dr. S. Rappe-Weber, der Archivarin E. Hack und der B.A./ FAMI B. Richter gab es keine wesentlichen Veränderungen. Als Bundesfreiwillige haben Leonie Durotin aus dem Werra-Meißner-Kreis und Isabella Stutrucker aus Wolfsburg das Archiv unterstützt. Die langjährigen Werkvertragsnehmerinnen Frauke Schneemann M.A. und Sandra Funck M.A. aus Göttingen haben 2019 ihre Tätigkeit zugunsten der Arbeit an ihren Dissertationen unterbrochen bzw. abgeschlossen. Im März 2020 haben Dr. Amrei Flechsig aus Hannover und Dr. Ute Brüdermann aus Bückeburg mit je 50 %Stelle ihre Tätigkeit im Rahmen des DFG-Projektes zur Jugendmusikbewegung für die Dauer von zwei Jahren aufgenommen.
Aus der Arbeit des Archivs. Tätigkeitsbericht für die Jahre 2019 und 2020
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Ehrenamt, Praktikum, Werkvertrag – Ehrenamtlich: Johan P. Moyzes und Lutz Kettenring (Pfadfindergeschichte) – Ehrenamtlich: Sandra Funck und Michael Kubacki (Workshop Jugendbewegungsforschung) – Werkvertrag Sandra Funck, Göttingen: Erschließung des Aktenbestandes »Stiftung Demokratische Jugend« (01.01.–31. 03. 2019) – Werkvertrag Elisabeth Hensgen, Witzenhausen: Aufbereitung des Aktenbestandes »Stiftung Demokratische Jugend« (01.02.–30. 06. 2019) – Werkvertrag Florian Deppert, Göttingen: Erschließung von BdP-Beständen (18.03.–31. 08. 2019) – Werkvertrag Felix Ruppert, Marburg: Erschließung des Nachlasses Ulrich Linse (N 139) (15.09.–31. 12. 2019) – Werkvertrag Alexandra Heimberger Ramirez, Marburg: Konzeption und Gestaltung der Ausstellungsvitrinen (15.–31. 10. 2019) – Werkvertrag David Beck, Leipzig: Unterstützung der Archivtagung (25.–27. 10. 2019) – Werkvertrag Florian Deppert, Göttingen: Dublettenermittlung Jugendmusikbewegung (01.05.–31. 07. 2020) – Werkvertrag Felix Ruppert, Marburg: Erschließung von djo-Akten (08.10.– 31. 12. 2020) – Werkvertrag Anne Hildebrand, Göttingen: Erschließung von Tonträgern der Jugendmusikbewegung (01.11.–31. 12. 2020) – Praktikum Oskar Przybytek, Freiburg: Erschließung mehrerer Nachlässe (25.02.–29. 03. 2019) – Praktikum Debora Herold, Gießen: Erschließung des Aktenbestandes »Vogelhof«, A 221 (18.03.–12. 04. 2019) – Praktikum Svenja Tudziers, Marburg: Erschließung des Nachlasses Erich Meier, N 232 (08.04.–03. 05. 2019) – Praktikum Inken Zibat, Göttingen: Ordnung und Erschließung von Pfadfinderunterlagen (14.–25. 10. 2019) – Praktikum Lukas Gutsfeld, Bielefeld: Katalogisierung von Musikalien (04.– 20. 02. 2020) – Praktikum Florian Grenner, Marburg: Erschließung des Nachlasses von Gustav Nagel (03.–31. 08. 2020) – Praktikum Anne Hildebrand, Göttingen: Erschließung von Materialsammlungen (31.08.–30. 09. 2020) – Praktikum Paula Behrendts, Kassel: Erschließung Nachlass Hermann Kanow (01.11–31. 12. 2020) – Aushilfe Michael Kilfitt, Eschwege: Umbettung von Akten in Archivkartons (17.02.–28. 05. 2020)
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Susanne Rappe-Weber
– Aushilfe Igor Engelhardt, Kassel: Digitalisierung von Objekten (09.11.–31. 12. 2020)
Erschließung E. Hack hat 2019 die Erschließung des Nachlasses von Elisabeth Busse-Wilson (N 7) abgeschlossen und sich danach dem Nachlass Walter Fränzel (N 230) zugewendet. Außerdem hat sie die Erschließung der Nachlässe Karl Wilhelm Diefenbach und Gustav Nagel vertieft bzw. verbessert. In Kooperation mit dem AdJb wurden umfangreiche Nachträge des BdP-Archivs in die Datenbank eingetragen. B. Richter hat schwerpunktmäßig Unterlagen des Mindener Kreises, darunter die Foto-Sammlung, in Arcinsys eingearbeitet. Innerhalb des DFG-Projektes »Vernetzte Quellen zur deutschen Musikkultur. Die Jugendmusikbewegung« hat U. Brüdermann damit begonnen, die Überlieferung aus dem von Fritz Jöde gegründeten Archiv zu erschließen (A 228), während sich A. Flechsig der Erschließung der Vielzahl von Nachlässen von Musikschaffenden annimmt.
Zugänge Bereits seit einigen Jahren zeichnete sich ab, dass die Kapazitäten der Magazine in den Räumen der Burg ausgeschöpft sind und keine weiteren Aufnahmen zulassen. Um auch weiterhin wertvolles Archivgut aufnehmen zu können, hat das Hessische Staatsarchiv zur Entlastung vorübergehend Magazinkapazitäten in der Außenstelle Neustadt zur Verfügung gestellt. Derzeit wenig genutzte Bestände in einem Umfang von 100 lfm konnten inzwischen dorthin ausgelagert werden; weitere folgen. Größere Übernahmen hat es 2019 nicht gegeben, wohl aber eine Reihe kleinerer Zugänge. So gelangte Anfang des Jahres der Nachlass von Therese Mühlhause-Vogeler (1893–1984), geboren in Berlin, Mitglied verschiedener jugendbewegter und lebensreformerischer Bünde, Pädagogin und Schriftstellerin, in einem Umfang von acht Archivkartons über deren Schwiegertochter ins Archiv. Weiterhin übernommen wurde der Aktenbestand der Akademischen Vereinigung »Sodalitas Philippina« aus Marburg (AdJb, A 198, 5 Archivkartons), die sich 1947 gegründet und dabei in die Tradition der Akademischen Vereinigung Marburg (1912–1933, AdJb A 102) gestellt hatte. Prof. Dr. Ulrich Linse (München) ergänzte seinen Vorlass noch einmal auf nunmehr insgesamt 99 Archivkartons; als besonders nachgefragt erweisen sich die Quellensammlungen zu Projekten der Lebensreform, die er als Forschungspionier selbst angelegt hat. 2020 gelang der Ankauf einer Sammlung mit Originalen und Kopien zum Leben und Wirken des lebensreformerischen Propheten Gustav Nagel (1874–
Aus der Arbeit des Archivs. Tätigkeitsbericht für die Jahre 2019 und 2020
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1952), die von einem Liebhaber an dessen langjährigem Wohnort, zugleich Sitz eines freireligiös gestalteten Freigeländes, in Salzwedel (Altmark) zusammen gestellt worden war (N 263, 13 Archivkartons). Außerdem wurde eine größere Sammlung »Kinder- und Jugendzeitschriften« des Instituts für Jugendbuchforschung von der Universität Frankfurt a. M. übernommen (30 Umzugskartons).
Ausstellungen Anlässlich der Archivtagung 2019 wurde die neue Jahresausstellung unter dem Titel »Gelebte Utopien. Siedlungen der Lebensrefom« eröffnet, die von Studierenden des Fachs Europäische Ethnologie / Volkskunde an der Universität Würzburg unter Leitung des Dozenten Felix Linzner erarbeitet worden ist. Auf 13 Postern, ergänzt um zahlreiche Originalobjekte in Vitrinen, setzen sich die angehenden Wissenschaftler:innen mit Siedlungsprojekten in Deutschland im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts kritisch auseinander. – Im Kontext mit dem Tagungsthema 2019 »Jugend im Kalten Krieg« werden in zwei Vitrinen Exponate gezeigt, die charakteristisch für jugendliche Selbstorganisation, aber auch Inanspruchnahme in dieser Zeit sind, so etwa das »Friedenslicht«, das der Hessische Jugendring 1954 für den Gedenkraum der Burg gestiftet hat, ein geschnitztes Holzschild, um auf die Lage des geteilten Deutschlands aufmerksam zu machen.
Beteiligung an fremden Ausstellungen – Wanderland. Eine Reise durch die Geschichte des Wanderns (Germanisches Nationalmuseum Nürnberg, 29. 11. 2018–28. 04. 2019) – Mythos Neue Frau (LVR-Industriemuseum, Oberhausen, 15. 02. 2018–31. 01. 2020) – Vertrauensfragen. Der Anfang der Demokratie im Südwesten 1918–1924 (Haus der Geschichte Baden-Württemberg, Stuttgart, 30. 09. 2018–11. 08. 2019) – »Like you! Freundschaft analog und digital« (Museum für Kommunikation, Frankfurt, Berlin 25. 10. 2018–August 2020) – Sachsen und Böhmen. Liebe, Leid und Luftschlösser (Staatliches Museum für Archäologie, Chemnitz, 27. 09. 2018–15. 04. 2019) – 1918 – Zwischen Niedergang und Neubeginn (Hessisches Landesmuseum, Kassel, 10. 11. 2018–28. 04. 2019) – August Halm (1869–1929). Zum 150. Geburtstag des Komponisten, Musikpädagogen und Malers aus Großaltdorf (Hällisch-Fränkisches Museum in Schwäbisch Hall, 28.07.–06. 10. 2019)
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Susanne Rappe-Weber
– Licht, Luft, Scheiße. Perspektiven auf Ökologie und Moderne (neue Gesellschaft für bildende Kunst e.V., Berlin, 01.07.–08. 11. 2019) – Stadt – Jugend – Stil. Lebensreform in Wiesbaden (Stiftung Stadtmuseum Wiesbaden, 22. 10. 2019–31. 03. 2020) – Future Food. Essen für die Welt von morgen (Deutsches Hygiene Museum Dresden, 20. 03. 2020–21. 02. 2021) – Mythos Neue Frau (LWL-Industriemuseum, Textilwerk Bocholt, 20.03.–25. 10. 2020)
Archivführungen, Seminare, Präsentationen 2019 gab es noch einmal zahlreiche Treffen von Ehemaligengruppen der Jugendbewegung, Älteren- und Klassentreffen sowie im Einzelnen: Geschichtswerkstatt des Rings junger Bünde mit 11 Pers. (Stephan Sommerfeld, 15.–17.02.), Hohensolmser Freundeskreis mit 10 Pers. (Stefan Buch, 15.03.), Beräunertreffen mit 25 Pers. (23.03.), Geburtstagsgruppe mit 16 Pers. (11.04.), Familienwoche der VJL mit 10 Pers. (13.04.), Ostara mit 52 Pers. (Stephan Sommerfeld, 04.05.), Workshop Jugendbewegungsforschung mit 20 Pers. (11.05.), Erziehungswissenschaftliches Seminar der Universität Braunschweig mit 20 Teiln. (Dr. Elija Horn, 13.–15.06.), Drei-Ecken-Kreis mit 25 Pers. (Stephan Sommerfeld, 29.06.), Feuerwehr Witzenhausen mit 10 Pers. (15.07.), Turnerbund Oldenburg mit 13 Pers. (26.08.), Tag des offenen Denkmals mit 12 Pers. (08.09.), Zentrale Kustodie der Universität Göttingen mit 20 Pers. (16.10.), Historisches Seminar der Universität Jena mit 12 Pers. (Prof. Dr. Carola Dietze, 29.10.). – 2020 fielen Besuche und Aktivitäten dieser Art fast vollständig aus. Im März fand noch die gemeinsame Veranstaltung des »Tag der Archive« mit dem Arbeitskreis »Archive in Nordhessen« in der Markthalle in Kassel als Präsenzveranstaltung statt (07.03.). Im September wurde anlässlich einer Artikelserie in der Tagespresse über »100 Jahre Jugendburg« zu einem Lesergespräch mit 10 Pers. über »Geschichte, Haltung und Konfliktmanagement« eingeladen (19.09.).
Tagungen Eigene Veranstaltungen – Workshop Jugendbewegungsforschung (10.–12. 05. 2019, 20 TN) – Archivtagung »Jugend im Kalten Krieg« (25.–27. 10. 2019, ca. 80 Besucher*innen)
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In Kooperation – »Wie weiter nach dem Missbrauch?« Arbeitstagung zu sexualisierter Gewalt in der Jugendbewegung (08.–10. 11. 2019), Jugendbildungsstätte Ludwigstein – Jugend bewegt Literatur. Lisa Tetzner, Kurt Kläber und die Literatur der Jugendbewegung. Auftakttagung der Lisa Tetzner und Kurt Kläber-Gesellschaft (Prof. Dr. Julia Benner, 08.–10. 11. 2019)
Veröffentlichungen und Vorträge Detlef Siegfried, David Templin (Hg.): Lebensreform um 1900 und Alternativmilieu um 1980. Kontinuitäten und Brüche in Milieus der gesellschaftlichen Selbstreflexion im frühen und späten 20. Jahrhundert (Jugendbewegung und Jugendkulturen. Jahrbuch 15|2019), Göttingen 2019, 429 S. Jahrbuch des Archivs der deutschen Jugendbewegung – Digitale Neuausgabe der vergriffenen Bände (1969–1973) über die Universitätsbibliothek Marburg (http://archiv.ub.uni-marburg.de/es/2018/0015) Susanne Rappe-Weber – Historisierung einer Jugendbewegung – Wissenschaft und Archiv im Dialog. Ein Konferenzbericht aus London, in: Archivnachrichten aus Hessen 19/1, 2019, S. 68–70 – Der Kohlrabi-Apostel. Eine Karikatur auf den Vegetarier Karl Wilhelm Diefenbach, in: Archivnachrichten aus Hessen 20/1, 2020 , S. 17–19 – Zusammen mit Jörg Möller: Lexikonartikel »Eberhard »tusk« Koebel (1907– 1955)« im Stadtlexikon Stuttgart Online, in: Stadtarchiv Stuttgart, URL: https://www.stadtlexikon-stuttgart.de/article/58d2bf91-b904-49f 7-adc9-7327 83c0a9da/1/Eberhard_%22tusk%22_Koebel.html – Die Pfadfinder-Methode für die Arbeiterklasse. Neues zum »Woodcraft Folk« und den Vorläufern in Großbritannien, in: Ludwigsteiner Blätter Nr. 281, S. 27–30 – Der Nachlass Gustav Wyneken im AdJb – Von der Verpflichtung zur historischen Aufarbeitung, in: Ludwigsteiner Blätter Nr. 282, S. 38–41 – Liedgut der NS-Zeit? Erfahrungen im Umgang mit dem musikalischen Erbe der 1950er Jahre, in: Ludwigsteiner Blätter Nr. 285, S. 36–37 – »Unser Lager ist verboten | von Schirach, dem Vollidioten!« – Wiederentdeckt: »Erinnerungen an die Freischar junger Nation« von Ilse Klempau, in: Ludwigsteiner Blätter Nr. 286, S. 45–48
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Susanne Rappe-Weber
– Das Gustav-Wyneken-Archiv im Archiv der deutschen Jugendbewegung, Vortrag auf der Tagung »Archive und Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs« im Hessischen Staatsarchiv Darmstadt (27. 03. 2019) – Hat das Archiv eine Zukunft im Jugendverband?, Vortrag bei der ArchivFachtagung »Pfadfindergeschichte: Archivieren oder vergessen?« aus Anlass des 90-jährigen Bestehens der Deutschen Pfadfinderschaft St. Georg in Altenberg (01.–02. 11. 2019) – Pfadfindergeschichte und Kolonialismus – zwei Seiten einer Medaille? Ein Rundgang durch das AdJb (Video auf Youtube vom März 2020; https:// www.youtube.com/watch?v=UlAkUvZ0eNo&t=2 s) Elke Hack Neues zum »Lichtgebet«. Quellen zur Provenienz eines Gemäldes im Archiv der deutschen Jugendbewegung, in: Archivnachrichten aus Hessen 19/2, 2019, S. 44–49
Im Archiv eingegangene Bücher der Erscheinungsjahre 2019 und 2020 sowie Nachträge
1.
Kristine Alexander: Guiding modern girls. Girlhood, empire, and internationalism in the 1920s and 1930s, Vancouver: UBCPress 2018 2. Sabine Andresen, Johannes Kistenich-Zerfaß (Hg.): Archive und Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs. Beiträge zu einer Tagung der Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs und des Hessischen Landesarchivs, Darmstadt: Hessische Historische Kommission 2020 3. Evelyn Annuß: Volksschule des Theaters. Nationalsozialistische Massenspiele, Paderborn: Wilhelm Fink 2019 4. Claus Bacher, Hartmut Schiller, Karoline Seifert (Hg.): 100 Jahre Klappholttal auf Sylt 1919–2019. Natur und Bildung in der Akademie am Meer, Husum: Husum Druck- und Verlag 2019 5. Klaus Barbara, Jürgen Feldhoff (Hg.): Politische Autonomie und Beiträge zum Lebenswerk von Arno Klönne, Köln: PapyRossa 2017 6. Sandra Bartoli u. a. (Hg.): Licht Luft Scheiße. Perspektiven auf Ökologie und Moderne, Hamburg: Adocs 2020 7. Heinrich Becker: Die Gruppe Heisenberg. Beitrag zur Geschichte der Jugendbewegung und der Pfadfinder sowie zur Biografie Werner Heisenbergs, Köln: Buch- und Offsetdruckerei Häuser 2019 8. Günter C. Behrmann, Eberhard Schürmann, Helmut Willems (Hg.): Der Felsengärtner. Freundesgabe für Roland Eckert, Baunach: Spurbuchverlag 2017 9. Jakob Benecke: Außerschulische Jugendorganisationen. Eine sozialisationstheoretische und bildungstheoretische Analyse, Weinheim: Beltz Juventa 2020 10. Udo Bermbach: Richard Wagners Weg zur Lebensreform. Zur Wirkungsgeschichte Bayreuths, Würzburg: Königshausen & Neumann 2018 11. Jens Brachmann: Tatort Odenwaldschule: Das Tätersystem und die diskursive Praxis der Aufarbeitung von Vorkommnissen sexualisierter Gewalt, Bad Heilbrunn: Verlag Julius Klinkhardt 2019
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Im Archiv eingegangene Bücher der Erscheinungsjahre 2019/2020 sowie Nachträge
12. Karl Braun, Christian Brenner, Tomás Kasper (Hg.): Jugend in der Tschechoslowakei. Konzepte und Lebenswelten (1918–1989), Göttingen u. a.: Vandenhoeck & Ruprecht 2016 13. Wilfried Breyvogel, Helmut Bremer (Hg.): Die Pfadfinderinnen in der deutschen Jugendkultur. Von der Gründung über die Eingliederung in den BDM zur Koedukation und Genderdebatte, Wiesbaden: Springer VS 2020 14. Micha Brumlik: Preußisch, konservativ, jüdisch. Hans-Joachim Schoeps’ Leben und Werk, Köln: Böhlau 2019 15. Friedhelm Brusniak, Anna-Christine Rhode-Jüchtern, Theda Weber-Lucks (Hg.): Würzburger Beiträge zur Kestenberg-Forschung, Weikersheim: Margraf Publishers 2019 16. Rahel Bühler (Hg.): Jugend beobachten. Debatten in Öffentlichkeit, Politik und Wissenschaft in der Schweiz, 1945–1979, Zürich : Chronos 2019 17. Peter Dudek: »Körpermissbrauch und Seelenschändung«. Der Prozess gegen den Reformpädagogen Gustav Wyneken 1921, Bad Heilbrunn: Klinkhardt 2020 18. Caroline-Sophie Ebeling: Unter Spannung. Regensburg in den 1920er Jahren, Ausstellungskatalog, Regensburg 2020 19. Roland Eckert, Fritz Schmidt (Hg.): Die Fahrt als Verwandlung. Aufbrüche in das ganz Andere, Spurbuchverlag 2020 20. Andreas Eschen (Hg.): Leo Kestenberg. Einheit von künstlerischer und sozialer Verantwortung – ein Vision? Jednosc odpowiedzialnosci artystycznej i spolecznejwizja? (Ausstellungskatalog der Leo Kestenberg Musikschule), Berlin 2014 21. Ina Ewers-Schultz, Magdalena Holzhey (Hg.): Auf Freiheit zugeschnitten. Das Künstlerkleid um 1900 in Mode, Kunst und Gesellschaft (Ausstellungskatalog Kunstmuseen Krefeld), München: Hirmer 2019 22. Dieter Fauth: Die Freie Akademie in Beziehung zum Nationalsozialismus, Zell: Religion & Kultur 2020 23. Gunther Franz: Bibliographie Günther Franz und Findbuch zum Bestand N6/14, Trier: Archiv der Universität Hohenheim 2020 24. Nicole Fritz, Petra Lewey, Annika Weise (Hg.): Tanz! Max Pechstein. Bühne, Parkett, Manege, München: Klinkhardt & Biermann 2019 25. Torsten Fuchs, Undine Wagner, Michael Zock: Der mit den Bäumen sprach – Walther Hensel: Singmeister und Linguist zwischen Tradition und Erneuerung (Neue Wege 15), Regensburg: ConBrio Verlagsgesellschaft 2018 26. Horst Gies: Richard Walther Darré. Der »Reichsbauernführer«, die nationalsozialistische »Blut und Boden«-Ideologie und Hitlers Machteroberung, Wien u. a.: Böhlau 2019 27. Thomas Gloy: Im Dienst der Gemeinschaft. Zur Ordnung der Moral in der Hitler-Jugend, Göttingen: Wallstein Verlag 2018
Im Archiv eingegangene Bücher der Erscheinungsjahre 2019/2020 sowie Nachträge
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28. Alexander Glück: Beiträge zur Jugendbewegung. Aufsätze, Norderstedt: Books on Demand 2019 29. Werner Gneist: Sonette, hg. Von Anna Elysia Radke, Opole: Fundacja Nauki i Kultury na S´la̜sku z siedziba̜ w Opolu Silesia 2017 30. Lerke Gravenhorst u. a. (Hg.): Fatale Männlichkeiten – kollusive Weiblichkeiten. Zur Furorwelt des Münchner Hitler. Folgen über Generationen, Hamburg: Marta Press 2020 31. Horst Gundlach: Thomas Mann und Rudolf Ibel: Ein Widerstreit um den politischen Diskurs Deutschlands, Heidelberg: Universitätsverlag Winter 2019 32. Heidemarie Hecht: »An alle Lebendigen« – Friedrich Muck Lamberty. Ein völkischer Freigeist, Bucha bei Jena: Quartus 2020 33. Marc Herbst, Michell Teran (Hg.): Everything Gardens! Aus den Ruinen der Moderne wachsen (Licht Luft Scheiße. Perspektiven auf Ökologie und Moderne 2), Hamburg: Adocs 2020 34. Susanne Heyn: Kolonial bewegte Jugend. Beziehungsgeschichten zwischen Deutschland und Südwestafrika zur Zeit der Weimarer Republik, Bielefeld: transcript 2018 35. Hochschule für nachhaltige Entwicklung Eberswalde (Hg.): Eden und seine Gärten. Impulse zum Austausch und Gärtnern in der Obstbausiedlung Eden – Ein Projekt von Studierenden der Hochschule für nachhaltige Entwicklung Eberswalde, Eberswalde 2018 36. Mia Holz: Musikschulen und Jugendmusikbewegung. Die Institutionalisierung des öffentlichen Musikschulwesens von den 1920ern bis in die 1960erJahre, Münster u. a.: Waxmann 2016 37. Hartmut Hombrecher, Christoph Bräuer (Hg.): Zeitspiegel. Kinder- und Jugendliteratur der Jahre 1925 bis 1945 (Katalog zur Ausstellung der Sammlung Wehner in der Paulinerkirche der Niedersächsischen Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen vom 30. Oktober 2019 bis zum 2. Februar 2020), Göttingen: Wallstein 2019 38. Harald Jähner: Wolfszeit. Deutschland und die Deutschen 1945–1955, Berlin: Rowohlt 2019 39. Anne Keller: Das deutsche Volksspiel. Theater in den Hitlerjugend-Spielscharen (Lingener Beiträge zur Theaterpädagogik 17), Berlin: Schibri 2019 40. Vera Klewitz, Sabine Philipp (Hg.): Stadt Jugend Stil. Lebensreform in Wiesbaden, Wiesbaden: Stiftung Stadtmuseum Wiesbaden 2020 41. Martin Langebach (Hg.): Germanenideologie. Einer völkischen Weltanschauung auf der Spur, Bonn: bpb 2020 42. Sonja Levsen: Autorität und Demokratie. Eine Kulturgeschichte des Erziehungswandels in Westdeutschland und Frankreich 1945–1975, Göttingen: Wallstein 2019
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Im Archiv eingegangene Bücher der Erscheinungsjahre 2019/2020 sowie Nachträge
43. Reinhold Lütgemeier-Davin: Karl Laabs. Ein Juden- und Polenretter in Krenau/Chrzanów. Ein »Gerechter unter den Völkern« aus Hann. Münden, Marburg: Schüren 2020 44. Rüdiger Lutz Klein: Alter ist kein Verdienst. Der gemeinnützige Verein für Jugenderholung Uelzen 1956–1976, Uelzen: Verlag Horst Hoffmann 2017 45. Christoph Klotter, Niels Beckenbach: Romantik und Gewalt. Jugendbewegungen im 19., 20. und 21. Jahrhundert, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2012 46. Knut Kühn-Leitz: Ernst Leitz III. Die Leica stets im Blick. Asphärentechnologie und Glasforschung. Die Basis für legendäre Objektive. Königswinter: Heel Verlag 2019 47. Lieder in Bewegung / Lieder des Meissnerlagers 2013, Berlin: Verlag der Jugendbewegung 2017 48. Sandra Lüpkes: Schule am Meer, Hamburg: Kindler 2020 49. Aline Maldener, Clemens Zimmermann (Hg.): Let’s historize it!: Jugendmedien im 20. Jahrhundert, Wien u. a.: Böhlau Verlag 2018 50. Elisabeth Mollenhauer-Klüber, Michael Siebenbrodt (Hg.): loheland 100. Gelebte Visionen für eine neue Welt. Katalogbuch zur Ausstellung im Vonderau Museum Fulda, Petersberg: Michael Imhof 2020 51. Bodo Mrozek: Jugend – Pop – Kultur. Eine transnationale Geschichte, Berlin: Suhrkamp 2019 52. Teresa Nentwig: Helmut Kentler und die Universität Hannover. Bericht zum Forschungsprojekt, Hannover: Gottfried Wilhelm Leibniz Universität 2019 53. Stefan Noack, Christine de Gemeaux, Uwe Puschner (Hg.): Deutsch-Ostafrika. Dynamiken europäischer Kulturkontakte und Erfahrungshorizonte im kolonialen Raum, Berlin: Peter Lang 2019 54. Domenico Palermo: I precursori dell’ambientalismo. Storia e cultura del Movimento Giovanile Tedesco, Rom: Libellula 2018 55. Andreas Pehnke: Willy Steiger (1894–1976) – Biografie und Werkauswahl. Vom Zeitzeugen des Völkermords an den Armeniern zum Reformpädagogen und Schriftsteller, Markkleeberg: Sax-Verlag 2019 56. Marcel Piethe: Blaue Wimpel im Sommerwind. DDR-Ferienlager in Brandenburg 1949–1989, Berlin: Verlag für Regional- und Zeitgeschichte 2020 57. Ulrike Pilarczyk, Ofer Ashkenazi, Arne Homann (Hg.): Hachschara und Jugend-Alija. Wege jüdischer Jugend nach Palästina 1918–1941, Gifhorn: Gemeinnützige Bildungs- und Kultur GmbH des Landkreis Gifhorn 2020 58. Jürgen Reulecke: Geschichte(n) am Wegesrand. Essayistische Ausflüge ins 19. und 20. Jahrhundert, Bremen: Donat 2020 59. Hans-Joachim Rieß: Die öffentliche Musikschule in Deutschland im Begründungszusammenhang kultureller Bildung. eine ideengeschichtliche
Im Archiv eingegangene Bücher der Erscheinungsjahre 2019/2020 sowie Nachträge
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Untersuchung vom Ende des 19. Jahrhunderts bis zur Gegenwart, Kassel: Bosse 2019 Jens Riesner: 100 Jahre Voggenreiter. 1919–2019, Wachtberg: Voggenreiter 2019 Andrea Röpke, Andreas Speit: Völkische Landnahme. Alte Sippen, junge Siedler, rechte Ökos, Berlin: Ch. Links 2019 Jörg Schönert, Ralf Klausnitzer, Wilhelm Schernus (Hg.): Wilhelm Emrich. Zur Lebensgeschichte eines Geisteswissenschaftlers vor, in und nach der NSZeit, Stuttgart: S. Hirzel Verlag 2018 Christoph Schulze: Rassismus in nationalsozialistischer Tradition. Der Neonazi Jürgen Rieger (1946–2009), Berlin: Metropol 2020 Claudia Selheim, Frank Matthias Kammel, Thomas Brehm (Hg.): Wanderland. Eine Reise durch die Geschichte des Wanders. Ausstellungskatalog, Nürnberg: Germanisches Nationalmuseum 2018 Georg Teichert (Hg.): L(i)eben im Verborgenen – Homosexualität zwischen Stonewall und der Ehe für alle, Leipzig: Leipziger Universitätsverlag 2019 Jörn Thomsen, Fritz Schmidt: Jungenschaft an Elbe und Spree. Die Hamburger Kuttercrew, Deutsche Jungenschaft e. V. Berlin, Baunach: Spurbuchverlag 2019 Uwe Timm: Der Verrückte in den Dünen. Über Utopie und Literatur, Köln: Kiepenheuer und Witsch 2020 Beatrix Vincze, Katalin Kempf, András Németh (Hg.): Hidden Stories. The Life Reform Movements and Art, orig.: Rejtett történetek : az életreformmozgalmak és a mu˝vészetek : nemzetközi konferencia (Programmheft der internationalen Konferenz, Universität Budapest), Budapest: Eötvös Loránd University 2019 Bertram Weisshaar: Denkweg. Ein (um)weltlicher Pilgerweg quer durch das Land von Aachen bis Zittau, München: oekom 2016 Almut Widdershoven: Ohne vorgehaltene Hand. Netzwerke sexuellen Mißbrauchs in der deutschen Pfadfinder- und Jugendbewegung, Königswinter 2019 Claudia Wilms (Hg.): Sprung über ein Jahrhundert: Francis D. Pelton (Franz Oppenheimer) (Bibliotheca Fraengeriana 2), Berlin: Quintus 2018 Holger Zaunstöck und Claudia Weiß im Auftrag der Franckeschen Stiftungen (Hg.): Moderne Jugend? Jungsein in den Franckeschen Stiftungen 1890–1933, Halle: Selbstverlag 2019
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Charlotte Alt (Cambridge): Living in the Present Time. Youth Culture and Modernity in Twentieth Century Germany Hannah Behling, Fernwald: Die Siedlung Vogelhof Julia Benner, Berlin: Zur Biografie von Lisa Tetzner und Kurt Kläber Jakob Bennetsen, Frederiksberg, DK: Völkisch-antisemitische Zweige der Jugendbewegung Sven Bindczeck, München: Geschichte der Burg Ludwigstein Stefan Buch, Offenbach: Christdeutsche Jugend / Geschichte der Evangelischen Jugendburg Hohensolms Maria Daldrup, Dortmund: 100 Jahre Deutsches Jugendherbergswerk – Fotoausstellung Burg Altena Louisa van der Does, Mannheim: Rudolf und Hedwig Höß – die Artamanen Laura Dolezich, Jena: Organisation des Jungjüdischen Wanderbundes 1900– 1933 Dieter Fauth, Zell a. M.: Die Freie Akademie (gegr. 1956) in ihrer Beziehung zum Nationalsozialismus und dessen Nachwirkung Nina Funke, Wendeburg: Jugendbewegung und Demokratie am Ende der Weimarer Republik Edith Glaser, Kassel: Der Eros-Skandal 1920 Marcel Glaser, Felsberg: Peter Koller – Architekt der Stadt des KdF-Wagens Eva-K. Hack, Kassel: Die alternative Lebensweise am Edersee Philipp Haase, Heidelberg: (Ehemalige) Beamte des Reichsministeriums für die besetzten Ostgebiete (1880–2005) Hartmut Happel, Immenstadt: Dokumentation über die Adolf-HitlerSchulen in Sonthofen Charlotte Haugg, Greifswald: Die Artamanen in der Weimarer und Bonner Republik Heidemarie Hecht, Naumburg: Das zweite Leben des Muck-Lamberty
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19. Alexandra Heimberger Ramírez, Waldaschaff: Die Frauensiedlung Schwarzerden 20. Friederike Held-Weimar, Hamburg: Biografie Niko Wöhlk (1887–1950) 21. Simon Hemmerich, Siegen: Jugend und Jugendarbeit im 19. und 20. Jahrhundert 22. Fumito Higuchi, Hiroshima (Japan): Die Musikerziehung an der Freien Schulgemeinde Wickersdorf 23. Annina Hofferberth, Gießen: Zeitgenössische Rezeptionen von NS-Inszenierungen 24. Eckard Holler, Kastellaun: Wieviele Lieder kennt die Bündische Jugend? Liederarchiv Dietmar Kremer 25. Elija Horn, Berlin: Jugendbewegung, nicht-christliche Spiritualität und jugendkulturelle Sexualität 26. Melina Hubel, Greifswald: Nationale Kindheiten in den Ostgebieten des Deutschen Kaiserreichs 1871–1914 27. Alexander Korb, Leicester, GB: Vom ethnos zum demos? Die deutsche Jugendbewegung und Europa (1925–1975) 28. Vera Klewitz, Wiesbaden: Lebensreform in Wiesbaden 29. Christoph Knüppel, Herford: Die Siedlung Gralsburg 30. Rüdiger Kröger, Langenhagen: Pädagogen in der Jugendbewegung (Herman Anders Krüger, Hermann Harleß) 31. Lisa Koch, Göttingen: Geschichte der Jugendburg Ludwigstein 32. Michael Kubacki, Marburg: Artamanenbund – Freundeskreis der Artamanen nach 1945 33. Eike Küstner, Erfurt: Muck-Lamberty und der Zug der Neuen Schar durch Thüringen 34. Beate Lehmann, Braunschweig: Jüdisches Volksheim im Siedlungsheim Charlottenburg, 1914–1916 35. Konstantin Lück, Berlin: Gesellschaftliche Performanz der Jugendbewegung im Vergleich zum NS-Regime (1933) 36. Franziska Meier, Heidelberg: Liedgut der Bündischen Jugend 37. Heike Meuser, Nieder-Olm: Die Rheinhessische Bauernhochschule und ihre Verbindung zur Artamanenbewegung 38. Claire Milon, Nanterre, Frankreich: Entstehung des Wanderns in Deutschland um 1900 39. Anna Orth, Augsburg: Musikerziehung in der NS-Zeit: Wolfgang Stumme und seine Rolle im Nationalsozialismus 40. Kaj Osteroth, Schönewalde: Archäologien der Nachhaltigkeit 41. Albrecht Pachl, Friedberg: Adolf Reichwein in Friedberg und die Jugendbewegung 42. Sandra Perrey, Berlin: Elsiie Kühn-Leitz
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43. Andreas Petersen, Berlin: Zur Biografie der Familie Nathanson 44. Inga Pohlmann, Rielasingen-Worblingen: Die Autorin Mara Liesegang und ihre Kontakte zur deutschen Jugendbewegung 1919–1948 45. Julia Preißer, Frankfurt a. M.: Freikörperkultur in Frankfurt a. M. 46. Manfred Reddig, Göttingen: Katholische Pfadfindergruppen 47. Frithjof Reinhardt: Muck-Lamberty und die Neue Schar in Thüringen 48. Sven Reiß, Fahrenkrug: Päderastie in der Jugendbewegung. Eine kulturwissenschaftliche Annäherung 49. Bastian Reusch, Würzburg: Die Jugendburg als steingewordener Ausdruck einer Kulturlandschaft im Geiste 50. Diana Rieger, Steinau: Dürerschule Hochwaldhausen 51. Franz Riemer, Wolfenbüttel: Fritz Jöde 52. Natalie Röse, Kassel: Die Jugendmusikbewegung 53. Eva Rohland, Kassel: Hans Soeder – Architektur und Lehre in Kassel 54. Thomas Rustler, Karben: Jugendbewegung in Deutschland im Jahr 1933 55. Martin Saintemarie, Valdivienne (Frankreich): Die Artamanen 1924–1933 56. Frauke Schneemann, Göttingen: Die deutsche Pfadfinderbewegung im internationalen Kontext 1945–1980 57. Eberhard Schürmann, Hamburg: Die Lebensleistung von Ludwig Liebs 58. Alexander Schwarz, München: Die Siedlung Blankenburg 59. Annemarie Selzer, Zierenberg: Rechte Jugendbünde und Pädagogischer Eros 60. Sven Siemon, Paderborn: Werte, Wandel, Weltweit. Das Deutsche Jugendherbergswerk 61. Ida Spirek, Erfurt: Muck-Lamberty und der Zug der Neuen Schar durch Thüringen 1920 62. Christian Stöber, Asbach-Sickenberg: Der historische Ort Schifflersgrund im Kontext der deutschen und europäischen Teilungsgeschichte 63. Karen Strobel, Mannheim: Rudolf und Hedwig Höß – die Artamanen 64. Isolde Sültemeyer, Berkeley (USA): Tagore, Blavatsky, Fidus, Manfred Kyber 65. Shoha Tamahide, Tokio (Japan): A Historical Study of Hans Blühers Männerbund-Theory 66. Werner Troßbach, Fulda: Nationalsozialismus und biologisch-dynamische Wirtschaftsweise 67. Leon Tröster, Krefeld: Das PR-Problem der deutschen Pfadfinderbewegung 68. Stefanie Wilke, Kassel: Zur Biografie von Enno Narten 69. Max-Ferdinand Zeterberg, Göttingen: Rezeption der Theorien der Jugendarbeit in Jugendverbänden
Anhang
Autorinnen und Autoren
Knut Andresen, Dr. phil., seit 2008 wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg, seit 2015 auch Privatdozent an der Universität Hamburg. Forschungen zur Sozial- und Kulturgeschichte des 20. Jahrhunderts mit Schwerpunkten auf Arbeitswelten, Gewerkschaften, Linke Bewegungen, Jugend sowie Biographie- und Oral-History-Forschung Meike S. Baader, Dr.in phil., Professorin für Allgemeine Erziehungswissenschaft an der Universität Hildesheim. Arbeitsschwerpunkte: Historische Bildungsforschung; Geschichte von Kindheit, Jugend und Familie in der Moderne; Gender in Erziehung und Bildung; Erziehung, Bildung und soziale Bewegungen; Erinnerungskulturen, Paradoxe Bildung und Gewaltgeschichte; sexualisierte Gewalt. David Beck, Studium Höheres Lehramt an Gymnasien für Geschichte und Deutsch, seit Oktober 2021 Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Professur für Didaktik der Geschichte der Universität Leipzig; Forschungsschwerpunkte: Internationale Schulbuchforschung, Gewaltgeschichte im frühen 20. Jahrhundert, Emotionsgeschichte, Historische Jugendforschung Günter C. Behrmann, Dr. phil., 1975–1993 Professor für Didaktik der Politischen Bildung und Politikwissenschaft an der Universität Osnabrück, Abt. Vechta; 1993–2009 Professor für Didaktik der politischen Bildung/Sozialwissenschaften an der Universität Potsdam. 2009 Emeritierung. 1978–1998 zweiter Vizepräsident der Universität Osnabrück, 2004–2008 Vorsitzender des Akademischen Senats der Universität Potsdam. Arbeitsgebiete: Politische Sozialisation, Politische Jugend- und Erwachsenenbildung, Geschichte der Sozialwissenschaften Knut Bergbauer, Studium der Sozialpädagogik an der FH Köln, seit 2018 wissenschaftlicher Mitarbeiter im DFG-Projekt »Nationaljüdische Jugendkultur und zionistische Erziehung in Deutschland und Palästina zwischen den Welt-
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Autorinnen und Autoren
kriegen« an der TU Braunschweig; Arbeitsschwerpunkte: Jüdische Jugendbewegung in Deutschland; Geschichte der Arbeiterbewegung Sungyoun Chung, seit 2018 Promotionsstudium am Institut für Geschichte an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Dissertation zum Thema »Tanzausdruck und Körperbild in der Weimarer Republik«; Arbeitsschwerpunkte: Tanz, Choreographie, Körperkultur, öffentliche Inszenierung des Körpers, kollektives Körperbild und seine Praxis, Performativität Paul Ciupke, Dr. phil., Diplom-Pädagoge, bis 2018 im Leitungsteam des Bildungswerks der Humanistischen Union NRW (Essen), 2014–2020 Herausgeber der Fachzeitschrift »außerschulische bildung«. Zahlreiche Veröffentlichungen zur Geschichte der Erwachsenenbildung und außerschulischen politischen Bildung, zu Theorie und Didaktik der politischen Bildung und zum historischpolitischen Lernen Laura Dolezich, Lehramtsstudium Deutsch, Geschichte und Deutsch als Fremdund Zweitsprache an der Friedrich-Schiller-Universität (FSU) Jena, 2018–2020 studentische Hilfskraft und anschließend wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Professur für Geschichtsdidaktik der FSU Jena, Arbeitsschwerpunkte: deutschjüdische Geschichte und Geschlechtergeschichte, seit 2020 Referendarin an der IGS Geismar Anne-Christine Hamel, Dr. des., Studium der Geschichte und Germanistik (M. A., Staatsexamen), Dissertation zur »DJO-Deutsche Jugend des Ostens« an der Universität Leipzig; Forschungsschwerpunkte: Historische Jugendforschung, Flucht und Vertreibung, Organisationssoziologie Friederike Hövelmans, M.A., Historikerin; Studium an den Universitäten Münster, Perugia und Leipzig, Dissertationsprojekt »Zwischen Weimarer Republik und Weltkrieg II. Bürgerliche Jugend in Sachsen am Beispiel der Sächsischen Jungenschaft« an der Universität Leipzig; Veröffentlichungen zum Auslandsfahrtentum und zu biografischen Aspekten der Jungenschaft; 2006–2012 stud./wiss. Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Geschichtsdidaktik der Universität Leipzig; verschiedene Tätigkeiten in der historisch-politischen Bildungsarbeit an Museen Alfons Kenkmann, Prof. Dr. , seit 2003 Professor für Didaktik der Geschichte an der Universität Leipzig; u. a. Vorsitzender der AG Geschichte auf deutscher Seite in der deutsch-israelischen Schulbuchkommission sowie des Wissenschaftlichen Beirats des Hannah-Arendt-Instituts für Totalitarismusforschung. Forschungsschwerpunkte: Didaktik der Geschichte, Geschichte historischen
Autorinnen und Autoren
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Lernens, Gedenkstättenpädagogik; Geschichte der Jugend, Polizei- und Verwaltungsgeschichte sowie Museologie und Public History. Christoph Kleßmann, Dr. phil., 1977–1992 Professor für Zeitgeschichte an der Universität Bielefeld, seit 1993 an der Universität Potsdam, 1996–2004 Direktor des Zentrums für Zeithistorische Forschung, Potsdam. Gastwissenschaftleraufenthalte in Leipzig, Bloomington/Indiana, Oxford. Seit 2004 emeritiert Janin Klein, M. Ed., Studium der Germanistik und der Geschichtswissenschaft an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel, 2017–2020 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Graduiertenkolleg »Die DDR und die europäischen Diktaturen nach 1945« an der Friedrich-Schiller Universität Jena, Forschungsschwerpunkte: Bildungsgeschichte der DDR, FDJ, Ausländer in der DDR, Zeitzeugen und (subjektive) Erinnerungen Pia Kleine, Studentin Master of Arts Geschichtswissenschaften mit dem Schwerpunkt Zeitgeschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin. Studentische Mitarbeiterin am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung (Geschichte der Gefühle) Sandra Koch, Dr.in phil., Studium der Erziehungswissenschaft an der MartinLuther-Universität Halle-Wittenberg, seit 2015 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut Erziehungswissenschaft der Stiftung Universität Hildesheim; Arbeitsschwerpunkte: Kindheitsforschung, Pädagogik der frühen Kindheit, kulturwissenschaftliche Bildungsforschung, Forschungen zu Subjektivierung, Macht, Anerkennung und Generationen- und Geschlechterverhältnisse; Kinder- und Jugendliteraturforschung Markus Köster, Dr. phil., seit 2002 Leiter des LWL-Medienzentrums für Westfalen, seit 2012 Honorarprofessor an der WWU Münster. Forschungsschwerpunkte: Geschichte Westfalens im 20. Jahrhundert, Geschichte von Film und Fotografie und ihres Einsatzes in der Bildungsarbeit, Geschichte des politischen Katholizismus sowie die Sozialgeschichte von Jugend und Jugendhilfe im 20. Jahrhundert Friederike Kroschel, M.A., Studium der Kulturwissenschaften der Antike und Geschichte, 2017–2019 wissenschaftliche Volontärin bei der Stiftung Berliner Mauer, seit 2019 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut Erziehungswissenschaft der Stiftung Universität Hildesheim; Arbeitsschwerpunkte: Historische Bildungsforschung
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Autorinnen und Autoren
Sigrun Lehnert, freie Medienwissenschaftlerin in Hamburg, Studium Medienmanagement (M.A.) in Hannover, Promotion an der Universität Hamburg im Fach Medienwissenschaft mit einer Arbeit zu: »Wochenschau und Tagesschau in den 1950er Jahren« (erschienen 2013, UVK-Verlag), Forschungsschwerpunkte: Audiovisuelle Vermittlungsstrategien in Film und Fernsehen, Wochenschauen, Dokumentarfilm, Fernsehdokumentarismus und Filmerbe. Website: www.wo chenschau-forschung.de/ Arndt Macheledt, M.A., Studium der Geschichte und Politikwissenschaft an den Universitäten Marburg und Bonn. Seit 2018 Doktorand an der Universität Jena (extern). 2017–2021 wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Gedenkstätte Point Alpha. Seit 2021 Bildungsreferent der Stiftung Adam von Trott, Imshausen Nicole Nunkesser, Studium der Erziehungswissenschaft an der Technischen Universität Dortmund, seit 2017 wissenschaftliche Mitarbeiterin am IAEB Dortmund Fakultät 12, Lehrbereich Historische Bildungsforschung; Arbeitsschwerpunkte: Historische Jugend- und Geschlechterforschung, Bildanalytische Forschungsmethoden Michael Philipp, Dr. phil., Historiker; seit 2016 Chefkurator am Museum Barberini, Potsdam; Veröffentlichungen zu Stefan George und seinem Kreis, zur Zeit- und Kunstgeschichte Ulrike Pilarczyk, Dr., apl. Professorin für Erziehungswissenschaft an der Technischen Universität Braunschweig, seit 2018 Leiterin des deutsch-israelischen DFG-Forschungsprojektes »Nationaljüdische Jugendkultur und zionistische Erziehung zwischen den Weltkriegen in Deutschland und Palästina« an der TU Braunschweig. Arbeits- und Forschungsschwerpunkte: bildanalytische Forschungsmethoden, historische Sozialisationsforschung, jüdische Jugend und Jugendbewegung Susanne Rappe-Weber, Dr. phil., Studium der Geschichte, Germanistik und Politikwissenschaften an der Universität Hannover, 1993–1997 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Historischen Institut der Universität Potsdam, seit 2002 Leiterin des Archivs der deutschen Jugendbewegung; Arbeitsschwerpunkte: Archivund Historische Bildungsarbeit, Historische Jugendforschung, hessische Regional- und Agrargeschichte Jürgen Reulecke, Prof. Dr., 1984–2003 Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Siegen, danach bis Ende 2008 Professor für Zeitgeschichte und Sprecher des Sonderforschungsbereichs Erinnerungskulturen an
Autorinnen und Autoren
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der Universität Gießen; Forschungsschwerpunkte: Geschichte von Sozialreform, sozialen Bewegungen und Sozialpolitik im 19. und 20. Jahrhundert; Geschichte der Urbanisierung; Geschichte von Jugend und Jugendbewegungen sowie Generationengeschichte im Kontext einer allgemeinen Erfahrungsgeschichte Frauke Schneemann, M.A., Studium der Germanistik und Geschichte an der Georg-August-Universität Göttingen und der Aberystwyth University (Wales), Projektkraft im Archiv der deutschen Jugendbewegung zur Erschließung des Bestandes »Zentralarchiv der Pfadfinder«, Dissertationsprojekt zur deutschen Pfadfinderbewegung im internationalen Kontext (1945–1980) am Lehrstuhl für Neuere und Neueste Geschichte der Uni Göttingen, Stipendiatin der HansBöckler-Stiftung Detlef Siegfried, Prof. Dr., Professor für Neuere Deutsche und Europäische Geschichte an der Universität Kopenhagen. Forschungsschwerpunkte: Geschichte der Bundesrepublik und Europas nach 1945, Geschichte der Massenkultur, linksradikale Bewegungen im 20. Jahrhundert Hans-Ulrich Thamer, Prof. Dr., Studium der Fächer Geschichte, Klassische Philologie und Politikwissenschaft, em. Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Münster; Forschungsschwerpunkte: Französische Revolution, Geschichte des Nationalsozialismus und des europäischen Faschismus, Politische Rituale und symbolische Kommunikation in der Moderne, Kulturgeschichte von Museen und Ausstellungen Justus H. Ulbricht, Dr. phil., freiberuflicher Historiker, Studium der Geschichte, Germanistik und Allg. Pädagogik in Tübingen, 1995–2009 Mitarbeiter der Klassik Stiftung Weimar; 2010–2012 Universität Magdeburg/Forschungsstelle Moderne Regionalgeschichte, 2014–2016 Freier Mitarbeiter der Sächs. Landeszentrale für politische Bildung, 2016–2020 Geschäftsführer des Dresdner Geschichtsvereins, Redakteur der »Dresdner Hefte« Bernd Wedemeyer-Kolwe, apl. Prof., Dr. phil., Dr. disc. pol., Volkskundler und Sporthistoriker, Wissenschaftlicher Leiter / Geschäftsführer des Niedersächsischen Instituts für Sportgeschichte in Hannover (NISH), Veröffentlichungen zu Sportgeschichte, Lebensreform, völkische Bewegung und Okkultismus Paul Wolff, M.A., Literaturwissenschaftler; seit Oktober 2020 Doktorand und wissenschaftlicher Mitarbeiter im Projekt »Digital Constructions of Authorship« am Exzellenzcluster »Temporal Communities« der Freien Universität Berlin
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Autorinnen und Autoren
Seminargruppe »Europäische Ethnologie«, Universität Würzburg, Seminargruppe des Lehrstuhls für Europäische Ethnologie/Volkskunde, Julius-Maximilians-Universität Würzburg, Modul Geschichte und Gegenwart, Wintersemester 2018/19, geleitet von Felix Linzner, M.A., mit den Teilnehmer*innen Paulina Bohl (Einführungsplakat), Chrisoula Chatzopoulou (Satz und Gestaltung), Veronika Erl (Monte Verità), Elmar Eßlinger (Hellauf), Lorenz Hegeler (Text für das Jahrbuch und Hellauf Vogellhof), Alexandra Heimberger Ramírez (Vitrinengestaltung und Schwarzerden), Leon Kernwein (Text für das Jahrbuch und Gartenstadt), Melis Kizilarslan (Einführungsplakat), Maximilian Macharowsky (Eden Oranienburg), Quang Nguyen-Xuan (Donnershag), Jana Renner (Ausblick), Felix Sudhop (Blankenburg), Nils Waldmann (Loheland)