Bevölkerung, Fertilität und Familienplanung in Kolumbien: Eine transnationale Wissensgeschichte im Kalten Krieg 9783839435403

This multi-layered study shows how transnational population research from the 1950s formed social debates in Columbia ar

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German Pages 360 Year 2017

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Table of contents :
Inhalt
Danksagung
1. Einleitung
2. Bevölkerungswissenschaften in den USA
3. Bevölkerungswissenschaften in Kolumbien
4. Wissensproduktion und -zirkulation zu Fertilität in Kolumbien
5. ›Moderne‹ Frauen, Männer, Familien und Sexualität
6. Bevölkerungsprobleme im lokalen Entwicklungslabor
7. Fazit
8. Quellen- und Literaturverzeichnis
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Bevölkerung, Fertilität und Familienplanung in Kolumbien: Eine transnationale Wissensgeschichte im Kalten Krieg
 9783839435403

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Teresa Huhle Bevölkerung, Fertilität und Familienplanung in Kolumbien

Histoire | Band 93

Teresa Huhle (Dr. phil.) forscht und lehrt zur Geschichte Lateinamerikas am Institut für Geschichtswissenschaft der Universität Bremen. Ihre Schwerpunkte liegen in der transnationalen Geschichte der Amerikas sowie der Wissens- und Geschlechtergeschichte.

Teresa Huhle

Bevölkerung, Fertilität und Familienplanung in Kolumbien Eine transnationale Wissensgeschichte im Kalten Krieg

Diese Veröffentlichung wurde 2015 unter dem Titel »Bevölkerung, Fertilität und Familienplanung in Kolumbien zur Zeit des Kalten Krieges: Eine transnationale Wissensgeschichte« beim Promotionsausschuss Dr. Phil an der Universität Bremen als Dissertation eingereicht. GutachterInnen: Prof. Dr. Delia González de Reufels (Universität Bremen) und Prof. Dr. Norbert Finzsch (Universität zu Köln). Das Promotionskolloquium fand am 23.11.2015 an der Universität Bremen statt.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2017 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Instituto de la Construcción Idelac – Universidad del Valle, Centro de Salud Integrado – Candelaria, Rockefeller Foundation Records, Maps and Flat Files, Series 311, Folder 1. Mit freundlicher Genehmigung des Rockefeller Archive Center Lektorat: Niko Huhle, [email protected] Satz: Dr. Klara Vanek, www.textuelles.de Druck: docupoint GmbH, Magdeburg Print-ISBN 978-3-8376-3540-9 PDF-ISBN 978-3-8394-3540-3 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Danksagung | 7 1. Einleitung | 11 1.1 1.2 1.3 1.4 1.5

Entwicklungspolitik und ›Bevölkerungsprobleme‹ in Kolumbien | 14 Fragestellung und erste Thesen | 23 Stand der Forschung | 37 Auswahl der Quellen und Archive | 49 Auf bau der Studie | 53

2. Bevölkerungswissenschaften in den USA | 55 2.1 Sozialdemografie und Bevölkerungsforschung in den USA | 56 2.2 Lateinamerika in der Theorie des demografischen Übergangs | 71 2.3 Das International Population Program an der Cornell University | 81 2.4 Der Bevölkerungsexperte für Lateinamerika J. Mayone Stycos | 91

3. Bevölkerungswissenschaften in Kolumbien | 115 3.1 Das Population Establishment in Kolumbien | 116 3.2 Die Médicos Demógrafos und die Debatten um staatliche Familienplanung | 121 3.3 Demografie und Entwicklungsökonomie an der Universidad de los Andes | 140 3.4 »Father Pérez« und das Centro de Investigaciones Sociales | 148 3.5 Die Fakultät für Soziologie an der Universidad Nacional de Colombia | 159

4. Wissensproduktion und -zirkulation zu Fertilität in Kolumbien | 167 4.1 Fertilitätsstudien in Lateinamerika | 168 4.2 Fertilitätsstudien in Kolumbien  | 172 4.3 Anträge und Zielsetzungen – Transnationale versus lokale Expertise | 177 4.4 Fragebögen – das Werkzeug der Fertilitätsforschung | 183 4.5 Die Interviewerinnen und die Stichprobe | 188 4.6 Das Interview | 192

4.7 Die Datenauswertung | 195 4.8 Die Darstellung der Ideale | 199

5. ›Moderne‹ Frauen, Männer, Familien und Sexualität | 205 5.1 Die moderne Familie | 206 5.2 Verantwortungsvolle Elternschaft | 209 5.3 Partnerschaft und Kindeswohl in der Fertilitätsforschung | 214 5.4 Geschlechternormen in der Fertilitätsforschung | 224 5.5 Sexualität | 232 5.6 Verhütungsmittel | 242

6. Bevölkerungsprobleme im lokalen Entwicklungslabor | 261 6.1 Community Development in Kolumbien | 262 6.2 Salud Pública und Medicatura Rural  | 271 6.3 Ernährung und Landwirtschaft | 277

7. Fazit | 305 8. Quellen- und Literaturverzeichnis | 317 8.1 Archivbestände | 317 8.2 Gedruckte Quellen | 318 8.3 Literatur | 338

Danksagung

Zuallererst möchte ich meiner Doktormutter Delia González de Reufels für die enge und ermutigende Betreuung und Begleitung aller Arbeitsschritte danken, die zu meiner Promotion an der Universität Bremen im November 2015 geführt haben. Von den ersten, Begeisterung weckenden Gesprächen über mein Dissertationsthema mit ihr bis zur Abgabe habe ich viel von ihr gelernt und immer von ihrer Orientierungshilfe profitiert. Norbert Finzsch von der Abteilung für Nordamerikanische Geschichte des Historischen Seminars der Universität zu Köln danke ich für die Bereitschaft, als Zweitgutachter an dem Dissertationsverfahren mitzuwirken und für seine zuverlässige Unterstützung. Das Herzstück dieses Buchs bilden die Quellen und Publikationen, die ich auf meinen Forschungsreisen nach Kolumbien und in die USA gefunden habe. Gerne denke ich an die Archiv- und Bibliotheksmonate in Ithaca, Cali, Bogotá, New York, Sleepy Hollow und Durham zurück und danke den Archivaren und Archivarinnen, die mir mit Rat und Tat zur Seite standen: Elaine D. Engst und Ana Guimaraes von der Division of Rare and Manuscript Collections der Cornell University Library; José Alberto Giraldo López; Raúl Luna; Fernán Castaño, Luis Alberto Hernández Azcaran, Daisy Ibarra und Yeraldina Rios aus dem Archivo Central e Histórico der Universidad del Valle; Henry Rengifo Sánchez, Adriana Marcela Vega Durán, Germán Fabricio Velásquez Bermúdez, Leidy Andrea Martínez Barreto und Diego Fernando Parra Pérez aus dem Archivo Central e Institucional der Universidad de los Andes; Martha Stella Se­ rrano Rincón und Amanda Patricia Corres López aus dem Archivo Satálite der Facultad de Ciencias Humanas der Universidad Nacional de Colombia in Bogotá; Alma Nohra Miranda Leal und Johana Katheryne Triana Bernal aus dem Archivo Histórico der Pontificia Universida Javeriana in Bogotá; Sandra Pardo aus der Bibliothek von Profamilia in Bogotá; Stephen E. Novak aus den Ar­ chives & Special Collections der A.C. Long Health Sciences Library des Columbia University Medical Center sowie den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Biblioteca Luis Ángel Arango in Bogotá und der David M. Rubenstein Rare Book & Manuscript Library der Duke University Libraries in Durham. Einige Archive bleiben dank der Hilfsbereitschaft ihrer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in besonderer Erinnerung. María Isabel Rentería Gamboa, der Secretaria des Centro de Documentación der Escula de Salud Pública der Universidad del Valle, danke ich dafür, mich auf jede vorhandene graue Publikation zu Demografie und Familienplanung an der Universidad del Valle

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Bevölkerung, Fer tilität und Familienplanung in Kolumbien

aufmerksam gemacht zu haben, genauso wie für zahlreiche Kontakte und Alltagshilfen. Umfangreiche Unterstützung und Beratung in langen Gesprächen habe ich auch von Gabriel Escalante aus dem Archivo Central e Histórico der Universidad Nacional in Bogotá sowie von Bethany J. Antos und Tom Robertson aus dem Rockefeller Archive Center in Sleepy Hollow, New York erfahren. Nicht zu allen Archiven war der Zugang einfach. Für die logistische und diplomatische Unterstützung dabei danke ich den Mitarbeiterinnen der Oficina de Relaciones Internacionales der Universidad del Valle Luz Adriana Moreno Prado und Sandra Juliana Toro Hoyos sowie Iván Orozco und Angelika Rettberg von der Universidad de los Andes. Gabriel Restrepo Ferrero öffnete mir sogar die Türen zu seinem beeindruckenden Privat­archiv sowie zu seiner privaten Bibliothek. Ich danke für sein großes Vertrauen, aufregende Stunden im Dachgeschoss und im salón, sowie für viele Gespräche und sein großes Interesse. Für spannenden und hilfreichen Austausch danke ich weiterhin Fernando Urrea Giraldo, und Mario Hernández und seiner Arbeitsgruppe für Medizingeschichte an der Universidad Nacional, von der ich während meines Aufenthalts in Bogotá aufgenommen wurde. Auch zahlreiche Zeitzeugen, das heißt Gestalterinnen und Gestalter von Familienplanungsprogrammen und demografischer Forschung in Kolumbien zwischen den 1950er und 1970er Jahren, waren bereit, ihre Erfahrungen, ihre Kontakte und ihr Wissen zu Quellen und Publikationen mit mir zu teilen. Hierfür danke ich aus Ithaca Maria Nowakowska Stycos und dem 2016 verstorbenen Joseph Mayone Stycos, aus Cali Myriam Ordoñez Gómez, Ramiro Muñoz, Carlos Alfonso Osorio Torres und Louis Woolley Gaspard, aus Bogotá Carlos Escalante, Rodolfo Heredia, Fernando Gómez und José Olinto Rueda Plata sowie Gustavo Pérez Ramírez, den ich aus Bremen in Quito anrufen durfte. Besonders möchte ich schließlich all denjenigen danken, bei denen ich auf meinen Forschungsreisen drei wunderschöne temporäre Zuhause gefunden habe: Danke an die Bewohnerinnen und Bewohner von »That House« (Dan, Alex, Sam, Aurora, Lee und Susan) und an Marion und Lili dafür, dass ich nicht nur die Cornell University sondern auch Ithaca kennengelernt habe, danke an Constanza Millán für das Zusammenleben in Cali und danke an Ella Becerra und Meike Werner für die unvergessliche WG mit den schönsten Fenstern Bogotás. Bei der Entwicklung und Diskussion des Themas, der Bearbeitung der Quellen und der Konzeption und Niederschrift der Kapitel hatte ich das große Glück, in unterschiedlichen akademischen und oft zugleich freundschaftlichen Zusammenhängen Unterstützung und Hilfe zu erfahren. Zunächst sind hier die Freundinnen und Freunde aus der Nordamerikanischen Geschichte

Danksagung

an der Universität zu Köln zu nennen, die mir schon in den letzten zwei Jahren des Studiums gezeigt haben, wie viel Spaß gemeinsames historisches Arbeiten und Diskutieren macht – eine Erkenntnis, die sich an Wochenenden in Weidenhausen, Moneglia und Leubsdorf verfestigt hat –, und von denen bis zuletzt viel Hilfe kam. Vielen Dank an Pablo Domínguez, Maria Hugger, Kristoff Kerl, Helena Körner, Björn Klein, Thomas Maier, Björn Schmidt und Myron Tsakas sowie ganz besonders an Olaf Stieglitz und Massimo Perinelli, ohne deren phantastische Seminare ich den Weg zur Promotion nicht eingeschlagen hätte. Linda Bausch danke ich von Herzen für unseren schönen Schreibsommer in Köln. Bereichernd und inspirierend war von 2012 bis 2016 die Zusammenarbeit im DFG-geförderten wissenschaftlichen Netzwerk »Bevölkerung, Wissen, Ordnung, Wandel. Demografie und Politik im 20. Jahrhundert in globaler Perspektive«. Die Treffen und die gemeinsame Arbeit an unserem Reader waren ein Höhepunkt der Promotionsjahre. Vielen Dank an Heinrich Hartmann, Corinna Unger, Regula Argast, Insa Breyer, Johanna Brumberg, Samuël Coghe, Ursula Ferdinand, Axel Hüntelmann, Morgane Labbé, Jesse Olszynko-Gryn, Petra Overath, Christiane Reinecke, Tom Robertson, Alexandra Widmer und ganz besonders an Maria Dörnemann, mit der ich Gemeinsamkeiten und Unterschiede in der Bevölkerungspolitik Kenias und Kolumbiens diskutieren konnte. Corinne Pernet, Theodore Porter und Daniel Speich Chassé haben Ausschnitte der Dissertation im Rahmen der Netzwerk-Aktivitäten kommentiert, für ihre Anregungen danke ich herzlich. Für Gespräche und Feedback im Rahmen der Aktivitäten der Geschichte Lateinamerikas an der Universität Bremen danke ich Thomas Etzemüller, Raúl Necochea López, Jadwiga Pieper Mooney und Gabriela Soto Laveaga. Besonders intensiv war in Bremen die Zusammenarbeit mit meinen Doktorgeschwistern Mario Faust-Scalisi und Annika Hartmann. Danke für eure Freundschaft, grenzenlose Hilfsbereitschaft und die schönen gemeinsamen Kongressreisen. Ich kann mir keine besseren Wahlgeschwister vorstellen. Auch im Doc-Netzwerk »Grenzenlos – Epochen- und Raumübergreifende Geschichtswissenschaften« habe ich an der Universität Bremen viel Feedback bekommen. Danke hierfür an Ulrike Huhn, Bianca Frohne, Alexander Grimm, Marko Müller und Manja Quakatz. Franziska Meifort und Sarah Lentz danke ich zudem für unzählige gemeinsame Schreibstunden in der Bibliothek, in Bremer Cafés und unseren Wohnungen und für die vielen Kraft spendenden Gespräche. KP Horn danke ich für seine Motivation und sein Durchhaltevermögen in den letzten langen Tagen und Nächten vor der Abgabe. Nina Thomann und Andreas Schnell danke ich fürs Korrekturlesen und Gesa Eversmeyer und ganz besonders meiner Mutter Gabriele Franger für ihren spontanen und intensiven Einsatz und ihre große Hilfe auf allen Ebenen in der heißesten Endphase. Auch nach der Abgabe habe ich noch wichtige Unterstützung erfahren: Herz­

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lichen Dank an meinen Bruder Niko Huhle für das gründliche Lektorat, an Xenia Elbrächter für die letzte Durchsicht und an Klara Vanek für die Formatierung des Manuskripts. Vanessa Höse war schon während unseres gemeinsamen Studiums und dann auch in unseren gemeinsamen Promotionsjahren für alle großen und kleinen Fragen meine wichtigste Gesprächspartnerin und Ratgeberin. Zu jeder Uhrzeit, in jeder Lebenssituation und von vielen Orten der Welt stand sie mir mit langen Telefonaten und spontanen Korrekturen zur Seite. Danke für alles.

1. Einleitung

Im September 1966 schwärmten in der kolumbianischen Großstadt Medellín 20 Interviewerinnen aus, um rund 2000 Frauen an deren Wohnorten aufzusuchen und ihnen recht intime Fragen zu stellen. So sollten die anhand eines repräsentativen Stichprobenverfahrens ermittelten Frauen im »gebärfähigen Alter« unter anderem Angaben über alle ihre bisherigen Beziehungen und Schwangerschaften machen. Sie wurden weiterhin gefragt, welche Verhütungsmittel sie kannten und bereits verwendet hatten und wie viele Kinder in einer »idealen Familie« geboren werden sollten. Das Ziel der Umfragestudie bestand laut dem jungen US-amerikanischen Demografen Robert B. Hartford darin, »wegweisende Daten über Einstellungen, Praktiken und Kenntnisse im Zusammenhang mit ehelicher Fertilität und Fertilitätskontrolle zur Verfügung zu stellen, um ein öffentliches und von der Regierung finanziertes Familienplanungsprogramm in Medellín zu starten«.1 In solchen Programmen sollten Paare lernen, »verantwortlich« zu handeln, und dieser Verantwortung für das Wohlergehen ihrer Familie und der Nation direkt durch die Verwendung von Verhütungsmitteln nachkommen. Die Studie, die solch ein Programm in Medellín legitimieren sollte, hatte Hartford gemeinsam mit dem kolumbianischen Gynäkologen Mario Jaramillo konzipiert. Dieser leitete zu dem Zeitpunkt in Medellín, der Hauptstadt des Departamento de Antioquia, ein Pilotprojekt für Familienplanung, das Centro Piloto de Planificación Familiar. Nicht nur die Einstellungen der potenziellen ›Nutzerinnen‹ von Familienplanungsprogrammen, sondern auch die Meinungen lokaler Eliten waren für das Forschungsteam von Interesse. So wurden im gleichen Jahr auch »Persönlichkeiten der höchsten Kategorie« aus den Bereichen Bildung, Politik, Industrie, Religion, Presse und Kirche zu ihrer Einschätzung des »demografischen Problems«, ihren »Fertilitätsidealen«, ihren 1 | Hartford, Robert B.: »Attitude, Information, and Fertility in Medellín, Colombia«, in: Stycos, Ideology, Faith, and Family Planning, 1971, S. 296–317, hier: S. 297. Soweit nicht anders vermerkt, stammen alle Übersetzungen aus dem Spanischen und Englischen ins Deutsche von der Autorin.

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Bevölkerung, Fer tilität und Familienplanung in Kolumbien

Kenntnissen über Verhütungsmittel und ihrer Bewertung von Familienplanung befragt.2 In der kolumbianischen Presse wurden solche Umfragestudien mit großem Interesse verfolgt. Über die Befragung der »wichtigsten gesellschaftlichen Gruppen« Medellíns schrieb ein Journalist der Tageszeitung Occidente im November 1967 voller Begeisterung, dass diese sensationelle Ergebnisse hervorgebracht habe. So herrsche unter den Befragten fast einstimmige Einigkeit über die Notwendigkeit, Familien mit Hilfe von Verhütungsmitteln intelligent zu planen. Die überaus interessante und mit präzisen wissenschaftlichen Methoden durchgeführte Studie aus Medellín könne als Abbild der nationalen öffentlichen Meinung eingeordnet werden. Allgemein habe sich die Erkenntnis durchgesetzt, dass die »demografische Explosion« eine außerordentliche Gefahr für die ökonomische, ethische und soziale Ordnung darstelle, angesichts derer niemand gefühllos bleiben dürfe.3 Mario Jaramillo selbst sprach der Studie zu, dazu beizutragen, dass das kolumbianische »Volk seine ökonomische, kulturelle und biologische Rückständigkeit« überwinden werde. 4 Die Einigkeit bezüglich der Notwendigkeit, Verhütungsmittel zu verwenden, die in der Zeitung Occidente propagiert wurde, hatte jedoch ihre Grenzen. So verlangte der Erzbischof von Antioquia im Frühjahr 1967 in einem offenen Brief von der medizinischen Fakultät der staatlichen Universidad de Antioquia in Medellín eine Stellungnahme zu den Aktivitäten des Centro Piloto de Planificación Familiar. Er selbst bewertete dessen Aktivitäten als Angriff auf die ›Familienordnung‹ und damit auf die »Keimzelle der Gesellschaft«. Er warf den Verantwortlichen des Pilotprojektes auch vor, mit »unangemessenen und tendenziösen Fragen in die eheliche Intimität einzudringen«.5 Die Umfragestudien hatten also in besonders hohem Maße Empörung beim Bischof ausgelöst. Um ihre Durchführung zu verhindern, forderten katholische Würdenträger aus Antioquia sowohl in ihren Predigten als auch über Radiospots die Bevölkerung dazu auf, nicht auf die Fragen der Interviewerinnen zu antworten, woran sich vor allem zahlreiche Priester hielten, die für die Elitenstudie befragt werden sollten. Mario Jaramillo machte diese Kritik der katholischen Kirche zu seinem nächsten Forschungsgegenstand und publizierte einen Artikel über »Widerstand gegen Geburtenkontrolle« in Medellín in der US-amerikanischen

2 | Jaramillo Gómez, Mario: »Informe de la Primera Encuesta de Opinión a Dirigentes de Medellín sobre conocimientos, actitudes y comportamiento frente a los problemas demográficos y el control de natalidad«, in: ASCOFAME-DEP, Planificación Familiar, 1967, S. 379–431. 3 | Suarez Gonzalez, Ricardo: »Una Encuesta Demográfica«, in: Occidente, 11.11.1967. 4 | Jaramillo Gómez, Informe de la Primera Encuesta, 1967, S. 431. 5 | »El Arzobispo de Medellín Condena la Planificación«, in: El Tiempo, 01.03.1967.

1. Einleitung

Zeitschrift Demography, einem der wichtigsten Publikationsorgane der internationalen bevölkerungswissenschaftlichen Forschungsgemeinschaft.6 Über die Frage der ›Bevölkerungsexplosion‹ wurde in Kolumbien in den 1960er Jahren verhandelt, wie eine ›moderne‹ und ›entwickelte‹ kolumbianische Gesellschaft aussehen sollte. Die hier beispielhaft skizzierte sozialwissenschaftliche Forschung rund um die ›Fertilität‹ von Frauen und Männern aus Medellín und die Positionen, die verschiedene gesellschaftliche Gruppen gegenüber der ›demografischen Explosion‹ und ›Familienplanung‹ einnahmen, stehen im Mittelpunkt dieser Studie, die als transnationale Wissensgeschichte konzipiert ist. Sie analysiert die institutionellen und individuellen Produzenten und Produzentinnen des Wissens um Bevölkerung, Fertilität und Familienplanung in Kolumbien sowie deren Forschungspraxis. Sie begreift dieses Wissen als elementaren Bestandteil der gesellschaftlichen Debatten zu Familie, Gender, Sexualität, Entwicklung, Gesundheit und Ernährung, die prägend für die Zeit des Kalten Krieges in Kolumbien waren. Dabei handelte es sich nicht um rein nationale Debatten und Wissensproduktion. Vielmehr entstanden das Schreckgespenst ›Bevölkerungsexplosion‹ und das Interesse an wissenschaftlicher Forschung zu Fertilität und Familienplanung in transnationalen Expertenkreisen. Diese Studie untersucht, welchen Platz bevölkerungswissenschaftliche Argumente in diesen transnationalen gesellschaftlichen Auseinandersetzungen einnahmen und folgt dem Postulat der Wissensgeschichte, wonach die Analyse der Produktion, Zirkulation und politischen wie kulturellen Eingebundenheit von Wissen einen »privilegierten Zugang zur historischen Beschreibung von Gesellschaften«7 eröffnet. Wie sollten vermeintlich traditionelle und passive Menschen über den Eingriff in Familie und Sexualität in eigenverantwortlich agierende Subjekte transformiert werden? Welche wissenschaftlichen Kenntnisse wurden als objektives Wissen, auf dessen Grundlage Politik betrieben werden durfte, legitimiert und auf welche Weise und von wem wurden sie produziert? Welche Auseinandersetzungen wurden darum geführt? Wie funktionierte die transnationale Zusammenarbeit zwischen kolumbianischen und US-amerikanischen Wissensakteurinnen und -akteuren und wie wurde darin der ›imperiale Einfluss‹ der Vereinigten Staaten verhandelt? Diese hier zunächst nur angerissenen Fragenkomplexe leiten die vorliegende Analyse an. Die Antworten 6 | Jaramillo Gómez, Mario: »Medellín. A Case of Strong Resistance to Birth Control«, in: Demography, 5, 2, 1968, S. 811–826, hier: S. 814. Die Zeitschrift wird seit 1964 von dem US-amerikanischen Fachverband für Bevölkerungsforschung, der Population Association of America, herausgegeben. 7 | Speich Chassé, Daniel; Gugerli, David: »Wissensgeschichte. Eine Standortbestimmung«, in: Traverse, 1, 2012, S. 85–100, hier: S. 93.

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Bevölkerung, Fer tilität und Familienplanung in Kolumbien

darauf zeigen, dass die transnationale Bevölkerungsforschung einen zentralen Bestandteil des ›globalen Kalten Krieges‹ darstellte. Dies gilt mit Nachdruck auch für Lateinamerika und besonders für Kolumbien.8

1.1 E nt wicklungspolitik und ›B e völkerungsprobleme ‹ in K olumbien Nach der Gründung der Republik Kolumbien 1810 war die kreolische Elite des Landes darum bemüht, den Staat im Norden Südamerikas in den Reigen ›zivilisierter‹ und ›fortschrittlicher‹ Nationen einzuführen. Dabei dienten zunächst europäische Länder, vor allem Frankreich, im 20. Jahrhundert dann auch vermehrt die Vereinigten Staaten als Vorbild dafür, was als fortschrittlich galt, und als Kontrastfolien, vor denen die ›Defizite‹ Kolumbiens besonders deutlich hervorzutreten schienen. Ab dem späten 19. Jahrhundert war es zunehmend die raza, die in den elitären Diskursen mit eugenischen, rassen- und klimatheoretischen Argumenten als Ursache der wirtschaftlichen Rückständigkeit, fehlenden Industrialisierung und gesellschaftlichen Modernisierung Kolumbiens bezeichnet wurde.9 Den vermeintlichen Defiziten der kolumbianischen raza sollte mit europäischer Einwanderung oder mit verbesserter Bildung und Hygiene begegnet werden.10 Insbesondere Frauen, definiert als Mütter, gerieten in das Blickfeld der sozialreformerischen Akteure und Akteurinnen. Die Hygienik machte sie für die hohe Kindersterblichkeit verantwortlich, forderte, 8 | Zur Globalgeschichte des Kalten Krieges siehe Westad, Odd Arne: The Global Cold War. Third World Interventions and the Making of Our Times, Cambridge; New York: Cambridge Univ. Press 2005. 9 | Hier muss betont werden, dass der spanischsprachige Begriff der raza in Kolumbien im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert mit unterschiedlichen Bedeutungen belegt war. Im Singular wurde er synonym mit ›Bevölkerung‹ oder ›Volk‹ gebraucht, im Plural drückte er die Kategorisierung und Hierarchisierung unterschiedlicher Menschengruppen aus. Diese Kategorien transportierten nicht nur Vorstellungen über phänotypische und biologische Gemeinsamkeiten, sondern auch über kulturelle Eigenschaften. Vgl. Muñoz Rojas, Catalina: »Mas allá del problema racial. El determinismo geográfico y las ›dolencias sociales‹«, in: Dies. (Hg.): Los problemas de la raza en Colombia, Bogotá: Ed. Universidad del Rosario 2011, S. 14–17. 10 | Siehe hierzu z. B. García López, Claudia Mónica: »Clima, enfermedad y raza en la medicina colombiana del siglo XIX«, in: Hochman, Gilberto; Di Liscia, María Silvia; Palmer, Steven (Hg.): Patologías de la patria. Enfermedades, enfermos y nación en América Latina, Buenos Aires: Lugar Editorial 2012; Muñoz Gaviria, Diego Alejandro (Hg.): Educación, eugenesia y progreso. Biopoder y gubernamentalidad en Colombia, Medellín: Ed. UNAULA 2012.

1. Einleitung

dass sie in Mütterschulen zu erziehen seien, und sah sie in der nationalen Pflicht, zahlreiche und gesunde Bürger und Bürgerinnen heranzuziehen.11 Unumstritten war in diesen Elitendiskursen bis in die 1930er Jahre hinein die Annahme, dass für die Entwicklung der Nation auch die Quantität der Bevölkerung eine wichtige Rolle spiele und eine große und wachsende Bevölkerung positiv zu werten sei.12 In den 1940er Jahren begann sich diese Bewertung des Verhältnisses zwischen Bevölkerungswachstum und wirtschaftlicher Entwicklung umzukehren. Einer der ersten Texte, in dem eine Neubewertung des kolumbianischen Bevölkerungswachstums vorgenommen wurde, war der einflussreiche, als Basis eines Entwicklungsprogramms für Kolumbien betitelte Bericht, den der New-Deal-Ökonom Lauchlin Currie 1950 im Namen der Weltbank fertigstellte. Diese hatte auf Einladung der kolumbianischen Regierung ein Jahr zuvor eine Expertengruppe unter Curries Leitung nach Kolumbien entsandt, die die ›Entwicklungsprobleme‹ des Landes identifizieren und Vorschläge zu ihrer Lösung erarbeiten sollte. Insgesamt attestierte der Bericht Kolumbien ein großes Entwicklungspotenzial. Das Land sei reich an Energieressourcen und verfüge über exzellente Agrarflächen. Wirtschaftlicher Fortschritt habe in den vorangehenden zwanzig bis dreißig Jahren in zahlreichen Bereichen stattgefunden. Die ›dunkle Seite der Medaille‹ stelle hingegen der Zustand der ›Massen‹ dar. So seien die meisten Menschen schlecht gekleidet, unterernährt und ungebildet. Daher liege der Fokus des Berichts darauf, wie der Lebensstandard der Bevölkerung gehoben werden könne. Ob dies möglich sei, liege in erster Linie am Verhältnis der Größe des Bruttosozialprodukts zur Größe der Bevölkerung. Deren Wachstumsrate, die auf 2,15 Prozent pro Jahr geschätzt werden könne und vermutlich noch ansteigen werde, stelle langfristig die größte Sorge dar. Gutes Land und Kapital seien bereits gegenwärtig im Verhältnis zur Bevölkerung knapp, und eine steigende Bevölkerungswachstumsrate werde zu ernsthaften ökonomischen Problemen führen.13 11 | Vgl. Pedraza Gómez, Zandra: En cuerpo y alma. Visiones del progreso y la felicidad. Educación, cuerpo y orden social en Colombia (1830–1990), Bogotá: Ed. Uniandes 2011, S. 200f; Villegas Vélez, Álvaro Andrés: »Nación, intelectuales de elite y representaciones de degeneración y regeneración, Colombia, 1906–1937«, in: Iberoamericana, 7, 28, 2007, S. 7–24, hier: S. 17ff. 12 | Vgl. Pedraza Gómez, En cuerpo y alma, 2011, S. 139; Cadena Ruiz, Ana María: Proyectos sociopolíticos, poblacionales y familias. De las políticas de higiene al control a través del afecto. Colombia 1900–1999, Bogotá: Ed. Uniandes 2004, S. 17f. 13 | Currie, Lauchlin: The Basis of a Development Program for Colombia. Report of a Mission headed by Lauchlin Currie and sponsored by the International Bank for Reconstruction and Development in collab. with the Government of Colombia. Summary, Washington, D.C. 1950, S. 3f. Weder aus dieser Zusammenfassung des Berichts noch

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Bevölkerung, Fer tilität und Familienplanung in Kolumbien

Der Beschreibung der Kolumbianerinnen und Kolumbianer als schlecht gekleidet, unterernährt und ungebildet waren in den Notizen, die Lauchlin Currie während der Reise durch Kolumbien anfertigte, weitaus drastischere und auch rassistische Schilderungen vorausgegangen. So notierte er in seinen Reiseaufzeichnungen über die Provinzen Nariño und Cauca: »The country through which we drove […] is very thickly populated with practically purebred Indians, the most miserable and wretched looking people I have ever seen. In fact, the women look more like witches than human beings.« 14 Von diesen Menschen, denen er das Menschsein mit dieser Beschreibung absprach, gebe es im Verhältnis zu dem für sie verfügbaren Land deutlich zu viele, und es sei nicht abzusehen, dass diesem Problem durch »Geburtenkontrolle« begegnet werden könne. Wolle man nun Maßnahmen ergreifen, um ihre Gesundheit zu verbessern oder die Kindersterblichkeit zu verringern, so würde das nur zu noch mehr Menschen führen.15 Diese Argumentation zeigt exemplarisch, dass auch die vorgeblich rein quantitative Problematisierung von Bevölkerung, die nach dem Zweiten Weltkrieg und der damit einhergehenden Diskreditierung eugenischer Argumente aufgrund der Verbrechen des NS-Regimes dominierte, selten ohne qualitative Elemente auskam.16 Expertengruppen wie die der Weltbank um Lauchlin Currie erforschten ab den späten 1940er Jahren die ›Entwicklungsländer‹ Lateinamerikas, Asiens und Afrikas, definierten diese durch ihre Berichte als solche und entwickelten Reformvorschläge, die als ›Entwicklungshilfe‹ bekannt wurden. Die Fragen, wodurch sich ›unterentwickelte‹ und ›traditionelle‹ Länder auszeichneten und wie diese zu ›entwickeln‹ und zu ›modernisieren‹ seien, formten neue wissenschaftliche Disziplinen wie die Entwicklungsökonomie und Denkschulen wie die Modernisierungstheorie, zudem schufen sie zahlreiche Institutionen, Ex-

aus dem vollständigen Bericht geht hervor, wer diese Wachstumsrate auf welcher Datengrundlage berechnet bzw. geschätzt hatte. 14 | Currie, Lauchlin: Travel Notes on Trip to Departments of Nariño and Cauca, 21.08.1949: Duke University, Rare Book, Manuscript, and Special Collections Library (fortan: Duke RM&S), Lauchlin Bernard Currie Papers (fortan: LC), Box 33, S. 1f. 15 | Ebd., S. 4f. 16 | Vgl. Etzemüller, Thomas: Ein ewigwährender Untergang. Der apokalyptische Bevölkerungsdiskurs im 20. Jahrhundert, Bielefeld: transcript 2007, S. 110–139; Schultz, Susanne: Hegemonie – Gouvernementalität – Biomacht. Reproduktive Risiken und die Transformation internationaler Bevölkerungspolitik, Münster: Westfälisches Dampfboot 2006, S. 83f. Siehe hierzu auch das 2012 erschienene Themenheft »Eugenics after 1945« des Journal of Modern European History, in das Regula Argast einführt: Argast, Regula: »Eugenik nach 1945. Einführung«, in: Journal of Modern European History, 10, 4, 2012, S. 452–457.

1. Einleitung

pertentypen und Praktiken der Entwicklungshilfe.17 ›Entwicklung‹ und ›Modernisierung‹ wurden die Kernbegriffe, über die verhandelt wurde, wie sich globale Ungleichheit erklären ließ.18 In der Antrittsrede des US-amerikanischen Präsidenten Harry S. Truman vom 20. Januar 1949 formulierte er prominent, dass die erforderliche Entwicklung der Länder Afrikas, Asiens und Lateinamerikas durch US-amerikanisches Kapital, den Auf bau von Industrie zur Deckung von Grundbedürfnissen wie Kleidung, Wohnraum und Nahrung und durch ein bestimmtes Verhältnis zwischen den investierenden und zu entwickelnden Ländern zu bewerkstelligen sei. Das alte imperialistische Modell, in dem diese Länder für den Profit ausländischer Mächte ausgebeutet worden seien, habe in den neuen US-amerikanischen Plänen keinen Platz mehr. Die Armut der Menschen in Entwicklungsländern stelle, so Truman weiter, eine »Hürde und Bedrohung sowohl für sie selbst als auch für wohlhabendere Gebiete« dar. Aufgrund dessen kündigte er ein »mutiges neues Programm zur Verbesserung und zum Wachstum unter­entwickelter Gebiete« an, in dem diesen die »Vorteile der wissenschaftlichen Neuerungen und des industriellen Fortschritts« der USA zur Verfügung gestellt würden.19 Die Verbindung zwischen Armut und Bedrohung, die Truman hier konstruierte, blieb eine elementare Begründung der US-amerikanischen, aber auch der westeuropäischen und internationalen Entwicklungshilfe im Kalten Krieg. Das macht auch der Ursprung des Ordnungsbegriffs der ›Dritten Welt‹ deutlich, der sich in den 1960er Jahren als geopolitisches Sy­nonym für ›unterentwickelte Länder‹ verbreitete. Geformt hatte den Begriff 1952 der französische Demograf Alfred Sauvy. Er zog dabei eine Analogie mit dem Dritten Stand in der Französischen Revolution und prophezeite eine Revolte der ›Dritten Welt‹. Ihren größten gemeinsamen Nenner sah er bezeichnenderweise in einem steigenden Bevölkerungsdruck.20 17 | Die Begriffe ›Modernisierung‹, ›modern‹, ›traditionell‹, ›Entwicklung‹, ›Unterentwicklung‹, ›entwickelt‹ und ›unterentwickelt‹ zur Beschreibung von Gesellschaften werden in dieser Studie als Quellenbegriffe verstanden und verwendet, jedoch aus Gründen der Lesbarkeit nicht durchgehend als solche markiert. 18 | Zum Begriff der ›globalen Ungleichheit‹ vgl. Speich Chassé, Daniel: Die Erfindung des Bruttosozialprodukts. Globale Ungleichheit in der Wissensgeschichte der Ökonomie, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2013, S. 15. 19 | Truman, Harry S.: »Inaugural Address, January 20, 1949«, auf: http://www.truman library.org/whistlestop/50yr_archive/inagural20jan1949.htm (21.06.2017). 20 | Sauvy, Alfred: »Trois mondes, une planète«, in: L’Observateur, 14.08.1952, S. 14. Zu Sauvy und dem Begriff ›Dritte Welt‹ siehe Kalter, Christoph: Die Entdeckung der Dritten Welt. Dekolonisierung und neue radikale Linke in Frankreich, Frankfurt am Main: Campus 2011, S. 53–57. Zu der Bedeutungsverschiebung des Begriffs vgl. Fein, Seth: »New Empire into Old. Making Mexican Newsreels the Cold War Way«, in: Diplomatic His-

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War schon in den 1930er Jahren in immer mehr Studien vorausgesagt worden, dass die Weltbevölkerung in bisher unbekanntem Maße anwuchs, so zirkulierten ab den späten 1940er Jahren vor allem aus asiatischen Ländern vermehrt Zahlen, die alle bisherigen Schätzungen der Bevölkerungsgröße und Geburtenraten dieser Länder übertrafen und westliche Beobachter und Beobachterinnen alarmierten.21 Sichtbar gemacht wurde die ›Bevölkerungsexplosion‹ einerseits durch datenreiche Wachstumsvoraussagen, die die Vereinten Nationen ab 1946 jährlich publizierten, andererseits durch Erfahrungsberichte über den persönlichen Kontakt mit ›Überbevölkerung‹ im Stil Lauchlin Curries. Ab Mitte der 1950er Jahre betitelten die vielbemühten Metaphern der ›Bevölkerungsbombe‹ und ›Bevölkerungsexplosion‹ Bestseller, die entscheidend zur weltweiten Popularisierung des teils apokalyptischen Diskurses um Bevölkerungswachstum beitrugen.22 Ebenfalls in den 1950er Jahren formierte sich dann rund um die Definition von Bevölkerungswachstum in unterentwickelten Ländern als Entwicklungs- und Sicherheitsproblem eine wirkmächtige Gruppe aus vor allem ›weißen‹ männlichen US-amerikanischen wissenschaftlichen und philanthropischen Akteuren, die z. B. für die Ford Foundation oder die 1952 gegründete Organisation Population Council arbeiteten. Diese ›Bevölkerungsbewegung‹, zu der sie sich deklarierten, oder das population establishment, wie ihre Kritiker und Kritikerinnen sie bald bezeichneten, förderte den Auf bau von Instituten für Bevölkerungsforschung, finanzierte Forschungen zu Verhütungsmitteln und setzte sich dafür ein, dass Programme zu ›Geburtenkontrolle‹ und ›Familienplanung‹ in den Ländern Asiens, Afrikas und Lateinamerikas aufgebaut wurden.23 Den interventionistischen Ansatzpunkt von Familienplanungsprogrammen, aber auch der technischen Entwicklung tory, 28, 5, 2004, S. 703–748, hier: S. 711. Laut Fein wurde der Begriff in den 1950er Jahren primär verwendet, um eine neutrale Sphäre außerhalb der Ersten und der Zweiten Welt, d. h. außerhalb der Einflusszone der USA und der Sowjetunion, zu bezeichnen. Erst in den 1960er Jahren wurde er zu einem Synonym für Unterentwicklung. 21 | Die Geburtenrate eines Landes wird als Geburten pro tausend Einwohner und Einwohnerinnen pro Jahr gemessen. 22 | Das bekannteste Beispiel ist: Ehrlich, Paul R.: The Population Bomb, New York: Ballantine Books 1968. Das Buch wurde in den USA in den ersten drei Monaten nach Erscheinen eine Million Mal verkauft. Doch auch ein bereits 1954 unter demselben Titel veröffentlichtes Pamphlet der Stiftung des US-amerikanischen Unternehmers Hugh Moore war bis 1967 bereits eineinhalb Millionen Mal gedruckt worden. Vgl. Robertson, Thomas: The Malthusian Moment. Global Population Growth and the Birth of American Environmentalism, New Brunswick NJ; London: Rutgers Univ. Press 2012, S. 171; 88. 23 | Siehe zu der genannten Selbst- und Fremdbezeichnung u. a. Harkavy, Oscar: Curbing Population Growth. An Insider’s Perspective on the Population Movement, New York: Plenum Press 1995; Mass, Bonnie: »The Population Control Establishment«, in: Dies.,

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neuer Verhütungsmittel, bildeten die Körper und das Verhalten von Frauen aus Entwicklungsländern und deren ›reproduktives Verhalten‹, wie es im bevölkerungswissenschaftlichen Jargon hieß. Die Notwendigkeit, dieses Verhalten zu ändern, wurde von der wirkmächtigen Theorie des demografischen Übergangs untermauert, die Ende der 1940er Jahre von Demografen und Demografinnen des Office of Population Research an der Princeton University formuliert worden war. Im Kern besagte die Theorie, dass in modernen Gesellschaften, also vor allem in Europa und den USA, zuerst die Sterberate, dann mit Verspätung die Geburtenrate gesunken war, wodurch es in der Zeitspanne dazwischen zu starkem Bevölkerungswachstum gekommen war. Diese historische Analyse verwandelten die Demografen und Demografinnen in eine allgemeingültige Entwicklungstheorie, mit der sie den unterentwickelten Ländern ihrer Gegenwart einen parallelen demografischen Ablauf prognostizierten. Doch deren Phase großen Bevölkerungswachstums, darin waren sich die Bevölkerungswissenschaftler und -wissenschaftlerinnen einig, galt es, mit Hilfe von Familienplanungsprogrammen zu verkürzen. Ab den 1950er Jahren wurden derlei Programme zunehmend von Regierungen in Entwicklungsländern implementiert, die ihre Bemühungen, mit Planungsinstrumentarien die Wirtschaftsleistung ihrer Länder zu steigern, durch das Wachstum ihrer Bevölkerungen bedroht sahen. Finanziert wurden diese Programme in den 1960er Jahren nicht länger ausschließlich von privaten Gebern und Geberinnen wie den philanthropischen Stiftungen, sondern auch von internationalen Organisationen und staatlichen Entwicklungshilfebehörden. So unterstützte beispielsweise die 1961 von Präsident John F. Kennedy gegründete United States Agency for International Development (USAID) ab 1965 Regierungen der ›Dritten Welt‹ beim Auf bau von Familienplanungsprogrammen und wurde in den folgenden Jahren der weltweit größte Geldgeberin in diesem Bereich.24 Der Chirurg und USAID-Berater Edgar Berman begründete 1965 diese neue Priorität der Behörde folgendermaßen: Der Regierung der Vereinigten Staaten sei klargeworden, dass ihre Ziele im Bereich der Entwicklungshilfe durch die Bevölkerungswachstumsraten torpediert würden. Entwicklungshilfe wiederum stelle einen Grundpfeiler der US-amerikanischen Außenpolitik dar und sei von zentraler Bedeutung für die nationale Sicherheit der USA und den Weltfrieden. Die politische Instabilität von Entwicklungsländern lasse sich mit der simplen Formel Bevölkerungswachstumsrate geteilt durch ökonomische und soziale Entwicklung berechnen. Diese Berechnung gelte Population Target, 1976, S. 45–70. Konträr zu Mass’ Titel setzte sich die Kurzform population establishment in der kritischen Literatur durch. 24 | Vgl. Ravenholt, Reimert T.: »The A.I.D. Population and Family Planning Program. Goals, Scope, and Progress«, in: Demography, 5, 2, 1968, S. 561–573, hier: S. 561.

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genauso für die Dominikanische Republik wie für Brasilien, sei für Vietnam so überzeugend wie für Indien.25 Der Verweis auf außenpolitische Interessen und die innere Sicherheit der USA sowie die Auswahl der Länder, die Berman beispielhaft heranzog – in die Dominikanische Republik waren erst im April 1965 US-amerikanische Truppen einmarschiert, während gleichzeitig die Kontingente in Vietnam kontinuierlich erhöht wurden –, zeigen die genannte enge Verzahnung zwischen Entwicklungs- und Sicherheitspolitik im Kalten Krieg. In Lateinamerika manifestierte sich diese Verbindung in der 1961 ausgerufenen Allianz für den Fortschritt, einem umfangreichen Entwicklungshilfeprogramm für die lateinamerikanischen Länder, mit dem die Vereinigten Staaten auf die kubanische Revolution von 1959 reagierten. Zu den Ländern, in denen USAID den Auf bau staatlicher Familienplanungsprogramme förderte, gehörte auch Kolumbien, für das ab den frühen 1960er Jahren eine Bevölkerungswachstumsrate von über 3 Prozent zirkulierte, die als eine der höchsten der Welt galt. So finanzierte die Organisation die Fortbildung von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern staatlich betriebener Gesundheitszentren in Methoden der Familienplanung, die ab 1966 von der Abteilung für Bevölkerungsforschung des kolumbianischen Verbandes medizinischer Fakultäten (Asociación Colombiana de Facultades de Medicina, División de Estudios de Población, kurz ASCOFAME-DEP) durchgeführt wurden. Familienplanung wurde damit ein Element der Programme des kolumbianischen Gesundheitsministeriums für Mutter-Kind-Gesundheit. Das eingangs beschriebene Forschungsprojekt am Centro Piloto de Planificación Familiar in Medellín diente vor diesem Hintergrund dem Nachweis, dass seitens zahlreicher kolumbianischer Frauen Interesse und Bedarf an solchen Programmen bestehe. Im gleichen Jahr unterzeichnete der liberale Präsident Kolumbiens, Carlos Lleras Restrepo, als eines von zwölf Staatsoberhäuptern und als einziger Lateinamerikaner eine Erklärung der Vereinten Nationen zu ›Bevölkerung‹,

25 | Berman, Edgar: »Population and Foreign Policy«, in: United States Senate, Population Crisis Hearings 3B, 1966, S. 1705–1710. Die Aussagen hatte Edgar Berman im März 1965 in einem Vortrag zu ›Bevölkerung und Außenpolitik‹ im Rahmen der ›Dritten Konferenz zu Bevölkerungsproblemen‹ an der University of Notre Dame getroffen. Abgedruckt wurde der Vortrag ein Jahr später im Rahmen von Anhörungen zur ›Bevölkerungskrise‹ im US-amerikanischen Senat. Gemeinsam mit anderen Vorträgen der Konferenz wurde er von dem Kongressabgeordneten John Brademas aus Indiana als Beleg für die herausragende Forschung zu den Bevölkerungsproblemen Lateinamerikas an der University of Notre Dame herangezogen. Brademas war wiederum geladen worden, um von der Primera Asamblea Panamericana de Población zu berichten, die im August in Cali, Kolumbien stattgefunden hatte.

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in der Familienplanung als Menschenrecht und Bevölkerungswachstum als Entwicklungshindernis und Sicherheitsrisiko bezeichnet wurden.26 Am International Population Program der Cornell University, dem unter anderem der in Medellín forschende Robert B. Hartford angehörte, wurden diese Aktivitäten mit Begeisterung verfolgt. Niemand habe vorhersehen können, dass ausgerechnet das als besonders katholisch bekannte Kolumbien das Bevölkerungsproblem offiziell anerkennen und zum regionalen Vorreiter in Sachen Bevölkerungspolitik und Familienplanung avancieren würde.27 Diese Pionierrolle passt jedoch zu den engen politischen Beziehungen, die in den 1960er Jahren zwischen Kolumbien und den USA bestanden, und zu der Bereitschaft Kolumbiens, stets das erste »Versuchskaninchen« für die »Experimente der internationalen Entwicklungsgemeinschaft« zu sein, wie es der Anthropologe Arturo Escobar pointiert formuliert hat.28 Konkret muss die Bevölkerungspolitik der 1960er Jahre im Kontext der Allianz für den Fortschritt betrachtet werden, von deren Geldern Kolumbien überproportional profitierte. Vor allem die Versuche seitens der Allianz, mehr Kolumbianerinnen und Kolumbianern Zugang zu staatlicher Bildung, Gesundheitsversorgung und urbanem Wohnraum zu verschaffen, sahen die Befürworter und Befürworterinnen von Familienplanung durch das schnelle Bevölkerungswachstum gefährdet. Gleichzeitig wurden auch gewalttätige Auseinandersetzungen und revolutionäre Umtriebe auf den ›Bevölkerungsdruck‹ zurückgeführt. Kolumbien wurde in dieser Dekade von einem Bündnis der Liberalen und Konservativen Partei, dem sogenannten Frente Nacional, regiert. Im Frente Nacional, legitimiert durch eine Volksabstimmung, wurden alle politischen Ämter in Kolumbien paritätisch mit Mitgliedern der beiden ›Traditionsparteien‹ besetzt, wechselten sich liberale und konservative Präsidenten ab und waren dritte Parteien formal von politischer Repräsentation ausgeschlossen. Diesen Pakt hatten die beiden ›Traditionsparteien‹, die seit dem 19. Jahrhundert die Regierungen Kolumbiens stellten und wiederholt Bürgerkriege gegeneinander geführt hatten, 1958 für sechzehn Jahre geschlossen. Er sollte dem vorhergehenden Bürgerkrieg, der Violencia (1948–1962), ein Ende bereiten, um das Land gemeinsam zu modernisieren, zu entwickeln und zu demokratisieren, ohne die Privilegien der Eliten zu gefährden, für die beide Parteien 26 | Vgl. »Declaration on Population«, in: Studies in Family Planning, 1, 16, 1967, S. 1. 27 | Vgl. International Population Program, Cornell University: Latin American Newspaper Coverage of Population and Family Planning, Nr. 2, Mai 1967. Colombia 1967 – Birth Control Becomes of Age, Ithaca NY: Cornell University Library, Division of Rare and Manuscript Collections (fortan: Cornell R&M), J. Mayone Stycos Papers, #21-33-3171 (fortan: JMS), Box 11, Folder 26. 28 | Escobar, Arturo: Encountering Development. The Making and Unmaking of the Third World, Princeton NJ: Princeton Univ. Press 1995, S. 131.

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einstanden. Um diese Ziele zu erreichen, propagierten sie einen technokratischen Reform- und Planungsstil, der sich als hochgradig kompatibel mit den Ansätzen der Entwicklungshilfe der Regierungen von John F. Kennedy (1961– 1963) und Lyndon B. Johnson (1963–1969) erwies. Auch auf militärischer und sicherheitspolitischer Ebene arbeiteten die vehement antikommunistischen Regierungen des Frente Nacional eng mit den Vereinigten Staaten zusammen. Das gilt sowohl für ihr Agieren innerhalb der Organisation Amerikaner Staaten als auch im Kampf gegen die Mitte der 1960er Jahre in Kolumbien gegründeten Guerillagruppen wie die anfangs eng mit der Kommunistischen Partei Kolumbiens verbundenen Fuerzas Armadas Revolucionarias de Colombia (FARC) und die an Che Guevaras Fokustheorie orientierte Ejército Liberal Nacional (ELN). Unter den Regierungen des Frente Nacional nahmen wirtschafts- und sozialwissenschaftliche Berater und Beraterinnen zunehmend die Funktionen ein, die in Kolumbien bis dahin in erster Linie von Juristen und Juristinnen ausgefüllt worden waren. Ihre Kenntnisse und Methoden waren bei der Implementierung von Planungsinstrumenten und für die Aus- und Weiterbildung des Personals zahlreicher neuer staatlicher Behörden wie z. B. dem Instituto Colombiano de Reforma Agraria unerlässlich. Die neue Rolle, die diese Disziplinen spielten, spiegelt sich auch in der Gründung von Universitäten wie der privaten Universidad de los Andes in Bogotá (1948) und einzelner Fakultäten wie der Fakultät für Soziologie an der staatlichen Universidad Nacional (1959) wider. Mit Institutionen wie diesen standen ab den späten 1950er Jahren auch die US-amerikanischen Organisationen in Verbindung, die sich dem Auf bau von Bevölkerungsforschung in Entwicklungsländern verschrieben hatten, wobei für Kolumbien die Rocke­feller Foundation, der Population Council und die Ford Foundation maßgeblich waren. Die engste Zusammenarbeit mit den US-amerikanischen Organisationen bestand seitens der bereits erwähnten interdisziplinären Abteilung für Bevölkerungsforschung des kolumbianischen Verbandes medizinischer Fakultäten, die von 1964 bis 1973 existierte. In diesen neun Jahren verfügte die Abteilung über sehr hohe Summen, führte zahlreiche Forschungsprojekte durch, gründete Familienplanungsprogramme, betrieb Lobby- und Öffentlichkeitsarbeit und entfaltete Wirkung weit über Kolumbien hinaus. Diese Aktivitäten endeten jedoch ebenso schnell wie sie begonnen hatten. Der Auf- und Abstieg der Bevölkerungsforschung bildet daher geradezu paradigmatisch die Kurzlebigkeit zahlreicher mit viel Optimismus begonnener und ebenso großer Ernüchterung beendeter Programme aus der ›Entwicklungsdekade‹ der 1960er Jahre ab. Wie die vorliegende Untersuchung zeigen wird, greift eine Perspektive, die Bevölkerungsforschung als Ergebnis eines imperial agierenden, in den USA verankerten population establishment fasst, jedoch zu kurz. Das Interesse an

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Bevölkerungsforschung zu Kolumbien entstand in vielfältigen transnationalen Zusammenhängen, und die inhaltliche und methodische Ausgestaltung der Forschungsprojekte war sehr viel breiter und vielschichtiger, als es mit solch einer Perspektive erfasst werden kann. Dem wird in dieser Untersuchung nicht zuletzt damit Rechnung getragen, dass die Vorläufer der bevölkerungswissenschaftlichen Forschungseinrichtungen der 1960er Jahre in den USA und Kolumbien bis in die 1930er Jahre zurückverfolgt werden. Mitte der 1970er Jahre kam es zu einem Umbruch in der inhaltlichen Ausrichtung, der finanziellen Ausstattung und der institutionellen Verankerung der Bevölkerungswissenschaften in beiden Ländern, weshalb dorthin das Ende des Untersuchungszeitraums gelegt wird.29

1.2 F r agestellung und erste Thesen Diese Studie historisiert das Wissen rund um die Fragen, wie viele Kinder kolumbianische Frauen und Männer bekamen, weshalb und wie sie verhüteten und wie sie sich dazu motivieren ließen, mehr und modernere Verhütungsmittel zu verwenden. Sie folgt dabei dem Ansatz der Wissensgeschichte, wie er im deutschsprachigen Raum seit den frühen 2000er Jahren mit unterschiedlichen Schattierungen programmatisch formuliert worden ist.30 Disziplinär verorten lässt sich die Wissensgeschichte nach Jakob Vogel als die Verbindung von wissenschaftshistorischen Ansätzen und Theorien mit der »allgemeinen Geschichte«.31 Die Wissensgeschichte grenzt sich also von der engen thematischen und institutionellen Anbindung an die jeweils zu historisierenden Disziplinen ab, die die Wissenschaftsgeschichte kennzeichnet, und greift gleichzeitig auf deren theoretische Impulse zurück, um die »fundamentale soziale und kulturelle Bedingtheit des wissenschaftlichen Wissens« herauszuarbeiten. So versteht sich auch diese Untersuchung nicht als eine Geschichte der 29 | Zudem endete 1974 die letzte formale Präsidentschaft des Frente Nacional. In diesem Jahr übernahm mit Alfonso López Michelsen ein liberaler Politiker das Amt, der die außenpolitische Anbindung an die Vereinigten Staaten deutlich lockerte. 30 | Vgl. Speich Chassé; Gugerli, Wissensgeschichte, 2012; Sarasin, Philipp: »Was ist Wissensgeschichte?«, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur, 26, 1, 2011, S. 159–172; Vogel, Jakob: »Von der Wissenschafts- zur Wissensgeschichte. Für eine Historisierung der ›Wissensgesellschaft‹«, in: Geschichte und Gesellschaft, 30, 4, 2004, S. 639–660; Landwehr, Achim: »Das Sichtbare sichtbar machen. Annäherungen an ›Wissen‹ als Kategorie historischer Forschung«, in: Ders. (Hg.): Geschichte(n) der Wirklichkeit. Beiträge zur Sozial- und Kulturgeschichte des Wissens, Augsburg: Wißner 2003, S. 61–89. 31 | Vogel, Von der Wissenschafts- zur Wissensgeschichte, 2004, S. 650.

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Demografie oder Bevölkerungsforschung; sie analysiert vielmehr, von wem und auf welche Weise Wissen zu Bevölkerung, Fertilität und Familienplanung in Kolumbien produziert wurde, und analysiert darüber die Modi und Machtverhältnisse in der Entwicklungshilfe im Kalten Krieg, in den US-amerikanisch-kolumbianischen Beziehungen und im gouvernementalen Verhältnis zwischen Staat und Staatsbürgerinnen und -bürgern im Frente Nacional. Philipp Sarasin zufolge hat die Geschichtswissenschaft drei Möglichkeiten, historische Zusammenhänge zu fassen: ausgehend von der Politik und den damit verbundenen Machtzusammenhängen, ausgehend von gesellschaftlichen Gruppen als »Antriebs- und Bewegungsmoment« der Geschichte oder ausgehend von den unterschiedlichen Wissens- und Glaubenssystemen als »organisierendes Zentrum des Zusammenhang [sic] zwischen Menschen, ihren Handlungen und ihren Artefakten«.32 Wissen soll folglich nicht auf seinen Wahrheitsgehalt und Nutzen geprüft werden, sondern es gilt, umfassend danach zu fragen, »wie, wann und […] warum ein bestimmtes Wissen auftaucht – und wieder verschwindet«.33 Dem liegt die Annahme zugrunde, dass Wissen als historisch wandelbar und gesellschaftlich konstruiert zu fassen ist. Demzufolge lässt sich das, was Vogel schlicht als »allgemeine Geschichte« betitelt, mit der sich die Wissenschaftsgeschichte seiner Konzeption zufolge in der Wissensgeschichte trifft, klar als kulturhistorische Geschichtsschreibung fassen. Die Neue Kulturgeschichte, wie sie seit den 1980er Jahren geschrieben wird, verfolgt das Ziel, die Vergangenheit daraufhin zu befragen, mit welchen Mustern und in welchen Kategorien Menschen sich und ihre Umgebung wahrnahmen, deuteten und mit Sinn belegten.34 Für die Untersuchung von Wissen führt das zu der Fragestellung, wie »Gesellschaften ihre Wirklichkeit mit Bedeutungen belegen und symbolisch aufladen, diese Wirklichkeit in Form von Wissensbeständen hervorbringen und akzeptieren«.35 Achim Landwehr begreift Wissen dabei als »ein Ensemble von Ideen […], das Objekte mit bestimmten Eigenschaften versieht und von einer sozialen Gruppe als gültig und real anerkannt wird«.36 Eine konkrete Annäherung an derlei verstandenes Wissen erfolgt auf verschiedenen Pfaden. Es 32 | Sarasin, Was ist Wissensgeschichte, 2011, S. 163. 33 | Ebd., S. 165. Landwehr formuliert eine ähnliche Fragefolge: »Wo, wie und von wem wird welches Wissen produziert?« Landwehr, Das Sichtbare sichtbar machen, 2003, S. 72. 34 | Siehe hierzu grundlegend und einführend Daniel, Ute: Kompendium Kulturgeschichte. Theorien, Praxis, Schlüsselwörter, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2006; Landwehr, Achim: »Kulturgeschichte, Version 1.0«, 2013, auf: http://docupedia.de/zg/Kul turgeschichte (21.06.2017). 35 | Landwehr, Das Sichtbare sichtbar machen, 2003, S. 72. 36 | Ebd., S. 71.

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wird unter anderem nach den Akteuren und Akteurinnen gefragt, die an der Produktion und Zirkulation von Wissen beteiligt sind, nach der institutionellen und räumlichen Verortung von Wissen, nach den gesellschaftlichen Funktionen, die es erfüllt, sowie nach den Kategorisierungen, die es hervorbringt. Im Hinblick auf die Akteure und Akteurinnen sollte nach Sarasin das »gesamte Personal, das sich in der Moderne mit Wissen beschäftigt«, sowie das »Publikum«, das dieses Wissen rezipiert und sich aneignet, als das bezeichnet werden, »was man als Sozialhistoriker die ›Gesellschaft‹ nannte«. Die Wissensgeschichte befasst sich demzufolge nicht mit bestimmten Personengruppen, zum Beispiel Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen, sondern begreift alle Menschen als Wissensakteure und -akteurinnen. Das führt zu der Frage, »wie und unter welchen Bedingungen Menschen zu Subjekten eines bestimmten Wissens« und »Akteure und Aktanten […] der Sinnproduktion« werden. Sozialhistorische Merkmale historischer Personen bezeichnet er als ungenügend für die Erklärung ihrer gesellschaftlichen Rollen und Machtpositionen: »Denn das Wissen, über das sie sich dabei definieren, wird kaum in Betracht gezogen – das Wissen, das von anderen als ›wahr‹ oder ›wertvoll‹ qualifiziert wird und genau damit die Verkopplung von Wissen und Macht erzeugt – und so auch zu deren Verstetigung in sozialen Positionen führt.«37 Die in dieser Studie untersuchten Akteure und Akteurinnen waren auf vielfältige Art und Weise an der Produktion und Zirkulation von Wissen über Bevölkerung, Fertilität und Familienplanung in Kolumbien beteiligt. Sie beantworteten Fragen, stellten Fragen, zeichneten Stadtpläne, berechneten Durchschnitte, archivierten Daten, konzipierten Forschungsprojekte, stellten Anträge, gaben Mittel frei und publizierten Auswertungen, Analysen und Interpretationen. Sie brachten aber auch Kinder zur Welt, leisteten Geburtshilfe und versorgten Säuglinge, fütterten und maßen Kleinkinder, schluckten hormonelle Kontrazeptiva und setzten Spiralen ein. Auch schrieben sie Zeitungsartikel, führten parlamentarische Debatten, verfassten und lasen Predigten. Die professionellen Produzenten und Produzentinnen von Wissen waren ganz unterschiedlichen Berufsfeldern und wissenschaftlichen Disziplinen zugeordnet, die teils über die Produktion des hier untersuchten Wissens erheblich an Bedeutung, Prestige und Kontur gewannen. Hier sind unter anderem Mediziner und Soziologinnen, Krankenschwestern und Statistiker, Sexualforscherinnen und Ökonomen zu nennen. Abhängig waren sie bei ihrer Forschung alle von den Frauen und Männern, die in ihren Häusern, in Kliniken und Gesundheitszentren auf Fragen über Fragen antworteten. An der Rezeption und Zirkulation des Wissens wiederum waren gleichermaßen Priester und Journalistinnen, Studentinnen und Parlamentarier beteiligt.

37 | Sarasin, Was ist Wissensgeschichte, 2011, S. 169.

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Die genannten Akteure und Akteurinnen werden in den folgenden Kapiteln unterschiedlich ausführlich beleuchtet werden. Die Produzenten und Produzentinnen des Wissens, die an wissenschaftliche Institutionen angebunden waren, nehmen eine privilegierte Position ein. Die Untersuchung wird zeigen, wie sie in den USA, in Kolumbien und in internationalen Organisationen über das Wissen zu Bevölkerung, Fertilität und Familienplanung Karrieren auf bauen, hochdotierte Stellen erlangen und ein Leben führen konnten, das sie in Beratungsfunktionen oder als Vortragende auf Konferenzen durch die ganze Welt führte. Aufgrund ihrer hegemonialen Position im Prozess der Wissensproduktion sind sie es, deren Quellen in institutionellen Archivbeständen und individuellen Nachlässen überliefert sind. Diese Expertenfiguren erhielten wissenschaftliche Anerkennung, waren als Politikberater und -beraterinnen gefragt und stark in den Medien präsent. Sie waren es, die mit Deutungsmacht ausgestattet waren, Bevölkerungsprobleme als solche zu definieren. In diesem Prozess lassen sich jedoch Momente des Widerstands und Scheiterns herausarbeiten, indem die Schriften, Korrespondenzen und Forschungsnotizen der Experten und Expertinnen nach Fissuren, Kritik und Widersprüchen befragt werden. Diese Analyse legt so auch die Perspektiven und das Agieren weniger priviligierter Wissensakteure und -akteurinnen offen. Die Frage nach der räumlichen und institutionellen Verortung der Bevölkerungsforschung führt an US-amerikanische und kolumbianische Universitäten, zu privaten Stiftungen und Forschungsinstituten, zu transnationalen Wissenschaftsverbänden und Unterorganisationen der Vereinten Nationen. Sie führt aber auch in viele kolumbianische Städte und Dörfer, deren Wohnhäuser und Gesundheitszentren. Wie einführend bereits skizziert wurde, wird diese Studie im Hinblick auf die Institutionen zeigen, dass sowohl in den USA als auch in Kolumbien im Zuge der Problematisierung von Bevölkerungswachstum und der Suche nach Möglichkeiten, die Geburtenrate zu senken, zahlreiche Forschungsinstitute gegründet wurden. Hinsichtlich der räumlichen Verortung der Bevölkerungsforschung entfaltete sich, wenn die Produktion wie auch die Zirkulation in den Blick genommen werden, ein weitverzweigter transnationaler Raum, in dem das Wissen wirkte. So wurden z. B. Daten über die durchschnittliche ideale Kinderzahl kolumbianischer Frauen in Bogotá erhoben, in Santiago de Chile ausgewertet, in New York und Indiana auf Konferenzen präsentiert, an der Cornell University in Form von Lochkarten gelagert und an der University of Chicago kodiert. Auf einer internationalen Konferenz in Genf mit Delegierten aus 36 Ländern wurden sie zudem mit Daten aus Ghana, Tunesien, Korea, Taiwan, Thailand und der Türkei verglichen.38 38 | Alle hier genannten ›Stationen‹ wurden von den Daten aus der sogenannten Vergleichenden Fruchtbarkeitsstudie von 1963 durchlaufen, die das den Vereinten Nationen zugehörige Centro Latinoamericano y Caribeño de Demografía (CELADE) mit Sitz

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Mit Blick auf die gesellschaftlichen Funktionen von Wissen, die es historisch zu untersuchen gilt, fordert Landwehr unter anderem dazu auf, nach der »Integrationsfähigkeit des Wissens für eine soziale Ordnung« zu fragen.39 Bezüglich dieser Fähigkeit von Wissen, eine soziale Ordnung zu stabilisieren, wird diese Studie folgendermaßen argumentieren: Zahlreiche der hier untersuchten Wissensträger und -trägerinnen vertraten die Auffassung, dass das schnelle Bevölkerungswachstum in Kolumbien die Ursache ökonomischer und gesellschaftlicher Probleme war, die von unzureichender Industrialisierung und gescheiterter Landreform bis hin zu fehlender Bildung und Unterernährung reichten. Damit – so der in dieser Argumentation angelegte Zirkelschluss – perpetuiere sich die Reproduktion eines defizitären und potenziell gewalttätigen ›Humankapitals‹, das wiederum ungeeignet sei, diese Entwicklungsprobleme zu bewältigen. Zahlreiche Themen, um die in den 1960er Jahren heftige Kämpfe geführt wurden, wie der Zugang zu Land, wurden hier also als biologisches Problem definiert, das es mit Familienplanungsprogrammen technisch zu lösen galt. Zudem sollten Kolumbianerinnen und Kolumbianer durch die Teilnahme an diesen Programmen modernisiert und zu eigenverantwortlichen, sich selbst regierenden Subjekten erzogen werden. Die ›soziale Ordnung‹ des Frente Nacional in seiner Verwobenheit mit der Allianz für den Fortschritt, in der ›Entwicklung‹, ›Modernisierung‹ und ›Demokratisierung‹ vorangetrieben werden sollten, ohne die privilegierte Position der Eliten, die Ausbreitung einer kapitalistischen Wirtschaftsweise und den Einfluss der Vereinigten Staaten infrage zu stellen, wurde von dem Wissenskomplex Bevölkerungswachstum und Familienplanung also massiv gestärkt. Achim Landwehr fordert, sich bei wissenshistorischen Analysen auf die »Kategorisierungen zu konzentrieren, die im und mit dem Wissen am Werk sind«, d. h. die »Einteilungen, Grenzziehungen, Differenzierungen, Inklusionen und Exklusionen« in den Fokus der jeweiligen Untersuchung zu stellen und darin den »zentralen[n] empirische[n] Ansatzpunkt für eine Geschichte des Wissens zu sehen«. 40 Diese Studie vertritt die These, dass die Forschung zu den Familienidealen und Verhütungspraktiken kolumbianischer Frauen und Männer in hohem Maße daran beteiligt war, die Ordnungskategorien ›Tradition‹ und ›Moderne‹ herzustellen und zu festigen. So definierten die Studien aufgrund der Fragen, die in den Interviews gestellt wurden, beispielsweise, dass moderne Frauen erwerbstätig waren, moderne Männer Verantwortung in Santiago de Chile in Kooperation mit dem International Population Program (IPP) der Cornell University durchführte. Siehe hierzu Huhle, Teresa: »Contested Survey Data. Interpreting Colombian Women’s Family Ideals in the Early Sixties«, in: Contemporanea, 2015, S. 474–479. 39 | Landwehr, Das Sichtbare sichtbar machen, 2003, S. 73. 40 | Ebd., S. 70; 86.

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für ihre Kinder übernahmen, moderne Ehepaare Sexualität und Reproduktion voneinander trennten und moderner ehelicher Sex beiden Seiten Lust brachte. Hier kann an Überlegungen zur Rolle der Sozialwissenschaften angeknüpft werden, in denen herausgearbeitet wurde, in welch großem Maße die »Beo­ bach­tung des Sozialen zu dessen Herstellung bei[trägt]: Sie stellt Narrative, Semantiken und Visualisierungen für die Verständigung über das Soziale zur Verfügung«. So nehmen die Sozialwissenschaften eine »Position des Beobachters, der gleichzeitig soziale Realitäten schafft […], ein«. 41 Die Beschäftigung mit den Interviewfragen, die Bandbreite der darin angesprochenen Themen und die ihnen inhärenten Ordnungsvorstellungen zeigen auch, wie lohnend eine Analyse des Wissens ist, die nicht ideengeschichtlich ans Werk geht, sondern den »practical turn« der Wissenschaftsgeschichte aufgreift, diesen auch auf die Sozialwissenschaften anwendet und den analytischen Fokus auf die Produktion von Wissen legt. 42 So werden auch die Ausbildung der an den Fertilitätsstudien beteiligten Personen sowie die Techniken der Interviewführung, Datensammlung und -auswertung analysiert und auf ihre gouvernementalen Effekte befragt. Die Regulierung der Bevölkerung war der Schlüssel einer modernen Regierungslogik und konnte nur durch die problematisierten Subjekte selbst umgesetzt werden. Wie diese Logik das Denken der Bevölkerungsforscher und -forscherinnen prägte, verdeutlicht die folgende Formulierung in einer Antragsbegründung eines Mitarbeiters der Ford Foundation 1964: »[…] [T]he people of the country must be enabled to limit their families in size in order to provide them with the possibility and the stimulus to improve themselves socially and economically through their own initiative.« 43

41 | Reinecke, Christiane; Mergel, Thomas: »Das Soziale vorstellen, darstellen, herstellen. Sozialwissenschaften und gesellschaftliche Ungleichheit im 20. Jahrhundert«, in: Dies., Das Soziale ordnen, 2012, S. 7–30, hier: S. 8f. Siehe hierzu grundlegend Lutz Raphaels Konzept der »Verwissenschaftlichung des Sozialen« sowie den Sammelband von Kerstin Brückweh et al., in dem auf das Konzept umfassend Bezug genommen wird: Raphael, Die Verwissenschaftlichung des Sozialen, 1996; Brückweh, Kerstin et al. (Hg.): Engineering Society. The Role of the Human and Social Sciences in Modern Societies, 1880–1980, Basingstoke: Palgrave Macmillan 2012. Zur Rolle der empirischen Sozialwissenschaften für die »Professionalisierung und Institutionalisierung von Entwicklung« in Kolumbien siehe Escobar, Arturo: »The Professionalization and Institutionalization of ›Development‹ in Colombia in the Early Post-World War II Period«, in: International Journal of Educational Development, 9, 2, 1989, S. 139–154. 42 | Vgl. Speich Chassé; Gugerli, Wissensgeschichte, 2012, S. 92f. 43 | Zschock, Dieter: Justification and Preliminary Proposal of a Ford Foundation Grant in Demography and Population Studies in Colombia, New York, Bogotá, Okt. 1964:

1. Einleitung

Bevölkerungsforschung wird in dieser Untersuchung eine produktive, ordnungsstiftende Kraft und normalisierende Funktion zugesprochen, die anhand der von Michel Foucault geprägten und von zahlreichen anderen Theoretikerinnen und Theoretikern weiterentwickelten Konzepte der Biomacht/ Biopolitik, Gouvernementalität, Subjektivierung und Normalisierung analysiert und im Folgenden kurz hergeleitet werden. Diese Analysebegriffe sind Teil von Foucaults Auseinandersetzung mit spezifischen historischen Machtverhältnissen. Das Aufkommen der Biomacht ist für ihn untrennbar mit der Entstehung moderner Nationalstaaten und den dazugehörigen Staatsbürgerinnen und -bürgern verbunden und wird in historischer und konzeptioneller Abgrenzung zur Souveranitätsmacht konzipiert. Als Teil dieser Abgrenzung formulierte Foucault die vielzitierten Satzteile, wonach das Prinzip der repressiv wirkenden Souveränität, »sterben zu machen oder leben zu lassen«, abgelöst wurde von »einer Macht, leben zu machen oder in den Tod zu stoßen«. 44 Die ›Bevölkerung‹, deren Leben es fortan zu regieren galt, wurde demzufolge erst im modernen Nationalstaat als solche konstruiert und zu dessen wichtigster Ressource, deren Kräfte es hervorzubringen, zu pflegen und zu regulieren galt. Diese »Macht zum Leben« manifestiert sich in den »Machtprozeduren« der »Disziplinen« und in einer »Bio-Politik der Bevölkerung«. Die Disziplin ist auf den einzelnen Körper und die Ausnutzung seiner Fähigkeiten gerichtet. Die Biopolitik hingegen ist um den »Gattungskörper« zentriert und reguliert die gesamte, national gefasste Bevölkerung über die »Fortpflanzung, die Geburten- und Sterberaten, das Gesundheitsniveau, die Lebensdauer [und] die Langlebigkeit mit allen ihren Variationsbedingungen«. 45 Sexualität und Fortpflanzung kommen Foucaults Überlegungen zufolge besondere Bedeutung für die Regierung des Lebens zu, bilden sie doch den »Kreuzungspunkt« zwischen dem individuellen Körper und der Bevölkerung. 46 Mit Blick auf die Disziplin der Demografie korrelieren diese Ebenen mit der Unterscheidung zwischen makro- und mikrodemografischem Wissen. Ersteres konstruiert ein kausales Verhältnis zwischen demografischen Veränderungen und gesellschaftlichen Krisen, während das mikrodemografische Wissen das individuelle ›generative Verhalten‹ und den ›fruchtbaren‹ Körper reguliert. 47 Weiterhin wird durch diese grundsätzlichen Überlegungen Foucaults auch deutlich, weshalb der Rocke­feller Archive Center (fortan: RAC), Ford Foundation Records (fortan: FF), Cata­ logued Reports, Box 3, Report 000042, S. 4. 44 | Foucault, Michel: Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit I, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1983, S. 134. Die Kursivauszeichnungen sind aus dem Original übernommen. 45 | Ebd., S. 135. Die Kursivauszeichnungen sind aus dem Original übernommen. 46 | Ebd., S. 142. 47 | Vgl. Schultz, Hegemonie – Gouvernementalität – Biomacht, 2006, S. 92.

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wissensbasierte regulierende Zugriff auf die Bevölkerung stets planerische Instrumente des social engineering mit Appellen an ein sich selbst regierendes Subjekt verband. 48 Sowohl die disziplinarischen als auch die biopolitischen Machttechniken wirken über einen Normalisierungsprozess. Doch während die Disziplin eine Norm setzt, anhand derer zwischen normal und anormal unterschieden werden kann, definiert die Biopolitik das Normale über statistische Mittelwerte und damit über den ›natürlichen Zustand‹ der Bevölkerung. Die Normalisierung biopolitischer Ausprägung regt also dazu an, individuelles Verhalten an den Mittelwert von Normalkurven anzugleichen. 49 Von Jürgen Link wurde diese Form der Normalisierung als Kernelement der Moderne ausgemacht.50 Diese Anrufung des Subjekts ist ein Kernelement des liberalen Regierens, in dem Techniken der Fremd- und Selbstführung verschmelzen. Foucault prägte hierfür den Begriff der Gouvernementalität und bezeichnete damit eine Form des Regierens, an der neben den Regierenden im engeren Sinne, also staatlichen Behörden, zahlreiche andere Subjekte in freiwilliger Selbstregierung beteiligt sind.51 Aus Objekten staatlicher Eingriffe werden durch die richtigen Anreize und Förderungen Subjekte, die sich – um bei Zschocks Terminologie zu bleiben – aus eigener Initiative ökonomisch und sozial verbessern.52 In dieser Studie können diese Denkanstöße sichtbar machen, wie Regieren unter den eng mit US-amerikanischen und internationalen Entwicklungsakteuren und -akteurinnen verwobenen Regierungen des Frente Nacional funktionierte und weshalb dem Wissen rund um die Schaffung von Anreizen zur Selbstregulierung der Fertilität eine derart große Bedeutung beigemessen wurde. Die Analyse des Wissens zu Bevölkerung, Fertilität und Familienplanung in Kolumbien zeigt darüber hinaus, dass Debatten darum, was als wissenschaftliches Wissen anerkannt wurde und durch wen, für die Regierungsprojekte des Frente Nacional, für die Beziehungen zwischen Kolumbien und den USA sowie 48 | Siehe hierzu Etzemüller, Thomas: »Rationalizing the Individual – Engineering Society. The Case of Sweden«, in: Brückweh et al., Engineering Society, 2012, S. 97–118. 49 | Vgl. Foucault, Michel: Sicherheit, Territorium, Bevölkerung. Vorlesung am Collège de France, 1977–1978, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2006, S. 90. 50 | Vgl. Link, Jürgen: Versuch über den Normalismus. Wie Normalität produziert wird, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2009. 51  |  Untersuchungen dieser gouvernementalen Regierungstechniken sind inzwischen zu einem eigenen Forschungsbereich, den Gouvernementality Studies, herangewachsen. 52 | Vgl. Zschock, Justification and Preliminary Proposal, Okt. 1964, RAC, S. 4. Siehe einführend zu Prozessen der Subjektivierung und für einen aktuellen Forschungsüberblick zum Thema Wiede, Wiebke: »Subjekt und Subjektivierung«, 2014, auf: https:// docupedia.de/zg/Subjekt_und_Subjektivierung (21.06.2017).

1. Einleitung

für die Akzeptanz oder Ablehnung US-amerikanischer Entwicklungshilfe eine enorme Bedeutung und Sprengkraft besaßen. Die permanenten Bemühungen seitens derjenigen, die Bevölkerungsforschung betrieben, ihr Wissen als ›rein wissenschaftlich‹ und ›objektiv‹ zu klassifizieren einerseits, und die Kritik an diesem Versuch und den dahinter vermuteten Interessen andererseits werden in dieser Studie historisiert. Es soll also nicht nach den ›tatsächlichen‹ Grenzen zwischen Bevölkerungsforschung und Politik und zwischen der Produktion von Wissen und dessen Anwendung gefragt, sondern diese Verschränkungen als konstitutives Merkmal des hier untersuchten Wissens begriffen werden. So begreift sich diese Untersuchung auch als Teil der Forschung zur Bedeutung von Wissen und Wissenschaft im Kalten Krieg, in der Lateinamerika bisher wenig Beachtung gefunden hat.53 In den 1960er Jahren standen die Sozialwissenschaften im Allgemeinen und die Fertilitätsforschung im Besonderen in Kolumbien im Mittelpunkt von Diskussionen darüber, was legitimes Wissen über die Gesellschaft auszeichnete, und im Kreuzfeuer der aus ganz unterschiedlichen politischen Richtungen formulierten nationalistischen Anklage, wonach es sich bei den neuen Methoden der empirischen Sozialwissenschaften um einen ›fremden‹ und ›imperialistischen‹ Import handele.54 So kritisierten katholische Geistliche und konservative Politiker im Zusammenhang mit staatlich geförderten Familienplanungsprogrammen nicht nur, dass dort über Verhütungsmittel aufgeklärt werde, deren Verwendung mit dem katholischen Regelwerk nicht vereinbar sei. Sie kritisierten auch, dass Frauen mit Mitteln der psychologischen Kriegsführung in die Programme gelockt würden, zweifelten an, dass Meinungen messbar seien, und stellten infrage, Bevölkerungspolitik auf Basis so gewonnener wissenschaftlicher Erkenntnisse betreiben zu können. Der Aufstieg der empirischen Sozialwissenschaften in den 1950er Jahren in Kolumbien, der mit dem Übergang von einer europäischen hin zu einer US-amerikanischen Orientierung der kolumbianischen Universitäten und Wissenschaften einherging, war also von Kämpfen um die »Vorstellungen von Objektivität und Gewissheit« begleitet.55 53 | Siehe hierzu aus US-amerikanischer Perspektive u. a. Rohde, Joy: Armed with Expertise. The Militarization of American Social Research during the Cold War, Ithaca NY; London: Cornell Univ. Press 2013; Solovey, Mark: Shaky Foundations. The Politics-Patronage-Social Science Nexus in Cold War America, New Brunswick NJ: Rutgers Univ. Press 2013; Simpson, Christopher (Hg.): Universities and Empire. Money and Politics in the Social Sciences during the Cold War, New York: New Press 1998. 54 | Diese nationalistische Anklage war wiederum alles andere als ein nationales Phänomen, wurde sie doch in zahlreichen Ländern der ›Dritten Welt‹ gegen den Einfluss der USA auf die jeweiligen Wissenschaftssysteme erhoben. 55 | Sarasin, Was ist Wissensgeschichte, 2011, S. 67.

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Im Laufe der 1960er Jahre gewann dabei vor allem die Frage, was ›kolumbianische‹ Wissenschaft ausmachte und mit welchem Wissen als spezifisch kolumbianisch ausgemachte Entwicklungsprobleme angegangen werden sollten, an Brisanz. Mit der Dependenztheorie und der Theologie der Befreiung entstanden in Lateinamerika Denkströmungen, die den modernisierungstheoretischen Impetus der an den disziplinären Entwicklungen der USA orientierten Sozialwissenschaften infrage stellten. Deren Postulat, wissenschaftliche Erkenntnisse für die rationale Lösung gesellschaftlicher Probleme zur Verfügung zu stellen, wurde sowohl angezweifelt als auch kritisiert. Der Zweifel bezog sich auf den paradoxen Anspruch der ›unpolitischen Politikberatung‹, mit dem Sozialwissenschaftler und Sozialwissenschaftlerinnen in Kolumbien wie in den USA in den frühen 1960er Jahren für zahlreiche Regierungsbehörden arbeiteten. Die zahlreichen US-amerikanischen Akteurinnen und Akteure, die kolumbianische Universitäten reformierten, berieten, finanzierten oder an ihnen forschten und lehrten, und alle Kolumbianerinnen und Kolumbianer, die mit ihnen zusammenarbeiteten, sahen sich im Verlauf der 1960er Jahre mit immer lauter werdenden Vorwürfen konfrontiert, ›Agenten des Imperialismus‹ zu sein. Das gilt für den hier untersuchten Bereich der Bevölkerungsforschung ganz besonders. Diese in erster Linie studentischen Proteste spiegeln umfassendere Veränderungen im Verhältnis zwischen den USA und Lateinamerika wider, die die Globalität des Kalten Krieges in seinen militärischen und entwicklungspolitischen Dimensionen, aber auch antikolonialer und antiimperialistischer Bewegungen von ›1968‹ verdeutlichen.56 Die Wissensgeschichte zu Bevölkerung, Fertilität und Familienplanung in Kolumbien kann also nicht aus nationalstaatlicher Perspektive geschrieben werden. Zwar steht das Konzept Bevölkerung in einem engen historischen Zusammenhang mit der Konsolidierung der europäischen Nationalstaaten im 19. Jahrhundert, und Bevölkerungen werden bis heute auf nationaler Ebene gezählt und registriert und somit als messbare Einheit konstruiert, deren sich wandelnde Größe, Zusammensetzung und Merkmale identifiziert, erforscht und beeinflusst werden sollen.57 Doch das Wissen um die Bevölkerung zirkulierte stets in grenzüberschreitenden, transnationalen Zusammenhängen. Der 56 | Siehe hierzu Zolov, Eric: »Introduction. Latin America in the Global Sixties«, in: The Americas, 70, 3, 2014, S. 359–362; McMahon, Robert J. (Hg.): The Cold War in the Third World, Oxford et al.: Oxford Univ. Press 2013; Brands, Hal: Latin America’s Cold War, Cambridge MA; London: Harvard Univ. Press 2012; Kastner, Jens; Mayer, David (Hg.): Weltwende 1968. Ein Jahr aus globalgeschichtlicher Perspektive, Wien: Mandelbaum 2008; Westad, The Global Cold War, 2005. 57 | Vgl. Unger, Corinna R.; Hartmann, Heinrich: »Bevölkerung«, in: Europäische Geschichte Online (EGO), Mainz 2015, auf: http://www.ieg-ego.eu/ungerc-hartmann­h -

1. Einleitung

in dieser Studie analysierte Versuch, eine spezifisch kolumbianische Bevölkerungspolitik und -forschung zu betreiben, die an spezifisch kolumbianischen Bevölkerungsproblemen orientiert war, muss als Legitimationsstrategie einer transnationalen Wissensgemeinschaft gefasst werden. Diese zeichnete sich durch gemeinsame Denkmuster, theoretische Annahmen und Praktiken der Wissenserzeugung aus.58 Ein transnationaler Ansatz ermöglicht es, das Spannungsfeld zwischen diesen Vernetzungen und dem Pochen auf kulturelle oder nationale Eigenständigkeit von Wissensbeständen herauszuarbeiten.59 Der Begriff des »Transnationalen« kann knapp dreißig Jahre nach seinem Durchbruch in den Geschichtswissenschaften nicht mehr angewandt werden, ohne auf die Fülle unterschiedlicher Bedeutungen hinzuweisen, mit denen er belegt wurde und weiterhin wird.60 In dieser Untersuchung dient er dazu, 2015-de (21.06.2017); Schmidt, Daniel: »›Volk‹ und Bevölkerungsstatistik«, in: Comparativ, 13, 3, 2003, S. 49–64. 58 | Vgl. Hartmann, Heinrich; Unger, Corinna R.: »Einleitung. Zur transnationalen Wissensgeschichte der Demografie«, in: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte, 33, 3, 2010, S. 235–245. 59 | Vgl. Middell, Matthias: »Transnationale Geschichte als transnationales Projekt. Zur Einführung in die Diskussion«, in: Historical Social Research, 31, 2, 2006, S. 110–117, hier: S. 113. Zusätzlich zu dieser spezifischen Begründung für einen transnationalen Zuschnitt der wissenshistorischen Untersuchung soll sich der Forderung, dass die Geschichtswissenschaft grundsätzlich den nationalen Rahmen sprengen und nicht perpetuieren sollte, angeschlossen werden. Siehe hierzu die Analogie zwischen den Kategorien Transnationalismus und Gender, die drei Historikerinnen auf Grundlage der Diskussionen am Tepoztlán Institute for the Transnational History of the Americas zogen: »We want to suggest that ›transnationalism‹ can do to the nation what gender did for sexed bodies: provide the conceptual acid that denaturalizes all their deployments, compelling us to acknowledge that the nation, like sex, is a thing contested, interrupted, and always shot through with contradiction.« Briggs, Laura; McCormick, Gladys; Way, J. T.: »Transnationalism. A Category of Analysis«, in: American Quarterly, 60, 3, 2008, S. 625–648, hier: S. 627. 60 | Eine Historisierung der Verwendung des Begriffs, des Konzeptes, der Methode oder der Perspektive – schon hierüber herrscht keine Einigkeit – des »Transnationalen« sprengt den Rahmen dieser Einleitung. Es sei an dieser Stelle lediglich auf die grundlegenden Texte verwiesen, die einen transnationalen Blick auf die Geschichte der Vereinigten Staaten fordern: Tyrrell, Ian: »Reflections on the Transnational Turn in United States History. Theory and Practice«, in: Journal of Global History, 2009, S. 453–474; Gräser, Marcus: »World History in a Nation-State. The Transnational Disposition in Historical Writing in the United States«, in: The Journal of American History, 95, 4, 2009, S. 1038–1052; Thelen, David: »The Nation and Beyond. Transnational Perspectives on United States History«, in: The Journal of American History, 86, 3, 1999, S. 965–975.

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den analytischen Blick auf Menschen zu schärfen, die eine ›nationale Fertilitätsstudie‹ entwarfen, die Teil eines von den Vereinten Nationen angelegten Forschungsprojektes zu mehreren lateinamerikanischen Ländern war und von Beratern und Beraterinnen zahlreicher US-amerikanischer Universitäten mitgestaltet wurde.61 Von transnationalem Austausch, transnational agierenden Personen oder transnationalen Wissensbeständen wird also immer dann gesprochen werden, wenn grenzüberschreitender Wissenstransfer oder Forschungskooperationen im Fokus stehen. Die Nationalstaaten, zwischen denen ein transnationaler Austausch bestand, sind in dieser Untersuchung primär Kolumbien und die USA, entstand doch der Großteil der hier untersuchten Bevölkerungsstudien in Zusammenarbeit zwischen US-amerikanischen und kolumbianischen Institutionen. Darüber hinaus waren jedoch auch internationale und panamerikanische Institutionen beteiligt, zirkulierte das in Kolumbien produzierte Wissen durch internationale Kongresse in aller Welt und war die Bevölkerungsforschung zu Kolumbien vielfach in überregionale Vergleichsstudien eingebunden. Wenngleich also eine Perspektive, die das Bevölkerungswissen lediglich als Element der wissenschaftlichen und entwicklungspolitischen Beziehungen zwischen Kolumbien und den USA konzipiert, zu kurz greift, bildet die Analyse der »close encounters« zwischen US-amerikanischen und kolumbianischen Wissensakteuren und -akteurinnen einen weiteren Schwerpunkt dieser Untersuchung.62 Auch wenn aufgezeigt wird, dass der Auf bau von Bevölkerungsforschung und Familienplanung in Kolumbien nicht als Top-downImplementierung imperialistisch auftretender US-amerikanischer Akteure und Akteurinnen konzipiert werden kann, so wäre es gleichzeitig falsch, das ungleiche Machtverhältnis innerhalb der transnationalen Zusammenarbeit auszuklammern. Dieses spielte für die Akteure und Akteurinnen selbst eine große Rolle und drückte sich auch in ihren unterschiedlichen Handlungsmöglichkeiten und Ressourcen aus. Dabei konnte die Präsenz der US-Amerikaner und US-Amerikanerinnen, die sich mit Bevölkerungsforschung in Kolumbien befassten, sehr unterschiedlich aussehen: Berater der Ford Foundation reisten zwei Wochen lang in mehrere Großstädte und besuchten alle von der Stiftung geförderten Universitäten, John D. Rocke­feller III flog in seiner Funktion als Gründer des Population Council für wenige medienwirksame Tage nach Kolumbien, einige seiner Mitarbeiter blieben als field officers mehrere Jahre im Land, und 61 | ASCOFAME-DEP: Resultados Generales. Encuesta Nacional de Fecundidad, Bogotá: ASCOFAME 1973. 62 | Joseph, Gilbert M.: »Close Encounters. Toward a New Cultural History of U.S.-Latin American Relations«, in: Ders. (Hg.): Close Encounters of Empire. Writing the Cultural History of U.S.-Latin American Relations, Durham NC: Duke Univ. Press 1998, S. 3–46.

1. Einleitung

zahlreiche Studierende aus den Vereinigten Staaten reisten nach Kolumbien, um Feldforschung zu betreiben oder anzuleiten und mit den dabei erhobenen Daten in den USA Master- oder Doktorarbeiten zu schreiben. Ebenso vielfältig gestalteten sich der Kontakt, der Austausch und die Zusammenarbeit mit den kolumbianischen Akteuren und Akteurinnen. Die Studierenden aus den USA wurden von kolumbianischen Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen beraten, die field officers verschiedener Stiftungen waren teils als Gastdozenten in die Lehre und Forschung an kolumbianischen Universitäten eingebunden und teils in Beraterfunktionen Quasi-Mitglieder von Forschungseinrichtungen wie der Abteilung für Bevölkerungsforschung des Verbandes medizinischer Fakultäten Kolumbiens (ASCOFAME-DEP).63 Die kolumbianischen Historiker Alexis de Greiff und Mauricio Nieto kritisieren, dass in der Wissenschaftsgeschichte wissenschaftliche Beziehungen zwischen Ländern des Nordens als Austausch, in Nord-Süd-Konstellationen hingegen als Zusammenarbeit bezeichnet werden.64 Wenn in dieser Untersuchung dennoch von der Zusammenarbeit zwischen Forscherinnen und Forschern aus den USA und Kolumbien gesprochen wird, so deshalb, weil in der Forschung zu Bevölkerung, Fertilität und Familienplanung auf bestimmten Ebenen Zusammenarbeit in ihrem wörtlichen Sinne stattfand: Studien wurden in transnationalen Teams konzipiert, Texte in Koautorenschaft geschrieben, und das ausschließlich kolumbianische Personal, das die Interviews durchführte, wurde von US-amerikanischen und kolumbianischen Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen gemeinsam ausgebildet. Doch der imperiale Nexus zwischen den USA und Kolumbien war in all diesen Begegnungen und Kontakten präsent. Er war Gegenstand von Aushandlungen, von Vorwürfen und Kritik, aber auch von Sympathiebekundungen. Neben dieser kommunikativen Ebene drückte sich das ungleiche Verhältnis zwischen den US-amerikanischen und kolumbianischen Akteuren und Akteurinnen des Wissens aber auch in einer materiellen Dimension aus. Dabei darf jedoch nicht ausgeklammert werden, dass die kolumbianischen Akteure und Akteu63 | Selbstverständlich fand der transnationale Austausch nicht nur auf kolumbianischem Boden statt. Kolumbianer und Kolumbianerinnen studierten in den USA, reisten auf Kongresse und zu Vorträgen und waren auch als Experten und Expertinnen dorthin eingeladen. Doch diese ›lokalen Begegnungen‹ bleiben in dieser Studie aufgrund der Quellenlage und des thematischen Schwerpunktes auf der Forschung, die in Kolumbien selbst durchgeführt wurde, ausgeklammert. 64 | Greiff, Alexis de; Nieto, Mauricio: »What We Still Don’t Know about South-North Technoscientific Exchange. North-Centrism, Scientific Diffusion and the Social Studies of Science«, in: Doel, Ronald Edmund; Söderqvist, Thomas (Hg.): The Historiography of Contemporary Science, Technology, and Medicine. Writing Recent Science, London: Routledge 2006, S. 239–259, hier: S. 246.

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rinnen selbst eine alles andere als homogene Gruppe darstellten und sich viele Unterschiede zwischen den hier untersuchten Wissensakteurinnen und -akteuren nicht durch ihre Nationalität erklären lassen. So bestand z. B. eine hierarchische wissenschaftliche Arbeitsteilung, bei der zahlreiche an Schlüsselstellen der Wissensproduktion beteiligte Akteure und Akteurinnen, wie die Interviewerinnen, anonym blieben und ihre Vorgesetzten alle Meriten für sich beanspruchten, ebenso zwischen Kolumbianern und Kolumbianerinnen wie zwischen Beteiligten aus beiden Ländern. Das in dieser Studie untersuchte Wissen steht also in einer langen Tradition des US-amerikanischen ›Strebens nach Wissen über das Andere‹ in den Amerikas.65 Es berührt zudem die Forschungsdiskussion, die im Zusammenhang mit der kulturhistorischen Wende seit den 1990er Jahren zu dem Verhältnis zwischen den Vereinigten Staaten und Lateinamerika geführt wird. Bis dahin dominierten in der umfangreichen Historiografie zu dem Thema Ansätze, die die wirtschaftliche Dominanz, den diplomatischen Einfluss und die militärische und geheimdienstliche Repression betonten, die seitens der Vereinigten Staaten auf ihre südlichen Nachbarländer seit dem 19. Jahrhundert ausgeübt wurde. Doch geriet diese einseitige Darstellung, wie es der Historiker Gilbert Joseph 1998 in einem programmatischen Text pointiert zusammenfasste, in den 1990er Jahren zunehmend in die Kritik. Diese Kritik traf die Forschung zum US-amerikanischen Einfluss unabhängig davon, ob sie eher modernisierungstheoretisch oder dependenztheoretisch argumentierte, und daher unabhängig davon, wie sie das Verhältnis zwischen den Vereinigten Staaten und Lateinamerika wertete. Die Kulturgeschichte zu den US-amerikanisch-latein­ amerikanischen Beziehungen – so der Untertitel des Sammelbandes, in den Gilbert Joseph einleitete – forderte, nicht länger dichotome Kategorien von »Herrschaft und Widerstand, Ausbeutenden und Opfern« zu konstruieren, sondern vielmehr von mannigfaltigen »close encounters« und unterschiedlichen Formen der Machtausübung und des Widerstands zu sprechen, die in den »Kontaktzonen« des Imperiums der Vereinigten Staaten stattfanden.66 Ein 65 | Tinsman, Heidi; Shukla, Sandhya Rajendra: »Introduction. Across the Americas«, in: Shukla; Tinsman, Imagining Our Americas, 2007, S. 1–33, hier: S. 4. 66 | Joseph, Close Encounters, 1998, S. 4f. Der Begriff der »Kontaktzone« stammt von der Literaturwissenschaftlerin Mary Louise Pratt und wurde von ihr im Zusammenhang mit europäischer Reiseliteratur des 18. und 19. Jahrhunderts eingeführt. Pratt, Mary Louise: Imperial Eyes. Travel Writing and Transculturation, London; New York: Rout­l edge 1992. Für einen Forschungsüberblick aus dem Bereich der Diplomatiegeschichte, der ebenfalls ein Ende der Geschichtsschreibung aus vorrangig US-amerikanischer Perspektive verkündete, siehe Friedman, Max Paul: »Retiring the Puppets, Bringing Latin America Back in. Recent Scholarship on United States-Latin American Relations«, in: Diplomatic History, 27, 5, 2003, S. 621–636, hier: S. 621. Eine ähnliche Kritik formu-

1. Einleitung

ähnlicher Ansatz prägt auch die gegenwärtige Historiografie zu Entwicklung und Entwicklungshilfe oder -zusammenarbeit, in der vermehrt gefordert und umgesetzt wird, simplifizierende Metaerzählungen durch Forschung zur lokalen Anwendung und Aushandlung von Entwicklung in ihren globalen Verflechtungen zu ersetzen.67

1.3 S tand der F orschung Die vorliegende Studie berührt zahlreiche Themenfelder und geschichtswissenschaftliche Debatten. Hier wird zunächst zusammengefasst, auf welche Art und Weise ›Bevölkerung‹ und das Wissen um ›Bevölkerung‹ und ›Fertilität‹ historisch greif bar gemacht wurden und werden. Anschließend wird auf die Historiografie zu Bevölkerungsforschung, -politik und Familienplanung eingegangen, wobei der Schwerpunkt auf der Forschung zu den USA und Kolumbien liegt; und schließlich wird in die Geschichtsschreibung über die Zeit des Frente Nacional in Kolumbien eingeführt. Die Beschäftigung der Geschichtswissenschaften mit ›Bevölkerung‹ lässt sich in zwei große Richtungen unterteilen. Auf der einen Seite gibt es die Historische Demografie, die mit ähnlichen Fragen und Annahmen wie die Demografie der Gegenwart, aber mit eigenen Methoden und Herausforderungen bei der Datenerhebung arbeitet. Das heißt, die Historische Demografie fragt danach, wie sich lokal, regional, national oder global gefasste Bevölkerungen der Vergangenheit in ihrer Größe und Zusammensetzung veränderten. So untersucht sie beispielsweise die Mobilität früherer Gesellschaften oder deren Heiratsmuster und trägt damit auch zur Beantwortung allgemeiner sozialhistorischer Fragestellungen bei.68 Aber auch das demografische Interesse an Fertilität und die Theorie des demografischen Übergangs haben die Historische Demografie geprägt und zu zahlreichen Studien über die historische lierte Joseph dann zehn Jahre später auch für den engeren Bereich der Geschichte Lateinamerikas im Kalten Krieg. Vgl. Joseph, Gilbert M.: »What we now Know and Should Know. Bringing Latin America more Meaningfully into Cold War Studies«, in: Ders.; Spenser, Daniela (Hg.): In from the Cold. Latin America’s New Encounter with the Cold War, Durham NC: Duke Univ. Press 2008, S. 3–46. 67 | Siehe z. B. Büschel, Hubertus; Speich, Daniel: »Einleitung. Konjunkturen, Probleme und Perspektiven der Globalgeschichte von Entwicklungszusammenarbeit«, in: Dies. (Hg.): Entwicklungswelten. Globalgeschichte der Entwicklungszusammenarbeit, Frankfurt am Main; New York: Campus 2009, S. 7–29. 68 | Vgl. Rosental, Paul-André: »Von der historischen Demographie zur sozialen und politischen Bevölkerungsgeschichte in Frankreich nach 1945«, in: Historical Social Research, 31, 4, 2006, S. 7–33, hier: S. 10.

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Entwicklung der Fertilität in Europa geführt.69 In der Geschichtsschreibung zu Lateinamerika hat die Historische Demografie eine lange und bedeutende Tradition.70 Auf der anderen Seite gibt es seit den 1980er Jahren eine deutlich schwieriger unter einen Überbegriff zu fassende geschichtswissenschaftliche Forschung, die nicht selbst Demografie betreibt, sondern danach fragt, seit wann, von wem und in welchem Zusammenhang Menschengruppen als ›Bevölkerung‹ konstruiert und regiert werden. Die Produktion von Wissen und die Herausbildung von wissenschaftlichen Disziplinen, die ›Bevölkerung‹ zu ihrem Gegenstand machten, nehmen einen wichtigen Platz in dieser Forschung ein. So liegen zahlreiche Studien vor, die die für die Konstruktion von ›Bevölkerung‹ essenziellen Praktiken der Volkszählung und Vitalstatistik untersuchen.71 Auch die im 18. Jahrhundert in Großbritannien entwickelte politische Arithmetik sowie die Anfänge der Demografie – der Begriff wurde Mitte des 19. Jahrhunderts in Frankreich für die Berechnung und Interpretation der Geburten- und Sterberate und des Heiratsverhaltens geprägt – sowie deren disziplinäre Verortung zunächst in den Staatswissenschaften und der Natio69 | Vgl. ebd., S. 13f. 70 | Als Klassiker kann hier die umfassende Monografie von Nicolás Sánchez-Albornoz gelten, die erstmals 1973 unter dem Titel La población de América Latina desde los tiempos precolombinos al año 2000 erschien, vielfach überarbeitet wurde und inzwischen bis auf das Jahr 2025 verweist: Sánchez-Albornoz, Nicolás: Historia mínima de la población de América Latina, desde los tiempos precolombinos al año 2025, México D.F.: El Colegio de México 2014. 71 | Für neue und einschlägige Untersuchungen zur Geschichte der Volkszählung in den Amerikas siehe Brumberg, Johanna: Die Vermessung einer Generation. Die Babyboomer und die Ordnung der Gesellschaft im US-Zensus zwischen 1940 und 1980, Göttingen: Wallstein 2015; Loveman, Mara: National Colors. Racial Classification and the State in Latin America, Oxford et al.: Oxford Univ. Press 2014; Angosto Ferrández, Luis Fernando; Kradolfer, Sabine (Hg.): Everlasting Countdowns. Race, Ethnicity and National Censuses in Latin American States, Newcastle: Cambridge Scholars Publisher 2013; Necochea López, Raul: »Demographic Knowledge and Nation Building. The Peruvian Census of 1940«, in: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte, 33, 3, 2010, S. 280–296; Anderson, Margo J.: The American Census. A Social History, New Haven CT: Yale Univ. Press 1988. Grundlegend zur Geschichte statistischen Denkens siehe Desrosières, Alain: Die Politik der großen Zahlen. Eine Geschichte der statistischen Denkweise, Berlin: Springer 2005; Hacking, Ian: »How Should We Do the History of Statistics?«, in: Burchell, Graham; Gordon, Colin; Miller, Peter (Hg.): The Foucault Effect. Studies in Governmentality, Chicago IL: Univ. of Chicago Press 1991, S. 181–195; Porter, Theodore M.: The Rise of Statistical Thinking, 1820–1900, Princeton NJ: Princeton Univ. Press 1986.

1. Einleitung

nalökonomie, ab dem späten 19. Jahrhundert vermehrt in den biologistischen Humanwissenschaften, d. h. der Eugenik und ›Rassenhygiene‹, sind Gegenstand historischer Forschung.72 Eugenik als Wissenschaft und eugenische Praktiken und Reformbewegungen sind für zahlreiche Regionen und Länder – nicht zuletzt die USA – besonders intensiv erforscht worden, wovon das 2010 erschienene Oxford Handbook of the History of Eugenics zeugt.73 Zwanzig Jahre nach Nancy Leys Stepans Grundlagenforschung zur Eugenik in Lateinamerika gilt das ebenso für diese Weltregion.74 Zur Geschichte von Demografie und Bevölkerungsforschung in den Vereinigten Staaten liegt vor allem aus vergleichender Perspektive umfangreiche historische Forschung vor.75 Auch US72 | Zur Geschichte der Demografie in Europa siehe u. a. Overath, Petra (Hg.): Die vergangene Zukunft Europas. Bevölkerungsforschung und -prognosen im 20. und 21. Jahrhundert, Köln: Böhlau 2011; Schweber, Libby: Disciplining Statistics. Demography and Vital Statistics in France and England, 1830–1885, Durham NC; London: Duke Univ. Press 2006; Ehmer, Josef: »Bevölkerungswissen und Demographie in der Wissensgesellschaft des 20. Jahrhunderts«, in: Reulecke, Jürgen; Roelcke, Volker (Hg.): Wissenschaften im 20. Jahrhundert. Universitäten in der modernen Wissenschaftsgesellschaft, Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2008, S. 149–167; Mackensen, Rainer (Hg.): Bevölkerungsforschung und Politik in Deutschland im 20. Jahrhundert, Wiesbaden: VS Verlag; GWV Fachverlage GmbH 2006. 73 | Bashford, Alison; Levine, Philippa (Hg.): The Oxford Handbook of the History of Eugenics, New York: Oxford Univ. Press 2010. Zur Geschichte der Eugenik in den USA siehe u. a. Stern, Alexandra: Eugenic Nation. Faults and Frontiers of Better Breeding in Modern America, Berkeley CA: Univ. of California Press 2005; Kline, Wendy: Building a Better Race. Gender, Sexuality, and Eugenics from the Turn of the Century to the Baby Boom, Berkeley CA: Univ. of California Press 2005. 74 | Siehe Muñoz Gaviria, Educación, eugenesia y progreso, 2012; Stern, Alexandra: »›The Hour of Eugenics‹ in Veracruz, Mexico. Radical Politics, Public Health, and Latin America’s Only Sterilization Law«, in: Hispanic American Historical Review, 91, 3, 2011, S. 431–443; Schell, Patience A.: »Eugenic Policy and Practice in Cuba, Puerto Rico, and Mexico«, in: Bashford; Levine, The Oxford Handbook, 2010, S. 477–492; Miranda, Marisa (Hg.): Cuerpo, biopolítica y control social. América Latina y Europa en los siglos XIX y XX, Buenos Aires: Siglo XXI Editora Iberoamericana 2009. Keine dieser jüngeren Forschungsarbeiten kommt ohne den Bezug auf Leys Stepans wegweisende Studie aus, in der sie die eugenischen Bewegungen Brasiliens, Argentiniens und Mexikos analysiert: Leys Stepan, Nancy: The Hour of Eugenics. Race, Gender, and Nation in Latin America, Ithaca NY: Cornell Univ. Press 1996. 75 | Siehe Sharpless, John: »Population Science, Private Foundations, and Development Aid. The Transformation of Demographic Knowledge in the United States, 1945– 1965«, in: Cooper, Frederick; Packard, Randall (Hg.): International Development and the Social Sciences. Essays on the History and Politics of Knowledge, Berkeley CA:

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ame­r i­kanische Demografen und Demografinnen selbst haben sich mit der Geschichte ihrer Disziplin befasst und die Ergebnisse in ihren Fachzeitschriften publiziert. Der Schwerpunkt dieser innerdisziplinären Geschichtsschreibung liegt auf einer kritischen Auseinandersetzung mit der Bevölkerungsforschung der Nachkriegszeit und ihrer politischen Anwendung, also auf dem auch für diese Studie zentralen Nexus zwischen dem Auf bau der population studies center in den USA und Familienplanungsprogrammen in aller Welt.76 Den dafür verantwortlichen Akteuren und Akteurinnen wird seit den 1970er Jahren viel Aufmerksamkeit geschenkt, doch wurde ihre Geschichte zunächst von ihnen selbst geschrieben. So liegen beispielsweise Geschichten der International Planned Parenthood Federation, des Population Council und der Aktivitäten zu ›Bevölkerung‹ der Ford Foundation vor, die aus der Innenperspektive dieser Institutionen verfasst sind.77 2007 ist auch von zwei Mitarbeitern der Weltbank ein umfangreicher Sammelband zur globalen Familienplanungsrevolution publiziert worden, der Beteiligte aus zahlreichen Län-

Univ. of California Press 1997, S. 176–200; Gutberger, Hansjörg: »Demographie und Sozialstrukturforschung. Überlegungen zu einem Vergleich zwischen amerikanischer und deutscher Sozialdemographie 1930–1960«, in: Historical Social Research, 31, 4, 2006, S. 155–182; Mackensen, Rainer: »Bevölkerungslehre und Demographie. Unterschiede theoretischer Entwicklungen in kontinentaleuropäischen und angloamerikanischen Ländern 1930–1960«, in: Historical Social Research, 31, 4, 2006, S. 183–202; Ramsden, Edmund: »Social Demography and Eugenics in the Interwar United States«, in: Population and Development Review, 29, 4, 2003, S. 547–593; Ramsden, Edmund: »Carving up Population Science. Eugenics, Demography and the Controversy over the ›Biological Law‹ of Population Growth«, in: Social Studies of Science, 5–6, 32, 2002, S. 857–899; Greenhalgh, Susan: »The Social Construction of Population Science. An Intellectual, Institutional, and Political History of Twentieth-Century Demography«, in: Comparative Studies in Society and History, 38, 1, 1996, S. 26–66. 76 | Siehe Hodgson, Dennis: »The Ideological Origins of the Population Association of America«, in: Population and Development Review, 17, 1, 1991, S. 1–34; Demeny, Paul: »Social Science and Population Policy«, in: Population and Development Review, 14, 3, 1988, S. 451–479; Hodgson, Dennis: »Orthodoxy and Revisionism in American Demography«, in: Population and Development Review, 14, 4, 1988, S. 541–569; Hodgson, Dennis: »Demography as Social Science and Policy Science«, in: Population and Development Review, 9, 1, 1983, S. 1–34. 77 | Vgl. Suitters, Beryl: Be Brave and Angry. Chronicles of the International Planned Parenthood Federation, London: IPPF 1973; Population Council: The Population Council. A Chronicle of the First Twenty-Five Years, 1952–1977, New York: Population Council 1978; Harkavy, Curbing Population Growth, 1995; Caldwell, John; Caldwell, Pat: Limiting Population Growth and the Ford Foundation Contribution, London: Pinter 1986.

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dern der Welt zu Wort kommen lässt, so auch aus Kolumbien.78 In direktem Kontrast zu dieser Geschichtsschreibung, deren Autoren und Autorinnen sich selbst als eine Bewegung sehen und ihren erfolgreichen Kampf gegen zahlreiche Widerstände darstellen, steht die umfangreiche Literatur, in der – ebenfalls seit den 1970er Jahren – das ›population establishment‹ und dessen Projekte der ›Geburtenkontrolle‹ aus oftmals ineinander verschränkter antiimperialistischer, postkolonialer und feministischer Perspektive kritisiert werden.79 Für Lateinamerika sind hier vor allem die Arbeiten von Bonnie Mass und Betsy Hartmann von Bedeutung.80 Ähnlich kritisch ist die 2008 erschienene und breit rezipierte Monografie Fatal Misconception von Matthew Connelly angelegt. Die Arbeit stellt den ersten Versuch eines Historikers dar, die »Globalgeschichte der Bevölkerungskontrolle« von Thomas Malthus’ Bevölkerungstheorie (1798) bis zur Weltbevölkerungskonferenz von Kairo (1994) darzustellen, wobei der Schwerpunkt auf dem 20. Jahrhundert liegt. Trotz des globalhistorischen Anspruchs konzentriert sich die Studie auf Akteure und Akteurinnen aus dem englischsprachigen Raum, vor allem aus den USA, Großbritannien und Indien.81 Einen ähn78 | Measham, Anthony R.; López Escobar, Guillermo: »Against the Odds. Colombia’s Role in the Family Planning Revolution«, in: Robinson, Warren C.; Ross, John A. (Hg.): The Global Family Planning Revolution. Three Decades of Population Policies and Programs, Washington, D.C: World Bank 2007, S. 121–135. 79 | Auf diese umfangreiche Literatur kann hier nur exemplarisch verwiesen werden. Abgesehen von der relativ neuen Studie von Susanne Schultz, die die Veränderungen der ›Weltbevölkerungspolitik‹ nach der UN-Weltbevölkerungskonferenz in Kairo von 1994 analysiert, sind die folgenden Studien im Kontext genau dieser Konferenz entstanden. Die Konferenz von Kairo gilt als internationaler Wendepunkt weg von einer Agenda der ›Familienplanung‹ hin zu dem Paradigma der ›reproduktiven Rechte‹: Schultz, Hegemonie – Gouvernementalität – Biomacht, 2006; Corrêa, Sonia: Popula­ tion and Reproductive Rights. Feminist Perspectives from the South, New Delhi: Kali for Women et al. 1994; Dixon-Mueller, Ruth: Population Policy & Women’s Rights. Transforming Reproductive Choice, Westport CT: Praeger 1993. 80 | Mass, Bonnie (Hg.): Population Target. The Political Economy of Population Control in Latin America, Toronto: Latin American Working Group 1976; Hartmann, Betsy: Reproductive Rights and Wrongs. The Global Politics of Population Control, Boston MA: South End Press 1995. 81 | Connelly, Matthew James: Fatal Misconception. The Struggle to Control World Population, Cambridge MA: Belknap Press of Harvard Univ. Press 2008, S. 80. In sehr viel kondensierterer Form und ohne Verwendung von Archivquellen gibt es auch weitere aktuelle Arbeiten, die die Diskussionen um ›Weltbevölkerung‹ im 20. Jahrhundert darstellen. Siehe Wagner, Patrick: »Im Schatten der ›Bevölkerungsbombe‹ – die Auseinandersetzungen um eine Weltbevölkerungspolitik (1950–1994), oder: Zeitgeschichte als

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lichen regionalen Zuschnitt hat die 2014 erschienene Monografie von Alison Bashford, die ebenfalls den »großen Knoten von Ideen, Politiken und öffentlichen Diskussionen« zu Weltbevölkerung im 20. Jahrhundert untersucht. Bashford kritisiert jedoch an der bisherigen Forschung die Beschränkung auf das biopolitische Bevölkerungsproblem und hält dem entgegen, dass die geopolitische Dimension mindestens ebenso bedeutsam war, d. h., dass die Weltbevölkerung im 20. Jahrhundert in transnationalen und internationalen Debatten auch in hohem Maße im Verhältnis zu Raum und Nahrung problematisiert wurde und nicht nur die Fertilität den Zugriffspunkt bevölkerungspolitischer Interventionen darstellte.82 Neben diesen globalhistorischen, jedoch regional sehr unterschiedlich gewichteten Arbeiten gibt es inzwischen auch zahlreiche Studien, die Bevölkerungspolitik und Familienplanung in einzelnen Ländern oder Regionen untersuchen.83 Das gilt zunehmend auch für Lateinamerika

Weltgeschichte«, in: Hallische Beiträge zur Zeitgeschichte, 18, 2008, S. 9–26; Frey, Marc: »Experten, Stiftungen und Politik. Zur Genese des globalen Diskurses über Bevölkerung seit 1945«, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History (Online-Ausgabe), 4, 1–2, 2007, S. 137–159. Die Geschichte der Bevölkerungskontrolle in Indien ist im internationalen Vergleich am vollständigsten historisch aufgearbeitet worden. Siehe u. a. Rao, Mohan: »Indian Globalisms. From Population Control to Reproductive Tourism«, in: Hilger, Andreas; Unger, Corinna R. (Hg.): India in the World since 1947. National and Transnational Perspectives, Frankfurt am Main: Peter Lang 2012; Berg, Annika: »A Suitable Country. The Relationship between Sweden’s Interwar Population Policy and Family Planning in Postindependency India«, in: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte, 33, 3, 2010, S. 297–320; Hodges, Sarah: Contraception, Colonialism and Commerce. Birth Control in South India, 1920–1940, Aldershot: Ashgate 2008; Ahluwalia, Sanjam: Reproductive Restraints. Birth Control in India, 1877–1947, Urbana IL: Univ. of Illinois Press 2008. 82 | Bashford, Alison: Global Population. History, Geopolitics, and Life on Earth, New York: Columbia Univ. Press 2014, S. 2. 83 | Für Fallstudien aus afrikanischen und asiatischen Ländern siehe Dörnemann, Maria: ›Plan Your Family – Plan Your Nation‹. Bevölkerungspolitik als internationales Entwicklungshandeln in Kenia (1930er bis 1980er Jahre). Dissertation, Tübingen: Eberhard-Karls-Universität Tübingen 2017; DiMoia, John P.: »Counting People. The Emerging Field of Demography and the Mobilization of the Social Sciences in the Formation of Policy in South Korea since 1958«, in: Hartmann; Unger, A World of Populations, 2014, S. 129–146; Hartmann, Heinrich: »Verwissenschaftlichte Moderne. Bevölkerungspolitische Handlungsfelder in der Türkei als Zonen komplexen Wissenstransfers von den 1940er bis zu den 1970er Jahren. Eine Skizze«, in: Archiv für Sozialgeschichte, 50, 2010, S. 335–352.

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und die Karibik.84 Zudem werden einzelne Aspekte der Familienplanung, z. B. die mediale Dimension der Programme, historisiert.85 Zu Bevölkerungspolitik und -debatten innerhalb der USA gibt es eine umfangreiche Forschungsliteratur. Einen Schwerpunkt bilden Studien zu eugenischen Programmen und Familienplanungsprogrammen, die aufzeigen, nach welchen Vorstellungen von race und class in den USA zwischen ›erwünschten‹ und ›unerwünschten‹ Bürgerinnen und Bürgern unterschieden wurde.86 Auch 84 | Siehe Bourbonnais, Nicole: Birth Control in the Decolonizing Caribbean. Reproductive Politics and Practice on Four Islands, New York: Cambridge Univ. Press 2016; Corrêa, Sonia; Arilha, Margareth; Faleiros da Cunha, Maísa: »Reproductive Statecraft. The Case of Brazil«, in: Solinger, Rickie; Nakachi, Mie (Hg.): Reproductive States. Global Perspectives on the Invention and Implementation of Population Policy, Oxford; New York: Oxford Univ. Press 2016, S. 218–259; González de Reufels, Delia: »›Dieses heroische Volk verdient unsere Liebe‹. Deutungen der demographischen Entwicklung Haitis und die Anfänge der haitianischen Familienplanung in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts«, in: Etzemüller, Vom Volk zur Population, 2015, S. 105–133; Hartmann, Annika: »›Das Rückgrat für Familienplanung in Guatemala‹. Die Asociación de Pro-Bienestar de la Familia in transnationaler Vernetzung und lokaler Kritik«, in: Rinke; González de Reufels, Expert Knowledge, 2014, S. 303–331; Necochea López, Raúl: A History of Family Planning in Twentieth-Century Peru, Chapel Hill NC: The Univ. of North Carolina Press 2014; Silvia, Adam M.: »Modern Mothers for Third World Nations. Population Control, Western Medical Imperialism, and Cold War Politics in Haiti«, in: Social History of Medicine, 27, 2, 2014, S. 260–280; Faust-Scalisi, Mario: »There is an undercover movement«. Zur Bedeutung nicht-staatlicher und transnationaler Akteur_innen bei der Verbreitung von Fertilitätsregulierung in Mexiko (1968 – 1985). Dissertation, Bremen: Universität Bremen 2014; Geidel, Molly: »›Sowing Death in Our Women’s Wombs‹. Modernization and Indigenous Nationalism in the 1960s Peace Corps and Jorge Sanjinés’ Yawar Mallku«, in: American Quarterly, 62, 3, 2010, S. 763–786; Carranza, María: »›In the Name of the Forests‹. Highlights of the History of Family Planning in Costa Rica«, in: Canadian Journal of Latin American and Caribbean Studies, 35, 69, 2010, S. 119–154; Pieper Mooney, Jadwiga E.: The Politics of Motherhood. Maternity and Women’s Rights in Twentieth-Century Chile, Pittsburgh PA: Univ. of Pittsburgh Press 2009; Briggs, Laura: Reproducing Empire. Race, Sex, Science, and U.S. Imperialism in Puerto Rico, Berkeley CA: Univ. of California Press 2002. 85 | Siehe Parry, Manon: Broadcasting Birth Control. Mass Media and Family Planning, New Brunswick NJ: Rutgers Univ. Press 2013; Soto Laveaga, Gabriela: »›Let’s Become Fewer‹: Soap Operas, Contraception, and Nationalizing the Mexican Family in an Overpopulated World«, in: Sexuality Research & Social Policy, 4, 3, 2007, S. 19–33. 86 | Siehe beispielhaft Schoen, Johanna: Choice & Coercion. Birth Control, Sterilization, and Abortion in Public Health and Welfare, Chapel Hill NC: Univ. of North Carolina Press 2005; Kline, Building a Better Race, 2005; Stern, Eugenic Nation, 2005.

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das Verhältnis zwischen ökonomischen Debatten und Bevölkerungspolitik in den USA ist jüngst Gegenstand einer umfassenden historischen Untersuchung geworden.87 Einzelne Arbeiten zeigen zudem die Verbindungen zwischen innenpolitischen Debatten und Diskussionen zum Weltbevölkerungswachstum. So hat Simone M. Caron gezeigt, dass afroamerikanischer Protest gegen Geburtenkontrolle in ›schwarzen‹ Stadtvierteln argumentativ ganz ähnlich funktionierte wie der Protest gegen die ›imperialistischen‹ Familienplanungsprogramme in Ländern der ›Dritten Welt‹.88 Thomas Robertson wiederum stellt heraus, wie eng die Verbindungen zwischen der US-amerikanischen Umweltbewegung und malthusianistischem Gedankengut im gesamten 20. Jahrhundert waren. Er betont u. a., dass der 1968 erschienene kontroverse Bestseller The Population Bomb von Paul Ehrlich ebensoviel Kritik an Konsumverhalten und Ressourcenverbrauch innerhalb der USA enthielt wie an unkontrolliertem Bevölkerungswachstum in Entwicklungsländern.89 Sehr viel karger ist die Forschungslandschaft zu Bevölkerungspolitik und -diskursen in Kolumbien. Es liegen einige Untersuchungen vor, die in dieser Untersuchung als Quelle eingeordnet und behandelt werden und wertvolle Informationen enthalten, so z. B. knappe Überblicksdarstellungen zur Bevölkerungspolitik im Frente Nacional aus den 1970er und 1980er Jahren. Diese stellen politische Entscheidungsprozesse und Reformen chronologisch dar und wurden in der Regel von beteiligten Akteuren und Akteurinnen verfasst.90 Das gilt auch für eine umfangreiche Darstellung der Bevölkerungsabteilung des Verbandes der medizinischen Fakultäten Kolumbiens (ASCOFAME-DEP), mit der Emiline Royco Ott 1974 an der Johns Hopkins University promovierte.91 87 | Hoff, Derek S.: The State and the Stork. The Population Debate and Policy Making in US History, Chicago IL; London: The Univ. of Chicago Press 2012. 88 | Caron, Simone M.: »Birth Control and the Black Community in the 1960s. Geno­ cide or Power Politics?«, in: Journal of Social History, 31, 3, 1998, S. 545–569. 89 | Robertson, The Malthusian Moment, 2012. 90 | Siehe Cardona Gutiérrez, Ramiro: »Breve revisión de lo que han sido las políticas y acciones que han querido influir en el crecimiento y distribución de la población en Colombia (1962–1982)«, in: Instituto Investigaciones, Facultad de Ciencias Económicas, Universidad Central del Ecuador (Hg.): Analisis de políticas poblacionales en America Latina, Quito 1983, S. 161–189; McGreevey, William Paul: »Population Policy under the National Front«, in: Berry, R. Albert; Hellman, Ronald G.; Solaún, Mauricio (Hg.): Politics of Compromise. Coalition Government in Colombia, New Brunswick NJ: Transaction Books 1980, S. 413–432; Bravo, Germán: »National Planning and Population Policy in Colombia«, in: McCoy, Terry L. (Hg.): The Dynamics of Population Policy in Latin America, Cambridge MA: Ballinger Pub. Co 1974, S. 265–292. 91 | Royco Ott, Emiline: The Role of the Colombian Association of Medical Schools in the Development of a Population Policy in Colombia. Dissertation, Baltimore MD: Johns

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ASCOFAME-DEP ist auch der Untersuchungsgegenstand einer der wenigen historischen Arbeiten zu Bevölkerungsdebatten in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Kolumbien. So hat María Margarita Fajardo Hernández im Rahmen einer Masterarbeit 2007 diskursanalytisch herausgearbeitet, wie sich die Forschungsabteilung zwischen 1965 und 1970 als die Autorität etablierte, die das kolumbianische ›Bevölkerungsproblem‹ erforschen und lösen wollte. Die Studie wertet dieses Selbstverständnis als Ergebnis US-amerikanischer Einflussnahme und stützt sich dabei auf publizierte kolumbianische Quellen, in erster Linie auf die Veröffentlichungen von ASCOFAME-DEP.92 Eine ebenfalls wertvolle Analyse stellt die Dissertation der Anthropologin Ana María Medina Chávez von 2008 zu den Diskursen über Familienplanung und Geburtenkontrolle in Kolumbien zwischen 1964 und 1969 dar, für die sie zwei kolumbianische Tageszeitungen und eine Wochenzeitung auswertete. Wie Fajardo Hernández stellt sie die in Kolumbien geführten Debatten um die demografische Explosion als US-amerikanischen Import dar.93 Beide widersprechen damit deutlich dem Narrativ, das in zahlreichen Eigendarstellungen beteiligter Hopkins University 1974. Royco Ott hatte sich selbst, ebenso wie die von ihr untersuchte Institution, ganz klar dem Ziel der Etablierung von staatlicher Familienplanung in Kolumbien verschrieben und verfolgte mit der Dissertation das Ziel, ein ›erfolgreiches‹ Modell vorzustellen. Sie war nicht die einzige Doktorandin aus dem Bereich der Sozial- und Politikwissenschaften, die sich in den 1970er und 1980er Jahren der kolumbianischen Bevölkerungspolitik zuwandte. Für Dissertationen zu dem Thema aus dem deutschsprachigen Raum siehe u. a. Koller, Jolanda Maria: Fruchtbarkeit und Familienplanung in Kolumbien. Ein lateinamerikanisches Beispiel, Frankfurt am Main: Lang 1981; Oswald, Christian: Familienplanung als volkswirtschaftliches Investitionsproblem, aufgezeigt am Beispiel der kolumbianischen Bevölkerungspolitik, Diessenhofen: Ruegger 1979. 92 | Fajardo Hernández, María Margarita: La construcción del ›problema de población‹ en Colombia, 1965–1970. Autoridad científica, orden social y desarrollo, Bogotá: Ed. Uniandes 2007. Fajardo Hernández hat einen Auszug ihrer Ergebnisse auch in der wichtigsten kolumbianischen Zeitschrift für Geschichtswissenschaften publiziert und zudem einen Aufsatz zum Demografieprogramm an der Universidad de los Andes veröffentlicht. Vgl. Fajardo Hernández, María Margarita: »La comunidad médica, el ›problema de población‹ y la investigación sociodemográfica en Colombia, 1965–1970«, in: Historia Crítica, 33, 2007, S. 210–235; Fajardo Hernández, María Margarita: El tránsito suave de la teoría económica a través de las relaciones Norte-sur en el área de población y desarrollo durante la Guerra Fría. El caso del Centro de Estudios sobre Desarrollo Económico, CEDE, Bogotá: Universidad de los Andes 2008. 93 | Konkret formuliert sie die Ansicht, dass die Idee eines problematisch schnellen Bevölkerungswachstums von den kolumbianischen Stipendiatinnen und Stipendiaten der Rocke­f eller Foundation, der Ford Foundation und des Milbank Memorial Fund nach Kolumbien getragen worden sei. Vgl. Medina Chávez, Ana María: Los discursos sobre la

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Akteure und Akteurinnen entworfen wurde. Diese erzählen ihre Geschichte als die einer genuin kolumbianischen Bewegung, die sich erfolgreich den Widerständen der katholischen Kirche und anderer konservativer Institutionen entgegenstellte.94 Dieser ›Erfolg‹ bemisst sich nicht nur in der Tatsache, dass vor allem im privaten Sektor Familienplanungsprogramme seit den 1960er Jahren nachhaltig auf- und ausgebaut wurden, sondern auch anhand harter demografischer ›Fakten‹. So konnten Bevölkerungsforscher und -forscherinnen schon seit den späten 1960er Jahren voller Stolz darauf verweisen, dass die Geburtenrate Kolumbiens deutlich gesunken war.95 Neben den hier skizzierten kürzeren Studien gibt es gegenwärtig einzelne weitere geschichtswissenschaftliche Auseinandersetzungen mit Familienplanung, Bevölkerungspolitik und -forschung in Kolumbien in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. So hat die Historikerin Mary Roldán im Rahmen ihrer Arbeit an einer Monografie zu der katholischen Basisorganisation Acción Cultural Popular einen Aufsatz zu deren Kampagnen für »verantwortungsvolle Fortpflanzung« in den 1960er und 1970er Jahren publiziert, in dem ihr Fokus auf der agency der daran beteiligten Frauen liegt.96 Johana María Agudelo Echeverrí stellt in ihrer Untersuchung von Familienplanungsprogrammen in der zweiten Hälfte der 1970er Jahren im departamento Antioquia hingegen die Perspektive der promotoras rurales, den Verbreiterinnen der Programme, in

planificación familiar y el control natal en Colombia, 1964–1969. Dissertation, Bogotá: Universidad Nacional 2008, S. 66. 94 | Siehe Londoño, Juan B.: Cambio social ó la verdadera historia de la planificación familiar en Colombia, Bogotá 2009; Giraldo Samper, Diego: Memorias para la historia de la Asociacion Colombiana de Facultades de Medicina. Ascofame, Bogotá: ASCOFAME 2009; Dáguer, Carlos; Riccardi, Marcelo: Al derecho y al revés. La revolución de los derechos sexuales y reproductivos en Colombia, Bogotá: Profamilia 2005; Echeverry, Gonzalo: Contra Viento y Marea. 25 Años de Planificación Familiar en Colombia, Bogotá: Ed. Presencia 1991; ASCOFAME: Resumen de las actividades al cumplir 15 años de su fundación, 1959–1974, Bogotá 1974. 95 | Aus dieser umfangreichen demografischen Literatur siehe beispielhaft Seltzer, Judith; Gómez, Fernando: »Family Planning and Population Programs in Colombia 1965 to 1997. POPTECH Report No. 97-114-062«, 1998, auf: http://pdf.usaid.gov/pdf_docs/ Pnacd066.pdf (21.06.2017); Londoño, Juan B.: »The Amazing Impact of Family Planning in Colombia«, in: Family Planning Résumé, 1, 1, 1977, S. 1–17. 96 | Roldán, Mary: »Acción Cultural Popular, Responsible Procreation, and the Roots of Social Activism in Rural Colombia«, in: Latin American Research Review, 49, Special Issue: Lived Religion and Lived Citizenship in Latin America’s Zones of Crisis, 2014, S. 27–44.

1. Einleitung

den Mittelpunkt.97 Darüber hinaus entsteht aktuell in Paris eine Doktorarbeit zu Bevölkerungspolitik im kolumbianischen Sozialstaat zwischen den 1940er und 1980er Jahren.98 Ganz anders stellt sich die Forschungslage zu den kolumbianischen intellektuellen Debatten um Bevölkerung, race, Modernisierung und Fortschritt vom späten 19. Jahrhundert bis in die 1930er Jahre sowie zu eugenischen Reformbemühungen im Bildungs- und Gesundheitsbereich dar. Hierzu liegt ein umfangreicher Korpus vor, in dem zum größten Teil mit dem foucaultschen Konzept der Biopolitik gearbeitet wird.99 Nach diskursiven oder institutionellen Kontinuitäten in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts hinein wird in dieser Literatur jedoch im Unterschied zu den Forschungen zur Eugenik in den USA nicht gefragt.100 In dieser nur schwach ausgeprägten Auseinandersetzung mit der Problematisierung von Bevölkerung ab den 1940er Jahren spiegelt sich die Schwerpunktsetzung innerhalb der kolumbianischen Geschichtsschreibung zum 20. Jahrhundert wider. So liegen zum frühen 20. Jahrhundert umfangreiche kulturhistorische Arbeiten vor, während zur Zeitgeschichte im Allgemeinen 97 | Agudelo Echeverri, Johana María: »›Eramos como unas profes raras‹. Promotoras Rurales de la anticoncepción moderna en Antioquia, 1975–1979«, in: López Oseira, Ruth (Hg.): Género, prácticas y representaciones en la historia de Colombia, siglos XIX y XX, Médellin: Universidad Nacional de Colombia, Facultad de Ciencias Humanas y Económicas 2013, S. 80–108. 98 | Vgl. »Histoire de politiques de population en Colombie au 20e siècle par Matias Kitever Henao«, auf: http://www.theses.fr/s106310 (21.06.2017). 99 | Siehe u. a. Muñoz Gaviria, Educación, eugenesia y progreso, 2012; Muñoz Rojas, Mas allá del problema racial, 2011; Castro-Gómez, Santiago: »¿Disciplinar o poblar? La intelectualidad colombiana frente a la biopolítica (1904–1934)«, in: Nómadas, 26, 2007, S. 44–55; McGraw, Jason: »Purificar la nación. Eugenesia, higiene y renovación moral-racial de la periferia del Caribe colombiano, 1900–1930«, in: Revista de Estudios Sociales, 27, 2007, S. 62–75; Runge Peña, Andrés Klaus; Muñoz Gaviria, Diego Alejandro: »El evolucionismo social, los problemas de la raza y la educación en Colombia, primera mitad del siglo XX. El cuerpo en las estrategias eugenésicas de línea dura y de línea blanda«, in: Revisto Iberoamericana de Educación, 39, 2005, S. 127–168. 100 | Ana María Medina Chávez fragt in ihrer Analyse der medialen Überbevölkerungsdebatte der 1960er Jahre zwar kurz nach den ›nationalen Vorläufern‹, kommt jedoch zu dem Ergebnis, dass sich die kolumbianischen eugenischen Diskurse der 1930er Jahre auf nationaler Ebene nicht in der Gesetzgebung niederschlugen. Sie konstatiert daher, dass eine Untersuchung der eugenischen diskursiven Kontinuitäten innerhalb medizinischer und juristischer Kreise und der Frage, ob diese die ideelle Basis der Familienplanungsprogramme der 1960er Jahre gebildet hätten, noch ausstünde. Vgl. Medina Chávez, Los discursos sobre la planificación familiar, 2008, S. 65.

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und dem Frente Nacional im Besonderen klassische politikhistorische Ansätze überwiegen.101 Auch die Geschichtsschreibung zu Entwicklungspolitik und Entwicklungsdenken in Kolumbien ist rudimentär, obgleich der kolumbianische Anthropologe Arturo Escobar, der 1995 eine vielbeachtete Kritik der »magischen Formel Entwicklung« schrieb, darin in erster Linie Fallbeispiele aus Kolumbien abhandelte.102 Kolumbien wird zwar wiederholt in Studien in den Blick genommen, die einzelne prominente Entwicklungsakteure und -akteurinnen untersuchen, in deren persönlichen oder institutionellen Biografien das Land eine wichtige Station darstellte. Die meisten dieser Arbeiten werden jedoch ohne den Einbezug in Kolumbien gelagerter Quellen geschrieben und die Perspektive der kolumbianischen Akteure und Akteurinnen spielt darin, wenn überhaupt, nur eine geringe Rolle.103 Zwei unveröffentlichte Dissertationen zu den Verschränkungen zwischen Programmen zur Armutsbekämpfung in Kolumbien und den USA und zu der Herausbildung der kolumbianischen Mittelschicht in den 1950er und 1960er Jahren setzen hingegen für 101 | Siehe zu kulturhistorischen Debatten in Kolumbien Hering Torres, Max S.; Pérez Benavides, Amada Carolina (Hg.): Historia cultural desde Colombia. Categorías y debates, Bogotá: Univ. Nacional de Colombia; Univ. de los Andes; Pontifica Univ. Javeriana 2012. Zur Geschichtsschreibung zum Frente Nacional siehe z. B. den 2012 erschienenen Sammelband von Carlos Caballero Argáez, der Beiträge zum politischen System, einzelnen Politikbereichen wie der Wirtschafts- oder Agrarpolitik im Frente Nacional und die bewaffneten Auseinandersetzungen der Epoche enthält. Caballero Argáez, Carlos (Hg.): Cincuenta años de regreso a la democracia. Nuevas miradas a la relevancia histórica del Frente Nacional, Bogotá: Universidad de los Andes 2012. 102 | Escobar, Encountering Development, 1995, S. vii. 103 | Siehe Wieters, Heike: »Ever tried – ever failed? The short summer of cooperation between CARE and the Peace Corps«, in: International Journal: Canada’s Journal of Global Policy Analysis, 70, 1, 2015, S. 147–158; Sum, Anna Barbara: »›A new brand of magicians‹. Albert O. Hirschman und entwicklungsökonomische Expertise in Kolumbien, 1946–1958«, in: Rinke; González de Reufels, Expert Knowledge, 2014, S. 255– 280; Kelly, Stephanie: Strategic Philanthropy. The Ford and Rocke­feller Foundations in Latin America and the Origins of American Global Reform. Dissertation, Houston TX: University of Houston 2013; Lorek, Timothy W.: »Imagining the Midwest in Latin America. US Advisors and the Envisioning of an Agricultural Middle Class in Colombia’s Cauca Valley, 1943–1946«, in: The Historian, 75, 2, 2013, S. 283–305; Nussio, Enzo; Pernet, Corinne: »The Securitisation of Food Security in Colombia, 1970–2010«, in: Journal of Latin American Studies, 45, 4, 2013, S. 641–668; Adelman, Jeremy: »Observando a Colombia. Albert O. Hirschman y la Economía del Desarrollo«, in: Desarrollo y Sociedad, 62, 2008, S. 1–37; Alacevich, Michele: »Post-war Economic Policies for Development. Lauchlin B. Currie and The World Bank in Colombia«, in: Storia del pensiero economico, 2, 1, 2005, S. 73–92.

1. Einleitung

Kolumbien erstmals den Anspruch um, eine verflochtene Geschichte der Entwicklungshilfe zwischen den USA und Kolumbien zu schreiben.104 Auch aus dem Bereich der Wissenschaftsgeschichte und zur kulturellen Diplomatie der Vereinigten Staaten liegen Arbeiten aus dieser Perspektive vor.105 Die militärische und sicherheitspolitische Zusammenarbeit zwischen beiden Ländern im Kalten Krieg ist ebenfalls wiederholt behandelt worden und dominiert auch umfassendere diplomatiehistorische Monografien zu deren Beziehungen.106

1.4 A uswahl der Q uellen und A rchive Um der Produktion und Zirkulation des transnationalen Bevölkerungswissens in Kolumbien und den Aushandlungsprozessen zwischen den daran beteiligten Institutionen, Akteuren und Akteurinnen auf den Grund zu gehen, kann grundsätzlich jegliches Material als Quelle herangezogen werden, das in den verschiedenen Etappen der untersuchten Forschungsprojekte entstanden ist. Insgesamt baut die vorliegende Untersuchung auf umfangreichen, zum größ104  |  Vgl. Offner, Amy C.: Anti-Poverty Programs, Social Conflict, and Economic Thought in Colombia and the United States, 1948–1980. Dissertation, New York: Columbia University 2012; López, A. Ricardo: A Beautiful Class, an Irresistible Democracy. The Historical Formation of the Middle Class in Bogotá, 1955–1965. Dissertation, College Park MD: University of Maryland 2008. Der US-amerikanische Historiker Robert A. Karl nimmt in seiner 2017 publizierten Monografie hingegen eine innovative Perspektive auf kolumbianische Entwicklungsmodelle in den Anfangsjahren des Frente Nacional ein, die explizit nicht die transnationale Dimension in den Mittelpunkt stellt. Vgl. Karl, Robert A.: Forgotten Peace. Reform, Violence, and the Making of Contemporary Colombia, Oakland CA: Univ. of California Press 2017. 105 | Siehe Quintero Toro, Camilo: Birds of Empire, Birds of Nation. A History of Science, Economy, and Conservation in United States-Colombia Relations, Bogotá: Ed. Uniandes 2012; Corcoran, David A.: The Infrastructure of Influence. Transnational Collaboration and the Spread of US Cultural Influence in Colombia, 1930s to 1960s. Dissertation, Albuquerque NM: The Univ. of New Mexico 2011. 106 | Siehe Castrillón, Javier: »The Cold War in Colombia. Colombian Defence Policy and the Role of the United States, 1966–1970«, in: Revista de Relaciones Internacionales, Estrategía y Seguridad, 8, 1, 2013, S. 85–112; Rempe, Dennis M.: »The Origin of Internal Security in Colombia. Part I — A CIA Special Team Surveys La Violencia, 1959– 60«, in: Small Wars & Insurgencies, 10, 3, 1999, S. 24–61; Coleman, Bradley Lynn: Colombia and the United States. The Making of an Inter-American Alliance, 1939–1960, Kent OH: Kent State Univ. Press 2008; Randall, Stephen J.: Colombia and the United States. Hegemony and Interdependence, Athens GA; London: The Univ. of Georgia Press 1992.

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ten Teil bisher nicht bearbeiteten Quellenbeständen auf. Für die hier in erster Linie untersuchten Umfragestudien reicht das Material von Forschungsanträgen über Berichte aus der Feldforschung und Interviewbögen bis hin zu den wissenschaftlichen Publikationen ihrer Ergebnisse. Die Zirkulation des Wissens außerhalb der im engeren Sinne wissenschaftlichen Kreise lässt sich wiederum beispielsweise in Gesetzentwürfen oder Zeitungsartikeln verfolgen. Die Suche nach dem Material der Wissensproduktion und -zirkulation ist an die Institutionen und Personen gebunden, die die Forschung betrieben oder finanzierten, da es entweder in institutionellen Archiven oder persönlichen Nachlässen archiviert ist. Die Auswahl der Archive stellt also eine grundlegende methodische Weichenstellung dar, weshalb dieser Entscheidungsprozess hier kurz nachvollzogen werden soll, bevor die unterschiedlichen Funde und einige damit verbundene methodische Herausforderungen reflektiert werden. Um die Interaktion zwischen US-amerikanischen und kolumbianischen Wissensproduzentinnen und -produzenten zu analysieren, und weil fast alle Studien zu Fertilität und Familienplanung in Koproduktion zwischen Akteurinnen und Akteuren der beiden Länder entstanden, liegen ihr notwendigerweise Archivmaterialien aus beiden Ländern zugrunde. Für die US-amerikanische Seite war es aufgrund der großen Anzahl an population studies centers, die in den 1960er und 1970er Jahren zu Kolumbien forschten oder kolumbianische Forscher und Forscherinnen berieten, nicht möglich, diese Institutionen komplett abzudecken. Die exemplarische Auswahl des International Population Program (IPP) und ihres Leiters J. Mayone Stycos, für die der Bestand des IPP sowie der Nachlass von Stycos an der Cornell University bearbeitet wurde, begründet sich folgendermaßen: Innerhalb der US-amerikanischen Bevölkerungsforschungsinstitute hatte das IPP den deutlichsten regionalen Schwerpunkt auf Lateinamerika, und unter den US-amerikanischen Bevölkerungs­ experten und -expertinnen gehörte J.  Mayone Stycos zu denjenigen, die am häufigsten den Kontinent bereisten. An seinem Nachlass ist hervorzuheben, dass er nicht nur Archivalien enthält, die mit seiner Funktion als Direktor des IPP zusammenhängen, sondern auch umfangreiche Materialien, die seine Tätigkeit als Berater des Population Council dokumentieren, so z. B. die Arbeitstagebücher, die er auf Reisen nach Kolumbien im Auftrag dieser Organisation anfertigte. Ähnliche Materialien sind auch von Beratern der Ford Foundation und der Rocke­feller Foundation überliefert, die ebenso wie der Population Council Bevölkerungsforschung in Kolumbien finanzierten, kolumbianische Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen bei der Konzipierung und Durchführung von Forschungsprojekten berieten und den institutionellen Auf bau des Forschungszweiges begleiteten. Deren Materialien sind im Rockefeller Archive Center (RAC) in Sleepy Hollow, New York, auf bewahrt, das die Bestände zahlreicher philanthropischer Organisationen enthält. Das RAC bildete daher

1. Einleitung

neben der Cornell University die zweite große Anlaufstelle in den USA.107 Dort lagern auch umfangreiche Materialien der kolumbianischen Institutionen, die vom Population Council, der Ford Foundation und der Rocke­feller Founda­ tion gefördert wurden, wie z. B. zahlreiche Forschungs- und Jahresberichte der Abteilung für Bevölkerungsforschung des kolumbianischen Verbandes medizinischer Fakultäten (ASCOFAME-DEP) und damit derjenigen Institution, die in den 1960er Jahren am intensivsten zu Fertilität und Familienplanung in Kolumbien forschte. In Kolumbien selbst ist das Archiv von ASCOFAME-DEP nicht erhalten. Da es sich jedoch um einen Dachverband handelte, sind Materialien bei einzelnen Tochterorganisationen gelagert, so z. B. im Zentralarchiv der staatlichen Universidad Nacional de Colombia in Bogotá. Die Archivauswahl in Kolumbien gestaltete sich breiter, die Funde in den einzelnen Archiven fielen jedoch schmaler aus. Die Identifizierung zentraler kolumbianischer Standorte der Bevölkerungsforschung in den 1960er Jahren fand in einem ersten Schritt anhand der in den USA gefundenen Materialien statt, was die Auswahl zunächst auf Institutionen beschränkte, die mit den untersuchten US-amerikanischen Akteuren und Akteurinnen in Verbindung standen. Auf dieser Grundlage wurden die Universidad del Valle in Cali sowie die Universidad de los Andes in Bogotá als Universitäten identifiziert, an denen intensiv Forschung zu Bevölkerung, Fertilität und Familienplanung betrieben wurde, so dass deren Archive eine wichtige Anlaufstelle für die Quellensichtung darstellten. Alle weiteren kolumbianischen Archive wurden durch Gespräche mit Archivaren und Archivarinnen, Historikern und Historikerinnen, aber auch mit Zeitzeugen und Zeitzeuginnen identifiziert. In Cali stellte sich neben dem Zentralarchiv der Universidad del Valle die Bibliothek (Centro de Documentación) der Escuela de Salud der Universität als sehr ertragreich heraus. So sind dort zahlreiche Materialien überliefert, die die Arbeit der Universität in dem Ort Candelaria dokumentieren, in dem umfassend zu Fertilität und Familienplanung geforscht wurde. In Bogotá erwiesen sich neben dem Zentralarchiv und der wirtschaftswissenschaftlichen Bibliothek der bereits genannten Universidad de los Andes im universitären Bereich das Zentralarchiv und das Archiv der humanwissenschaftlichen Fakultät der Universidad Nacional sowie das Zentralarchiv der jesuitischen Pontificia Universidad Javeriana als ertragreich. Zudem wurden die Bibliotheken der privaten Familienplanungsorganisation Asociación Probienestar de la Familia Colombiana (Profamilia) und der staatlichen Planungsbehörde Departamento de Planeación Nacional ausgewertet. Weiterhin wurden deren Bestände im kolumbianischen Nationalarchiv und drei Nachlässe in der 107 | Neben dem RAC und dem Archiv der Cornell University wurden noch zwei Nachlässe an der Duke University in Durham, North Carolina, und an der Columbia University in New York gesichtet.

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privaten Biblioteca Luis Ángel Arango gesichtet. Auch konnte das private Archiv und die Bibliothek des Soziologen Gabriel Restrepo gesichtet und genutzt werden. Wie die Hinweise auf die Bibliotheken in Kolumbien schon zeigen, erstreckt sich der Fundus publizierter Quellen, d. h. die Auswahl veröffentlichter Forschungsergebnisse, weit über international zugängliche Fachzeitschriften hinaus. So sind zahlreiche als Monografien publizierte Studien, die in kleiner Auflage oder als graue Literatur erschienen, sowie kolumbianische Fachzeitschriften nur in Bibliotheken vor Ort zugänglich. Doch auch die Zentralbibliothek der Cornell University sowie die Bibliothek des Ibero-Amerikanischen Instituts in Berlin enthalten eine umfangreiche Auswahl an bevölkerungswissenschaftlicher Literatur zu Kolumbien aus den 1950er bis 1970er Jahren. Systematisch ausgewertet wurden die folgenden Fachzeitschriften: Concerned Demography (Hg. Concerned Demographers), Demography (Hg. Population Association of America), The Milbank Memorial Fund Quarterly (Hg. The Milbank Memorial Fund), Population and Development Review (Hg. Population Council), Revista Colombiana de Obstetricia y Ginecología (Hg. Federación Colombiana de Obstetricia y Ginecología), Revista de Planeación y Desarrollo (Hg. Departamento Nacional de Planeación), Revista Javeriana (Hg. Pontificia Universidad Jave­ ria­na) und Studies in Family Planning (Hg. Population Council). Die Zirkula­ tion des Wissens zu Bevölkerung, Fertilität und Familienplanung jenseits der vielfältigen wissenschaftlichen Veröffentlichungswege systematisch zu verfolgen, übersteigt den Rahmen dieser Studie. So wurden an dieser Stelle pragmatische Entscheidungen getroffen. Für den politischen Bereich im engeren Sinne bedeutet dies, dass ausschließlich Archivalien der nationalen Planungsbehörde gesichtet wurden. Diese war für die nationalen Entwicklungspläne zuständig, innerhalb derer ab den späten 1960er Jahren bevölkerungspolitische Richtlinien formuliert wurden. Für den medialen Bereich wurde ausschließlich auf vorsortierte Bestände zurückgegriffen, die im Nachlass von J. Mayone Stycos gelagert sind. So befinden sich im Archiv der Cornell University dank eines großen Forschungsprojektes am International Population Program zur Bericht­er­stat­t ung über Bevölkerungsprobleme in Lateinamerika von 1964 bis 1968 viele Hundert Zeitungsartikel zum Thema aus kolumbianischen Tageszeitungen. In der Zusammenschau stellen die hier skizzierten Quellenbestände die Beantwortung der eingangs gestellten Forschungsfragen und die Auseinandersetzung mit den Thesen vor einige Herausforderungen, die bei der Analyse berücksichtigt werden müssen. So herrscht ein deutliches Ungleichgewicht zwischen den Quellen der US-amerikanischen und kolumbianischen Akteure und Akteurinnen. Auf US-amerikanischer Seite liegen deutlich mehr Quellen vor, in denen persönliche Einschätzungen über die Forschungsprojekte und die Zusammenarbeit mit den kolumbianischen Wissenschaftlern und Wis-

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senschaftlerinnen getroffen werden, als vice versa. Schilderungen der »close encounters« und der transnationalen Zusammenarbeit sind also nur von einer sehr kleinen Gruppe der daran beteiligten Akteure und Akteurinnen vorhanden. Wenn schon gilt, dass die Perspektive der kolumbianischen Forscher und Forscherinnen weniger umfangreich überliefert ist als die ihrer US-amerikanischen Pendants und Geldgeber, so gilt diese Diskrepanz noch viel stärker für alle anderen an der Wissensproduktion beteiligten Akteure und Akteurinnen, wie z. B. die Interviewerinnen und die befragten Frauen und Männer. Das Machtgefälle, das zwischen diesen Personen bestand, findet seine Fortsetzung im archivierten Material. Hier gilt es, Quellen gegen den Strich zu lesen, um die Stimmen, Perspektiven und agency der Akteure und Akteurinnen einzufangen, die keine eigenen Archivquellen hinterlassen haben.

1.5 A ufbau der S tudie Das transnational produzierte und zirkulierende Wissen zu Bevölkerung, Fertilität und Familienplanung in Kolumbien wird in dieser Untersuchung in drei Schritten analysiert, die unterschiedlich stark gewichtet sind. Im ersten Schritt werden in zwei Kapiteln die institutionellen und individuellen Träger und Trägerinnen des Wissens untersucht. So beleuchtet Kapitel 2 zunächst die disziplinäre Entwicklung von Sozialdemografie und Bevölkerungswissenschaften in den Vereinigten Staaten von den 1920er bis in die 1960er Jahre und die in diesem Zusammenhang zentrale Theorie des demografischen Übergangs sowie deren Blick auf die demografische Entwicklung Lateinamerikas. Sodann werden das in den 1960er Jahren gegründete und auf Lateinamerika und Fertilitätsforschung spezialisierte International Population Program sowie die Expertenbiografie des Soziologen und Bevölkerungsforschers J.  Mayone Stycos untersucht. Kapitel 3 wendet sich dann der Einrichtung bevölkerungswissenschaftlicher Forschungszentren in Kolumbien zu. Hier wird zunächst das Agieren der Rocke­feller Foundation, Ford Foundation und des Population Council in Kolumbien analysiert, dann werden mit dem Demografieprogramm an der Universidad de los Andes und der Abteilung für Bevölkerungsforschung des Verbandes medizinischer Fakultäten Kolumbiens zwei Gründungs- und Institutionsgeschichten nachvollzogen, die seitens dieser US-amerikanischen Akteure und Akteurinnen als Erfolgsgeschichten galten. Anschließend werden mit dem sozio-religiösen Centro de Investigaciones Sociales und der So­zio­ lo­gi­schen Fakultät der Universidad Nacional zwei Institute betrachtet, mit denen die Stiftungen nur kurzzeitig in Kontakt standen. Auf diese Weise werden weitere transnationale Verbindungen und Denkströmungen sichtbar, die die Forschung zu ›Bevölkerungsproblemen‹ in Kolumbien zwischen den 1950er und 1970er Jahren prägten.

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Kapitel 4 bildet die zweite Untersuchungsebene und widmet sich den sogenannten Fertilitätsumfragen und damit dem Forschungszweig, der paradigmatisch für die enge Verbindung zwischen den Bevölkerungswissenschaften und dem Auf bau von Familienplanungsprogrammen in den 1960er Jahren steht. Die Umfragen werden dabei zunächst auf ihre Funktion befragt und in den wissenschaftlichen Kontext ihrer Zeit gestellt. Den Kern des Kapitels bildet jedoch eine detaillierte Analyse der Wissensproduktion in ihren einzelnen Schritten von der Antragstellung bis zur tabellarischen Auswertung sowie der Interaktion zwischen den daran beteiligten Akteuren und Akteurinnen. Hierbei wird der Auswahl und Ausbildung von Interviewerinnen sowie den Zielen und Effekten, die mit der Interviewsituation verknüpft waren, und den Schwierigkeiten, die dabei auftraten, besondere Aufmerksamkeit geschenkt. In einem dritten Schritt wird die in Kolumbien durchgeführte Fertilitätsforschung schließlich in den Kapiteln 5 und 6 auf ihre politische und kulturelle Eingebundenheit untersucht und im Kontext breiterer gesellschaftlicher Debatten zu Familie, Geschlechterrollen, Sexualität und Verhütung einerseits und zu Entwicklung, Ernährung und Gesundheit andererseits analysiert. Der Schwerpunkt von Kapitel 5 liegt dabei erneut auf der Fertilitätsforschung, die auf ihre Vorannahmen sowie Idealbilder befragt wird. Kontextuell werden vor allem gesellschaftliche Debatten um ›verantwortungsvolle Elternschaft‹, Frauenrechte, Verhütungsmittel und die Position der katholischen Kirche in der kolumbianischen Gesellschaft betrachtet. Kapitel 6 legt den Fokus hingegen auf die Genese eines spezifischen Familienplanungsprogramms in der Gemeinde Candelaria nahe der Stadt Cali und stellt dabei heraus, wie die Problematisierung von Bevölkerungswachstum und kinderreichen Familien im Zusammenhang mit Forschung zu Unterernährung und den Versuchen, durch Anreize zur Selbsthilfe gesunde, eigenverantwortliche Bürger und Bürgerinnen zu schaffen, entstand.

2. Bevölkerungswissenschaften in den USA

Anfang 1962 wurde an der namhaften Cornell University in Ithaca, New York, ein Zentrum für Bevölkerungsforschung gegründet. Ermöglicht hatte die Einrichtung des International Population Program (IPP) eine umfangreiche Startfinanzierung der Ford Foundation. Ziel des Instituts sei, so die Eigendarstellung des Gründers J.  Mayone Stycos und seiner Assistenten, traditionelle demografische Methoden mit sozialwissenschaftlichen Ansätzen zu verknüpfen sowie eigene Feldforschung der Studierenden in der Ausbildung zu verankern. Damit wolle man der weltweit zunehmenden Nachfrage nach Demografinnen und Demografen begegnen, die in der Lage sind, die durch das Anwachsen der Weltbevölkerung entstehenden Probleme anzugehen. Die Nachfrage sei besonders in den sich modernisierenden Ländern Lateinamerikas hoch, weshalb die Kombination der neuen demografischen Ausbildung mit den Lateinamerikastudien in Cornell ausdrücklich erwünscht sei.1 Das IPP war eines von zahlreichen Instituten, die in den 1960er Jahren gegründet wurden, um Bevölkerungswachstum, die damit verbundenen ›Probleme‹ und mögliche Lösungswege zu erforschen und J. Mayone Stycos war einer von vielen jungen Sozialwissenschaftlerinnen und Sozialwissenschaftlern, die über die Produktion und Zirkulation dieses Wissens Karrieren zwischen Wissenschaft und Politik auf bauten und zu gefragten Bevölkerungsexperten und -expertinnen aufstiegen. Diese Verzahnung der politischen und der wissenschaftlichen Konstruktion und Problematisierung von ›Bevölkerung‹ und ›Fertilität‹ sowie die bedeutende Rolle, die philanthropische Stiftungen dabei spielten, werden in der folgenden Analyse der Institutionalisierung von Sozialdemografie und Bevölkerungswissenschaft in den USA und der Herausbildung der Figur des Bevölkerungsexperten im Mittelpunkt stehen.2 1 | Stycos, J. Mayone; Feldt, Allan G.; Myers, George C.: »The Cornell International Population Program«, in: The Milbank Memorial Fund Quarterly, 42, 2/2, 1964, S. 198–211. 2 | Ausschnitte der Unterkapitel 2.2 und 2.4 wurden bereits in folgendem Aufsatz veröffentlicht: Huhle, Teresa: »›Lateinamerika ist ein Paradies für Demografen und ein

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Bevölkerung, Fer tilität und Familienplanung in Kolumbien

2.1 S ozialdemogr afie und B e völkerungsforschung in den USA Die Produktion wissenschaftlichen Wissens über Bevölkerung und Fertilität und die Entwicklung der Bevölkerungswissenschaften lassen sich nicht getrennt von der Besorgnis über bestimmte Bevölkerungsentwicklungen und der Suche nach Möglichkeiten, diese zu verändern, fassen.3 Vom späten 19. Jahrhundert bis in die 1920er Jahre hinein war die Bevölkerungsforschung in den USA und insbesondere der seit 1790 im 10-Jahres-Rhythmus durchgeführte Zensus von der Anti-Einwanderungsstimmung und der Sorge um die ›rassische‹ Zusammensetzung der US-amerikanischen Gesellschaft geprägt gewesen. 4 Nachdem die Einwanderungsfrage durch den Immigration Act von 1924 gelöst worden sei, so die Formulierung Clyde V. Kisers in einem Interview von 1973, hätten Bevölkerungsforscher wie er ihre Aufmerksamkeit auf »nationale Probleme« gerichtet.5 Das nationale Problem, das die Bevölkerungsforschung Albtraum für Planer‹. Bevölkerungsexpertise im Kalten Krieg«, in: Rinke; González de Reufels, Expert Knowledge, 2014, S. 333–358. 3 | Die Begriffe Demografie und Bevölkerungswissenschaft werden in den Quellen und der Forschungsliteratur nicht klar unterschieden. Grundsätzlich wird in dieser Arbei eine analytische Unterscheidung zwischen ›Demografie‹ als Begriff für die Untersuchung der Variablen Fertilität, Mortalität und Mobilität auf Grundlage von Bevölkerungsstatistiken und ›Bevölkerungswissenschaft‹ getroffen, was in Anlehnung an Rainer Mackensen als Begriff für die in erster Linie soziologische Interpretation der Variablen und ihrer Zusammenhänge verstanden wird. In Einzelfällen werden jedoch die jeweiligen Quellenbegriffe übernommen. Vgl. Mackensen, Bevölkerungslehre und Demographie, 2006, S. 185. 4 | Vgl. Ramsden, Social Demography and Eugenics, 2003, S. 552. Zur Dominanz von Fragen nach race und Migration im US-amerikanischen Zensus in dieser Zeit siehe Schor, Paul: »The View from Below and the View from Above. What U.S. Census-Taking Reveals about Social Representations in the Era of Jim Crow and Immigration Restriction«, in: Hartmann; Unger, A World of Populations, 2014, S. 19–35. Zur Geschichte der Volkszählung in den USA siehe grundlegend Schor, Paul: Compter et classer. Histoire des recensements américains, Paris: Éditions de l’EHESS 2009; Anderson, The American Census, 1988. 5 | van der Tak, Jean: »Demographic Destinies. Interviews with Presidents and Secretary-Treasurers of the Population Association of America. PAA Oral History Project. Volume 1 – Presidents. Number 1 – From 1947 through 1960«, 2005, auf: http:// www.populationassociation.org/wp-content/uploads/PAA_Presidents_1947-60.pdf (21.06.2017), S. 63. Der Soziologe Clyde V. Kiser arbeitete von 1931 bis 1970 für den Milbank Memorial Fund und war von 1942 bis 1975 als Demograf am Office of Population Research der Princeton University angestellt. Er forschte zu Fertilität in den USA. Zum Immigration Act von 1924 und dessen Vorgeschichte siehe Decker, Robert Júlio:

2. Bevölkerungswissenschaf ten in den USA

in erster Linie umtrieb, war jedoch weiterhin eng mit den Migrantinnen und Migranten verknüpft: So formierte sich rund um das Wissen zu differenzieller Fertilität entlang race- und class-Linien in den 1920er und 1930er Jahren das Feld der Sozialdemografie.6 Die Untersuchungen der gruppenspezifischen Geburtenraten waren von der Sorge um sinkende Bevölkerungszahlen im Allgemeinen und um den relativen Rückgang der native white Americans im Besonderen geprägt.7 Als institutionelle Anfangsmomente der sozialwissenschaftlichen Bevölkerungsforschung in den USA gelten die Gründung der Scripps Foundation for Research in Population Problems 1922 unter der Leitung von Warren S. Thompson, die Einrichtung der Forschungsabteilung im Milbank Memorial Fund 1928 unter der Leitung Frank W. Notesteins, die Gründung des Verbandes Population Association of America 1931 sowie des Office of Population Research an der Princeton University 1936.8 In und zwischen diesen Institutionen vollzog sich, in Abgrenzung von der biologischen Bevölkerungsforschung und The Political Regulation of Immigration in the United States, 1894–1924. Dissertation, Leeds: The University of Leeds 2012. 6 | Vgl. Ramsden, Social Demography and Eugenics, 2003, S. 551f. 7 | Vgl. Brumberg, Johanna: »›Fact Finder for the Nation‹. Die Entdeckung des Baby Booms im US Census von 1940«, in: Reinecke; Mergel, Das Soziale ordnen, 2012, S. 123–154, hier: S. 124ff. Zu Diskursen rund um den »race suicide« der natives und die Fertilität der Migrantinnen siehe auch Mesner, Maria: Geburten/Kontrolle. Reproduktionspolitik im 20. Jahrhundert, Wien: Böhlau 2010, S. 236ff; Bashford, Global Population, 2014, S. 109–144. 8 | Die private Stiftung Scripps Foundation for Research in Population Problems wurde von dem US-amerikanischen Zeitungsmagnaten Edward Scripps gegründet. Als Hintergrund seines Engagements gelten Reisen durch Asien, bei denen er auf das ›Bevölkerungsproblem‹ aufmerksam wurde, sowie seine Lektüre von Warren S. Thompsons Dissertation zu Thomas R. Malthus. Thompson gilt als ein Gründervater der US-amerikanischen Demografie. Die Scripps Foundation war bis in die 1940er Jahre hinein eine bedeutende Förderin von Bevölkerungsforschung. Vgl. Notestein, Frank W.: »Demography in the United States. A Partial Account of the Development of the Field«, in: Population and Development Review, 8, 4, 1982, S. 651–687, hier: S. 654. Die private Stiftung Milbank Memorial Fund wurde 1905 von Elizabeth Milbank Anderson gegründet. Sie fördert seither Forschung zu Public Health und veröffentlicht seit 1923 die Fachzeitschrift The Milbank Memorial Fund Quarterly. Eine Durchsicht der Inhaltsverzeichnisse zeigt, dass die Stiftung schon seit den 1920er Jahren Forschung zu Bevölkerung finanzierte, allerdings bis in die 1940er Jahre hinein vor allem zu den USA und zu China. Von einer Schwerpunktverschiebung hin zu Entwicklungsländern zeugt erstmals die Ausgabe von 1948. Zum Office of Population Research und der Population Association of America siehe die Ausführungen im weiteren Verlauf dieser Darstellung.

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Eugenik einerseits und zwischen Wissenschaft und Politik andererseits, die Etablierung der Sozialdemografie. Diese doppelte Abgrenzung ist ein zentrales Motiv in den disziplinhistorischen Rückblicken beteiligter Akteure, bspw. in den Erzählungen Frank Notesteins und Frederick Osborns.9 Osborn selbst ist in diesem Zusammenhang jedoch das Paradebeispiel für die produktive Verbindung zwischen der (Reform-)Eugenik und Sozialdemografie in den 1930er Jahren.10 Statt von einem Wechsel des Untersuchungsobjekts Bevölkerung aus der Biologie in die Sozialwissenschaft zu sprechen, hat Edmund Ramsden gezeigt, wie die personell, institutionell und inhaltlich eng verflochtenen Reformeugenik und Sozialdemografie die Grenze zwischen Biologie und So­zio­lo­gie überschritten. Das gemeinsame Interesse habe in dem Streben, die Bevölkerungsqualität durch eine Reduktion der differenziellen Fertilität zu verbessern, bestanden; ob sich diese Qualität sozial oder biologisch erklärte, sei demgegenüber zweitrangig gewesen.11 Auch die zweite Abgrenzungsebene, die wissenschaftliche Forschung dem politischen Aktivismus gegenüberstellte, erweist sich bei näherer Betrachtung als Strategie der Verwissenschaftlichung und nicht als sinnvolle analytische Kategorie der historischen Untersuchung. Diese sollte nicht die tatsächliche Abgrenzung der US-amerikanischen Bevölkerungsforschung von der Politik, sondern die permanente Bemühung dieser Grenzziehung und gleichzeitig konstitutive Verschränkung der Ebenen in den Blick nehmen.12 Beispielhaft kann hier die Gründung der Population Associa9 | Vgl. Notestein, Demography in the United States, 1982; Osborn, Frederick: »American Foundations and Population Problems«, in: Weaver, Warren (Hg.): U.S. Philanthropic Foundations. Their History, Structure, Management, and Record, New York; Evanston; London: Harper & Row 1967, S. 365–374. 10 | Der wohlhabende Philanthrop Frederick Osborn (1889–1981) personifiziert die Verbindung, da er sowohl Mitbegründer und lang jähriges aktives Mitglied der American Eugenics Society (1926–1972), als auch 1936 direkt an der Gründung des Office of Population Research an der Princeton University beteiligt war. Vgl. Connelly, Fatal Misconception, 2008, S. 106f. 11 | Vgl. Ramsden, Social Demography and Eugenics, 2003. Zur US-amerikanischen Reformeugenik der 1930er Jahre siehe auch Kline, Building a Better Race, 2005, S. 124–156. Zu den personellen Verzahnungen zwischen der American Eugenics Society und dem 1952 gegründeten Dachverband International Planned Parenthood Federation (IPPF) sowie der ebenfalls 1952 gegründeten Organisation Population Council siehe Kühl, Stefan: Die Internationale der Rassisten. Aufstieg und Niedergang der internationalen Bewegung für Eugenik und Rassenhygiene im 20. Jahrhundert, Frankfurt am Main: Campus 1997, S. 198–204. 12 | Vgl. Greenhalgh, The Social Construction of Population Science, 1996, S. 30f; Schultz, Hegemonie – Gouvernementalität – Biomacht, 2006, S. 84; Sharpless, Population Science, 1997, S. 186.

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tion of America (PAA) angeführt werden: Der Verband war 1931 auf Initiative Margaret Sangers gegründet worden. Um sich von der umstrittenen Geburtenkontrollbewegung, deren bekannteste Vertreterin sie war, abzugrenzen und die Wissenschaftlichkeit der Bevölkerungsforschung unter Beweis zu stellen, wurde Sanger jedoch von allen Ämtern ausgeschlossen und in der Grün­dungs­ char­ta die explizite Trennung von Wissenschaft und Politik festgeschrieben. Dennoch vertraten zahlreiche Mitglieder reformerische, malthusianistische, rassistische und eugenische Positionen.13 Die Gründung der PAA im Jahre 1931 ist ein gutes Beispiel, um den angesprochenen transnationalen Charakter der Demografie herauszustellen. So geht dieser die Gründung des internationalen Dachverbands International Union for the Scientific Study of Population (IUSSP) 1927 voraus, die ebenfalls auf das Engagement Margaret Sangers zurückzuführen ist. Bis 1947 waren die Mitglieder in Länderdelegationen organisiert, die Gründung des PAA war also eine direkte Folge der internationalen Vernetzung.14 Ebenso ist im Kontext der Transnationalität auf die enge Verbindung der US-amerikanischen Sozialdemografie und ‑eugenik mit der schwedischen Reformeugenik hinzuweisen. Der Bezug auf die schwedische Eugenik und Sozialpolitik, die eng mit dem Namen Myrdal verbunden ist, diente der Abgrenzung gegenüber dem totalitären deutschen Modell und der Legitimation einer demokratischen Eugenik, die ›wünschenswerte‹ Familien durch Anreize zur Erhöhung der Kinderzahl animierte und ›defekten‹ Individuen Geburtenkontrolle nahelegte.15 Die Möglichkeiten, nach Vorbild der schwedischen ›demokratischen Eugenik‹ die Geburtenrate ›wünschenswerter‹ Familien anzuheben, wurden erstmals 1938 in einer großangelegten Studie in Indianapolis erforscht. Finanziert wurde die »Study of Social and Psychological Factors Affecting Fertility« vom Milbank Memorial Fund und der Carnegie Foundation, das Forschungskomitee bestand aus Forscherinnen und Forschern der Sozialdemografie und Psychologie. Für die Studie wurden in erster Ehe verheiratete, protestantische, 13 | Vgl. Greenhalgh, The Social Construction of Population Science, 1996, S. 34ff. 14 | Zur IUSSP siehe Overath, Petra: »Bevölkerungsforschung transnational. Eine Skizze zu Interaktionen zwischen Wissenschaft und Politik am Beispiel der International Union for the Scientific Study of Population«, in: Dies., Die vergangene Zukunft Europas, 2011, S. 57–83. 15 | Vgl. Ramsden, Social Demography and Eugenics, 2003, S. 569–573. Siehe zu Eugenik, Social Engineering und Bevölkerungspolitik aus Schweden Etzemüller, Thomas: Die Romantik der Rationalität. Alva & Gunnar Myrdal – Social Engineering in Schweden, Bielefeld: transcript 2010; Engh, Sunniva: »From Northern Feminists to Southern Women. Scandinavian Population Aid to India«, in: Pharo, Helge Ø.; Fraser, Monika Pohle (Hg.): The Aid Rush. Aid Regimes in Northern Europe during the Cold War, Oslo: Oslo Academic Press 2007, S. 253–284.

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›weiße‹, in den USA geborene Paare, die seit ihrer Ehe in einer Großstadt lebten und die mindestens die Grundschule absolviert hatten, intensiv befragt. Die Aufmerksamkeit lag demnach genau auf der Bevölkerungsgruppe, deren sinkende Fertilität beklagt wurde. Von der innovativen Verknüpfung von Fragen zu Fertilität und Fertilitätsverhalten mit sozio-psychologischen Variablen versprachen sich die Forscherinnen und Forscher Ergebnisse, auf deren Grundlage eine das schwedische Modell nachahmende Bevölkerungspolitik etabliert werden konnte. Der so genannte Babyboom der ›weißen‹ Mittelklasse, der Anfang der 1940er Jahre sichtbar gemacht wurde, ließ die Frage danach, wie die Geburtenrate dieser Bevölkerungsgruppe angehoben werden könnte, jedoch irrelevant erscheinen und stellte die noch junge Disziplin der Demografie vor Legitimationsprobleme. Die Indianapolis-Studie konnte jedoch eine große Diskrepanz zwischen den Variablen ›Wunsch-Familiengröße‹ und ›reale Familiengröße‹ aufzeigen und diente damit langfristig der Legitimation von Familienplanungsprogrammen.16 Die Sichtbarkeit des Babybooms, insbesondere innerhalb der ›weißen‹ Mittelschicht, geht dabei auf eine stärkere Berücksichtigung von Geburts- und Fertilitätsraten im US-Zensus von 1940 zurück, wie jüngst gezeigt worden ist. Diese verstärkte Aufmerksamkeit war wiederum Ergebnis des sozialdemografischen Interesses an der Fertilität und der erfolgreichen Einflussnahme von Bevölkerungswissenschaftlerinnen und -wissenschaftlern auf die staatliche Datenerhebung.17 Diese enge Zusammenarbeit zwischen sozialwissenschaftlichen Expertinnen und Experten einerseits und Regierungsbehörden andererseits ist in den 1930er Jahren kein spezifisches Charakteristikum der Demografie, sondern fügt sich in den breiteren Kontext der ›Verwissenschaftlichung des Sozialen‹ und der zunehmenden regierungsberatenden Bedeutung der Sozialwissenschaften im Kontext der New Deal-Reformen der Roosevelt-Regierung. Der Blick ›nach innen‹, den der Ausbau des Sozialstaats implizierte, und das damit einhergehende Interesse an der ›sozialen Frage‹ prägte die Bevölkerungsforschung der 1930er Jahre.18 Für die stärker 16 | Vgl. Ramsden, Social Demography and Eugenics, 2003, S. 573–577. Die Ergebnisse der Studie wurden in 33 Artikeln in der Zeitschrift des Milbank Memorial Fund veröffentlicht und schließlich 1958 zusammengefasst: Vgl. Kiser, Clyde V.; Whelpton, P.K: »Social and Psychological Factors Affecting Fertility. XXXIII. Summary of Chief Findings and Implications for Future Studies«, in: The Milbank Memorial Fund Quarterly, 36, 3, 1958, S. 282–329. 17 | Vgl. Brumberg, Fact Finder for the Nation, 2012. Während die demografische Variable Geburtenrate die Zahl von Geburten innerhalb eines Territoriums für einen bestimmten Zeitraum mit der Einwohnerzahl des Territoriums in Beziehung setzt, drückt die Fertilitätsrate die durchschnittliche Kinderzahl einer Frau im Verlauf ihres ›gebärfähigen Alters‹ aus. 18 | Vgl. Mackensen, Bevölkerungslehre und Demographie, 2006, S. 189.

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aktivistisch und weniger akademisch geprägte Bewegung zur Geburtenkontrolle gilt jedoch, dass sie schon seit den 1920er Jahren globale Bevölke­r ungs­ ent­w ick­lungen in den Blick nahm und beispielsweise den Ersten Weltkrieg mit malthusianistischen Argumenten erklärte.19 Vor dem Hintergrund des Zweiten Weltkriegs wandte sich der Blick der US-amerikanischen Sozialdemografie jedoch ›nach außen‹. So führten Forscherinnen und Forscher des Office of Population Research (OPR) im Auftrag des Völkerbundes eine großangelegte Studie zur Zukunft der Bevölkerungen Europas und der Sowjetunion durch. Die Ergebnisse sollten für den Wiederaufbau nach Kriegsende herangezogen werden und wurden zwischen 1944 und 1946 in vier Bänden veröffentlicht. Im Auftrag des Department of State erweiterte das OPR dann seinen Untersuchungsraum auf Asien und legte umfangreiche demografische Studien zu Indien, Pakistan und Japan vor.20 Die Stationierung in Japan und die dortige Zusammenarbeit mit der US-amerikanischen Besatzungsadministration wird in innerdisziplinären Rückblicken gar als charakteristische Karrierestation der prominenten Generation der in den 1930er Jahren ausgebildeten Bevölkerungsforscher und ‑forscherinnen beschrieben.21 Insgesamt betrachtet, kann daher für die 1940er Jahre von einer sehr engen personellen Anbindung der Bevölkerungsforschung an Debatten und Institutionalisierungen rund um die Fragen der globalen Nachkriegsordnung und des Wiederauf baus der alliierten Territorien gesprochen werden. Es ist überzeugend argumentiert worden, dass dieser Kontext die demografische Theoriebildung und vor allem die Nachfrage nach dem theoretischen Modell des demografischen Übergangs entscheidend prägte.22 Wie nachfolgend noch 19 | Vgl. Mesner, Geburten/Kontrolle, 2010, S. 267. 20 | Vgl. Notestein, Demography in the United States, 1982, S. 664f. Die Studien gingen auf eine Forschungsreise Frank Notesteins und der ebenfalls am OPR angestellten Demografin Irene Taeuber zurück. Die Reise war von der Rocke­f eller Foundation in Auftrag gegeben worden. Vgl. Sharpless, Population Science, 1997, S. 179–181; Connelly, Fatal Misconception, 2008, S. 124f. 21 | Vgl. Caldwell; Caldwell, Limiting Population Growth, 1986, S. 56 sowie ein 1989 mit Donald Bogue geführtes Interview: Van der Tak, Jean: »Demographic Destinies. Interviews with Presidents and Secretary-Treasurers of the Population Association of America. PAA Oral History Project. Volume 1 – Presidents. Number 2 – From 1961 ­t hrough 1976«, 2005, auf: http://www.populationassociation.org/wp-content/upload s/PAA_Presidents_1961-76.pdf (21.06.2017), S. 44. 22 | Vgl. Szreter, Simon: »The Idea of Demographic Transition and the Study of Fertility Change. A Critical Intellectual History«, in: Population and Development Review, 19, 4, 1993, S. 659–701, hier: S. 665ff. Der Princeton-Demograf Dudley Kirk brachte die ordnungsstiftende Funktion der Bevölkerungsforschung 1944 folgendermaßen auf den Punkt: »In their larger aspects population trends have shown a great deal of stability in

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detailliert herausgearbeitet werden wird, wurde mit dieser Theorie postuliert, dass die Bevölkerungsentwicklung gesetzmäßig in drei Stadien ablaufe, wobei zuerst die Sterberate und mit Verzögerung die Geburtenrate sinke und sich das zweite Stadium dementsprechend durch eine hohe Geburten- und niedrige Sterberate auszeichnete. Die Theorie hatte zunächst das Sinken der Geburtenrate als Effekt von Modernisierungsprozessen und damit als abhängige Variable bezeichnet, Anfang der 1950er Jahre wurde sie jedoch dahingehend neuformuliert, dass die Geburtenrate nun als unabhängige Variable galt, die es mit Hilfe von Familienplanungsprogrammen zu senken gelte. Die Dominanz der Theorie des demografischen Übergangs innerhalb der US-amerikanischen Sozialdemografie führte dazu, dass sich ihr Untersuchungsraum in den frühen 1950er Jahren nicht mehr ausschließlich auf Europa und Asien erstreckte, sondern auf die gesamte sogenannte Dritte Welt. Dieser Blickwechsel der Bevölkerungswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler fügt sich ein in die Neuausrichtung der US-amerikanischen Außenpolitik nach dem Zweiten Weltkrieg. Die sogenannte Unterentwicklung der asiatischen, lateinamerikanischen und afrikanischen Länder galt jetzt als Sicherheitsrisiko für die Vereinigten Staaten, und die Verbesserung des Lebensstandards der dort lebenden Menschen wurde zum außenpolitischen Ziel. Zudem galt es, in diesen neutralen Ländern aufzuzeigen, dass die kapitalistischen USA einen weitaus attraktiveren Entwicklungspfad anzubieten hatten als ihre sowjetische Konkurrentin.23 Sozialwissenschaftliche und damit auch demografische Expertise wurde im Zuge dessen ein zentraler Bestandteil des Kampfes der USA um die ›Herzen und Köpfe‹ der Menschen in den Ländern der Dritten Welt. Philanthropischen Organisationen wie der Rocke­feller Foundation, der Ford Foundation und dem Population Council kam in der Förderung von Bevölkerungsforschung zu diesen Ländern eine prominente Rolle zu.24 the past and it seems reasonable to suppose that they will continue to do so in the fu­ ture. They are one of the more certain elements in a most uncertain world.« Kirk, Dudley: »Population Changes and the Postwar World«, in: American Sociological Review, 9, 1, 1944, S. 28–35, hier S. 28. 23 | Siehe hierzu auch Kapitel 1.1. 24 | Zu US-amerikanischen philanthropischen Stiftungen als weltpolitischen Akteurinnen wird zunehmend historisch geforscht. Siehe u. a. Krige, John; Rausch, Helke (Hg.): American Foundations and the Coproduction of World Order in the Twentieth Century, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2012; Parmar, Inderjeet: Foundations of the American Century. The Ford, Carnegie, and Rocke­feller Foundations in the Rise of American Power, New York: Columbia Univ. Press 2011; Unger, Corinna R.: »Investieren in die Moderne. Amerikanische Stiftungen in der Dritten Welt seit 1945«, in: Adam, Thomas; Lässig, Simone; Lingelbach, Gabriele (Hg.): Stifter, Spender und Mäzene. USA und Deutschland im historischen Vergleich, Stuttgart: Steiner 2009, S. 253–286; Hess,

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Die Rocke­feller Foundation erklärte »das Bevölkerungsproblem« im Jahre 1963 zu einem ihrer fünf Schwerpunktbereiche. Ohne eine Stabilisierung der Weltbevölkerung, so wurde es im Jahresbericht von 1963 formuliert, könnten die »Völker der freien Welt« nicht die Vorteile ihrer Rechtsstaatlichkeit und der modernen Technologie genießen.25 Um dieses Ziel zu erreichen, werde die Stiftung medizinische und humangenetische Fertilitätsforschung, Forschung zu Demografie und kulturellen Einstellungen sowie in besonders dicht besiedelten Gebieten Pilotstudien im Bereich der Familienplanung fördern.26 ›Bevölkerungsprobleme‹ blieb bis 1973 ein eigenständiger Schwerpunktbereich der Stiftung und die Ausgaben für diesen Bereich beliefen sich in diesen zehn Jahren stets auf ungefähr ein Fünftel der Gesamtausgaben. Auch wenn sich die absoluten Zahlen im Vergleich zu anderen Institutionen, die in den 1960er Jahren in den Auf bau von Bevölkerungsforschung und Fa­mi­lien­pla­nungs­pro­ gram­men investierten, gering ausnahmen, maß die Rockfeller Foundation dem Bereich ›Bevölkerungsprobleme‹ in den 1960er Jahren also eine große Bedeutung bei und spielte in einzelnen Ländern, wie Kolumbien, eine gewichtige Rolle.27 John D. Rocke­feller III führte in Rückblicken die Gründung des Population Council, die er 1952 initiiert hatte, auf die Weigerung der ›konservativen‹ Rocke­feller Foundation zurück, bereits in den frühen 1950er Jahren einen expliziten Bevölkerungsschwerpunkt zu etablieren. Dieses Narrativ, wonach sich die Rocke­feller Foundation nicht in dem heiklen Feld der Familienplanung engagieren wollte, ist in der Literatur breit rezipiert worden.28 Neue For-

Gary R.: »Waging the Cold War in the Third World. The Foundations and the Challenges of Development«, in: McGarvie, Mark Douglas; Friedman, Lawrence Jacob (Hg.): Charity, Philanthropy, and Civility in American History, Cambridge: Cambridge Univ. Press 2003, S. 319–339; Berghahn, Volker R.: »Philanthropy and Diplomacy in the ›American Century‹«, in: Diplomatic History, 23, 3, 1999, S. 393–419. 25 | The Rocke­ f eller Foundation: »Annual Report for 1963«, auf: https://assets. rockefellerfoundation.org/app/uploads/20150530122232/Annual-Report-1963.pdf (21.06.2017), S. 10. 26 | Ebd., S. 12. 27 | Die Berechnung basiert auf den Jahresberichten der Rocke­feller Foundation von 1963 bis 1973, die alle auf der Webseite der Stiftung einsehbar sind: The Rocke­f eller Foundation: Annual Reports, auf: https://www.rockefellerfoundation.org/about-us/ governance-reports/annual-reports/ (21.06.2017). 28 | Vgl. Sharpless, Population Science, 1997, S. 179; Critchlow, Donald T.: Intended Consequences. Birth Control, Abortion, and the Federal Government in Modern America, New York: Oxford Univ. Press 1999, S. 20f.

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schungen haben jedoch inzwischen gezeigt, dass das ›Weltbevölkerungsproblem‹ in der Stiftung schon Ende der 1940er Jahre intensiv diskutiert wurde.29 Der Gründung der privaten Organisation Population Council war im Juni 1952 die »Conference on Population Problems« in Williamsburg, Virginia, vorausgegangen, zu der John D. Rocke­feller  III Experten und Expertinnen aus ganz unterschiedlichen wissenschaftlichen Disziplinen geladen hatte. Ungeachtet der Breite der in Williamsburg diskutierten Themen, definierte der Population Council das Bevölkerungsproblem wenige Monate später in erster Linie als Fertilitätsproblem.30 Diese Organisation war in den folgenden Jahren personell und finanziell eng mit den großen philanthropischen Stiftungen verwoben, unterschied sich aber von diesen in zweierlei Hinsicht grundlegend. Erstens verfügte sie über kein eigenes Kapital und war deshalb darauf angewiesen, Gelder zu akquirieren. Nach einer Startfinanzierung von einer Million US-Dollar aus dem Privatvermögen ihres Gründers John D. Rocke­feller III war es in den 1950er Jahren vor allem die Ford Foundation, die die Organisation finanzierte. Noch 1962 kam von dieser die Hälfte des 3,2 Millionen US-Dollar schweren Budgets.31 Zweitens muss festgehalten werden, dass sich der Population Council ausschließlich für die Bekämpfung der globalen ›Bevölkerungsprobleme‹ engagierte. Dabei bestand die erklärte Strategie darin, zunächst in Forschung zu investieren, um sodann mit Hilfe wissenschaftlicher Ergebnisse private und vor allem staatliche Bevölkerungspolitik in aller Welt zu beeinflussen.32 Schnell wurde der Population Council ein federführender Förderer in den Bereichen der politikorientierten demografischen Forschung sowie der Verhütungsmittelforschung. Zudem bildete die Organisation eine Schnittstelle für alle anderen Institutionen und Personen, die in den 1950er Jahren anfingen, sich in diesen Bereichen zu engagieren.33 Die beiden Schwerpunkte Demografie und Verhütungsmittelforschung waren schon bei der Gründung 1952 festgelegt worden und institutionalisierten sich in den folgenden zwei Jahren als Demographic Division und Biomedical Division. Erster und langjähriger Direktor der sozialwissenschaftlich ausgerichteten demografischen Abteilung 29 | Vgl. Weindling, Paul: »From Disease Prevention to Population Control. The Re­ alignment of Rocke­f eller Foundation Policies in the 1920s to 1950s«, in: Krige; Rausch, American Foundations, 2012, S. 125–145. 30 | Vgl. Bashford, Global Population, 2014, S. 287–294; Robertson, The Malthusian Moment, 2012, S. 66ff. 31 | Vgl. Faust-Scalisi, Mario: »Die Ford Foundation und der Population Council. Zwei Institutionen, die gemeinsam globale Bevölkerungsdiskurse prägten«, in: Etzemüller, Vom Volk zur Population, 2015, S. 134–157, hier: S. 140. 32 | Vgl. Population Council, The Population Council, 1978, S. 3f. 33 | Vgl. Connelly, Fatal Misconception, 2008, S. 159.

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wurde von 1954 bis 1967 Dudley Kirk.34 Der in Harvard promovierte Soziologe hatte 1946 kurz am Office of Population Research (OPR) in Princeton gearbeitet und dort eine der klassischen Varianten der Theorie des demografischen Übergangs formuliert.35 Von 1947 bis zu seiner Anstellung beim Population Council war er als Demograf innerhalb des Nachrichtendienstes des US-amerikanischen Außenministeriums angestellt.36 Hier zeigt sich also erneut die sicherheitspolitische Bedeutung, die demografischem Wissen im Speziellen und sozialwissenschaftlicher Expertise im Allgemeinen beigemessen wurde.37 Sowohl die Biomedical Division als auch die Demographic Division des Population Council begannen 1953 als erste Maßnahme weltweit, Stipendien an Einzelpersonen zu vergeben, um diese als Bevölkerungsforscherinnen und -forscher auszubilden. Mit einer institutionellen Förderung von Bevölkerungsforschung begann der Population Council zunächst auf regionaler Ebene. So finanzierte er die Gründung von drei an die Vereinten Nationen angebundenen Forschungszentren, die ihren Sitz in Santiago de Chile (1957), Bombay (1957) und Kairo (1963) hatten. Dort sollten die demografische Forschung und Ausbildung für Lateinamerika, Asien und Afrika zentralisiert durchgeführt werden. Gleichzeitig, so wird es in einer Chronik von 1978 dargestellt, verschrieb sich der Population Council dem Auf bau von Forschungszentren in Entwicklungsländern, in denen zu deren jeweiligen nationalen Problemen geforscht werden sollte. Dieser Auf bau wurde sowohl durch die Finanzierung von Personal und Ausstattung als auch durch die Förderung einzelner Forschungsprojekte vorangetrieben. Zudem entsandte der Population Council Berater und begann 1958 damit, interessierte Institutionen mit Buchbeständen für eigene bevölkerungswissenschaftliche Fachbibliotheken auszustatten.38 Die Ford Foundation ist die jüngste der »Big 3«, wie die Stiftungen der Familien Rocke­feller, Carnegie und Ford in der Literatur zur US-amerikanischen Philanthropie genannt werden.39 Während die Gründung der anderen beiden Stiftungen zeitlich und kontextuell in die Progressive Era fällt, wurde die Ford Foundation erst 1936 gegründet und begann erst in den 1950er Jahren in einem ähnlich großen finanziellen Rahmen und geografischen Radius wie 34 | Vgl. Population Council, The Population Council, 1978, S. 22f. 35 | Kirk, Population Changes, 1944. 36 | Kirk ist nicht das einzige Beispiel für eine sehr enge personelle Verzahnung zwischen dem Population Council und dem renommierten Institut der Princeton University. So fungierte z. B. Frank Notestein, der Gründungsdirektor des OPR, von 1959 bis 1968 als dritter Präsident des Population Council und war auch 1952 schon Gründungsmitglied der Organisation gewesen. 37 | Siehe hierzu Rohde, Armed with Expertise, 2013. 38 | Vgl. Population Council, The Population Council, 1978, S. 28f. 39 | Parmar, Foundations of the American Century, 2011, S. 2.

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die zu dem Zeitpunkt bereits traditionsreichen Rockefeller- und Carnegie-Stiftungen zu agieren. Im Vergleich der Stiftungen untereinander wird sie als besonders standfeste »Kalte Kriegerin« bezeichnet. 40 In Lateinamerika förderte die Ford Foundation ab Mitte der 1950er Jahre in hohem Maße den Auf- und Ausbau der Sozialwissenschaften und eröffnete dort 1961 die ersten Büros, unter anderem in Bogotá. 41 1954 bewilligte die Stiftung auch die erste große Summe im Bereich ›Bevölkerung‹, so erhielt der zwei Jahre zuvor gegründete Population Council 600.000 US-Dollar. Diese Förderung markiert daher in der Geschichte beider Institutionen einen wichtigen Wendepunkt. 42 Zwar wurde der Vorschlag, ein eigenes Zentrum für Bevölkerungsforschung aufzubauen, von der Ford Foundation zu diesem Zeitpunkt noch abgewiesen, in den nächsten Jahren förderte sie jedoch zahlreiche Forschungsprojekte und Tagungen in dem Bereich. 1963 wurde dann schließlich eine eigene Bevölkerungsabteilung innerhalb der Stiftung gegründet. 43 Diese bestand zwanzig Jahre lang und war neben den regionalen Abteilungen die einzige große Abteilung in der Stif­ tungs­zen­trale in New York. Zusätzlich wurde in noch höherem Maße direkt über die Regionalbüros der Stiftung Bevölkerungsforschung und Familienplanung finanziert. 44 In den 1960er Jahren, so verkündete es die Programmleitung 1968 stolz in der Zeitschrift Demography, hatte keine andere Institution soviel Geld zur Bekämpfung von Bevölkerungsproblemen ausgegeben. 45 Auch für den Ausbau der Bevölkerungswissenschaften und ihre Konsolidierung als solche in den USA in den 1960er Jahren – der Begriff löste in diesen Jahren zunehmend den Begriff der Sozialdemografie ab – war die Ford Foundation von großer Bedeutung. So finanzierte sie den Auf bau zahlreicher population studies center an US-amerikanischen Universitäten. 46 Hatte es zu40 | Vgl. Krige, John; Rausch, Helke: »Introduction – Tracing the Knowledge: Power Nexus of American Philanthropy«, in: Dies., American Foundations, 2012, S. 7–34, hier: S. 18. Das drückte sich beispielhaft in der Finanzierung des CIA-Programms Congress for Cultural Freedom aus. Siehe Parmar, Foundations of the American Century, 2011, S. 118ff. 41 | Vgl. Caldwell; Caldwell, Limiting Population Growth, 1986, S. 125f. 42 | Vgl. Connelly, Fatal Misconception, 2008, S. 169. 43 | Bis dahin war das Behavioral Sciences Program auch für den Bereich population studies zuständig gewesen. Vgl. Caldwell; Caldwell, Limiting Population Growth, 1986, S. 52. 44 | Vgl. ebd., S. 77–81. 45 | Vgl. Harkavy, Oscar; Saunders, Lyle; Southam, Anna L.: »An Overview of the Ford Foundation’s Strategy for Population Work«, in: Demography, 5, 2, 1968, S. 541–552, hier: S. 541. 46 | Zu der Anzahl und den Gründungsjahren der population studies center gibt es in der Forschung unterschiedliche Angaben. Susan Greenhalgh spricht von 16 Zentren, die

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vor lediglich das Office of Population Research an der Princeton University und die Forschungsabteilung der Scripps Foundation gegeben, so wurde die Bevölkerungsforschung jetzt institutionell, finanziell und personell viel größer aufgestellt. Die Zentren waren in der Regel an die soziologische Fakultät der jeweiligen Universität angebunden, hatten jedoch einen semiautonomen Status. Um von der Ford Foundation gefördert zu werden, mussten der thematische Schwerpunkt auf dem Bereich der Fertilitätsforschung und der regionale auf der ›Dritten Welt‹ liegen. Zudem legten die population studies center einen starken Schwerpunkt auf die Lehre. So wurden einerseits Studierende aus den USA für die Arbeit in US-amerikanischen und internationalen Institutionen und Programmen der Bevölkerungskontrolle und Familienplanung ausgebildet, andererseits eröffneten umfangreiche Stipendienprogramme Studierenden aus Entwicklungsländern die Möglichkeit einer bevölkerungswissenschaftlichen Ausbildung in den USA. Im Anschluss daran sollten diese Absolventen und Absolventinnen dann in ihren jeweiligen Heimatländern ihre Expertise für bevölkerungspolitische Programme einsetzen. Der transnationale Charakter der Bevölkerungsforschung wurde auf diesem Weg vertieft. US-amerikanischen Studierenden eröffneten die gut ausgestatteten Zentren attraktive Möglichkeiten zu einem Zeitpunkt, als die Stipendienförderung von graduate students in den USA noch im Auf bau begriffen war und Absolventen und Absolventinnen nach weiteren Ausbildungsmöglichkeiten suchten. Der wissenschaftliche Nachwuchs war es auch, der in der Regel weltweit Feldforschung betrieb, während die senior scholars in den USA blieben. Die Gelder der Ford Foundation und anderer Drittmittelgeber wie dem Population Council, der Weltbank und USAID flossen in die Ausstattung der Zentren, in einzelne neu konzipierte Kurse und in die genannten Stipendien für den internationalen wissenschaftlichen Nachwuchs. 47 Es steht außer Frage, dass der Auf bau der Bevölkerungswissenschaften in den USA in den 1960er Jahren aufs Engste mit der Problematisierung von zwischen 1951 und 1967 mit Hilfe der Ford Foundation gegründet wurden, Pat und John Caldwell nennen hingegen lediglich sechs Institute, die zwischen 1961 und 1967 gefördert wurden. Vgl. Greenhalgh, The Social Construction of Population Science, 1996, S. 42; Caldwell; Caldwell, Limiting Population Growth, 1986, S. 54ff. Greenhalghs Zahl deckt sich mit einer von der Ford Foundation 1969 selbst erstellen Übersicht über ihre institutionellen Förderungen. Demnach wurden insgesamt 19 population studies center an US-amerikanischen Universitäten aus den Bereichen Sozialwissenschaft und Public Health gefördert. Vgl. Ford Foundation, Population Office: A Listing of Ford Foundation-Supported Institutions in the U.S. and Europe Offering Fellowships for Training and Research in Demography and Family Planning, Okt. 1969: Cornell R&M, JMS, Box 14, Folder 35, S. 1–14. 47 | Vgl. Caldwell; Caldwell, Limiting Population Growth, 1986, S. 59–76.

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Bevölkerungswachstum in der Dritten Welt verknüpft war. Eine Trennung zwischen den ›Interessen‹ des ›population establishment‹ einerseits und der Unterordnung der Forschung andererseits, wie sie seitens einiger Autorinnen und Autoren formuliert wird, erscheint jedoch problematisch. 48 Waren es doch nicht zuletzt die an den population studies center beschäftigten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die erfolgreich Lobbyarbeit für die staatliche und supranationale Finanzierung bevölkerungspolitischer Programme betrieben. Es gilt also auch für die historische Untersuchung der US-amerikanischen Bevölkerungsforschung ab den 1950er Jahren, dass eine klare Trennung zwischen Wissenschaft und Politik, aber auch zwischen privaten und staatlichen Geldern und Programmen nicht möglich ist. Derartig eng war die personelle und diskursive Verbindung zwischen Stiftungen, Regierungsbehörden und Wissenschaft, dass die Trennung stets künstlich erscheint. Sowohl in der zeitgenössischen Wahrnehmung als auch im Hinblick auf die Handlungsmöglichkeiten spielte es hingegen eine große Rolle, ob auf der Ebene von privaten Stiftungen oder von Regierungsbehörden agiert wurde. Das gilt ganz besonders für das Thema der Geburtenkontrolle, das in den USA der 1950er Jahre zu anrüchig war, um von Regierungsseite propagiert zu werden. Die privaten Stiftungen und die Wissenschaft gelten hier als Wegbereiter eines Meinungswandels, der es der Regierung der USA schließlich erlaubte, 1967 erstmals Programme zur Familienplanung in ihre Entwicklungspolitik zu integrieren. 49 Die Verbindungen zwischen den population studies center an US-amerikanischen Universitäten und dem Auf bau von Familienplanungsprogrammen in Ländern Asiens, Afrikas und Lateinamerikas manifestierten sich in den 1960er und 1970er Jahren, dem ›goldenen Zeitalter‹ der Bevölkerungsforschung in den USA, auf unterschiedlichen Ebenen. Einerseits wurde an diesen Instituten sogenanntes operation research betrieben, sprich zu Strategien der Implementierung von Familienplanungsprogrammen geforscht sowie dazu, wie diese zu optimieren, evaluieren und bewerben waren.50 Andererseits waren einzelne Institute auch direkt an der Implementierung staatlicher Familienplanungs48 | So spricht z. B. Susanne Schultz von der Strategie des »population establishment […], das Weltbevölkerungsproblem […] als wissenschaftlich relevantes zu etablieren« und John Sharpless von der professionellen Demografie als »Vehikel« der Stiftungen. Schultz, Hegemonie – Gouvernementalität – Biomacht, 2006, S. 84; Sharpless, Population Science, 1997, S. 179. 49 | Vgl. Robertson, The Malthusian Moment, 2012, S. 101. 50 | Zum Begriff operation research vgl. Demeny, Social Science and Population Policy, 1988, S. 466. Siehe für eine der frühesten systematischen Darstellungen des Forschungsbereichs Familienplanung Bogue, Donald J.: »Family Planning Research. An Outline of the Field«, in: Berelson, Family Planning and Population Programs, 1966, S. 721–735.

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programme beteiligt, so wurde z. B. von dem Population Studies Center an der University of Michigan unter der Leitung des Soziologen Ronald Freedman ab 1961 ein staatliches Familienplanungsprogramm in Taiwan aufgebaut.51 Unter Freedmans Leitung wurden in diesem Zusammenhang auch zahlreiche Interviews mit taiwanesischen Frauen und Männern zu ihren Familienidealen und Verhütungspraktiken und -kenntnissen geführt, ein Forschungsbereich, der in den 1960er Jahren unter dem Begriff ›KAP-Studien‹ firmierte, wie an späterer Stelle noch ausgeführt werden wird.52 Ein weiterer, ebenfalls eng mit den Familienplanungsprogrammen verknüpfter Forschungszweig entstand rund um die Fragen, wie Frauen und Männer zur Teilnahme daran motiviert werden konnten und auf welchen Kommunikationswegen die Programme am erfolgreichsten beworben werden konnten. Auf diesen Bereich spezialisierte sich das Community and Family Studies Center an der University of Chicago unter der Leitung von Donald Bogue.53 Das Institut war ein bedeutender Ort der Ausbildung und Vernetzung von Bevölkerungsforscherinnen und -forschern aus zahlreichen Entwicklungsländern, die dort mit Stipendien an jährlich ausgerichteten Sommerkursen teilnahmen, darunter auch einige Kolumbianer und Kolumbianerinnen.54

51 | Vgl. Harkavy, Curbing Population Growth, 1995, S. 83f. Siehe hierzu auch Potter, Robert G.; Freedman, Ronald; Chow, Lien-Ping: »Taiwan’s Family Planning Program«, in: Science, 160, 3830, 1968, S. 848–853. 52 | Das Kürzel KAP steht für »Knowledge, Attitudes and Practices«. Aus den zahlreichen Fertilitätsstudien Freedmans zu Taiwan sei hier nur auf folgende verwiesen: Freed­ man, Ronald: »Sample Surveys for Family Planning Research in Taiwan«, in: The Public Opinion Quarterly, 28, 3, 1964, S. 373–382. 53 | Siehe aus Donald Bogues umfangreichen Publikationen zu dem Thema beispielhaft: Bogue, Donald J.: Twenty-five Communication Obstacles to the Success of Family Planning Programs, Chicago IL: Communication Laboratory, Community and Family Study Center, University of Chicago 1975. Die Monografie ist Teil der Reihe »Media Monographs«, die in den 1970er Jahren vom Community and Family Studies Center herausgegeben wurde und u. a. auch Titel zu Radio- und Fernsehwerbung oder Werbepostern für Familienplanung enthielt. 54 | Siehe zum Inhalt der Sommerkurse in den frühen 1960er Jahren Bogue, Donald J. (Hg.): Mass Communication and Motivation for Birth Control. Proceedings of the summer workshops at the University of Chicago, 1963–1966, called Workshops on Motivation and Communication, with Special Reference to Family Planning, Chicago IL: Community and Family Study Center, University of Chicago 1967. Oskar Harkavy beschreibt die Bedeutung der Sommerkurse folgendermaßen: »For many years Donald Bogue ran a summer workshop that attracted a host of students from the developing world. […] Alumni of Bogue’s workshops formed an informal affinity group that gave them a strong

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Donald Bogue, Ronald Freedman und die von ihnen geleiteten Institute stehen sinnbildlich für eine Ausrichtung auf operation research, die der Demograf Paul Demeny in den späten 1980er Jahren selbstkritisch als »research products that were quantitative, standardized, replicable, and packageable for multicountry use« beschrieb.55 Diese Forschungsagenda war nicht unumstritten, und an vielen Universitäten kam es zu Spannungen zwischen denjenigen, die sich als objektive Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen begriffen, und denjenigen, die sich auch als Familienplanungsaktivisten und -aktivistinnen verstanden oder als solche wahrgenommen wurden. Bogue wird in diesem Zusammenhang zugesprochen, in seiner Position als erster Herausgeber der offiziellen Zeitschrift der Population Association of America (PAA), Demography, die er von 1964 bis 1968 innehatte, die angewandte Forschung zu Familienplanung zu einem respektablen demografischen Forschungsfeld gemacht zu haben.56 Auch wenn dieser Kurs auf Kritik traf, so werden die Bevölkerungswissenschaften von Susan Greenhalgh dennoch als isolierte, geschlossene Disziplin beschrieben, an der zahlreiche theoretische Entwicklungen benachbarter Sozialwissenschaften vorbeigingen.57 Eine besonders pointierte Kritik an der Disziplin ging für einige Jahre von ihrem eigenen Nachwuchs aus. So gründeten Studierende mehrerer Universitäten auf dem Kongress 1969 die Gruppe Concerned Demographers und brachten bis 1974 im Selbstverlag die Zeitschrift Concerned Demography heraus.58 In einer ironisch formulierten Anleitung an ihre Kommilitonen und Kommilitoninnen, wie diese sich auf der Jahresversammlung der PAA 1970 verhalten sollten, wurden die »stars« der Disziplin als kontinuierlich betrunken und unauffindbar beschrieben, die eigene Gruppe der Concerned Demographers als »crackpots«, die im Gegensatz zu der »wertfrei« agierenden Prominenz, die »wertfrei« Präsidenten beriet und Spiralen verteilte, von »sozialem Bewusstsein« und »Relevanz« sprächen. Die »stars« wurden sodann in unterschiedliche Typen unterteilt. So gebe es z. B. die »A.I.D. boys«, mit denen man gut ins Gespräch käme, wenn man eine Spirale um den Hals trage. Am Ende eines geschickt geführten Gesprächs erwarte einen möglicherweise ein Job als Berater in Bevölkerungsfragen in einer Militärdiktatur.59 Dieses Textbeispiel zeugt von Kritik an politischen Verstrickungen von Wissenschaft und sense of belonging to an international population movement.« Harkavy, Curbing Population Growth, 1995, S. 84. 55 | Demeny, Social Science and Population Policy, 1988, S. 464. 56 | Vgl. Greenhalgh, The Social Construction of Population Science, 1996, S. 44f. 57 | Vgl. ebd., S. 46f. 58 | Vgl. ebd., S. 51ff. 59 | »From the Waste Basket. Welcome to Convention '70«, in: Concerned Demography, 1, 4, 1970, S. 13–15.

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Entwicklungshilfe, die in den frühen 1970er Jahren vermehrt geäußert wurde, und davon, dass die Studierendenbewegung der 1960er Jahre auch innerhalb der Bevölkerungsforschung Widerhall fand. Nicht zuletzt die Theorie des demografischen Übergangs geriet Anfang der 1970er Jahre auch innerhalb des ›population establishment‹ zunehmend in die Kritik. Seitens der Bevölkerungswissenschaften wurde zunehmend infrage gestellt, ob sich die theoretischen Prämissen angesichts neuer empirischer Forschungsergebnisse zum demografischen Übergang in Europa halten ließen.60 Und auf der weltpolitischen Bühne schlossen sich prominente Bevölke­r ungs­ ex­per­ten und -expertinnen vermehrt der in Entwicklungsländern geäußerten Kritik an, wonach das Verhältnis zwischen Bevölkerungswachstum und Entwicklung neu zu konzipieren sei. Das prominenteste Beispiel für diesen Gesinnungswandel stellt der Gründer des Population Council, John D. Rockefeller III, dar. So überraschte er im Zuge der Weltbevölkerungskonferenz der Vereinten Nationen 1974 in Bukarest mit der Aussage, dass Familienplanung alleine nicht genug sei und Bevölkerungsplanung Teil einer umfassenden ökonomischen und sozialen Entwicklung sein müsse.61

2.2 L ateinamerik a in der Theorie des demogr afischen Ü bergangs Die Theorie des demografischen Übergangs war schon in den 1920er Jahren entwickelt worden, wurde jedoch erst in ihren klassisch geltenden Formulierungen von 1945 umfangreich zur Kenntnis genommen.62 Zwar taucht die Kernaussage der Theorie in zahlreichen Texten der Demografinnen und Demografen des Office of Population Research der Princeton University aus den frühen 1940er Jahren auf, es sind jedoch zwei Aufsätze von Kingsley Davis und Frank Notestein, die jeweils 1944 verfasst und 1945 publiziert worden sind, die als Schlüsseltexte der Theorie gelten. Davis’ Aufsatz »The World Demographic 60 | Für eine prominente zeitgenössische Kritik siehe Caldwell, John: »Toward a Re­ state­m ent of Demographic Transition Theory«, in: Population and Development Review, 2, 3/4, 1976, S. 321–366. 61 | Rocke­f eller, John D. 3rd: »Population Growth. The Role of the Developed World«, in: Population and Development Review, 4, 3, 1978, S. 509–516. 62 | Die einheitliche Bezeichnung als Theorie des demografischen Übergangs lehnt sich an die übliche englischsprachige Bezeichnung »Demographic Transition Theory« an, wenngleich in der deutschsprachigen Literatur die Formulierung »Modell des demografischen Übergangs« dominiert. Zur Neuentdeckung der Theorie des demografischen Übergangs und der ganz unterschiedlichen Rezeption der 1920er und der 1940er Jahre siehe Szreter, The Idea of Demographic Transition, 1993.

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Transition« leitete eine Sondernummer der Annals of the American Academy of Political and Social Sciences ein, Notestein hatte seine Sicht im Rahmen einer Konferenz über die Organisation der Ernährungsversorgung nach Kriegsende an der University of Chicago vorgetragen.63 Grob zusammengefasst, lässt sich die Theorie des demografischen Übergangs in den beiden genannten Texten als evolutionäres Drei-Stadien-Modell charakterisieren, das die historische Bevölkerungsentwicklung Europas und der USA beschrieb und daraus eine generalisierbare Abfolge entwickelte, in die sich alle Bevölkerungen einordnen ließen. Die Theorie beschrieb also die Vergangenheit und ordnete dabei die Gegenwart. Zudem – und das war aus planerischer Perspektive besonders relevant – richtete sie den Blick in die Zukunft, d. h. die Theorie prognostizierte, wann bestimmte Regionen und Länder das dritte Stadium erreichen und wie stark ihre Bevölkerungen vorher noch anwachsen würden. Dieses anzustrebende dritte Stadium zeichne sich durch eine niedrige Sterbe- und Geburtenrate aus. Ein ausgewogenes Verhältnis herrschte der Theorie zufolge auch im ersten Stadium vor, das jedoch durch eine hohe Sterbe- und Geburtenrate gekennzeichnet war. Im zweiten Stadium hingegen sei die Sterberate niedrig, die Geburtenrate jedoch weiterhin hoch, weshalb es in dieser Phase zu einem schnellen und starken Bevölkerungswachstum komme. Die aus planerischer Perspektive entscheidende Frage war daher, wie lange die zweite Phase andauerte, d. h. es war bedeutsam, ab wann die individuelle Reproduktion und damit die Geburtenrate der Bevölkerung sank, und wie stark die Bevölkerung in diesem Stadium wuchs. Beide Veränderungen, d. h. sowohl die Senkung der Sterbe- als auch der Geburtenrate, wurden in dem Modell durch Modernisierungsprozesse erklärt, wobei Davis und Notestein insbesondere den Phänomenen Industrialisierung, Urbanisierung, Individualisierung und Alphabetisierung einen großen Einfluss zusprachen. Zunächst komme es zu einer verbesserten medizinischen Versorgung und Hygiene und damit zu einer Senkung der Sterberate, in einem zweiten Schritt änderten die Individuen ihr reproduktives Verhalten und dementsprechend sinke auch die Geburtenrate. Die politische Botschaft der Demografinnen und Demografen war klar: Nur durch Modernisierung könnten die unterentwickelten Länder den demografischen Übergang in die dritte Phase vollziehen. Voraussetzung für die Modernisierung waren Dekolonialisierung und liberal-demokratische, politische und ökonomische 63 | Davis, Kingsley: »The World Demographic Transition«, in: The Annals of the American Academy of Political and Social Sciences, 237, 1945, S. 1–11; Notestein, Frank W.: »Population – The Long View«, in: Schultz, Theodore W. (Hg.): Food for the World, Chicago IL: Univ. of Chicago Press 1946, S. 36–57. Bei dem hier zitierten Band handelt es sich bereits um die 2. Auflage, die erste war 1945 erschienen. Für eine ausführliche Analyse des Aufsatzes von Kingsley Davis siehe Bashford, Global Population, 2014, S. 306–310.

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Ordnungen. Die Annahme, dass menschliche Fertilität eine abhängige Variable sei, die durch breite gesellschaftliche Veränderungen beeinflusst werde, verwarfen beide Demografen jedoch innerhalb weniger Jahre. Schon Anfang der 1950er Jahre konzipierten Davis und Notestein die Theorie um und machten aus der Fertilität eine unabhängige Variable, die es senkend zu beeinflussen gelte, ohne auf die Auswirkungen von Modernisierungsprozessen zu warten. Sie schufen damit die intellektuelle Grundlage für die Familienplanungsprogramme der folgenden drei Jahrzehnte. Dieser so folgenreiche Wandel in der Theorie des demografischen Übergangs ist von Dennis Hodgson und Simon Szreter detailliert untersucht worden. Beide erklären die Rekonzeptualisierung der Theorie durch Veränderungen der weltpolitischen Großwetterlage bzw. durch eine veränderte Wahrnehmung der Welt seitens der Demografen. Hodgson zeichnet nach, wie sich Davis’ optimistische Einschätzung der Bevölkerungsentwicklung Indiens zwischen 1944 und 1954 in ein Katastrophenszenario verwandelte.64 Szreter hingegen untersucht das Umdenken Notesteins und führt dieses in erster Linie auf den Sieg der Kommunistischen Partei und die Ausrufung der Volksrepublik China im Jahre 1949 zurück. Durch die langjährige Arbeit in Asien seien Notestein und seine Kolleginnen und Kollegen in Princeton besonders sensibel für die Entwicklungen im pazifischen Raum gewesen. Den Vorschlag in Ländern wie Indien Programme zur Bevölkerungskontrolle einzuführen, erklärt Szreter daher mit dem Wunsch Notesteins, konkrete politische Gegenmaßnahmen anzubieten, anstatt untätig zuzusehen, wie sich in Asien der Kommunismus ausbreitete. Der ›Osten‹, so Notestein, könne es sich im Unterschied zum ›Westen‹ nicht leisten auf sozialen Wandel zu warten.65 Diese in den 1950er Jahren formulierte Angst vor den demografischen und politischen Entwicklungen in Asien ist jüngst überzeugend in einen älteren diskursiven Kontext gesetzt worden, der spätestens ab dem späten 19. Jahrhundert Bilder asiatischer Massen und Wellen produzierte, die in der Forschung unter dem Begriff des sogenannten yellow peril zusammengefasst werden.66 So hat auch der berühmt-berüchtigte Eingangsparagraf aus Paul Ehrlichs Buch The Population Bomb von 1968 zahlreiche Vorläufer. Ehrlich beschreibt darin eine Taxifahrt durch Delhi und schildert sehr bildhaft seine Abscheu gegenüber den Menschenmassen, von denen er sich durch die Fensterscheiben 64 | Hodgson, Demography as Social Science, 1983, S. 13–20. 65 | Szreter, The Idea of Demographic Transition, 1993, S. 675–679. 66 | Connelly, Matthew James: »To Inherit the Earth. Imagining the World Population, from the Yellow Peril to the Population Bomb«, in: Journal of Global History, 1, 3, 2006, S. 299–319. Siehe hierzu auch Lyman, Stanford M.: »The ›Yellow Peril‹ Mystique. Origins and Vicissitudes of a Racist Discourse«, in: International Journal of Politics, Culture, and Society, 13, 4, 2000, S. 683–747.

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umzingelt fühlte. Bis zu seiner Reise nach Indien sei die »Überbevölkerung« für ihn noch ein abstraktes Problem gewesen, in Indien habe er sie erstmals »spüren« können.67 Ein ganz ähnlicher Topos findet sich in zahlreichen Biografien von Bevölkerungsforscherinnen und -forschern dieser Zeit. Immer wieder sind es Fernreisen, insbesondere nach Indien, die seit den 1920er Jahren als Wendepunkt beschrieben werden.68 Bereits die Gründung der Scripps Foundation im Jahre 1922 war nach einer Asienreise Edward Scripps’ erfolgt.69 Der Ausgangspunkt der Texte zum Demografischen Übergang von 1944 war die Feststellung, dass es seit dem 17. Jahrhundert zu einem in der Menschheitsgeschichte einzigartigen globalen Bevölkerungswachstum gekommen und gleichzeitig ein Wandel des relationalen Wachstums eingetreten sei. Waren es bis Ende des 19. Jahrhunderts vor allem Europa und Nordamerika gewesen, die starkes Wachstum aufwiesen, so gehe deren Wachstum seither zurück, während das Bevölkerungswachstum Afrikas, Asiens, Süd- und Mittelamerikas zunehme. Letztgenannte Kontinente wurden entweder in die Phase der rapiden Beschleunigung des Bevölkerungswachstums eingeordnet oder es wurde ihnen ein großes Wachstumspotenzial prognostiziert, wobei sich die einzelnen Autoren bei der genauen Einordnung durchaus widersprachen. Auffallend ist, dass die Kategorisierungen in sehr unterschiedlichen Größenordnungen vorgenommen wurden, d. h. dass abwechselnd und durcheinander auf ganze Kontinente, kulturell definierte Regionen, einzelne Staaten oder Kolonien verwiesen wurde. Als wichtigstes Ordnungsmuster der Welt fungierten die Kontinente in ihrer relationalen Bevölkerungsgröße zueinander. Die Auswahl der Einzelbeispiele lässt sich durch außenpolitisches Interesse und die Verfügbarkeit statistischer Daten erklären, wobei beide Faktoren als miteinander verknüpft betrachtet werden müssen. So lagen statistische Berechnungen für die Länder vor, die als außenpolitisch relevant galten, sei es aus sicherheitspolitischen Erwägungen oder aufgrund kolonialer Traditionen. Das erklärt den wiederholten Verweis auf Inseln wie Puerto Rico oder Java. Prominent herausgehoben wurde weiterhin Japan als einziges asiatisches Beispiel, das die Phase des Übergangs schon fast beendet habe und daher den Beweis dafür darstelle, dass auch die »asiatischen Massen«, so Davis, in Folge von Modernisierung und Industrialisierung »westliches« reproduktives Verhalten an den Tag legten. Ähnlich wie Japan, also am Ende der Phase des Übergangs, wurden die Sowjetunion und Osteuropa eingestuft, einzelne Länder des Nahen Ostens und Lateinamerikas wurden in der Mitte dieser Phase angesiedelt. Etwa der halben Welt wurde jedoch vorausgesagt, dass ihr die Phase des 67 | Ehrlich, The Population Bomb, 1968, S. 15f. 68 | Vgl. Etzemüller, Ein ewigwährender Untergang, 2007, S. 132; Connelly, Fatal Misconception, 2008, S. 89. 69 | Vgl. Notestein, Demography in the United States, 1982, S. 654.

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großen Wachstums noch bevorstehe, was in entsprechenden Prognosen auch veranschaulicht wurde. Im Hinblick auf die Nahrungsmittelversorgung und Entwicklungschancen wurde das bevorstehende Wachstum nur für bestimmte, bereits sehr dicht besiedelte Gebiete als problematisch eingestuft, z. B. in Indien, China und der Karibik, wobei sich Notestein besorgter äußerte als Davis und Kirk. Insgesamt lassen sich die Texte jedoch als optimistisch im Ton bezeichnen. Die Zahlen, auf denen die historische, gegenwärtige und zukünftige Berechnung von Bevölkerungen beruhte, wurden von den Autoren, wie bereits angeklungen ist, als sehr unterschiedlich zuverlässig eingestuft. Etwas überspitzt könnte man sagen, dass sie mit ganz wenigen Ausnahmen nur als sehr grobe Schätzungen bezeichnet wurden und auf das Fehlen statistischer Daten als großes Planungsproblem hingewiesen wurde.70 Die für 1944 insgesamt konstatierte optimistische Sicht auf die zukünftigen Bevölkerungsentwicklungen gilt für Lateinamerika mit Nachdruck. Mit der genannten Ausnahme Puerto Ricos wurde das bereits gemessene bzw. geschätzte und das noch zu erwartende Bevölkerungswachstum im ›südlichen Teil der westlichen Hemisphäre‹ als unproblematisch eingestuft. Das gilt sowohl für die übergreifenden Texte zur globalen demografischen Lage als auch für spezifischere Abhandlungen zur Bevölkerungsentwicklung Latein­ ameri­kas. Doch diese Einschätzung änderte sich im Laufe der nächsten zwei Jahrzehnte deutlich. Während die allgemeinen Veränderungen in der Theorie des demografischen Übergangs und in der Einschätzung der asiatischen Bevölkerungsentwicklungen seitens der US-amerikanischen Bevölkerungswissenschaft bereits detailliert historisch untersucht worden sind, ist der Wandel in der Einschätzung der demografischen Lage Lateinamerikas bisher jedoch nicht analysiert worden. In historischen und autobiografischen Rückblicken auf die Forschung des Office of Population Research der Princeton University zeichnet sich Lateinamerika vielmehr durch Abwesenheit aus. Dabei war Kingsley Davis ausdrücklich dafür angestellt worden, diesen Teil der Welt »abzudecken«, wie er es 1989 in einem Interview formulierte.71 In der Tat gibt es von Davis auch einige Überblicksabhandlungen zur lateinamerikanischen

70 | Der Absatz bezieht sich zusammenfassend auf die Texte von Davis, Kirk und Notestein, die alle 1944 verfasst wurden: Davis, The World Demographic Transition, 1945; Kirk, Population Changes, 1944; Notestein, Population – The Long View, 1946. 71 | van der Tak, Demographic Destinies Vol. 1 Nr. 2, 2005, S. 15. In der von David Heer verfassten Biografie Kingsley Davis’ fehlt dieser Hinweis. Siehe Heer, David M.: Kingsley Davis. A Biography and Selections from his Writings, New Brunswick NJ: Transaction Publishers 2005.

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Bevölkerungsentwicklung, seinen regionalen Forschungsschwerpunkt legte er jedoch nie auf Lateinamerika.72 In der Zusammenschau von Davis’ frühen Lateinamerikatexten mit den anderen Texten, die seitens US-amerikanischer Bevölkerungsforscherinnen und ‑forscher zwischen 1946 und 1964 zu Lateinamerika veröffentlicht wurden, ergibt sich folgendes Bild:73 Die Relevanz der lateinamerikanischen Bevölkerungsentwicklung wurde zunächst vor allem im Kontext der interamerikanischen Beziehungen und der Nachkriegsordnung innerhalb der ›westlichen Hemisphäre‹ verhandelt.74 Was für die Theorie des demografischen Übergangs 72 | Zwischen 1946 und 1949 publizierte Davis in recht dichter Abfolge zu Latein­ amerika, danach erschienen von ihm nur noch 1958 und 1964 zwei kurze Aufsätze zu dieser Weltregion. Siehe Davis, Kingsley: »Population Trends and Policies in Latin America«, in: University of Texas, Institute of Latin-American Studies (Hg.): Some Economic Aspects of Postwar Inter-American Relations, New York: Greenwood Press 1946, S. 25–46; Davis, Kingsley; Casis, Ana: »Urbanization in Latin America«, in: The Milbank Memorial Fund Quarterly, 24, 2, 1946, S. 186–207; Davis, Kingsley: »Latin America’s Multiplying Peoples«, in: Foreign Affairs, 25, 4, 1947, S. 643–654; Davis, Kingsley: »Population and Resources in the Americas«, in: Department of State (Hg.): Proceedings of the Inter-American Conference on Conservation of Renewable Natural Resources. Denver, Colorado, September 7–20, 1948, Washington, D.C. 1949, S. 88–97; Davis, Kingsley: »Recent Population Trends in the New World. An Over-all View«, in: The Annals of the American Academy of Political and Social Sciences, 316, 1958, S. 1–10; Davis, Kingsley: »The Place of Latin America in World Demographic History«, in: The Milbank Memorial Fund Quarterly, 42, 2/2, 1964, S. 19–53. Einen etwas längeren Forschungs­ auf­e nt­h alt absolvierte Davis nur auf Puerto Rico 1940/41. In einem Interview von 1989 sagte Davis, er habe Puerto Rico beispielhaft als nicht-industrialisierten Forschungsort ausgewählt und sei vor allem zu eigenen Ausbildungszwecken auf die Insel gefahren. In demselben Interview sagte Davis auch, er habe seinen jeweiligen Universitätscampus nie länger als sechs Wochen verlassen. Länger brauche man nicht, um ein Land zu verstehen. Siehe hierzu: van der Tak, Demographic Destinies Vol. 1 Nr. 2, 2005, S. 38. 73 | Der Endpunkt der Textauswahl wird auf 1964 gelegt, da in diesem Jahr die Ergebnisse der ersten Konferenz zu Bevölkerung in Lateinamerika des Milbank Memorial Fund publiziert wurden und die Publikationen zu den lateinamerikanischen Bevölkerungsproblemen infolgedessen stark zunahmen. Neben den bereits genannten Aufsätzen von Kingsley Davis beziehen sich die zusammenfassenden Ausführungen der folgenden Absätze auf diese beiden Texte: Smith, T. Lynn: »Current Population Trends in Latin America«, in: American Journal of Sociology, 62, 4, 1957, S. 399–406 und Dunn, Halbert L.; Eldridge, Hope Tisdale; Powell, Nora P.: »Demographic Status of South America«, in: The Annals of the American Academy of Political and Social Sciences, 237, 1945, S. 22–33. 74 | Das gilt v.a. für die folgenden zwei Texte: Davis; Casis, Urbanization in Latin America, 1946 und Davis, Population and Resources, 1949.

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und die darin formulierte demografische Weltordnung im Allgemeinen gilt, trifft also auch auf Lateinamerika im Besonderen zu. Auffällig sind weiterhin drei Aspekte: Erstens wurde Lateinamerika über die gesamten zwanzig Jahre stets das weltweit schnellste Bevölkerungswachstum diagnostiziert.75 Die Region habe zwar kein absolutes Bevölkerungsproblem, das Wachstum führe jedoch zu einer Reihe relationaler Bevölkerungsprobleme, beispielsweise zu einem aus volkswirtschaftlicher Perspektive ungünstigen Verhältnis zwischen jungen, abhängigen und erwachsenen, erwerbstätigen Menschen. Zweitens wurde die Bevölkerungsentwicklung stets im Verhältnis zu den USA betrachtet und es wurde darauf verwiesen, dass sich das Größenverhältnis nach Bevölkerungszahl innerhalb der Amerikas zugunsten des südlichen Subkontinents verschoben habe und weiter verschieben werde. Mit Wettbewerbsvokabeln wie ›überholen‹ und ›zurückliegen‹ wurde die Beziehung als eine kompetitive beschrieben, so dass eine gewisse Bedrohlichkeit der demografischen Entwicklung durchklang, die – so Davis 1946 – aus der »westlichen Hemisphäre« immer mehr eine »lateinamerikanische Angelegenheit« mache.76 Die historischen und prognostizierten Unterschiede in der Bevölkerungsentwicklung der »Neuen Welt« wurden dabei kulturell begründet. So erkläre sich die »weniger moderne« Bevölkerungsentwicklung Lateinamerikas dadurch, dass der Subkontinent im Unterschied zu den USA nicht durch den »industrialisierten, kompetitiven nordeuropäischen Typus«, sondern durch den »feudalen südeuropäischen Typus« kolonialisiert worden sei.77 Drittens schließlich fehlte in keinem Artikel der Hinweis darauf, dass die statistische Erfassung der Bevölkerung in allen Ländern Lateinamerikas sehr mangelhaft sei und dringend verbessert werden müsse. Vor allem wurde die Notwendigkeit einer verbesserten Geburtenregistrierung betont. Während der Soziologe Lynn Smith daher 1953 davor warnte, überhaupt Aussagen über die Größe und Wachstumsrate der lateinamerikanischen Bevölkerung zu machen, verwies Davis zwar auf die Problematik, ließ sich dadurch jedoch nicht von Aussagen über wahrscheinliche Größen und Tendenzen abhalten.78

75 | Die Begriffe variierten allerdings. Neben ›Lateinamerika‹ war auch von ›Zentralund Südamerika‹, dem ›südlichen Teil der westlichen Hemisphäre‹ oder den ›Ländern südlich des Rio Grande‹ die Rede. 76 | Davis, Population Trends and Policies, 1946, S. 34. 77 | Davis, Recent Population Trends, 1958, S. 8. 78 | Smith, T. Lynn: »The Reproduction Rate in Latin America«, in: Eugenical News Quarterly, 38, 3, 1953, S. 64–70; Davis, Population Trends and Policies, 1946, S. 25. Wenige Jahre später zeigte auch Smith sich weniger zurückhaltend und hielt die wenigen vorhandenen Daten für ausreichend, um zu zeigen, dass die Bevölkerungen Lateinamerikas sehr schnell anwuchsen. Vgl. Smith, Current Population Trends, 1957.

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Die defizitäre demografische Datenlage Lateinamerikas wurde in den 1940er und 1950er Jahren auch auf politischer, hier auf interamerikanischer Ebene sowie seitens der Vereinten Nationen als Problem identifiziert. Wichtige Impulse für den Ausbau statistischer Datenerhebung und demografischer Forschung gingen vom interamerikanischen Demografiekongress aus, zu dem die Regierung Mexikos 1943 eingeladen hatte. Zwar war der Kongress in erster Linie einberufen worden, um die nach Kriegsende erwartete Migration von Europa in die Amerikas zu koordinieren, doch wurden auf der einwöchigen Konferenz auch Fragen von Eugenik, rassistischer Diskriminierung und eben Bevölkerungsstatistik und demografischer Forschung diskutiert.79 Von Vertreterinnen und Vertretern aller amerikanischer Staaten verabschiedet wurde schließlich eine Resolution, wonach ein interamerikanisches demografisches Komitee mit der Aufgabe, die Erforschung demografischer Probleme des Kontinents zu koordinieren, gegründet werden sollte. Weiterhin wurde vereinbart, dass jeder Staat im Jahre 1950 oder 1951 einen Zensus durchführen sollte, der auch sozioökonomische Daten enthalten sollte, und dass die Methodik demografischer Datenerhebung und ‑auswertung vereinheitlicht und damit vergleichbar gemacht werden sollte.80 1955 fand dann in Rio de Janeiro der nächste große Kongress statt, auf dem die mangelhafte Qualität der Zensus Lateinamerikas beklagt wurde. In der Ausrichtung unterschied sich das von den Vereinten Nationen organisierte Latin America Seminar on Population jedoch deutlich von dem interamerikanischen Zusammentreffen zwölf Jahre zuvor. Die ›Bevölkerungsprobleme‹, zu deren Diskussion eingeladen worden war, waren nicht mehr die der transatlantischen Nachkriegsmigration, sondern es ging um Fragen sozialer und ökonomischer Unterentwicklung. Interessant ist hierbei, dass in dem umfangreichen Tagungsbericht, den der britische Soziologe David Glass verfasste und der 1958 gedruckt wurde, mehrfach kritisch auf die Theorie des demografischen Übergangs verwiesen wird. So heißt es in dem Bericht, es sei gefährlich aus der historischen Entwicklung der USA und Europas, die in sich schon keine Kohärenz aufweise, generalisierende Aussagen über zu erwartende Veränderungen der Geburtenrate in lateinamerikanischen Ländern zu treffen. Vielmehr sei es notwendig, in Lateinamerika selbst Forschungen zu den

79 | Vgl. Cohen, Theodore: In Black and Brown. Intellectuals, Blackness, and InterAmericanism in Mexico after 1910. Dissertation, College Park MD: University of Mary­ land 2013, S. 149–152. 80 | Vgl. Roberts, Sarah E.: »First Inter-American Demographic Congress«, in: The Department of State Bulletin, 14, 342, 1946, S. 66–71.

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gegenwärtigen Bevölkerungsentwicklungen und deren Zusammenhang mit sozioökonomischen Faktoren zu betreiben.81 Diese Zusammenhänge waren es wiederum auch, die die US-amerikanischen Demografinnen und Demografen im Zusammenhang mit Lateinamerika ab den späten 1950er Jahren vermehrt umtrieben und anhand derer eine zunehmend pessimistische Einschätzung der lateinamerikanischen Bevölkerungsentwicklung ausgedrückt wurde. Während Davis 1946 noch prophezeite, dass in Lateinamerika keine »indischen oder chinesischen Zustände« zu erwarten seien und es trotz der hohen Wachstumsraten keinen Grund für malthusianistische Panikmache gebe, warnte er keine 20 Jahre später mit Nachdruck davor, dass die ökonomische Entwicklung Lateinamerikas durch das schnelle Anwachsen der Bevölkerung massiv bedroht sei.82 Hier wird ein Bruch in der US-amerikanischen Wahrnehmung der demografischen Entwicklung Lateinamerikas sichtbar, der sich auf 1959 datieren und auf den Sieg der Revolution auf Kuba zurückführen lässt. Schon vorher hatte aus demografischer Perspektive gegolten, dass das spezifische und potenziell problematische Charakteristikum des lateinamerikanischen Bevölkerungswachstums im Ausmaß und der Schnelligkeit dieses Wachstums und dessen Einfluss auf die ökonomische Entwicklung lag. Dieser Zusammenhang erlangte nach der kubanischen Revolution eine neue sicherheitspolitische Relevanz.83 Deutlich ausgedrückt wurde diese Relevanz von Irene Taeuber, einer prominenten Demografin der Generation von Davis, und von J.  Mayone Stycos, einem von Davis’ Schülern, in einer gemeinsam herausgegebenen Sonderausgabe mit dem Titel »Population Growth and the Alliance for Progress«, die 1962 im Population Bulletin erschien. Beide sprachen sich darin mit Nachdruck dafür aus, Bevölkerungspolitik als fundamentalen Bestandteil der Entwicklungspolitik der Allianz für den Fortschritt zu begreifen, da deren Ziele ansonsten stark gefährdet seien. Während Taeuber nur dafür plädierte, die ›demografische Dimension‹ in alle Planungen einzubeziehen, forderte Stycos konkret, Familienplanungsprogramme zu integrieren, da die wirtschaftliche Entwicklung Lateinamerikas nicht vorangebracht werden könne, wenn darauf

81 | United Nations: Latin America Seminar on Population. Rio de Janeiro, Brazil, 5–16 December 1955, New York 1958, S. 17; 40; 54. 82 | Davis, Population Trends and Policies, 1946, S. 40; Davis, The Place of Latin America, 1964, S. 43. 83 | Vgl. Felitti, Karina A.: »La ›explosión demográfica‹ y la planificación familiar a debate. Instituciones, discusiones y propuestas del centro y la periferia«, in: Revista Escuela de Historia, 7, 2, 2008, S. 8f.

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gewartet werde, dass zunächst das Bildungsniveau steige und die Frauen und Männer Lateinamerikas dann ›von selbst‹ zu Verhütungsmitteln griffen.84 Klar spricht aus dieser Argumentation die Theorie des demografischen Übergangs in ihrer Version der 1950er Jahre, in der Fertilität eine unabhängige zu beeinflussende Variable ist, deren Senkung ökonomische Entwicklung und gesellschaftliche Modernisierung vorantreibt. Im Vergleich zu einem Text von Davis, der 1958 erschien, ist auffällig, dass die Analyse der historischen und zu erwartenden Bevölkerungsentwicklung nahezu identisch ist, der Einfluss des Bevölkerungswachstums auf ökonomische Entwicklungsmöglichkeiten jedoch deutlich negativer und bedrohlicher formuliert wird.85 So hat die kubanische Revolution im Unterschied zur Machtergreifung der Kommunisten in China zwar nicht zu einer Neuformulierung demografischer Theorien geführt, für die Beschäftigung der US-Demografie mit Lateinamerika lässt sie sich dennoch ganz klar als Wendepunkt bezeichnen. Erstens nahmen die demografischen Analysen an Alarmismus deutlich zu und zweitens wurde der Region seitens der Institute, die Bevölkerungsforschung organisierten und finanzierten, eine erheblich größere Aufmerksamkeit zuteil. Das gilt ganz besonders für den Milbank Memorial Fund (MMF), der 1963, 1965 und 1967 Konferenzen zu den ›Bevölkerungsproblemen‹ Lateinamerikas ausrichtete.86 Selbstverständlich muss hierbei festgehalten werden, dass die kubanische Revolution für sehr viele weitere Bereiche der US-amerikanischen Beziehungen zu Lateinamerika und der sozialwissenschaftlichen Erforschung der Region diesen deutlichen Wendepunkt darstellt. Auch muss die verstärkte Auseinandersetzung mit den ›Bevölkerungsproblemen‹ Lateinamerikas in den 1960er Jahren vor der völlig veränderten Konjunktur der US-amerikanischen Bevölkerungswissenschaft eingeordnet werden, die sich in diesem Jahrzehnt der Lösung des ›Weltbevölkerungsproblems‹ mit Hilfe von Familienplanungsprogrammen verschrieben hatte. Das population studies center, an dem diese Aus84 | Taeuber, Irene B.: »Population Growth in Latin America. Paradox of Development«, in: Population Bulletin, 18, 1962, S. 126–131; Stycos, J. Mayone: »Population Growth and the Alliance for Progress«, in: Population Bulletin, 18, 6, 1962, S. 121–125. 85 | Davis, Recent Population Trends, 1958. 86 | Die Titel der Konferenzen von 1963, 1965 und 1967 lauteten »Demography and Public Health in Latin America«, »Components of Population Change in Latin America« und »Current Research on Fertility and Family Planning in Latin America.« Zu allen drei Konferenzen erschienen Sonderhefte der Zeitschrift The Milbank Memorial Fund Quarterly, in denen die Beiträge und Kommentare abgedruckt wurden. Zum Interesse des MMF an Lateinamerika siehe Kiser, Clyde V.: »The Work of the Milbank Memorial Fund in Population since 1928«, in: The Milbank Memorial Fund Quarterly, 49, 4/2, 1971, S. 15–66, hier: S. 26; Necochea López, Raul: A History of the Medical Control of Fertility in Peru, 1895–1976. Dissertation, Montreal: McGill University 2009, S. 182.

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einandersetzung am intensivsten stattfand, war das International Population Program an der Cornell University.

2.3 D as I nternational P opul ation P rogr am an der C ornell U niversit y J.  Mayone Stycos, der das Institut von seiner Gründung 1962 bis zum Jahr 1992 leitete, als es bereits in Population and Development Program umbenannt worden war, äußerte sich 2001 anlässlich der Feierlichkeiten zu seiner Emeritierung folgendermaßen zu dessen Gründungsgeschichte: Nachdem seine Anstellung als Professor der Soziologie 1960 entfristet worden war, habe er langfristige Planungen in Angriff nehmen können. Gerade zu jener Zeit habe die Ford Foundation mit der Finanzierung von Area Studies und Bevölkerungsinstituten begonnen.87 Aufgrund seiner bisherigen Forschung und Vernetzung war für Stycos eine Initiative in diese Richtung naheliegend – und sein Antrag hatte Erfolg.88 Gegen Ende des Jahres 1961 bewilligte die Ford Foundation 250.000 US-Dollar über fünf Jahre für »Stipendien und Forschung in Sozialdemografie«.89 Aus Sicht der Cornell University fügt sich diese Förderung in einen umfangreichen Ausbau aller Area Studies und anderer international ausgerichteter Programme ein, der die Forschungsausrichtung der Universität 1962 maßgeblich internationalisierte. Diese Neuausrichtung wurde ebenfalls zum größten Teil von der Ford Foundation finanziert.90 Auch die Lateinamerikaforschung der Universität wurde ab 1962 verstärkt von der Stiftung gefördert und als Latin American Studies Program institutionalisiert. Stycos leitete von 1962 bis 1966 auch dieses Institut.91 Solche interdisziplinären Institute für 87 | Stycos, J. Mayone: A Brief and Heavily Biased History of the International Population Program, Ithaca NY, June 2001: Cornell R&M, JMS, Box 10, Folder 44, S. 3. 88 | Zu seinem Werdegang siehe Kapitel 2.4. 89 | Ford Foundation: Grants in Population and Family Planning, [1966]: Cornell R&M, JMS, Box 14, Folder 36, S. 1. 90 | In den Cornell Alumni News wurde im Mai 1962 verkündet, die Universität habe knapp 4 Millionen Dollar Zuschüsse bekommen, um in den folgenden zehn Jahren zahlreiche internationale Institute auf- und auszubauen. Über drei Viertel dieser Summe kamen von der Ford Foundation und flossen vor allem in das Southeast Asia Program, das International Agricultural Development Program, das China Program und das Center for International Studies. »World Studies Gain. Major Ford grant and two others received«, in: Cornell Alumni News, 64, 10, 1962, S. 23. 91 | Vgl. J. Mayone Stycos an William W. Lambert: Annual Report, 24.04.1962: Cornell R&M, JMS, Box 10, Folder 48. Am Department of Sociology, dem J. Mayone Stycos angehörte, gab es in den 1960er Jahren zahlreiche Professorinnen und Professoren, die zu

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Area Studies, wie sie für Lateinamerika, Asien und Afrika in den 1960er Jahren an zahlreichen US-amerikanischen Universitäten gegründet wurden, gelten als Ausdruck der neuen strategischen Bedeutung, die im Kalten Krieg dem Wissen über diese Regionen und der Ausbildung von Regionalexperten und -expertinnen beigemessen wurde.92 Im Vergleich zu den Zuschüssen, die die Ford Foundation anderen Zentren der Bevölkerungsforschung bewilligte, waren sowohl die Anschubfinanzierung für das International Population Program (IPP) als auch die zwei Folgeförderungen bis 1974 bescheidene Summen.93 John und Pat Caldwell bemerken in ihrer Geschichte der Ford Foundation hierzu lapidar, das IPP habe niemals beabsichtigt, besonders groß zu werden.94 In einem wütenden Vortrag von Stycos über seine ironisch als »herausjagendes Jahr mit den Stiftungen« bezeichneten erfolglosen Versuche, 1970 u. a. von der Ford Foundation Gelder für das IPP einzuwerben, klingt das ganz anders. So habe ihn die Stiftung darauf hingewiesen, dass es an der Zeit sei, die Gelder bei staatlichen Stellen einzuwerben, die sich ja inzwischen für die Bevölkerungsforschung geöffnet Lateinamerika arbeiteten, dort Gastdozenturen annahmen und den Kontinent in Beratungsfunktionen bereisten. Vgl. Department of Sociology, College of Arts and Sciences Cornell University: Annual Report, Academic Year 1967–1968, Ithaca NY, 1968: Cornell R&M, JMS, Box 10, Folder 22, S. 10f. 92 | Vgl. Cumings, Bruce: »Boundary Displacement. Area Studies and International Studies During and After the Cold War«, in: Simpson, Universities and Empire, 1998, S. 159–188. Für eine Untersuchung spezifischer Area Studies-Programme und deren jeweiliger politischer Einflussnahme in Indonesien, Nigeria und Chile siehe Parmar, Foundations of the American Century, 2011. Für eine vertiefte Auseinandersetzung mit der Lateinamerikaforschung in den USA, die über die Zeit des Kalten Krieges hinausgeht siehe Delpar, Helen: Looking South. The Evolution of Latin Americanist Scholarship in the United States, 1850–1975, Tuscaloosa AL: Univ. of Alabama Press 2008; Loschke, Torsten: Lateinamerikastudien in den USA, 1900–2010. Personen – Institutionen – Forschungsförderung, Leipzig: Leipziger Universitätsverlag 2011. 93 | Hier sei nur auf das von Ronald Freedman geleitete Institut an der University of Michigan verwiesen, das die höchsten Fördersummen aller von der Ford Foundation finanzierten population studies center erhielt. 1962 bekam das Institut 500.000 Dollar, bei der frühzeitigen Verlängerung 1965 waren es dann schon 1,5 Millionen US-Dollar. Vgl. Ford Foundation, Grants in Population and Family Planning, [1966], Cornell R&M, S. 1f. Das IPP bekam 1967 und 1970 erneut Zuschüsse der Ford Foundation, zunächst über 168.000, dann über 223.000 US-Dollar. Vgl. Department of Sociology, Annual Report, Academic Year 1967–1968, 1968; Department of Sociology, College of Arts and Sciences Cornell University: Annual Report, Academic Year 1970–71, Ithaca NY, 1971: Cornell R&M, JMS, Box 10, Folder 25. 94 | Caldwell; Caldwell, Limiting Population Growth, 1986, S. 56.

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hätten.95 Beide Hinweise sind eher als Kuriositäten zu werten. Es ist weder davon auszugehen, dass Stycos oder die Cornell University das IPP künstlich klein halten wollten, noch hat sich die Ford Foundation 1970 aus der Finanzierung der population studies center herausgezogen, auch das IPP bekam schließlich in dem Jahr zum dritten und letzten Mal deren Gelder. So sind die Gründe für den relativ geringen Stellenwert, den das IPP innerhalb der von der Ford Foundation unterstützten population studies center einnahm, unklar.96 Festzuhalten ist aber, dass das IPP im US-amerikanischen Vergleich nie zu den großen, renommierten Standorten der Bevölkerungsforschung gehörte, dort jedoch am umfangreichsten zu Lateinamerika gearbeitet wurde und sich das Institut über diesen regionalen Schwerpunkt profilierte. Das IPP hat eine fünfundzwanzigjährige Geschichte, das Nachfolgeinstitut Population and Development Program existiert bis heute. Neben der Ford Foundation gehörten zu den größeren Geldgebern des IPP bis in die 1970er Jahre der Population Council, der für einige Jahre sowohl das Institut als Ganzes als auch zahlreiche Forschungsprojekte am IPP förderte, sowie mit dem National Institute of Child Health and Human Development (NICHHD) auch eine staatliche Behörde. Das 1962 gegründete NICHHD, das dem Gesundheitsministerium unterstellt war, förderte sowohl die Lehre als auch die Forschung am IPP.97 In der Rückschau ist es naheliegend, die Geschichte des IPP als eine Abfolge von Aufschwung, Stagnation und Niedergang zu beschreiben. Der Eindruck entsteht sowohl bei der Lektüre der zahlreichen Rückblicke auf das Institut und seinen langjährigen Direktor anlässlich der Emeritierung Stycos’ 2001 als auch bei der Durchsicht der Jahresberichte des IPP. Diese wa95 | Stycos, J. Mayone: 1970 – My Vintage Year with the Foundations, 14.10.1971: Cornell R&M, JMS, Box 11, Folder 10, S. 2. 96 | John und Pat Caldwell argumentieren dahingehend, dass mit der University of Michigan und der University of Chicago die beiden Standorte am großzügigsten von der Ford Foundation unterstützt wurden, die ihren Schwerpunkt am deutlichsten auf angewandte Programme legten, d. h. auf Forschung und Ausbildung, die den Aufbau von Familienplanungsprogrammen in Entwicklungsländern unterstützte. Vgl. Caldwell; Caldwell, Limiting Population Growth, 1986, S. 59–76. Das Argument erklärt jedoch nicht die geringe Förderung des IPP, gehörte Stycos doch innerhalb der Bevölkerungswissenschaft ebenso wie Freedman und Bogue eindeutig zum Lager derjenigen, die angewandte Forschung befürworteten und betrieben. 97 | Zur Förderung durch den Population Council siehe Department of Sociology, College of Arts and Sciences Cornell University: Annual Report for Academic Year 1966– 1967, Ithaca NY, [1967]: Cornell R&M, JMS, Box 10, Folder 20, S. A-18. Zur Förderung durch das NICHHD siehe Department of Sociology, Annual Report, Academic Year 1967– 1968, 1968; Annual Report 1966–1967. The International Population Program: Cornell R&M, JMS, Box 10, Folder 20.

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ren in den 1960er Jahren recht umfangreich gehalten und begannen Jahr für Jahr mit dem Verweis darauf, dass das Institut erneut gewachsen sei und noch mehr Aktivitäten zu verzeichnen habe als im Vorjahr. Ab den frühen 1970er Jahren nahm der Umfang der Berichte deutlich ab und sie wurden in einem nüchterneren Ton verfasst. Auch wenn sie ab den frühen 1980er Jahren wieder an Volumen zunahmen, so ist das in erster Linie auf die Listung aller Mitglieder und Doktorandinnen und Doktoranden zurückzuführen, was als Reaktion auf die zunehmende Kritik und die drohende Schließung des Programms gedeutet werden kann. Doch was sich in den frühen 1970er Jahren am IPP veränderte und den Übergang von Aufschwung zu Stagnation ausmachte, war trotz Stycos’ zitiertem Lamento weniger ein Einbruch in der Finanzierung, bei der Zahl der Studierenden oder gar der Forschungsprojekte, sondern vielmehr ein Stimmungswandel. In den 1960er Jahren herrschte am IPP Pioniergeist. Forscherinnen, Forscher und Studierende einte die Überzeugung, zur Lösung des dringendsten Menschheitsproblems ihrer Zeit beizutragen, und mit dieser Sicht auf das ›Problem‹ Bevölkerungswachstum befanden sie sich auf der progressiven, modernen, mit überkommenen Traditionen brechenden Seite der turbulenten 1960er Jahre. Stycos kritisierte die US-amerikanische Regierung für ihr fehlendes Engagement im Bereich Familienplanung, und am Institut wurden die Dinge beim Namen genannt: Um das Bevölkerungsproblem zu lösen, musste nicht nur abstrakt über Familienplanung und Verhütungsmethoden, sondern auch ganz konkret über Sexualität gesprochen werden. Im Rückblick eines seiner Studierenden aus den 1960er Jahren klingt das so: »Coitus: This is what it’s all about for those who studied under Stycos. Coitus is the Cornell Organization of Individuals Trained Under Stycos.«98 Als im Zuge der campusweiten Studierendenproteste, die im April 1969 ihren Höhepunkt hatten, auch innerhalb der Soziologie stärkere Mitbestimmung für Studierende sowie Studiengangsreformen verlangt und umgesetzt wurden, gehörte die verstärkte Beschäftigung mit sozialen Problemen zu den zentralen Forderungen. Die Studierenden verlangten nach mehr Forschung zu Rassismus, Arbeit und Freizeit und zu Bevölkerungsproblemen.99 Doch wenige Jahre später wurden 98 | Winchester Brown, Joseph: Stycos in Puerto Rico: The Forerunner of Reproductive Health Studies, Ithaca NY, 02.06.2001: Cornell R&M, Population and Development Program Records, #21-33-3765 (fortan: PDP), Box 1, Folder 18. Für eine Analyse von Paul Ehrlichs berühmtem Beststeller The Population Bomb, die dessen Anschlussfähigkeit für die Gegenkultur der 1960er Jahre aufzeigt, siehe Robertson, The Malthusian Moment, 2012, S. 147ff. 99 | Department of Sociology, College of Arts and Sciences Cornell University: Annual Report, Academic Year 1968–1969, Ithaca NY, 1969: Cornell R&M, JMS, Box 10, F23, S. 4ff. Zu den Studierendenprotesten an der Cornell University siehe Downs, Donald

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Stycos und die am IPP betriebene Forschung zu »Knowledge, Attitude and Practices« von Familienplanung, sogenannte KAP-Studien, in der Zeitschrift Concerned Demography, dem Sprachrohr der Studierendenrevolte innerhalb der Population Association of America, dafür kritisiert, im Vorfeld der Weltbevölkerungskonferenz von Bukarest mit antikommunistischen Tönen gegen kritische Stimmen zu hetzen. Stycos wurde in dieser Kritik als Teil des ›population establishment‹ bezeichnet und die mit ihm verbundenen KAP-Studien als Instrument, das die Notwendigkeit von Entwicklungspolitik negiere und dazu beitrage, dass daran festgehalten werde, lediglich Verhütungsmittel zu verbreiten.100 Stycos und das IPP gerieten hier in die Kritik, die ab den 1960er Jahren von linker und feministischer Seite vermehrt an den staatlichen und internationalen Programmen zur ›Bevölkerungskontrolle‹ und Familienplanung in Entwicklungsländern geäußert wurde und sich auch gegen die Forschung hinter den Programmen richtete. Anlässlich der Gründung des IPP hatte J.  Mayone Stycos 1962 in einer Presseerklärung angekündigt, dass »den Menschen in unterentwickelten Ländern« nicht geholfen werden könne, ohne die »Bevölkerungsprobleme« zu erforschen, denen sie sich gegenübersahen.101 Die ›Probleme‹, zu denen am IPP bis Mitte der 1970er Jahre geforscht wurde, waren in erster Linie Fertilität und Familienplanung.102 So war das Institut in den 1960er Jahren an KAP-Umfragen in zahlreichen lateinamerikanischen Ländern, aber auch in Ägypten, Pakistan, der Türkei und Ghana beteiligt. Doch einige der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die, wie Stycos selbst, bis Anfang der 1970er Jahre alle zum Institut für Soziologie gehörten, forschten auch zu anderen Themenkomplexen, so zum Beispiel zu Migration.103 Bei den zahlreichen studentischen Master- und Doktorarbeiten, die am IPP geschrieben wurden, zeigt sich der Schwerpunkt

Alexander: Cornell ’69. Liberalism and the Crisis of the American University, Ithaca NY: Cornell Univ. Press 1999. 100 | Carder, Michael: »A Family Quarrel? ›Developmentalism‹ or Family Planning«, in: Concerned Demography, 4, 2, 1974, S. 3–12, hier: S. 3; 7f. 101 | Cornell University News Bureau: International Population Program, 28.01.1962: Cornell R&M, JMS, Box 1, Folder 42. 102 | Für die nachfolgenden Ausführungen zu Forschung, Lehre und Personal am IPP wurden dessen Jahresberichte von 1963 bis 1986 ausgewertet. 103 | Einen Schwerpunkt auf Migration hatte z. B. George C. Myers, der von 1962–1968 als Assistant Professor an der Fakultät für Soziologie und am IPP arbeitete und in dieser Zeit zu Migration in Puerto Rico forschte. Siehe hierzu Myers, George C.: »Migration and Modernization. The Case of Puerto Rico, 1950–1960«, in: Social and Economic Studies, 16, 4, 1967, S. 425–431.

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auf Fertilität und Familienplanung hingegen deutlich.104 Für die graduate students aus aller Welt, denen für ihr Studium am IPP zahlreiche Möglichkeiten der Stipendieneinwerbung offenstanden, war die Durchführung eigener Feldforschung für diese Abschlussarbeiten Pflicht.105 Gleichzeitig hatten sie die Möglichkeit, an angeleiteten Forschungsreisen teilzunehmen, beispielsweise nach Kolumbien, Belize und Niger, und ihre dortige Forschung wurde von J.  Mayone Stycos veröffentlicht.106 Auch einzelne undergraduate students konnten an diesen Reisen teilnehmen, zudem waren diese an der Cornell University im Rahmen ihres Studiums in die Auswertung der Forschungsergebnisse ihrer Lehrenden eingebunden.107 Das Lehrangebot des IPP konnte ab 1963 genutzt werden, um »Demography-Ecology« als eigenes Fach zu belegen, wobei es Doktoranden der Soziologie als Hauptfach und Masterstudierende als Nebenfach wählen konnten. Zudem waren ab 1963 alle Studierenden der So­ zio­logie dazu verpflichtet, einen Kurs zu ›Bevölkerungsproblemen‹ zu belegen, den in der Regel J. Mayone Stycos selbst anbot.108 In den Jahresberichten des IPP wurden in den späten 1960er Jahren drei Ziele für die Arbeit des Instituts genannt: Erstens sollte Lehre zu den Variab104 | Fünf Jahre nach der Gründung des Instituts waren dort schon elf Master- und fünf Doktorarbeiten beendet worden. Vgl. International Population Program, Department of Sociology Cornell University: M.S. Theses completed at Cornell, 1964–1967; Ph.D. Theses completed at Cornell, 1966–1967, Ithaca NY, [1967]: Cornell R&M, JMS, Box 10, Folder 21. Bis 1988 hatte das IPP insgesamt 107 graduate students aus 33 Ländern ausgebildet. Vgl. International Population Program Graduate Students – 1965–88, Itha­c a NY, [1988]: Cornell R&M, JMS, Box 10, Folder 30. 105 | Vgl. The International Population Program. Progress Report March 1963, Ithaca NY, 1963: Cornell R&M, JMS, Box 10, Folder 17, S. 1f. Von den 107 graduate students, die bis 1988 am IPP ausgebildet worden waren, hatten nur zehn ohne Stipendium studiert. Die größten Stipendiengeber waren der NICHHD, der Population Council, die Hew­ lett Foundation und die Ford Foundation. 106 | Stycos, J. Mayone (Hg.): Ideology, Faith, and Family Planning in Latin America. Studies in Public and Private Opinion on Fertility Control, New York: McGraw-Hill 1971. Zu den Sommeraufenthalten in Kolumbien siehe auch IPP Annual Report 1966–1967, Cornell R&M. 107 | Vgl. The International Population Program. Reprinted from Annual Report – International Studies at Cornell University, 1965–1966, Ithaca NY, [1966]: Cornell R&M, JMS, Box 10, Folder 19. 108 | Vgl. The International Population Program. Progress Report March, 1963, Cornell R&M, S. 1. Weshalb das neue Studienfach »Demography-Ecology« benannt wurde, ist nicht bekannt. Aus dem Lehrangebot am IPP lässt sich nicht auf einen Schwerpunkt Ökologie schließen. Vgl. hierzu auch International Population Program, Cornell University, Ithaca NY, [1970]: Cornell R&M, JMS, Box 10, Folder 24.

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len »Fertilität, Mortalität und Migration«, aber auch zu den »medizinischen Aspekten« von »family limitation programs« angeboten werden. Zweitens sollte die angewandte Forschung möglichst mit »ongoing action programs« zu »Bevölkerungsproblemen« verbunden sein, und drittens sollte unter den Studierenden Interesse am Berufsfeld Demografie geweckt werden.109 Dieses Projekt wurde vielfältig umgesetzt. So hatten Studierende des IPP, aber auch umliegender Universitäten, die Möglichkeit, durch geförderte Praktika und Kurzbesuche verhältnismäßig nahe gelegene Institutionen wie das U.S. Census Bureau in Washington, D.C., dessen kanadisches Pendant Domi­nion Bureau of Statistics oder die Population Division der Vereinten Nationen in New York kennenzulernen. Den Praktika ging ein einwöchiger Vorbereitungskurs am IPP voraus.110 Zudem stand den Studierenden unter anderem offen, an den Sommerkursen des von Donald Bogue geleiteten Community and Family Studies Center an der University of Chicago teilzunehmen, oder sie konnten einige ›Größen‹ der angewandten Bevölkerungsforschung bei einer der wöchentlichen Vortragsreihen kennenlernen, die im Studienjahr 1965/66 begannen.111 Aus der Übersicht der Vortragenden im Studienjahr 1968/69 zeigt sich, dass etwa zu zwei Dritteln Universitätsangehörige vortrugen und zu einem Drittel Bevölkerungsexperten und ‑expertinnen aus Stiftungen, wie z. B. der Ford Foundation, oder von staatlichen Behörden, wie z. B. USAID, aber auch der United States Army, deren sozialwissenschaftlicher Forschungszweig vorgestellt wurde.112 Den Studierenden standen in der Tat gute Berufschancen offen, wie eine Übersicht aller graduate students bis 1987 zeigt, in der ihre damaligen Arbeitsplätze verzeichnet sind. Von den 107 Absolventen und Absolventinnen war etwa ein Drittel in der universitären Forschung geblieben, die Arbeitsplätze der restlichen Demografinnen und Demografen reichten von zahlreichen staatlichen Behörden, die für die Ausarbeitung von Bevölkerungspolitik zuständig waren, über private Familienplanungsorganisationen bis hin zu großen internationalen Organisationen und kommerziellen Meinungsforschungsinstituten.113 109 | Vgl. International Population Program. Report 1969–1970, Ithaca NY, 1970: Cornell R&M, JMS, Box 10, Folder 23, S. 1. 110 | Vgl. Marden, Parker G.: 1967 Demographic Internship Program. Progress Report No. 2, Ithaca NY, 26.05.1967: Cornell R&M, JMS, Box 10, Folder 21. 111 | Vgl. The International Population Program. Annual Report, 1964–1965, Ithaca NY, [1965]: Cornell R&M, JMS, Box 10, Folder 18; IPP Annual Report 1965–1966, Cornell R&M. 112 | Cornell University, International Population Program, 1968–1969 Weekly Luncheon Seminar, Ithaca NY, 1968: Cornell R&M, JMS, Box 10, Folder 21. 113 | Vgl. International Population Program Graduate Students – 1965–88, [1988], Cornell R&M.

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In der Forschung drückte sich die Verbindung zu Familienplanungsprogrammen neben dem bereits erwähnten Schwerpunkt auf KAP-Forschung ab der zweiten Hälfte der 1960er Jahre auch in Projekten aus, die sich dem Bereich operation research zuordnen lassen. Zum Beispiel forschten Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen des IPP, finanziert durch den Population Council und in Zusammenarbeit mit der International Planned Parenthood Federation, ab 1968 zum Einsatz von Massenmedien bei der Verbreitung von Familienplanungsprogrammen.114 Zudem wurde von den Bevölkerungsforschern und -forscherinnen der Cornell University das staatliche Familienplanungsprogramm in Honduras und die Bevölkerungsforschung Costa Ricas evaluiert.115 Auf enge Verbindungen zu staatlichen lateinamerikanischen Akteurinnen und Akteuren, die zum größten Teil auf Stycos’ Tätigkeiten als Berater des Population Council und anderer in Lateinamerika tätiger Organisationen zurückzuführen sind, deutet auch eine Konferenz mit zahlreichen lateinamerikanischen Botschaftern und Botschafterinnen hin, die 1967 an der Cornell University stattfand und gemeinsam mit dem Population Reference Bureau (PRB) ausgerichtet wurde.116 Im Jahresbericht wird diese Konferenz als »ungewöhnlich« und »off-the-record« bezeichnet und ihr zugesprochen, sehr erfolgreich die »Ausprägung des Bevölkerungsproblems in Lateinamerika« sowie die Forschung und Lehre am IPP vermittelt zu haben.117 Vom PRB wurde das Team um Stycos 1970 auch gefördert, um Fernsehbeiträge zum Thema ›Bevölkerung‹ zu entwickeln, für die prominente Latein-

114 | Vgl. Stycos, J. Mayone (Hg.): Clinics, Contraception, and Communication. Evaluation Studies of Family Planning Programs in 4 Latin American Countries, New York: Appleton-Century-Crofts et al. 1973. 115 | Vgl. Stycos, J. Mayone; Marden, Parker G.: »Honduras. Fertility and an Evaluation of Family Planning Programs«, in: Studies in Family Planning, 1, 57, 1970, S. 20–24; International Population Program, 1975–76, Annual Report, Ithaca NY: Cornell R&M, JMS, Box 11, Folder 1. 116 | Das 1929 gegründete Population Reference Bureau (PRB) ist eine Organisation, die in dem hier untersuchten Zeitraum sowohl in den USA als auch in Lateinamerika intensiv Lobby- und Öffentlichkeitsarbeit für ›Bevölkerungskontrolle‹ und ›Familienplanung‹ betrieb. Siehe hierzu allgemein die folgende Selbstdarstellung: Population Reference Bureau: World Population Growth and Response. 1965–1975 – A Decade of Global Action, Washington, D.C.: Population Reference Bureau 1976. 117 | The International Population Program. Copy for Annual Report, Center for International Studies, Cornell University, 1967–1968, Ithaca NY, 1968: Cornell R&M, JMS, Box 10, Folder 22, S. 5.

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amerikaner und Lateinamerikanerinnen interviewt werden sollten.118 Dieses Projekt fügte sich in eine Reihe von Aktivitäten ein, mit denen das IPP ab 1969 versuchte, auf die Einstellungen der Menschen im unmittelbaren geografischen Umfeld der Cornell University einzuwirken. So waren Studierende des IPP 1969 an einer »experimentellen Massenmedienkampagne« beteiligt, die darauf abzielte, die Vorstellung von der »idealen Familiengröße« in der Bevölkerung Ithacas zu verändern. Dafür wurden Flugblätter, Radiospots und eine 90-minütige Fernsehsendung entwickelt.119 Aus Fotos des Hobbyfotografen J. Mayone Stycos, die er ein Jahr später in dem Fotoband Children of the Barriada: A Photographic Essay on the Latin American Population Problem publizierte, erstellten Studierende zudem einen halbstündigen Dokumentarfilm.120 Ein Jahr später wurde am IPP ein Mitarbeiter angestellt, dessen Aufgabe es war, Unterrichtsmaterial zu ›Bevölkerung‹ für Schulen und colleges zu entwickeln. Begleitet wurde dieses Projekt von KAP-Umfragen unter Studierenden der Cornell University.121 Dieser neue Schwerpunkt der Erstellung von und Forschung zu Kommunikationsmitteln zur Bewerbung von Familienplanungsprogrammen stand im Zusammenhang mit einer institutionellen Umstrukturierung des IPP, das ab 1971 interdisziplinär zusammengesetzt und nicht länger ausschließlich an das Institut für Soziologie angebunden war.122 Diese Transformation hatte die Ford Foundation intensiv betrieben, indem sie Gelder vergab, um an anderen Fakultäten und Instituten, wie z. B. den Kommunikationswissenschaften, Personen einzustellen, die an Bevölkerungsforschung interessiert waren.123 Bis dahin war der Schwerpunkt des IPP stets als Sozialdemografie betitelt worden und waren ausschließlich ausgebildete Soziologinnen und Soziologen an der Forschung und Lehre des Instituts beteiligt gewesen.124 Die Gründung des IPP hatte 1962 zu weitreichenden Veränderungen am Institut für Soziologie geführt. Es wurden neue Kurse in das Lehrprogramm integriert und das Stu118 | Vgl. International Population Program. Report 1970–1971, Ithaca NY, 1971: Cornell R&M, JMS, Box 10, Folder 25, S. 4. Inwiefern und auf welche Art und Weise dieses Projekt umgesetzt wurde, ist im Nachlass von J. Mayone Stycos nicht überliefert. 119 | International Population Program. Report 1969–1970, 1970, Cornell R&M, S. 2. 120 | Stycos, J. Mayone: Children of the Barriada. A Photographic Essay on the Latin American Population Problem, New York: Grossman 1970. 121 | Vgl. International Population Program. Report 1969–1970, 1970, Cornell R&M, S. 5. 122 | Vgl. International Population Report, Ithaca NY, [1972]: Cornell R&M, JMS, Box 10, Folder 16, S. 32. 123 | Vgl. International Population Program, Report 1970–1971, 1971, Cornell R&M, S. 1. 124 | Vgl. International Population Program, Cornell University, [1970], Cornell R&M.

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dienfach Demography-Ecology gegründet.125 In den folgenden Jahren wurde die Bevölkerungsforschung wegen der umfassenden externen Finanzierung ein finanziell und personell außergewöhnlich gut ausgestatteter Bereich des Instituts.126 Zu dokumentierten Konflikten zwischen den Bevölkerungsforschern und -forscherinnen und dem Institut für Soziologie kam es ab den frühen 1980er Jahren. Diese mündeten schließlich 1988 in der Umbenennung des IPP in Population and Development Program und in dessen Wechsel vom College of Arts and Sciences, zu dem die Soziologie gehörte, an das Institut für Rural Sociology, das an das College of Agriculture and Life Sciences angebunden war. Aus der Korrespondenz zwischen Fakultätsmitgliedern und den Berichten über Krisensitzungen, die diesen inneruniversitären Umzug und seine Vorgeschichte dokumentieren, geht hervor, dass der Konflikt begann, als Mitte der 1980er Jahre zahlreiche Professuren neu zu besetzen waren und deren inhaltliche Ausrichtung debattiert wurde. Neben persönlichen Konflikten und Fragen der Mittelverteilung wurde im Zuge dessen auch inhaltliche Kritik an der Arbeit des IPP laut. So warf eine Fraktion des Instituts für Soziologie Stycos und seinem Team vor, ausschließlich deskriptive Forschung zu Fertilität zu betreiben. Diejenigen, die das IPP verteidigten, warfen ihren Gegnern und Gegnerinnen wiederum vor, kein Interesse an einer internationalen Ausrichtung zu haben und eine auf Methodik und die USA spezialisierte uninteressante Soziologie betreiben zu wollen.127 Stycos selbst interpretierte diesen Bruch rückblickend als symptomatisch für den Wandel im Verhältnis zwischen Bevölkerungsforschung und Soziologie an zahlreichen US-amerikanischen Universitäten. Diesem habe der Konflikt zwischen denjenigen, die angewandte Forschung betrieben, und denjenigen, die »akademischere Kurse in Demografie und Sozialwissenschaften« wollten, zugrunde gelegen. Auch seien zahlreiche Forschende ausschließlich aufgrund der guten finanziellen Möglichkeiten in den Bevölkerungswissenschaften gelandet. Den Wechsel an das College of Agriculture and Life Sciences bezeichnete er als glückliche Fügung, da international und angewandt ausgerichtete Forschung dort erwünscht und bestens aufgehoben gewesen sei.128 125 | Vgl. The International Population Program. Progress Report March, 1963, Cornell R&M. 126 | Vgl. Department of Sociology, Annual Report, Academic Year 1968–1969, 1969, Cornell R&M. 127 | Diese sehr knappe Zusammenfassung des Konflikts beruht auf einer Durchsicht aller Materialien in dem mit »Rural Sociology – Move from College of Arts and Sciences to Agriculture – Correspondence« betitelten Folder 1 aus Box 10 der J. Mayone Stycos papers. 128 | Stycos, A Brief and Heavily Biased History, June 2001, Cornell R&M, S. 5f.

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2.4 D er B e völkerungse xperte für L ateinamerik a J. M ayone S t ycos J. Mayone Stycos (1927–2016) steht exemplarisch für viele US-amerikanische Sozialwissenschaftler und ‑wissenschaftlerinnen seiner Generation. Im Zusammenhang mit der Wahrnehmung einer globalen Bevölkerungsexplosion gelang es ihm, eine erfolgreiche Karriere aufzubauen. Gleichzeitig war er maßgeblich daran beteiligt, diese Wahrnehmung zu gestalten. Die 54 Jahre, die zwischen dem Bachelor of Arts in Princeton 1947 und seiner Emeritierung an der Cornell University 2001 liegen, lassen sich als bruchlose Expertenbiografie beschreiben, deren Höhepunkt mit den ›goldenen Jahrzehnten‹ der US-amerikanischen Demografie, den 1960er und 1970er Jahren, zusammenfällt. Die Figur des Experten hat in jüngster Zeit vermehrt die Aufmerksamkeit der Geschichtswissenschaft erfahren.129 In Interpretationen der westlichen Moderne, die das lange 20. Jahrhundert durch die »Verwissenschaftlichung des Sozialen«, durch social engineering oder durch die »Idee der ›Planung‹« charakterisiert sehen, nimmt der Experte eine Schlüsselrolle ein.130 Seine 129 | In ihrer Einleitung zum gleichnamigen Schwerpunktheft fragen Beatrice Schumacher und Thomas Busset: »Ist es nur eine Einbildung, dass der ›Experte‹ fast nur in seiner grammatikalisch männlichen Form denkbar scheint, und die ›Expertin‹ fast schon eine ungewöhnliche Wortschöpfung darstellt?« Sie verweisen damit auf einen in der Historisierung des Experten wichtigen Gender-Aspekt, der in der im Folgenden betrachteten Literatur meist unberührt bleibt. Schumacher, Beatrice; Busset, Thomas: »›Der Experte‹. Aufstieg einer Figur der Wahrheit und des Wissens«, in: Traverse, 2, 2001, S. 15–26, hier: S. 15. In dieser Studie wird der Experte als Typus im Singular und männlich bezeichnet, auf konkrete Expertenkreise jedoch in ihrer männlichen und weiblichen Form verwiesen, da in diesen Gruppen sowohl Frauen wie Männer wirkten und als Experten und Expertinnen agierten und wahrgenommen wurden. 130 | Zu den genannten Interpretationen siehe: Raphael, Die Verwissenschaftlichung des Sozialen, 1996; Etzemüller, Thomas: »Social engineering als Verhaltenslehre des kühlen Kopfes. Eine einleitende Skizze«, in: Ders. (Hg.): Die Ordnung der Moderne. So­ cial Engineering im 20. Jahrhundert, Bielefeld: transcript 2009, S. 11–39; van Laak, Dirk: »Planung. Geschichte und Gegenwart des Vorgriffs auf die Zukunft«, in: Geschichte und Gesellschaft, 34, 3, 2008, S. 305–326, hier: S. 305. Siehe weiterhin grundlegend zum Typus des Experten Rinke, Stefan; González de Reufels, Delia (Hg.): Expert Knowledge in Latin American History. Local, Transnational, and Global Perspectives, Stuttgart: Heinz 2014; Leendertz, Ariane: »Experten – Dynamiken zwischen Wissenschaft und Politik«, in: Reinecke; Mergel, Das Soziale ordnen, 2012, S. 337–369; KurzMilcke, Elke; Gigerenzer, Gerd (Hg.): Experts in Science and Society, New York et al.: Kluwer Academic; Plenum Publishers 2004; Centeno, Miguel A.; Silva, Patricio (Hg.): The Politics of Expertise in Latin America, Basingstoke; London; New York: Macmillan;

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Glanzzeit wird in den Jahren von 1930 bis 1980 gesehen.131 Diese Zeitspanne umfasst auch die Wirkungszeit der US-amerikanischen Experten und Expertinnen, die in den 1950er und 1960er Jahren zur Entwicklungsplanung und Modernisierung in Entwicklungsländer ausströmten und überwiegend geistige Kinder des New Deal waren. Diese »liberalen Internationalisten«132 sind eng mit dem Bevölkerungsexperten verwandt, der hier im Mittelpunkt steht: Die entscheidenden Kriterien, die den Entwicklungshelfer und Bevölkerungsforscher gleichermaßen von anderen Expertengruppen abhoben und auf die sich ihre Anerkennung ganz entscheidend stützte, waren ihr internationaler Aktionsraum und ihr globales Problembewusstsein. In diesem Zusammenhang ist auch die »Bedeutung der Transnationalität« für die demografische Expertengemeinschaft nach dem Zweiten Weltkrieg unterstrichen worden. Diese erkläre das Verhältnis »von national oft marginalisierten und gleichzeitig transnational florierenden Wissensformen«.133 Die Experten und Expertinnen, von denen in den 1960er Jahren Lösungen für die Weltbevölkerungsprobleme erwartet wurden, entstammten unterschiedlichen wissenschaftlichen Disziplinen. Sie kamen aus den Sozial- und Wirtschaftswissenschaften, der Statistik, der Medizin und zunehmend auch aus demografischen Studiengängen. Sie wurden unter dem Gruppenbegriff des Bevölkerungsforschers bzw. der -forscherin zu einer Einheit. In der Anfangsphase ihrer Karrieren betrieben sie in der Regel eigenständige Forschung, die sehr unterschiedliche Schwerpunkte haben konnte. Doch in ihren beratenden und leitenden Tätigkeiten in den Stiftungen, Entwicklungshilfeagenturen und internationalen Organisationen sowie in der Öffentlichkeit vertraten sie homogene Standpunkte. Obschon ihr Expertenwissen auf begrenzter lokaler St. Martin’s Press 1998; Brint, Steven G.: In an Age of Experts. The Changing Role of Professionals in Politics and Public Life, Princeton NJ: Princeton Univ. Press 1996. 131 | Der Begriff des Experten wird jedoch auch schon für die Vormoderne diskutiert, wie sich z. B. an einem in Göttingen ansässigen Graduiertenkolleg zeigt. Siehe hierzu: »Forschungsprogramm des Graduiertenkollegs ›Expertenkulturen des 12. bis 16. Jahrhunderts‹«, o. D., auf: http://www.uni-goettingen.de/de/100753.html (21.06.2017). Zudem wird in einem jüngst erschienenen Sammelband zu Expertennetzwerken der 1840er bis 1930er Jahre der enge Zuschnitt des Begriffs auf die Hochzeit der Planung im 20. Jahrhundert infrage gestellt: Rodogno, Davide; Struck, Bernhard; Vogel, Jakob: »Introduction«, in: Dies. (Hg.): Shaping the Transnational Sphere. Experts, Networks, and Issues from the 1840s to the 1930s, New York; Oxford: Berghahn Books 2015, S. 1–20, hier: S. 1. 132 | Latham, Michael E.: Modernization as Ideology. American Social Science and ›Nation Building‹ in the Kennedy Era, Chapel Hill NC: Univ. of North Carolina Press 2000, S. 58. 133 | Hartmann; Unger, Einleitung, 2010, S. 236.

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oder nationaler Feldforschung fußte, galt es stets auch als repräsentativ für die Dritte Welt und als Grundlage für vergleichende Studien. Der intellektuelle Werdegang von Stycos wird in autobiografischen Texten, Interviews und Ehrungen seiner Schülerinnen und Schüler folgendermaßen skizziert: Er sei ein »angesehener Soziologe, bahnbrechender Bevölkerungswissenschaftler, innovativer Fotograf und […] inspirierender Betreuer« gewesen, der während seiner Forschung in der Karibik für das Problem der Überbevölkerung sensibilisiert worden sei und mit seinen dortigen und folgenden Studien zu Fertilität deutlich gemacht habe, dass Paare in unterentwickelten Gebieten weniger Kinder bekommen wollten.134 Daher habe er das ›Bevölkerungsproblem‹ – insbesondere in Lateinamerika – nicht bei den betroffenen Paaren identifiziert, sondern auf den fehlenden politischen Willen der Eliten zurückgeführt und diese im Laufe der 1960er Jahre zum Untersuchungsgegenstand seiner Meinungsforschung gemacht. Marxisten, Nationalisten und Katholiken habe er dabei als die drei gesellschaftlichen Gruppen Lateinamerikas identifiziert, die einer erfolgreichen anti-natalistischen Bevölkerungspolitik im Wege stünden und deren Einstellung es zu ändern gelte. Nachdem in vielen lateinamerikanischen Ländern staatliche und private Familienplanungsprogramme begründet worden waren, habe er sich in den 1970er Jahren der Evaluierung und Optimierung dieser Programme gewidmet. Angetrieben von humanistischen Idealen, habe er so entscheidend dazu beigetragen, die Aufmerksamkeit wissenschaftlicher und politischer Eliten Lateinamerikas auf das Problem der nationalen, regionalen und globalen Bevölkerungswachstumsraten zu lenken. Der Gesinnungswandel auf dem Kontinent sei nicht zuletzt Ergebnis seiner Bemühungen gewesen. In diesen Erzählungen werden außerdem bestimmte Charaktereigenschaften und Weltanschauungen Stycos’ betont, die seinen Einsatz erklären sollen.135 So entsteht das Bild eines Weltenretters, eines sozial engagierten Wissenschaftlers, der den Elfenbeinturm verließ. Durch seine Position hatte er Zugang zu den Eliten, doch seine Sympathien lagen bei den Bewohnerinnen und Bewohnern der »barriada«, der Ar-

134 | Mundigo, Axel I.: The Stycos Research Imagination. Contraception, Abortion and Fertility. A Presentation Prepared for Professor J. Mayone Stycos’ Retirement Celebration, Cornell University, June 2, 2001, Ithaca, New York, Ithaca NY: Cornell R&M, JMS, Box 10, Folder 44, S. 1. 135 | Neben der bereits zitierten Rede des Stycos-Schülers Mundigo anlässlich dessen Emeritierung 2001 findet sich dieses Narrativ seit den 1970er Jahren u. a. in Zeitungsartikeln, die auf Interviews mit ihm basieren. Vgl. Nieto Samper, Lucy de: »Los hijos de la barriada«, in: El Tiempo, 17.03.1974, S. 6–7; Steele, William: »›Birth Control Is Not Enough‹. Prof. Stycos and Cornell’s Population Program«, in: Cornell Alumni News, Feb. 1986, S. 22–25.

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menviertel.136 Zudem wird er als brillanter Mentor und Lehrer beschrieben, auch werden seine fotografischen Arbeiten wiederholt als bildlicher Ausdruck seines Humanismus gedeutet. Losgelöst von dieser sinnstiftenden Eigenerzählung, aber auch von einer Dichotomie, die die Produzenten und Produzentinnen von Bevölkerungswissen in ›gute‹, d. h. liberale, und ›böse‹, d. h. repressive Bevölkerungsexperten und ‑expertinnen unterteilt,137 soll hier die Gleichzeitigkeit einer repressiven Programmatik und eines liberalen, demokratischen und progressiven Selbstverständnisses und Schreibens der historischen Akteurinnen und Akteure nicht als Gegensatz oder fehlende Kohärenz beschrieben werden. Die Stycos zugeschriebene Forderung, Trinkwasser mit hormonellen Verhütungsmitteln zu versetzen, und sein Eintreten für sexuelle Freiheit werden als Teil desselben Diskurses verstanden.138 Um die Wissensfelder zu beschreiben, in denen Stycos seinen Expertenstatus erlangte, soll der Fokus an dieser Stelle auf den Anfängen und frühen Höhepunkten seiner Karriere liegen: Auf der karibischen Forschung (1952–1956) beruhte seine Anerkennung innerhalb verschiedener wissenschaftlicher Disziplinen; mit der Leitung von Forschungsprojekten auf dem südamerikanischen Kontinent und dank seiner Position beim Population Council war seine Autorität als der Lateinamerikakenner unter den Bevölkerungsexperten und ‑expertinnen Mitte der 1960er Jahre gefestigt. Die Anfänge von Stycos’ akademischer Lauf bahn liegen an der Princeton University, wo er unter anderem am Office of Population Research (OPR) studierte.139 Es ist unklar, wie seine Anbindung an das OPR genau aussah, aber es steht fest, dass Kingsley Davis seine Abschlussarbeit betreute und ihn im Anschluss 1947 zur Feldforschung nach Puerto Rico entsandte. Stycos leitete dort die Interviewerinnen für die erste Studie des »Puerto Rican Family Project« an, die das OPR in Kooperation mit dem Social Science Research Center

136 | Stycos, Children of the Barriada, 1970. 137 | Vgl. Robertson, The Malthusian Moment, 2012, S. 9. 138 | Dass Stycos die Verbreitung von Verhütungsmitteln im Trinkwasser für eine gangbare Option hielt, ist lediglich in einem Zeitungsartikel überliefert, der auf eine Rede Bezug nimmt, die Stycos auf der IPPF-Konferenz in Brighton 1973 hielt. Vgl. O. A.: »¿Es posible el agua anticonceptiva?«, o. D. Beispielhaft für einen Text, in dem er von sexueller Befreiung‹ spricht, ist folgender: Stycos, J. Mayone: »Desexing Birth Control«, in: Family Planning Perspectives, 9, 6, 1977, S. 286–292. 139 | Die Angaben zu Stycos’ Bachelorstudium an der Princeton University sind dünn und in Teilen widersprüchlich. In seinem Lebenslauf gibt er einen Abschluss der Wirtschaftswissenschaften an, in einem Zeitungsartikel heißt es, er sei Princetons erster Absolvent der Soziologie gewesen. Vgl. Curriculum Vitae, J. Mayone Stycos, 13.06.2001: Cornell R&M, JMS, Box 10, Folder 44; Steele, ›Birth Control Is Not Enough‹, Feb. 1986.

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der Universidad de Puerto Rico durchführte.140 Stycos stand demnach in enger Beziehung zu dem Institut, dessen Forschung und Theoreme für die Bevölkerungsforschung in den 1950er und 1960er Jahren handlungsanleitend sein würden, und erlangte seine ersten Forschungserfahrungen auf der Insel, auf der ›Unterentwicklung‹ und ›Überbevölkerung‹ schon seit den 1930er Jahren miteinander in Beziehung gesetzt wurden. Dennoch ist er in diesen Jahren noch kein Demograf oder Bevölkerungswissenschaftler. Die population studies waren zu diesem Zeitpunkt noch nicht gefestigt, und das Wissensfeld, auf dem sich Stycos in den späten 1940er und frühen 1950er Jahren bewegte, war das des survey research. Unter diesem Oberbegriff wurden Meinungsumfragen, Wahlprognosen und Marktforschung sowie die dazugehörigen Techniken der empirischen Sozialforschung gefasst. Hierzu zählten vor allem repräsentative Umfragen und Formen der Interviewführung.141 Das massenhafte Aufkommen und die schnelle Verbreitung dieser Form der Wissensproduktion in den Vereinigten Staaten der 1930er und 1940er Jahre werden von der Historikerin Sarah Igo als Hinwendung zum Average American interpretiert.142 Private Meinungsforschungsinstitute schufen und stillten ebenso wie universitäre Einrichtungen den »Appetit auf soziale Fakten« und partizipierten an einem »dichten Austausch sozialwissenschaftlich generierter Zahlen, Wissensbestände und Normen«.143 Zu den universitären Pionierinstituten gehörte auch

140 | Das Ergebnis wurde 1952 von Paul K. Hatt publiziert. Vgl. Hatt, Paul K.: Backgrounds of Human Fertility in Puerto Rico. A Sociological Survey, Princeton NJ: Princeton Univ. Press 1952. Aus den Quellen geht nicht eindeutig hervor, ob Stycos auch selbst an der Durchführung der Interviews beteiligt war. Das Social Science Research Center firmiert teils auch unter dem spanischen Namen Centro de Investigaciones Sociales. 141 | Siehe hierzu Converse, Jean M.: Survey Research in the United States. Roots and Emergence 1890–1960, Berkeley CA: Univ. of California Press 1987; Herbst, Susan: »Polling in Politics and Industry«, in: Porter, Theodore M.; Ross, Dorothy; Lindberg, David C. (Hg.): The Modern Social Sciences, Cambridge: Cambridge Univ. Press 2003, S. 577–590. 142 | Igo, Sarah Elizabeth: The Averaged American. Surveys, Citizens, and the Making of a Mass Public, Cambridge MA: Harvard Univ. Press 2007. Aus transnationaler Perspektive sind in einer Sonderausgabe von Comparativ zur »Vermessung der Mediengesellschaft im 20. Jahrhundert« 2011 zwei Beiträge zur US-amerikanischen Meinungsforschung der 1930er bis 1950er Jahre erschienen: Fulda, Bernhard: »The Market Place of Political Opinions. Public Opinion Polling and its Publics in Transnational Perspectives, 1930–1950«, in: Comparativ, 21, 4, 2011, S. 13–28; Reinecke, Christiane: »Statistiken der Liebe oder: Dr. Kinsley fragt die Frauen. Umfrageforschungen und ihre mediale Vermarktung in transnationaler Perspektive«, in: Comparativ, 21, 4, 2011, S. 29–44. 143 | Igo, The Averaged American, 2007, S. 12.

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das 1944 gegründete Bureau of Applied Social Research (BASR) an der Columbia University, das im Werdegang von Stycos eine besondere Rolle spielte.144 Dieses von Paul Lazarsfeld geleitete Institut war bereits 1939 als Office of Radio Research an die Universität angebunden worden. Studien zu Radiohörgewohnheiten blieben für mehrere Jahre das Markenzeichen des BASR. Stycos fand hier von 1949 bis 1951 seine erste Anstellung. Sein Vorgesetzter war erneut Kingsley Davis, der von 1948 bis 1961 Direktor des Instituts war. Diese Position hatten nach ihm noch weitere prominente Bevölkerungswissenschaftler inne.145 Stycos war am BASR an der groß angelegten »Middle East Study« des »International Radio Project« im Auftrag des staatlichen Auslandssenders Voice of America beteiligt, die unter der Leitung von Daniel Lerner stand. Lerners The Passing of a Traditional Society von 1958 gehört heute zum Kanon der Modernisierungstheorie und basiert auf eben jener Radiostudie im Mittleren Osten.146 Gemeinsam mit seiner ersten Ehefrau Mary Stycos führte Stycos den Griechenland-Teil der Studie durch und war auch an den Forschungen in der Türkei und in Jordanien beteiligt. Zudem arbeitete er auch an Aufträgen aus der Konsumforschung, durch die sich das Institut in jenen Jahren in erster Linie finanzierte.147 In seiner Zeit am BASR entstand auch seine erste Publikation für die Zeitschrift Public Opinion Quarterly.148 So wurde in dieser Zeitschrift 144 | Vgl. Converse, Survey Research in the United States, 1987, S. 267–304. 145 | Vgl. ebd., S. 277. 146 | Siehe hierzu: Shah, Hemant: The Production of Modernization. Daniel Lerner, Mass Media, and the Passing of Traditional Society, Philadelphia PA: Temple Univ. Press 2011, S. 79–100. 147 | Eine Übersicht der Berichte und Aufsätze, die von J. Mayone Stycos verfasst wurden, enthält dieser Band: Barton, Judith S. (Hg.): Guide to the Bureau of Applied Social Research, New York; Toronto: Clearwater Publishing Company 1984. Im Bereich der Konsumforschung führte er Studien zu Männerbekleidung und Rasiermessern durch. Zur finanziellen Situation und den Konflikten zwischen Befürwortern und Gegnern von Auftragsarbeiten der Konsumforschung am BASR siehe: Converse, Survey Research in the United States, 1987, S. 170–180. 148 | Stycos’ erste Veröffentlichungen datieren bereits aus dem Jahr 1948. Vermutlich noch als Student der Princeton University hatte er 85 aus Griechenland eingewanderte Familien in einer Kleinstadt New Yorks interviewt und drei Analysen der Interviews in Common Ground, der Zeitschrift des liberalen Common Council for American Unity, veröffentlicht. Stycos, J. Mayone: »The Spartan Greeks of Bridgetown«, in: Common Ground, 8, 2, 1948, S. 61–70; Stycos, J. Mayone: »The Spartan Greeks of Bridgetown. Community Cohesion«, in: Common Ground, 8, 3, 1948, S. 24–33; Stycos, J. Mayone: »The Spartan Greeks of Bridgetown. The Second Generation«, in: Common Ground, 8, 4, 1948, S. 72–86. Die von der Carnegie Foundation finanzierte Zeitschrift zu Literatur, Bildung und Politik war von 1940–1949 ein vielgelesenes und wichtiges Sprachrohr li-

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in alleiniger Autorschaft ein Text zur Rolle von Meinungsführern und ‑führerinnen im griechischen Modernisierungsprozess veröffentlicht. Der Text war einer von vier Berichten, die J. Mayone Stycos gemeinsam mit Mary Stycos zur griechischen Radiostudie erstellt hatte. Die Public Opinion Quarterly wird seit 1937 von der American Association for Public Opinion Research herausgegeben.149 Hier veröffentlichte Stycos 1952 und 1955 auch zwei Aufsätze, in denen er sich mit der Ausbildung von Interviewerinnen und Interviewern in »anderen Kulturen« auseinandersetzte.150 Zusammenfassend lässt sich feststellen: Als Stycos 1952 zu seinem zweiten und deutlich längeren Aufenthalt nach Puerto Rico auf brach, bewegte er sich in erster Linie im Wissensfeld survey research und war Träger von Techniken der Interviewführung und Meinungsforschung. Fast alles, was er später als Bevölkerungsforscher produzierte, kann als fortwährende Anwendung dieses Wissens interpretiert werden. Auch zeigen die frühen Stationen seines Werdegangs den engen Zusammenhang zwischen dem US-amerikanischen Blick auf die ›Demokratisierung‹ des europäischen Nachkriegskontinents und den Bemühungen zur ›Modernisierung‹ der sogenannten Dritten Welt.151 beraler Intellektueller, die die Einheit der multikulturellen USA beschworen. Siehe Beyer, William C.: »Creating ›Common Ground‹ on the Home Front: Race, Class and Ethnicity in a 1940s Quarterly Magazine«, in: O’Brien, Kenneth Paul; Parsons, Lynn H. (Hg.): The Home-Front War. World War II and American Society, Westport CT: Greenwood Press 1995, S. 41–61. Auch Stycos’ erste Publikation zu Puerto Rico ist darin erschienen: Stycos, J. Mayone: »Puerto Rican Strength«, in: Common Ground, 9, 1, 1948, S. 61–68. 149 | Stycos, J. Mayone: »Patterns of Communication in a Rural Greek Village«, in: Public Opinion Quarterly, 16, 1, 1952, S. 59–70. Auf Grundlage der 300 Interviews, die unter der Leitung von J. Mayone und Mary Stycos in Griechenland durchgeführt wurden, entstanden vier Berichte: einer zu »greek attitudes« gegenüber den USA, der Sowjet­ union, Großbritannien und Frankreich, einer zu Radiohörgewohnheiten in Griechenland, einer zur Verwendung von Radio im Vergleich zu Zeitungen und Film und einer zu als »information monopolists« bezeichneten Figuren (Barbesitzer, Priester und Lehrer), der vermutlich dem publizierten Aufsatz entspricht. Siehe Barton, Guide to the Bureau, 1984, S. 21f. Nach der Zusammenarbeit am BASR fungierte Mary Stycos als Assistentin ihres Mannes in Puerto Rico und Jamaika. Über ihren weiteren Werdegang konnten keine Informationen gefunden werden. 150 | Stycos, J. Mayone: »Interviewer Training in another Culture«, in: Public Opinion Quarterly, 16, 2, 1952, S. 59–70; Stycos, J. Mayone: »Further Observations on the Recruitment and Training of Interviewers in Other Cultures«, in: Public Opinion Quarterly, 19, 1, 1955, S. 68–78. 151 | Siehe hierzu Ekbladh, David: The Great American Mission. Modernization and the Construction of an American World Order, Princeton NJ: Princeton Univ. Press 2010, S. 77–113.

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In der Ausgestaltung der US-amerikanischen Ideen von Entwicklung war das kolonisierte Puerto Rico von großer Bedeutung. So ist die Insel von der Historikerin Laura Briggs als »das Juwel in der Krone der US-amerikanischen Entwicklungspolitik der 1940er und 1950er Jahre« bezeichnet worden.152 Die Idee der Überbevölkerung war in den Erklärungen für die Unterentwicklung Puerto Ricos zentral, und der Begriff hatte dort schon in den 1930er Jahren die Bedeutung angenommen, mit der er nach dem Zweiten Weltkrieg global zirkulierte: ›Überbevölkerung‹ stand für die These, dass hohe Geburtenraten ein zu schnelles Bevölkerungswachstum verursachten und die Hauptursache für Armut und Unterentwicklung seien.153 In den 1940er und 1950er Jahren, als Stycos auf Puerto Rico forschte, war ›Überbevölkerung‹ auf der Insel also weder in wissenschaftlichen noch in medialen und politischen Debatten ein neues Thema. Auch waren puertoricanische Frauen schon lange vor den Versuchsreihen mit hormonellen Kontrazeptiva der 1950er Jahre von der Verhütungsmittelforschung als Probandinnen für Spermizide ›entdeckt‹ worden.154 Stycos gehörte zu einer großen Gruppe von Forscherinnen und Forschern, die in den 1940er und 1950er Jahren in das »training ground for Point Four« strömten und dort ihre Karrieren begannen.155 Sozialwissenschaftliches Wissen wurde in diesen Jahren staatstragend: In Fortführung des New-Deal-Programms von Rexford Guy Tugwell, der von 1941 bis 1946 der letzte von der US-amerikanischen Regierung eingesetzte Gouverneur Puerto Ricos gewesen war, setzte auch die »Operation Bootstrap«, das Modernisierungsprogramm der Regierung der Populares um den ersten gewählten Gouverneur José Luiz Alberto Muñoz Marín, auf eine enge Verzahnung sozialwissenschaftlicher Expertise und staatlicher Planung. Als Schaltstelle zwischen den US-amerikanischen Sozialwissenschaftlerinnen und ‑wissenschaftlern und der puertoricanischen Regierung fungierte die staatliche Universidad de Puerto Rico und besonders das 1945 gegründete Social Science Research Center (SSRC), das dank großzügiger Forschungs- und Publikationsförderungen so namhafte Forscherinnen und Forscher wie John Kenneth Galbraith anlockte.156 Studien zu Bevölkerungswachstum bildeten einen Schwerpunkt des Instituts, deren 152 | Briggs, Reproducing Empire, 2002, S. 111. 153 | Vgl. ebd., S. 83. 154 | Vgl. ebd., S. 112; Schoen, Choice & Coercion, 2005, S. 206. 155 | Hansen, Millard: »Training and Research in Puerto Rico«, in: The Annals of the American Academy of Political and Social Sciences, 285, 1953, S. 110–115, hier: S. 111. Der Begriff »Point Four« bezieht sich auf den vierten Punkt in der Antrittsrede Harry Trumans als Präsident der Vereinigten Staaten vom 20. Januar 1949. Vgl. Truman, Inaugural Address, January 20, 1949. Siehe hierzu auch Kap. 1.1. 156 | Siehe hierzu umfassend Lapp, Michael: »The Rise and Fall of Puerto Rico as a Social Laboratory, 1945–1965«, in: Social Science History, 19, 2, 1995, S. 169–199.

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sichtbarstes Ergebnis das »Family Life Project« war. Drei unter diesem Projekttitel subsumierte Forschungsprojekte und Publikationen untersuchten das ›reproduktive Verhalten‹ puertoricanischer Frauen und Familien sowie Möglichkeiten, dieses zu beeinflussen. An all diesen Studien war Stycos maßgeb­ lich beteiligt: An der ersten von Paul K. Hatt verfassten Studie wirkte er als Ausbilder der Interviewerinnen mit, die zweite verfasste er eigenständig und die dritte in gemeinsamer Autorschaft mit Reuben Hill und Kurt W. Back.157 Hier konnte er sein Wissen aus der Meinungsforschung zur Erforschung der Einstellungen zu Verhütung einsetzen und seine methodischen Fähigkeiten der Interviewführung und Interviewerausbildung verfeinern. Diese Erfahrungen bildeten die Grundlage für eine Reihe weiterer Publikationen und für eine Folgeanstellung in Jamaika. Der für Experten so charakteristische Nexus zwischen Wissenschaft und Politik bestand für Stycos und seine Kolleginnen und Kollegen am »Family Life Project« in der beratenden Anbindung des SSRC an die puertoricanische Regierung. Der Anspruch, anwendbares Wissen zu produzieren, wurde in allen Studien formuliert. Und Stycos selbst erklärte bei einem Kongress des Sozialarbeiterverbandes von Puerto Rico im Jahre 1952: »Eine der Aufgaben des sozial orientierten Sozialwissenschaftlers besteht darin, die Regierung mit Daten zu versorgen, die die Wünsche des Volkes aufdecken und, falls notwendig, sie darin zu beraten, wie sich diese Wünsche am besten erfüllen lassen. Ich war bisher sowohl in der Regierung als auch in der Privatwirtschaft tätig, um die Wünsche des Volkes zu bestimmen. Es erfüllt mich mit Zufriedenheit, dasselbe heute in Puero Rico tun zu können.«158 157 | Feldman, Arnold S.; Hatt, Paul K.: »Social Structure as Affecting Fertility in Puerto Rico«, in: The Annals of the American Academy of Political and Social Sciences, 285, 1953, S. 123–129; Stycos, J. Mayone: Family and Fertility in Puerto Rico. A Study of the Lower Income Group, New York: Columbia Univ. Press 1955; Hill, Reuben; Stycos, J. Mayone; Back, Kurt W.: The Family and Population Control. A Puerto Rican Experiment in Social Change, Chapel Hill NC: Univ. of North Carolina Press 1959. Die Hatt-Studie geht, so der Autor, auf eine Initiative von Kingsley Davis zurück, der bereits 1941 Feldforschung in Puerto Rico betrieben hatte. Diese Studie entstand demnach auch in einer Kooperation zwischen dem Office of Population Research (OPR) in Princeton und dem SSRC in Puerto Rico. An den Folgestudien von Stycos und Hill et al. war das OPR nicht mehr beteiligt. Zum »Family Life Project« siehe auch Necochea López, Raúl: »The Puerto Rico Family Life Study and the Politics of Fertility Surveys«, in: Birn, Anne-Emanuelle; Necochea López, Raúl (Hg.): Health and Medicine in Cold War Latin America, Rochester NY: Univ. of Rochester Press (im Erscheinen). 158 | Stycos sprach auf Spanisch von dem »científico social con mente pública«, führte aber in Klammern den Begriff auch auf Englisch an: »public-minded social scientist«.

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In seiner 1955 publizierten Studie Family and Fertility in Puerto Rico, mit der er ein Jahr zuvor am Department of Sociology der Columbia University promoviert hatte, deckte Stycos jedoch nicht nur ›die Wünsche des Volkes‹ auf. So stand im Mittelpunkt der Studie ein a priori als problematisch definiertes Verhalten des puertoricanischen ›Volkes‹, wobei dieses als paradigmatisch für die ganze sogenannte Dritte Welt betrachtet wurde. Stycos lieferte somit bereits in seiner ersten Monografie vermeintlich repräsentatives und vergleichbares Wissen. Die Analyse des problematischen Verhaltens formulierte er mit dem Ziel, es zu verändern. Seine Studie war somit gleichzeitig Beobachtung und Reformvorschlag. Er appellierte nicht nur an die Regierung, auf die Wünsche der Bevölkerung einzugehen, sondern wandte sich auch an die Bevölkerung selbst, die auf die Wünsche der Sozialwissenschaftler und ‑wissenschaftlerinnen eingehen sollte. Diese, so Stycos einleitend, trügen auf ihren Schultern stellvertretend für ›den Westen‹ die Last der Verantwortung für die großen Probleme, die aus der Einführung moderner Technologien und der daraus folgenden Senkung der Sterberate entstanden seien.159 Stycos folgte mit dieser Argumentation der Logik der Theorie des demografischen Übergangs, die sein Mentor Kingsley Davis neun Jahre zuvor formuliert hatte. Um die genannte Verantwortung zu erfüllen, galt es nun also seitens der Experten und Expertinnen den Rückgang der Geburtenrate in Puerto Rico zu erzielen. Aus diesem Argument leitete Stycos seine Fragestellung ab: Die Fragenkette zielte in den Bereichen Erziehung, Sexualität und Verhütung auf die Handlungsmotivation der 72 Ehepaare ab, die er 1951 und 1952 für seine Studie interviewen ließ. Um die Argumentation, die sich in der Fragenkette verbirgt, zu verdeutlichen, soll diese hier vollständig zitiert werden. Stycos fragte: »Welche Faktoren liegen dem aktuellen und potenziellen Bevölkerungswachstum in unterentwickelten Gebieten zugrunde? Welche Faktoren erhalten eine hohe Geburtenrate aufrecht, obwohl dadurch die Existenz einer Gesellschaft bedroht ist? Welche Bräuche, Konventionen und Verhaltensweisen eines Volkes tragen zu hoher Fertilität bei und wie empfänglich für Veränderung sind sie? Welche Gedankens- und Verhaltenskomplexe verhindern, dass die Fertilität einer Gesellschaft ihr biologisches Maximum erreicht, und wie können diese verstärkt werden?«160

Stycos ging also von einem irrationalen Verhalten aus, das sich kulturell erklären und verändern lasse. Dem lag auch die Erkenntnis zugrunde, dass sich Stycos, J. Mayone: »La psicología social del control poblacional«, in: Colegio de Trabajadores Sociales de Puerto Rico (Hg.): Memorias de la Séptima Convención de Trabajo Social, San Juan 1952, S. 272–281, hier: S. 272f. 159 | Stycos, Family and Fertility in Puerto Rico, 1955, S. 3f. 160 | Ebd., S. 4.

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›reproduktives Verhalten‹ nicht allein durch die Verfügbarkeit von Verhütungsmitteln ändere, eine Erkenntnis, die die Familienplanerinnen und ‑planer auf Puerto Rico schon in den 1940er Jahren gewonnen hatten. In den Bevölkerungswissenschaften setzte sich dieser Gedanke allerdings erst in den 1970er Jahren durch.161 Stycos warnte ausdrücklich vor der falschen Hoffnung, die Entwicklung eines oralenVerhütungsmittels könne das Weltbevölkerungsproblem lösen.162 Vor diesem Hintergrund erscheint das Ergebnis seiner Studie als Paradoxon. Denn Stycos kam zu dem Schluss, dass puertoricanische Männer und Frauen durchschnittlich eine Familie mit drei Kindern anstrebten und auch über weitreichende Informationen und Zugänge zu Verhütungsmitteln verfügten. Die Diskrepanz zwischen der gewünschten und der tatsächlichen Familiengröße sei insbesondere in Geschlechterrollen begründet. Stycos verwendete und erklärte die Begriffe Machismus, männliche Dominanz sowie weibliche Bescheidenheit und machte weiterhin die fehlende Kommunikation zwischen den Ehepartnern als Problem aus.163 Trotz dieser Analyse widmete er Reformen, die auf die Veränderung von Geschlechterrollen abzielen – konkret nannte er Bildung, Industrialisierung und auf Frauen ausgerichtete Arbeitsmarktreformen – lediglich den allgemeinen Verweis, dass diese selbstverständlich wichtig seien. Sein Abschnitt zu ›Empfehlungen‹ konzentrierte sich dann ganz auf Modifikationen der bestehenden puertoricanischen Programme zur Kontrolle des Bevölkerungswachstums.164 Hier wird deutlich, weshalb den Studien des »Family Life Project« zugesprochen wird, das ›ideologische Milieu‹ bereitet zu haben, in dem Puerto Rico zum ›medizinischen Labor‹ der Verhütungsmittelindustrie und die Sterilisation von Frauen zu einer weitverbreiteten Verhütungsmethode wurde.165 So lautete Stycos’ erste Empfehlung, die Sterilisationsprogramme auszubauen, denn diese seien die Antwort auf Puerto Ricos Bevölkerungsproblem, zumal man nicht auf den sozialen Wandel warten könne. Weiterhin schlug er einen Ausbau der Mutter-Kind-Kliniken vor, wobei deren größtes Manko in ihrer Passivität liege, wie Stycos das geringe öffentliche Werben für die Familienplanungsprogramme nannte. Er forderte daher eine groß angelegte öffentliche Kampagne, die die von ihm identifizier-

161 | Vgl. Hodgson, Demography as Social Science, 1983. Auf der Feier anlässlich Stycos’ Emeritierung 2001 hielt Joseph Winchester Brown, der 1994 bei Stycos promoviert hatte, eine Rede über Stycos’ Dissertation, in der er diese u. a. wegen dieser Erkenntnis lobte. Vgl. Winchester Brown, Stycos in Puerto Rico, 02.06.2001, Cornell R&M. 162 | Stycos, Family and Fertility in Puerto Rico, 1955, S. 255. 163 | Ebd., S. 242–248. 164 | Ebd., S. 250f. 165 | Lapp, The Rise and Fall, 1995, S. 182.

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ten und bereits verbreiteten Argumente für die kleine Idealfamilie aufgreifen und stärken sollte.166 Retrospektiv kann Stycos’ Dissertation zu Puerto Rico als Beginn seiner Karriere als Bevölkerungsexperte bezeichnet werden. Vom Fachpublikum wurde sie jedoch sehr unterschiedlich bewertet. Zahlreiche Rezensenten kritisierten seine Methodik und stellten die Gültigkeit seiner Ergebnisse infrage, wobei diese Kritik am harschesten in der führenden soziologischen Fachzeitschrift American Sociological Review formuliert wurde.167 Uneingeschränkten Zuspruch bekam Stycos bezeichnenderweise von Ronald Freedman, der selbst am Beginn einer erfolgreichen Karriere als Bevölkerungsspezialist mit so­zio­ lo­gi­scher Ausbildung stand.168 Innerhalb des sich formierenden Feldes der Bevölkerungswissenschaften fand Stycos also großen Anklang. Auf die Feldforschung und Anstellung in Puerto Rico folgte von 1953 bis 1954 eine parallel angelegte Untersuchung auf Jamaika gemeinsam mit Judith Blake und Kingsley Davis und im Folgejahr ein vom Population Council finanzierter Studienaufenthalt bei dem Familiensoziologen Reuben Hill an der University of North Carolina.169 Direkt im Anschluss bekam Stycos eine Anstellung als Associate Professor der Soziologie an der privaten St. Lawrence University im Bundesstaat New York. Die Themen seiner dortigen Lehrveranstaltungen machen den Übergang vom Meinungsforscher zum Bevölkerungsspezialisten in diesen Jahren deutlich: Seminare zu »öffentlicher Meinung« wurden ergänzt durch solche zu »Bevölkerung« und »Urbanität«.170 Nach nur zwei Jahren wechselte 166 | Stycos, Family and Fertility in Puerto Rico, 1955, S. 250–254. Für die Sterilisationsprogramme auf Puerto Rico sprach Stycos sich auch in der Zeitschrift der American Eugenic Society aus. Vgl. Stycos, J. Mayone: »Female Sterilization in Puerto Rico«, in: Eugenics Quarterly, 1, 2, 1954, S. 3–9. 167 | Tumin, Melvin M.: »Family and Fertility in Puerto Rico. By J. Mayone Stycos«, in: American Sociological Review, 21, 3, 1956, S. 400–401; Potter, Robert G.: »Family and Fertility in Puerto Rico. By J. Mayone Stycos«, in: The Annals of the American Academy of Political and Social Sciences, 305, 1956, S. 201; Carpenter, David B.: »Family and Fertility in Puerto Rico. By J. Mayone Stycos«, in: The Midwest Sociologist, 19, 1, 1956, S. 51–52. 168 | Freedman, Ronald: »Family and Fertility in Puerto Rico. By J. Mayone Stycos«, in: American Anthropologist, 58, 5, 1956, S. 927–928. 169 | Die Ergebnisse der Jamaika-Studie wurden von Judith Blake veröffentlicht. Siehe Blake, Judith: Family Structure in Jamaica. The Social Context of Reproduction, New York: The Free Press of Glencoe 1961. Sie promovierte damit 1961 an der Columbia University. Zur Rezeption der Studie in Jamaika siehe Bourbonnais, Nicole: »Class, Colour and Contraception. The Politics of Birth Control in Jamaica, 1938–1967«, in: Social and Economic Studies, 61, 3, 2012, S. 7–37, hier: S. 29f. 170 | J. Mayone Stycos CV, [1957]: Cornell R&M, JMS, Box 10, Folder 46.

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Stycos dann 1957 an die Cornell University, an der er bis zu seiner Emeritierung im Jahre 2001 lehrte und forschte. Aus einem Brief von Stycos an Robin M. Williams, den Vorsitzenden des Department of Sociology and Anthropology, geht hervor, dass er bereits vor 1957 Angebote der Cornell University erhalten hatte. Selbstbewusst machte Stycos in seinem Brief vom 18. Februar 1957 ein Angebot: Die Conservation Foundation habe ihm eine Vollzeitstelle offeriert, er bevorzuge jedoch die Anbindung an eine Universität und schlage daher eine Stelle vor, die zur Hälfte von Cornell und zur Hälfte von der Stiftung finanziert werde. Innerhalb des Department hatte sich Rose Goldsen für Stycos’ Anstellung eingesetzt, die ihn vermutlich aus ihrer gemeinsamen Zeit am BASR kannte.171 Schon im Mai war die Vereinbarung zwischen der Universität und der Conservation Foundation getroffen worden, und im September 1957 wurde Stycos als Acting Associate Professor eingestellt.172 Die Conservation Foundation war 1948 von Fairfield Osborn gegründet worden und ist der neo-malthusianistischen Umweltbewegung zuzuordnen.173 Sie hatte schon Stycos’ Forschungen auf Jamaika 1956 gefördert, die eine Erweiterung der bereits genannten Studie zu Familienstrukturen auf Jamaika von 1953 darstellten. Judith Blake betonte in einem Interview 1989, dass es für sie und Stycos eine außergewöhnliche Chance gewesen sei, bereits mit Mitte 20 ein Forschungsprojekt zu leiten.174 Die Untersuchung von ›Bevölkerungsproblemen‹ bot jungen Soziologinnen und Soziologen wie Blake und Stycos einmalige Karrieremöglichkeiten. Die Folgestudie von 1956 führte Stycos gemeinsam mit Kurt W. Back durch, mit dem er auch schon auf Puerto Rico zusammengearbeitet hatte. Neben der Conservation Foundation war u. a. auch der Population Council an der Finanzierung beteiligt.175 Während Stycos 171 | Vgl. J. Mayone Stycos an Robin M. Williams, Canton NY, 18.02.1957: Cornell R&M, JMS, Box 10, Folder 46; Rose K. Goldsen an J. Mayone Stycos, Ithaca NY, 18.02.1057: Cornell R&M, JMS, Box 10, Folder 46. 172 | Vgl. Robin M. Williams, Jr. an F. E. Mineka, Ithaca NY, 03.05.1957: Cornell R&M, JMS, Box 10, Folder 46. Stycos war an der Cornell University zunächst als stellvertretender Associate Professor angestellt, ab 1960 dann als Associate Professor, 1963 wurde er Full Professor der Soziologie. 173 | Vgl. Robertson, The Malthusian Moment, 2012, S. 72. 174 | Vgl. van der Tak, Jean: »Demographic Destinies. Interviews with Presidents and Secretary-Treasurers of the Population Association of America. PAA Oral History Project. Volume 1 – Presidents. Number 3 – From 1977 through 1993«, 2005, auf: http:// www.populationassociation.org/wp-content/uploads/PAA_Presidents_1977-93.pdf (21.06.2017), S. 96. 175 | Stycos, J. Mayone; Back, Kurt W.: The Control of Human Fertility in Jamaica, ­I thaca NY: Cornell Univ. Press 1964. Erste Ergebnisse hatten sie bereits 1959 veröffentlicht. Siehe Back, Kurt W.; Stycos, J. Mayone: The Survey under Unusual Conditions.

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an der Universidad de Puerto Rico angestellt gewesen war und insgesamt drei Jahre auf der Insel verbrachte, beschränkte sich seine Präsenz in Jamaika auf mehrere kurze Forschungsreisen.176 Seine Funktion war die eines Koordinators und Ausbilders. Hier zeigt sich zu einem frühen Zeitpunkt der Übergang vom Forscher zum Wissensvermittler, der von Ariane Leendertz als charakteristisch für den Experten beschrieben wird.177 Schon in den Jahren seiner Forschungen zu Puerto Rico und Jamaika begann Stycos ganz Lateinamerika in den Blick zu nehmen. Hierbei war die Zusammenarbeit mit dem Population Council von entscheidender Bedeutung. In Verbindung mit der Organisation stand er wohl durch deren enge Verzahnung mit dem Office of Population Research der Princeton University. Der erste Förderungsschwerpunkt des Population Council lag nach dessen Gründung 1952 auf Stipendien zur bevölkerungswissenschaftlichen Ausbildung.178 Stycos war einer der ersten jungen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die von dieser Förderung profitierten. Nach seiner Anstellung an der Cornell University bekam seine Verbindung zur Stiftung eine neue Qualität. So trat an die Stelle der Conservation Foundation von 1958 bis 1960 der Population Council, der die Hälfte von Stycos’ Gehalt übernahm.179 In der Vereinbarung zwischen der Stiftung und der Universität hieß es, diese vertragliche Konstruktion solle es ermöglichen, dass Stycos Forschungsprojekte im Interesse des Population Council durchführe. Seine Ansprechpartner innerhalb des Population Council waren Dudley Kirk und Parker Mauldin, die in diesen Jahren dessen Abteilung für Demografie leiteten. Die Aufzeichnungen zu Gesprächen zwischen ihnen und Stycos zeigen deutlich die engen Absprachen, die Stycos bezüglich all seiner Aktivitäten mit dem Population Council traf. Diese betrafen nicht nur mögliche neue Forschungsprojekte auf Haiti und in Italien und die Finanzierung seiner Publikationen zu Jamaika. Dudley Kirk korrigierte auch seine Schriften und diskutierte die Methodik der Jamaika-Studien mit Stycos. Darüber hinaus wurde er auch ermutigt, Kontakte nach Lateinamerika zu knüpfen, The Jamaica Human Fertility Investigation, Lexington KY: The Society for Applied An­ thro­p ology 1959. 176 | Die Angaben zur Dauer von Stycos’ Puerto-Rico-Aufenthalt sind widersprüchlich. In seinem Lebenslauf heißt es, er sei von 1952–1955 als Kodirektor des »Family Life Projects« am SSRC angestellt gewesen. In dieselben Jahre fallen jedoch auch Feldforschungen auf Jamaika und das Stipendium für die Postgraduiertenausbildung an der University of North Carolina. Vgl. Curriculum Vitae, J. Mayone Stycos, 13.06.2001, Cornell R&M, S. 1. 177 | Leendertz, Experten, 2012, S. 341. 178 | Vgl. Connelly, Fatal Misconception, 2008, S. 170f. 179 | Vgl. Dudley Kirk an John W. Hastie, New York, 10.04.1958: Cornell R&M, JMS, Box 10, Folder 46.

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um bei dortigen Universitäten für die Einrichtung von demografischen Instituten und Studiengängen zu werben.180 Dokumentiert sind diese Kontakte nach Lateinamerika erstmals im Rahmen einer Studienreise des Council of Higher Education in the American Republics (CHEAR), die die Carnegie Foundation im August 1958 finanzierte.181 Der Luxus, der junge US-amerikanische Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen erwartete, die sich in jenen Jahren der Bevölkerungsforschung zuwandten, wird mit Blick auf diese Reise deutlich. Sie führte Stycos, zwei weitere »junge Männer mit Spanischkenntnissen« und zahlreiche lateinamerikanische Funktionäre und Funktionärinnen nach einem Urlaubswochenende auf Puerto Rico durch mehrere Länder Südamerikas.182 Stycos stellte dabei u. a. in Rio de Janeiro, Buenos Aires, Lima und Bogotá wertvolle Kontakte her. An diese konnte er bei längeren Reisen, die er 1963 und 1964 im Auftrag des Population Council machte, anknüpfen.183 In einem Gespräch gegen Ende der zweijährigen Zusammenarbeit im Dezember 1959 bekräftigte Mauldin wortwörtlich gegenüber Stycos, dass der Population Council daran interessiert sei, ihn im »Feld Bevölkerung in Lateinamerika« zu halten.184 Diese Formulierung ist bemerkenswert: Sieben Jahre nach seinen ersten Feldforschungen auf Puerto Rico war aus dem Soziologen und Meinungsforscher mit Karibikschwerpunkt ein Bevölkerungswissenschaftler und anerkannter Lateinamerika-Kenner geworden. Er war universitär verankert und mit den Stiftungen vernetzt, die in jenen Jahren begannen, Bevölkerungsforschung zu fördern und zu entwickeln. Der für den Experten so charakteristische Nexus zwischen Politik und Wissenschaft bestand also bereits zu Beginn von Stycos’ Lauf bahn.

180 | Vgl. Dudley Kirk an OF und VHW, New York, 10.04.1958: RAC, PC, Acc. 1, 4.2 Population Council General File, Box 11 – Folder 149 – Cornell University – Stycos, Joseph – 1957–1961; Dudley Kirk an J. Mayone Stycos, 15.07.1958: RAC, PC, Acc. 1, 4.2 Population Council General File, Box 11 – Folder 150 – Cornell University – Stycos, Joseph – 1957–1961; Dudley Kirk an J.  Mayone Stycos, 13.08.1959: RAC, PC, Acc. 1, 4.2 Population Council General File, Box 11 – Folder 149 – Cornell University – Stycos, Joseph – 1957–1961; W. Parker Mauldin an Frank Notestein, Dudley Kirk und MCB, New York, 04.12.1959: RAC, PC, Acc. 1, 4.2 Population Council General, Box 11 – Folder 150 – Cornell University – Stycos, Joseph – 1957–1961. 181 | CHEAR war eine Unterorganisation des Institute of International Education, einer privaten US-amerikanischen Organisation zur Förderung internationalen wissenschaftlichen Austausches. CHEAR förderte die Vernetzung zwischen lateinamerikanischen und US-amerikanischen Universitäten. 182 | Dudley Kirk an OF und VHW, 10.04.1958, RAC. 183 | Vgl. zu seinen Kontakten in Kolumbien Kapitel 3.1. 184 | Vgl. W. Parker Mauldin an Notestein, Kirk, MCB, 04.12.1959, RAC.

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Der Übergang in das Feld der öffentlichen Wissensvermittlung gelang dann in den 1960er Jahren, als Stycos zu einer Expertenfigur wurde und das Wissensfeld der Bevölkerungsforschung rasant expandierte. Insbesondere der Kreis derjenigen, die sich auf Lateinamerika spezialisierten, war in den 1950er Jahren noch sehr klein. Stycos’ erste Reise auf den südamerikanischen Subkontinent, die in den Quellen überliefert ist, hatte er bereits 1955 unternommen. In diesem Jahr nahm er an der regionalen Bevölkerungskonferenz in Rio de Janeiro teil, zu der die Vereinten Nationen geladen hatten. Stycos war der einzige US-amerikanische Teilnehmer und fungierte als einer von zwölf Diskussionsleitern und ‑leiterinnen, die der von den Vereinten Nationen eingesetzten Konferenzleitung assistierten.185 Zudem war ein von ihm verfasstes Diskussionspapier zur Methodik von Meinungsumfragen ein Teil der Vorbereitungslektüre für alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer. Schon in Rio de Janeiro wurde über die Etablierung demografischer Forschung in einzelnen lateinamerikanischen Ländern beraten, und es wurden auch Grundsteine für die Gründung des den Vereinten Nationen angegliederte Centro Latinoamericano y Caribeño de Demografía (CELADE) im Jahre 1957 gelegt.186 Auch bei den Anfängen der globalen Bevölkerungspolitik der Vereinten Nationen war Stycos dabei. So hatte er 1954 an der ersten Weltbevölkerungskonferenz der Vereinten Nationen in Rom teilgenommen. Forschung in Südamerika führte Stycos erstmals 1960 in Lima, Peru, durch. Wie schon auf Puerto Rico und Jamaika ging es auch in Lima darum, Frauen zu Familienidealen und Verhütungsmethoden zu befragen.187 185 | Im Vorwort der Konferenzdokumentation heißt es, die discussion leader seien »zwölf besondere Experten«. Es wird ihre institutionelle Anbindung aufgelistet, wobei in dieser Liste keine Organisation auftaucht, von denen eine Verbindung zu Stycos aus anderen Quellen bekannt wäre. Vgl. United Nations, Latin America Seminar on Population, 1958, S. 2. Stycos moderierte Sitzungen zu Binnenmigration und zur Datenerhebung bezüglich Ehepaaren, Familien und Haushalten. 186 | Vgl. ebd. Das Hintergrundpapier von Stycos hatten die Vereinten Nationen schon 1956 veröffentlicht. Siehe Stycos, J. Mayone: »The Sample Survey. Its Uses and Problems«, in: Population Bulletin of the United Nations, 5, 1956, S. 34–41. 187 | Die Interviewprojekte in Puerto Rico und Jamaika umfassten Frauen und Männer. Bei den allermeisten KAP-Studien der 1960er Jahre wurden hingegen ausschließlich Frauen befragt. Vgl. zu Stycos’ Forschung in Peru Necochea López, A History of the Medical Control, 2009, S. 186f. Siehe auch Stycos’ Publikationen dazu: Stycos, J. Mayone: »Culture and Differential Fertility in Peru«, in: Population Studies, 16, 3, 1963, S. 257–270; Stycos, J. Mayone: »Social Class and Preferred Family Size in Peru«, in: American Journal of Sociology, 70, 6, 1965, S. 651–658; Stycos, J. Mayone: »Female Employment and Fertility in Lima, Peru«, in: The Milbank Memorial Fund Quarterly, 43, 1, 1965, S. 42–54.

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Als in den 1960er Jahren immer größere Summen in die Bevölkerungsforschung flossen, war Stycos perfekt positioniert. Die Cornell University profitierte davon, wie gezeigt wurde, in Form des Zuschusses der Ford Foundation, mit dem 1962 das International Population Program (IPP) eingerichtet wurde, das Stycos dreißig Jahre lang leitete. Das erste große Projekt des neuen Instituts war die sogenannte ›vergleichende Fertilitätsstudie‹ von 1964. Finanziert durch den Population Council wurden dafür unter der Schirmherrschaft von CELADE Umfragen in sieben lateinamerikanischen Großstädten durchgeführt, die Stycos’ Projekten in Puerto Rico, Jamaika und Lima ähnelten und inzwischen als KAP-Studien firmierten.188 Hinsichtlich des Expertenstatus von Stycos ist diese Studie deshalb bemerkenswert, weil er in drei Rollen gleichzeitig daran beteiligt war: erstens als Leiter des IPP, zweitens als Angestellter des Population Council, für den er 1963 und 1964 wieder arbeitete, und drittens als Berater von CELADE. Die Verzahnung von Wissenschaft und Politik bestand hier also bereits innerhalb eines Forschungsprojektes. KAP-Studien wurden in den nächsten Jahren Markenzeichen sowohl des Population Council als auch von Stycos und dem IPP. Die Verbindung zur Meinungsforschung war nach wie vor sichtbar: In einer Veröffentlichung in der Zeitschrift Public Opinion Research schrieb Stycos 1964, KAP-Studien funktionierten »ähnlich wie jedes Marktforschungsprojekt«.189 An die Stelle eigener Forschungen traten bei Stycos im Laufe der 1960er Jahre vermehrt die Koordination von Arbeiten seiner Studierenden, und an die Stelle von Publikationen zu einzelnen Studien und Ländern traten verstärkt programmatische Schriften. Darin empfahl er zukünftige Forschungsschwerpunkte, beschrieb in großen Zügen das ›Bevölkerungsproblem‹ Lateinamerikas und wandte sich gezielt an ein breites Publikum.190 Zudem übernahm er 188 | CELADE; CFSC: Fertility and Family Planning in Metropolitan Latin America, Chicago IL: Univ. of Chicago Press 1972. 189 | Stycos, J. Mayone: »Survey Research and Population Control in Latin America«, in: Public Opinion Quarterly, 28, 3, 1964, S. 367–372, hier: S. 368. 190 | Den ersten programmatischen Aufsatz, in dem er zukünftige Forschungsschwerpunkte empfahl, veröffentlichte er bereits 1958. Vgl. Stycos, J. Mayone: »Some Directions for Research on Fertility Control«, in: The Milbank Memorial Fund Quarterly, 36, 3, 1958, S. 126–148. Es folgte u. a. Stycos, J. Mayone: »Needed Research on Latin American Fertility. Urbanization and Fertility«, in: The Milbank Memorial Fund Quarterly, 43, 4/2, 1965, S. 299–323. Das prägnanteste Beispiel für einen Sammelband, der in erster Linie aus Arbeiten seiner Studierenden bestand, ist dieser: Stycos, Ideology, Faith, and Family Planning, 1971. Aufsätze, die Bevölkerungsprobleme ganz Lateinamerikas behandeln und bevölkerungspolitische Forderungen enthalten, sind u. a.: Stycos, J. Mayone: »Population Problems in Latin America. A Hemispheric Perspective«, in: The Journal of Family Welfare, 11, 2, 1964, S. 14–20; Stycos, J. Mayone: »Población. Perspectivas

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zahlreiche Beratungs- und Leitungsfunktionen in Stiftungen und internationalen Organisationen und wurde auch von der US-amerikanischen Regierung als bevölkerungspolitischer Berater herangezogen.191 Das Handlungsfeld, zu dem Stycos vermehrt forschte und beriet, war die Familienplanung, d. h. die Einrichtung und Auswertung von staatlichen oder privaten Familienplanungsprogrammen und ‑kliniken.192 In Stycos’ Werdegang der 1960er und 1970er Jahre und besonders in seinen Schriften spiegelt sich die bereits beschriebene Entwicklung der Bevölkerungswissenschaften in den USA wider: Das Paradoxon seines Fazits aus der Puerto-Rico-Studie, in dem die Geburtenrate zugleich das Ergebnis sozioökonomischer Strukturen und der Interventionspunkt für die Lösung der Entwicklungsprobleme auf der Insel war, löste sich in den 1960er Jahren zugunsten eines interventionistischen Ansatzes auf. Wieder und wieder äußerte Stycos, dass die hohe Bevölkerungswachstumsrate das entscheidende Entwicklungshemmnis des Kontinents darstelle.193 Die öffentliche Anerkennung als Experte wurde Stycos insbesondere in Lateinamerika selbst zuteil. Durch seine Vernetzungsarbeit für den Population Council war er schon in den frühen 1960er Jahren im Kreis derjenigen wohlde control en América Latina«, in: Revista Chilena de Obstetricia y Ginecologia, 29, 5, 1964, S. 371–376; Stycos, J. Mayone: »Politics and Population Control in Latin America«, in: World Politics, 20, 1, 1967, S. 66–82. 191 | Zu den Institutionen, für die Stycos zwischen 1962 und 1982 als Berater tätig war, gehören u. a. USAID, PRB, IPPF-WHR, PAHO, UNESCO und UNFPA. Vgl. Curriculum Vitae, J. Mayone Stycos, 13.06.2001, Cornell R&M, 2–3. Neben der Beratungstätigkeit bei USAID (1962–1964) ist überliefert, dass Stycos im November 1975 vor einen Ausschuss des US-Senats geladen wurde, um eine »Expertenaussage« zum Budget des »Bilateral Family Planning Program« zu machen. Otto E. Passman an J. Mayone Stycos, Washington, D.C., 10.11.1975: Cornell R&M, JMS, Box 13, Folder 18. 1984 wurde er zudem vor das Committee of Foreign Affairs des US-amerikanischen Repräsentantenhauses geladen, um über die Bevölkerungsentwicklung Zentralamerikas zu berichten und der US-amerikanischen Außenpolitik für die Region Empfehlungen auszusprechen. Vgl. Implications of Population Trends for U.S. Foreign Policy in Central America. Briefing before the Committee of Foreign Affairs, U.S. House of Representatives, September 19, 1984, 98th Congress, 2d Session: Cornell R&M, JMS, Box 10, Folder 8. 192 | Vgl. Stycos, Clinics, Contraception, and Communication, 1973; Stycos, J. Mayone (Hg.): The Clinic and Information Flow. Educating the Family Planning Client in Four Latin American Countries, Lexington KY: D. C. Heath and Company 1975. 193 | Vgl. z. B. folgende Vortragsmanuskripte: Stycos, Population Growth and the Al­ liance, 1962; Stycos, J. Mayone: Population Policy and Latin America. University of Nebraska Lecture, Lincoln Nebraska, November 1965: Cornell R&M, JMS, Box 11, Folder 15; Stycos, J. Mayone: A Rationale for Family Planning Programs. IPPF Western Hemisphere Conference, Tegucigalpa, June 1966: Cornell R&M, JMS, Box 11, Folder 17.

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bekannt, die sich dort der Bevölkerungsforschung und Familienplanung zuwandten. Zudem zirkulierten Stycos’ Schriften schon früh in spanischer und teils auch portugiesischer Sprache.194 Die Monografie Fecundidad en América Latina, die eine Auswahl seiner bis dato veröffentlichten Aufsätze zusammenfasste, erschien 1968 sogar gleichzeitig auf Englisch und Spanisch und – so geht es aus der Danksagung von Stycos hervor – war gemeinsam mit dem Population Reference Bureau (PRB) in erster Linie für den spanischsprachigen Markt konzipiert worden.195 In den Vorworten zu den beiden spanischsprachigen Auflagen sowie in einzelnen Rezensionen in lateinamerikanischen Zeitschriften wird deutlich, dass Stycos als Bevölkerungsexperte für den Subkontinent anerkannt wurde. So schrieb der kolumbianische Mediziner und Bevölkerungsexperte Hernán Mendoza Hoyos im Vorwort zur ersten Auflage, niemand sei befähigter als Stycos, solch einen Band zu verfassen. Es handele sich bei ihm nicht um irgendeinen Intellektuellen, sondern um den Mann, der seit 18 Jahren seine immensen Fähigkeiten der Erforschung der sexuellen Kenntnisse und Praktiken des Kon194 | Organisationen wie das Population Reference Bureau, der Milbank Memorial Fund und der Population Council finanzierten die Übersetzung bevölkerungswissenschaftlicher Literatur aus den USA, der Population Council stiftete zudem Bibliotheken, dank derer die Werke zugänglich waren. Als erstes erschien 1958 eine Übersetzung von Stycos’ Dissertation zu Puerto Rico, es folgten die Übersetzungen zahlreicher Aufsätze, und 1968 kam dann Fecundidad en América Latina auf den Markt, das bei einem kolumbianischen Verlag erschien. Vgl. Stycos, J. Mayone: Familia y fecundidad en Puerto Rico. Estudio del grupo de ingresos más bajos, México D.F.: Fondo de Cultura Eco­ nó­m ­i ca 1958; Stycos, J. Mayone: »Clínicas de Planificación Familiar en el Super­p o­b la­ do Puerto Rico«, in: Tercer Mundo, Mai 1965; Stycos, J. Mayone: »Experimentos sobre cambios sociales. Los estudios de fecundidad en el Caribe«, in: Kahl, Joseph (Hg.): La Industrialización en America Latina, México D.F.; Buenos Aires: Fondo de Cultura Económica 1965, S. 54–66; Stycos, J. Mayone: »Proyectos de población y regulación familiar en los países de desarrollo reciente«, in: Freedman, Ronald (Hg.): La revolución demográfica mundial, México D.F.: Uteha 1966, S. 218–233; Stycos, J. Mayone: »Los anticonceptivos y el catolicismo en América Latina«, in: Revista Latinoamericana de Sociología, 3, 1, 1967, S. 41–57; Stycos, J. Mayone: Fecundidad en América Latina. Perspectivas Sociológicas, Bogotá: Antares, Tercer Mundo 1968. 195 | Vgl. Stycos, Fecundidad en América Latina, 1968, S. ix. Ein Jahr später erschien das Buch in Brasilien auch auf Portugiesisch, 1970 folgte eine zweite spanischsprachige Auflage, diesmal bei einem mexikanischen Verlag: Stycos, J. Mayone: A Fertilidade Humana e America Latina, Rio de Janeiro: Ed. Lidador 1969; Stycos, J. Mayone: Fecundidad en América Latina. Perspectivas Sociológicas, México D.F.: Ed. Pax 1970. Die zweite spanischsprachige Ausgabe hatte eine Auflage von 8000 Exemplaren. In der ersten Ausgabe sind leider keine Angaben zur Stückzahl enthalten.

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tinents widme.196 Das Vorwort der zweiten Ausgabe verfasste der Kolumbianer Álvaro García Peña, der zu dem Zeitpunkt Vizepräsident des PRB war. Noch deutlicher als Mendoza Hoyos zwei Jahre zuvor skizziert García Peña Stycos darin als Lateinamerika-Kenner und -Liebhaber. So sei Stycos nicht nur ein ausgezeichneter Wissenschaftler, er habe auch eine emotionale Verbindung zu Lateinamerika und stets die hispanoamerikanische Kultur gefördert.197 Doch Mendoza Hoyos und García Peña arbeiteten eng mit Stycos zusammen, und ihre Lobpreisungen in den genannten Vorworten decken nur eine Seite der Wahrnehmung des Experten Stycos ab. So war Stycos auch den Gegnern und Gegnerinnen von Familienplanungsprogrammen und Bevölkerungsforschung – zumindest in Kolumbien – ein Begriff. In der hitzigen Debatte, die dort 1967 im Senat und in der Presse um staatlich geförderte Familienplanung geführt wurde, wurden auch die US-ame­r i­kanischen Berater und Beraterinnen angegriffen. So hieß es z. B. in einem Zeitungsartikel, der eine Rede des konservativen Senators Bayona Carrascal zusammenfasst, ohne seinen Namen zu nennen, am 14. Februar 1967 über Stycos: »Und dann gab es eine Konferenz mit einem griechischen Scharlatan im Dienste des nordamerikanischen Imperialismus als Berater. Es war derselbe, der globale Experimente auf Puerto Rico und in anderen Ländern durchgeführt hatte, was desaströse Folgen für die Nationalität in diesen Pseudokolonien hatte.«198

196 | Mendoza Hoyos, Hernán: »Prólogo«, in: Stycos, Fecundidad en América Latina, 1968, S. 3f. Diese Einschätzung Stycos’ seitens Mendoza Hoyos notierte auch Lyle Saunders, Mitarbeiter der Ford Foundation, bei seinem Besuch in Bogotá 1966. Mendoza Hoyos sei gerade dabei, für das Vorwort alle Schriften von Stycos zu lesen, und er sei der Meinung, dass alles, was dieser über Lateinamerika schreibe, richtig sei. In demselben Gespräch hatte Mendoza Hoyos hingegen Kingsley Davis scharf kritisiert. Dieser täusche sich bei vielen seiner Interpretationen Lateinamerikas. Saunders, Lyle: Colombia Log Notes. September 18–20, 1966: RAC, FF, Catalogued Reports, Box 201, Report 004514, S. 13f. Die Anerkennung als Lateinamerika-Experte wurde also speziell Stycos zuteil. 197 | García Peña, Alvaro: »Introducción«, in: Stycos, Fecundidad en América Latina, 1970, S. 8. 198 | »Luego vino una conferencia dizque de científicos, asesorada por un griego charlatán al servicio del imperialismo norteamericano. Fue el mismo que hizo experimentos a escala global en Puerto Rico y en otras naciones, con consecuencias por cierto desastrosas para la nacionalidad de esas pseudo colonias.« »El Control de la Natalidad es un Signo de Decadencia. El Conservatismo quiere un Estado Dinámico y Vital que no le Tenga Miedo a los Nacimientos«, in: El Siglo, 14.02.1967.

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Diese Aussage verdeutlicht, dass denjenigen, die die Debatte führten und rezipierten, Stycos so weit bekannt war, dass die Hinweise auf seinen griechischen Namen und die Forschung auf Puerto Rico genügten, um deutlich zu machen, von wem die Rede war.199 Angegriffen wurde Stycos auch von den jungen US-amerikanischen Bevölkerungsforschern und -forscherinnen, die sich als Concerned Demographers zusammengeschlossen hatten. So warf der Concerned Demographer Michael Carder im Kontext der Weltbevölkerungskonferenz von Bukarest 1974 Stycos vor, zu dem Teil des »population establishment« zu gehören, der gegenüber kritischen Stimmen »red-baiting« betreibe.200 Die kritische Stimme, die Carder verteidigte, war eine Sonderausgabe der britischen Zeitschrift New Internationalist, und seine Kritik an Stycos bezog sich auf einen Aufsatz, in dem dieser die darin geäußerten anti-malthusianistischen Positionen für falsch erklärt hatte. So hatte Stycos davor gewarnt, dass vermehrt auch Intellektuelle aus der ›Dritten Welt‹, die sich nicht dem sozialistischen Spektrum zuordnen ließen, in der Debatte, die um Armutsbekämpfung versus Familienplanung kreiste, marxistische Positionen einnähmen.201 Stycos hielt also im Zuge der Debatten von Bukarest daran fest, Entwicklung durch Familienplanung voranzutreiben.202 Die bevölkerungspolitische Wende der 1970er Jahre, für die Bukarest sinnbildlich steht, bedeutete für Stycos einen Bruch hinsichtlich seiner Anerkennung als Experte. Das Bevölkerungswissen, für das er stand, die KAPForschung, geriet immer stärker in die Kritik und war in den späten 1970er und 1980er Jahren nicht mehr so gefragt wie noch in den 1960er Jahren. Stycos’ Schriften zeugen bis in die 1990er Jahre davon, dass er von den selbstkritischen Stimmen und Strömungen innerhalb der Bevölkerungswissenschaften verhältnismäßig unberührt blieb und weiterhin intensiv zu Fertilität und den damit verbundenen Einstellungen, Kenntnissen und Praktiken forschte.203 Das 199 | Auch in anderen Texten der konservativen Kritiker und Kritikerinnen der Familienplanung fiel Stycos’ Name. Siehe u. a. Vergara, Hernán: El complejo de Layo. Antecedentes e interrogantes de la política demográfica, Bogotá: Ed. Tercer Mundo 1968, S. 98; »Extractos de un Debate. El Control de la Natalidad. Intervenciones de Diego Tovar Concha«, in: El Siglo, 12.02.1967. 200 | Carder, A Family Quarrel?, 1974, S. 7f. Der Begriff »red-baiting« steht in diesem Kontext für die Diffamierung und Diskreditierung kritischer Stimmen unterschiedlicher Schattierungen als kommunistisch. 201 | Stycos, J. Mayone: »Demographic Chic at the UN«, in: Family Planning Perspectives, 6, 3, 1974, S. 160–164, hier: S. 161. 202 | Siehe hierzu Connelly, Fatal Misconception, 2008, S. 316. 203 | Vgl. hierzu nur punktuell Stycos, J. Mayone: »Medium Range Prospects for Fertility Reduction in Latin America«, in: Saunders, John V. (Hg.): Population Growth in Latin America and US National Security, Boston MA: Allen & Unwin 1986, S. 31–47; Stycos,

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Ende der ›goldenen Dekaden‹ der Bevölkerungswissenschaft bedeutete für ihn also keinen Einbruch in seiner akademischen Lauf bahn. Stycos Expertenkarriere, das hat die umfassende Analyse seines Werdegangs und Œuvres gezeigt, baute darauf auf, Bevölkerungswachstum in Lateinamerika zu problematisieren sowie forschend und politikberatend Lösungen zu entwickeln, mit denen dieses Wachstum gebremst werden konnte. Gleichzeitig trug er als öffentlich agierender Experte entscheidend dazu bei, die Wahrnehmung des Problems zu steigern. Im Zuge seiner eigenen Feldforschung auf Puerto Rico Anfang der 1950er Jahre, auf der seine Anerkennung im akademischen Bereich in den nächsten Jahrzehnten beruhte, hatte er das ›reproduktive Verhalten‹ individueller Frauen und Männer sowie deren Einstellungen zu Familie, Kindern, Sexualität und Verhütung durch Umfragen ermittelt. Obgleich er zu dem Ergebnis kam, dass diese Einstellungen von zahlreichen sozioökonomischen Faktoren abhingen, zielten alle seine Empfehlungen darauf ab, die Geburtenrate Puerto Ricos mit staatlicher ›Geburtenkontrolle‹ zu senken. Mit dieser Argumentation folgte er der Theorie des demografischen Übergangs, die seit den 1950er Jahren die Bevölkerungswissenschaft in den USA prägte und erheblich zu deren politischer Anschlussfähigkeit beitrug. Die Texte der US-amerikanischen Demografinnen und Demografen, die diese Theorie ab Mitte der 1940er Jahren entwickelten und veränderten, wurden hier erstmals umfassend auf ihre Einordnung und Bewertung der demografischen Entwicklung Lateinamerikas überpüft. So konnte gezeigt werden, dass der Region im globalen Vergleich durchweg das schnellste Bevölkerungswachstum diagnostiziert und davor gewarnt wurde, dass dies zu einem volkswirtschaftlich problematischen Ungleichgewicht zwischen jungen, abhängigen und erwachsenen, berufstätigen Menschen führen werde. Zu großer Besorgnis seitens der Bevölkerungswissenschaftler und -wissenschaftlerinnen führte diese Beobachtung jedoch erst nach der kubanischen Revolution von 1959. Lateinamerika kam durch dieses Ereignis aus Sicht der Regierung der Vereinigten Staaten eine neue sicherheitspolitische Relevanz zu, der u. a. mit dem Entwicklungshilfeprogramm Allianz für den Fortschritt begegnet werden sollte. Mit dieser weltpolitischen Verschiebung erlangte auch Stycos’ Expertise zu den ›Kenntnissen, Einstellungen und Praktiken‹ zu Verhütungsmitteln sowie deren Verwendung seitens lateinamerikanischer Frauen und Männer erhöhte Relevanz, wovon sein Status als Experte und die Ausstattung des von ihm geleiteten International Population Program an der Cornell University in hohem Maße profitierten, wie die Analyse des Instituts zeigen konnte. Doch, und auch J. Mayone: Schooling, Gender, and Population. Knowledge and Attitudes of Secondary School Youth in Costa Rica, Colombia, and Peru, Ithaca NY: Cornell University, Population and Development Program 1995.

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das zeigt sich sowohl in der individuellen als auch der institutionellen Anbindung des Wissens zu Bevölkerung, Fertilität und Familienplanung in Latein­ amerika in den 1960er Jahren, die sichtbare Verknüpfung zwischen staatlicher und philanthropischer Außenpolitik und Entwicklungshilfe einerseits sowie Forschung zu Fertilität und Familienplanung andererseits wurde im Laufe der Dekade aus unterschiedlichen Schlagrichtungen herausgefordert. Die Gültigkeit der Theorie des demografischen Übergangs wurde zunehmend angezweifelt und soziologische Fakultäten distanzierten sich von den angewandt forschenden population studies center. Zudem warfen kritische Studierende der Bevölkerungswissenschaft und prominenten Vertretern und Vertreterinnen des Fachs wie J. Mayone Stycos vor, reaktionär zu agieren und sich den ›imperialistischen‹ Interessen der Vereinigten Staaten unterzuordnen – eine Kritik, die sie mit konservativen Familienplanungsgegnern und -gegnerinnen in Kolumbien teilten.

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3. Bevölkerungswissenschaften in Kolumbien

Für Kolumbien gilt genauso wie für die USA, dass die Größe und der ›Zustand‹ der Bevölkerung seit der Staatswerdung wissenschaftlich untersucht und für eine ganze Reihe von Problemen verantwortlich gemacht wurde. Zu einer institutionellen Verankerung von Demografie und Bevölkerungsforschung kam es jedoch erst Anfang der 1960er Jahre, wobei die meisten dieser Programme Mitte der 1970er Jahre schon nicht mehr existierten. US-amerikanische Stiftungen und Organisationen spielten auch in Kolumbien eine wichtige Rolle beim Auf bau von Bevölkerungsforschung. Deren Bemühungen, Forschung und Ausbildung zu Bevölkerung zu verankern, manifestierten sich ab 1959 in Erkundungsreisen des für den Population Council tätigen J.  Mayone Stycos. In den nächsten Jahren entfalteten der Population Council, die Ford Foundation und die Rocke­feller Foundation ein reges Interesse daran, Kontakte mit inte­res­sierten Universitäten, Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen aus ganz unterschiedlichen Disziplinen zu knüpfen und Bevölkerungsforschung in Kolumbien zu fördern und zu institutionalisieren. Diese teils parallellen, teils miteinander verschränkten Aktivitäten kulminierten 1964 in der Gründung einer Abteilung für Bevölkerungsforschung innerhalb des Verbandes medizinischer Fakultäten Kolumbiens (ASCOFAME-DEP), dem Auf bau eines Demografieprogramms am Centro de Estudios de Desarrollo Económico an der privaten Universidad de los Andes in Bogotá und der Förderung zahlreicher Forschungsprojekte an weiteren Institutionen, die Interesse an Forschung zu den ›Bevölkerungsproblemen‹ Kolumbiens zeigten. Aus Sicht der Stiftungen war die Gründung von ASCOFAME-DEP der größte Erfolg, da diese zahlreiche Forschungsprojekte zur ›Fertilität‹ kolumbianischer Frauen und Männer durchführte und die Integration von Familienplanungsprogrammen in das staatliche Gesundheitssystem bewerkstelligte. Im Folgenden sollen jedoch neben dieser ›Erfolgsgeschichte‹ auch die ›gescheiterten‹ Versuche in den Blick genommen und das Agieren ganz heterogener kolumbianischer Akteure und Akteurinnen herausgestellt werden, die ›Bevölkerungsprobleme‹ anders definierten als die potenziellen US-amerikanischen Geldgeber.

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Bevölkerung, Fer tilität und Familienplanung in Kolumbien

3.1 D as P opulation E stablishment in K olumbien Die drei privaten US-amerikanischen Stiftungen und Organisationen Rockefeller Foundation, Population Council und Ford Foundation gelten als treibende finanzielle und lobbyistische Kraft hinter dem weltweiten Auf bau von Bevölkerungsforschung. Während dabei in den USA die Ford Foundation dominierte, war der Population Council für entsprechende Institute und Programme in Afrika, Asien und Lateinamerika ebenso bedeutend. Im kolumbianischen Fall spielte zudem die Rocke­feller Foundation eine wichtige Rolle. Die Präsenz der Rocke­feller Foundation in Kolumbien geht auf das Jahr 1920 zurück. Zunächst war es ihre International Health Division (IHD), die bis 1948 Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen in Kolumbien stationiert hatte und Gesundheitskampagnen und Forschung zur Hakenwurm-Krankheit und Gelbfieber durchführte.1 In den 1950er Jahren verschob sich dann der Fokus der Stiftung insgesamt und damit auch ihre Arbeit in Kolumbien hin zu den Bereichen Landwirtschaft und Ernährung. Zudem wurde ein Schwerpunkt auf den Auf- und Ausbau von einzelnen Universitäten in Entwicklungsländern gelegt.2 In Kolumbien profitierte davon ab 1954 vor allem die neun Jahre zuvor gegründete staatliche Universidad del Valle in Cali und innerhalb dieser ganz besonders die medizinische Fakultät. Institutionalisiert wurde diese Förderlinie 1961 im neuen University Development Program der Stiftung. Über die Hälfte der umfangreichen Förderung, die die Universität bis 1978 über das Programm und dessen Nachfolger Education for Development Program erhielt, floss an die

1 | Zu den Aktivitäten der IHD in Kolumbien siehe Abel, Christopher: »External Philanthropy and Domestic Change in Colombian Health Care. The Role of the Rocke­f eller Foundation, ca. 1920–1950«, in: Hispanic American Historical Review, 75, 3, 1995, S. 339–376; Mejía, Paola: »Of Mice, Vaccines and Men. The Yellow Fever Research Program of the Rocke­feller Foundation in Colombia, 1932–1948«, in: Page, Benjamin B.; Valone, David A. (Hg.): Philanthropic Foundations and the Globalization of Scientific Medicine and Public Health, Lanham MD: Univ. Press of America 2007, S. 73–95; PatiñoCamargo, Luis: La Fundación Rocke­f eller y la Salud Pública en Colombia, 12.07.1973: RAC, Rocke­f eller Foundation Records (fortan: RF), Rocke­f eller Foundation Field Offices, Series 6.9 – Cali, Colombia, 1960–1978, Series II: Univ. del Valle – Medical Programs, B7, F81: Faculty of Medicina – general, 1972–76; Quevedo V., Emilio et al.: »Knowledge and Power. The Asymmetry of Interests of Colombian and Rocke­feller Doctors in the Construction of the Concept of ›Jungle Yellow Fever‹, 1907–1938«, in: Canadian Bulletin of Medical History, 25, 1, 2008, S. 71–109. 2 | Vgl. hierzu die Kapitel 3 und 5 der Dissertation von Stephanie M. Kelly, die die Aktivitäten der Ford Foundation und Rocke­f eller Foundation in Lateinamerika untersucht: Kelly, Strategic Philanthropy, 2013.

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medizinische Fakultät und insbesondere an deren Public-Health-Programme.3 Zudem wurde 1960 die Präsenz vor Ort verstärkt. So eröffnete die Stiftung ein field office, das bis 1983 betrieben wurde und räumlich an die Abteilung für Präventivmedizin angeschlossen war. Von dieser Abteilung gingen einflussreiche Initiativen und Pilotprogramme im Bereich der Familienplanung und der Bevölkerungsforschung aus. 4 Nicht nur die finanzielle Unterstützung der Programme durch die Rockefeller Foundation war hierbei wichtig, zwei ihrer langjährigen Mitarbeiter waren auch vor Ort direkt an deren Ausarbeitung und Implementierung beteiligt. Beide waren Mediziner und beide entwickelten in Kolumbien ein großes Interesse an ›Bevölkerungsproblemen‹.5 Dieses Interesse, so scheint es, entstand jedoch unabhängig von der gleichzeitigen Schwerpunktsetzung in der Zentrale der Stiftung, über den die Mitarbeiter in Cali zudem schlecht informiert schienen.6 So entschuldigte sich der Kinderarzt und Ernährungsforscher Joe D. Wray im November 1964 bei John Maier, einem Mitarbeiter in New York, dafür, dass er dem Population Council in Person von J. Mayone Stycos vorgeschlagen habe, ein Forschungsprojekt zu Familienplanung in der Nähe von Cali zu finanzieren. Dem vorangegangen war offensichtlich – der Brief ist nicht überliefert – die vorwurfsvolle Frage Maiers, weshalb sich Wray damit nicht an die Rocke­feller Foundation selbst gewandt habe. Der zeigte sich überrascht: Er habe nicht gewusst, dass auch diese Interesse daran habe, solche Studien zu fördern.7 3 | Keine der anderen 17 Universitäten weltweit, die ab 1961 in das Programm aufgenommen wurden, hatten schon im Vorfeld solche hohen Summen wie die Universidad del Valle erhalten, und mit insgesamt knapp 15 Millionen US-Dollar hatte die Universidad del Valle bis 1975 auch innerhalb des Programms die höchste Förderung bekommen. Vgl. Coleman, James S.; Court, David: University Development in the Third World. The Rocke­f eller Foundation Experience, Oxford; New York: Pergamon Press 1993, S. 42–55. 4 | Die Abteilung wurde ab 1953 in Broschüren der Fakultät erwähnt, stellte jedoch erst ab 1955 eine administrative Einheit dar. Der Name variiert in diesen frühen Erwähnungen, doch ›Abteilung für Präventivmedizin und Öffentliche Gesundheit‹ setzte sich durch. 1968 erfolgte eine Umbenennung in ›Sozialmedizin‹, seit 1993 gilt die aktuelle Bezeichnung ›Schule für Öffentliche Gesundheit‹; vgl. Henao Cabal, Oscar: Crónica de la Escuela de Salud Pública de la Universidad del Valle, Cali: Escuela de Salud Pública, Facultad de Salud, Universidad del Valle 1996, S. 35–39. Ich verwende in dieser Studie stets die Kurzform ›Abteilung für Präventivmedizin‹. 5 | Siehe hierzu Kapitel 6. 6 | Siehe hierzu Kapitel 2.1. 7 | Joe D. Wray an John S. Maier, Cali, 23.11.1964: Columbia University, Health Sciences Archives & Special Collections (fortan: Columbia HS A&S), Joe D. Wray Papers (fortan: JDW), Box 10, Folder 7. Der Population Council folgte diesem Vorschlag.

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Ob Wray tatsächlich keine Kenntnis über den Kurswechsel der Stiftung hatte, bleibt unklar. Interessant ist an dieser Korrespondenz jedoch die hier sichtbare werdende Konkurrenz zwischen den Geldgebern, die auch in vielen anderen Briefwechseln und Berichten von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der drei Organisationen deutlich wird. Gleichzeitig war deren Verhältnis jedoch von einer engen Zusammenarbeit und finanziellen sowie personellen Verstrickung gekennzeichnet. Zur Förderung der Bevölkerungsforschung an der Universidad del Valle ist an dieser Stelle festzuhalten, dass der Population Council seinem ersten Zuschuss von 1964 keine weiteren direkten Finanzierungen folgen ließ, sondern diese ab 1965 nur noch indirekt über den an den Verband der medizinischen Fakultäten angebundenen Dachverband ASCOFAME-DEP unterstützte.8 Die Rocke­ feller Foundation hingegen förderte das interdisziplinäre Zentrum für Bevölkerungsforschung (Centro Universitario Interdisciplinario de Población – CUIP) der Universidad del Valle gleich auf zwei Weisen: durch die Gelder des University Development Program und von 1965 bis 1970 auch direkt mit insgesamt 350.000 US-Dollar.9 Darüber hinaus unterstützte die Stiftung im Schwerpunktbereich ›Bevölkerungsprobleme‹ in Kolumbien, abgesehen von einzelnen Reisestipendien oder kleinen Forschungsprojekten, nur noch von 1965 bis 1969 den lobbyistischen Dachverband Asociación Colombiana para el Estudio Científico de la Población, der jedoch keine eigene Forschung betrieb.10 Zusammenfassend bleibt festzuhalten, dass die Rocke­feller Foundation, die im globalen Vergleich bei der Bekämpfung des ›Bevölkerungsproblems‹ hinterherhinkte, in Kolumbien an dem Auf bau einflussreicher Forschungsinstitute, die genau darauf abzielten, eng beteiligt war. Die Suche des Population Council nach förderungswürdigen Institutionen begann in Kolumbien im August 1958, als J. Mayone Stycos im Rahmen einer Studienreise mehrere lateinamerikanische Hauptstädte besuchte. Bei diesem Im Oktober 1964 bewilligte er der Universidad del Valle einen Zuschuss von 10.000 US-Dollar für ein Familienplanungsprogramm, eine Studie zu Abtreibung und Büroräume für das neue interdisziplinäre Zentrum für Bevölkerungsforschung. Vgl. Diary of Dr. Guy S. Hayes 1964: RAC, RF, 12.3 Officer’s Diaries, Hayes, Guy Scoll, Box 212, S. 92. 8 | Vgl. Diary of Dr. Guy S. Hayes 1965, RAC, S. 32. 9 | Bei der Durchsicht der Jahresbereichte zeigt sich, dass 1970 das letzte Jahr war, in welchem dem CUIP ein Antrag bewilligt wurde und dass die letzten Auszahlungen 1972 getätigt wurden. 10 | Vgl. Grant in Aid to the Universidad de los Andes, Bogota, Colombia, toward the organizational and administrative costs of the Colombian Association for the Scientific Study of Population, New York, 30.06.1965: RAC, RF, 1.2 Projects, Series 331.A Colombia, B36, F286; Grant in Aid to the Asociación Colombiana para el Estudio Científico de la Población, New York, 30.11.1967: RAC, RF, 1.2 Projects, Series 331.A Colombia, B36, F286.

3. Bevölkerungswissenschaf ten in Kolumbien

Anlass beauftragte ihn der Population Council erstmals damit, in Lateinamerika Kontakte zu Universitäten und anderen Institutionen zu knüpfen, in denen schon Interesse an Bevölkerungsforschung bestand oder geweckt werden könnte. Von der Station Bogotá versprach sich der Mitarbeiter des Population Council Dudley Kirk, der Stycos mit den bereits bestehenden lateinamerikanischen Kontakten der Organisation versorgt hatte, nicht viel: »I have never been to Bogotá and I suspect that there isn’t much of interest in our field.« Der einzige Kontakt, den Kirk Stycos geben konnte, war der zu Romero Rojas, einem Mitarbeiter in der Abteilung für Methodik und statistische Ausbildung der zentralen staatlichen statistischen Behörde Departamento Administrativo Nacional de Estadística. Rojas, der unter sehr bürokratischen Bedingungen versuche, methodische Arbeit zu betreiben, werde ihn sicherlich freundlich empfangen, erklärte Kirk.11 Ein ausführlicher Bericht der einmonatigen Reise ist nicht überliefert und es ist daher unklar, ob Stycos sich tatsächlich mit Rojas traf und ob er darüber hinaus noch andere Kontakte in Bogotá fand.12 Fünf Jahre später, im Sommer 1963, begann Stycos intensiv damit, im Auftrag des Population Council Verbindungen nach Lateinamerika zu knüpfen und 1964 vergab der Population Council die ersten Stipendien an kolumbianische Institutionen. In den 1960er Jahren war Kolumbien das lateinamerikanische Schwerpunktland in der Förderung des Population Council, wie sich am Vergleich der Fördersummen zeigt.13 Kolumbien fungierte auch als regionales Zentrum für die Aktivitäten des Population Council in Südamerika, so waren es z. B. kolumbianische Organisationen, die die spanischsprachigen Publikationen des Population Council veröffentlichten.14 Nach vielen Jahren, in denen die Organisation lediglich Berater für kurze Zeit geschickt hatte, wurden ab 1968 auch feste Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in einzelne Schwerpunktländer entsandt, so auch nach Kolumbien. Dort waren diese teils gleichzeitig für die Ford Foundation angestellt, was die Verflechtung zwischen den Organisatio11 | Dudley Kirk an J. Mayone Stycos, 15.07.1958, RAC, S. 3. 12 | Der kurze Bericht, den Stycos zu der Reise verfasste, enthält lediglich allgemeine Überlegungen zu Unterschieden zwischen US-amerikanischen und lateinamerikanischen Universitäten hinsichtlich ihrer Struktur und akademischen Kultur. Vgl. Stycos, J. Mayone: Higher Education in Latin America. A Sociological Perspective, Nov. 1958: Cornell R&M, JMS, Box 11, Folder 8. Ein ausführlicher Bericht wurde weder in Stycos’ Nachlass noch im Archiv des Population Council oder im Archiv der Carnegie Foundation gefunden. 13 | Vgl. Population Council Activities in Latin America January 1967 to January 1969: RAC, PC, Acc. 2, Administration File, Box 37, Folder 263: Berelson PC 1964–1974, Latin America, 1964–1965. 14 | Vgl. Population Council, The Population Council, 1978, S. 8f.

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nen verdeutlicht, die sich in Kolumbien für den Auf bau von Bevölkerungsforschung und Familienplanungsprogrammen engagierten. Die Ford Foundation förderte im Bevölkerungsbereich in erster Linie Programme in Asien. Lateinamerika hatte bis 1968 nur fünf Prozent der Ausgaben in diesem Bereich erhalten und innerhalb der Region lag Kolumbien, anders als beim Population Council, hinter Mexiko und Brasilien auf Platz drei der Empfängerländer.15 Doch lässt sich die Bedeutung, die die Stiftung Kolumbien beimaß, nicht nur an den Zahlen ablesen, zumal in dieser Berechnung die Ausgaben der Regionalbüros fehlen. So wird in einem Aufsatz von 1968 deutlich, dass die Ford Foundation mit dem bisherigen Ergebnis ihrer Förderungen in Kolumbien sehr zufrieden war. Das als besonders konservativ geltende Land habe sich unter der Führung des Verbandes medizinischer Fakultäten zum lateinamerikanischen Vorreiter in Sachen Familienplanung entwickelt. Dessen Abteilung für Bevölkerungsforschung wiederum war in erster Linie durch Gelder der Ford Foundation aufgebaut worden.16 Diesen Erfolg sahen und neideten auch Beobachter anderer Stiftungen. So hatte J. Mayone Stycos schon 1965 in seinem Arbeitstagebuch für den Population Council notiert, dass er schweren Herzens zugeben müsse, dass der Einsatz der Ford Foundation in Kolumbien das erfolgreichste Projekt in Lateinamerika darstelle.17 Wie auch im Fall der Rocke­feller Foundation waren Mitarbeiter der Ford Foundation schon in Kolumbien tätig und ansässig, bevor sich die Stiftung dort im Bereich Bevölkerungsforschung und Familienplanung engagierte. So hatte die Ford Foundation im Jahre 1960 erstmals eine Delegation nach Kolumbien entsandt, um die kolumbianische Universitätslandschaft zu erkunden und Möglichkeiten zu eruieren, an deren Entwicklung aktiv zu partizipieren.18 An allen Universitäten, in denen in den folgenden Jahren versucht wurde, Bevölkerungsforschung zu etablieren, war die Ford Foundation auch an der Finanzierung der allgemeinen Universitätsstrukturen oder anderer Disziplinen und Forschungsbereiche beteiligt. So finanzierte sie beispielsweise in hohem Maße den Auf bau der Fakultät für Soziologie an der Universidad Nacional in Bogotá.19 Ein Regionalbüro wurde dann 1961 in Bogotá eingerich15 | Vgl. Harkavy; Saunders; Southam, An Overview, 1968, S. 543; 548. 16 | Vgl. ebd., S. 550f. 17 | JMS Diary Notes. October 9–13, 1965, Colombia: Cornell R&M, JMS, Box 10, Folder 39, S. 348f. 18 | Vgl. JMV Diary Notes, 19.10.1960: RAC, RF, Rocke­f eller Foundation Field Offices, Series 6.9 – Cali, Colombia, 1960–1978, Series IV: Cooperating Universities and Programs, B11, F124: Ford Foundation, 1965–68, 1972–73. 19 | Zur Förderung soziologischer Fakultäten und Institute in Lateinamerika durch die Ford Foundation und Rocke­feller Foundation in Lateinamerika im Allgemeinen und in Kolumbien im Besonderen siehe Kelly, Strategic Philanthropy, 2013, S. 170–178.

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tet. Die ›Entdeckung‹ eines kolumbianischen ›Bevölkerungsproblems‹ seitens der Mitarbeiter der Ford Foundation vor Ort lässt sich auf das Jahr 1963 datieren, d. h. auf dasselbe Jahr, in dem in der New Yorker Zentrale das Thema Bevölkerung prominent institutionalisiert wurde.20 Diese Gleichzeitigkeit der Entwicklung in der Zentrale und im Regionalbüro stellt eine weitere bemerkenswerte Parallele zu den Aktivitäten der Rocke­feller Foundation dar. Wenige Monate später, im Mai 1964, finanzierte die Ford Foundation als erste Initiative im Bevölkerungsbereich die von dem Verband medizinischer Fakultäten Kolumbiens ausgerichtete »Primera Reunión sobre Problemas Demográficos Colombianos«, auf der der Vorläufer der Abteilung für Bevölkerungsforschung des Medizinerverbandes gegründet wurde. Ein Jahr darauf wurde dann die Förderung der Abteilung bewilligt.21

3.2 D ie M édicos D emógrafos und die D ebat ten um sta atliche F amilienpl anung Die Abteilung für Bevölkerungsforschung (División de Estudios de Población) des Verbandes medizinischer Fakultäten Kolumbiens, der als ASCOFAME, Asociación Colombiana de Facultades de Medicina, firmierte, existierte von 1964 bis 1973. Sie war in diesen Jahren in Kolumbien die sichtbarste Akteurin, die Bevölkerungswachstum problematisierte, zu Fertilität und anderen demografischen Gebieten forschte und Familienplanungsprogramme forderte und implementierte. In den neun Jahren ihres Bestehens nahmen die Mitglieder der Abteilung eine Vielzahl von Aufgaben wahr: Sie führten zahlreiche Forschungsprojekte zu Bevölkerung, Fertilität und Familienplanung durch, etablierten diese Themen im Medizinstudium an allen medizinischen Fakultäten Kolumbiens, organisierten Fortbildungen zu Familienplanung für staatliches Gesundheitspersonal, initiierten den Auf bau eines nationalen staatlichen Familienplanungsprogramms und publizierten in großen Mengen eigene und fremde Studien sowie Informationsbroschüren. Die Finanzierung all dieser Aktivitäten wurde zunächst durch eine umfangreiche Auf bauförderung der Ford Foundation ermöglicht, bald erhielt die Abteilung auch Gelder des Population Council, der United States Agency for International Development, der Panamerikanischen Gesundheitsorganisation sowie weiterer internationaler 20 | Siehe hierzu Kap. 3.3. 21 | Neben dieser Abteilung förderte die Ford Foundation bis Mitte der 1970er Jahre im Bereich Bevölkerung in Kolumbien auch Profamilia, die Asociación Colombiana para el Estudio Científico de la Población und einige weitere kleine Organisationen sowie Einzelpersonen. Vgl. Ford Foundation: Population Policy and Programs in Colombia, [1975]: RAC, FF, Catalogued Reports, Box 393, Report 009502.

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Geldgeber. Als ab 1966 im kolumbianischen Senat und in der Presse kontroverse Debatten um Familienplanung geführt wurden, waren es stets prominente Vertreter und Vertreterinnen der Abteilung, die in der Medienöffentlichkeit als Experten und Expertinnen für Bevölkerungsforschung und Familienplanung auftraten und als solche wahrgenommen, angezweifelt bzw. angefeindet wurden.22 Seit Mitte der 1970er Jahre dominiert hingegen die 1965 gegründete private Organisation Profamilia das Feld der Familienplanung und Fertilitätsforschung.23 Aus der Bevölkerungsabteilung von ASCOFAME ging nach ihrer Auflösung 1973 das ebenfalls bis heute existierende, jedoch weithin unbekannte Forschungsinstitut Corporación Centro Regional de Población (CCRP) hervor.24 Im Folgenden wird den Erklärungen für den schnellen Auf- und Abstieg der Abteilung ebenso nachgegangen wie ihren Aktivitäten in Wissenschaft, Politik und Öffentlichkeit. Die Gründung der Abteilung für Bevölkerungsforschung erfolgte durch die Generalversammlung von ASCOFAME am 19. November 1964. Direkt im Anschluss wurde ein Antrag an die Ford Foundation eingereicht, der sowohl eine zweijährige Förderung für die Verwaltung der Abteilung und für Personal, Tagungen und Publikationen als auch Fördermittel für die Forschungsprojekte ihrer Mitgliedsorganisationen vorsah. Am 1. Februar 1965 bewilligte die Stiftung den Antrag in Höhe von 330.000 US-Dollar.25 ASCOFAME war zu diesem Zeitpunkt selbst noch eine junge Institution. Seine Gründung war 1953 von einer Ärzte-Delegation der Tulane University empfohlen und 1959 bei einem Treffen der Dekane der sieben zu diesem Zeitpunkt existierenden

22 | All diese Aktivitäten sind umfangreich dokumentiert. Wenngleich das Archiv von ASCOFAME selbst nicht erhalten ist, liegen Quellenbestände sowohl in den Archiven ihrer US-amerikanischen Geldgeber als auch in einigen kolumbianischen Universitätsarchiven vor. Hinzu kommen als Quellenbestand die zahlreichen Publikationen der Abteilung für Bevölkerungsforschung selbst. 23 | Siehe zur Geschichte von Profamilia die folgende, im Eigenverlag publizierte Chronik: Dáguer; Riccardi, Al derecho y al revés, 2005. Zum ›Abstieg‹ von ASCOFAME-DEP und gleichzeitigen ›Aufstieg‹ von Profamilia siehe Seltzer; Gómez, Family Planning and Population Programs, 1998. 24 | Vgl. Cardona Gutiérrez, Breve revisión, 1983, S. 175. 25 | Vgl. zur inhaltlichen Ausgestaltung und Begründung des Antrags Zschock, Dieter: Demography & Population Program Developments (PA 65-111), Nov. 1964: RAC, FF, Catalogued Reports, Box 15, Report 00262. Der Bewilligungsbescheid ist im Archiv der Ford Foundation nicht erhalten. Vgl. zum Datum der Bewilligung den Folgeantrag: Lyle Saunders an William Cotter. Subject: Population – Colombia, 01.02.1967: RAC, FF, Lyle Saunders Papers – International Division/ Population, Series 1: Population Files, Box 1, Folder 25 Overseas Program Interest: Colombia.

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medizinischen Fakultäten Kolumbiens umgesetzt worden.26 Der Verband, der sich das Ziel setzte, die medizinische Ausbildung und Forschung in Kolumbien zu verbessern und zu vereinheitlichen, existierte in den ersten Jahren lediglich in Form von informellen Treffen der Dekane, verschob jedoch bald Kompetenzen in die Zentrale in Bogotá. Von 1962 an wurde diese von einem in Teilzeit beschäftigten Geschäftsführer geleitet. Drei Jahre später bestand die Leitung schon aus einem in Vollzeit beschäftigten Direktor und zehn weiteren Angestellten. Innerhalb dieser zentralen Struktur gewannen spezialisierte Abteilungen große Handlungsspielräume.27 Schon Ende 1963 begannen die Vorbereitungen für die Gründung der Abteilung für Bevölkerungsforschung sowie die Finanzierung durch die Ford Foundation. In dieser Zeit traten verschiedene kolumbianische Akteure, die Interesse an Familienplanung und Sorge vor ›dem Bevölkerungsproblem‹ äußerten, mit den in Kolumbien stationierten Mitarbeitern der Ford Foundation in Kontakt. Das gilt besonders für Mitglieder der medizinischen Fakultät in Cali und den Priester und Soziologen Gustavo Pérez. Die Stiftung zeigte sich bestrebt, die Aktivitäten all dieser Personen und Institutionen organisatorisch und finanziell zu bündeln. So wurde seitens der Ford Foundation bereits im Dezember 1963 die Gründung eines Dachverbandes angedacht.28 Neben Mit26 | Vgl. zu dem Besuch der Delegation aus Tulane (Lapham-Mission) und der ASCOFAME-Gründung Quevedo V., Emilio; Hernández Alvarez, Mario; Miranda Canal, Néstor: »Ciencias médicas, estado y salud en Colombia. 1886–1957«, in: Dies. (Hg.): La institucionalización de la medicina en Colombia, Bogotá: Colciencias 1993, S. 163–276, hier: S. 264–268. Die sieben medizinischen Fakultäten waren an folgenden Universitäten angesiedelt: Universidad Nacional (Bogotá), Pontificia Universidad Javeriana (Bogotá), Universidad del Valle (Cali), Universidad de Antioquia (Medellín), Universidad de Caldas (Manizales), Universidad del Cauca (Popayán), Universidad de Cartagena (Cartagena). 27 | Vgl. Royco Ott, The Role of the Colombian, 1974, S. 69–75. Vor der Gründung der Abteilung für Bevölkerungsforschung gab es bereits eine Abteilung für medizinische Titel und Spezialisierungen, eine Abteilung für Planung und Entwicklung und eine Abteilung für die Akkreditierung von Krankenhäusern. ASCOFAME: Boletín informativo, Bogotá: ASCOFAME 1964, S. 12f. Bei der jährlichen Generalversammlung von ASCOFAME im November 1964 wurden neben der Abteilung für Bevölkerungsforschung noch drei weitere neue Abteilungen gegründet: Bildung und audio-visuelle Methoden, wirtschaftliche Hilfe, Statistik und Analyse. Vgl. Zschock, Demography & Population Program Developments (PA 65-111), Nov. 1964, RAC, S. 1. 28 | In dem ersten Brief, der zum Thema Bevölkerungsinteresse in Kolumbien aus dem Regionalbüro in Bogotá an die Zentrale der Stiftung nach New York geschickt wurde, informierte der Leiter des Regionalbüros Robert Wickham darüber, dass es in Cali zwei einflussreiche Männer gebe, denen die »Bevölkerungsexplosion in Kolumbien« Sorge

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arbeitern aus dem Regionalbüro in Bogotá spielte in diesem Prozess auf Seiten der Ford Foundation auch der Soziologe Lyle Saunders eine wichtige Rolle. Er war im Februar 1964 in der Stiftungszentrale in New York neben Oskar Harkavy als zweiter Mitarbeiter des Bevölkerungsprogramms der Stiftung angestellt worden und unternahm im September und November 1964 zwei Reisen nach Kolumbien.29 Auf kolumbianischer Seite wurde die Gründung eines Dachverbandes vor allem von denjenigen propagiert, die mit der Schaffung zentraler Strukturen auf eine staatliche Politik zur Bevölkerungskontrolle hinarbeiten wollten. In erster Linie sind hier die Mediziner der Universidad del Valle zu nennen, allen voran der Dekan der medizinischen Fakultät Gabriel Velázquez Palau. In Darstellungen, die die Initiative kolumbianischer Akteure betonen, wird ihm eine zentrale Rolle bei der Gründung eines Dachverbandes und dessen institutioneller Anbindung an ASCOFAME, dessen Präsident er von der Gründung 1959 bis zu seinem Rücktritt als Dekan 1970 war, zugesprochen.30 Diejenigen, die Interesse an demografischer Forschung hatten, diese jedoch nicht mit Familienplanungsprogrammen verknüpfen wollten, standen der Zentralisierung skeptischer gegenüber. Das gilt vor allem für die Soziologinnen und Soziologen der Universidad Nacional und die Wirtschaftswissenschaftler und -wissenschaftlerinnen der Universidad de los Andes. Sie waren zwar bei einem zweitägigen Workshop im Mai 1964 anwesend, zu dem ASCOFAME und die Ford Foundation geladen hatten und auf dem zur Vorbereitung der Abteilung ein Interimskomitee gegründet wurde, dennoch waren sie in den folgenden bereite. Das sei zum einem der Unternehmer James Eder und zum anderen der Dekan der medizinischen Fakultät der Universidad del Valle, Gabriel Velázquez Palau. Eder schwebe eine Informationskampagne vor, Velázquez plane ein Seminar zu dem Thema. Wickham habe die beiden darauf hingewiesen, dass der »Propaganda« Forschung vorangehen müsse, auch wenn das weniger »exciting« wäre. Wickham selbst halte ein Seminar für einen guten ersten Schritt, dort könnten erste »action programs« beschlossen werden und vielleicht eine informelle Organisation gegründet werden, die alle Sektoren repräsentiere, die sich an solchen Aktivitäten beteiligen wollten. Robert Wickham an Verne Atwater, 11.12.1963: RAC, FF, Log Book Nr. 64–926. Auf dieselbe Zeit datiert auch Emiline Royco Ott erste Gespräche zwischen Velázquez und den Mitarbeitern der Ford Foundation in Bogotá. Vgl. Royco Ott, The Role of the Colombian, 1974, S. 104. 29 | Vgl. Saunders, Lyle: Colombia Log. Sept 2–19, 1964: RAC, FF, Catalogued Reports, Box 201, Report 004514; Saunders, Lyle: Colombia Log. November 2–21, 1964: RAC, FF, Catalogued Reports, Box 201, Report 004514. 30 | Vgl. u. a. Royco Ott, The Role of the Colombian, 1974, S. 91ff; Measham, Anthony R.: TAD Institutional Development Monitory – Colombia, Bogotá, 26.12.1973: RAC, PC, Acc. 2, Subject File, S 92 Folder Colombia – Institutional Development Survey, 1974, S. 11f.

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Monaten an den Vorbereitungen zur Gründung der Abteilung kaum beteiligt. Diese wurde lediglich von einem kleinen Kreis der im Mai anwesenden Kolumbianer und Kolumbianerinnen in enger Zusammenarbeit mit der Ford Foundation vorbereitet.31 Gustavo Pérez war als einziger Nicht-Mediziner Teil dieses Kreises.32 Seine Vorstellungen über die Strukturen und Aufgaben des zu gründenden Dachverbandes wichen von denen der Ärzte und Ärztinnen stark ab. Bei dem Treffen im Mai regte er die Gründung eines unabhängigen, losen Verbandes zur Bevölkerungsforschung an, während Ramiro Delgado, ein Mediziner der Universidad del Valle, ein Komitee innerhalb von ASCOFAME mit zentraler Struktur vorschlug. Zwischen diesen Positionen konnte keine Einigkeit hergestellt werden und so wurden beide Vorschläge angenommen und neben der Abteilung für Bevölkerungsforschung innerhalb von ASCOFAME, die Cardonas Vorschlag entsprach, auch die Gründung der Asociación Colombiana para el Estudio Científico de la Población beschlossen, die Pérez Vorschlag entsprach.33 Er sollte für das erste Jahr auch den Posten des Geschäftsführers übernehmen.34 Leiter der Abteilung der Bevölkerungsforschung wurde der Endokrinologe und Psychologe Hernán Mendoza Hoyos, der zuvor sowohl an der Universidad Nacional als auch an der jesuitischen Pontificia Universidad Javeriana gelehrt hatte und zudem eine private Praxis betrieb. Insgesamt war die Abteilung in ihrer Zusammensetzung, ihren Gremien und Entscheidungswegen sehr komplex strukturiert.35 Zwei Gremien drückten 31 | Die Position der genannten Akteure ist in erster Linie durch die Tagebuchaufzeichnungen von Lyle Saunders überliefert, der bei seinem ersten längeren Aufenthalt in Kolumbien im September 1964 explizit Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Soziologie, Wirtschaftswissenschaften und Anthropologie der Universidad de los Andes und der Universidad Nacional dazu befragte, was sie über das Interimskomitee wüssten und was sie von dieser Zentralisierung hielten. Mehrere Personen bezeichneten Demografie in diesen Gesprächen als eine Modeerscheinung und einige, die bei dem Treffen im Mai dabei gewesen und formal Mitglieder des Interimskomitees waren, gaben an, über dessen Aktivitäten seit dem Treffen nichts zu wissen. Vgl. Saunders, Colombia Log. Sept 2–19, 1964, RAC, S. 3–6. Das Treffen im Mai 1964 ist umfangreich dokumentiert. Siehe u. a. Delgado García, Ramiro: Conclusiones de la »Primera Reunión sobre Problemas Demográficos Colombianos«, 22 y 23 de Mayo de 1964, Bogotá: Universidad del Valle, Archivo Central e Histórico (fortan: UV ACH), Facultad de Salud / División de Salud (fortan: FS/DS), Decanatura, K 10: M 1. 32 | Vgl. Saunders, Colombia Log. Sept 2–19, 1964, RAC, S. 12. 33 | Vgl. Royco Ott, The Role of the Colombian, 1974, S. 108ff. 34 | Vgl. JMS Diary Notes, Bogotá, Colombia, December 15–20, 1965: Cornell R&M, JMS, Box 10, Folder 39, S. 3f. 35 | Vgl. ASCOFAME: Boletín Informativo de la División de Estudios de Población, Bogotá: Ed. Tercer Mundo 1965.

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den Dachverbandcharakter aus. Einem dieser Organe, der Comisión Ejecutiva, kam die bedeutende Aufgabe zu, über die Bewilligung der Forschungsprojekte der einzelnen Mitgliedsorganisationen zu entscheiden und Mittel zu deren Durchführung zuzuweisen.36 Für die Zentralisierung der Entscheidungen stand die Person Hernán Mendoza Hoyos, der als Leiter und einziger Angestellter der Abteilung die Aufgabe hatte, die Entscheidungen aller Gremien, deren Mitglied er gleichzeitig war, umzusetzen. Ferner organisierte er deren Treffen, leitete das Büro der Abteilung und vertrat diese nach außen.37 De facto verwandelte sich die Abteilung schnell in Hernán Mendoza Hoyos’ »enterprise«, wie es Emiline Royco in ihrer Dissertation zu ASCOFAME-DEP 1974 pointiert formulierte.38 Die verschiedenen Gremien seien schon gut ein Jahr nach Gründung der Abteilung verkümmert und das religionssoziologische Forschungszentrum von Gustavo Pérez sowie die Wirtschaftswissenschaftler der Universidad de los Andes (CEDE) hätten sich zu diesem Zeitpunkt ebenfalls bereits von dem Dachverband gelöst.39 Schon in der Gründungsphase hatte sich gezeigt, dass ein Dachverband und die damit einhergehende Bündelung von Ressourcen für diejenigen, die unabhängig Anträge an die Ford Foundation oder den Population Council gestellt hatten, mit Schwierigkeiten verknüpft war. So wurde ein Antrag zur Finanzierung eines Forschungsprojektes, den Gustavo Pérez bereits Ende 1963 an die Ford Foundation gestellt hatte, lange nicht bearbeitet und ein Jahr später schließlich abgelehnt bzw. zurückgestellt. Pérez wurde ferner aufgefordert, den Antrag an die Abteilung für Bevölkerungsforschung zu stellen. 40 Ähnlich erging es den Bevölkerungsforschern und -forscherinnen der Universidad del Valle, die im Oktober 1964 vom Population Council für einen Zeitraum von vier Monaten 10.000 US-Dollar für ein Familienplanungsprogramm in Candelaria und für eine Studie zu Abtreibungsraten erhalten hatten. Sie rechneten fest damit, dass die Förderung im Januar 1965 erneuert und erweitert 36 | Vgl. Royco Ott, The Role of the Colombian, 1974, S. 124. 37 | Vgl. ASCOFAME, Boletín Informativo de la División, 1965, S. 24f. 38 | Royco Ott, The Role of the Colombian, 1974, S. 211. 39 | Ebd. Zu den Gründen für das Ende der Mitarbeit von CIS und CEDE in der Abteilung für Bevölkerungsforschung aus der Sicht von Hernán Mendoza Hoyos siehe auch Saunders, Colombia Log Notes. September 18–20, 1966, RAC, S. 4. 40 | Vgl. Saunders, Colombia Log. Sept 2–19, 1964, RAC, S. 2; JMS Diary Notes, Colombia, September 10–12, 1964, Conversation with Robert S. Wickham and Saunders, Ford Foundation, 21.09.1964: Cornell R&M, JMS, Box 10, Folder 41, S. 271; Lyle Saunders an Robert S. Wickham, 24.11.1964: RAC, FF, Log Book Nr. 64-926, S. 7f; Frinking, Gerardo: »Departamento de demografía. Estudio del censo. Evaluación y analísis demográfico del censo«, in: ASCOFAME, Boletín del segundo seminario, 1965, S. 81– 85. Vgl. zu diesem Antrag auch Kapitel 3.4.

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werden würde. 41 Der Population Council ging hingegen davon aus, dass die Finanzierung dieser Projekte von nun an über die neu gegründete Abteilung von ASCOFAME laufen und damit über die Ford Foundation finanziert werde. Das Missverständnis, wie es Lyle Saunders von der Ford Foundation wiederholt nannte, führte zu einem aufgeregten Briefwechsel zwischen Velázquez Palau, dem Dekan der medizinischen Fakultät der Universidad del Valle, und den Stiftungen sowie zwischen diesen untereinander und endete im April 1965 mit Gesprächen in New York. Dabei vertrat Velázquez Palau die Universidad del Valle und traf mit Hernán Mendoza Hoyos in seiner Funktion als Leiter der Abteilung für Bevölkerungsforschung sowie Vertretern des Population Council, der Ford Foundation und der Rocke­feller Foundation zusammen. Dort wurde dann eine für alle Seiten akzeptable Lösung gefunden, die so aussah, dass – da die Zeit eilte und auf die Entscheidungsprozesse innerhalb der Abteilung von ASCOFAME nicht gewartet werden konnte – die Rocke­feller Foundation die Kosten der Studien übernahm und der Population Council um einen umfangreichen Antrag mit einer Laufzeit von fünf Jahren bat. 42 Die Verhandlungen, zu denen es aufgrund der Beschwerde der Universidad del Valle gekommen war, zeigen deutlich, in welchem Maße die beiden Stiftungen und der Population Council zu diesem Zeitpunkt bereit waren, Bevölkerungsforschung und Familienplanungsprogramme zu finanzieren. Schwierigkeiten traten nicht deshalb auf, weil geplante Projekte keine Finanzierung fanden, sondern weil es eines hohen Grades an Absprache bedurfte, um zu klären, wer was wie und wann finanzierte. 43 Die Quellen zeugen von einem zugleich kooperativen und spannungsgeladenen Verhältnis zwischen den Stiftungen, die darum konkurrierten, wer die aussichtsreichsten Projekte finanzieren durfte. 44 Es waren die frühen 1960er Jahre, die Gelder für Programme zur Senkung des weltweiten Bevölkerungswachstums begannen zu

41 | Vgl. Gabriel Velázquez Palau an J. Mayone Stycos, Cali, 27.02.1965: RAC, FF, Log Book Nr. 64-926. 42 | Vgl. Saunders, Lyle: Subject: Universidad del Valle – Population Council – Misunderstanding, New York, 30.03.1965: RAC, FF, Log Book Nr. 64-926. 43 | Die Berichte und Arbeitstagebücher der Stiftungen zeugen davon, dass es ihnen teilweise schwerfiel, den Überblick über alle Initiativen und Kontakte zu behalten, sowie von Bemühungen, sich gegenseitig informiert zu halten und Absprachen zu treffen. Vgl. u. a. JMS Diary Notes, January 25, 1964, 27.01.1964: Cornell R&M, JMS, Box 1, Folder 42; Zschock, Justification and Preliminary Proposal, Okt. 1964, RAC, S. 25; Joe D. Wray an John S. Maier, 23.11.1964, Columbia HS A&S. 44 | Der Population Council war an den Zentralisierungsprozessen weniger stark beteiligt und handelte im selben Zeitraum die direkte Förderung der Demografieprogramme an der Universidad del Valle und der Universidad de los Andes aus.

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fließen und es herrschte unter den Stiftungen eine sehr ausgabenfreudige Stimmung. In Kolumbien profitierte davon niemand in solch einem Umfang wie die Abteilung für Bevölkerungsforschung von ASCOFAME. Auf die 330.000 US-Dollar, die die Ford Foundation 1965 bewilligte, folgten bis 1972 neun weitere Förderungen seitens dieser Stiftung, die sich insgesamt auf eine knappe Million US-Dollar beliefen. 45 Das setzte die Abteilung nicht nur von den anderen Institutionen ab, die trotz des Dachverbandes direkt gefördert wurden (Universidad de los Andes, Universidad del Valle und Profamilia), sondern auch von der Mutterorganisation ASCOFAME. Die Begeisterung, mit der zunächst die Ford Foundation und dann auch Stiftungen und Entwicklungshilfeagenturen in die Bevölkerungsabteilung von ASCOFAME investierten, lässt sich nicht nur mit deren Wunsch nach zentralisierten Strukturen erklären. Es kam hinzu, dass die Abteilung von Personen dominiert war, die ihre Forschung primär damit begründeten, wissenschaftliche Grundlagen für staatliche Familienplanungsprogramme zu benötigen. Übergeordnetes Ziel der Programme wiederum war es, die Bevölkerungswachstumsrate Kolumbiens zu senken. Neben der Forschung hatte auch die Öffentlichkeitsarbeit der Abteilung das Ziel, Unterstützung für diese Programme herzustellen. Diese Argumente finden sich in zahlreichen Anträgen der Abteilung, in deren Begründungen und Bewilligungen und auch in zahlreichen Reden und Publikationen. Ein besonders prägnantes Beispiel dafür stellt ein Bericht des Ford-Foundation-Mitarbeiters Dieter Zschock dar, den dieser direkt nach Gründung der Abteilung im November 1964 als Hintergrundpapier zu deren Antrag an die Ford Foundation verfasste. Darin heißt es erklärend, dass die unmittelbaren Ziele des Antrags keinen »Frontalangriff auf die grundlegenden Bevölkerungsprobleme« beinhalteten und dass die Maßnahmen, die der Antrag abdecke, allein für sich nicht die »exzessive Bevölkerungswachstumsrate« Kolumbiens begrenzen würden. Dafür benötige es sehr viel umfangreichere Mittel sowie einen Konsens von Staat und Kirche. Der Hauptzweck des Antrags bestehe daher darin, eine kolumbianische Institution zu befähigen, durch Grundlagenforschung sowie Bildungs- und Informationskampagnen diesen Konsens herzustellen. 46 Entsprechend Zschocks 45 | Vgl. Ford Foundation, Population Policy and Programs in Colombia, [1975], RAC, S. 1 (Anhang). 46 | Zschock, Demography & Population Program Developments (PA 65-111), Nov. 1964, RAC, S. 4. Ähnliche Formulierungen finden sich auch in drei weiteren Berichten, die Dieter Zschock zwischen Oktober 1964 und Oktober 1965 verfasste. Vgl. Zschock, Justification and Preliminary Proposal, Okt. 1964, RAC; Dieter Zschock an Peter Fraenke. Review of Colombian Population Program Developments since November 12, 1964 and Projections until Summer 1966, 01.07.1965: RAC, FF, Catalogued Reports, Box

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Überlegungen stand in der Anfangsphase der Abteilung die Forschung im Mittelpunkt; so lautete auch der Titel ihres Antrags an die Ford Foundation »Experimentation and Research in Population and Demography«. 47 An der Organisation der Forschung lässt sich auch der genannte Wandel in der Struktur der Abteilung weg von einem Dachverband hin zu einer stärkeren Zentralisierung nachvollziehen. So koordinierte die Abteilung in den ersten zwei Jahren ihres Bestehens nur die Forschungsprojekte ihrer Mitgliedsorganisationen und publizierte teils deren Ergebnisse. Ab 1967 führte sie dann eigene Forschungsprojekte durch und stellte diese explizit in den Dienst von Bevölkerungspolitik und Familienplanungsprogrammen, die ab diesem Zeitraum die Aktivitäten der Abteilung dominierten. Doch schon in der ersten Phase war der Einfluss der Abteilung auf die Forschungsprojekte groß. Denn hinter dem Stichwort Koordination verbarg sich die Kompetenz, Forschungsbereiche festzulegen, zu denen Anträge zugelassen wurden, sowie die Entscheidungsmacht darüber, welche Projekte tatsächlich Gelder der Ford Foundation erhielten. Zudem überprüften sie die Durchführung aller bewilligten Forschungsprojekte. 48 Damit sollten Doppelungen vermieden und zu einer gemeinsamen Methodik gefunden werden sowie Forschungsprojekte ausgeschlossen werden, die zwar für das allgemeine Feld der Demografie von Interesse sein könnten, mit den Zielen der Abteilung jedoch nicht in Verbindung standen. Direkt nach der Gründung der Abteilung wurden im Februar 1965 vier Forschungsbereiche festgelegt: Fertilität, Abtreibung, Familienplanung und Sozialdemografie. Für jeden der vier Bereiche wurden Subkomitees gegründet, die die jeweiligen Anträge bewerteten und dem Comité Ejecutivo vorschlugen, welche Anträge angenommen oder abgelehnt werden sollten. 49 Bis Mitte März 1965 gingen bei der Abteilung 31 Anträge ein, wobei es sich teilweise um Forschungsprojekte handelte, die schon angelaufen waren und teilweise um Konzepte für neue Projekte. Die Anträge wurden auf einem mehrtägigen Seminar, dem »Primer Seminario sobre Demografía« vorgestellt und diskutiert. An diesen Diskussionen nahmen neben Mitgliedern der Abteilung bzw. ihrer Mitgliedsorganisationen auch vier prominente US-amerikanische Berater teil: Kingsley Davis von der University of California, Berkeley, Donald Bogue von der University of Chicago, Lyle Saunders von der Ford

201, Report 004514; Zschock, Dieter: Report on Significant Developments in the Colombian Population Program, 18.10.1965: RAC, FF, Catalogued Reports, Box 5, Report 000080. 47 | Request for Grant Action, 20.01.1965: RAC, FF, Catalogued Reports, Box 201, Report 004514, S. 1. 48 | Vgl. ASCOFAME, Boletín Informativo de la División, 1965, S. 16f. 49 | Vgl. ebd., S. 45f.

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Foundation und Clyde Kiser vom Milbank Memorial Fund.50 In seinen Tagebucheinträgen sprach sich Lyle Saunders einen erheblichen Einfluss darüber zu, welche Projekte angenommen, umgeschrieben oder abgelehnt wurden.51 Stycos formulierte beim zweiten Seminar im Oktober selbst­ironisch, dass die Aufgabe der Berater darin bestehe, »Perlen der Weisheit fallen zu lassen«.52 Formal getroffen wurden die Entscheidungen jedoch auf Treffen des Comité Ejecutivo im April und Mai des Jahres. Von den 31 beantragten Projekten wurden zwölf bewilligt, wobei zwei der zehn Antragsteller, die Universidad de Caldas und die Universidad de Cartagena, zunächst ganz leer ausgingen.53 Schon in dieser ersten Antragsrunde hatte der Bereich Familienplanung stark dominiert. Die darunter gefassten Forschungsvorhaben sollten die Effektivität und Akzeptanz von Familienplanungsprogrammen analysieren, die die medizinischen Fakultäten in Gesundheitszentren und Universitätskliniken anboten. Zu diesem Zeitpunkt wurde in den Programmen nur die Rhythmusmethode, teils in Kombination mit hormonellen Antikonzeptiva, angeboten, weshalb Forschungen zu Menstruationszyklen sowie zur psychosozialen Beratung der Paare ebenfalls in diesen Forschungsbereich fielen.54 Auch die Bereiche Fertilität und Abtreibung wurden stark von den Medizinern und Medizinerinnen der Abteilung dominiert. Nach dem ersten halben Jahr ihres Bestehens konnte Dieter Zschock berichten, dass innerhalb dieser drei 50 | Vgl. ASCOFAME (Hg.): Boletín del primer seminario sobre demografía, Bogotá: Ed. Tercer Mundo 1965. J. Mayone Stycos notierte Anfang Februar, dass er neben Kingsley Davis und Lyle Saunders als dritter Experte für das Treffen von Oskar Harkavy, dem Leiter der Bevölkerungsabteilung der Ford Foundation, angefragt worden war und abgesagt hatte. Er gab in den Notizen keinen Grund an, formulierte jedoch auch seine Überraschung darüber, dass die Ford Foundation und nicht der Population Council das Treffen maßgeblich vorbereite. Seine Absage könnte also im Zusammenhang mit den Rivalitäten zwischen den Stiftungen gestanden haben. Vgl. JMS Diary Notes, Washington, D.C., 04.02.1965: Cornell R&M, JMS, Box 10, Folder 39, S. 3. An dem zweiten Seminar der Abteilung im Oktober 1965 nahm er jedoch teil. Vgl. JMS Diary Notes. October 9–13, 1965, Colombia, Cornell R&M, S. 348f. 51 | Saunders, Lyle: Colombia Log Notes. March 15–20, 1965: RAC, FF, Catalogued Reports, Box 201, Report 004514, S. 4. 52 | JMS Diary Notes. October 9–13, 1965, Colombia, Cornell R&M, S. 348. 53 | Vgl. Dieter Zschock an Peter Fraenke, 01.07.1965, RAC, S. 3–6. Der Tagungsband vom März 1965 enthält kurze Kommentare zu den jeweiligen Projekten, Vorschläge zur Verbesserung und indirekte Hinweise darauf, welche Projekte angenommen und abgelehnt wurden. Vgl. ASCOFAME, Boletín del primer seminario, 1965, S. 89–104. Leider sind keinerlei Protokolle der Sitzungen des Comité Ejecutivo überliefert, weder von 1965 noch aus späteren Jahren. 54 | Vgl. ebd., S. 79–82.

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Bereiche große Fortschritte zu beobachten seien. Auf Koordinierungstreffen in Cali und Medellín sei erfolgreich daran gearbeitet worden, die Methoden der Forschungsprojekte zu vereinheitlichen.55 Schwierigkeiten bei der Kooperation gebe es hingegen bei den Projekten im soziodemografischen Bereich.56 Dieser Trend setzte sich in den folgenden eineinhalb Jahren fort. Sukzessive verschwanden auf den weiteren drei Seminaren, die bis Ende 1966 stattfanden, die sozialdemografischen Projekte sowie die Institutionen, die für diese verantwortlich waren. Es verstärkte sich gleichzeitig der Forschungsbereich Familienplanung.57 Zudem wurde Forschung insgesamt zu einem kleineren Teil Gegenstand der Seminare, während die Lobbyarbeit für staatliche Familienplanung sowie die Vorbereitung von Fortbildungsprogrammen für das Gesundheitsministerium in den Mittelpunkt rückten.58 Denn im Oktober 1966 unterzeichneten die Abteilung für Bevölkerungsforschung und das kolumbianische 55 | Dieter Zschock an Peter Fraenke, 01.07.1965, RAC, S. 7. Siehe zu diesem Treffen auch ASCOFAME, Boletín del primer seminario, 1965, S. 117–174. 56 | Dieter Zschock an Peter Fraenke, 01.07.1965, RAC, S. 7. 57 | Die Ergebnisse der Forschungsprojekte der ersten beiden Jahre aus den Bereichen Fertilität, Abtreibung und Familienplanung wurden in mehreren Sammelbänden veröffentlicht: ASCOFAME-DEP (Hg.): Planificación Familiar. Motivación, Comunicación, Valoración, Bogotá: Ed. Tercer Mundo 1967; ASCOFAME-DEP (Hg.): Regulación de la fecundidad. Conocimientos, actitudes y prácticas de la población colombiana. Volumen 1, Bogotá: Tercer Mundo Ed. 1968; ASCOFAME-DEP (Hg.): Regulación de la fecundidad. Conocimientos, actitudes y prácticas de la población colombiana. Volumen 2, Bogotá: Tercer Mundo Ed. 1968. Einzelne Forschungsergebnisse gelangten auch in die führenden US-amerikanischen Zeitschriften zu Familienplanung und Bevölkerungsforschung. Siehe Aguirre, Alfredo: »Colombia. The Family in Candelaria«, in: Studies in Family Planning, 1, 11, 1966, S. 1–5; López Toro, Alvaro: »Some Notes on Fertility Problems in a Colombian Semi-Urban Community«, in: Demography, 4, 2, 1967, S. 453– 463; Jaramillo Gómez, Medellín, 1968; Mendoza Hoyos, Hernán: »Research Studies on Abortion and Family Planning in Colombia«, in: The Milbank Memorial Fund Quarterly, 46, 3/2, 1968, S. 223–236. 58 | Die drei hier nur kurz skizzierten Seminare fanden im Oktober 1965, April 1966 und September 1966 statt. Siehe zum »Segundo Seminario de Demografía« im Oktober 1965 ASCOFAME (Hg.): Boletín del segundo seminario de demografía. Octubre 10–13. La Ceja, Antioquia, Bogotá: Antares, Tercer Mundo 1965; JMS Diary Notes. October 9–13, 1965, Colombia, Cornell R&M; Saunders, Lyle: Colombia Log. Oct. 9–15, 1965: RAC, FF, Catalogued Reports, Box 201, Report 004514; Diary of Dr. Guy S. Hayes 1965, RAC, S. 121–125; Wray, Joe: Notes on Colombia. 1965: Columbia HS A&S, JDW, Box 2, S. 115f. Siehe zum »Tercer Seminario de Demografía/ Reunión de Coordinación sobre Planificación Familiar« Saunders, Lyle: Colombia Notes. April 18–24, 1966: RAC, FF, Catalogued Reports, Box 201, Report 004514. Siehe zum »Primer Laboratorio Nacional

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Gesundheitsministerium einen Vertrag, der die Abteilung damit beauftragte, 1200 Ärzte und Ärztinnen sowie medizinisches Hilfspersonal aus staatlichen Gesundheitszentren in Methoden der Familienplanung fortzubilden. Bereits im Januar 1967 begannen die Kurse. In Zusammenhang mit dieser neuen Aufgabe kam es 1967 sowohl zu einer Umstrukturierung der Abteilung als auch zu weitreichenden Veränderungen in der Forschungsförderung. Die Abteilung verlor immer mehr den Charakter eines Dachverbandes und ihre Zentrale wurde weiter gestärkt. Es wurden jetzt nicht mehr Forschungsprojekte der einzelnen Mitglieder gefördert, sondern stattdessen eigene Forschungsprojekte entwickelt und durchgeführt. Diese waren bei drei neuen admi­ni­stra­ tiven Einheiten verankert, die Mitte 1967 eingerichtet wurden: einer Einheit für soziodemografische Forschung, einer Einheit zur Administration und Evaluation der Familienplanungsprogramme, deren Zuständigkeitsbereich auch die Fertilitätsforschung umfasste, und einer Einheit für die Ausbildung und Supervision der Familienplanungsprogramme sowie der Fortbildungsprogramme für das staatliche Gesundheitspersonal. Auch die Integration von Demografie, Reproduktionsphysiologie und Familienplanung in die Lehrpläne der universitären medizinischen Ausbildung fiel in den Zuständigkeitsbereich dieser dritten Einheit.59 Neben der Ford Foundation finanzierte ab 1967 auch der Population Council einzelne Forschungsprojekte der Abteilung und das thematische Spektrum der Forschung wurde um die Bereiche Sexualerziehung sowie Migration und Urbanisierung erweitert. Das größte Projekt dieser Jahre stellte dennoch die Encuesta Nacional de Fecundidad dar, die teilweise in Kooperation mit dem Centro Latinoamericano y Caribeño de Demografía entstanden war. Der Schwerpunkt der Abteilung lag jedoch auf der Evaluation und Verbesserung von Familienplanungsprogrammen.60 Das hing mit der bereits erwähnten Einbindung in den Auf bau staatlicher Familienplanung zusammen, spiegelte aber auch einen internationalen Trend wider. So wandte sich auch die Bevölkerungswissenschaft in den USA ab den späten 1960er Jahren vermehrt der Evaluation und Optimierung von Familienplanungsprogrammen zu. Als sich ASCOFAME ab 1970 schrittweise aus der staatlichen Familienplanung zurückzog, rückte die Forschung für kurze Zeit wieder in den Mittelpunkt der Aktivitäten der Abteilung, so dass die Unterordnung der Forschung unter das action program aufgebrochen wurde. Doch als es 1973 zur Fusion mit sobre Planificación Familiar« im September 1966 Saunders, Colombia Log Notes, September 18–20, 1966, RAC. 59 | Vgl. Royco Ott, The Role of the Colombian, 1974, S. 304f; Report on the Division of Population Studies of the Association of Medical Schools, October 1969: RAC, PC, Acc. 2, Foreign Correspondence Series, Box 8, Folder ASCOFAM 69, S. 4; 11; 14–17. 60 | Vgl. Population Council Activities in Latin America 1967–1969, RAC, S. 11f.

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der Abteilung für Sozialmedizin kam, verließen zahlreiche Bevölkerungsforscherinnen und -forscher ASCOFAME und gründeten eine neue Organisation, die sich ausschließlich auf Forschung konzentrierte, die Corporación Centro Regional de Población (CCRP).61 Mit den Personen wanderte auch die großangelegte nationale Fertilitätsstudie von der Abteilung für Bevölkerungsforschung zum CCRP. Der Beginn staatlicher Bevölkerungspolitik in Kolumbien wird auf das Jahr 1966 und die Präsidentschaft von Carlos Lleras Restrepo datiert. Der liberale Politiker übernahm im August des Jahres als dritter Präsident des Frente Nacional das Amt. Schon im Januar hatte er ein Beratergremium für demografische Fragen, das Primer Comité Demográfico, gegründet.62 Lleras Restrepo konnte selbst auf eine langjährige Beschäftigung mit diesen Fragen zurückblicken. So hatte er von 1936 bis 1938 die Contraloría General de la República geleitet. Dieser Behörde, deren Name sich am besten als Amt für Rechnungsprüfung übersetzen lässt, war die Oficina Central de Estadística unterstellt. Im Zusammenhang mit diesem Amt veröffentlichte Lleras Restrepo 1938 eine umfangreiche Bestandsaufnahme zum Zustand der nationalen Statistik in Kolumbien, in der er u. a. die defizitäre Datenlage zu Geburten beklagte.63 Knappe dreißig Jahre später, zu Beginn seiner vierjährigen Amtszeit, wurden Familienplanungsprogramme in die vom Gesundheitsministerium betriebenen staatlichen Gesundheitszentren integriert, und an ihrem Ende begann sich die staatliche Planungsbehörde Departamento Nacional de Planeación (DNP) intensiv mit demografischen Fragen zu befassen und einen Entwurf staatlicher Bevölkerungspolitik zu formulieren.64 Unter seinem konservativen Nachfolger, Misael Pastrana Borrero, kam es 1970 zur Integration dieser Vorschläge in einen umfassenden staatlichen Entwicklungsplan sowie zur Grün61 | Vgl. ASCOFAME, Resumen de las actividades, 1974, S. 42; Giraldo Samper, Memorias para la historia, 2009. 62 | Vgl. Medina Chávez, Los discursos sobre la planificación familiar, 2008, S. 82. 63 | Lleras Restrepo, Carlos: La Estadística Nacional. Su organización – Sus problemas, Bogotá: DANE; Imprenta Nacional 1938. Siehe hierzu auch Morales Benítez, Otto; Vallejo García, Felipe; Vidal Perdomo, Jaime (Hg.): Carlos Lleras Restrepo. Perfil de un estadista, Bogotá: Acad. Colomb. de Jurisprudencia 2000. 64 | Vgl. Departamento Nacional Planeación – Unidad de Recursos Humanos, División Socio-Demográfica: »La población en Colombia. Diagnóstico y política«, in: Revista de Planeación y Desarrollo, 1, 4, 1969, S. 20–81. Zum Aufbau des DNP in den späten 1940er Jahren und der Rolle des DNP in der Politik des Frente Nacional siehe Caballero Argáez, Carlos: »Albert Hirschman en Colombia y la planeación del desarrollo«, in: De­ sarrollo y Sociedad, 62, 2008, S. 165–199; Caballero Argáez, Carlos: »El desarrollo eco­n ó­m ico y la planeación en el período del Frente Nacional: Contextos y realizaciones«, in: Ders., Cincuenta años de regreso, 2012, S. 259–293.

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dung eines nationalen Bevölkerungsrats, dem Consejo Nacional de Población. In dem Entwicklungsplan wurden drei bevölkerungspolitische Ziele formuliert: eine »bessere territoriale Verteilung« der Bevölkerung, die Senkung der Sterbe- und Erkrankungsraten sowie die Senkung der Bevölkerungswachstumsrate durch die Senkung der Geburtenrate.65 Die Abteilung für Bevölkerungsforschung von ASCOFAME war in diese Entwicklungen auf mehreren Ebenen eng involviert. Jenseits der Forschungsprojekte, mit denen, wie hier bereits geschildert, das Ziel verfolgt wurde, wissenschaftliche Argumente für die Notwendigkeit staatlicher Bevölkerungspolitik zu liefern, sowie der Öffentlichkeitsarbeit, die von Anfang an einen Schwerpunkt darstellte, betrieben die Mitglieder der Abteilung auch Lobbyarbeit gegenüber der Regierung. Sie arbeiteten zudem an den Programmen des Gesundheitsministeriums aktiv mit und saßen in den Beratungsgremien zu Bevölkerungspolitik, die von der Regierung ab 1966 gegründet wurden. An der ersten bevölkerungspolitischen Initiative, der Integration von Familienplanungsprogrammen in staatliche Gesundheitszentren, mit der 1966 begonnen wurde, war die Abteilung für Bevölkerungsforschung direkt beteiligt. In einem Vertrag, den sie im Oktober 1966 mit dem Gesundheitsministerium schloss, übernahm die Abteilung die Aufgabe, im Zeitraum von eineinhalb Jahren Medizinerinnen, Mediziner und medizinisches Hilfspersonal in Methoden der Familienplanung fortzubilden. Die Kurse begannen Anfang 1967 und im selben Jahr wurde Familienplanung schon in das staatliche MutterKind-Gesundheitsprogramm aufgenommen. Finanziert wurden diese Programme mit Geldern der staatlichen US-amerikanischen Entwicklungshilfeagentur USAID.66 Ab 1970 lag die Verantwortung für die Programme dann alleine beim Gesundheitsministerium.67 Vorausgegangen war dieser Kooperation intensive Lobbyarbeit seitens der Abteilung für Bevölkerungsforschung, die zahlreiche Mediziner vereinte, die schon 1964 begonnen hatten, in universitär betriebenen Kliniken und Gesundheitszentren Pilotprojekte zur Familienplanung zu betreiben. Als eine treibende Kraft hinter dem Auf bau eines staatlichen Programms kann Gabriel Velázquez Palau gelten, der Dekan der medizinischen Fakultät in Cali und Direktor von ASCOFAME. Er erarbeitete schon 1965 ein Konzept mit fünf 65 | Departamento Nacional de Planeación: Plan de Desarrollo. Tercera Parte: Población, Bogotá 1971, S. 31–41. Zur Bevölkerungspolitik der Regierungen des Frente Nacional siehe auch Bravo, National Planning and Population Policy, 1974; McGreevey, Population Policy, 1980. 66 | Vgl. Medina Chávez, Los discursos sobre la planificación familiar, 2008, S. 83f; Measham, TAD Institutional Development Monitory – Colombia, 26.12.1973, RAC, S. 3f. 67 | Vgl. Ford Foundation, Population Policy and Programs in Colombia, [1975], RAC, S. 1.

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Schritten, das mit der Fortbildung kolumbianischer Mediziner in Chile begann, die Ausbildung der staatlich angestellten Medizinerinnen und Mediziner verfolgte und daran die Vorstellung knüpfte, innerhalb von zwei Jahren rund der Hälfte aller kolumbianischen Frauen im gebärfähigen Alter Spiralen einsetzen zu können.68 Der Gesundheitsminister, der im Oktober 1966 den Vertrag mit der Abteilung für Bevölkerungsforschung schloss, war Antonio Ordoñez Plaja, ein ­Chirurg, der direkt an der Gründung der Abteilung beteiligt gewesen war. Schon im Mai 1964, bei dem von ASCOFAME und der Ford Foundation ausgerichteten Seminar, auf dem die Gründung der Abteilung für Bevölkerungsforschung beschlossen worden war, hatte er den Vorsitz übernommen und war bis zu seinem Amtsantritt unter Präsident Carlos Lleras Restrepo der erste Präsident der ebenfalls im Mai 1964 gegründeten Asociación Colombiana para el Estudio Científico de la Población gewesen.69 Das ist nur ein Beispiel für die zahlreichen sehr direkten Verbindungen zwischen dem Gesundheitsministerium und ASCOFAME im Allgemeinen sowie der Abteilung für Bevölkerungsforschung im Besonderen.70 Wiederholt finden sich in den Quellen Hinweise auf direkte Telefonate zwischen Lobbyisten der Abteilung sowie Regierungs­ chefs. So notierte J. Mayone Stycos beispielsweise, dass einer Rede von Lleras Restrepo, die dieser während seines Wahlkampfs im November 1965 gehalten hatte und bei der er Bevölkerungswachstum als Gefahr für die wirtschaftliche Entwicklung Kolumbiens bezeichnet hatte, ein Telefonat mit Hernán Mendoza Hoyos vorangegangen sei.71 Vor dem Hintergrund der hier nur skizzierten, sehr direkten Beteiligung der Abteilung für Bevölkerungsforschung an der staatlichen Bevölkerungspolitik überrascht es nicht, dass im Zuge hitziger Debatten um diese Politik, die vor allem 1967 und 1968 in der Presse und im Senat geführt wurden, die Mitglieder der Abteilung im Mittelpunkt der Kontroversen standen. Diese öffentliche Position war jedoch nicht nur ein Ergebnis ihrer Aktivitäten in Wissenschaft und Politik. Öffentlichkeitsarbeit auf verschiedenen Ebenen war von Beginn an erklärtes Ziel und ein Schwerpunkt der Arbeit der Abteilung. Diese fand auf vielerlei Ebenen statt. So richteten die médicos demógrafos Kongresse aus, finanzierten und veröffentlichten Übersetzungen englisch68 | Vgl. JMS Diary Notes. October 9–13, 1965, Colombia, Cornell R&M, S. 2ff. Siehe hierzu auch Kapitel 5.6. 69 | Vgl. Delgado García, Conclusiones de la Primera Reunión, UV ACH. 70 | Vgl. Royco Ott, The Role of the Colombian, 1974, S. 78. 71 | JMS Diary Notes, Bogotá, Colombia, December 15–20, Cornell R&M, S. 1. Ein kleiner Auszug der Rede wurde zwei Jahre später in der vom Population Council herausgegebenen Zeitschrift Studies in Family Planning veröffentlicht. Siehe »Statements on Population Policy«, in: Studies in Family Planning, 1, 16, 1967, S. 3.

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sprachiger Fachliteratur, publizierten aber neben wissenschaftlichen Texten auch Broschüren, die das ›Bevölkerungsproblem‹ einer breiteren Öffentlichkeit nahebrachten.72 Im Bereich der Kongresse sticht die Primera Asamblea Panamericana de Población heraus, die 1965 in Cali organisiert wurde und für die mit dem ehemaligen Präsidenten Kolumbiens Alberto Lleras Camargo ein prominenter Schirmherr gefunden werden konnte.73 Nicht zuletzt deshalb fand sie ein breites Medienecho weit über Kolumbien hinaus.74 Übersetzt wurden auch zahlreiche Kongressergebnisse, so z. B. die Beiträge einer großen Konferenz zu Familienplanung, zu der der Population Council 1965 nach Genf geladen hatte. Diese spanischsprachige Übersetzung einer Auswahl der Beiträge erschien sogar vor dem Tagungsband mit den englischen Originalbeiträgen.75 Zusätzlich verbreitete die Abteilung ihre Botschaft über alle Kanäle der 72 | Den Begriff médicos demógrafos hat Maria Margarita Fajardo Hernández in ihrer diskursanalytischen Untersuchung der Abteilung für Bevölkerungsforschung von ASCOFAME geprägt: Fajardo Hernández, La construcción del problema, 2007. Siehe zum letzten Punkt u. a. die folgenden vier Broschüren, die alle 1966 erschienen: Mendoza Hoyos, Hernán: Sobrepoblación en los países en desarrollo. Elevada densidad social en Colombia, Bogotá: ASCOFAME-DEP 1966; Mendoza Hoyos, Hernán: Acelerado crecimiento de la población en Colombia. La necesidad sentida, Bogotá: ASCOFAME-DEP 1966; Delgado García, Ramiro: Hacia una política de población en Colombia. El problema, su impacto, y sus posibles soluciones, Bogotá: ASCOFAME-DEP 1966; ASCOFAME-DEP: Aspectos médicos de la planificación familiar, Bogotá: ASCOFAME-DEP 1966. 73 | Offiziell ausgerichtet wurde die Konferenz von ASCOFAME, der Universidad del Valle und dem Thinktank The American Assembly der Columbia University in Kooperation mit und finanziert durch den Population Council. Die Ergebnisse der Konferenz wurden von Stycos und dem guatemaltekischen Soziologen Jorge Arias herausgegeben. Vgl. Stycos, J. Mayone; Arias, Jorge (Hg.): Population Dilemma in Latin America, Washington, D.C.: Potomac Books 1966. Zu Arias siehe Hartmann, Annika: »›La familia pequeña vive mejor‹. Investigación demográfica, expertos transnacionales y debates académicos acerca de la ›explosión demográfica‹ en Guatemala después de 1945«, in: Mesoamérica, 57, 2015, S. 69–98. Als weiteres Beispiel für übersetzte Tagungsbeiträge siehe ASCOFAME: Enseñanza de la Planificación Familiar en las Escuelas de Medicína. Traducción de los trabajos presentados en las Conferencias de Nueva York y de Bellagio bajo los auspicios de la Fundación Josiah Macy Jr., Bogotá: Ed. Tercer Mundo 1968. Zu Lleras Camargos’ Engagement für ›Bevölkerungskontrolle‹ siehe Kapitel 3.3. 74 | Vgl. Medina Chávez, Los discursos sobre la planificación familiar, 2008, S. 76–81. 75 | ASCOFAME (Hg.): Planificación familiar y programas de población. Selección y traducción de la Primera Conferencia Internacional sobre programas de planificación familiar; Ginebra, agosto 23–27, 1965, Bogotá: ASCOFAME 1965; Berelson, Bernard (Hg.): Family Planning and Population Programs. A Review of World Developments, Chicago IL; London: Univ. of Chicago Press 1966.

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modernen Massenmedien. So erstellten die Mediziner und Medizinerinnen Fernsehbeiträge und Radiosendungen, schrieben Zeitungsartikel und gaben zahlreiche Interviews.76 Das Interesse der Medien an den Themen Bevölkerungswachstum und Familienplanung scheint groß gewesen zu sein. So wurde im Zusammenhang mit einem Seminar, das die Abteilung im September 1966 in der Stadt Popayán ausrichtete, eine Woche lang allabendlich ein Fernsehbeitrag zum Thema ausgestrahlt.77 Am häufigsten kamen die médicos demógrafos in der Presse dann zu Wort, wenn die staatliche Beteiligung an Familienplanung von der katholischen Presse in den Medien oder einer Fraktion der konservativen Partei im kolumbianischen Senat angegriffen wurde. Diese Debatten entzündeten sich an der genannten Vertragsunterzeichnung zwischen der Bevölkerungsabteilung von ASCOFAME, dem Gesundheitsministerium und USAID Ende 1966 und brachen im Sommer 1968 erneut auf, als eine Verlängerung des Vertrags anstand.78 Familienplanung und Bevölkerungswachstum kamen in diesen Wochen vielfach in die Schlagzeilen der kolumbianischen Tageszeitungen.79 76 | Zu einem Fernsehprogramm von Hernán Mendoza Hoyos und Ramiro Delgado García vgl. Medina Chávez, Los discursos sobre la planificación familiar, 2008, S. 75. Als Beispiel für einen von Ramiro Delgado García selbst verfassten Zeitungsartikel siehe Delgado García, Ramiro: »Solución al Problema Demográfico. Posición de la Iglesia Católica Frente al Control de la Natalidad«, in: El Siglo, 25.09.1966. Als Beispiel für ein Interview mit Mendoza Hoyos siehe Castellanos, Alfonso: »El problema demográfico detiene el desarrollo. Debe darse a los colombianos la alternativa para decidir cómo integrar la familia«, in: El Tiempo, 05.02.1967. 77 | Vgl. Saunders, Colombia Log Notes. September 18–20, 1966, RAC. Im gleichen Bericht verwies Saunders auch darauf, dass die Abteilung zwei Filme produziert hatte. 78 | Siehe hierzu umfassend Medina Chávez, Los discursos sobre la planificación familiar, 2008. 79 | Die Presseberichterstattung ist dank des »Newspaper Clipping Project« am International Population Program (IPP) der Cornell University überliefert, für das von Ende 1964 bis Ende 1968 Zeitungsartikel zu ›Bevölkerung‹ aus über hundert Zeitungen aus allen Ländern Lateinamerikas und der Karibik auf den Inhalt und die Tendenz der Berichterstattung ausgewertet wurden. Vgl. Resume of Latin American Press Survey 1965–1968, Ithaca NY: Cornell R&M, JMS, Box 11, Folder 22. Die vielen tausend Zeitungsartikel sind im Nachlass von J. Mayone Stycos einzusehen. Zu einzelnen Ländern und Unterthemen publizierte das IPP zudem zusammenfassende Auswertungen, so zur kolumbianischen Debatte. Vgl. International Population Program, Latin American Newspaper Coverage, Nr. 2, Cornell R&M. Schon 1968 erschien überdies in Mexiko ein Quellenband, in dem kolumbianische Zeitungsartikel zu den Auseinandersetzungen um staatliche Familienplanung aus dem Zeitraum April 1966 bis August 1967 abgedruckt wurden. Auch die mexikanischen Herausgeber dieser Sammlungen hatten das Material

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Hernán Mendoza Hoyos verkörperte in diesen Auseinandersetzungen die Fraktion pro Familienplanung. Er schrieb viele Artikel und gab Interviews, er wurde aber auch zur Hauptangriffsfläche der Gegner und Gegnerinnen des Programms.80 Diese machten den médicos demógrafos vor allem den Vorwurf, mit ›imperialistischen‹ Akteuren und Akteurinnen und deren Interessen zu kollaborieren. Familienplanung wurde in diesen Vorwürfen als imperialistisches, mit Mitteln der psychologischen Kriegsführung ausgeführtes Komplott gegen Kolumbien dargestellt und die Abteilung für Bevölkerungsforschung als Handlanger und Marionette ›fremder‹ Interessen porträtiert.81 Diese ›Imperialisten‹ werteten die Debatte jedoch als Erfolg. So konstatierte Stycos im September 1967, dass die Familienplanungsprogramme in Kolumbien zwar heftig unter Attacke geraten seien, das Thema aber dadurch eine erfreulich große Aufmerksamkeit erlangt habe.82 Trotz der geschilderten Kritik an seinem Führungsstil und der mit seinen Funktionen verbundenen Machtkonzentration galten Führungsfiguren wie Hernán Mendoza Hoyos in den Augen der US-amerikanischen Beobachter und Beobachterinnen als wichtiger Faktor für die Schlagkraft der Abteilung für Bevölkerungsforschung.83 Sie bestätigten die modernisierungstheoretische Annahme, wonach es solcher Figuren bedürfe, um in Entwicklungsländern schnellen Fortschritt zu erreichen.84 Mendozas überraschender Tod im Sommer 1968 galt den zeitgenössischen Beobachtern und Beobachterinnen der Abteilung als einer der Gründe für deren ›Niedergang‹, denn nun traten Streitigkeiten unter den verschiedenen Untergruppen innerhalb der Abteilungen deutlicher hervor und die Frage seiner Nachfolge führte zu neuen Konflikten.85 Doch das ist nur einer von vielen Gründen, die die Auflösung der Abteilung vom IPP bezogen. Vgl. Maldonado, Oscar (Hg.): Colombia. La jerarquía católica y los programas de control de la natalidad. Enero-marzo 1967. Algunos documentos clave, Cuernavaca: CIDOC 1968. 80 | Vgl. u. a. Mendoza Hoyos, Hernán: »La planeación de la familia. Una necesidad sentida por la población, que a veces se expresa trágicamente«, in: Cromos, 06.03.1967; »›No Hay Engaño Demográfico‹, Dice Mendoza Hoyos«, in: El Tiempo, 29.09.1967, S. 1; 9; »›Plan Contra Explosión Demográfica‹ Anuncia en el País Mendoza Hoyos«, in: El Vespertino, 05.10.1967. 81 | Vgl. Medina Chávez, Los discursos sobre la planificación familiar, 2008, S. 85–89. 82 | Stycos, J.  Mayone: Colombian Newspapers and the Birth Control Controversy. American Sociological Association Meetings, September 1967: Cornell R&M, JMS, Box 11, Folder 4, S. 14. 83 | Vgl. Lyle Saunders an William Cotter. Subject: Population, 01.02.1967, RAC; Royco Ott, The Role of the Colombian, 1974, S. 5. 84 | Vgl. Latham, Modernization as Ideology, 2000, S. 106. 85 | Vgl. Royco Ott, The Role of the Colombian, 1974, S. 366–382.

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1973 erklären. In der Darstellung von Emiline Royco Ott findet sich als weitere Erklärung der Verweis auf Streitigkeiten zwischen dem Verband der medizinischen Fakultät ASCOFAME und seiner gut finanzierten und prominenten Abteilung. So habe sich innerhalb des Verbandes zunehmend Widerstand gegen deren Aktivitäten herausgebildet, den Royco Ott sowohl auf Neid als auch auf eine unterschiedliche Bewertung der Notwendigkeit von Familienplanung zurückführte.86 Neben diesen organisationsinternen Begründungen, die in den Quellen explizit formuliert wurden, muss jedoch auch die Ende der 1960er Jahre zunehmende Kritik an der Präsenz US-amerikanischer Stiftungen und Organisationen an kolumbianischen Universitäten und anderen Forschungseinrichtungen berücksichtigt werden. Für die Zusammenarbeit zwischen den médicos demógrafos und den resident advisers des Population Council bedeutete dies, dass die zweite der genannten Gruppen 1972 die gemeinsamen Büroräume verließ, um die Abteilung für Bevölkerungsforschung weniger angreif bar zu machen. In der Begründung für den Umzug, der mit Mehrkosten verbunden war, hieß es, dass die Präsenz der resident advisers eine Gefahr für die Arbeit von ASCOFAME darstelle und es in diesen schwierigen Zeiten wichtig sei, die Arbeit des Verbandes und seiner Abteilung für Bevölkerungsforschung zu »nationalisieren«.87 Nach der Auflösung der Abteilung gründete eine der Untergruppen, wie eingangs angedeutet, ein neues Institut für Bevölkerungsforschung, das bis heute bestehende Centro Corporación Regional de Población (CCRP). Es führte die Arbeit an der nationalen Fertilitätsstudie von 1969 zu Ende und kooperierte noch einige Jahre lang mit den US-amerikanischen Akteuren und Akteurinnen, die in den 1960er Jahren den Auf bau von Bevölkerungsforschung finanziert hatten. In Kolumbien waren die ›goldenen Jahre‹ der Bevölkerungswissenschaften jedoch Mitte der 1970er Jahre vorbei. Im CCRP wird heute mit Ernüchterung konstatiert, dass die Finanzierung von Bevölkerungsforschung in Kolumbien einbrach, nachdem Studien ab Ende der 1960er Jahre postulierten, dass die Verwendung von Verhütungsmitteln in Kolumbien inzwischen weit verbreitet und die durchschnittliche Kinderzahl kolumbianischer Frauen erheblich gesunken war. Ab diesem Zeitpunkt seien nur noch Familienplanungsprogramme gefördert worden, vor allem von Profamilia, jedoch keine Bevölkerungsforschung mehr.88 86 | Ebd., S. 79f. 87 | Charles Lininger an Clifford Pease, New York, 15.05.1972: RAC, PC, Acc. 2, Foreign Correspondence Series, Box 7, Folder 72. Die Formulierung ›nationalisieren‹ ist auch in dem Brief selbst in Anführungszeichen gesetzt. 88 | So äußerte sich am 08.11.2011 Rodolfo Heredia, der zu den Gründungsmitgliedern des CCRP gehört und zu dem Zeitpunkt sein Direktor war, im persönlichen Gespräch mit der Autorin. Unabhängig davon, wie diese Interpretation bewertet wird, ist unumstritten,

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3.3 D emogr afie und E nt wicklungsökonomie an der U niversidad de los A ndes Die Zusammenarbeit des Population Council mit dem Centro de Estudios sobre Desarrollo Económico (CEDE) an der privaten Universidad de los Andes in Bogotá, die von 1964 bis 1971 bestand, war aus Sicht des Population Council über lange Jahre ein voller Erfolg. Hier gelang es, das einzige nicht medizinisch geprägte demografische Forschungs- und Ausbildungsprogramm zu etablieren. Mit Alvaro López Toro hatte es über vier Jahre hinweg einen international renommierten kolumbianischen Demografen als Direktor, unter dessen Führung zahlreiche Studien entstanden und Demografiekurse in verschiedenen Curricula verankert wurden.89 Der Auf bau des Programms folgte genau dem Muster, das J.  Mayone Stycos 1964 im Auftrag des Population Council der Leitung des CEDE und der Fakultät für Wirtschaftswissenschaften vorlegte. Die Hoffnung, dass nach einer mehrjährigen Anschubfinanzierung seitens des Population Council die Universität das Programm im selben Umfang weiterfinanzieren würde, erfüllte sich jedoch nicht. Doch auch wenn das Programm mit dem Auslaufen der Förderung des Population Council 1970 und dem frühen Tod von López Toro im darauffolgenden Jahr zunächst einbrach, wurde am CEDE auch in den 1970er und 1980er Jahren weiterhin intensiv zu Bevölkerung und Demografie geforscht. Der Gründer und Präsident des Population Council, John D. Rocke­feller III, hatte im Juli 1963 persönlich damit begonnen, mit seinem einflussreichen Freund, dem ehemaligen Präsidenten Kolumbiens Alberto Lleras Camargo, über den Auf bau eines Demografieprogramms an der Universidad de los Andes zu verhandeln. So geht die Gründung des Demografieprogramms am CEDE auf ein Treffen zwischen Alberto Lleras Camargo und John D. Rockedass ab Mitte der 1970er Jahre Bevölkerungsforschung in Kolumbien kaum mehr durch internationale Geldgeber finanziert wurde, jedoch weiterhin große Summen in Familienplanungsprogramme flossen. Das gilt sowohl für den von Heredia genannten privaten Sektor, und hier vor allem Profamilia, als auch für die Programme des kolumbianischen Gesundheitsministeriums. Judith Seltzer und Fernando Gómez kalkulierten 1998, dass USAID zwischen 1966 und 1996 insgesamt knapp 50 Millionen für Familienplanungsund Bevölkerungsprogramme in Kolumbien ausgegeben hatte und davon 41 Millionen an Profamilia geflossen waren. Die Programme des Gesundheitsministeriums wurden ab den frühen 1970er Jahren vor allem vom United Nations Population Fund gefördert. Vgl. Seltzer; Gómez, Family Planning and Population Programs, 1998. 89 | Alvaro López Toro war 1959 der erste Kolumbianer, der ein Stipendium des Population Council erhielt. So finanzierte die Organisation seine Postgraduiertenfortbildung am Office of Population Research in Princeton, wo er im Anschluss bei Ansley Coale promovierte.

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feller  III im Juni 1963 an der Princeton University zurück, das im Rahmen der Verleihung der Ehrendoktorwürde der Universität an Lleras Camargo stattfand. Der liberale Politiker und Journalist hatte von 1958 bis 1962 als erster Präsident des Frente Nacional fungiert. Schon während seiner Präsidentschaft hatte er mehrfach seine Sorge vor den Auswirkungen des Bevölkerungswachstums in Kolumbien und Lateinamerika zum Ausdruck gebracht und wurde in den folgenden Jahren zum prominentesten kolumbianischen Befürworter von Familienplanungsprogrammen und Verfechter der Notwendigkeit, das Bevölkerungswachstum des Landes zu senken.90 Auf das Treffen in Princeton folgte ein Briefwechsel zwischen dem Ex-Präsidenten und dem Gründer des Population Council, aus dem hervorgeht, dass sie sich dort über die Gründung eines Zentrums für Demografie in Kolumbien unterhalten hatten und dass sowohl die Universidad de los Andes als auch die staatliche Universidad del Valle aus Cali als Trägerinstitution im Raum gestanden hatten. Lleras Camargo sprach sich ganz klar für die private Universität in Bogotá aus, an deren Gründung er 1948 mitgewirkt und die er von Ende 1954 bis Ende 1955 als Rektor geleitet hatte. Mit dem gegenwärtigen Rektor, Ramón 90 | Ana María Medina Chávez schreibt, dass Lleras Camargo bereits 1961 eine Rede hielt, die ›Überbevölkerung‹ mit Revolution und Krieg verknüpfte. Vgl. Medina Chávez, Los discursos sobre la planificación familiar, 2008, S. 70. Sichtbarer ist sein Engagement für das Thema Bevölkerungskontrolle ab 1963, als er begann, eine wöchentliche Kolumne in der Zeitschrift Visión zu schreiben, in der er das Thema in den folgenden Jahren wiederholt behandelte. Siehe u. a. Lleras Camargo, Alberto: »El problema demográfico: otro tabú«, in: Visión, 29.05.1964, S. 9; Lleras Camargo, Alberto: »La bomba de tiempo«, in: Visión, 04.02.1966, S. 19. Hinsichtlich der öffentlichen Wirkung können seine Reden zu Bevölkerung auf der Primera Asamble Panamericana de Población in Cali 1965 sowie vor einem Ausschuss des US-amerikanischen Senats im gleichen Jahr als Höhepunkte gewertet werden. Vgl. Lleras Camargo, Alberto: »Palabras del Señor Alberto Lleras en la Primera Asamblea Panamericana de Población, Cali. Agosto 11, 1965 – Hora: 6p.m.«, 11.08.1965, auf: http://www.banrepcultural.org/blaavirtual/exhibicio nes/lleras/pdf/carpeta-45/documento-611.pdf (21.06.2017); »Dr. Alberto Lleras Camargo, former president of Colombia and president of the editorial board of the Latin American magazines of Visión and Progreso«, in: United States Senate (Hg.): Population Crisis. Hearings before the Subcommittee on Foreign Aid Expenditures of the Committee on Government Operations. 89th Congress. First Session on S. 1676 – a Bill to Reorganize the Department of State and the Department of Health, Education, and Welfare. Part 2A, Washington, D.C.: U.S. Government Printing Office 1966, S. 701–713. Zu Lleras Camargos’ Auftritt vor dem US-amerikanischen Senat siehe Dörnemann, Maria; Huhle, Teresa: »Population Problems in Modernization and Development: Positions and Practices«, in: The Population Knowledge Network, Twentieth Century Population Thinking, 2016, S. 142–171, hier: S. 156f.

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de Zubiría, den er John D. Rocke­feller  III im September 1963 als brillanten Johns-Hopkins-Absolventen anpries, habe er über die Gründung eines solchen Programms gesprochen und dieser sei begeistert. Zudem unterrichte der in Princeton ausgebildete Demograf Alvaro López Toro derzeit an der wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät und werde sicherlich als Berater und eventuell als Direktor zur Verfügung stehen.91 Gegenüber der Universidad del Valle sahen sich die Entscheidungsträger der Universidad de los Andes in einer Konkurrenzsituation um die Förderung des Population Council.92 Nach dem ersten Besuch in Kolumbien von J. Mayone Stycos als Berater des Population Council im April 1964 war die Situation jedoch eine andere. Jetzt betrieb die Organisation eine Politik der Arbeitsteilung, in der eine Förderung beider Universitäten vorgesehen war, diese jedoch in ihrer Bevölkerungsforschung unterschiedliche Schwerpunkte setzen sollten. Das Memorandum, in dem J. Mayone Stycos im Juni 1964 diese Aufteilung festhielt, ist in vielerlei Hinsicht bemerkenswert.93 Adressiert an Hernando Groot, den Vize-Rektor der Universidad de los Andes, fasste Stycos darin den Stand der Verhandlungen über die Gründung eines Zentrums für Bevölkerungsforschung zusammen, die auf seinem Treffen mit der Fakultäts- und Universitätsleitung bei seiner Kolumbienreise im Auftrag des Council zwei Monate zuvor beruhten. Darüber hinaus enthält das Dokument eine Übersicht der Aktivitäten im Bereich Bevölkerung an anderen Universitäten und Institutionen Kolumbiens und endet mit einer Reihe von Fragen an die Universidad de los Andes, auf die der Population Council eine Antwort wolle, bevor er weiter mit der Universität verhandele. Das Schriftstück ist ein Paradebeispiel für imperialistisches Auftreten seitens der US-amerikanischen Geldgeber. So formulierte Stycos sehr deutlich, wie der Population Council sich die Struktur und den Inhalt des Bevölkerungsprogramms am Centro de Estudios sobre

91 | John D. Rocke­f eller 3rd an Alberto Lleras Camargo, New York, 21.06.1963: RAC, PC, Acc. 1, 4.3a Population Council Grant File – Regular, Box 60 – Folder 992 – D64.85 U. of Los Andes, Colombia: Salary Expenditures for Demographic Program; Alberto Lleras Camargo an John D. Rocke­f eller 3rd, Bogotá, 04.09.1963: RAC, PC, Acc. 1, 4.3a Population Council Grant File – Regular, Box 60 – Folder 992 – D64.85 U. of Los Andes, Colombia: Salary Expenditures for Demographic Program. Zu den Verbindungen zwischen Alberto Lleras Camargo und der Universidad de los Andes siehe Pinzón de Lewin, Patricia: »Alberto Lleras y los Andes. Una educación para la generación líder del progreso«, in: Angulo Galvis, Carlos; Caballero Argáez, Carlos (Hg.): Alberto Lleras Camargo y la Universidad de los Andes, Bogotá: Ed. Uniandes 2007, S. 131–221. 92 | Vgl. Fajardo Hernández, El tránsito suave, 2008, S. 13f. 93 | J. Mayone Stycos an Hernando Groot. Re: A Population Studies Center at the University of the Andes, 05.06.1964: RAC, FF, Log Book Nr. 64-926.

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Desarrollo Económico (CEDE) vorstellte und entwarf gleichzeitig eine Art Masterplan für Bevölkerungsforschung in ganz Kolumbien. Die Pläne an der Universität selbst wurden in den folgenden Jahren so umgesetzt, wie sie in dem Schreiben formuliert worden waren. In einer ersten Förderungsphase von drei Jahren sollte die Universität über ein Komitee, dem auch externe Mitglieder angehörten, exzellente Absolventen und Absolventinnen der Ökonomie und Soziologie aus ganz Kolumbien für ein Stipendium des Population Council vorschlagen. Diese Stipendiaten und Stipendiatinnen sollten für ein oder zwei Jahre ein Postgraduiertenprogramm der Demografie an einer US-amerikanischen Universität absolvieren und nach ihrer Rückkehr Forschung und Lehre zu Bevölkerung am CEDE betreiben. Damit sollte dann die zweite Förderungsphase, d. h. der eigentliche Auf bau des Demografieprogramms, beginnen, wobei kein unabhängiges Zentrum, sondern eine Struktur innerhalb des Instituts für Entwicklungsökonomie CEDE angestrebt wurde. In der Ausbildungsphase der Stipendiaten und Stipendiatinnen sollte ein Gastwissenschaftler deren Forschungsprojekte vorbereiten. Da es bereits andere Institutionen gebe, die sich darum kümmerten, die Existenz eines Bevölkerungsproblems in Kolumbien bekannt zu machen, und wiederum andere, die den angewandten medizinischen Bereich abdeckten, sollte am CEDE in erster Linie zu sozialwissenschaftlichen und ökonomischen Aspekten geforscht werden.94 Auf die schrittweise Entwicklung von Kursen in Demografie, sowohl für den Undergraduate- als auch den Graduate-Bereich, sollte mittelfristig ein eigener Demografie-Schwerpunkt innerhalb des Masters der Wirtschaftswissenschaften folgen. In den Fragen an die Universität klopfte Stycos ab, welche Priorität diese an Ressourcen arme und an Plänen reiche Universität dem Auf94 | Auch wenn aus dem Dokument ein recht selbstherrliches Auftreten des Population Council spricht, darf das nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Arbeitsteilung auch den Interessen der kolumbianischen Universitäten entsprach. María Margarita Fajardo, deren historische Analyse des Demografieprogramms am CEDE ausschließlich auf kolumbianischen Quellen aufbaut, hat die These aufgestellt, wonach es in der Konkurrenz um Fördergelder ein Nachteil des CEDE gewesen sei, dass dort reine Forschung betrieben wurde und kein direkter Zusammenhang zu Familienplanungsprogramm bestand, an deren Finanzierung der Population Council in erster Linie interessiert gewesen sei. Dass das CEDE trotz dieses Nachteils gefördert wurde, schreibt sie den Kontakten von Alberto Lleras Camargo und Alvaro López Toro zu. Vgl. Fajardo Hernández, El tránsito suave, 2008. Dem muss widersprochen werden. Auch wenn diese Kontakte zweifels­ ohne wichtig waren, so bestand doch seitens des Population Council vor allem in den frühen 1960er Jahren, wie das Memorandum und weitere Quellen zeigen, ein großes Interesse daran, auch ›reine‹ demografische Forschung zu fördern. Der Auswertung des Zensus, die am CEDE durchgeführt wurde, maß der Population Council höchste Bedeutung zu.

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bau der Demografie einräumen würde, wie sehr sie sich für die Rekrutierung von Studierenden engagieren würde und in welchem Maße sie bereit war, den Stipendiaten und Stipendiatinnen nach ihrer Rückkehr eine Anstellung zu garantieren. Der Erfolg des Programms stehe und falle mit der Qualität der Studierenden. In Stycos’ Worten: »What level of student would be encouraged to pursue post-graduate study in demography as opposed to other disciplines – the very best, the very good, the above average?«95 In den nächsten zwei Monaten legte Hernando Groot zwei Antragsentwürfe vor, die jeweils von Stycos und weiteren Mitarbeitern des Population Council gegengelesen und korrigiert wurden, bevor dann der Aufsichtsrat der Universität den Antrag verabschiedete und er Anfang September formal an den Population Council gestellt wurde.96 Das darin geschilderte Programm entsprach eins zu eins Stycos’ Vorschlägen, und auch in der Begründung des Antrags wurde sehr direkt Bezug auf die Punkte genommen, die er genannt hatte. So wurde die Notwendigkeit, demografische Forschung und Ausbildung in Kolumbien zu etablieren, in beiden Dokumenten mit einer Aussage John Graumans belegt. Der zu dem Zeitpunkt an der Wirtschaftskommission für Lateinamerika und die Karibik CEPAL beschäftigte Demograf sei 1960 nach Kolumbien gereist und habe dem Land ein Defizit in der ökonomischen und soziologischen Forschung attestiert. López Toro wiederum, auch dieser Hinweis findet sich in beiden Dokumenten, habe errechnet, dass es in Regierungsbehörden mindestens Bedarf für zwanzig Demografen gebe. Als Konkurrent tauchte zu diesem Zeitpunkt nicht mehr die Universidad del Valle, sondern die Universidad Nacional auf. So war in Stycos’ Memorandum vermerkt gewesen, dass die Fakultät für Soziologie an der Universidad Nacional ebenfalls sehr stark aufgestellt sei und für die Errichtung eines demografischen Instituts infrage komme. Allerdings stelle es ein hohes Risiko dar, einen so umstrittenen Forschungsbereich an einer Institution zu etablieren, die bereits für ihre

95 | J. Mayone Stycos an Hernando Groot, 05.06.1964, RAC. 96 | Vgl. J.  Mayone Stycos an Hernando Groot, New York, 23.07.1964: RAC, PC, Acc. 1, 4.3a Population Council Grant File – Regular, Box 60 – Folder 992 – D64.85 U. of Los Andes, Colombia: Salary Expenditures for Demographic Program; Francisco Ortega an J.  Mayone Stycos, Bogotá, 10.08.1964: RAC, PC, Acc. 1, 4.3a Population Council Grant File – Regular, Box 60 – Folder 992 – D64.85 U. of Los Andes, Colombia: Salary Expenditures for Demographic Program; J.  Mayone Stycos an Francisco Ortega, San Salvador, 17.08.1964: RAC, PC, Acc. 1, 4.3a Population Council Grant File – Regular, Box 60 – Folder 992 – D64.85 U. of Los Andes, Colombia: Salary Expenditures for Demographic Program; Ramón de Zubiría an Frank Notestein, Bogotá, 11.09.1964: RAC, FF, Log Book Nr. 64-926.

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»Radikalität« und ihren sozialreformerischen Ansatz unter Druck stehe.97 In dem Antrag der Universidad de los Andes wurde kein direkter Bezug auf die Konkurrenz mit der Universidad Nacional genommen, jedoch betont, dass für die private Universität spreche, dass sie frei von politischem Einfluss sei, dort Stabilität herrsche und das Verhältnis zwischen Studierenden und Lehrenden sehr gut sei. Die Charakterisierung der Universität und des CEDE, in die diese Aussagen eingebettet waren, bildete den Schwerpunkt des Antrags. Neben einer Schilderung der universitären Strukturen wurde auch die ideelle Ausrichtung betont. An der Universität werde eine liberale Erziehung angestrebt, um verantwortungsvolle Bürger zu bilden. Die Fakultät für Ökonomie und die darin neu errichtete Graduiertenschule genössen innerhalb der Universität höchste Priorität. Die speziellen Vorteile des CEDE wiederum bestünden im Personal und der Ausstattung. So gebe es dort zweisprachige Sekretärinnen, festangestellte Interviewer und Interviewerinnen sowie eigenes Personal für die Datenauswertung. Zudem verfüge das CEDE über eine große Bibliothek, die bereits die Demografiebestände des Population Council beinhalte. Auch Forschung zu demografischen Themen sei bereits getätigt worden.98 In der Tat wurde am CEDE auch schon vor der Förderung durch den Population Council zu Themen geforscht, die Fragen von Bevölkerungsentwicklung und -zusammensetzung betrafen. So war in den ersten Jahren vor allem zu ländlicher Ökonomie, regionaler und urbaner Entwicklung sowie zu Arbeit und Arbeitskräften geforscht worden.99 Mit Lilia Cuervo, die am Centro Latinoamericano y Caribeño de Demografía (CELADE) in Santiago de Chile ausgebildet worden war, stellte das CEDE bereits vor dem Kontakt zum Population Council eine Demografin an. Das trug in hohem Maße dazu bei, dass Carmen Miró, die Direktorin von CELADE, Anfang des Jahres 1964 CEDE mit der Durchführung und ersten Auswertung einer Fertilitätsstudie aus Bogotá betraute. Diese Umfrage zu Familienidealen und Verhütungsmitteln entstand im Rahmen einer vergleichenden Studie in sieben lateinamerikanischen Großstädten und war von CELADE in Kooperation mit dem International Population Program (IPP) der Cornell University entwickelt und vom Population Council finanziert worden. J.  Mayone Stycos war an dieser Studie sowohl in seiner Funktion als Leiter des IPP als auch als Berater des Population Council

97 | Stycos setzte den Begriff ›radicalism‹ in Anführungszeichen, was darauf hinweist, dass er die Vorwürfe als ungerechtfertigt betrachtete. Zur Fakultät für Soziologie der Universidad Nacional siehe Kapitel 3.5. 98 | Universidad de los Andes: Program for Demographic Training and Research under the Center of Studies for Economic Development (CEDE), Bogotá, 11.09.1964: RAC, FF, Log Book Nr. 64-926. 99 | Vgl. Fajardo Hernández, El tránsito suave, 2008, S. 22.

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beteiligt. Er arbeitete also schon vor der Gründung des Demografieprogramms mit dem CEDE zusammen.100 Im Dezember 1964 bewilligte der Population Council dann schließlich den skizzierten Antrag und stellte 150.000 US-Dollar bereit, um das Programm aufzubauen.101 1968 kam es zu einer Verlängerung der Förderung über weitere drei Jahre. Diesmal stellte der Population Council 200.000 US-Dollar zur Verfügung, die sowohl in den Ausbau des Ausbildungsprogramms flossen als auch in das Gehalt des Direktors Alvaro López Toro und weiterer Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen. Der Population Council hatte die Gelder wiederum von der US-amerikanischen Entwicklungshilfebehörde USAID eingeworben, die also indirekt für die Förderung verantwortlich war.102 Wie diese Summen einzuschätzen sind, zeigt sich im Vergleich zum Budget der Gesamtuniversität. So ist für 1968/69 berechnet worden, dass die Forschungsgelder für das Demografieprogramm mehr als einem Viertel der Gesamtausgaben für Forschung der Universidad de los Andes entsprachen.103 Auch zur Ford Foundation unterhielt das Demografieprogramm am CEDE enge Kontakte, diese beteiligte sich aber zunächst nicht an dessen grundständiger Finanzierung.104 Die Ökonomen, die am CEDE ab 1968 zu Bevölkerung forschten und lehrten, waren, wie in Stycos’ Skizze geplant, zunächst als Stipendiaten des Population Council zu einer ein- oder zweijährigen weiterführenden Ausbildung an einem population studies center in den USA gewesen. War das Programm in den ersten Jahren unter der Leitung des CEDE-Direktors gestanden, so erfüllte

100 | Für die Studie in Bogotá war ursprünglich die staatliche Statistikbehörde DANE vorgesehen gewesen. Vgl. JMS Diary Notes, Chile, February 16, 1964, Interview with Carmen Miró concerning status of fertility studies, 04.03.1964: Cornell R&M, JMS, Box 1, Folder 42, S. 78–81; Prieto Duran, Rafael; Cuca Tolosa, Roberto: Análisis de la encuesta de fecundidad en Bogotá, Bogotá: CEDE, Univ. de los Andes 1966. 101 | Vgl. Population Council Activities in Latin America January 1964 to January 1967: RAC, PC, Acc. 2, Administration File, Box 37, Folder 263: Berelson PC 1964–1974, Latin America, 1964–1965, S. 11. 102 | Vgl. Clifford A. Pease an James A. Anderson, New York, 21.11.1967: RAC, PC, Acc. 2, Foreign Correspondence Series, Box 8, Andes, Univ. de los 67-68. 103 | Vgl. Fajardo Hernández, El tránsito suave, 2008, S. 18f. 104 | Im Juli 1970 notierte Stycos, dass es seitens der Ford Foundation Überlegungen gebe, sowohl die wirtschaftswissenschaftliche Fakultät im Allgemeinen als auch das Demografieprogramm im Besonderen zu fördern. Vgl. Stycos, J. Mayone: Population Council Office Memorandum. June visit to the University of the Andes, 13.07.1970: RAC, Population Council Records (fortan: PC), Administration File, Box 385 PC AD 73, Folder Stycos, J. Mayone, D&I-AD 70.

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sich 1967 auch die Hoffnung, dass Alvaro López Toro die Position einnehmen würde. Er leitete das Programm von 1967 bis zu seinem Tod im Jahre 1971.105 Ab Mitte der 1960er Jahre herrschte dank dieser finanziellen und personellen Ausstattung eine rege demografische Forschungstätigkeit am CEDE. Zunächst planten die Bevölkerungsforscher und -forscherinnen auch Forschungsprojekte in Kooperation mit anderen Universitäten innerhalb des Dachverbandes ASCOFAME-DEP. So übernahm das CEDE bei dessen Gründung 1964 die Leitung einer Forschungsgruppe zur kolumbianischen Bevölkerungsentwicklung, die Verlaufsstudien zu Geburten-, und Sterberaten und Migration sowie zu weiteren Indikatoren des Zensus wie Bildung, Einkommen und Arbeit koordinieren und anleiten sollte. Die Umsetzung dieser Pläne wurde jedoch durch anhaltende Streitigkeiten mit der Statistikbehörde DANE um den Zugang zu den Daten des Zensus erschwert.106 Den Inhalt der am CEDE selbst durchgeführten Bevölkerungsforschung hat María Margarita Fajardo Hernández als eine »Quantifizierung, Instrumentalisierung und Sichtbarmachung des Bevölkerungsproblems« zusammengefasst.107 So forschten die Demografen und Demografinnen am CEDE zu einer der Kernthesen der Theorie des demografischen Übergangs, wonach starkes und schnelles Bevölkerungswachstum verhindere, dass Wirtschaftswachstum zur Erhöhung des Lebensstandards der breiten Bevölkerung und deren Versorgung mit Bildung, Gesundheit und Wohnraum führte. Im Anschluss an diese Studien, die sich mit den Auswirkungen von Bevölkerungswachstum beschäftigten und somit ›das Bevölkerungsproblem‹ quantifizierten, wurde in den frühen 1970er Jahren zu dessen Ursachen geforscht, womit dann auch ›Fertilität‹ ein Untersuchungsgegenstand der Ökonominnen und Ökonomen wurde.108 Über die Hintergründe des Endes des Demografieprogramms ist wenig bekannt. Mit dem Tod Alvaro López Toros 1971 verlor das Programm sein prominentes Aushängeschild, und im selben Jahr endete die Förderung durch den Population Council. Bis 1973 standen noch Gelder der Ford Foundation zur Verfügung, die 1968 begonnen hatte, das CEDE zu fördern. Insgesamt scheint das Programm an der wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät und auch innerhalb der Studierendenschaft auf kein großes Interesse gestoßen zu sein. Demografie wurde dennoch zu einer Spezialisierung in der Postgraduiertenschu-

105 | Vgl. Fajardo Hernández, El tránsito suave, 2008, S. 16ff. 106 | Vgl. Ortega A., Francisco J.: »Coordinación estudio de los censos, CEDE«, in: ASCOFAME, Boletín del segundo seminario, 1965, S. 77–80. Zu den Konflikten und dem schnellen Ende der Zusammenarbeit zwischen CEDE und ASCOFAME-DEP siehe auch Kapitel 3.2. 107 | Fajardo Hernández, El tránsito suave, 2008, S. 5. 108 | Vgl. ebd., S. 18.

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le der Fakultät für Wirtschaftswissenschaften, und am CEDE wird bis heute demografisch geforscht.109

3.4 »F ather P érez« und das C entro de I nvestigaciones S ociales In kaum einer Beschreibung Kolumbiens durch US-amerikanische Bevölkerungsexperten und -expertinnen fehlt der Verweis darauf, dass es sich bei Kolumbien um ein besonders katholisches Land Lateinamerikas mit einer besonders konservativen katholischen Kirche handele. Umso mehr zeigten sie sich überrascht und begeistert, dass ausgerechnet ein junger Priester und ein von ihm geleitetes katholisches Forschungsinstitut Interesse am ›Bevölkerungsproblem‹ und an demografischer Forschung zeigten. Dieser vermeintliche Widerspruch und die Begeisterung, die das Engagement des jungen Priesters auslöste, fanden selbst in der New York Times ihren Niederschlag. So betonte der renommierte Auslandskorrespondent Herbert Matthews in seinem Kommentar zur Primera Asamble Panamericana de Población, die im August 1965 in Cali stattfand, dass der »hoch angesehene« Priester Gustavo Pérez Ramírez nicht nur an der Konferenz teilgenommen, sondern sogar eines der Hintergrundpapiere verfasst habe. Matthews wertete dies als klares Zeichen eines Stimmungswandels innerhalb der lateinamerikanischen katholischen Kirche.110 Pérez war in Cali nicht nur anwesend und präsentierte dort eine klar positionierte Analyse zu »Katholischer Kirche und Familienplanung in Lateinamerika«,111 er hatte auch an der Vernetzung und Organisation, die dem Kongress vorausging, maßgeblich mitgearbeitet. In den Quellen des Population Council und der Ford Foundation ist »Father Pérez« zwischen 1963 und 1965 eine allgegenwärtige Figur, die zahlreiche Kontakte knüpfte, Forschungsprojekte initiierte und bei allen Vernetzungstreffen anwesend war.112 Der Kontakt mit den Stiftungen scheint auf seine Initiative und seine Suche nach Förderquellen zurückzuführen zu sein. Denn Pérez’ Interesse an Fragen der Demografie im Allgemeinen und Bevölkerungswachs109 | Vgl. ebd., S. 19f. 110 | Matthews, Herbert L.: »Frankness on Birth Control in Latin America«, in: The Times, 23.08.1965. 111 | Pérez Ramirez, Gustavo: »The Catholic Church and Family Planning. Current Perspectives«, in: Stycos; Arias, Population Dilemma in Latin America, 1966, S. 196–213. 112 | Vgl. u. a. Saunders, Lyle: First Meeting of Colombian Demographic Problems, Bogotá, May 22–23, 1964: RAC, FF, Catalogued Reports, Box 201, Report 004514; J. Mayone Stycos an Hernando Groot, 05.06.1964, RAC, S. 3; Zschock, Justification and Preliminary Proposal, Okt. 1964, RAC, S. 6.

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tum und Familienplanung im Besonderen war lange vor den Erkundungsreisen der Bevölkerungsexperten und -expertinnen aus den Vereinigten Staaten geweckt worden. Das zeigt sich unter anderem daran, dass er bereits 1961 gemeinsam mit dem belgischen Priester Juan Luis de Lannoy eine Studie zur demografischen und sozialen Struktur Kolumbiens verfasst hatte. Darin präsentierten die Verfasser eine umfangreiche Bestandsaufnahme jüngster demografischer, statistischer, soziologischer, anthropologischer und geografischer Forschungen der Vereinten Nationen sowie zahlreicher kolumbianischer und einiger US-amerikanischer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler. Zwar hatte die Studie insgesamt mehr deskriptive als analytische Anteile, die beiden Autoren setzten jedoch deutliche inhaltliche Schwerpunkte, nahmen zu zahlreichen Statistiken und deren Interpretation Stellung und formulierten auch klare Handlungsaufforderungen an die katholische Kirche. Als prägendstes Merkmal der kolumbianischen Gesellschaft ihrer Gegenwart identifizierten sie die zunehmende Urbanisierung und das größte »Entwicklungshindernis« Kolumbiens stellte für sie die Gleichzeitigkeit von Urbanisierung und unzureichender Industrialisierung dar. Als zentrales demografisches Merkmal bezeichneten sie die »Bevölkerungsexplosion«. Trotz dieser Wortwahl beschrieben sie das Wachstum der kolumbianischen Bevölkerung nicht in alarmistischen Tönen, sondern als eine Herausforderung, die sowohl positive als auch negative Aspekte nach sich ziehe. Die Aufgabe der Kirche angesichts der steigenden Geburtenraten bestehe darin, die katholische Dok­ trin zum Thema Geburtenregulierung zu lehren. Denn die Geburtenkontrolle gehöre zu den zentralen Problemen, die zur Entfernung der Gläubigen von der Kirche führten. Hier gelte es seitens der Kirche, moralische Probleme zu vermeiden und zu begreifen, dass Kinder in einer urbanen Gesellschaft eine Last darstellten. Insgesamt lassen sich die zahlreichen Ratschläge zur Modernisierung der katholischen Kirche zum einen als eine Anpassung an sich wandelnde Strukturen und zum anderen als aktive Mitwirkung an der Lösung der Entwicklungsprobleme zusammenfassen. So forderten Lannoy und Pérez die kolumbianische katholische Kirche beispielsweise dazu auf, über internationale katholische Organisationen die Immigration von »Eliten« aus Nordamerika und Europa in die Wege zu leiten.113 Die Monografie der beiden Priester war Teil eines umfangreichen religionssoziologischen Forschungsprojektes zu den Auswirkungen des gesellschaftli113 | Lannoy, Jean Louis; Pérez Ramirez, Gustavo: Estructuras demográficas y sociales de Colombia, Freiburg im Üchterland; Bogotá: FERES; CIS 1961. Im Vorwort wird die Studie als Gruppenarbeit der Forscherinnen und Forscher am Centro de Investigaciones Sociales (CIS) bezeichnet. Neben den beiden Autoren wird die kolumbianische An­t hro­ po­login Virginia Gutiérrez de Piñeda als dritte maßgeblich an der Forschung beteiligte Person genannt.

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chen Wandels auf die katholische Kirche in Lateinamerika, welches von 1958 bis 1962 durchgeführt worden war und dessen Ergebnisse zwischen 1961 und 1965 in 42 Bänden veröffentlicht wurden. Knapp die Hälfte der Bände beschäftigte sich mit den Strukturen der Kirche in einzelnen lateinamerikanischen Ländern, die restlichen Studien umfassten weltliche Themen, wobei die Bandbreite von Demografie und Familie bis hin zu Bildung, Gewerkschaften und Urbanisierung reichte.114 Sieben der Bände befassten sich mit Kolumbien.115 Initiiert worden war das umfangreiche Projekt, das als Grundlage zukünftiger Reformen innerhalb der Kirche dienen sollte, von dem belgischen Priester und Soziologen François Houtart. Er verfasste auch eine Synthese der Studien, die explizit als Hintergrundlektüre für das Zweite Vatikanische Konzil konzipiert war, das im Oktober 1962 seine Arbeit aufnahm.116 Houtart hatte nach seinem Studium an der Katholischen Universität in Löwen, Belgien sowie in Indiana und Chicago 1956 ein religionssoziologisches Institut in Brüssel gegründet. Dieses war Teil des Dachverbandes FERES (Fédération Internationale des Instituts de Recherches Sociales et Socio-Religieuses), der in den 1940er Jahren gegründet worden war, jedoch erst Anfang der 1950er Jahre mit Publikationen sichtbar nach außen trat. Das Forschungsprojekt zu Lateinamerika wurde von FERES organisiert und von der Homeland Foundation, einer katholischen philanthropischen Stiftung aus den USA, finanziert. Diese Verbindung hatte der US-amerikanische Bischof Luigi Ligutti, den Houtart aus seiner Studienzeit in den USA kannte, hergestellt. Das Projekt hatte in Rom wenig Unterstützung erwirkt, doch in Ligutti, dem ständigen

114 | Zum Themenkomplex Bevölkerung und Demografie gab es neben dem Band von Lannoy und Pérez noch einen übergreifenden Band von Fredéric Debuyst. Siehe: Debuyst, Federico: La población en América Latina. Demografía y evolución del empleo, Bogotá; Freiburg im Üchtland: CIS; FERES 1961. 115 | Lannoy; Pérez Ramírez, Estructuras demográficas y sociales, 1961; Torres, Camilo; Corredor, Berta: Las escuelas radiofónicas de Sutatenza, Colombia. Evaluación sociológica de los resultados, Freiburg im Üchtland; Bogotá: FERES 1961; Pérez Ramirez, Gustavo; Wust, Isaac: La Iglesia en Colombia. Estructuras Eclesiásticas, Freiburg im Üchtland; Bogotá: FERES; CIS 1961; Pérez Ramirez, Gustavo: El campesinado colombiano, Freiburg im Üchtland; Bogotá: FERES; CIS 1962; Pérez Ramirez, Gustavo: El problema sacerdotal en Colombia, Freiburg im Üchtland; Bogotá: FERES; CIS 1962; Gutiérrez de Piñeda, Virginia: La familia en Colombia. Estudio antropológico, Freiburg im Üchtland; Bogotá: FERES; CIS 1962; Bernal Escobar, Alejandro et al.: La educación en Colombia, Löwen; Bogotá: FERES; CIS 1965. 116 | Houtart, François: La Iglesia latinoamericana en la hora del Concilio, Freiburg im Üchtland: FERES 1962.

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Vertreter des Vatikans vor der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO), fand es einen prominenten Fürsprecher.117 Die Durchführung der Studien lag bei den lateinamerikanischen Mit­ glieds­insti­tuten des Dachverbands FERES. Deren Gründung wird ebenfalls auf Houtarts Initiative zurückgeführt. Er reiste 1958 durch Lateinamerika, um bei reformorientierten Bischöfen Unterstützung für die Forschungsreihe und die Gründung religionssoziologischer Institute zu suchen. Die Unternehmung war erfolgreich: Bis 1960 waren diese in Brasilien, Chile, Kolumbien, Mexiko, Argentinien und Venezuela gegründet worden.118 Die Leiter und Mitarbeiter der Zentren kannten sich zum Großteil aus ihrer gemeinsamen Studienzeit in Löwen. Dort hatten in den 1950er Jahren zahlreiche lateinamerikanische Weltpriester Soziologie studiert, so auch die Kolumbianer Gustavo Pérez und Camilo Torres. Die beiden Freunde waren von Houtart angeworben worden, als dieser 1954 erstmals Lateinamerika bereist hatte. In Löwen gründeten Pérez und Torres einen Diskussionskreis kolumbianischer Studierender (Equipo Colombiano de Investigaciones Socio-Económicas, ECISE) und reisten zur Gründung ebensolcher Kreise durch ganz Europa.119 Auf die Jahre in Europa geht auch Pérez’ Interesse an Bevölkerungsforschung zurück. So beschäftigte er sich in seiner Abschlussarbeit mit Populationsgenetik und absolvierte in diesem Zusammenhang einen Studienaufenthalt bei dem Demografen Leon Tabah am Institut national d’études démographiques (INED) in Paris.120 1959 waren es dann Pérez und Torres, die, zurück in Bogotá, das kolumbianische FERES-Institut Centro de Investigaciones Sociales (CIS) gründeten. Pérez leitete das Institut bis zu dessen Auflösung 1971.121 Torres arbeitete zwar an der großen Studienreihe mit, war jedoch gleichzeitig am Auf bau der Fakultät für 117 | Vgl. Moews, Andrea-Isa: Eliten für Lateinamerika. Lateinamerikanische Studenten an der Katholischen Universität Löwen in den 1950er und 1960er Jahren, Köln; Weimar; Wien: Böhlau 2002, S. 198–201. 118 | Im Verlauf der 1960er Jahre wurden auch noch Institute in Paraguay, Ecuador, Panama, El Salvador und Peru gegründet. Vgl. ebd., S. 99. 119 | Die ab den 1950er Jahren an der katholischen Universität und dem Priesterseminar in Löwen entstandenen Netzwerke reformorientierter lateinamerikanischer Priester sind Gegenstand der umfassenden Monographie Moews’, wobei ihr Schwerpunkt auf den chilenischen und brasilianischen Studierenden liegt, die in späteren Jahren zu berühmten Befreiungstheologen wurden. 120 | Pérez Ramirez, Gustavo: »L’éclatement d’un isolat agricole en Brabant Wallon«, in: Bulletin de l’Institut de Recherches Economiques et Sociales, 23, 8, 1957, S. 617–641. 121 | In zahlreichen Quellen taucht als Gründungsjahr 1958 auf, Gustavo Pérez gab jedoch 1960 den 13. März 1959 als Datum an, an dem Kardinal Luque das CIS gründete. Vgl. Pérez Ramirez, Gustavo: »Investigación Socio-Religiosa en Colombia«, in: Revista Javeriana, 54, 267, 1960, S. 493–499, hier: S. 493.

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Soziologie an der Universidad Nacional beteiligt und kooperierte bis zu seinem Tod 1966 kaum noch mit Pérez. Das Interesse von Gustavo Pérez an Fragen von Bevölkerungswachstum und Familienplanung hatte also andere Hintergründe als das von Institutionen wie dem Population Council oder der Ford Foundation und von Wissenschaftlern wie J.  Mayone Stycos. Die lovainistas, wie Pérez und die anderen Lateinamerikaner, die in Löwen studiert hatten, genannt wurden, gehörten zu den katholischen Kreisen, die sich in den 1950er und 1960er Jahren für Reformen innerhalb der katholischen Kirche sowie eine stärkere Hinwendung dieser zu Themen von sozialer Gerechtigkeit und Entwicklung einsetzten. Die Priester und Laien, die in den religionssoziologischen Instituten des Dachverbandes FERES eingebunden waren, glaubten, diese Ziele durch die Einbettung empirischer sozialwissenschaftlicher Forschung in die Kirchenstrukturen erreichen zu können. In Rom waren sie mit denjenigen verbunden, die das Zweite Vatikanische Konzil angestoßen hatten, in Lateinamerika waren sie eng mit dem 1955 gegründeten Lateinamerikanischen Bischofsrat CELAM vernetzt, in dem bis in die frühen 1970er Jahre die reformorientierten lateinamerikanischen Bischöfe dominierten. Diese institutionelle Entfernung zur US-amerikanischen Bevölkerungsforschung spiegelt sich auch in den Schriften zu Bevölkerung aus der FERES-Reihe wider. So zitieren weder Gustavo Pérez und Jean Louis Lannoy noch Federico Debuyst aus der Princeton-Literatur zur Theorie des demografischen Übergangs, der Begriff des Übergangs taucht in ihren Monografien zur Bevölkerung Kolumbiens und Lateinamerikas gar nicht auf.122 Wann genau Pérez und die US-amerikanischen Akteure, die sich der Bekämpfung des ›Bevölkerungsproblems‹ verschrieben hatten, erstmals auf­ei­ nan­dertrafen, ist schwer zu sagen. Die erste Erwähnung in den Quellen des Population Council ist ein zu Beginn dieses Kapitels zitierter Bericht von Stycos vom 3. Juli 1963, der darin auf einen Brief verweist, den Gustavo Pérez am 5. Mai an Dudley Kirk geschickt habe. Pérez hatte sich mit der Frage, wie es möglich sei, eine »Bevölkerungsbibliothek« des Population Council zu erhalten, an Kirk als Leiter der Abteilung für Demografie gewandt.123 In den ersten Jahren des 1959 gegründeten CIS lassen sich lediglich Verbindungen 122 | Lannoy; Pérez Ramírez, Estructuras demográficas y sociales, 1961; Debuyst, La población en América Latina, 1961. 123 | Stycos, J. Mayone: Colombia, 03.07.1963: Cornell R&M, JMS, Box 10, Folder 39. Aus einem Bericht von Stycos, den er ein knappes Jahr später verfasste, geht hervor, dass Pérez’ Bibliothek inzwischen »PC books« erhalten hatte: JMS Diary Notes, Colombia, April 14, 1964, Interview with Father Gustavo Pérez, Director of the Centro de Investigaciones Sociales, 15.08.1964: Cornell R&M, JMS, Box 10, Folder 41, S. 161–164, hier: S. 163.

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zur Rocke­feller Foundation nachweisen. So hatte der Politikwissenschaftler Kenneth W. Thompson, der zu dem Zeitpunkt die sozialwissenschaftliche Abteilung der Rocke­feller Foundation leitete, Anfang August erstmals das CIS besucht. Er äußerte sich wenige Wochen später in seinem Arbeitstagebuch sehr positiv über drei Kolumbianer, denen er auf dem Jahreskongress der American Sociological Association begegnet war. Neben den »sehr beeindruckenden« Priestern Gustavo Pérez und Camilo Torres gehörte noch der Soziologe Orlando Fals Borda dazu, der die Fakultät für Soziologie an der Universidad Nacional leitete. In sein Arbeitstagebuch schrieb Thompson, Pérez mache einen ungewöhnlich guten Eindruck und nähere sich soziologischen Problemen sehr gründlich und systematisch. Allein die Frage, wie objektiv er seine Forschung betreibe, sei offen. Ein Rocke­feller-Mitarbeiter, so empfahl Thompson, solle das Zentrum noch einmal besuchen.124 Doch in den folgenden Monaten brach der Kontakt zu Pérez ab und die Förderung der Rocke­feller Foundation beschränkte sich im Bereich Soziologie auf die Fakultät an der Universidad Nacional. Mit Camilo Torres und der Anthropologin und Soziologin Virginia Gutiérrez de Piñeda gab es jedoch mindestens zwei direkte personelle Überschneidungen zwischen den Institutionen, und es ist sehr wahrscheinlich, dass diese eng miteinander kooperierten.125 Im Fall der Ford Foundation ist davon auszugehen, dass deren Mitarbeiter Gustavo Pérez und sein religionssoziologisches Forschungszentrum auch spätestens seit 1960 kannten, als sie begannen die Fakultät für Soziologie an der Universidad Nacional zu finanzieren. Als Stycos im April 1964 erstmals nach Kolumbien reiste und ausführlich mit Pérez sprach, konnte er voller Freude berichten, dass Demografie eines der vier Schwerpunktthemen am CIS darstelle. Dabei werde Demografie von den Forscherinnen und Forschern des Instituts sowohl zur strukturellen Beschreibung der Gesellschaft herangezogen als auch als soziales Problem begriffen.126 Knapp zwei Jahre später wusste Stycos jedoch zu berichten, dass Pérez sich aus den ›Bevölkerungsaktivitäten‹ zurückziehe und sich jetzt ganz der Religionssoziologie zuwende. Pérez habe verneint, dass diesem Richtungswechsel Druck vonseiten der Kirche vorangegangen wäre und habe stattdes124 | Thompson, Kenneth Winfred: Father Linus Grond – Secretary General of F.E.R.E.S., 30.09.1960: RAC, RF, 1.2 Projects, Series 331.S Colombia, B85, F692; Thompson, Kenneth Winfred: Father Gustavo Perez, Social Research Center, Bogotá, 31.08.1960: RAC, RF, 1.2 Projects, Series 331.S Colombia, B85, F692. 125 | Darauf deutet z. B. die Mitgliederliste des 1962 gegründeten kolumbianischen Soziologieverbandes hin, in dem die Mitglieder beider Institutionen vertreten waren. Vgl. Asociación Colombiana de Sociología (Hg.): Memoria del Primer Congreso Nacional de Sociología, Bogotá: Ed. Iqueima 1963, 258ff. Zu Virginia Gutiérrez de Piñedas’ Forschung siehe Kapitel 5.3. 126 | JMS Diary Notes, Colombia, April 14, 1964, 15.08.1964, Cornell R&M.

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sen erklärt, dass seine neue Position als Leiter der Lateinamerikaabteilung von FERES einen breiteren Zugriff auf religiöse Fragen erforderlich mache.127 Angesichts der Forschungsschwerpunkte von Pérez und seines Instituts vor und nach 1965 ist Stycos’ Einschätzung verwunderlich: Weder setzte dort die umfangreiche religionssoziologische Forschung erst 1965 ein, noch markiert dieses Datum eine Abwendung von demografischen Fragestellungen.128 Klar ist hingegen, dass Pérez sich aus den beiden Dachverbänden, d. h. sowohl aus der Abteilung für Bevölkerungsforschung des Verbandes medizinischer Fakultäten Kolumbiens (ASCOFAME-DEP) als auch aus der Asociación Colombiana para el Estudio Científico de la Población zurückzog, an deren Gründung er aktiv beteiligt gewesen war, und dass der Kontakt zu Organisationen wie dem Population Council stark abnahm. Die Aktivitäten des CIS im Bereich Bevölkerung und Demografie um­fass­ ten Maßnahmen zur Verbesserung der staatlichen und kirchlichen Bevölkerungsstatistiken, Öffentlichkeits- und Medienarbeit sowie eigene Forschung. Das statistische Engagement zeigt sich beispielsweise in der Erneuerung der Technik für den Zensus auf Gemeindeebene, zu der es dank der Initiative von Pérez’ Institut schon 1960 kam.129 1964 war es dann Pérez, der im Auftrag von ASCOFAME-DEP an Kardinal Concha, den Vorsitzenden der kolumbianischen Bischofskonferenz, mit der Bitte herantrat, dieser möge das System zur Geburtenregistrierung reformieren sowie die Gläubigen dazu auffordern, sich nicht nur kirchlich, sondern auch zivil zu registrieren.130 Für die médicos demógrafos, die zu Bevölkerungswachstum und Fertilität forschen wollten, stellte die bereits geschilderte Unzuverlässigkeit dieser Daten ein großes Problem dar. Der Bereich Öffentlichkeit und Medien war 1964 gestärkt worden, als Pérez 127 | JMS Diary Notes, Bogotá, Colombia, December 15–20, Cornell R&M. Die Latein­ amerikaabteilung von FERES war 1964 auf Bestreben Houtarts in enger Zusammenarbeit mit dem Bischofsrat CELAM gegründet worden. Vgl. Moews, Eliten für Lateinamerika, 2002, S. 209. 128 | Zu religionssoziologischer Forschung in Kolumbien siehe Arboleda Mora, Carlos: La Religión en Colombia, Medellín: Ed. Universidad Pontificia Bolivariana 2010, S. 11f. Zur religionssoziologischen Forschung am CIS in den frühen 1960er Jahren siehe u. a. Pérez Ramirez, Investigación Socio-Religiosa en Colombia, 1960; Pérez Ramirez, El problema sacerdotal en Colombia, 1962. 129 | Vgl. Pérez Ramirez, Investigación Socio-Religiosa en Colombia, 1960, S. 495f. 130 | Vgl. JMS Diary Notes. Extracts from the minutes of the ›First meeting on Colombian Population Problems‹, Bogotá, May 22 and 23, 1964, 30.06.1964: Cornell R&M, JMS, Box 10, Folder 40, S. 210. Die zivile Geburtenregistrierung wurde in Kolumbien 1938 gesetzlich verankert, jedoch in der Praxis auch in den 1960er Jahren nur bedingt umgesetzt. Vgl. Camisa, Zulma C.: »Assessment of Registration and Census Data on Fertility«, in: The Milbank Memorial Fund Quarterly, 46, 3/2, 1968, S. 17–38.

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das CIS der neuen Dachorganisation ICODES unterordnete. Die sozio-religiöse Forschung des CIS wurde neben drei anderen Instituten weitergeführt, von denen zwei berufsausbildenden Charakter hatten und eines, das Instituto de Sistemas Audiovisuales, in erster Linie Dokumentarfilme produzierte.131 Einer dieser Filme war der 1967 fertig gestellte »El Mar Humano«, den der Population Council finanzierte sowie beratend und technisch unterstützte.132 Sollte der Film bei seiner Konzeption im Frühjahr 1964 zunächst nur die ›Bevölkerungsprobleme‹ Kolumbiens umfassen, so war das Konzept schnell zu einem Film über ganz Lateinamerika ausgeweitet worden.133 Im Juli 1968 konnte Pérez berichten, dass sich der Film sehr gut verkaufe.134 Neben dem Filmprojekt gab es im Bereich Öffentlichkeit 1964 am CIS auch Planungen für ein dreimonatiges Seminar zum Thema Bevölkerung sowie für die Abfassung eines Demografielehrbuchs in Zusammenarbeit mit drei Universitäten und einem jesuitischen Forschungsinstitut.135 Zu einer Umsetzung dieser Pläne lassen sich in den Quellen keine Hinweise finden, vermutlich kam es nicht dazu. Auch im Bereich der Forschung tauchen in den Quellen einige widersprüchliche und unklare Angaben auf. Klar ist, dass Pérez 1964 gemeinsam mit dem belgischen Demografen Jean Louis de Lannoy ein umfangreiches Forschungsprojekt plante und einen Antrag für dieses bei der Ford Foundation einreichte. Auch USAID stand kurzfristig als Geldgeber für die Studie im Raum.136 Die Ford Foundation lehnte den Antrag ab bzw. riet Pérez dazu, ihn im Rahmen der neu geschaffenen Struktur ASCOFAME-DEP neu einzureichen. Dazu kam es jedoch nicht mehr. Als Grund wurde von J. Mayone Stycos angegeben, dass Lannoy zunächst einen Master an der University of California, Berkeley absolvieren sollte. Aus dem Master wurde ein Doktor, Lannoy orientierte sich thematisch um und damit verlief auch das Projekt im Sande. Inhaltliche Informationen zu der geplanten Studie sind rar, klar ist lediglich, dass sie in Kooperation mit einem Mediziner aus Cali durchgeführt werden 131 | Die ICODES-Struktur wird u. a. in einer Informationsbroschüre von ASCOFAMEDEP erklärt. Siehe ASCOFAME, Boletín Informativo de la División, 1965, S. 65. 132 | Vgl. Gustavo Pérez Ramírez an Dudley Kirk, Bogotá, 24.08.1967: RAC, PC, Acc. 2, Foreign Correspondence Series, Box 10, Folder Instituto Colombiano de Desarrollo Social; Population Council Activities in Latin America 1964–1967, RAC, S. 11. 133 | Vgl. JMS Diary Notes, Colombia, September 10–12, 1964, Interview with Father Gustavo Pérez Ramirez, 18.09.1964: Cornell R&M, JMS, Box 10, Folder 41, S. 268. 134 | Vgl. July 4–11, 1968, Latin America – J. M. Stycos: RAC, PC, Administration File, Box 385 PC AD 73, Folder Stycos, J. Mayone, D&I-AD Diary Notes 66,67,68. 135 | Vgl. Lyle Saunders an Robert S. Wickham, 24.11.1964, RAC, S. 7f. 136 | Vgl. JMS Diary Notes, Chile, April 8, 1964, Interview with Edgar Berman: Cornell R&M, JMS, Box 1, Folder 42, S. 136. In diesem Zusammenhang ist zu erwähnen, dass ein Archiv von ICODES leider nicht erhalten ist.

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und sowohl die Erhebung von Bevölkerungsstatistiken als auch Feldarbeit im Bereich Familienplanung umfassen sollte.137 Ein weiteres Forschungsprojekt, auf das in verschiedenen Briefwechseln über mehrere Jahre verwiesen wurde, war eine Auswertung von Daten zu Bogotá aus der Fertilitätsstudie, die 1963 in sieben lateinamerikanischen Städten durchgeführt worden war. Auch hierfür wurde die Planung 1964 begonnen, auf zahlreiche Entschuldigungen an den Population Council, der diese Studie finanzierte, folgte schließlich im Juli 1968 die Nachricht, dass sie abgeschlossen worden sei. Durchgeführt wurde sie, entgegen der ursprünglichen Planung, von der Soziologin Myriam Ordoñez.138 Zu diesem Zeitpunkt leitete Pérez auch ein neues umfangreiches Forschungsprojekt des religionssoziologischen Dachverbandes FERES, in dem sich sein Interesse an Kirchenstrukturen und dem Wandel innerhalb der Kirche mit seinem Interesse an ›Bevölkerungsproblemen‹ und Familienplanung traf. Das Projekt untersuchte auf Grundlage einer umfassenden Interviewreihe mit katholischen Bischöfen, Priestern und Laien in fünf lateinamerikanischen Ländern die »Antwort der katholischen Kirche […] auf die demografische Krise«.139 Thematisch, das haben diese Ausführungen verdeutlicht, kann von einem 1965 eintretenden Desinteresse an Bevölkerungsthemen seitens des Centro de Investigaciones Sociales (CIS) und seines Leiters Gustavo Pérez also keine Rede sein. Das zeigt sich auch an Pérez’ weiterer Laufbahn. So arbeitete er von 1972 bis 1988 für die Population Division der Vereinten Nationen. Allerdings lässt 137 | Vgl. J. Mayone Stycos an Hernando Groot, 05.06.1964, RAC; JMS Diary Notes, Colombia, September 10–12, 1964, 21.09.1964, Cornell R&M. 138 | Vgl. Lyle Saunders an Robert S. Wickham, 24.11.1964, RAC, S. 7; Myriam Ordoñez an Donald Bogue, Bogotá, 09.02.1967: RAC, PC, Acc. 1, Box 73 – Folder 1383–D65.139 U.N.-CELADE, Chile: Comparative Rural Fertility Surveys in Latin America; Sofía Rojas an J.  Mayone Stycos, Bogotá, 12.12.1967: RAC, PC, Acc. 2, Foreign Correspondence Series, Box 10, Folder Instituto Colombiano de Desarrollo Social; Gustavo Pérez Ramírez an Bernard Berelson, Bogotá, 11.07.1968: RAC, PC, Acc. 2, Foreign Correspondence Series, Box 10, Folder Instituto Colombiano de Desarrollo Social. Veröffentlicht wurden Teilergebnisse der Studie zunächst von ASCOFAME-DEP, eine umfassende Publikation der Ergebnisse gab es dann im Selbstverlag von ICODES. Vgl. Ordóñez G., Miriam: »Relaciones entre movilidad social y actitudes hacia la fecundidad«, in: ASCOFAME-DEP, Planificación Familiar, 1967, S. 80–94; Ordóñez G., Miriam: »Relaciones entre movilidad social y fecundidad en Bogotá«, in: ASCOFAME-DEP, Regulación de la fecundidad Vol. 2, 1968, S. 120–146; Ordóñez G., Miriam: Uso de anticonceptivos por parte de mujeres católicas. Análisis crítico de una encuesta sobre fecundidad, Bogotá: ICODES 1968. 139 | Leñero, Luis (Hg.): Población, Iglesia y Cultura: sistemas en conflicto, México D.F.: FERES 1970, S. 8.

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sich ab 1865 eine wachsende Distanz zu den US-amerikanischen Stiftungen sowie den kolumbianischen Dachverbänden ASCOFAME-DEP und Asociación Colombiana para el Estudio Científico de la Población (ACEP), an deren Gründung er beteiligt gewesen war, feststellen. In dem Jahr trat er als Geschäftsführer bei ACEP zurück und ließ von seinem Plan ab, mit einem Stipendium des Population Council einen einjährigen postdoktoralen Studienaufenthalt in den USA zu verbringen.140 Gegenüber J.  Mayone Stycos verneinte Pérez, dass er diese Entscheidungen unter Druck seitens des Kardinals, dem er unterstand, getroffen habe. In der Tat finden sich in den Quellen keine Verweise auf Konflikte zwischen Pérez und Kardinal Concha. Er scheint Pérez’ Forschungen im Bereich Bevölkerung und Familienplanung wohlwollend unterstützt zu haben, auch wenn er, wie Stycos notierte, nicht überzeugt war, dass es eine Bevölkerungsexplosion gebe. Pérez, so suggerieren es Stycos’ Beschreibungen, war ein geschickter Verhandlungspartner, der in Aushandlungen mit Concha das heikle Thema der Familienplanung und Verhütungsmittel gekonnt umschiffte.141 Ein Politikum, das in Presse und Senat debattiert wurde und in dem sich Teile der Kirche ganz entschieden gegen Familienplanung aussprachen, wurde der Themenkomplex Bevölkerungswachstum, wie bereits dargestellt wurde, erst ab 1967.142 Pérez und sein Forschungsinstitut wurden jedoch 1965 politisch angreif bar, als sich sein Studienfreund Camilo Torres im Oktober dem bewaffneten Kampf der Guerilla Ejército de Liberación Nacional (ELN) anschloss. Pérez teilte zwar Torres’ Kritik an der politischen Elite Kolumbiens, lehnte jedoch seine Entscheidung, in die Guerilla einzutreten, ab. Trotzdem sah er sich mit Vorwürfen konfrontiert, ein Sympathisant und Förderer der ELN zu sein.143 Zu den inhaltlichen Differenzen zwischen Pérez und dem sogenannten population establishment liegen keine Überlieferungen vor. Sie erschließen sich jedoch bei einem Blick auf Pérez’ Schriften. Er betrachtete Bevölkerungswachstum als Herausforderung und vertrat gegenüber Familienplanung und Verhütungsmitteln eine liberale Position. Bevölkerungswachstum war für ihn nie Ursache von Armut und Unterentwicklung, jedoch ein Faktor, der deren Ausmaß verstärkt. Unterentwicklung wiederum erklärte er dependenztheoretisch, d. h. als Ergebnis der Ausbeutung der ehemaligen Kolonien durch Europa

140 | Vgl. JMS Diary Notes, Bogotá, Colombia, December 15–20, Cornell R&M, S. 3f. 141 | Vgl. JMS Diary Notes, Colombia, April 14, 1964, 15.08.1964, Cornell R&M, S. 162. 142 | Siehe hierzu u. a. Medina Chávez, Los discursos sobre la planificación familiar, 2008. 143 | Dies berichtete Gustavo Pérez Ramírez, der zu dem Zeitpunkt in Quito, Ecuador lebte, in einem Telefongespräch am 25. Februar 2014.

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und die Vereinigten Staaten.144 Auch zu verschiedenen lateinamerikanischen Gruppierungen der ab 1968 aufkommenden Befreiungstheologie unterhielt ICODES Kontakte.145 Damit waren Pérez und sein Institut zwei Denkströmungen verbunden, deren Analysen zu Unterentwicklung der Theorie des demografischen Übergangs im Besonderen und modernisierungstheoretischen Ansätzen im Allgemeinen, die Institutionen wie den Population Council prägten, diametral entgegenstanden. Auf deren Gelder, und das ist der letzte der möglichen Gründe für die wachsende Distanz, war das CIS nicht angewiesen. Staunend stand Stycos im Dezember 1965 in den gut ausgestatteten Räumen des Instituts: »Where the money to run this show is coming from, God only knows.«146 Die doch eher weltliche Erklärung für die gute Finanzlage führt nach Holland und Deutschland in die entstehende staatliche und kirchliche Entwicklungshilfe.147

144 | Die Dependenztheorie wurde in den 1960er Jahren von lateinamerikanischen Ökonomen und Ökonominnen entwickelt und forderte bestehende entwicklungsökonomische Modelle nachhaltig heraus. Siehe hierzu einführend Bernecker, Walther; Fischer, Thomas: »Entwicklung und Scheitern der Dependenztheorien in Lateinamerika«, in: Periplus, 5, 1995, S. 98–118. Die dependenztheoretische Argumentation findet sich u. a. in Pérez’ 1962 publizierter Studie zur Agrarsituation Kolumbiens und in der 1970 publizierten Studie zu den kirchlichen ›Antworten auf die demografische Krise‹. Vgl. Pérez Ramirez, El campesinado colombiano, 1962, S. 23; Pérez Ramirez, Gustavo: »El crecimiento demográfico en América Latina y su repercusión en la vida institucional de la iglesia – hechos«, in: Leñero, Población, Iglesia y Cultura, 1970, S. 91–99, hier: S. 94. Am deutlichsten formulierte er diese Argumentation 1971 in einer Studie zur Unterdrückung der indigenen Gruppen in der kolumbianischen Region Planas. Vgl. Pérez Ramirez, Gustavo: Planas. Las contradicciones del capitalismo, Bogotá: Ed. Tercer Mundo 1971. 145 | 1970 und 1971 organisierte ICODES zwei Konferenzen zur Befreiungstheologie, bei der ersten war Pérez auch anwesend. Siehe hierzu Echeverry P., Antonio José: Teología de la liberación en Colombia. Un problema de continuidades en la tradición evangélica de opción por los pobres, Cali: Universidad del Valle 2005, S. 131–137. 146 | JMS Diary Notes, Bogotá, Colombia, December 15–20, Cornell R&M, S. 3. 147 | Die staatliche holländische Entwicklungshilfe hatte u. a. das Gebäude finanziert, von MISEREOR kam die Filmausrüstung, wie Gustavo Pérez Ramírez im Telefongespräch am 25. Februar 2014 berichtete.

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3.5 D ie F akultät für S oziologie an der U niversidad N acional de C olombia Die zweite Institution, auf die die transnational agierenden Akteure und Akteurinnen, die Anfang der 1960er Jahre in Kolumbien Bevölkerungsforschung fördern wollten, große Hoffnungen setzten, mit der es jedoch nur zu einer kurzen und eingeschränkten Zusammenarbeit kam, war die Fakultät für Soziologie an der Universidad Nacional, der größten und ältesten staatlichen Universität Kolumbiens. Die Soziologie war 1959 als Abteilung der wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät gegründet worden und erlangte zwei Jahre später den Status einer eigenständigen Fakultät. Die zentrale Figur in der Gründungsgesschichte zunächst der Abteilung und dann der Fakultät ist der renommierte Soziologe Orlando Fals Borda, der bis heute weit über Kolumbien hinaus rezipiert wird. Er leitete die Fakultät bis 1966. Neben Fals Borda gehören Camilo Torres und Virginia Gutiérrez de Piñeda zu den ersten Lehrenden der Soziologie an der Universidad Nacional.148 Die Fakultät für Soziologie – und das gilt trotz der kirchlichen Anbindung auch für das personell eng mit ihr verbundene Centro de Investigaciones Sociales – stand für eine Säkularisierung soziologischer Forschung und Lehre und für die Durchsetzung der US-amerikanisch geprägten empirischen Soziologie in Kolumbien.149 Die Universidad Nacional im Allgemeinen und die soziologische Fakultät und ihre Forscherinnen und Forscher im Besonderen waren in den 1960er Jahren Schauplatz und Protagonistinnen kontroverser Debatten und Konflikte, deren Reichweite weit über die Universität hinausging. Ein einschneidender Moment, der die Prominenz der Fakultät und ihrer Mitglieder erhöhte, war ein Studierendenstreik im Frühsommer 1962. Für Camilo Torres, der neben seiner Tätigkeit als Soziologe auch als Universitätskaplan beschäftigt war, bedeutete seine Unterstützung der Studierenden das erste große Zerwürfnis mit Kardinal Concha, der ihn aller seiner Ämter an der Universität enthob.150 Für 148 | Vgl. Cataño, Gonzalo: »Presentación de Orlando Fals Borda«, in: Asociación Colombiana de Sociología, Ciencia y Compromiso, 1987, S. 9–25, hier: S. 12f. 149 | Vgl. Parra Sandoval, Rodrigo: »La sociología en Colombia«, in: Kalmanovitz, Salomón et al. (Hg.): Ciencias Sociales, Bogotá: Ed. Tercer Mundo 1993, S. 65–94, hier: S. 72f. 150 | Vgl. Broderick, Walter J.: Camilo. El cura guerrillero, Bogotá: Ed. El Labrador 1987, S. 129. Fals Borda übermittelte die Nachricht über Torres’ Amtsenthebung in einem Brief an einen Mitarbeiter der Rocke­feller Foundation und nannte die Vorfälle dabei »Macarthyism«. Orlando Fals Borda an Charles M. Hardin, Bogotá, 20.06.1962: RAC, RF, 1.2 Projects, Series 331.S Colombia, B85, F694. Siehe umfassend zu Torres’ Zeit an der Universidad Nacional auch den folgenden Sammelband: Camilo Torres y la Universidad Nacional de Colombia, Bogotá: Universidad Nacional de Colombia 2002.

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Orlando Fals Borda, der sich als einziger Dekan öffentlich gegen die willkürliche Exmatrikulierung von zehn Studierenden positionierte, bedeutete dies, einer polemischen Attacke der konservativen Presse ausgesetzt zu sein.151 Im selben Jahr erlangte er zudem durch die Veröffentlichung einer Studie zur Violencia in Kolumbien, die er gemeinsam mit dem Priester Germán Guzmán Campos und dem Juristen Eduardo Umaño Luna in zwei Bänden veröffentlichte, hohe Prominenz. Die umfangreiche Untersuchung gilt bis heute als Standardwerk zum Thema.152 Im Gegensatz zum vorherrschenden politischen und öffentlichen Diskurs machte die Studie die Eliten des Landes für den Bürgerkrieg und die Gewaltexzesse verantwortlich. Das führte zu Verleumdungskampagnen der konservativen Presse und zu zahlreichen kontroversen Diskussionen im Parlament.153 Auch am Auf bau und der Umsetzung der Landreform und damit eines weiteren umstrittenen Themas des Frente Nacional, waren die beiden Soziologen direkt beteiligt. So arbeiteten sowohl Fals Borda als auch Camilo Torres im Agrarministerium und dem dafür eingerichteten Instituto Colombiano de la Reforma Agraria. Zudem waren beide maßgeblich am Auf bau des nationalen ländlichen Entwicklungsprogramms Acción Comunal beteiligt.154 Der Soziologe Gabriel Restrepo beschrieb diese gleichzeitige An-

151 | Zu den Angriffen gegen Fals Borda vgl.die Aufzeichnungen eines Mitarbeiters der Rocke­f eller Foundation nach einem Gespräch mit diesem: Interviews: LCD. Orlando Fals Borda, Dean, Faculty of Sociology, National University, Bogota, Colombia, 31.07.1962: RAC, RF, 1.2 Projects, Series 331.S Colombia, B85, F694. Zum Studierendenstreik, den Exmatrikulierungen und Protesten vom Mai und Juni 1962 siehe Ruiz Montealegre, Manuel: Sueños y realidades. Procesos de organización estudiantil, 1954–1966, Bogotá: Universidad Nacional de Colombia 2002, S. 32–39. 152 | Guzmán Campos, Germán; Fals Borda, Orlando; Umaña Luna, Eduardo: La Violencia en Colombia. Tomo I, Bogotá 2010 [1962]; Guzmán Campos, Germán; Fals Borda, Orlando; Umaña Luna, Eduardo: La Violencia en Colombia. Tomo II, Bogotá 2010 [1964]. 153 | Zur Rezeption des ersten Bandes von La Violencia en Colombia siehe Schuster, Sven: Die Violencia in Kolumbien: Verbotene Erinnerung? Der Bürgerkrieg in Politik und Gesellschaft, 1948–2008, Stuttgart: Heinz 2009, S. 121–129; Guzmán Campos, Germán: »Reflexión crítica sobre el libro La Violencia en Colombia«, in: Sánchez, Gonzalo; Peñaranda, Ricardo (Hg.): Pasado y presente de la violencia en Colombia, Bogotá: La Carreta Ed. 2009 [1986], S. 47–59 sowie die Einleitung von Fals Borda in dem 1964 erschienenen zweiten Band, die er im Dezember 1963 verfasste: »Introducción«, in: Guzmán Campos; Fals Borda; Umaña Luna, La Violencia en Colombia, 2010 [1964], S. 11–56. 154 | Karl, Forgotten Peace, 2017, S. 131–134. Zu Acción Comunal siehe Kapitel 6.1.

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bindung seiner Kollegen an Wissenschaft, Politik und Kirche als typisches biografisches Merkmal der »traditionellen« kolumbianischen Eliten.155 Trotz der hier gezeichneten parallelen Aktivitäten wurden die beiden Soziologen von der organisierten Studierendenschaft jedoch ganz unterschiedlich wahrgenommen. Der stets als charismatisch beschriebene, zunehmend regierungs- und sozialkritische Camilo Torres erfreute sich großer Beliebtheit. Zu Orlando Fals Borda entwickelten die Studierendenorganisationen hingegen ein kritisches Verhältnis. Sowohl Fals Borda als Person als auch die von ihm geleitete Fakultät gerieten Mitte der 1960er Jahre ins Kreuzfeuer der wachsenden antiimperialistischen und antiamerikanischen Kritik der Studierendenorganisationen. Aus ihrer Perspektive waren der an der University of Florida promovierte Soziologe und die in hohem Maß von der Ford Foundation und Rocke­feller Foundation finanzierte empirische sozialwissenschaftliche Forschung an der Fakultät klare Zeichen des zunehmenden US-amerikanischen Einflusses. Dieser Eindruck wurde durch die Anwesenheit zahlreicher Gastwissenschaftler und -wissenschaftlerinnen aus den USA und dadurch, dass sich die Fakultät auch an der Ausbildung der US-amerikanischen Freiwilligen der Peace Corps beteiligte, noch verstärkt.156 Diese Kritik, die auch von Kolleginnen und Kollegen geäußert wurde, trug maßgeblich zum Rücktritt Fals Bordas im Jahre 1966 bei.157 Im Anschluss kam es in der Soziologie sowohl 155 | Restrepo Forero, Gabriel: El Departamento de Sociología de la Universidad Nacional y la tradición sociologica colombiana, Bogotá, 01./02.8.1980: Universidad Nacional de Colombia, Archivo Central e Histórico (fortan: UN ACH), Donación Ernesto Guhl, Registro 222, Caja 12, Carpeta 15, S. 54. 156 | Gleichzeitig wurde Fals Borda von der Universitätsleitung als »Prophet des Kommunismus und der Subversion« beschimpft: Restrepo Forero, Gabriel: »Historia doble de una profecia. Memoria sociológica«, in: Asociación Colombiana de Sociología, Ciencia y Compromiso, 1987, S. 27–49, hier: S. 27f. Zu den Peace Corps und ihrer Präsenz in Kolumbien siehe Kapitel 6.1. 157 | Fals Borda kehrte nie an die Universidad Nacional und auch an keine andere Universität zurück. Nach seinem Rücktritt entwickelte er die sociología comprometida und ab Mitte der 1970er Jahre die investigación acción, für die er weit über Kolumbien hinaus bekannt ist. Beide Ansätze begreifen soziologisches Forschen als Teil politischer Kämpfe. Siehe umfassend zu Fals Bordas Werk und Leben Guerrero Barón, Javier; García Sánchez, Barbara: »Las ciencias sociales y la invención del Tercer Mundo. A propósito de la obra académica de Orlando Fals Borda«, in: Revista Historia de la Educación Latinoamericana, 12, 2009, S. 42–61; Asociación Colombiana de Sociología (Hg.): Ciencia y Compromiso. En torno a la obra de Orlando Fals Borda, Bogotá 1987. Im Rückblick bewertete Fals Borda seine enge Zusammenarbeit mit den US-amerikanischen Stiftungen in den 1960er Jahren sehr kritisch. Vgl. Restrepo Forero, El Departamento de Sociología, 01./02.08.1980, UN ACH, S. 81.

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zu einer methodisch-theoretischen Neuausrichtung als auch zu einer institutionellen Umstrukturierung. Der inhaltliche Schwerpunkt lag nicht mehr auf der empirischen Forschung, sondern auf der Auseinandersetzung mit marxistischer Theorie, und aus der Fakultät wurde wieder eine Abteilung. Im Unterschied zur Gründungsphase war sie diesmal jedoch nicht an die Wirtschaftswissenschaften, sondern an die neu gegründete geisteswissenschaftliche Fakultät angeschlossen. Die Geschichte der Soziologie an der Universidad Nacional wird daher in zwei Phasen vor und nach 1966 unterteilt.158 In ihrer ersten Phase erfüllte die Fakultät alle Voraussetzungen einer In­sti­ tu­tion, wie sie die Bevölkerungsexperten und -expertinnen suchten: Sie hatte einen renommierten und in den USA ausgebildeten Leiter, eine empirische, von der US-amerikanischen Soziologie geprägte methodische Ausrichtung, eine enge Anbindung an die Modernisierungs- und Planungsinstitutionen des Frente Nacional und sie wurde seit ihrer Gründung von den großen USame­rikanischen Stiftungen umfangreich gefördert. So verwundert es nicht, dass Akteure und Akteurinnen wie J.  Mayone Stycos 1964 den Kontakt zu der Fakultät aufnahmen. Als im April des Jahres noch offen war, in welcher kolumbianischen Institution der Population Council ein demografisches Forschungsprogramm auf bauen wollte, erkundigte Stycos sich bei George Schyler von der Ford Foundation, ob nicht die Fakultät für Soziologie der richtige Ort dafür sei. Doch Schyler warnte ihn: Fals Borda habe aufgrund seines protestantischen Glaubens und seines Rufes, »links« zu sein, schon genug Schwierigkeiten, weshalb der Auf bau eines weiteren kontroversen Programms nicht ratsam sei.159 Hier zeigt sich, dass Bevölkerungsforschung schon 1964 als politisch höchst brisantes Thema eingeschätzt wurde. In den Archivbeständen der Fakultät finden sich einige Hinweise auf ein frühes Interesse an demografischen Fragestellungen und dem Thema Bevölkerungswachstum. So erstellte Fals Borda 1958 eine Studie zur Demografie des Cauca und es fanden unter seiner Leitung 1960 zwei runde Tische zum Thema ›Überbevölkerung‹ statt, von denen detaillierte Mitschriften erhalten sind.160 Diese Diskussionsrunden zeugen von einer sehr expliziten, kontroversen, 158 | Vgl. Restrepo Forero, El Departamento de Sociología, 01./02.08.1980, UN ACH, S. 77ff. 159 | JMS Diary Notes, Colombia, April 1964, Interview with George Schyler, Ford Foundation representative, 08.05.1964: Cornell R&M, JMS, Box 10, Folder 41, S. 160. 160 | Fals Borda, Orlando: Demografía del Cauca, 1958: UN ACH, Fondo Fals Borda, 160; La superpoblación en Colombia. Mesa redonda Jueves 21, 1960, Bogotá, [21.04.1960]: Universidad Nacional de Colombia, Archivo Satélite, Facultad de Ciencias Humanas (fortan: UN AS), cj 1440/9; Universidad Nacional de Colombia, Facultad de Sociología: Segunda Mesa Redonda »Superpoblación en Colombia«, 30.04.1960: UN AS, cj 1440/9.

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insgesamt eher pro-natalistischen und vor allem nationalistischen Auseinandersetzung mit demografischen Fragen. So bestand Konsens unter den Diskussionsteilnehmern, zu denen Ökonomen, Juristen, Geografen, Mediziner und Soziologen gehörten, dass sich kolumbianische Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen mit den Bevölkerungsproblemen des Landes beschäftigen sollten, jedoch von außen herangetragene Lösungen nicht angebracht seien.161 Trotz der Bedenken der Stiftungen und dem 1960 geäußerten Widerstand gegen ›fremde‹ Lösungen für ›kolumbianische‹ Bevölkerungsprobleme beteiligten sich einzelne Mitglieder der Fakultät für Soziologie 1964 an der Gründung des Dachverbandes ASCOFAME-DEP und waren auch in den folgenden Jahren lose mit den Bevölkerungsforschern und -forscherinnen verbunden. Das gilt vor allem für die Familiensoziologin Virginia Gutiérrez de Piñeda. Sie war es, die im Herbst 1964 als Vertreterin der Universidad Nacional an der Gründung der Asociación Colombiana para el Estudio Científico de la Población (ACEP) sowie der Abteilung für Bevölkerungsforschung des Medizinerverbandes ASCOFAME mitwirkte.162 Einige Monate später berichtete Lyle Saunders von der Ford Foundation, Virginia Gutiérrez de Piñeda sei in ihrer Forschung auf großes Interesse an Verhütungsmitteln gestoßen und glaube, dass die Nachfrage nach Informationen und Materialien groß sei. Auch sehe sie die Einstellung der katholischen Kirche im Wandel begriffen.163 In den nächsten Jahren, als es an der Fakultät für Soziologie zu den genannten Umbrüchen kam, finden sich keine Hinweise auf Verbindungen zwischen der Soziologin und den Dachverbänden. Für 1969 ist hingegen belegt, dass sie auf Seminaren der ACEP vortrug und über die Abteilung für Bevölkerungsforschung von ASCOFAME beim Population Council einen erfolgreichen Antrag zur Teilfinanzierung ihres dritten großen Buches zur Familie in Kolumbien einreichte.164 Allerdings war sie zu diesem Zeitpunkt, wie die meisten Grün161 | La superpoblación en Colombia, [21.04.1960], UN AS; Universidad Nacional de Colombia, Segunda Mesa Redonda »Superpoblación en Colombia«, 30.04.1960, UN AS. Siehe zu den darin vorgebrachten Positionen auch die Kapitel 5.4 und 6.5. 162 | Vgl. Delgado García, Conclusiones de la Primera Reunión, UV ACH. 163 | Saunders, Colombia Log. Sept 2–19, 1964, RAC, S. 3f. Im selben Jahr berichtete die Ford Foundation, dass Virginia Gutiérrez de Piñeda ein Forschungsprojekt zum Verhältnis zwischen dem Status von Familienmitgliedern und Familienplanung vorantreiben wolle, wobei es keine Hinweise darauf gibt, dass dieses Projekt realisiert wurde. Vgl. Miguel Fornaguera u. Arthur J. Vidich an Lyle Saunders: Current and Projected Demographic Studies at the Faculty of Sociology, Bogotá, [1964]: UN AS, cj 1444/4, S. 3f. 164 | Vgl. ACEP (Asociación Colombiana para el Estudio Científico de la Población): Informe del Primer Seminario »La Mujer Colombiana y su Responsabilidad en el Desarrollo del País«, Junio 2–4 de 1969, Bogotá: RAC, PC, Acc. 2, Foreign Correspondence Series, Box 7, Folder 69, S. 9; Thomas Ford an Guillermo López Escobar. Re: Proyecto

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dungsmitglieder der Soziologie an der Universidad Nacional, mit dieser schon nicht mehr verbunden. Deren neue Mitglieder formulierten im gleichen Jahr einen offenen Brief, in dem sie sich gegen »Programme zur Geburtenkontrolle« aussprachen, aus dem allerdings nicht eindeutig hervorgeht, gegen welche konkrete politische Maßnahme sich ihr Protest richtete. Sie kritisierten die Verknüpfung von Entwicklungs- und Bevölkerungsprogrammen durch die Weltbank und formulierten die Notwendigkeit, die nationalen Interessen Kolumbiens zu verteidigen. Sie sprachen sich dafür aus, eine eigene soziologische Forschung zu Bevölkerungsfragen zu betreiben und eine »Bevölkerungspolitik« zu entwickeln, die auf die »echten Bedürfnisse und Wünsche« der Bevölkerung eingehe. Der Brief endete mit einem »patriotischen Aufruf« zur Verteidigung der »nationalen Souveränität« und forderte dazu auf, »ausländische Interventionen« abzulehnen.165 Die ›Interventionen‹ seitens der US-amerikanischen Akteure und Akteurinnen, die in den frühen 1960er Jahren nach Kolumbien reisten, um dort nach Personen und Institutionen zu suchen, die an Bevölkerungsforschung interessiert waren oder sich für diese interessieren ließen, hatten zu ganz unterschiedlichen Ergebnissen geführt. Die Analyse der Interaktionen zwischen den Mitarbeitern der Ford Foundation, der Rocke­feller Foundation und des Population Council sowie zwischen diesen und den zahlreichen kolumbianischen Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen, mit denen sie zusammentrafen, hat ein komplexes transnationales Beziehungsgeflecht aufgezeigt. Mitarbeiter der beiden Stiftungen waren, lange bevor in ihren jeweiligen Zentralen ›Bevölkerung‹ 1963 zu einem Schwerpunktthema erhoben wurde, in Kolumbien präsent und aktiv. In diesem und dem folgenden Jahr verdichtete sich in Kolumbien in unterschiedlichen Zusammenhängem das Interesse an Bevölkerungsforschung, die darauf abzielte, das kolumbianische Bevölkerungswachstum mithilfe von Familienplanung zu verringern. Wie die detaillierte Analyse der Gründungsprozesse der Abteilung für Bevölkerungsforschung des Verbandes medizinischer Fakultäten (ASCOFAME-DEP) sowie des in der Entwicklungsökonomie verankerten Demografieprogramms an der Universidad de los Andes gezeigt hat, schienen die US-amerikanischen Akteure und Akteurinnen zwischenzeitlich den Überblick über ihre eigenen Aktivitäten zu verlieren. Sie hatten de Investigación »Estructuras y Cambio de la Familia en Colombia« propuesto por la Unidad de Estudios Socio-Demográficos, Bogotá, 19.05.1971: RAC, PC, Acc. 2, Foreign Correspondence Series, Box 9a, Folder ASCOFAME – Project Proposals Type B T71.1A. 165 | Der offene Brief wurde in einer Studierendenzeitschrift veröffentlicht: »Congreso de Profesores: Asamblea Revolucionaria?«, in: Bandera Roja, 10, 04.11.1969. Vermutlich war der politische Kontext die Verabschiedung des Entwicklungsplans von 1969, der ein Kapitel zu Bevölkerungspolitik enthielt. Siehe dazu Kapitel 3.2.

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Schwierigkeiten damit, sich untereinander zu koordinieren und standen bei der Suche nach den vielversprechendsten kolumbianischen Institutionen oftmals in Konkurrenz zueinander. Gleichzeitig kooperierten sie jedoch auch miteinander und trafen arbeitsteilige Absprachen. Aus der umfangreichen Korrespondenz der US-amerikanischen Akteure und Akteurinnen untereinander sowie den ausführlichen Berichten, die sie bei ihren kürzeren oder längeren Aufenthalten in Kolumbien anfertigten, spricht das Selbstverständnis von ›Gebern‹, die klare Förderziele hatten und nach Personen und Institutionen suchten, von denen sie sich die problemlose Umsetzung dieser Ziele versprachen. Die Mediziner und Medizinerinnen von ASCOFAME konnten überzeugen, da prominente Vertreter dieser Gruppe, wie der Dekan der medizinischen Fakultät der Universidad del Valle, Gabriel Velázquez Palau, schon 1964 äußerten, dass alle ihre Forschungs- und Lobbyaktivitäten auf den Auf bau staatlich finanzierter Bevölkerungsprogramme und damit der Senkung des Bevölkerungswachstums in Kolumbien abzielen sollten. Die Wirtschaftswissenschaftler und -wissenschaftlerinnen der Universidad de los Andes hatten in Alberto Lleras Camargo einen prominenten Fürsprecher, mit Alvaro López Toro einen international renommierten Demografen und das Versprechen eines ruhigen, von Studierendenprotesten unberührten Arbeitsklimas an einer privaten Universität. Ganz anders die Universidad Nacional und ihre junge, jedoch bereits renommierte Fakultät für Soziologie. Dort trafen Berater und Beraterinnen wie J. Mayone Stycos auf einen Schauplatz politischer Auseinandersetzungen, an dem sich ihre Vorstellungen von ›ideologiefreier‹ und dennoch angewandter Sozialforschung schwer umsetzen ließen. Die prominente Gründungsgeneration der Fakultät steht sinnbildlich dafür, wie eng zentrale Reformprojekte des Frente Nacional und der Allianz für den Fortschritt, namentlich der Versuch einer Landreform, und die Entscheidung, für die Veränderung der kolumbianischen Gesellschaft außerhalb des Zweiparteiensystems im wortwörtlichen Sinne zu kämpfen, in den 1960er Jahren in Kolumbien beieinanderlagen. An soziologischer Forschung zu Fertilität und Familienplanung scheint es an der Fakultät nur sehr wenig Interesse gegeben zu haben und das obwohl ›Überbevölkerung‹ dort schon deutlich vor Ankunft der US-amerikanischen Bevölkerungsexperten interdisziplinär diskutiert wurde. Zu den ›nationalen‹ Problemen, an denen die Soziologen und Soziologinnen interessiert waren, gehörten Bevölkerungswachstum und Familienplanung offensichtlich nur am Rande. Das Beispiel des eng mit der Fakultät verbundenen Priesters und Soziologen Gustavo Pérez zeugt schließlich von der Heterogenität der transnationalen Forschungszusammenhänge, in denen in den 1960er Jahren Interesse an Bevölkerungsforschung entstehen konnte. Pérez gehörte zu den global vernetzten Kreisen, die sich in den 1960er Jahren um eine Modernisierung der katholischen Kirche bemühten. Seine soziologische Forschung sollte die Kir-

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che näher an die Probleme der Bevölkerung heranführen. In der Ablehnung von modernen Verhütungsmitteln sah er einen Grund dafür, dass sich immer mehr Gläubige von der katholischen Kirche abwandten. Im Laufe der 1960er Jahre waren seine Schriften dann immer stärker von dependenztheoretischen Überlegungen sowie den Argumenten der Befreiungstheologie geprägt und damit von Erklärungen für Unterentwicklung, die denen der US-amerikanischen Bevölkerungswissenschaftler und -wissenschaftlerinnen diametral entgegenstanden. Gleichzeitig verdeutlichen die Spuren, die Pérez in den Quellen des Population Council hinterließ, dass er im Verlauf der intensiven, aber sehr kurzen Zusammenarbeit mit dieser Institution für deren Mitarbeiter eine undurchschaubare Figur blieb. Sie zeigen auch einen selbstbewussten Forscher, für den das sogenannte population establishment nur einer von vielen Kreisen war, in denen er sich bewegte und Mittel für seine Projekte gewinnen konnte.

4. Wissensproduktion und -zirkulation zu Fertilität in Kolumbien

Auf dem elftägigen Latin America Seminar on Population, das die Vereinten Nationen im Dezember 1955 in Rio de Janeiro ausrichteten, wurde erstmals auf lateinamerikanischer Ebene von nationalen und regionalen Expertinnen und Experten gefordert, den unzuverlässigen Geburtenregistrierungen in Latein­ amerika mit Stichprobenumfragen zu begegnen. Nur auf diesem Wege könne es gelingen, genaue Informationen über die Anzahl von Geburten pro Frau und den Zusammenhang mit Faktoren wie Alter, Art und Dauer der Ehe oder Wohnort zu erheben. Diese Studien seien dann besonders wertvoll, wenn dabei zusätzlich Informationen über die Vorstellung der befragten Frauen über die ideale Familiengröße und Praktiken und Kenntnisse der Familienplanung erhoben würden.1 Der in den 1960er Jahren einsetzende Boom der Forschung zu »Knowledge, Attitudes and Practices« (KAP) markiert den Durchbruch und die Dominanz der in Rio de Janeiro geforderten sozialwissenschaftlichen Forschung zu Reproduktion. Diese befasste sich nicht mit der Rekonstruktion und Berechnung von Geburten- und Fertilitätsraten und deren Korrelationen mit sozioökonomischen Variablen wie Alter oder Einkommen, sondern produzierte Wissen über Motivationen, Einstellungen und Möglichkeiten, diese zu verändern. Die KAP-Forschung fragte unter anderem danach, ob es eine Diskrepanz zwischen der realen und der als ideal empfundenen Kinderzahl der zumeist weiblichen Interviewpartnerinnen gab, welche Faktoren diese Zahlen beeinflussten und welche Kenntnisse und Praktiken bezüglich der Möglichkeiten, Schwangerschaften zu verhindern, bei diesen Frauen vorhanden und verbreitet waren.2

1 | Vgl. United Nations, Latin America Seminar on Population, 1958, S. 62ff. 2 | Siehe programmatisch zu KAP-Forschung beispielsweise Berelson, Bernard: »KAP Studies on Fertility«, in: Ders., Family Planning and Population Programs, 1966, S. 655–668.

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4.1 F ertilitätsstudien in L ateinamerik a Die Finanzierung und Durchführung zahlreicher KAP-Umfragen in der ganzen Welt, zu denen es ab den frühen 1960er Jahren kam, lässt sich in erster Linie mit der Dominanz der Theorie des demografischen Übergangs innerhalb der US-amerikanischen Bevölkerungsforschung sowie mit dem Nutzen der Umfragen für die Implementierung von Familienplanungsprogrammen erklären, denen – so hatten es Frank Notestein und weitere Demografen in den 1950er Jahren formuliert – die entscheidende Rolle als Auslöser des demografischen Übergangs zugesprochen wurde. Der Nutzen der KAP-Umfragen bestand darin, dass sie jedes Mal zu dem Ergebnis kamen, dass die Mehrheit der befragten Frauen und Männer ihre Familien planen und Verhütungsmittel verwenden wollten. Kritikerinnen und Kritiker der KAP-Studien – und methodische Kritik wurde früh geäußert – bezeichneten die Ergebnisse der Umfragen daher als »self-fulfilling prophesies [sic]«3. Manche ihrer Befürworter und Befürworterinnen erwarteten auch keine überraschenden Resultate, betrachteten die Umfragen jedoch als entscheidende Hilfe für die Entwicklung von Familienplanungsprogrammen und sahen sie als Instrument an, um Unterstützung für diese zu generieren. 4 Es bestand also Einigkeit darüber, dass die Umfragen stark praxisorientiert konzipiert waren und methodische Schwächen aufwiesen, aber Uneinigkeit in der Frage, ob es legitim und notwendig oder vielmehr verwerflich sei, angewandte und zielgerichtete Forschung dieser Art zu betreiben. Oder, noch allgemeiner gesprochen: Debatten um KAP-Studien waren auch Debatten darüber, wie politiknah sozialwissenschaftliche Forschung sein wollte, sollte und durfte. Historische Untersuchungen zu Familienplanungsprogrammen in Mexiko, Argentinien und Peru haben gezeigt, dass die Ergebnisse von KAP-Umfragen in Lateinamerika in der Tat medial und politisch stark rezipiert wurden und ihre intendierte Funktion beim Auf bau von Familienplanungsprogrammen erfüllten.5 Der argentinische Fall macht jedoch auch deutlich, dass die 3 | Pradervand, Pierre: »International Aspects of Population Control«, in: Concerned Demography, 2, 2, 1970, S. 1–16, hier: S. 4. Siehe auch Warwick, Donald P.: »The Politics of Research on Fertility Control«, in: Finkle, Jason L.; McIntosh, C. Alison (Hg.): The New Politics of Population. Conflict and Consensus in Family Planning, New York: Population Council 1994, S. 179–193. 4 | Vgl. Saunders, Lyle: »Investigación y valoración. Necesidades para el futuro«, in: ASCOFAME, Boletín del segundo seminario, 1965, S. 313–325, hier: S. 321. 5 | Vgl. Faust-Scalisi, There is an undercover movement, 2014, S. 227f; Felitti, Karina A.: Regulación de la natalidad en la historia argentina reciente (1960–1987). Discursos y experiencias. Dissertation, Buenos Aires: Universidad de Buenos Aires 2009, S. 58ff; Necochea López, A History of the Medical, 2009, S. 186ff.

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nationale Deutung der Ergebnisse dieser Intention diametral entgegenstehen konnte. So lösten die Ergebnisse von zwei KAP-Umfragen aus Buenos Aires in Argentinien keine Sorge vor ›Überbevölkerung‹ aus, sondern verstärkten alte Ängste vor einem »leeren Land«, in dem die kulturell »minderwertigen« sozialen Schichten dominierten.6 Als KAP-Umfragen immer wieder das Interesse dieser Schichten an Familienplanung aufzeigten, machten Forscher und Forscherinnen wie J. Mayone Stycos diese Einstellungen der gesellschaftlichen Eliten Lateinamerikas gegenüber den Unterschichten und der ländlichen Bevölkerung ihrer Länder als das weitaus größere Hindernis auf dem Weg zur Implementierung von Familienplanungsprogrammen aus.7 Schon zu Beginn seiner Karriere als Bevölkerungswissenschaftler kritisierte er die »bevormundende und autoritäre« Einstellung der lateinamerikanischen Verfechterinnen und Verfechter von Familienplanung in starken Worten. So schrieb Stycos, nachdem er an einer Konferenz der International Planned Parenthood Federation 1958 in Jamaika teilgenommen hatte, an Kollegen beim Population Council, diese gefielen sich aufgrund ihrer Auseinandersetzung mit der katholischen Kirche in einer Märtyrerrolle, aber es fehle ihnen an einem sensiblen Zugang zur Unterschicht, die sie als minderwertig begriffen.8 Wenige Jahre nach diesen Beobachtungen generalisierte er schon in einem Aufsatz über Hürden bei der Implementierung von Familienplanungsprogrammen, dass die Erklärungen der Oberschicht für die hohe Fertilität der Unterschicht in allen ihm bekannten Gesellschaften sehr ähnlich und damit sehr ähnlich falsch seien. Wieder kritisierte er den biologisierenden und pathologisierenden Blick der Oberschicht auf die vermeintlich »kindlichen, tier-ähnlichen und unmoralischen« Unterschichten.9 Diese Analyse hatte zwei Effekte: Erstens legitimierte sie weitere KAP-Forschung, um mit den Ergebnissen die Eliten über das ›tatsächliche‹ reproduktive Verhalten der Unterschichten aufzuklären. Zweitens machte sie die Einstellungen zu Familienplanung der Eliten selbst zum Untersuchungsobjekt. So weiteten sich die Umfrageprojekte ab Mitte der 1960er Jahre aus, und es wurden nicht mehr nur potenzielle Klientinnen der Programme, sondern auch Repräsentantinnen und Repräsentanten der politischen, wirtschaftlichen und klerikalen Eliten

6 | Felitti, Regulación de la natalidad, 2009, S. 60. 7 | Vgl. Stycos, J. Mayone: »Obstacles to Programs of Population Control. Facts and Fancies«, in: Marriage and Family Living, 25, 1, 1963, S. 5–13. 8 | J. Mayone Stycos an Dudley Kirk und Robert Snyder: RAC, PC, Acc. 1, 4.2 Population Council General File, Box 11 – Folder 149 – Cornell University – Stycos, Joseph – 1957–1961. 9 | Stycos, Obstacles to Programs of Population, 1963, S. 8.

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Lateinamerikas – so auch in Kolumbien – zu ihren Meinungen hinsichtlich Bevölkerungswachstum, Familienplanung und Verhütungsmitteln befragt.10 Mit der Kritik an elitären Vorurteilen waren Bevölkerungsforscherinnen und -forscher weder in den USA noch in Kolumbien alleine. Zu den wichtigsten Vorläufern der KAP-Umfragen zählen repräsentative Meinungsumfragen. Deren schnelle Verbreitung in den USA seit den 1930er Jahren sowie der Erfolg, den Pioniere wie George Gallup und Elmo Roper mit diesen Umfragen hatten, beruhte zu großen Teilen auf dem demokratischen Versprechen, mit denen die Umfragen verknüpft wurden. Meinungsumfragen, so versicherten es ihre Befürworterinnen und Befürworter, konnten objektive Wahrheiten über die Gesellschaft darstellen. Zudem repräsentierten sie die öffentliche Meinung auf eine besonders demokratische Art und Weise, da sie nicht nur die Meinungen der Eliten, sondern des ganzen ›Volkes‹ ermittelten und als Grundlage für politische Entscheidungen zur Verfügung stellten.11 In unter­ entwickelten Ländern, so formulierte es Stycos 1956, sei das demokratische Potenzial repräsentativer Meinungsumfragen besonders hoch, da die Regierungen dieser Länder einerseits mit besonders vielen unerfüllten Bedürfnissen der Bevölkerung konfrontiert seien und andererseits besonders dazu tendierten, die Interessen der Oberschicht zu vertreten.12 Das Argument der Demokratieförderung wurde auch an die Befragten herangetragen. Das zeigt sich zum Beispiel im Anschreiben, das die männlichen Teilnehmer der Studie zu »Social and Psychological Factors Affecting Fertility« erhielten, die 1938 in Indianapolis durchgeführt wurde und als Vorläufer der KAP-Umfragen gilt. In 10 | Zu Umfragen mit kolumbianischen Eliten siehe u. a. Stycos, J. Mayone: »Opinions of Latin-American Intellectuals on Population Problems and Birth Control«, in: The Annals of the American Academy of Political and Social Sciences, 360, 1, 1965, S. 11–26; Jaramillo Gómez, Informe de la Primera Encuesta, 1967. 11 | Vgl. Igo, Sarah Elizabeth: »Hearing the Masses. The Modern Science of Opinion in the United States«, in: Brückweh et al., Engineering Society, 2012, S. 215–233, hier: S. 221f. Der Hinweis auf den Zusammenhang zwischen Meinungs- und Marktforschung fehlte in dem Demokratieargument, war jedoch von nicht zu unterschätzender Bedeutung. Vgl. hierzu Fulda, The Market Place, 2011. 12 | Stycos, The Sample Survey, 1956, S. 34. Mit dem Topos der ›unerfüllten Bedürfnisse‹ griff Stycos ein inzwischen klassisches modernisierungstheoretisches Argument auf, wonach es in unterentwickelten Gesellschaften durch den Kontakt mit industrialisierten Nationen zu einer »Revolution der steigenden Erwartungen« komme, welche die Gefahr einer Hinwendung zu revolutionären Aufständen mit sich bringe. Daher müssten diese Erwartungen in eine »liberale, demokratische und kapitalistische« Richtung gelenkt werden. Vgl. Latham, Michael E.: »Ideology, Social Science, and Destiny. Modernization and the Kennedy-Era Alliance for Progress«, in: Diplomatic History, 22, 2, 1998, S. 199–229, hier: S. 215.

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diesem wurden die Vereinigten Staaten mit Diktaturen kontrastiert, die sich dadurch definierten, dass diktatorische Herrscher ihren Bevölkerungen befählen, was sie denken, tun und fühlen sollten. Die US-amerikanische Regierung sei hingegen bemüht, demokratisch zu handeln, was wiederum nicht möglich sei, ohne zu wissen, was typische US-amerikanische Paare dächten. Deshalb komme der Teilnahme an der Studie solch eine große Bedeutung zu.13 Die Umfrage in Indianapolis war auch die erste, die zeigte, dass es eine Diskrepanz zwischen der tatsächlichen Familiengröße und der Vorstellung von einer idealen Familiengröße gab, d. h. dass die befragten Paare mehr Kinder hatten als die Anzahl, die sie im Interview als ideal bezeichnet hatten.14 Kaum einer der Variablen, die in der KAP-Forschung gemessen und korreliert wurden, wurde in den 1960er Jahren so viel Bedeutung beigemessen, wie der ›idealen Familie‹, schien doch eine Diskrepanz zwischen Realität und Ideal das beste Argument für die Einrichtung von Familienplanungsprogrammen zu sein. Gleichzeitig, so formulierte es beispielsweise der junge Soziologe Alan B. Simmons von der Cornell University 1970 in seiner Doktorarbeit zu Planungsorientierung in einer sich modernisierenden Gemeinschaft, galt die Variable ›menschliche Fertilität‹ als perfektes Untersuchungsfeld, um den Zusammenhang zwischen modernen Idealen und modernem Verhalten zu erforschen. Simmons, dessen Arbeit auf einer Feldstudie in Bogotá basierte, kritisierte die gängige Modernisierungsforschung für die unhinterfragte Annahme, dass moderne Werte und Einstellungen sich auf das Verhalten übertrügen. Den modernen Menschen wiederum definierte Simmons in Anlehnung an die US-amerikanische Modernisierungstheorie und Verhaltensforschung seiner Zeit als einen in die Zukunft blickenden, planenden Menschen, der auf seine Umwelt und sein Leben Einfluss nehmen konnte und wollte.15

13 | Ramsden, Social Demography and Eugenics, 2003, S. 575. 14 | Vgl. ebd., S. 577. Siehe zu der Indianapolis-Studie auch Kapitel 2.1. 15 | Simmons, Alan B.: The Emergence of Planning Orientations in a Modernizing Community. Migration, Adaptation, and Family Planning in Highland Colombia. Dissertation, Ithaca NY: Cornell University 1970, S. 21–24. Simmons ordnete seine Arbeit in die sozio-psychologische Modernisierungsforschung ein und setzte sich im theoretischen Teil seiner Studie am ausführlichsten mit Daniel Lerners Arbeiten zum Einfluss von Massenmedien auf sozialen Wandel sowie mit verschiedenen Vertretern der »industrial man hypothesis« auseinander.

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4.2 F ertilitätsstudien in K olumbien Der Doktorand Alan B. Simmons untersuchte in seiner Studie, für die er gut 1000 Männer und ungefähr 200 Frauen interviewen ließ, den Zusammenhang zwischen Land-Stadt-Migration und Modernisierung. Einstellungen zu Familienplanung, die z. B. mit der Frage danach ermittelt wurden, ob die Anzahl von Kindern in einer Ehe von Zufall oder der Entscheidung der Eltern abhänge, waren in Simmons Studie einer von mehreren Wegen, um die ›Planungsorientierung‹ von Migrantinnen und Migranten zu messen.16 Die Studie liegt aufgrund dieser Zielsetzung klar außerhalb der Definition von KAP-Forschung, wie sie z. B. Bernard Berelson 1965 formulierte. Berelson, der als Präsident des Population Council eine große Zahl von ihnen finanzierte, bezeichnete als KAP-Studien repräsentative Umfragen zu Einstellungen, Praktiken und Kenntnissen von »Fertilitätsangelegenheiten«. Er grenzte mit dieser Definition KAP-Studien von Untersuchungen ab, die entweder primär auf die Messung vitalstatistischer Daten oder auf die Messung der Effektivität einzelner Verhütungsmittel abzielten.17 In Übersichten zu KAP-Forschung in Lateinamerika, denen entsprechend enge Definitionen zugrunde lagen, wurde daher auch nur eine Handvoll KAP-Studien zu Kolumbien aufgeführt.18 Hier soll der Rahmen hingegen breiter gefasst werden und prinzipiell alle Umfrageprojekte einschließen, die von Anfang der 1960er bis Mitte der 1970er Jahre in Kolumbien zu Aspekten oder Teilaspekten von Familienplanung und Verhütungsmitteln durchgeführt wurden oder diese – wie im Falle der Dissertation von Simmons – innerhalb eines breiter gefassten thematischen Rahmens mitbehandelten. Die Bandbreite dieser Studien soll hier zunächst kurz skizziert werden, bevor anhand ausgewählter Studien die Analyse der Wissensproduktion erfolgt.19

16 | Ebd., S. 199. 17 | Berelson, KAP Studies on Fertility, 1966, S. 655. 18 | Vgl. Baum, Samuel: The World Fertility Survey Inventory. Major Fertility and Related Surveys Conducted in Latin America 1960–1973, Voorburg: International Statistical Institute 1975; IPPF-WHR: Analyses of Some Studies on Knowledge, Attitudes and Practices of Family Planning in Several Latin American Countries, New York 1971. Baum führt vier Studien aus Kolumbien auf und in der Zusammenstellung der IPPF werden sieben Publikationen zu Kolumbien gelistet, wobei darunter auch verschiedene Analysen der gleichen Studien sind. 19 | Der Anspruch, in dieser Untersuchung eine breite Auswahl an Umfragen zu Fami­ lien­p lanung und Verhütungsmitteln zu verwenden, lässt sich hinsichtlich der publizierten Quellen einlösen. Material zur Konzeption und Feldforschung der Umfragen liegt jedoch nur zu einzelnen KAP-Studien vor.

4. Wissensproduktion und -zirkulation zu Fer tilität in Kolumbien

Umfragen zu Familienplanung und Verhütungsmitteln wurden im Untersuchungszeitraum in Kolumbien auf lokaler, regionaler oder nationaler Ebene durchgeführt. Sie gingen auf lokale medizinische Initiativen zurück 20 oder waren in große vergleichende internationale Projekte wie den World Fertility Survey eingebunden.21 Sie dienten der Evaluation spezifischer Familienplanungszentren,22 bestimmter Kontrazeptiva oder deren Verbreitungswege23 und untersuchten Abtreibungszahlen und -gründe,24 oder sie waren nicht an solch unmittelbare Zwecke angebunden und hatten vielmehr den Anspruch, ein nationales KAP-Panorama darzustellen.25 Einen weiteren thematischen Schwerpunkt bildeten die sogenannten Motivations- und Kommunikationsstudien, in denen die Effektivität von Werbung für Familienplanungsprogramme analysiert wurde.26 20 | U. a. Jaramillo Gómez, Mario; Hartford, Robert B.: »Encuesta de fecundidad de Medellín. Monografías 1, 2 y 3«, in: ASCOFAME-DEP, Regulación de la fecundidad Vol. 2, 1968, S. 17–85; Aguirre, Colombia, 1966. 21 | CCRP; DANE; ISI (Hg.): Encuesta nacional de fecundidad. Colombia, 1976, Bogotá 1977. 22 | U. a. Aguirre, Alfredo: »Análisis de las primeras cien encuestas realizadas en cien mujeres pertenecientes al programa«, in: ASCOFAME, Boletín del segundo seminario, 1965, S. 249–266; Bailey, Jerald; Correa, Juan: »Evaluation of the Profamilia Rural Family Planning Program«, in: Studies in Family Planning, 6, 6, 1975, S. 148–155. 23 | U. a. Bailey, Jerald; López Escobar, Guillermo; Estrada E., Alcides: »A Colombian View of the Condom«, in: Studies in Family Planning, 4, 3, 1973, S. 60–64; Bailey, Jerald; Zambrano, María Cristina de: »Contraceptive Pamphlets in Colombian Drugstores«, in: Studies in Family Planning, 5, 6, 1974, S. 178–182; Villegas, Abel; Echeverry, Gonzalo; Measham, Anthony R.: »A Comparison of the Lippes Loop, the TCu-200, and the Dalkon Shield in a Single Clinic in Colombia«, in: Studies in Family Planning, 6, 9, 1975, S. 335–337. Zum Einfluss der Verhütungsmittelindustrie auf die Forschung in Familienplanungskliniken siehe für den US-amerikanischen Kontext Holz, Rosemarie Petra: The Birth Control Clinic in a Marketplace World, Rochester NY: Univ. of Rochester Press 2012, S. 102–106. 24 | U. a. Lara, Braulio; Erazo, José V.: »Investigación de prevalencia del aborto en Popayan«, in: ASCOFAME, Boletín del segundo seminario, 1965, S. 111–119. 25 | ASCOFAME-DEP, Resultados Generales, 1973. 26 | U. a. Jaramillo Gómez, Mario: »Informe sobre la evaluación del programa experimental de comunicación de Medellín«, in: ASCOFAME-DEP, Regulación de la fecundidad Vol. 1, 1968, S. 101–108; Simmons, Alan B.: »Information Campaigns and the Growth of Family Planning in Colombia«, in: Stycos, Clinics, Contraception, and Communication, 1973, S. 116–171; Stycos, J. Mayone; Avery, Roger C.: »Family Planning via the Airwaves. Radio Campaign in Colombia«, in: Stycos, The Clinic and Information Flow, 1975, S. 151–164.

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Die Studien wurden immer von internationalen Geldgebern zumindest mitfinanziert. Die Konzeption oder Leitung der Studien lag oft bei einem kolumbianisch-US-amerikanischen Team, während die Interviews selbst fast ausschließlich von Kolumbianerinnen und Kolumbianern geführt wurden. Eine bemerkenswerte Ausnahme stellen mehrere kleine Studien dar, bei denen Studierende des International Population Program der Cornell University unter Leitung von J. Mayone Stycos die Interviews selbst durchführten.27 Zudem variierte die Auswahl der Interviewpartnerinnen und -partner und reichte von repräsentativen Querschnitten durch die gesamte kolumbianische Gesellschaft bis hin zu bestimmten Berufs- oder sozialen Gruppen.28 Schließlich – und dabei ist ein vollständiger Überblick am schwierigsten zu erlangen – sind noch Studien wie die von Alan B. Simmons zu nennen, bei denen Familienplanung nur eine von mehreren Variablen innerhalb einer Fragestellung war, die nicht auf die Begründung der Notwendigkeit von Familienplanungsprogrammen abzielte. Die auf Umfragen basierende Produktion von Wissen zu Sexualität und Verhütungsmitteln fand selbstverständlich auch in Kolumbien nicht in einem isolierten epistemologischen Raum statt, sondern muss in einen größeren Kontext der empirischen, auf Umfragen gestützten sozialwissenschaftlichen Wissensproduktion eingeordnet werden. Anders als zu den USA liegen zu Kolumbien jedoch keine wissens- oder wissenschaftshistorischen Studien vor, die sich mit dem Aufkommen und der Verbreitung von repräsentativen Meinungsumfragen und dem Stellenwert dieser Wissensform in der kolumbianischen Gesellschaft auseinandersetzen, weshalb allgemeine Aussagen hierzu nur mit Vorsicht getroffen werden können.29 Mit Blick auf Arbeiten zur Geschichte der Soziologie in Kolumbien lässt sich jedoch festhalten, dass Annahmen und Methoden der empirischen Sozialforschung ab den 1950er Jahren schnell und in hohem Maße begannen, andere wissenschaftliche Auseinandersetzungen mit der Gesellschaft abzulösen und ihnen ein großer Wahrheitsgehalt zugesprochen wurde. Ein wichtiger Träger dieser Wissensform war die Fakultät für Soziologie an der Universidad Nacional, die eng mit der Rocke­ feller Foundation und Ford Foundation kooperierte, zu deren wichtigsten Zielen in Lateinamerika die Förderung der empirischen Sozialwissenschaften

27 | Stycos, Ideology, Faith, and Family Planning, 1971. 28 | U. a. Cohen, S. Betsy: »Parish Priests in Bogotá«, in: Stycos, Ideology, Faith, and Family Planning, 1971, S. 174–190; Mendoza Hoyos, Hernán; Mirkow Ospina, Italo: »Actitudes de los profesores de facultades de medicina acerca del crecimiento demográfico y métodos de control de la natalidad en Colombia«, in: ASCOFAME-DEP, Regulación de la fecundidad Vol. 1, 1968, S. 53–67. 29 | Für die USA siehe u. a. Igo, The Averaged American, 2007.

4. Wissensproduktion und -zirkulation zu Fer tilität in Kolumbien

gehörte.30 Als deren Vorläufer können in Kolumbien die geografischen und an­ thro­po­lo­gi­schen Studien bezeichnet werden, die seit den späten 1930er Jahren unter dem Dach der Controlaría General und des Instituto Etnológico Nacional durchgeführt wurden.31 Ein Großteil der Forschungsprojekte, die ab Mitte der 1950er Jahre von sozialwissenschaftlichen Instituten sowie in angewandter Form an staatlichen Institutionen wie dem Arbeitsministerium durchgeführt wurden, basierte auf Umfragen und direktem Kontakt der Forscherinnen und Forscher mit den Menschen, deren Bedürfnisse ermittelt, gemessen und befriedigt werden sollten.32 Auch US-amerikanische Institutionen, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler stellten in den 1960er Jahren auf diesem Weg Wissen über die kolumbianische Gesellschaft her, um beispielsweise deren Einstellungen gegenüber den USA und ihrer Politik in Kolumbien zu ermitteln oder um bestimmte Modernisierungsindikatoren wie den Kontakt mit Massenmedien zu messen.33 30 | Vgl. Restrepo Forero, Gabriel: Peregrinación en pos de omega. Sociología y sociedad en Colombia, Bogotá: Univ. Nacional de Colombia 2002; Parra Sandoval, La sociología en Colombia, 1993; Kelly, Strategic Philanthropy, 2013, S. 141–186. Zur Ausrichtung der Forschung an der Fakultät für Soziologie der Universidad Nacional siehe auch Kapitel 3.5. 31 | Vgl. Silva, Renán: Sociedades campesinas, transición social y cambio cultural en Colombia. La Encuesta Folclórica Nacional de 1942: aproximaciones analíticas y empíricas, Medellín: Carreta Editores 2006. Renán Silva analysiert und kontextualisiert in dieser Monografie die Encuesta Folclórica Nacional von 1942, die vom kolumbianischen Bildungsministerium durchgeführt wurde. Die groß angelegte Bestandsaufnahme der »materiellen und spirituellen Kultur« des ruralen Kolumbien markiert, so Silva, den Übergang von ethnografischen Sammlungen zu moderner empirischer Forschung. Zur Geschichte der Anthropologie in Kolumbien siehe Piñeda Giraldo, Roberto: »Inicios de la Antropología en Colombia«, in: Revista de Estudios Sociales, 3, 1999, S. 29–42. 32 | U. a. Fals Borda, Orlando: Peasant Society in the Colombian Andes. A Sociological Study of Saució, Gainesville FL: Univ. of Florida Press 1955; Deutschmann, Paul J.: »The Mass Media in an Underdeveloped Village«, in: Journalism & Mass Communication Quarterly, 40, 1963, S. 27–35; Calderón Alvarado, Luis: Poder retentivo del ›área local urbana‹ en las relaciones sociales: investigación en 3 áreas de diferente clase social: alta, media y baja, en Bogotá. Observaciones desde el punto de vista del movimiento endo-exo-local en las relaciones, Freiburg im Üchtland; Bogotá: FERES 1963; Guzmán Campos; Fals Borda; Umaña Luna, La Violencia en Colombia, 2010 [1962]; Piñeda Giraldo, Roberto: Estudio de la zona tabacalera de Santander, Bogotá: Ministerio de trabajo, División técnica de seguridad campesina 1955. 33 | Schon im Zweiten Weltkrieg machte beispielsweise das Office of Inter-American Affairs Umfragen zu den Radiohörgewohnheiten der kolumbianischen Ober-, Mittel- und

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Sowohl die Produktion von Wissen als auch die Zirkulation und Diskussion der Ergebnisse sind Teil gesellschaftlicher Macht- und Aushandlungsprozesse.34 Schon innerdisziplinäre Kritiker und Kritikerinnen der KAP-Forschung wie der Soziologe Donald Warwick haben betont, dass in zahlreichen Forschungsschritten – im Zuschnitt des Forschungsprojekts, der Methodik der Datenerhebung, der Auswahl der repräsentativen Stichprobe, der Formulierung der Fragen, den Anleitungen für die Interviews und dem Umgang mit Problemen bei der Datenerhebung – Entscheidungen getroffen werden, die politisch beeinflusst werden können. Die KAP-Forschung, so Warwick, sei insbesondere deshalb problematisch gewesen, weil ihr die Annahme zugrunde gelegen habe, dass reproduktive Entscheidungen in erster Linie von Frauen getroffen wurden, dass die Interviewpartnerinnen und -partner eine Meinung über die ideale Familiengröße hatten und dass sie diese Meinung einer oder einem Fremden, der sie kurz besuchte, mitteilen würden. Der größte Schwachpunkt der KAP-Methodik habe jedoch in der Formulierung von Fragen gelegen, die die Befragten dazu anregten, sich positiv über Familienplanung zu äußern.35 Aus wissenshistorischer Perspektive ist es einerseits ertragreich, die genannten Forschungsschritte auf politische Vorannahmen und Vorurteile zu überprüfen. Es ist jedoch andererseits problematisch, die in Warwicks Kritik implizierte Trennung von Wissenschaft und Politik aufrechtzuerhalten. Statt genuin wissenschaftliche von primär politischen Interessen abzugrenzen, kann eine Untersuchung der »Praktiken der Wissenserzeugung und -überUnterschicht. Ab den 1950er Jahren war es dann der Informationsdienst der Vereinigten Staaten USIA (United States Information Agency), der zahlreiche Umfragen zur öffentlichen Meinung in Kolumbien durchführte, wobei der Schwerpunkt in der Regel auf deren Meinung über die USA und ab 1961 über die Programme der Allianz für den Fortschritt lag. Vgl. Corcoran, The Infrastructure of Influence, 2011, S. 330; 385f; United States Information Agency: »The Economic and Political Climate of Opinion in Latin America and Attitudes toward the Alliance for Progress. June 1963«, auf: https://www.jfklibrary. org/Asset-Viewer/Archives/JFKPOF-091a-001.aspx (21.06.2017). John F. Kennedy schenkte den Meinungsumfragen des USIA große Beachtung. Vgl. Haefele, Mark H.: »John F. Kennedy, USIA, and World Public Opinion«, in: Diplomatic History, 25, 1, 2001, S. 63–84. Als Beispiele modernisierungstheoretisch orientierter Studien der 1960er Jahre siehe u. a. Rogers, Everett M.: »Mass Media Exposure and Modernization among Colombian Peasants«, in: Public Opinion Quarterly, 29, 4, 1965–1966, S. 614–625; Adams, Dale W.; Havens, Eugene A.: The Use of Socio-Economic Research in Developing a Strategy of Change for Rural Communities. A Colombian Example, Madison WI: Land Tenure Center, Univ. of Wisconsin 1966. 34 | Vgl. Vogel, Von der Wissenschafts- zur Wissensgeschichte, 2004, S. 650f. 35 | Warwick, The Politics of Research, 1994, S. 184f.

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mittlung« vielmehr Aufschluss geben über konkurrierende Vorstellungen von Wissenschaftlichkeit, Wahrheit und den Möglichkeiten, gesellschaftliche Realitäten zu erfassen und zu vermitteln.36 »Statistisch basierte Umfrageverfahren« sind von der Historikerin Christiane Reinecke überzeugend als »Aufstieg einer neuen Normalisierungspraxis« analysiert worden. Die durch repräsentative Meinungsumfragen »statistisch konstruierten Mehrheiten« gaben einerseits an, was als ›normal‹ galt, andererseits lagen – und das wird in der KAP-Forschung besonders deutlich – schon der Forschungskonzeption und den gestellten Fragen Vorstellungen von Normalität zugrunde.37 So wurden in der KAP-Forschung einerseits rationale, individuelle Entscheidungsträger und -trägerinnen sowie andererseits bestimmte Familienkonzepte, Modelle des Zusammenlebens und Geschlechterrollen vorausgesetzt und in der Produktion der Studien und der Zirkulation ihrer Ergebnisse verfestigt.38

4.3 A ntr äge und Z ielse t zungen – Tr ansnationale versus lok ale E xpertise Die Konzeption und Beantragung von KAP-Studien erfolgte in ganz unterschiedlichen personellen und institutionellen Konstellationen. Zum Beispiel wurde die erste KAP-Studie in Kolumbien, die vergleichende Fertilitätsstudie unter der Leitung des Centro Latinoamericano y Caribeño de Demografía (CELADE) und des International Population Program (IPP) der Cornell University, mit Finanzierung des Population Council durchgeführt. Dieser »Meilenstein der kooperativen Sozialwissenschaften« war von Carmen Miró (CELADE) und J. Mayone Stycos (IPP/Population Council) gemeinsam initiiert und maßgeblich konzipiert worden, wobei auch weitere Mitarbeiter des Population Council eng in die Planungen des Forschungsprojektes eingebunden waren.39 Die Bewilligung des Antrags zur Finanzierung großer Teile der Studie beim Population Council war daher eine reine Formsache. 40 Stycos brachte seine Er36 | Reinecke, Statistiken der Liebe, 2011, S. 44. 37 | Ebd. 38 | Siehe hierzu auch Johanna Brumbergs Analyse des US-amerikanischen Zensus von 1940: Brumberg, Fact Finder for the Nation, 2012, S. 140f. 39 | Als Meilenstein bezeichnete der Bevölkerungswissenschaftler Donald Bogue die Studie im Vorwort zur vergleichenden Auswertung, die 1972 erschien: CELADE; CFSC, Fertility and Family Planning, 1972, S. v. 40 | Den Antrag formulierte Carmen Miró Anfang Oktober 1962. Vgl. Miró, Carmen: Proposed Expanded Programme of Demographic Sample Surveys in Latin America 1963–1967, Santiago de Chile, 05.10.1962: RAC, PC, Acc. 1, 4.3a Population Council Grant File – Regular, Box 50 – Folder 738-D62.84 U.N.-CELADE, Chile: Comparative

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fahrungen aus KAP-Studien in Puerto Rico, Jamaika und Peru in die Konzeption ein, Miró hatte Pilotstudien zu Fertilität und Abtreibung in Santiago de Chile geleitet. 41 Die Ausarbeitung der Forschungsfragen, an der seitens CELADE in erster Linie der französische Demograf Léon Tabah beteiligt war, ist durch Briefverkehr zwischen J. Mayone Stycos, Dudley Kirk und Carmen Miró dokumentiert. 42 Die panamesische Demografin und Leiterin von CELADE Miró beschwerte sich dabei mehrfach, dass Stycos zu langsam und unzuverlässig arbeite und ein zu hoher Teil der Konzeption und Organisation auf den Schultern von CELADE laste. 43 Bei einem Vorbereitungsworkshop im Juli 1963 waren darüber hinaus auch die Partnerorganisationen der jeweiligen Länder beteiligt, die Miró ausgesucht und kontaktiert hatte und zu denen oftmals persönliche Verbindungen durch ehemalige Stipendiatinnen und Stipendiaten von CELADE bestanden. 44 Fertility Surveys. Die offizielle Bewilligung erfolgte sechs Wochen später ohne Begründung mit einem kurzen Brief von Parker Mauldin (Population Council) an Julia Henderson (Vereinte Nationen). Vgl. Parker Mauldin an Julia Henderson, New York, 21.11.1962: RAC, PC, Acc. 1, 4.3a Population Council Grant File – Regular, Box 50 – Folder 738D62.84 U.N.-CELADE, Chile: Comparative Fertility Surveys. 41 | Vgl. Stycos, Family and Fertility in Puerto Rico, 1955; Stycos; Back, The Control of Human Fertility, 1964; Stycos, Culture and Differential Fertility in, 1963; Tabah, Léon; Samuel, Raul: Resultados preliminares de una encuesta de fecundidad y de actitudes relativas a la formación de la familia, en Santiago de Chile, Santiago de Chile: CELADE 1959; Requena, Mariano: »Social and Economic Correlates of Induced Abortion in Santiago, Chile«, in: Demography, 2, 1965, S. 33–49. 42 | Siehe hierzu die Korrespondenz in folgendem Bestand: PC, Acc. 1, 4.3a Population Council Grant File – Regular, Box 50 – Folder 738-D62.84 U.N.-CELADE, Chile: Comparative Fertility Surveys. 43 | Vgl. beispielhaft diese Beschwerde, die Miró an Stycos richtete: »I refer to your letter of March 27, which has made me wonder what is ›joint‹ about our fertility surveys programme. We have prepared the basic memorandum that led to discussions with the Population Council; we prepared the proposal to be submitted to the Population Council; we have contacted by correspondence and by personal visits the different countries where the surveys will be undertaken; we will carry the work of the administrative arrangements for the Workshop, and we have accepted the responsibility of preparing written material for the Workshop. You, in turn cannot find time to produce a document for the Workshop within the framework of the programme suggested.« Carmen Miró an J.  Mayone Stycos, Santiago de Chile, 05.04.1963: RAC, PC, Acc. 1, 4.3a Population Council Grant File – Regular, Box 50 – Folder 738-D62.84 U.N.-CELADE, Chile: Comparative Fertility Surveys. 44 | Die mit Stipendien geförderte Ausbildung von Demografen und Demografinnen aus Lateinamerika stellte die Kernaufgabe von CELADE dar. Vgl. Miró, Carmen A.: »Prin-

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In Kolumbien hatte Miró zunächst das nationale statistische Amt DANE kontaktiert, dessen Mitarbeiter auch bei dem Vorbereitungstreffen anwesend waren. Einige Monate später zogen diese sich jedoch aus dem Projekt zurück und das Zentrum für Entwicklungsökonomie CEDE der Universidad de los Andes, bei dem die kolumbianische CELADE-Absolventin Lilia Cuervo angestellt war, sprang ein. 45 Die beiden Forscher, die zwei Jahre später für CEDE den kolumbianischen Teil der Studie analysierten, bemängelten in ihrer publizierten Auswertung, dass es bei der Konzeption der Studie und vor allem des Fragebogens keine kolumbianische Beteiligung gegeben habe und kritisierten das Projekt insgesamt stark. 46 Dabei hatten Miró und Stycos die Förderung lokaler Partner in den sieben beteiligten Ländern neben der Produktion vergleichbarer Ergebnisse zum zweiten Hauptziel des Forschungsprojektes erklärt. 47 Der Ansatz, Partnerorganisationen, die als unerfahren eingestuft wurden, von der eigenen Expertise lernen zu lassen, den CELADE genauso wie Stycos und der Population Council verfolgte, stieß bei den kolumbianischen Forschern der Universidad de los Andes also auf Widerstand und Kritik. Diese beanspruchten für sich lokale Expertise und sahen die Qualität des Forschungsprojektes durch ihre fehlende Einbeziehung stark geschwächt. Sie führten die Auswertung trotzdem durch, wandten sich aber im Anschluss von KAP-Umfragen ab, was einer weiteren Förderung ihres Demografieprogramms durch den Population Council jedoch nicht im Wege stand. Die deutliche Kritik führte also nicht zu einem Zerwürfnis mit den Geldgebern. 48 Die KAP-Forschung wurde in Kolumbien nach dieser ersten Studie in Bogotá vor allem von der Abteilung für Bevölkerungsforschung des kolumbianischen Verbandes medizinischer Fakultäten (ASCOFAME-DEP) durchgeführt. Auch die dort tätigen Forscherinnen und Forscher, die médicos demógrafos, betonten ihre lokale bzw. nationale Expertise. Als CELADE kurz nach der Durchführung der Umfrage in sieben lateinamerikanischen Städten ein neues Umfrageprojekt in ländlichen Regionen entwickelte, erweiterten sie die kolumbianischen Anteile an dem Projekt um zusätzliche, auch urbane Stichproben sowie eine KAP-Studie mit Männern und betitelten das Gesamtprojekt ciples and Practices of Teaching and Training in the Centro Latinoamericano de Demografía (CELADE)«, in: The Milbank Memorial Fund Quarterly, 42, 2/2, 1964, S. 215–235. 45 | Vgl. JMS Diary Notes, Chile, February 16, 1964, 04.03.1964, Cornell R&M, S. 78f. 46 | Prieto Duran; Cuca Tolosa, Análisis de la encuesta, 1966, S. vii–viii. 47 | Stycos; Feldt; Myers, The Cornell International Population Program, 1964, S. 202; Stycos, Survey Research and Population Control, 1964, S. 370. 48 | Das mag auch damit zusammenhängen, dass das Demografieprogramm eng mit Alvaro López Toro verbunden war, der am Office of Population Research in Princeton promoviert hatte und wie kein zweiter Kolumbianer internationale Anerkennung als Demograf genoss.

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Encuesta Nacional de Fecundidad, zu Deutsch: nationale Fertilitätsstudie. Explizit standen hier nicht nur die vergleichenden Ziele von CELADE, sondern auch die Bedürfnisse des ›nationalen Familienplanungsprogramms‹ im Mittelpunkt, in dessen Auf bau ASCOFAME-DEP sich befand. Dieses stilisierten die kolumbianischen médicos demógrafos zum lateinamerikanischen Prototyp und sich selbst und ihre Arbeit damit zum regionalen Vorbild. 49 Sie gaben dem Forschungsprojekt auch ein neues, eigenes Label, indem sie KAP zu MACHETE erweiterten.50 Dem unabhängigen, an nationalen Interessen orientierten Selbstverständnis von ASCOFAME-DEP stand jedoch eine finanziell fast vollständige Abhängigkeit von internationalen und vor allem US-amerikanischen Geldgebern gegenüber.51 Diese betrachteten die nationale Fertilitätsstudie mit großer Skepsis, hielten sie für unnötig umfangreich und kürzten den Umfang des Projekts nach und nach von insgesamt 18.000 auf nur noch 6000 Interviews mit Frauen.52 Einschränkungen oder Ablehnungen von KAP-Forschung in Kolumbien 49 | ASCOFAME-DEP: Encuesta Nacional de Fecundidad. Manual general de operaciones, Bogotá, Feb. 1968: RAC, PC, Acc. 2, Foreign Correspondence Series, Box 8, Folder ASCOFAM 67–68, S. 2; 9. 50 | Im Akronym MACHETE waren wie in CAP (der spanischen Übersetzung des englischen KAP) das A von »Actitudes« (Einstellungen) und das C von »Conocimientos« (Kenntnisse) enthalten, die anderen fünf Buchstaben standen für »Motivación« (Motivation), »Hechos o variables explicativas« (Erklärende Fakten und Variablen), »Empleo de anti-conceptivos« (Verwendung von Verhütungsmitteln), »Tráfico de las clínicas de Planificación Familiar« (Besuch der Familienplanungskliniken) und »Embarazos« (Schwangerschaften). Vgl. Jaramillo Gómez, Mario; Londoño, Juan B.: »Plan nacional de la encuesta de fecundidad«, in: ASCOFAME-DEP, Regulación de la fecundidad Vol. 2, 1968, S. 167–184, hier: S. 170. 51 | Zur Finanzierung von ASCOFAME-DEP siehe Kapitel 3.2. 52 | Die Zahl 18.000 zirkulierte im März 1968 in Briefen zwischen zwei Mitarbeitern des Population Council (Parker Mauldin und Charles Lininger) sowie Roe Goodman, einem Mitarbeiter der Wirtschaftskommission für Lateinamerika und die Karibik, CEPAL, der CELADE unterstellt war. Alle drei äußerten ihre Sorge, dass das Projekt zu ambitioniert sei und die Kapazitäten und Fähigkeiten von ASCOFAME-DEP übersteige, wobei es zu diesem Zeitpunkt noch gar keinen formalen Antrag zur Finanzierung der Studie an den Population Council gegeben hatte. Vgl. Charles Lininger an Parker Mauldin, Lima, 22.03.1968: RAC, PC, Acc. 1, Box 73 – Folder 1383-D65.139 U.N.-CELADE, Chile: Comparative Rural Fertility Surveys in Latin America; Roe Goodman an Parker Mauldin, Santiago de Chile, 23.03.1968: RAC, PC, Acc. 1, Box 73 – Folder 1383-D65.139 U.N.-CELADE, Chile: Comparative Rural Fertility Surveys in Latin America; Parker Mauldin an Charles Lininger, 28.03.1968: RAC, PC, Acc. 1, Box 73 – Folder 1383-D65.139 U.N.-CELADE, Chile: Comparative Rural Fertility Surveys in Latin America. Endgültig re-

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waren jedoch keinesfalls kolumbianischen Institutionen vorbehalten. So sah sich auch J.  Mayone Stycos 1969 damit konfrontiert, dass von ihm geplante Umfrageprojekte zur Effektivität verschiedener Werbemittel für Familienplanungsprogramme von ASCOFAME-DEP und den in Kolumbien ansässigen Beratern des Population Council als methodisch schwach und für eine Verbesserung der kolumbianischen Programme unnötig angesehen wurden, weshalb es ASCOFAME-DEP ablehnte, bei deren Durchführung und indirekter Finanzierung zu kooperieren.53 Durchführen konnte Stycos die Projekte jedoch trotzdem.54 Die Beteiligung ganz unterschiedlicher Personen und Institutionen an der Konzeption, Durchführung und Auswertung der KAP-Studien konnte auch zu großen Unterschieden in der Darlegung der gemeinsamen Forschungsziele führen. Auch das lässt sich am Beispiel der vergleichenden Fertilitätsstudie unter der Leitung von CELADE und dem International Population Program (IPP) zeigen. J.  Mayone Stycos kündigte das Projekt im September 1963 mit einer Pressemitteilung sowie einem Vortrag bei einer Konferenz des Milbank Memorial Fund zu Demografie und Public Health in Lateinamerika und im Mai 1964 erneut bei einer Konferenz zweier großer Dachverbände der Meinungsforschung an.55 In der Presse wurde betont, dass es sich um das größte alisiert wurden 3005 Interviews mit Frauen aus ländlichen Gebieten, 3000 Interviews mit Frauen aus städtischen Gebieten und 511 Interviews mit ausgewählten Partnern der interviewten Frauen aus allen Gebieten. Vgl. ASCOFAME-DEP, Resultados Generales, 1973, S. 17; Heredia Benitez, Rodolfo A.: Resultados Generales. Encuesta de Fecundidad Masculina, Bogotá: ASCOFAME 1974, S. 20. 53 | Diese kurze Darstellung basiert auf einem Brief, den Harold C. Gustafson, der als resident adviser des Population Council in Bogotá eng mit ASCOFAME-DEP zusammenarbeitete, an seinen Vorgesetzten Charles Lininger nach New York schickte. Gustafson stellte seine Meinung darin als identisch mit der seiner kolumbianischen Kollegen dar und verwarf Stycos’ Pläne mit harschen Worten. Wie Frauen effektiv für Familienplanungsprogramme angeworben werden könnten, sei in Kolumbien bereits hinlänglich bekannt, und Stycos könne das in der Literatur der letzten zwanzig Jahre nachlesen. Harold C. Gustafson an Charles Lininger, Bogotá, 31.12.1969: RAC, PC, Acc. 2, Foreign Correspondence Series, Box 9, Folder Gustafson 69. 54 | Vermutlich sind die Projekte, auf die hier verwiesen wird, mehrere kleine Kommunikationsstudien, die 1975 in einen Sammelband zu Die Klinik und der Informationsfluss mündeten. So entstanden u. a. folgende zwei Studien in Zusammenarbeit des IPP mit PROFAMILIA: Stycos; Avery, Family Planning via the Airwaves, 1975; Stycos, J. Mayone: »The Printed Word in a Setting of Illiteracy. Two Pamphlets in Bogotá Barrios«, in: Ders., The Clinic and Information Flow, 1975, S. 127–139. 55 | Die Presseerklärung ist nicht überliefert, der sehr ähnliche Wortlaut in Zeitungsartikeln des Cornell Daily und der New York Times lässt jedoch Rückschlüsse auf den Text

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Forschungsprojekt seiner Art handele, das dazu beitragen werde, Programme zur Bevölkerungskontrolle zu verbessern. Damit würden die Probleme, die Bevölkerungswachstum und Massenmigration verursachten, gelöst.56 Vor seinen Kolleginnen und Kollegen aus der Meinungsforschung pries Stycos die erwarteten Effekte der vergleichenden Studie wenige Monate später ähnlich selbstbewusst an und nahm, während die Phase der Interviewführung noch in vollem Gange war, auch schon die Ergebnisse vorweg. Aufgrund der bisherigen Studien in der Karibik und in Chile sei zu erwarten, dass das Forschungsprojekt zeigen werde, dass es in den sieben Städten in allen Schichten eine hohe Motivation für kleine Familien, jedoch wenig Kenntnisse über Verhütungsmittel und nur für Frauen aus bestimmten Klassen Zugang zu diesen gebe. Diese Ergebnisse würden in Lateinamerika große Auswirkungen haben und die Einstellungen der Eliten verändern, die die Nachfrage nach Verhütungsmitteln bisher verneinten. Diese Nachfrage werde jetzt mit der Fertilitätsumfrage belegt, die daher denselben Zweck erfülle wie jedes andere Marktforschungsprojekt auch.57 Ganz anders bewertete Léon Tabah die Reichweite der Studie, als er sie 1964 dem demografischen Fachpublikum in der Zeitschrift Population des französischen Institut National d’Études Démographiques vorstellte. Mit vorsichtigen Formulierungen bezeichnete er sie als einen Versuch, die moralischen, psychologischen, sozialen und politischen Faktoren, die mit Einstellungen zu Fertilität in Verbindungen standen, zu verstehen und eventuell auch zu messen.58 Im Gegensatz zu Stycos stellte er die Studie nicht in Beziehung zu Familienplanungsprogrammen. Diese unterschiedliche Zielsetzung spiegelt zum einen den ganz unterschiedlichen Charakter der Institutionen wider, für die Stycos und Tabah arbeiteten, zum anderen auch die verschiedenen scientific communities, vor der die Studie erläutert wurde. In den Begründungen der KAP-Studien, die in den folgenden Jahren in Kolumbien durchgeführt wurden, setzte sich vor allem die Argumentation durch, dass diese als Grundlage für staatliche und private Familienplanungs-

zu. Vgl. »Univ. to Aid U.N. Survey Of Population«, in: The Cornell Daily Sun, 23.09.1963; »Cornell to Direct Population Inquiry«, in: The New York Times, 08.09.1963. Die Vorträge wurden beide als Aufsätze publiziert. Vgl. Stycos; Feldt; Myers., The Cornell International Population Program, 1964; Stycos, Survey Research and Population Control, 1964. 56 | Vgl. Univ. to Aid U.N, 23.09.1963. 57 | Stycos, Survey Research and Population Control, 1964, S. 368; 371. Der Aufsatz wurde von Kritikern und Kritikerinnen als Beweis der Unwissenschaftlichkeit der KAPForschung zitiert. Vgl. Pradervand, International Aspects of Population Control, 1970, S. 3; Warwick, The Politics of Research, 1994, S. 180. 58 | Tabah, Léon: »Plan de recherche de sept enquêtes comparatives sur la fécondité en Amérique latine«, in: Population, 19, 1, 1964, S. 95–126, hier: S. 95ff.

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programme dienen sollten.59 Auch wurde wiederholt betont, es gelte das Vorurteil abzubauen, wonach katholische Frauen weniger Verhütungsmittel verwenden wollten.60 Darüber hinaus wurde bis in die späten 1960er Jahre mit der defizitären offiziellen Geburtenstatistik argumentiert, die Fertilitätsumfragen notwendig mache.61 Aus der Reihe fiel innerhalb der klassischen KAP-Studien eine Umfrage, die 1966 in Medellín durchgeführt wurde. Deren Durchführung wurde in erster Linie damit begründet, dass die Hypothese belegt werden müsse, wonach Frauen in Medellín kaum über Kenntnisse zu Sexualität und Reproduktion verfügten und darin der wichtigste Grund für die hohe Geburtenrate in Medellín liege. Gefordert wurde nicht nur der Zugang zu Verhütungsmitteln, sondern vor allem eine umfassende Sexualerziehung. Explizit wie in keiner zweiten Studie wurde daher in dieser nach sexuellen Kenntnissen und Praktiken gefragt.62

4.4 F r agebögen – das W erk zeug der F ertilitätsforschung Nach der Beantragung und Bewilligung der Umfrageprojekte waren die drei vorbereitenden Schritte für die Feldforschung die Erstellung des Fragebogens, die Auswahl und Ausbildung der Interviewerinnen und – selten – Interviewer sowie die Berechnung der Stichprobe.63 Die Interviewfragebögen waren das grundlegende Werkzeug der KAP-Forschung.64 Die Analyse der Erarbeitung, 59 | Vgl. u. a. Hartford, Attitude, Information, and Fertility, 1971, S. 296; ASCOFAMEDEP, Encuesta Nacional de Fecundidad, Feb. 1968, RAC, S. 2. 60 | Vgl. Jaramillo Gómez; Hartford, Encuesta de fecundidad de Medellín, 1968. 61 | Vgl. ASCOFAME-DEP, Encuesta Nacional de Fecundidad, Feb. 1968, RAC, S. 2. 62 | Vgl. Jaramillo Gómez; Hartford, Encuesta de fecundidad de Medellín, 1968, S. 17. 63 | Diese Schritte verliefen in der Regel parallel und miteinander verschränkt, sodass die Reihenfolge in der sie hier abgehandelt werden, nicht der tatsächlichen Abfolge entsprechen muss. Da der Großteil der Interviews von und mit Frauen durchgeführt wurde, wird in diesem Kapitel großteils auf die männlichen Formen »Interviewer« und »Interview­p artner« verzichtet. 64 | Die Fragebögen liegen aus den folgenden acht KAP- und Fertilitätsstudien vor, die hier chronologisch gelistet werden: CELADE: »Comparative Surveys of Fertility in Latin America«, auf: https://www.ropercenter.cornell.edu/CFIDE/cf/action/catalog/ab stract.cfm?type=&start=&id=&archno=COKAPS1964-1701&abstract= (21.06.2017); Fragebogen Familienplanung Candelaria, o. D.: Columbia HS A&S, JDW, Box 18, Folder 2; Universidad del Valle, Facultad de Medicina, Centro Piloto de Salud Candelaria, Programa de Planificación Familiar. Encuesta de Conocimientos, o. D.: Columbia HS A&S, JDW, Box 18, Folder 2; Erazo, José V.: »Encuesta de opinión sobre planeación familiar

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der Veränderungen und der Diskussionen über die Fragebögen legt zahlreiche Vorannahmen der Forschenden offen. Hier zeigt sich, welche sozialen Variablen mit dem ›Fertilitätsverhalten‹ in Beziehung gesetzt wurden, d. h. welche Kategorien bei der Analyse ›differenzieller Fertilität‹ als relevant erachtet wurden. Erst die Vorannahme, Benennung und Messung sozialer und kultureller Unterschiede nach Kategorien wie Herkunft oder Einkommen macht diese sichtbar und damit auch ›real‹.65 Auch legen die Fragen nach den Einstellungen offen, woran Traditionalität und Modernität der befragten Frauen festgemacht wurden. Diese Annahmen treten nicht zuletzt deshalb deutlich hervor, weil den Fragen oft eine Reihe vorformulierter Antworten beigefügt waren, die entweder von der Interviewerin vorgelesen und sogleich ausgewählt wurden oder bei frei formulierten Antworten der Interviewpartnerin wenn irgend möglich zugeordnet werden sollten. Weiterhin zeigt sich in der konkreten Formulierung der Fragen und ihrer strategischen Reihenfolge, welches Wissen bei den befragten Frauen vorausgesetzt wurde und was im Vorfeld sag- und denkbar erschien. Vor allem bei den Fragen zu Partnerschaft, Sexualität und Verhütung gab es Diskussionen darüber, wie direkt diese Themen angesprochen werden konnten und was nach Ansicht der Forschenden nur angedeutet werden konnte oder ausgespart werden musste. Als Indikatoren sozialer Differenz, die regelmäßig in den kolumbianischen Fertilitätsstudien abgefragt wurden, galten der Geburtsort und die Migrationsgeschichte, das Bildungsniveau der Frau sowie ihr Arbeitsverhältnis. Meistens wurden die Merkmale auch für ihre Eltern, ihren Partner und dessen Eltern in Erfahrung gebracht. Für die Fragen zu Arbeit und Berufstätigkeit gilt gar, dass sie für den Partner sehr viel intensiver erfragt wurden als für die interviewte Frau selbst. Hier zeigt sich, dass davon ausgegangen wurde, dass die Frau im Haushalt arbeitete bzw. keiner qualifizierten Erwerbstätigkeit nachging. Im Mittelpunkt des Interesses an ›differenzieller Fertilität‹ standen also Klassenmerkmale sowie der als entscheidend betrachtete Stadt-Land-Unterschied.

en los municipios de Popayan y Timbío«, in: ASCOFAME, Boletín del segundo seminario, 1965, S. 167–193; Simmons, The Emergence of Planning Orientations, 1970; Monsees, David M.: Correlates of Fertility Attitudes and Behavior in Candelaria, Colombia. Dissertation, Chicago IL: Univ. of Chicago, 1970; ASCOFAME-DEP, Resultados Generales, 1973; Heredia Benitez, Resultados Generales, 1974. Aussagen, die auf alle Bögen zutreffen bzw. deren Gemeinsamkeiten zusammenfassen, werden in den folgenden Ausführungen nicht erneut belegt. 65 | Vgl. Reinecke; Mergel, Das Soziale vorstellen, 2012.

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Auffällig abwesend sind in den meisten Studien hingegen Fragen entlang ethnischer Kategorien.66 Das steht in markantem Kontrast zu den Anfängen des demografischen Interesses an ›differenzieller Fertilität‹, das zu Beginn des 20. Jahrhunderts in den USA aus Sorge vor der ›Fruchtbarkeit‹ der armen und vor allem der ›schwarzen‹ US-amerikanischen Bevölkerung entstanden war. Auch in Kolumbien war die elitäre und pessimistische Problematisierung von Bevölkerungsentwicklungen im frühen 20. Jahrhundert in hohem Maße rassistisch konnotiert gewesen. 67 Die modernisierungstheoretisch inspirierten Forscherinnen und Forscher, die sich in den 1960er Jahren für die individuellen und sozialen Hintergründe von Familienplanung interessierten, betrachteten die ›traditionelle‹ Landbevölkerung hingegen optimistisch als veränderungsfähige individuelle Subjekte und sahen den Schlüssel zu verändertem Verhalten in veränderten Einstellungen.68 Den Fragen zu Einstellungen und Meinungen kam daher ein ganz besonderes Gewicht innerhalb der Fertilitätsumfragen zu. Sie umfassten sowohl ganz direkte Fragen danach, ob die Frauen die Verwendung von Verhütungsmitteln oder Abtreibungen befürworteten und worin sie die Vor- und Nachteile großer und kleiner Familien sahen, als auch Fragen, die der Messung von Modernität und Traditionalität der Frauen dienten. Diese Fragen bezogen sich auf Geschlechterrollen, auf Wünsche und Hoffnungen für die Kinder sowie auf das Verhältnis zwischen Eltern und Kindern. Es wurde aber auch ganz direkt danach gefragt, ob es auf der Welt Fortschritt gebe oder die Dinge immer blieben, wie sie seien, und Modernität wurde zusätzlich zu den Einstellungen auch anhand ›harter Fakten‹ gemessen, wobei diese in erster Linie den Zugang zu Massenmedien, das heißt die Lektüre- und Radiohörgewohnheiten der Frauen, betrafen.69 Medienkonsum galt also als Modernitätsindikator. Auffällig ist dabei erstens, dass die Einstellungsfragen zu Modernität und Traditionalität nur in den Studien gestellt wurden, an deren Konzeption CELADE beteiligt war. Zweitens zeugen die ganz unterschiedlichen Einstellungsfragen 66 | Als Ausnahmen können hier die KAP-Studien aus Candelaria, Popayán und Timbio angeführt werden: Aguirre, Colombia, 1966; Erazo, Encuesta de opinión sobre planeación, 1965. 67 | Vgl. u. a. Flórez Bolívar, Francisco J.: »Representaciones del caribe colombiano en el marco de los debates sobre la degeneración de las razas. Geografía, raza y nación a comienzos del siglo XX«, in: Historia y Espacio, 31, 2008, S. 35–59. 68 | Siehe hierzu Unger, Corinna R.: »Family Planning – A Rational Choice? The Influence of Systems Approaches, Behavioralism, and Rational Choice Thinking on MidTwentieth-Century Family Planning Programs«, in: Hartmann; Unger, A World of Populations, 2014, S. 58–82. 69 | Vgl. CELADE, Comparative Surveys of Fertility, 1963, S. 124; ASCOFAME-DEP, Resultados Generales, 1973, S. 264.

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in der urbanen CELADE-Studie von 1964 und der ländlichen CELADE-Studie von 1966 davon, dass sowohl die Erwartungen an die ›Mentalität‹ als auch die Merkmale von Modernisierung einer starken Stadt-Land-Dichotomie unterlagen. So wurden Frauen in den Städten nach ihrer Meinung zu berufstätigen Frauen, Frauen in der Politik und geschlechtergemischten Schulen befragt, Frauen auf dem Land hingegen zur Bedeutung von Schulbildung für ihre Kinder, dem Einsatz von Maschinen in der Landwirtschaft, ihrer Meinung zu zunehmenden Scheidungsraten und Generationenkonflikten.70 CELADE formulierte 1962 in einer KAP-Studie in Santiago de Chile auch erstmals die Frage, ob es in Chile zu viele, genau richtig viele oder zu wenige Geburten gebe.71 Hier wurde also bereits in der Frage die individuelle Ebene verlassen und die Zahl der Geburten mit dem Wohle der Nation verknüpft. Im Fragebogen für die vergleichende lateinamerikanische Fertilitätsstudie von 1964, der sehr eng an den der Studie in Santiago angelehnt war, wurde die nationale Ebene ebenfalls angesprochen und es wurde sowohl gefragt, ob die Bevölkerung des jeweiligen Landes zu schnell wachse, als auch, ob dies gut für das jeweilige Land sei. Weiterhin zeigen die vorformulierten Antworten auf die Frage, welche Gründe Menschen dafür haben könnten, Geburtenkontrolle zu befürworten, dass »um die Lebensverhältnisse des Landes zu verbessern« für eine realistische Antwort gehalten wurde bzw. den Befragten als mögliche Einstellung nahegebracht werden sollte.72 In einem Modell zu »Sozialstruktur und Fertilität« hatten Judith Blake und Kingsley Davis 1956 handfestere Faktoren als nationales Verantwortungsgefühl zu den entscheidenden Untersuchungsgegenständen im Zeitalter der hohen Fertilität in unterentwickelten Ländern erklärt. So gebe es elf intermediäre Variablen, durch die kulturelle Faktoren Fertilität beeinflussen könnten: das Alter des ersten sexuellen Kontaktes; die Anzahl an Frauen, die nie sexuell aktiv werden; die reproduktive Zeit zwischen Partnerschaften; freiwillige Abstinenz; unfreiwillige Abstinenz; Häufigkeit des Geschlechtsverkehrs; unfreiwillige Fertilität und Infertilität; Verwendung oder Nicht-Verwendung von Verhütungsmitteln; freiwillige Fertilität oder Infertilität, unfreiwillige Fötussterblichkeit und freiwillige Fötussterblichkeit.73 Gemäß diesem in der KAP70 | Vgl. CELADE: Reunión de trabajo sobre encuestas comparativas de fecundidad en la América Latina (Documentos). Tomo II, Santiago de Chile 1965, S. 9; ASCOFAMEDEP, Resultados Generales, 1973, S. 266f. 71 | CELADE, Reunión de trabajo sobre encuestas, 1965, S. 1. 72 | Es wurde bei der Frage nicht spezifiziert was es bedeutete, »für Geburtenkontrolle« zu sein. CELADE, Comparative Surveys of Fertility, 1963, S. 135. 73 | Davis, Kingsley; Blake, Judith: »Social Structure and Fertility. An Analytic Framework«, in: Economic Development and Cultural Change, 4, 3, 1956, S. 211–235, hier: S. 211f.

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Forschung viel rezipierten und oft angewandten Modell waren also in allererster Linie Faktoren, die sehr direkt mit Sexualität zu tun hatten, von Interesse. Die Fragen dazu lassen sich in vier Blöcke teilen: die Anzahl und Dauer der Partnerschaften oder Ehen sowie der Charakter der aktuellen Partnerschaften, alle bisherigen Schwangerschaften, Kenntnisse über Reproduktion und Verhütung sowie das Sexualleben und die Anwendung von Verhütungsmitteln. Für die Ermittlung der Schwangerschaftsgeschichte wurde viel Sorgfalt aufgewendet. In der Vielzahl und Wiederholung der Fragen zu allen Schwangerschaften und Geburten im bisherigen Leben der interviewten Frauen zeigt sich das Interesse daran, offizielle Zahlen zu Geburts- und Fertilitätsraten zu überprüfen. Vor allem die Anzahl an Fehlgeburten, Abtreibungen und Totgeburten wurde versucht durch akribisches, wiederholtes Fragen exakt zu ermitteln. Die Forscherinnen und Forscher gingen dabei von einer hohen Dunkelziffer aus. In den Fragen zu Kenntnissen von Verhütungsmitteln sowie Erfahrungen mit deren Gebrauch und zu sexuellen Gewohnheiten zeigen sich große Unterschiede je nachdem ob Frauen auf dem Land oder Frauen in den Städten interviewt wurden, und nach Bildungsgrad. Im direkten Vergleich der beiden CELADE-Studien ist erstens auffällig, dass nur die Frauen auf dem Land gefragt wurden, ob sie wüssten, an welchen Tagen eine Frau schwanger werden könne, und ob junge Frauen das lernen sollten. Bei den Frauen in den Städten wurde dieses Wissen hingegen vorausgesetzt und die Einstellung zu Sexualerziehung nicht erforscht. Im urbanen Fragebogen wurde zudem je nach Bildungsgrad unterschiedlich viel Diskretion an den Tag gelegt. Frauen, die mehr als sechs Jahre zur Schule gegangen waren, bekamen den Fragebogen zur bisherigen Verwendung von Verhütungsmitteln ausgehändigt und sollten diesen selbst ausfüllen. Den weniger gebildeten Frauen wurden diese Fragen vorgelesen. Dazu stand explizit in den Anleitungen für die Interviewerinnen, dass von diesen Frauen weniger Scham zu erwarten sei.74 Direkte Fragen zu sexuellen Praktiken enthielten die CELADE-Studien nicht, einige der kleineren kolumbianischen Studien hingegen schon.75 Teilweise beschränkten sich diese Fragen auf die Häufigkeit von Geschlechtsverkehr und das Alter beim ersten Geschlechtsverkehr, einige Studien enthielten jedoch auch Fragen danach, wie viel Gefallen die Frauen und Männer an Sex hatten. Vor allem in der 1966 in Medellín durchgeführten Studie wurde dieser Aspekt erfragt.76 74 | Vgl. CELADE, Comparative Surveys of Fertility, 1963, S. 132f. 75 | Siehe z. B. Erazo, Encuesta de opinión sobre planeación, 1965. 76 | Der Fragebogen dieser Studie ist leider nicht erhalten, aber aus der Auswertung geht hervor, dass die Frauen nicht nur gefragt wurden, ob sie vorehelichen Sex hatten, wie häufig sie gegenwärtig Geschlechtsverkehr hatten und ob und warum sich diese Häufigkeit von der ersten Zeit der Beziehung unterscheide, sondern auch danach, wie oft sie einen Orgasmus hätten, wie gut ihnen der Sex gefalle, ob es einen Zusammen-

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4.5 D ie I ntervie werinnen und die S tichprobe Nicht zuletzt wegen den sensiblen Fragen zu Sexualität nahm die sorgfältige Auswahl und Ausbildung der Interviewerinnen einen zentralen Platz in der methodischen Konzeption der KAP-Studien ein. Handbücher der Studien, die unter der Leitung von CELADE entstanden, sowie Feldforschungsberichte der Encuesta Nacional de Fecundidad zeichnen das Profil der perfekten Interviewerin. Diese sollte u. a. mindestens über einen höheren Schulabschluss verfügen, zur besseren Identifikation mit den befragten Frauen selbst im »gebärfähigen Alter« sein, frei und ohne Schüchternheit über Familienplanung sprechen können, ein angenehmes Äußeres, Taktgefühl und gutes Benehmen vorweisen sowie Begeisterung für wissenschaftliche Forschung mitbringen, die Ziele des Projektes unterstützen und nicht nur wegen der Bezahlung Interesse an der Arbeit zeigen. Zudem wurden Integrität, Fleiß, Teamfähigkeit und die Bereitschaft, Vollzeit zu arbeiten, erwartet.77 Überprüft wurden diese Eigenschaften in ausführlichen Bewerbungsgesprächen und während des Ausbildungsprozesses, der zwei bis drei Wochen dauerte. Den hohen Erwartungen an ihren Charakter und ihre Fähigkeiten hielten nur wenige der Bewerberinnen stand. So waren von 120 Frauen, die sich als Interviewerin für die Encuesta Nacional de Fecundidad bewarben, nach dem Bewerbungsgespräch siebzig zur Ausbildung angenommen worden, von denen danach schließlich zwanzig ausgewählt wurden. Die meisten Bewerberinnen waren Sozialarbeiterinnen.78 Gegenstand der Ausbildung waren erstens die Inhalte der Studie, d. h. die Interviewerinnen wurden in Vorträgen über Reproduktion, Verhütung, Bevölkerungswachstum und die Position der katholischen Kirche dazu informiert, und zweitens die Methodik der Interviewführung. Der Umgang mit den Fragebögen und den Leitfäden, die die Interviewerinnen zusätzlich erhielten, wurde auch in Probeinterviews geübt.79

hang zwischen seltenen Orgasmen und sinkendem Kinderwunsch gebe und ob Sex auf ihre oder die Initiative ihres Mannes zurückgehe. Vgl. Jaramillo Gómez; Hartford, Encuesta de fecundidad de Medellín, 1968, S. 29–35. 77 | CELADE: Manual de Supervisión. Programa de Encuestas Comparativas de Fecundidad en América Latina, Santiago de Chile, S. 14f. 78 | Vgl. Londoño, Juan B.: Informe sobre el trabajo de campo de la encuesta de fecundidad nacional. Primera etapa, Bogotá, 10.04.1969: RAC, PC, Acc. 2, Foreign Correspondence Series, Box 8, Folder 1968–1969, S. 1f. 79 | Vgl. Prieto Duran, Rafael; Cuca Tolosa, Roberto: »Análisis de la encuesta de fecundidad. Informe Preliminar«, in: ASCOFAME, Boletín del segundo seminario, 1965, S. 149–166, hier: S. 158; Londoño, Informe sobre el trabajo de campo, 10.04.1969, RAC, S. 1f.

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Die Ausbildung lag bei den KAP-Studien, die ab 1962 in Kolumbien durchgeführt wurden, in kolumbianischer Hand.80 Die Beratung durch Stycos, Miró und andere internationale Expertinnen und Experten bezog sich auf die Konzeption der Studien und teilweise auf die Arbeit der Koordinatoren und Koordinatorinnen, aber nicht auf die Ausbildung der Interviewerinnen. Das ist ein vielsagender Unterschied zu den karibischen Fertilitätsstudien der 1950er Jahre. Dort hatten J. Mayone Stycos und andere US-amerikanische Soziologinnen und Soziologen die Ausbildung übernommen und Stycos hatte sich in mehreren Aufsätzen mit den Herausforderungen der »Ausbildung von Interviewerinnen in anderen Kulturen« auseinandergesetzt.81 Das Verhältnis zwischen Stycos und den puertoricanischen Interviewerinnen, die die Feldforschung für ihn durchführten, ist jüngst kritisch analysiert worden. Zwar zeigt der Historiker Raúl Necochea, dass die Mitarbeit an dem Projekt für die puertoricanischen Frauen eine von ihnen geschätzte Möglichkeit des beruflichen Aufstiegs darstellte. Aber dennoch habe die mit drei Wochen extrem kurze und oberflächliche Ausbildung der Interviewerinnen – für vergleichbare Projekte in den USA betrug diese ein Jahr – das ohnehin bestehende Gefälle zwischen den US-amerikanischen Forscherinnen und Forschern, die sich für wissenschaftlich überlegen hielten, und ihren puertoricanischen Kolleginnen und Kollegen verstärkt.82 Dieses in Puerto Rico entwickelte Modell eines »motivated pool of part-time workers who could be repeatedly called on for whatever projects social scientists might have in mind« habe nachhaltigen Einfluss gehabt und sei in den folgenden Jahren nach Lateinamerika exportiert worden.83 In der Tat sind in den kolumbianischen Studien zahlreiche Verweise auf die puertoricanischen und jamaikanischen Erfahrungen bei der Auswahl und Ausbildung der Interviewerinnen zu finden und entsprachen die Arbeitsverhältnisse denen der karibischen Interviewerinnen. Auch in Kolumbien mussten die Interviewerinnen also dazu bereit sein, befristete und gleichzeitig zeitlich herausfordernde und flexible Verträge einzugehen. Das hierarchische Gefälle, das Necochea beschreibt, war nun ein anderes: Es bestand weniger zwischen 80 | Prieto Duran; Cuca Tolosa, Análisis de la encuesta, 1965, S. 158; Londoño, Informe sobre el trabajo de campo, 10.04.1969, RAC, S. 1f. 81 | Stycos, Interviewer Training in another Culture, 1952; Stycos, J. Mayone: »Unusual Applications of Research. Studies of Fertility in Underdeveloped Areas«, in: Human Organization, 13, 1, 1954, S. 9–12; Stycos, Further Observations on the Recruitment, 1955; Back; Stycos, The Survey under Unusual Conditions, 1959. 82 | Necocheas Studie liegen zahlreiche Interviews mit ehemaligen Mitarbeiterinnen Stycos’ zugrunde, die auf ihre Mitarbeit an dem Projekt und die Chancen, die sie ihnen eröffnete, durchweg positiv zurückblicken. Vgl. Necochea López, The Puerto Rico Family Life Study, im Erscheinen. 83 | Ebd., S. 23.

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den US-amerikanischen Expertinnen und Experten und den ›einheimischen‹ Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern als zwischen den im Ausland ausgebildeten Kolumbianerinnen und Kolumbianern, die an kolumbianischen Universitäten angestellt waren, und den jungen Sozialarbeiterinnen, die als Interviewerinnen temporär rekrutiert wurden. Die Auswahl der Frauen, die von den Interviewerinnen befragt wurden, war der dritte zentrale Aspekt bei der Vorbereitung der Feldforschung, und auch diesem widmeten die Forscherinnen und Forscher große Aufmerksamkeit. Schließlich beruhte die Anerkennung der Studie als Abbild nationaler oder regionaler Einstellungen und Praktiken ganz entscheidend auf der Repräsentativität der Stichprobe. Die Anerkennung, dass die Stichprobe methodisch sauber und sorgfältig ausgewählt worden war, war von maßgeblicher Bedeutung für die Glaubwürdigkeit ihrer Ergebnisse. Für die Vereinigten Staaten hat die Historikerin Sarah Igo herausgearbeitet, dass diesem Anspruch der repräsentativen Meinungsumfragen lange Zeit mit großer Skepsis begegnet wurde. Das Versprechen, auf Grundlage von mehreren Hundert oder Tausend Interviews die Meinung ›der Öffentlichkeit‹ darzustellen, erschien zahlreichen US-Amerikanerinnen und -Amerikanern als undemokratische Täuschung.84 Die in Kolumbien angewandten Techniken zur Auswahl eines repräsentativen Querschnitts aller Frauen im ›gebärfähigen Alter‹ werden hier exemplarisch anhand der Encuesta Nacional de Fecundidad von 1969 dargestellt.85 Bei der Vorbereitung der Studie wurden zunächst bestimmte ländliche Gebiete, kleine Ortschaften und Städte als repräsentativ für Kolumbien erklärt und in einem zweiten Schritt Karten der ausgewählten Gebiete erstellt. Aufgrund der Verknüpfung der Encuesta Nacional de Fecundidad mit der vergleichenden Fertilitätsstudie für ländliche Gebiete von CELADE erfolgte eine systematische und im Anspruch repräsentative Auswahl der zu interviewenden Frauen nur für den ländlichen Teil der Encuesta Nacional de Fecundidad, wobei darunter Kleinstädte mit bis zu 20.000 Einwohnern gefasst wurden. Die Auswahl der Verwaltungseinheiten, in denen Interviews durchgeführt wurden, erfolgte mit dem Anspruch, das gesamte nationale Territorium abzubilden, obgleich besonders schwer zugängliche Gebiete sowie solche, in denen weniger als zehn Einwohner pro Quadratkilometer lebten, aussortiert wurden. Übrig blieben so nur 25 Prozent des Territoriums, in denen – so wurde es auf Grundlage des Zensus von 1964 kalkuliert – 85 Prozent der Landbevölkerung lebten.86 Ausgeschlossen aus dem nationalen Abbild waren so das komplette Amazonasgebiet im Osten des Landes, die gesamte Pazifikküste, der nördliche Teil der Grenze 84 | Vgl. Igo, Hearing the Masses, 2012, S. 224ff. 85 | Das Alter der zu befragenden Frauen war in dieser Studie auf 15–49 festgelegt. Vgl. ASCOFAME-DEP, Resultados Generales, 1973, S. 3. 86 | Vgl. ebd., S. 5.

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zu Venezuela und große Teile der Provinz Antioquia. Alle diese Gebiete wiesen einen hohen Anteil indigener und afrokolumbianischer Bevölkerung auf.87 Die municipios der verbleibenden 25 Prozent wurden gemäß eines Verfahrens, das ASCOFAME und das Gesundheitsministerium wenige Jahre zuvor für eine große Studie zu Gesundheitsversorgung in Kolumbien entwickelt hatten, in vier geografische Zonen unterteilt.88 Dann wurde, wiederum auf Grundlage des Zensus von 1964, für alle municipios die Zahl der Frauen im ›gebärfähigen Alter‹ kalkuliert und proportional die zu interviewende Zahl Frauen pro municipio berechnet, wobei eine Gesamtzahl von 3000 Interviews festgelegt war. Unterschieden wurde weiterhin zwischen den Kategorien »semi-urban« (Frauen aus den Hauptstädten der municipios mit weniger als 20.000 Einwohnern), »semi-ländlich« (Frauen aus Dörfern in municipios mit mehr als 20.000 Einwohnern) und »ländlich-ländlich« (Frauen aus Dörfern in municipios mit weniger als 20.000 Einwohnern). Die municipios wurden anhand dieser Kategorien gruppiert und dann wiederum einzelne municipios ausgesucht.89 Die Städte für die ergänzende urbane Studie, mit der ASCOFAME das CELADEProjekt zur nationalen Studie erhob, wurden nach pragmatischen Gesichtspunkten ausgewählt. So wurden die Städte mit mehr als 20.000 Einwohnern nach ihrer Nähe zu den municipios der ruralen Studie ausgewählt, damit dieselben Interviewerinnen verwendet werden konnten und diese keine langen Wege hatten. Zudem wurde die Hauptstadt Bogotá als »wichtigste Metropole des Landes« ebenfalls Teil der Studie.90 Auf die Auswahl der municipios und die Berechnung der jeweils zu interviewenden Frauen folgte die kartografische Erschließung dieser Räume. Diese Aufgabe lag bei einem Zeichner oder einer Zeichnerin, der oder die das municipio bzw. Segmente, in die es unterteilt wurde, abfahren und ablaufen musste und Geländekarten erstellte, auf denen alle Häuser und Wege sowie die 87 | Zur Geschichte der kartographischen Konstruktion von Nation und Region und damit verbundenen Vorstellungen von race und Ethnizität in Kolumbien siehe Appelbaum, Nancy P.: Mapping the Country of Regions. The Chorographic Commission of Nineteenth-Century Colombia, Chapel Hill NC: The Univ. of North Carolina Press 2016. 88 | Das Verfahren, nach dem Kolumbien in der Studie zu Gesundheitsversorgung in Regionen unterteilt wurde, lässt sich anhand der publizierten Ergebnisse der Studie leider nicht nachvollziehen. Dort heißt es lediglich, es seien Stichprobeneinheiten aus einem oder mehreren municipios mit insgesamt über 5000 Einwohnerinnen und Einwohnern gebildet worden, und diese seien nach »geografischer Diversität, Höhenunterschieden und anderen Charakteristika« in »estratos« gruppiert worden. Paredes Manrique, Raúl; Agualimpia M., Carlos: Estudio de Recursos Humanos para la Salud y la Educación Médica en Colombia. Métodos y Resultados, Bogotá: Canal Ramirez-Antares 1970, S. 41. 89 | ASCOFAME-DEP, Resultados Generales, 1973, S. 5–10. 90 | Ebd., S. 13.

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Zugänglichkeit und Dauer der Strecken zwischen den Dörfern und Häusern eingetragen werden sollten. Zudem wurden dort ›sozioökonomische‹ Faktoren des Segments wie z. B. die Art der Landwirtschaft, die Entfernung zur nächsten Stadt und die Präsenz von Pfarrern, Ärztinnen und Ärzten eingetragen. In der Anleitung für die Zeichner und Zeichnerinnen, die von CELADE verfasst wurde, wurde diesen geraten, sich bei der Erstellung der Geländekarten ortskundige Hilfe zu suchen, aber gleichzeitig möglichst unauffällig zu sein und keine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen.91 Es sollte vermieden werden, dass schon vor Beginn der Interviewphase Informationen oder Gerüchte über das geplante Projekt zirkulierten. Die Arbeit der Zeichner wurde jedoch von der Leitung der Encuesta Nacional de Fecundidad stark kritisiert. Diese überlegten sogar, an ihrer statt mit Hubschraubern und Flugzeugen zu arbeiten.92

4.6 D as I ntervie w Waren die Interviewerinnen erst einmal bei der Feldforschung, so hatten die Forscherinnen und Forscher klare Vorstellungen davon, wie die Vorbereitung und Durchführung der Interviews abzulaufen hatte. So sollten die Interviewerinnen zunächst die aus dem Zensus abgeleitete Anzahl von Frauen im ›gebärfähigen Alter‹ in dem für die Interviews festgelegten Raum überprüfen und nach Zufallsprinzip die richtige Anzahl von Frauen für Interviews auswählen. Das heißt, die Interviewerinnen liefen zunächst das ihnen zugewiesene Dorf ab, betraten jedes Haus, erkundigten sich nach allen im Haushalt lebenden Frauen und deren Alter und notierten grundlegende demografische Daten aller dieser Frauen. Diese Informationen wurden in erster Linie dafür genutzt, die Zahlen des Zensus zu korrigieren. Nach diesem kurzen Erstbesuch kehrten die Interviewerinnen dann zu den Häusern zurück, in denen Frauen für ausführliche Interviews ausgewählt worden waren.93 Angaben zur Dauer der Interviews gibt es für Kolumbien wenige, jedoch wurde in einem Bericht zur Encuesta Nacional de Fecundidad festgehalten, dass die Interviewerinnen durchschnittlich 4,9 Interviews pro Tag durchführten.94 Laut Bernard Berelson dauerten die Interviews der urbanen CELADE-Studie von 1964 etwa 45 Minuten.95 Raúl Necochea spricht für die Forschung auf Puerto Rico vor diesem Hintergrund von »guerrilla sociology« und bezweifelt, dass es den Interviewerinnen in dieser Zeit gelang, das nötige Vertrauensverhältnis aufzubauen, um 91 | CELADE, Manual de Supervisión, [1973], S. 29–35. 92 | Vgl. Londoño, Informe sobre el trabajo de campo, 10.04.1969, RAC, S. 6. 93 | Vgl. CELADE, Manual de Supervisión, [1973], S. 59f. 94 | Vgl. Londoño, Informe sobre el trabajo de campo, 10.04.1969, RAC, S. 13. 95 | Vgl. Berelson, KAP Studies on Fertility, 1966, S. 657.

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›echte‹ Antworten auf Fragen zu Sexualität und Verhütung zu erhalten.96 In den Vorstellungen derjenigen, die die Forschungsprojekte entwickelten, sollte den Interviewerinnen jedoch durch ihr sensibles, empathisches und ver­trau­ en­er­wecken­des Auftreten gepaart mit professioneller Distanz genau das gelingen. In der Praxis verhielten sich weder die Interviewerinnen noch die zu interviewenden Frauen so, wie es das Forschungskonzept vorsah. Die Probleme, die ihr eigensinniges Verhalten bereitete, sind vor allem dank der dokumentierten Überlegungen zur Verbesserung der ausgefeilten Techniken zur Interviewführung überliefert. Demnach stellten das größte Problem Frauen dar, die sich weigerten, auf die Fragen zu antworten. Dem wurde damit begegnet, den Zeitpunkt der Befragung wohlüberlegt zu planen und beispielsweise Interviews während der Erntezeit zu vermeiden. Weniger einfach zu lösen war das Problem, dass die Interviewerinnen nicht immer als solche erkannt wurden oder die zu interviewenden Frauen ihrem wissenschaftlichen Auftrag keinen Glauben schenkten und sie vielmehr für Wahlkämpferinnen, staatliche Akteurinnen oder Agentinnen der CIA hielten.97 In Medellín sahen sich die Verantwortlichen einer KAP-Studie zudem mit dem Problem konfrontiert, dass seitens der katholischen Kirche über Radiospots und in Predigten dazu aufgerufen wurde, sich nicht an den Umfragen zu beteiligen.98 Eine besondere Herausforderung stellte auch eine Umfrage unter Apothekern und Apothekerinnen dar, deren Ziel darin bestand, herauszufinden, ob diese entgegen der gesetzlichen Regelungen Verhütungsmittel bewarben und verkauften. Die in diesem Fall männlichen Interviewer tarnten sich als Kunden und ihre Interviews als Verkaufsgespräche, um auf diesem Weg an die brisanten Informationen zu gelangen.99 Seitens der kolumbianischen Projektleiter wurde auch wiederholt die fehlende Disziplin und Unzuverlässigkeit der Interviewpartnerinnen beklagt und darauf verwiesen, dass sich diese zwar in der Regel kooperativ zeigten, aber mental nicht in der Lage seien, ihre Gefühle und Einstellungen auszudrücken.100 Die Interviewerinnen sahen sich also bei der Aufgabe, ihren Ge96 | Necochea López, The Puerto Rico Family Life Study, im Erscheinen. 97 | Vgl. Londoño, Informe sobre el trabajo de campo, 10.04.1969, RAC, S. 11ff; CELADE, Manual de Supervisión, [1973], S. 46. 98 | Vgl. Jaramillo Gómez, Medellín, 1968, S. 814. 99 | Vgl. Bailey, Jerald: The Use of Colleagues to Validate Interview Response Data, [1973]: RAC, PC, Acc. 2, Foreign Correspondence Series, Box 9, Folder Bailey, J. 1973. Zu dieser Studie siehe auch ausführlicher Kapitel 5.6. 100 | Vgl. Mario Jaramillo Gómez an Robert B. Hartford, Medellín, 17.01.1967: RAC, PC, Acc. 2, Foreign Correspondence Series, Box 8, Folder ASCOFAM 67-68, S. 4; Jaramillo Gómez; Londoño, Plan nacional de la encuesta, 1968, S. 173f.

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sprächspartnerinnen mess- und quantifizierbare Einstellungen zu entlocken, mit dem Problem konfrontiert, dass diese gar keine klar formulierte Meinung zu den Fragen hatten, die ihnen gestellt wurden. Dieses Problem tauchte nicht nur in Kolumbien auf. So identifizierte J. Mayone Stycos schon 1963 das methodische Problem, dass »die durchschnittliche Frau« zwar in Interviews angebe, nur drei bis vier Kinder zu wollen, über diese Frage aber vor dem Interview noch nie nachgedacht habe, und die Umsetzung dieses Wunschs möglicherweise für sie nicht realistischer war als die Anschaffung eines Cadillacs.101 Das Interview konnte jedoch dabei helfen, den Wunsch zu stärken und realistisch erscheinen zu lassen. Daher kann die Interviewpraxis als ein Mechanismus zur Herausbildung eines eigenverantwortlichen und sich selbst regierenden Subjektes verstanden werden, der den US-amerikanisch geprägten Entwicklungsgedanken der 1960er Jahre charakterisiert.102 Der Gedanke, mit den KAP-Umfragen zur Stärkung verantwortungsvollen Handelns beizutragen, zeigt sich nicht zuletzt in der wiederholt formulierten Dankesformel, bei der die Forscherinnen und Forscher den interviewten Frauen dafür dankten, den Forschenden bei der Lösung der Probleme der interviewten Bevölkerungsgruppen zu helfen.103 Auch die Interviewerinnen selbst bereiteten den Bevölkerungswissenschaftlerinnen und -wissenschaftlern zahlreiche Probleme, vor allem in ihrem Umgang mit den zu interviewenden Frauen. Für das Verhältnis zwischen den beiden Seiten gab es klare Anweisungen, doch nicht allen Interviewerinnen gelang die erwünschte Gratwanderung zwischen Empathie und Distanz, die für die Produktion unvoreingenommener Forschungsergebnisse als essenziell galt. So nahmen sich manche der jungen Frauen aus der Mittelschicht zu sehr der Probleme der interviewten Frauen aus der Unterschicht an und unterstützten sie mit Geld, oder sie nahmen in zu hohem Maße am sozialen Leben der Dörfer und Stadtteile teil, besuchten Feste und tanzten dort.104 Weiterhin tauchte immer wieder das Problem auf, dass die Interviewerinnen einzelne Interviews nicht führten und die Bögen stattdessen selbst ausfüllten. Dem wurde versucht, durch ein mehrstufiges Bezahlungssystem zu begegnen, bei dem die

101 | Stycos, Obstacles to Programs of Population, 1963, S. 11. 102 | Vgl. López, A Beautiful Class, 2008, S. 43. 103 | Vgl. u. a. Jaramillo Gómez, Informe de la Primera Encuesta, 1967, S. 431. 104 | Vgl. CELADE, Manual de Supervisión, [1973], S. 50. Auch aus dem sozialmedizinischen Bereich ist diese Problematik aus Kolumbien überliefert. Vgl. Henao Cabal, Crónica, 1996, S. 46f. Und auch bei den ersten KAP-Studien auf Puerto Rico hatte J. Mayone Stycos schon das Phänomen gegenseitiger Geschenke und Sympathiebekundungen problematisiert. Vgl. Necochea López, The Puerto Rico Family Life Study, im Erscheinen.

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Interviewerinnen sowohl ein monatliches Grundgehalt als auch Zahlungen pro Interview erhielten.105 Die Erfahrung, das eigene urbane und behütete Umfeld zu verlassen und in entlegenen Dörfern oder zuvor noch nie betretenen Stadtvierteln Interviews zu führen, war für kolumbianische Sozialarbeiterinnen ebenso wie für Studierende der Sozialwissenschaften aus den USA ein großes Abenteuer. Das zeigt sich in Beschreibungen der Interviewgebiete, in denen ausführlich dargestellt wurde, wie mühselig und langwierig sich die Wege zu einzelnen Dörfern und Häusern gestalteten.106 Durch den Kontakt mit ärmeren Bevölkerungsgruppen, den die Interviewsituation in der KAP-Forschung herstellte, sollte nicht nur die interviewte Frau lernen, Einstellungen und Meinungen zu entwickeln und zu formulieren, auch die Interviewerin sollte sich dabei verändern. Das zeigen die zahlreichen Anleitungen für ihr richtiges Auftreten und Verhalten. Zudem fügt es sich in den breiteren Kontext des Demokratisierungs- und Entwicklungsprojektes des Frente Nacional und der Allianz für den Fortschritt, für die das Entstehen einer Mittelschicht mit spezifischen Einstellungen und Eigenschaften von zentraler Bedeutung war. Der urbanen Mittelschicht wurde darin die Aufgabe zugeschrieben, empathisch mit der ländlichen und urbanen Unterschicht zu interagieren und diese dabei zu unterstützen, ihre Probleme eigenverantwortlich zu lösen. Die Forderung von Empathie war mit einer dezidierten Kritik an der kolumbianischen Elite verknüpft. Entstehen sollte die Empathie durch direkten Kontakt mit der Unterschicht, der den elitären Kreisen fehlte und der bspw. durch Interviewsituationen hergestellt werden konnte.107

4.7 D ie D atenauswertung Die Technik, mit Hilfe derer die Interviewbögen ausgewertet wurden, veränderte sich im Laufe der 1960er Jahre. Wurden die Daten der vergleichenden Fertilitätsstudie von 1962 noch auf Lochkarten gestanzt, so waren die Daten der nationalen Fertilitätsstudie von 1969 schon auf Magnetbändern gespeichert und wurden mit Hilfe eines Computers ausgewertet. Die ersten Arbeitsschritte veränderten sich dadurch jedoch nicht: Nach Fertigstellung der Interviews mussten die ausgefüllten Interviewbögen gesammelt und die Antworten 105 | Vgl. Londoño, Informe sobre el trabajo de campo, 10.04.1969, RAC, S. 7; 10. 106 | Vgl. Monsees, Correlates of Fertility Attitudes, 1970, S. 17f. 107 | Siehe hierzu umfassend López, A. Ricardo: »Conscripts of Democracy. The Formation of a Professional Middle Class in Bogotá during the 1950s and Early 1960s«, in: Ders.; Weinstein, Barbara (Hg.): The Making of the Middle Class. Toward a Transnational History of the Middle Class, Durham NC: Duke Univ. Press 2012, S. 161–195.

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manuell kodiert werden. Die Codes wurden dann entweder auf Lochkarten übertragen, die von Tabelliermaschinen ausgewertet wurden, oder auf Magnetbänder geschrieben und von Computern ausgewertet. Ausgehend von der Annahme, dass es »ein Wissen ohne Speicher-, Transport- und Darstellungsmedien nicht geben kann« und »dass Wissen durch die Logik dieser Medien mitgeformt wird«,108 lohnt es sich, einen genaueren Blick auf diese Techniken und die daran beteiligten Maschinen und Personen zu werfen. Zwar wurden Lochstreifen als Datenträger schon im 18. Jahrhundert eingesetzt, die Entwicklung der Lochkarte und von Maschinen zu ihrer automatischen Sortierung und Auswertung ist jedoch unmittelbar mit den Anforderungen der Bevölkerungsstatistik verknüpft. Die nach ihrem Erfinder benannten Hollerith-Maschinen wurden erstmals beim US-amerikanischen Zensus von 1890 eingesetzt, was die Auswertung der Zensusdaten erheblich günstiger und schneller machte. In den folgenden Jahrzehnten wurden Lochkarten und Tabelliermaschinen in der medialen Öffentlichkeit der USA zum Sinnbild für den Segen und zugleich für die Schattenseiten der Moderne. So symbolisierten sie einerseits Wissenschaftlichkeit, andererseits aber auch Entmenschlichung und Bürokratisierung. Beide Deutungen fanden ihren Eingang in die US-ame­ ri­kanische Populärkultur.109 Auch die Institute für Bevölkerungsforschung, die in den 1960er Jahren in den USA gegründet wurden, waren »characterized by its piles of questionnaires, its boxes of punched cards, its computing equipment […].«110 Charakteristisch für die Lochkartentechnik war, und das gilt genauso für das Speichermedium Magnetband, dass die Erstellung der Lochkarten zwar aufwendig war, die Auswertung der Daten jedoch sehr schnell ging und immer wieder unter neuen Gesichtspunkten erfolgen konnte.111 Bei der Encuesta Nacional de Fecundidad beispielsweise dauerten die Kodierung der Interview­ bö­gen und die Perforierung der Lochkarten 22 Monate und damit deutlich länger als alle anderen Arbeitsschritte der Studie. In diesem Prozess wurden auch die Antworten auf die vielen offen gestellten Fragen in den Interviews in bestimmte Antwortkategorien einsortiert. Die Kodierung war also der Schlüsselmoment, in dem die Antworten der Frauen homogenisiert und quantifiziert wurden. Verantwortlich für die Kodierung waren im Fall dieser nationalen KAP-Studie die eigens dafür angestellten Studierenden. Das stand im Gegen108 | Sarasin, Was ist Wissensgeschichte, 2011, S. 168. 109 | Vgl. Lubar, Steven: »›Do Not Fold, Spindle or Mutilate‹. A Cultural History of the Punch Card«, in: Journal of American Culture, 15, 4, 1992, S. 43–55. 110 | Caldwell; Caldwell, Limiting Population Growth, 1986, S. 60. 111 | Vgl. Driessen, Tilman: Von Hollerith zu IBM. Zur Frühgeschichte der Datenverarbeitungstechnik von 1880 bis 1970 aus wirtschaftswissenschaftlicher Sicht, Köln: Müller Botermann 1987, S. 50.

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satz zu den Anweisungen von CELADE, wonach eine fehlerfreie Kodierung am ehesten von den Interviewerinnen selbst zu erwarten sei.112 Doch entscheidend war nicht nur, wer die Technik der Kodierung beherrschte, sondern auch, wer über die Maschinen verfügte, um die Lochkarten und Magnetbänder zu erstellen und auszuwerten. Erst bei der Auswertung entstanden die Tabellen, in denen die Variablen miteinander in Bezug gesetzt wurden, in denen also beispielsweise die Variable ›Einkommen‹ mit der Variable ›Kinderzahl‹ verknüpft werden konnte, um eine Aussage darüber zu treffen, inwiefern das Einkommen der Familie die Kinderzahl der befragten Frau beeinflusste. Wer also über die Maschinen verfügte bzw. Zugriff auf sie hatte, konnte das Material produzieren, das die Ergebnisse und Erkenntnisse der Forschung abbildete und die Basis für deren Publikation und Sichtbarkeit darstellte. Im Laufe der 1960er Jahre lässt sich hierbei eine Machtverschiebung innerhalb der Institutionen feststellen, die an der KAP-Forschung in Kolumbien beteiligt waren. So wurden die ersten vergleichenden Studien noch bei CELADE oder an US-amerikanischen Universitäten tabelliert, während die Encuesta Nacional de Fecundidad 1969 und 1970 von Fachkräften bearbeitet wurde, die bei der Abteilung für Bevölkerungsforschung von ASCOFAME in Bogotá angestellt waren.113 Der Medizinerverband verfügte jedoch nicht über eigene Tabelliermaschinen, sondern musste stundenweise Maschinen in kommerziellen Rechenzentren oder bei Unternehmen mieten, die stark nachgefragt waren. So schilderte Henry Elkins, ein in Bogotá stationierter Berater der University of Chicago, dass es teilweise nur möglich gewesen sei, nachts um drei oder am Sonntag Zugang zu den Maschinen zu bekommen.114 Zu diesem 112 | Vgl. ASCOFAME-DEP, Resultados Generales, 1973, S. 20ff; CELADE, Manual de Supervisión, [1973], S. 93. 113 | So übernahm die Auswertung der vergleichenden Fertilitätsstudie von 1964 zunächst CELADE in Santiago de Chile und später die University of Chicago, während die KAP-Studien aus Medellín von 1966 an der Cornell University tabelliert wurden. Vgl. CELADE; CFSC, Fertility and Family Planning, 1972, S. 6; Mario Jaramillo Gómez an Hernán Mendoza Hoyos, Medellín, 21.04.1967: RAC, PC, Acc. 2, Foreign Correspondence Series, Box 8, Folder ASCOFAM 67-68, S. 6. Dies lässt sich nicht damit erklären, dass es zu diesem Zeitpunkt keine entsprechenden Maschinen in Kolumbien gegeben hätte – so ist überliefert, dass die Universidad del Valle schon 1961 eine Tabelliermaschine hatte und die Universidad Nacional 1962 einen »IBM countersorter« anschaffte. Vgl. Diary of Dr. Guy S. Hayes 1961: RAC, RF, RG 12.3 Officer’s Diaries, Hayes, Guy Scoll, Box 212, S. 141; Rocke­feller Foundation, Grant RF 62024, National University of Colombia – Faculty of Sociology, 30.01.1962: RAC, RF, 1.2 Projects, Series 331.S Colombia, B85, F691, S. 1f. 114 | Henry Elkins an Charles Lininger, Bogotá, 11.11.1969: RAC, PC, Acc. 2, Foreign Correspondence Series, Box 8, Folder ASCOFAM 69.

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Zeitpunkt war die Bevölkerungsforschung von ASCOFAME schon in drei relativ unabhängig voneinander agierende Unterabteilungen gegliedert worden und die technische Auswertung der Studien lag bei der Unidad de Evaluación.115 Diese führte nicht nur eigene Forschungsprojekte durch, allen voran die nationale Fertilitätsstudie, sondern kodierte und tabellierte auch Daten der beiden anderen unidades sowie anderer Institutionen, bspw. alle Patientinnenkarteien aus den Familienplanungsprogrammen des Gesundheitsministeriums und von Profamilia. Diese Abhängigkeit von ASCOFAME führte in den frühen 1970er Jahren immer wieder zu Konflikten. Sowohl Profamilia als auch einzelne andere Forscherinnen und Forscher beschwerten sich darüber, dass ASCOFAME die Daten und Auswertungen nicht zur Verfügung stellte oder den Zugang unnötig erschwerte. Mitarbeiter des Population Council, so zumindest die Eigendarstellung, versuchten zwischen den konkurrierenden Parteien zu schlichten.116 Waren die Lochkarten oder Magnetbänder einmal beschrieben, so stand der Verknüpfung aller möglichen Variablen und deren Interpretation – außer dem Zugang zu Tabelliermaschinen – nichts mehr im Weg. Im Fall der vergleichenden Fertilitätsstudie von 1964 dauerte es jedoch acht Jahre, bis eine umfangreiche Auswertung der Ergebnisse publiziert wurde.117 Diese wurde am Community and Family Study Center der University of Chicago unter der Leitung des Soziologen Donald Bogue verfasst und damit an einem Institut, das an der Vorbereitung und Durchführung der Umfragen nicht beteiligt gewesen war. CELADE hatte die in Santiago de Chile gelagerten Lochkarten nach Chicago geschickt, da die Institution über keine eigenen Tabelliermaschinen verfügte und zu selten Zugriff auf das Rechenzentrum der Universidad de Chile hatte.118 Zahlreiche vorläufige Auswertungen waren jedoch schon ab 1965 auf 115 | Vgl. Report on the Division of Population Studies, Oct. 1969, RAC, S. 15f. 116 | Vgl. Jerald Bailey an Charles Lininger, Bogotá, 16.08.1972: RAC, PC, Acc. 2, Foreign Correspondence Series, Box 9, Folder Bailey, J. 72; Jerald Bailey an Wendy Baldwin, Bogotá, 02.07.1973: RAC, PC, Acc. 2, Foreign Correspondence Series, Box 9, Folder Bailey, J. 1973. 117 | Diese umfasste neben den sieben Städten, die 1964 Teil des Umfrageprojektes gewesen waren, noch zwei Städte Ecuadors, Quito und Guayaquil, in denen die Umfragen erst einige Jahre später durchgeführt worden waren. 118 | So begründeten die Herausgeber der Auswertung von 1972 den ›Umzug‹ der Lochkarten. Vgl. CELADE; CFSC, Fertility and Family Planning, 1972, S. 6. Ein zweites Set aller Lochkarten war am IPP der Cornell University gelagert worden und wurde dort auch wiederholt für Lehrzwecke eingesetzt. Weshalb das IPP als Institution und J. Mayone Stycos als Person nicht an der offiziellen Auswertung beteiligt waren, ist nicht bekannt. Zu Lehrübungen mit den Daten der vergleichenden Fertilitätsstudie von 1964 vgl. Cornell University, Departmant of Sociology: The International Population Program.

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Konferenzen präsentiert und veröffentlicht worden, als der Tabellierprozess in Santiago de Chile gerade erst angefangen hatte. In den Schwerpunkten, die in diesen frühen Auswertungen gesetzt wurden, zeigt sich, welchen Themen die höchste Relevanz in den politischen Diskussionen um die Legitimität und Nachfrage von Familienplanungsprogrammen beigemessen wurde: dem Kontrast zwischen der realen und der idealen Kinderzahl der befragten Frauen, dem Widerspruch zwischen katholischen Normen und der Verwendung von Verhütungsmitteln sowie dem Verhältnis zwischen Bildung und Kinderzahl. Zudem wurde wiederholt betont, dass die Studien mit dem Vorurteil aufgeräumt hätten, wonach katholische lateinamerikanische Frauen nicht bereit seien, auf intime Fragen zu antworten. Jenseits der inhaltlichen Ergebnisse wurde also schon die erfolgreiche Durchführung selbst als positives Resultat gewertet und zur Legimitation weiterer Studien herangezogen.119 Fünf Jahre später war es die nationale Fertilitätsstudie, die als Beleg dafür herangezogen wurde, dass die Familienplanungsprogramme den Frauen ermöglicht hatten, ihre Kinderzahl an ihre Wünsche anzupassen, und dadurch die Bevölkerungswachstumsrate Kolumbiens signifikant gesunken war.120

4.8 D ie D arstellung der I de ale Dargestellt wurden die Ergebnisse der KAP-Studien meist in einer Kombination aus Textform, Tabellen und Grafiken. Entgegen ihrer vermeintlich eindeutigen Anschaulichkeit waren die tabellarischen und grafischen Darstellungen in der Regel nur in Kombination mit den Textbausteinen verständlich, da beispielsweise aus den Tabellenüberschriften nicht hervorging, welche Fragen hinter den darin subsumierten Antworten steckten. Die Nachvollziehbarkeit der Darstellung nahm zudem kontinuierlich ab, wenn diese den Rahmen

Information for Prospective Students, Ithaca NY, [1963]: Cornell R&M, JMS, Box 10, Folder 35; International Population Program, Cornell University, [1970], Cornell R&M. 119 | Vgl. Pérez Ramirez, Gustavo: »Family Planning Policies and Research in Latin America 1965«, in: United States Senate, Population Crisis Hearings 3B, S. 1697–1705; Miró, Carmen A.; Rath, Ferdinand: »Preliminary Findings of Comparative Fertility Surveys in Three Latin American Cities«, in: The Milbank Memorial Fund Quarterly, 43, 4/2, 1965, S. 36–68; Miró, Carmen A.: »Some Misconceptions Disproved. A Program of Comparative Fertility Surveys in Latin America«, in: Berelson, Family Planning and Population Programs, 1966, S. 615–634; Delgado García, Ramiro: »Perspectives of Family Planning Programs in Latin America«, in: Stycos; Arias, Population Dilemma in Latin America, 1966, S. 214–227; Prieto Duran; Cuca Tolosa, Análisis de la encuesta, 1965. 120 | Vgl. Cardona Gutiérrez, Breve revisión, 1983, S. 163.

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wissenschaftlicher Publikationen verließen.121 So wurden in einer 1966 von ASCOFAME herausgegebenen Broschüre mit dem Titel Steigendes Bevölkerungswachstum in Kolumbien – die gefühlte Notwendigkeit zahlreiche Tabellen abgebildet, die zwar Zahlen etwa zur durchschnittlichen Kinderzahl und zur gewünschten Kinderzahl enthielten, aber weder Hinweise auf die Stadt, aus der die Ergebnisse stammten, noch auf die Studien, für die sie erhoben wurden.122 Ähnlich verallgemeinernd und unüberprüf bar wurde in einer zweiten Broschüre des Medizinerverbands aus demselben Jahr darauf verwiesen, dass 90 Prozent der bisher in Kolumbien befragten Frauen drei Kinder für ideal befanden.123 Diese Analyse fand sich kurze Zeit später in einer Zeitungsüberschrift auf der Titelseite der liberalen Tageszeitung El Espectador wider: »Die Bevölkerungsexplosion in Kolumbien: ›Drei Kinder das Ideal‹«.124 In diesem und weiteren Artikeln, die den Familienplanungsprogrammen der médicos demógrafos wohlwollend gegenüberstanden, wurde diesen die Verwendung von Statistiken als Beweis ihres wissenschaftlichen und seriösen Anliegens ausgelegt.125 Auch in die im engeren Sinne politischen Diskussionen um Bevölkerungspolitik und deren Ziele flossen die Ergebnisse der KAP-Studien in Kolumbien direkt ein. So fand sich in einem Entwurf des Departamento Nacional de Planeación (DNP), das in gekürzter Form als Kapitel zu Bevölkerungspolitik Eingang in den nationalen Entwicklungsplan von 1969 fand, unter anderem folgendes Argument für staatliche Familienplanung: In Kolumbien durchgeführte Studien hätten gezeigt, dass ein Großteil der Paare ihre Kinderzahl planen und die »Methoden und Vorgehensweisen« besser verstehen wollten. Diese Möglichkeit stehe aber bisher vor allem besser situierten Klassen offen, während sie

121 | Siehe zu demografischen Darstellungen u. a. Barlösius, Eva: »Bilder des demographischen Wandels«, in: Hartmann, Heinrich; Vogel, Jakob (Hg.): Zukunftswissen. Prognosen in Wirtschaft, Politik und Gesellschaft seit 1900, Frankfurt am Main: Campus 2010, S. 231–248. 122 | Mendoza Hoyos, Acelerado crecimiento de la población, 1966, S. 16f. 123 | Vgl. Delgado García, Hacia una política, 1966, S. 14. 124 | »La Explosión Demográfica en Colombia. ›Tres Hijos, el Ideal‹«, in: El Espectador, 23.01.1967, S. 1; 8A. In dem Artikel wurden lange Auszüge aus dem Text von ASCOFAME zitiert und es wurde einleitend darauf verwiesen, dass die aktuelle Polemik über Geburtenkontrolle und Familienplanung die Möglichkeit eröffnet habe, zahlreiche wichtige Studien zu dem Thema kennenzulernen, die unter der Schirmherrschaft von ASCOFAME entstanden seien. 125 | Vgl. u. a. Suárez González, Una Encuesta Demográfica, 11.11.1967.

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den Familien aus ärmeren Familien verwehrt bleibe.126 Dem bevölkerungspolitischen Konzept des DNP war zudem ein Anhang beigefügt, in dem die Ergebnisse der bis dahin in Kolumbien durchgeführten KAP-Studien ausführlich zusammengefasst wurden. Darin wurde unter anderem betont, dass den allermeisten befragten Kolumbianerinnen und Kolumbianern bewusst sei, dass die Bevölkerung Kolumbiens sehr schnell anwachse, sie zum Zeitpunkt der Befragung keine weiteren Kinder wollten und ökonomische Motive dabei ausschlaggebend waren.127 Die Gegner staatlicher Familienplanungsprogramme äußerten hingegen starke Zweifel an der Wissenschaftlichkeit der KAP-Studien und ihrer Darstellung. So warf der konservative Senator Diego Tovar Concha den Umfrageforscherinnen und -forschern vor, ihren Interviewpartnerinnen Angst einzuflößen und die erwünschten Antworten in ihrem Bewusstsein zu verankern. Die verwendeten Überredungskünste reichten dabei bis zur Bestechung. Zudem stellten sie nach Ansicht des Politikers die falschen Fragen und sollten doch besser den Zusammenhang zwischen der Verwendung von Verhütungsmitteln und weiblicher Anaphrodisie, zunehmender Homosexualität, Krebs und neurotischen Störungen ermitteln.128 Auch der Psychologe Hernán Vergara griff die Forschungsmethoden von ASCOFAME stark an. Er bezeichnete die Zahl von drei Wunschkindern als willkürlich und griff auch die Idee an, »gefühlte Notwendigkeiten« zur Grundlage von Politik zu machen. Auf diesem Wege würden als nächstes Steuern und der Militärdienst abgeschafft werden. Seine stärkste Kritik richtete sich jedoch an die enge Zusammenarbeit von ASCOFAME mit US-amerikanischen Wissenschaftlern wie Lyle Saunders und Donald Bogue. Diese diente ihm als Beweis dafür, dass die Diagnose eines kolumbianischen Bevölkerungsproblems ein US-amerikanischer Import war, der in Kolumbien keine Gültigkeit besitze. Zudem wertete er eine Aussage Saunders’, wonach KAP-Forschung Mittel zum Zweck sei, als Beweis für deren Unwissenschaftlichkeit, bezeichnete seine Strategien als psychologische Kriegsführung im in Algerien erprobten Stile und stellte den Soziologen in eine Reihe mit den Erfindern der Atombombe und der Wissenschaft im NS-Regime.129 Die mit Zahlen und Kurven gespickten Materialien, mit denen für Familienplanung geworben wurde, bezeichnete er als »Propaganda«, in 126 | Departamento Nacional de Planeación: La población en Colombia. Realidades, perspectivas y recomendaciones, Bogotá, 12.06.1969: Archivo General de la Nación, Colombia (fortan: AGN), S. 74. 127 | Ebd., Anexo 2, S. 1–15. 128 | Extractos de un Debate, 12.02.1967. 129 | Vergara, Hernán: »Control de la natalidad«, in: Familia, 10.–14.03.1967; Vergara, Hernán: »La trampa. Simulación y compulsión«, in: El Catolicismo, 29.01.1967; Vergara, El complejo de Layo, 1968.

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denen sich die »der technischen Barbarei eigene Simplifizierung« manifestiere.130 Stycos zeigte sich hingegen erfreut, dass die Kontroverse den Befürwortern und Befürworterinnen von Familienplanung die unverhoffte Möglichkeit eröffnet habe, ihre Forschungsergebnisse gegen die Anschuldigungen ins Feld zu führen und in der Presse darzustellen: »They answered the various charges made against them with facts, figures, tables and graphs, etc.« 131 Die Frage, was ›nationale‹ Forschung ausmachte, wurde in Kolumbien nicht nur von denjenigen gestellt, die die Umfragen zu Familienidealen, Verhütungskenntnissen und -praktiken und deren Ziele attackierten. Die Analyse der verschiedenen Etappen der Wissensproduktion hat gezeigt, dass sie auch von denjenigen aufgeworfen wurde, die daran aktiv beteiligt waren. So kritisierten die Ökonomen und Ökonominnen von Centro de Estudios sobre Desarrollo Económico, dass die Fragen der von CELADE und dem International Population Program an der Cornell University entwickelten vergleichenden Fruchtbarkeitsstudie von 1964 an der nationalen Realität Kolumbiens vorbeigingen und die médicos demógrafos erweiterten die Marke KAP zu MACHETE, um Fragen zu integrieren, die sie als relevant für den Auf bau eines nationalen Familienplanungsprogramms erachteten. An der Kritik der Familienplanungsprogramme und der auch in Kolumbien sehr direkt mit diesen verknüpften Fertilitätsforschung ist weiterhin interessant, dass darin zwar die Wissenschaftlichkeit der KAP-Forschung negiert, empirischen sozialwissenschaftlichen Methoden jedoch keine grundsätzliche Absage erteilt und oftmals mit Bezug auf andere wissenschaftliche Autoritäten gegen Umfragen argumentiert wurde. Auch die Frage, auf welchen Wissensformen Politik aufbauen sollte, wurde also über KAP-Umfragen verhandelt. Es konnte gezeigt werden, dass im Frente Nacional kein Konsens darüber bestand, dass politische Entscheidungen auf Grundlage sozialwissenschaftlich gewonnener Expertise getroffen werden sollten. Die Analyse der Interviewführung und ihrer Vorbereitung, d. h. der Erstellung von Interviewbögen, der Auswahl der zu interviewenden Frauen und Männer, der Erkundung des Geländes und der Auswahl und Ausbildung der Interviewerinnen, hat zudem gezeigt, wie die KAP-Forschung in den 1960er Jahren dazu beitrug, Anreize zur Selbstregulierung der Fertilität zu schaffen. Dieser Selbstregulierung maß die Forschung eine entscheidende Bedeutung für die Entwicklung Kolumbiens bei und diese Botschaft wurde auch in den Interviews vermittelt. Das Gewicht, das dieser Vermittlung und den Antworten beigemessen wurde, zeigt sich in der sorgfältigen Auswahl ›empathischer‹ Interviewerinnen und der genauen Beobachtung ihrer Interaktion mit den 130 | Vergara, Control de la natalidad, 10.–14.03.1967. 131 | Stycos, Colombian Newspapers, Cornell R&M, S. 14.

4. Wissensproduktion und -zirkulation zu Fer tilität in Kolumbien

interviewten Frauen und Männern. Auch diese waren an den in Kolumbien intensiv geführten Debatten darüber, was ›legitime‹ Forschungsziele und -methoden im ›nationalen‹ Interesse ausmachte, intensiv beteiligt. Das zeigen die Anekdoten über Fälle, in denen sie das Interview verweigerten, weil sie den Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern nicht trauten und diese für Agentinnen oder Agenten der Vereinigte Staaten hielten.

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5. ›Moderne‹ Frauen, Männer, Familien und Sexualität

In einem vielzitierten Aufsatz fragte die US-amerikanische Demografin Susan Cotts Watkins 1993 danach, was wir über Frauen wüssten, wenn wir nur das wüssten, was in der Zeitschrift Demography steht. In ihrem Beitrag, der in eben dieser von der Population Association of America herausgegebenen Zeitschrift erschien, wertete sie diese von ihrer ersten Ausgabe, die im Jahr 1964 erschien, bis 1992 aus.1 Der Text ist als innerdisziplinäre Kritik einzuordnen. Ihr Ergebnis fasste sie folgendermaßen zusammen: »[…] [W]e would conclude that women are primarily producers of children and of child services; that they produce with little assistance from men; that they are socially isolated from relatives and friends; and that their commitment to the production of children and child services is expected to be rather fragile. We would learn even less about men.«

Zudem werde die Forschung, so Cotts Watkins, genauer gesagt die Formulierung von Forschungsfragen, das Sammeln der Daten und die Interpretation der Ergebnisse in hohem Maße von unausgesprochenen Annahmen über Frauen, Männer und deren Beziehungen zueinander beeinflusst.2 Ähnliche Ausgangsfragen leiten die folgenden Überlegungen: Was wüssten wir über Frauen, Männer, Familien und Sexualität in Kolumbien in der Zeit des Frente Nacional, wenn wir nur das wüssten, was zeitgenössische Bevölkerungsforscherinnen und -forscher darüber schrieben? Und welche Vorstellungen von 1 | Watkins gab an, für ihre Auswertung alle Artikel zu den Themen Fertilität, Verhütung, Ehe und Familie sowie vier Jahrgänge (1964, 1974, 1984, 1992) der Zeitschrift komplett gelesen zu haben. Mit dieser Auswahl deckte sie 624 der insgesamt 1232 in dem Zeitraum erschienenen Artikel ab. Vgl. Watkins, Susan Cotts: »If All We Knew about Women Was what We Read in Demography, What Would We Know?«, in: Demography, 30, 4, 1993, S. 551–577, hier: S. 552. 2 | Ebd., S. 553.

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beispielsweise Mutterschaft oder männlicher Sexualität setzten die Forscherinnen und Forscher unhinterfragt voraus? Es soll also danach gefragt werden, welche Annahmen über Familien, Geschlechternormen und Sexualität der transnationalen Bevölkerungsforschung zu Kolumbien zugrunde lagen. Zudem soll im Folgenden untersucht werden, in welchem Verhältnis Aussagen, die in der Wissensproduktion über die kolumbianische Bevölkerung getroffen wurden, zu gesellschaftlichen Debatten über Ehe- und Scheidungsrecht, Sexualität und Verhütung, ›verantwortungsvolle Elternschaft‹ sowie allgemein zur Rolle kolumbianischer Frauen in der Entwicklung und Modernisierung Kolumbiens standen. Dem liegt die Annahme zugrunde, dass die Bevölkerungsforschung diese Debatten und Diskurse einerseits widerspiegelte und andererseits selbst generierte und formte. Um dieses wechselseitige Verhältnis darzustellen, werden hier die Erkenntnisse und Aussagen der Bevölkerungsforschung zu konkurrierenden wissenschaftlichen Diskursen und breiteren gesellschaftlichen Debatten in Bezug gesetzt. Dabei wird auch gezeigt werden, dass die Problematisierung von schnellem Bevölkerungswachstum und die Produktion und Zirkulation des Wissens über die Möglichkeiten, dieses Tempo zu drosseln, zahlreiche politische Reformprojekte und wissenschaftliche Disziplinen berührte.

5.1 D ie moderne F amilie Die Forschung zu ›Fertilität‹ und ›Familienplanung‹ in Kolumbien war in den 1960er Jahren von der Theorie des demografischen Übergangs geprägt. Demzufolge galt es, die Geburtenrate, die für die ›Bevölkerungsexplosion‹ und zahlreiche von ihr abgeleitete Probleme verantwortlich gemacht wurde, mit Hilfe von Familienplanung zu senken. Diese Perspektive schlug sich sowohl in biopolitischen Reformvorschlägen nieder, die auf die Regulierung des ›Volkskörpers‹ abzielten, als auch in der Disziplinierung der individuellen Körper kolumbianischer Frauen und Männer. Sexualität kam hierbei die von Foucault herausgearbeitete Schlüsselrolle als »Scharnier« zwischen dem einzelnen Körper und der Bevölkerung als Gesamtheit zu.3 In den Botschaften, mit denen die Experten und Expertinnen im Rahmen der Familienplanungsprogramme für individuelles selbstverantwortliches Handeln warben, wurde auch mit dem ökonomischen Wohl der Nation oder der ökologischen Zukunft der Welt, d. h. auf Ebene nationaler und globaler Bevölkerungen argumentiert. In erster Linie wurden jedoch die individuellen Vorteile der Familienplanung herausgestellt. Viele Kinder und Schwangerschaften, so lautete die Botschaft, gefährdeten die Gesundheit von Müttern und Kindern, deren Bildungschancen sowie geistige 3 | Vgl. Lemke, Thomas: Biopolitik zur Einführung, Hamburg: Junius 2007, S. 53.

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Entwicklung und führten zu Vernachlässigung und Jugendgewalt. Familienplanung stand somit nicht nur im Dienst der Nation, sie war auch im Eigeninteresse einer jeden Frau und eines jeden Mannes, die dazu aufgefordert waren, in Selbstregierung und eigenverantwortlich ihre Familiengröße zu regulieren. Diese Logik lässt sich anhand des ersten Textes, der aus dem Kreis der kolumbianischen médicos demógrafos das internationale Fachpublikum erreichte, aufzeigen. Er trug den Titel »Colombia – The Family in Candelaria« und erschien 1966 in der Zeitschrift Studies in Family Planning. Darin stellte der Kinderarzt Alfredo Aguirre die Ergebnisse einer Fertilitätsumfrage vor, für die 100 Frauen aus dem kleinen Ort Candelaria befragt worden waren, die zuvor an einem Pilotprojekt zu Familienplanung teilgenommen hatten und zum Zeitpunkt der Befragung entweder verheiratet waren oder in einer festen Partnerschaft lebten. Im Zentrum des Textes standen die »Familienstrukturen und die Situation der meisten Familien Candelarias«, die Aguirre als symptomatisch für die Auswirkungen des Bevölkerungswachstums auf »die Gesundheit und das intellektuelle Niveau der kolumbianischen Familie« bezeichnete. 4 Unter die Kategorie Familie fasste er sodann Statistiken zum Bildungsniveau der befragten Frauen und deren Männern sowie zu ihren Partnerschaftsformen, zur Anzahl der Kinder, die die befragten Frauen unehelich zur Welt gebracht hatten und zu dem Alter, in dem sie angaben, erstmals Geschlechtsverkehr gehabt zu haben. Die bedeutendste Gemeinsamkeit der befragten Frauen und damit der Frauen Candelarias sah er darin, dass sie Anfang 30 seien und aus sporadischen sexuellen Beziehungen mehrere Kinder hätten, deren Bedürfnisse sie aus ökonomischen Gründen nicht erfüllen könnten. Ihr einziger Ausweg läge darin, entweder eine feste Bindung mit einem Mann einzugehen, in der sie alle Freiheiten aufgeben müssten, da der Mann alles bestimme, oder aber im versteckten Kindsmord, bei dem die Frau ihre kleinen Kinder vorsätzlich töten oder sterben lassen müsse.5 Weiterhin kennzeichne die Familien eine katastrophale ökonomische Situation, da das Einkommen für die Grundversorgung der Familienmitglieder nicht ausreiche. Es werde zu so großen Teilen für Lebensmittel ausgegeben, dass nicht mehr genügend Mittel für Bildung, Kleidung und Wohnraum verfügbar waren. Die Kinder in diesen Familien seien unterernährt und ihre intellektuelle Entwicklung eingeschränkt, was im Jugendalter zu ›antisozialen Tendenzen‹, Schulabbruch und fehlendem Respekt vor Autoritäten führe. Die Auswirkungen dieser Entwicklungen seien täglich

4 | Aguirre, Colombia, 1966, S. 2. 5 | Wenn Frauen einen Arzt aufsuchten, um einen Todesschein für ihr Kind ausstellen zu lassen, ohne dabei emotionale Regungen zu zeigen, so wertete Aguirre dies als Indiz für versteckten Kindsmord.

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zu beobachten: Randale und Übergriffe auf Privatbesitz in den Städten sowie Gewalt in den ländlichen Gebieten.6 In Aguirres Aufsatz zeigt sich die Bandbreite der Themen, die die umfragenbasierte Bevölkerungsforschung in Kolumbien in den 1960er Jahren bearbeitete und deren Konstruktion und Problematisierung hier analysiert und kontextualisiert werden soll: Die Form und Ausgestaltung der Partnerschaft, die Familiengröße bzw. Kinderzahl, die Verantwortung der Eltern für ihre Kinder, ambivalente Frauenrollen zwischen Mutterschaft und ›Freiheit‹ bzw. Beruf, Illegitimität und Kinder alleinerziehender Mütter, gewalttätige Jugendliche, Sexualität, Verhütungsmittel und Abtreibung. Bei den US-amerikanischen Leserinnen und Lesern musste Aguirres Beschreibung der zerrütteten kolumbianischen Familien Furcht und Sorgen auslösen, galt doch seit Beginn des Kalten Krieges die ›weiße‹ Kernfamilie als Bollwerk gegen den Kommunismus und als Garant des Fortbestands der ›freien Welt‹.7 Besorgt blickten sozialwissenschaftliche Experten und Expertinnen auf afroamerikanische und mexikanisch-amerikanische Familienstrukturen sowie auf Familien in den Ländern der Dritten Welt, die vor kommunistischer Infiltrierung zu schützen waren.8 In Lateinamerika, so formulierte es 1964 der US-amerikanische Demograf Joseph A. Cavanaugh im Milbank Memorial Fund Quarterly, trügen Familien nicht zu gesellschaftlicher Stabilität bei, da sie arm seien, die Eltern nicht verheiratet seien, viele Kinder von einem Elternteil verlassen würden, die Zahlen illegitimer Kinder sehr hoch seien und es viele Straßenkinder gebe. Diese unzureichende Familienorganisation verursache eine Reihe sozialer Probleme, u. a. schlechte Bildung, schlechte Wohnbedingungen sowie niedrige Kaufkraft und Produktivität. Der Einbezug sozialwissenschaftlicher Expertise in die US-amerikanische Entwicklungshilfe, so die Botschaft des Aufsatzes, könne dazu beitragen, das »Problem der Familienorganisation« in Lateinamerika zu lösen.9 Cavanaughs Ausführungen spiegeln nicht nur das 6 | Ebd., S. 2f. 7 | Siehe hierzu Tyler May, Elaine: Homeward Bound. American Families in the Cold War Era, New York: Basic Books 1988. 8 | Zur Problematisierung afroamerikanischer und mexikanisch-amerikanischer Familien in den USA siehe Finzsch, Norbert: »Gouvernementalität, der Moynihan-Report und die Welfare Queen im Cadillac«, in: Martschukat, Geschichte schreiben mit Foucault, 2002, S. 257–282; Roesch, Claudia H.: Macho Men and Modern Women. Mexican Immigration, Social Experts and Changing Family Values in the 20th Century United States, Berlin; Boston: De Gruyter Oldenbourg 2015. 9 | Cavanaugh, Joseph A.: »The Social and Behavioral Scientist in Latin American Assistance Programs«, in: The Milbank Memorial Fund Quarterly, 42, 3/1, 1964, S. 7–19, hier: S. 11. Joseph A. Cavanaugh hatte in den 1950er Jahren für das Institute of InterAmerican Affairs in Lima, Peru gearbeitet und im Zuge dessen zur demografischen Ent-

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Ideal der nuklearen Kleinfamilie als Garant gesellschaftlicher Ordnung wider, sondern auch die Bedeutung, die Familien und Individuen für die Entwicklung einer modernen kapitalistischen Konsumgesellschaft in Entwicklungsländern zugesprochen wurde. Auch in Kolumbien waren in den 1960er Jahren die Begriffe ›Familie‹ und ›Ordnung‹ diskursiv eng miteinander verknüpft. So zeigt der Historiker Lukas Rehm, dass Familie eines der Kernelemente der Ordnung darstellte, die die Konservative Partei in den Jahren der Violencia durch die Liberale Partei und die vermeintliche kommunistische Infiltration bedroht sah.10 Doch auch unter den Koalitionsregierungen des Frente Nacional wurde mit Sorge auf vermeintlich destabilisierende Familienstrukturen geblickt. So behauptete der ehemalige Präsident Alberto Lleras Camargo 1964 in einem der zahlreichen Leitartikel zur Bevölkerungsexplosion, die er als Herausgeber der Zeitschrift Visión publizierte, das schnelle Anwachsen der Bevölkerung sei für Elendsviertel und soziale Konflikte verantwortlich und entstehe durch immer mehr nichteheliche Kinder aus Familien, in denen die Väter keinerlei Verantwortung für ihre Kinder übernähmen.11 In Zeiten nationaler Einheit war es also nicht der politische Widersacher, sondern die demografische Entwicklung einerseits und das verantwortungslose Verhalten der Bevölkerung andererseits, welche die gesellschaftliche und familiäre Ordnung gefährdeten. Familie, wie sie hier beschrieben und im normalisierenden Sinne evoziert wurde, bestand aus einem Vater, einer Mutter und einigen Kindern. Alleinerziehende Mütter befanden sich klar außerhalb des Familienideals und auch großfamiliäre Zusammenhänge wurden hier nicht angesprochen.

5.2 V er ant wortungsvolle E lternschaf t ›Verantwortung‹ war das zentrale Konzept mit dem es auf diskursiver und politischer Ebene gelang, die Positionen der liberalen, eng mit den US-amerikanischen Entwicklungsorganisationen zusammenarbeitenden Politikerinnen und Politikern mit denen ihrer konservativen und katholischen Kritikerinnen und Kritiker zu verbinden. Verantwortliche Bürgerinnen, Konsumenten und Eltern konnten gleichzeitig zur Entwicklung, Demokratisierung und Moder-

wicklung Perus publiziert. So gehörte er selbst zu der Gruppe sozialwissenschaftlicher Experten und Expertinnen in der Entwicklungshilfe, für deren verstärkten Einsatz er in dem Aufsatz warb. 10 | Vgl. Rehm, Lukas: Politische Gewalt in Kolumbien. Die Violencia in Tolima, 1946– 1964, Stuttgart: Heinz 2014, S. 161. 11 | Lleras Camargo, El problema demográfico, 29.05.1964.

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nisierung des Landes beitragen und die soziale und moralische Ordnung der Familie und Nation wahren. Eine juristische Form bekam diese Synthese Ende des Jahres 1968 mit dem »Ley de Paternidad Responsable«.12 Es beinhaltete die Gründung des Instituto de Bienestar Familiar, das dafür zuständig war, die familienpolitischen Richtlinien der kolumbianischen Regierung auszuarbeiten und zu implementieren. Das Institut, das laut Gesetz die Aufgabe hatte, Kinder zu schützen und die »Stabilität und das Wohlergehen der kolumbianischen Familie« zu verbessern, erhielt so die Verantwortung für Programme zur Unterstützung »geistig zurückgebliebener« Kinder sowie für staatliche Ernährungsprogramme für Mütter und Kleinkinder. Zudem erweiterte das Gesetz die Regelungen zur väterlichen Anerkennung nichtehelicher Kinder und formulierte Sanktionen für diejenigen, die sich ihren Erziehungs- und Versorgungsaufgaben entzogen.13 Die Bevölkerungsexplosion war ein Leitmotiv in den langen parlamentarischen Debatten, die der Verabschiedung des Gesetzes vorausgegangen waren. Das zeigt sich beispielsweise in einer Rede an den Kongress, mit der der seit August 1966 regierende Präsident Carlos Lleras Restrepo im Juli 1967 für den Gesetzentwurf warb. Die »Bevölkerungsmassen« bezeichnete er darin als größtes Hindernis für die »soziale Entwicklung« Kolumbiens und malte in dramatischen Farben das Schicksal der Kinder, die aus irregulären Partnerschaften stammten und in »Promiskuität«, »Inzest« und »Primitivität« aufwuchsen. Diese Kinder seien das Ergebnis eines »alarmierend schnellen Bevölkerungswachstums« und liefen Gefahr, mit »abnormalem« Verhalten, Kriminalität und Prostitution in Kontakt zu kommen. Von dem Gesetz, das die elterlichen Pflichten durchdeklinierte, erwartete er, dass es dazu beitragen werde, das »demografische Problem« zu entschärfen, und zwar genau in dem unverantwortlich handelnden Teil der Gesellschaft, in dem dies am dringend­ sten nötig sei.14 Seine konservativen Gegner warfen ihm hingegen vor, mit dem Gesetz der staatlichen »Geburtenkontrolle« ein respektables Gesicht verleihen zu wollen.15 Dieser Vorwurf verweist auf den Entstehungskontext des »Ley de Paternidad Responsable«, das im Zusammenhang mit den hitzigen parlamentarischen und medialen Debatten um Bevölkerungswachstum und staatlich ge12 | Aufgrund ihres Engagements für das Gesetz ist es auch unter dem Namen der Ehefrau des liberalen Präsidenten Carlos Lleras Restrepo als »Ley Cecilia« bekannt. 13 | El Congreso de Colombia: Ley 75 de 1968 por la cual se dictan normas sobre filiación y se crea el Instituto Colombiano de Bienestar Familiar, 31.12.1968. 14 | Colombia. Presidente (1966–1970: Lleras Restrepo): Mensaje del señor presidente de la República de Colombia doctor Carlos Lleras Restrepo al Congreso Nacional. 20 de Julio de 1967, Bogotá: Talleres Gráficos del Banco de la República 1967. 15 | Vgl. Royco Ott, The Role of the Colombian, 1974, S. 354.

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förderte Familienplanungsprogramme steht, die im Dezember 1966 geführt wurden. Diesen Debatten war die Unterzeichnung eines Vertrages zwischen ASCOFAME, USAID und dem Gesundheitsministerium vorangegangen, der vorsah staatliches Gesundheitspersonal in Methoden der Familienplanung fortzubilden. Das Gesetz stellte demnach den Versuch dar, die Kritik, die die katholische Kirche an der Regierung übte, zu entkräften, bzw. die Forderung nach ›verantwortungsvoller Elternschaft‹ aufzugreifen, die seitens der kolumbianischen Bischofskonferenz als expliziter Gegenentwurf zu ›Geburtenkontrolle‹ formuliert worden war.16 In einem Dokument, das auf Mai 1967 datiert ist, Anfang Juli 1967 an Präsident Carlos Lleras Restrepo geschickt wurde und zwei Monate später an die Öffentlichkeit gelangte, argumentierten die Bischöfe folgendermaßen: Es gebe eine Reihe gesellschaftlicher Probleme in Kolumbien, die auf das Bevölkerungswachstum zurückzuführen seien, bzw. von diesem verstärkt würden, diesen dürfe aber nicht mit einseitigen Maßnahmen begegnet werden. Aufgabe der Ehe wiederum sei es, Kinder hervorzubringen und zu erziehen, wobei es eine Reihe von Gründen gebe, die eine »Beschränkung« der Fruchtbarkeit legitimierten: gesundheitliche Probleme, eugenische Gründe, soziale und ökonomische Motive sowie psychologische Schwierigkeiten.17 Auch im Bereich der Sexualität müsse die Vernunft den Instinkt im Zaum halten und Ehepaare müssten eine wohlüberlegte und verantwortungsvolle Entscheidung über ihre Kinderzahl treffen, die das Wohl der Familie, der Nation und der Kirche berücksichtige. Vor diesem Hintergrund sei die hohe Anzahl illegitimer Kinder sehr besorgniserregend, und gesellschaftliche Organisationen wie die Kirche müssten eine Bildungskampagne für verantwortungsvolle Elternschaft starten. Dem Staat obliege es weiterhin, Eltern und allen voran Väter zu bestrafen, die nicht für ihre Kinder sorgten, und gegen außereheliche Beziehungen vorgehen, was die Anzahl unehelicher und unversorgter Kinder erheblich senken werde.18 16 | Vgl. Medina Chávez, Los discursos sobre la planificación familiar, 2008, S. 141; Torres Bryon, Andrés David: Colombia. La iglesia católica y el control de la natalidad, 1960–1974, Cali: Universidad del Valle, 2013, S. 88; Brzezinski, Steven: »Church versus State. Family Planning in Colombia, 1966–1972«, in: Journal of Church and State, 18, 3, 1976, S. 491–502, hier: S. 492. 17 | Die katholische Bischofskonferenz folgte hier der Argumentation, mit der Papst Pius XII 1951 die Rhythmusmethode für legitim erklärt hatte. Vgl. Connelly, Fatal Misconception, 2008, S. 146f. 18 | Conferencia Episcopal Colombiana: Paternidad Responsable y Programas de Planificación Familiar, Bogotá, 02.05.1967: Biblioteca Luis Ángel Arango, Archivo Carlos Lleras Restrepo, MSS 768, Fondo: Presidencia-Ministerio de Salud. Caja 04. Carpeta 08. Ff. 741–766. Siehe auch Medina Chávez’ Zusammenfassung und Einordnung des Dokuments: Medina Chávez, Los discursos sobre la planificación familiar, 2008, S. 92f.

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Bemerkenswert an diesem Dokument ist, in welch hohem Maße sich die bischöfliche Analyse zu Bevölkerungswachstum, Bevölkerungsproblemen, verantwortungslosen Eltern und der Funktion von Familien mit der Ursachensuche deckte, die seitens der Regierung formuliert wurde. So bestand Konsens darüber, dass die Bevölkerung in nie dagewesenem Maße wuchs und dieses Wachstum eine Reihe sozialer Probleme verschärfte, sowie darüber, dass Eltern die Anzahl ihrer Kinder verantwortlich planen sollten, für deren materielles und emotionales Wohlbefinden zuständig waren und es dem Staat und der Kirche zukam, sie für diese Aufgabe zu erziehen und bei deren Erfüllung zu unterstützen. Einigkeit herrschte weiterhin darüber, dass Illegitimität verhindert werden müsse, da außereheliche Kinder schlecht versorgt würden und schlecht versorgte Kinder zu gewalttätigen Jugendlichen heranwuchsen. Der erbitterte Streit, der ab 1966 um die Familienplanungsprogramme geführt wurde, betraf also nicht die Ursachenanalyse, auf der diese auf bauten, sondern die Mittel, die dabei angewandt wurden. Alle Akteure plädierten für eine geplante und damit auch begrenzte Kinderzahl, hatten jedoch unterschiedliche Meinungen darüber, nach wie vielen Kindern diese Grenze zu ziehen war. Vor allem aber herrschte Uneinigkeit bezüglich der Verhütungsmittel, mit denen sie gezogen werden durfte.19 Staatlicherseits wurde an der Verbindung zwischen Familienplanung und ›verantwortungsvoller Elternschaft‹ festgehalten, wie das Kapitel zu Bevölkerungspolitik im kolumbianischen Entwicklungsplan, den das Departamento Nacional de Planeación (DNP) zwei Jahre nach Abschluss des »Ley de Paternidad Responsable« dem Kongress vorlegte, deutlich macht. So wurde Elternschaft darin als familiäre und gesellschaftliche Verantwortung bezeichnet, die über eine rein biologische Tatsache weit hinausgehe.20 Um das Tempo des Bevölkerungswachstums in Kolumbien zu drosseln – dieses Ziel war im Entwicklungsplan explizit festgeschrieben – müsse die Regierung nicht nur den Zugang zu Verhütungsmitteln ermöglichen, sondern über das Instituto de Bien­estar Familiar Familienerziehung betreiben. Darunter verstanden die Verfasserinnen und Verfasser des Kapitels zu Bevölkerungspolitik eine umfang-

Die katholische Kirche versuchte schon seit der Kolonialzeit vergeblich, ihre Autorität im gesellschaftlich-familiären Bereich auszubauen und außereheliche Sexualität zu bekämpfen. Vgl. hierzu Dueñas Vargas, Guiomar: Del amor y otras pasiones. Élites, política y familia en Bogotá, 1778–1870, Bogotá: Universidad Nacional de Colombia 2014. 19 | Siehe zu den parlamentarischen und medialen Debatten um Familienplanung auch Kapitel 3.2. 20 | Die Formulierung stammt aus dem ersten Entwurf des Bevölkerungskapitels, der im Juni 1969 fertig gestellt wurde: Departamento Nacional de Planeación, La población en Colombia, 12.06.1969, AGN, S. 75.

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reiche Beratung zu Themen wie Ernährung, Familienplanung und weiblicher Ausbildung vor der Eheschließung.21 Der breite Konsens rund um das Schlagwort ›verantwortungsvolle Elternschaft‹, der auch in zahlreichen anderen lateinamerikanischen Ländern hergestellt wurde, ist im kolumbianischen Kontext unterschiedlich gedeutet worden.22 So wird einerseits von einer strategischen Aneignung eines kirchlichen Konzeptes seitens des Staates gesprochen,23 andererseits das »Ley de Paternidad Responsable« als Idealisierung und Stärkung der Kleinfamilie sowie als Expansion eines Staates, der Eltern kontrollierte und Kinder schützte, interpretiert.24 Zudem ist das eugenische Moment in dem Argument der sozial gefährlichen unehelichen Kinder, bzw. die klare Unterscheidung zwischen erwünschten und unerwünschten Kindern, die dem Konzept der ›verantwortungsvollen Elternschaft‹ zugrunde liegt, herausgearbeitet worden.25 Verantwortung sollten unterschiedlich handelnde Subjekte auf verschiedenen Ebenen übernehmen: Individuen standen in ihrer Funktion als Mütter und Väter in der Verantwortung, wohlüberlegt und gemeinsam über ihre Kinderzahl zu entscheiden und nur so viele Kinder zur Welt zu bringen, wie sie mit Wohnraum, Bildung und Ernährung versorgen konnten. Diese Verantwortung trugen sie jedoch nicht nur den Kindern selbst gegenüber, sondern auch gegenüber der Gesellschaft und dem Staat, da nur mit gesunden und gebildeten zukünftigen Staatsbürgerinnen und -bürgern die Entwicklung Kolumbiens voranzubringen war. Der Staat zeigte sich wiederum denjenigen Kindern gegenüber verantwortlich, denen die familiäre Versorgung versagt blieb. In dem Aufruf zu Verantwortung war also sowohl ein sich selbst regierendes Subjekt angesprochen, als auch ein expandierender Staat, wie ihn der Entwicklungsgedanke der 1960er Jahre vorsah. Auf Familienebene verbargen sich hinter allen diesen Annahmen normative Vorstellungen über die Kleinfamilie als Garant gesellschaftlicher Stabilität und Entwicklung. Größere familiäre Versorgungszusammenhänge waren nicht angesprochen und alleinerzie21 | Departamento Nacional de Planeación, Plan de Desarrollo, 1971, S. 48. Formuliert wurde dieses Kapitel von der División Socio-Demográfica des DNP, die 1968 eingerichtet worden war. 22 | Zu Paternidad Responsable in anderen lateinamerikanischen Ländern siehe Faust-Scalisi, There is an undercover movement, 2014, S. 111f; Necochea López, Raul: »Priests and Pills. Catholic Family Planning in Peru, 1967–1976«, in: Latin American Research Review, 43, 2, 2008, S. 34–56, hier: S. 52f. 23 | Vgl. Medina Chávez, Los discursos sobre la planificación familiar, 2008, S. 93. 24 | Vgl. Puyana Villamizar, Yolanda: »Las políticas de familia en Colombia. Entre la orientación asistencial y la democrática«, in: Revista Latinoamericana de Estudios de Familia, 4, 2012, S. 210–226, hier: S. 217. 25 | Vgl. Medina Chávez, Los discursos sobre la planificación familiar, 2008, S. 142.

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henden Müttern wurde abgesprochen, ihre Kinder verantwortlich großziehen zu können.26 Dieses Familienbild, und inwiefern Individuen diesem entsprachen, hatte weitreichende Auswirkungen, wie der Historiker Ricardo A. López im Zusammenhang mit der Rekrutierung von Angestellten für staatliche Behörden unter den Regierungen des Frente Nacional herausgearbeitet hat. Dabei wurden die Kandidaten und Kandidatinnen auch auf ihre Herkunft und ihr familiäres Umfeld geprüft. In diesem Zusammenhang enthalten die Quellen Verweise, die darauf hinweisen, dass Bewerberinnen und Bewerber, die in großen Familien, mit unverheirateten Eltern oder alleinerziehenden Müttern aufgewachsen waren, als ungeeignet eingestuft wurden. Sie brachten nicht die richtigen ›kulturellen Voraussetzungen‹ mit, um im staatlichen Auftrag die Arbeiterschicht und Landbevölkerung zu demokratisieren.27

5.3 Partnerschaf t und K indeswohl in der F ertilitätsforschung Verantwortungsvolle Elternschaft und die damit verbundene Kritik an den Eltern ›illegitimer Kinder‹ wurde jedoch nicht nur von staatlicher und kirchlicher Seite propagiert, sondern spielte auch innerhalb der Familienplanungskurse und Forschungsprojekte der kolumbianischen Bevölkerungsexperten eine wichtige Rolle.28 In der umfragebasierten Fertilitätsforschung wurde der Grad an ›verantwortungsvoller Elternschaft‹ anhand von Fragen zu den Themen der bisherigen und der aktuellen Partnerschaft sowie dazu ermittelt, welche Wünsche die befragten Frauen und Männer für ihre Kinder hatten. Die Fragen und Auswertungen des ersten Themenkomplexes geben Aufschluss darüber, welche Formen von Partnerschaft den Forschenden denkbar erschienen, und welche im Hinblick auf das Ziel der Senkung der Geburtenrate bevorzugt oder problematisiert wurden.29

26 | An der Lebensrealität zahlreicher Kolumbianer und Kolumbianerinnen ging die Vorstellung des ausschließlichen Zusammenlebens als Kleinfamilie vermutlich vorbei. Siehe hierzu Gutiérrez de Piñeda, La familia en Colombia, 1962. 27 | Vgl. López, A Beautiful Class, 2008, S. 80–83. 28 | So war »paternidad responsable« beispielweise im Familienplanungskurs in Candelaria das Thema der ersten von acht Sitzungen, in denen die Paare über die Notwendigkeit und Wege ihre Familien zu planen, unterrichtet wurden. Vgl. Aguirre, Alfredo: »Programa de planificación familiar. Centro piloto de salud de Candelaria«, in: ASCOFAME, Boletín del segundo seminario, 1965, S. 217–247, hier: S. 228. 29 | Im Folgenden getroffene allgemeine Aussagen über die Inhalte der Fragebögen beruhen auf allen vorliegenden Fragebögen von Fertilitätsstudien, die zwischen 1963

5. ›Moderne‹ Frauen, Männer, Familien und Sexualität

Den interviewten kolumbianischen Frauen und Männern wurden in der Frage bezüglich des Familienstands zahlreiche Kategorien angeboten. Alle Bögen enthielten die Kategorien »alleinstehend«, »unión libre« und »verheiratet«, wobei teilweise noch zwischen kirchlicher und standesamtlicher Eheschließung unterschieden wurde. Zusätzlich wurde teils noch die Option »getrennt« aufgeführt, teils auch »geschieden« und bzw. oder »verwitwet«. Neben dem gegenwärtigen Familienstand wurde in der Regel auch nach früheren Partnerschaften und Ehen sowie deren Zeitpunkt und Dauer gefragt. Unter »unión libre« schienen die Bevölkerungsforscher und -forscherinnen das feste, jedoch unverheiratete Zusammenleben als Paar zu verstehen.30 Teils wurden hierfür synonym auch die Begriffe »unión consensual« oder »conviviente« verwendet. Explizit ausgeführt wurde die Bedeutung der Begriffe in den Fragebögen jedoch nicht. Es bleibt daher etwas unklar, nach welchen Kriterien die Forscherinnen und Forscher und die interviewten Frauen und Männer diese Kategorien mit Bedeutung füllten und ob diese Bedeutungen deckungsgleich waren.31 Während die hohe Zahl unverheirateter Paare und Eltern in den politischen Diskussionen um das ›Bevölkerungsproblem‹ Kolumbiens vielfach als Zeichen fehlender Verantwortung und Verbindlichkeit kritisiert wurde, deutet die Konzeption der Fertilitätsstudien nicht auf eine Problematisierung dieser Partnerschaftsform hin. In den meisten Studien diente die Einordnung einzig der statistischen Erfassung und anschließenden Korrelation mit Variablen wie der Kinder- oder Schwangerschaftszahl oder der Verwendung von Verhütungsmitteln. Eine etwaige moralische Bewertung der Frage war hierbei dem Interesse an der Senkung der Fruchtbarkeit klar untergeordnet. Partnerschaft bedeutete aus der Perspektive der an ›Fertilität‹ interessierten Bevölkerungsforscher und -forscherinnen oftmals nichts anderes als die Möglichkeit, Kinder zur Welt zu bringen. Aus diesem Grund, so formulierte es beispielsweise der kolumbianische Demograf Alvaro López Toro 1967, lautete die einzige relevante Fragestellung bei der Untersuchung von uniones libres und deren Stabilität, inwieweit sie die Zeit, in der Frauen dem Risiko einer Schwangerschaft ausgesetzt waund 1974 durchgeführt wurden. Für eine Übersicht der vorliegenden Fragebögen siehe Kapitel 4.4. 30 | Darauf deutet u. a. hin, dass in der Studie von Alan B. Simmons zu Migration und Modernisierung Männer, die angegeben hatten, in einer »unión libre« zu leben, danach gefragt wurden, seit wann sie mit ihrer Partnerin zusammenlebten. Vgl. Simmons, The Emergence of Planning Orientations, 1970, S. 198. 31 | Im Zensus von 1964 gab es folgende Kategorien des Familienstands: Alleinstehend, verheiratet, verwitwet, getrennt und unión libre. Definiert wurde letztere Kategorie folgendermaßen: »Las personas unidas sin mediación del vínculo legal.« Auch hier bleibt also recht offen, was »vereint« bedeutet. DANE: XIII Censo Nacional de Población. Resumen General, Bogotá: Imprenta Nacional 1967, S. 15.

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ren, verringerten.32 Die Dauer der Zeit, in der das »Risiko von Empfängnis bestand«, wie der Demograf die Zeit, die Frauen in Partnerschaften lebten, nannte, war eine vielverwendete demografische Variable. Fernab davon, feste Bindungen grundsätzlich gut zu heißen, verbirgt sich hinter dieser Variable vielmehr die Annahme, feste Partnerschaften und Ehen erhöhten die Kinderzahl, da Schwangerschaften alleinstehender Frauen sozial geächtet waren und daher verhindert oder abgebrochen wurden.33 Diese Hypothese wurde durch KAP-Studien bestätigt, die oftmals zu dem Ergebnis kamen, dass verheiratete Frauen mehr Kinder bekamen als Frauen, die in »festen Partnerschaften« lebten. In detailreicheren Auswertungen wurden auch die Dauer und Anzahl der Partnerschaften sowie das Alter der ersten Bindung miteinbezogen, und damit die Ergebnisse so sehr differenziert, dass pauschale Aussagen zum Verhältnis zwischen der Partnerschaftsdauer und -form und der ›Fertilität‹ der befragten Frauen nicht mehr möglich waren.34 Schwangerschaften alleinstehender Frauen waren hingegen nicht nur gesellschaftlich geächtet, sie waren auch in der Fertilitätsforschung in aller Regel unsichtbar. So wurden beispielsweise in Umfragen, die an Familienplanungsprogramme angebunden waren, ohnehin nur verheiratete Frauen und Frauen in uniones libres befragt.35 Es gab jedoch auch Ausnahmen zu dem hier skizzierten unaufgeregten demografischen Interesse am Familienstand und dessen Zusammenhang mit ›Fertilität‹, bzw. Fertilitätsstudien, bei denen dieser nicht gemessen und anstelle dessen

32 | López Toro, Some Notes on Fertility Problems, 1967, S. 456. Vgl. hierzu auch die Formulierung, mit der in der Auswertung der Interviews mit den urbanen Frauen der nationalen Fruchtbarkeitsstudie auf die Bedeutung der Kategorie Ehestand hingewiesen wurde: »Otra característica de importancia en este estudio es el tipo de unión conyugal de las mujeres urbanas del país, dada la influencia que esta variable tiene sobre los niveles de fecundidad.« Rivera C., Jorge: »Características socio-demográficas de las mujeres urbanas de Colombia«, in: ASCOFAME-DEP, Características socio-demográficas de las mujeres, 1974, S. 27–40, hier: S. 29. 33 | Vgl. Mertens, Walter: »Investigación sobre la fecundidad y la planificación familiar en América Latina«, in: El Colegio de México (Hg.): Conferencia Regional Latinoamericana de Población. Actas 1, México D.F.: IUSSP et al. 1972, S. 193–235, hier: S. 200ff. 34 | Vgl. Prada Salas, Elena: »Nivel y diferenciales de fecundidad. Area urbana«, in: ASCOFAME-DEP, Características socio-demográficas de las mujeres, 1974, S. 65–79, hier: S. 67ff; CIMED: Estudio ERED. Patrones y diferenciales en fecundidad. Primera encuesta retrospective, Bogotá 1973, S. 22ff. 35 | Vgl. Jaramillo Gómez, Mario: »Informe Final del Programa Experimental de Planificación Familiar del Centrol Piloto de Salud No. 13 – Medellín«, in: ASCOFAME-DEP, Planificación Familiar, 1967, S. 275–350, hier: S. 289.

5. ›Moderne‹ Frauen, Männer, Familien und Sexualität

in alarmierenden Tönen von der hohen Anzahl unverheirateter Paare und der Zunahme illegitimer Kinder gesprochen wurde.36 Für die Bevölkerungsforscherinnen und -forscher, die sich primär für den internationalen Vergleich der Ergebnisse aus Fertilitätsstudien interessierten, stellten unterschiedliche Formen der Partnerschaft vor allem ein methodisches Problem dar. J. Mayone Stycos war in seinen Karibikstudien damit konfrontiert worden, dass Kinder aus kirchlich oder zivil geschlossenen Ehen die Ausnahme darstellten. Aufgrund dieser Erfahrungen forderte er auf der lateinamerikanischen Bevölkerungskonferenz in Rio de Janeiro 1955 dazu auf, die Bandbreite an Familienkonzepten und -konstellationen, die in Lateinamerika vorherrschte, zu untersuchen und den Blick auf Lebensformen jenseits der legalisierten und relativ dauerhaften Ehe, wie sie in Westeuropa und den USA dominiere, zu richten. Er betonte die Heterogenität der Verbindungen zwischen Frauen und Männern, um die fehlende Vergleichbarkeit demografischer Daten zu problematisieren, und empfahl, an einer Klassifizierung von Eheformen zu arbeiten, die der Demografie einen »maximalen Nutzen« bringe sowie eine »maximale internationale Vergleichbarkeit« herstelle. Auch zur korrekten Erfassung und Interpretation dieser Daten sowie zu den Ursachen der verschiedenen Eheformen und ihrem Zusammenhang mit »menschlicher Fertilität« müsse verstärkt geforscht werden.37 Siebzehn Jahre später bezeichneten zwei US-amerikanische Demografen, die zum Verhältnis zwischen dem Heiratsalter von Frauen und deren Kinderzahl forschten und die vergleichende lateinamerikanische Fruchtbarkeitsstudie von 1964 unter diesem Gesichtspunkt auswerteten, die Häufigkeit von »nonlegal sexual unions« in Lateinamerika als großes Forschungsproblem.38 An dieser wissenschaftlich begründeten Forderung nach klar definierbaren, standardisierten und klassifizierbaren Partnerschaftsformen, die die befragten Frauen und Männer dazu verpflichtete, ihre partnerschaftlichen und sexuellen Bindungen in eine der vorgeschlagenen Kategorie einzuordnen, zeigt sich die normalisierende Kraft der Sozialwissenschaften.39 Sehr viel intensiver als die Bevölkerungsexperten und -expertinnen setzte sich ab den 1950er Jahren die kolumbianische Anthropologin und Soziologin Virginia Gutiérrez de Piñeda mit kolumbianischen Ehe- und Familienstrukturen auseinander. Sie gilt als Begründerin der Familienforschung in Kolumbien und gehört zu den bekanntesten Sozialwissenschaftlerinnen und 36 | Vgl. Aguirre, Colombia, 1966, S. 2f. 37 | United Nations, Latin America Seminar on Population, 1958, S. 60. 38 | Yaukey, David; Thorsen, Timm: »Differential Female Age at First Marriage in Six Latin American Cities«, in: Journal of Marriage and Family, 34, 2, 1972, S. 375–379, hier: S. 375. 39 | Siehe hierzu u. a. Reinecke; Mergel, Das Soziale vorstellen, 2012.

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Bevölkerung, Fer tilität und Familienplanung in Kolumbien

Sozialwissenschaftlern ihrer Zeit. 40 In den 1960er Jahren publizierte sie zwei hochgelobte und stark rezipierte Klassiker zur Geschichte und Gegenwart der Familienstrukturen in Kolumbien, die auf anthropologischer teilnehmender Beobachtung, soziologischen Interviews und umfassender historischer Lektüre aufbauten. 41 In ihrem Hauptwerk zu Familie und Kultur in Kolumbien unterteilte sie die kolumbianische Gesellschaft anhand von Merkmalen, die eine Mischung aus geografischen, klimatischen, historischen und ethnischen Merkmalen darstellten, in vier »kulturelle Komplexe« bzw. »Subkulturen«, denen sie gemeinsame Charakteristika im Hinblick auf die soziale Funktion der Institution Familie zuschrieb. Sie beschrieb jeden Komplex hinsichtlich ökonomischer, geografischer und religiöser Charakteristika und stellte diese in Zusammenhang mit vorherrschenden Familienformen, wobei ihr Schwerpunkt auf den Formen der Ehen und Partnerschaften, patriarchalen versus matriarchalen Strukturen, Geschlechterrollen und Erbschaftsregeln lag. 42 Diese Einteilung wurde in zahlreichen anderen Studien als methodische Grundlage zur Einteilung der kolumbianischen Gesellschaft verwendet, unter anderem in einer der Auswertungen der nationalen Fertilitätsstudie von 1969. 43 Fragen zu den Einstellungen gegenüber uniones libres wurden in der für diese Studie ausgewerteten Fertilitätsforschung nur einmal und ausschließlich an Männer gestellt. So waren die Männer, die 1969 im Zuge der nationalen 40 | Virginia Gutiérrez de Piñeda (1922–1999) studierte in den 1940er Jahren in Bogotá Sozialwissenschaften und Ethnologie an der Escuela Normal Superior und am Instituto Etnológico Nacional und gehörte 1959 zur Gründungsgeneration der Fakultät für Soziologie an der Universidad Nacional. Siehe zu ihrer Biografie und Forschung Sandoval Robayo, Mary Luz; Moreno Baptista, César: »Virginia Gutiérrez de Piñeda. Aportes al desarrollo del pensamiento social, del conocimiento de la familia y la formación de la nación en Colombia«, in: Revista de Antropología y Sociología, 10, 2008, S. 85–121; Barragán, Carlos Andrés: Virginia Gutiérrez de Piñeda. Observadora silenciosa, maestra apasionada, Bogotá: Colciencias 2001; Rico de Alonso, Ana: »Virginia Gutiérrez de Piñeda«, in: Revista Colombiana de Sociología, 6, 1, 2001, S. 41–48; Echeverri Angel, Lidia: »Virginia Gutiérrez de Pineda. Ve lo que todos han visto pero piensa lo que otros no han pensado«, in: Nómadas, 6, 1997, S. 143–155. 41 | Gutiérrez de Piñeda, Virginia: La familia en Colombia. Trasfondo histórico, Bogotá: Univ. Nacional de Colombia, Facultad de Sociología 1963; Gutiérrez de Piñeda, Virginia: Familia y cultura en Colombia, Bogotá: Tercer Mundo Ed. 1968. Bereits 1962 war in der Schriftenreihe des Centro de Investigaciones Sociales ein kleiner Band erschienen: Gutiérrez de Piñeda, La familia en Colombia, 1962; 42 | Gutiérrez de Piñeda, Familia y cultura en Colombia, 1968, S. 15. 43 | Wills Franco, Margarita: Diferencias regionales de fecundidad en Colombia, Bogotá: Canal Ramirez-Antares 1976. Zu dem weitreichenden Einfluss der ›kulturellen Komplexe‹ Gutiérrez de Piñedas siehe Roldán, Acción Cultural Popular, 2014.

5. ›Moderne‹ Frauen, Männer, Familien und Sexualität

Fertilitätsstudie befragt wurden, zu zahlreichen Einschätzungen dieser Form des Zusammenlebens aufgefordert. Sie sollten mögliche Gründe für die vielen uniones libres in Kolumbien angeben und abschätzen, welche Vorteile daraus erwuchsen und ob diese für Männer oder für Frauen überwogen. Für den Fall, dass sie selbst eine derartige Partnerschaft führten, sollten sie zudem ihre persönlichen Gründe angeben. Sie sollten darlegen, ob mit ihren Partnerinnen Einigkeit in dieser Frage herrschte, warum gegebenenfalls nicht und wer sich in der Diskussion dazu durchgesetzt habe. Weiterhin wurde nach der Meinung ihrer Eltern, nach möglichen ökonomischen Gründen für die Entscheidung sowie danach gefragt, ob die erwarteten oder unerwarteten Vorteile eingetreten seien und der Mann die Entscheidung erneut genauso treffen würde. 44 Hier wird deutlich, dass in der behavioralistisch geprägten Fertilitätsforschung Subjekte angesprochen waren, die ihr Familienleben reflektiert, rational und strategisch ausrichteten. Fragen, die auf eine Bewertung der juristischen Dimensionen der kirchlichen und standesamtlichen Ehe sowie von Trennungs- und Scheidungsmöglichkeiten abzielten, wurden hingegen kaum gestellt. Lediglich in zwei kleinen 1964 durchgeführten KAP-Studien in der Provinzhauptstadt Popayán und dem nahegelegenen Ort Timbió sowie in der Studie zu Sexualerziehung von 1969 tauchte die Frage danach auf, inwiefern Scheidung erlaubt sein sollte. 45 Das steht in markantem Kontrast zu der Bedeutung, die dem Themenkomplex Ehe- und Scheidungsrecht seitens der kolumbianischen Frauenbewegung beigemessen wurde, die in den 1960er Jahren aktiv wurde. Kolumbien war 1954 das vorletzte Land Lateinamerikas in dem Frauen das Wahlrecht erlangten, was in der Forschung auf die große politische und gesellschaftliche Macht der katholischen Kirche zurückgeführt wird. An die Urnen gehen konnten kolumbianische Frauen erstmals bei dem Plebiszit, mit dem 1957 der Pakt zwischen der konservativen und liberalen Partei legitimiert wurde. 46 In den ersten Jahren des Frente Nacional stand dann das Eherecht im Fokus von Politikerinnen, die für weitere rechtliche Gleichstellungen kämpften. Aus der Initiative der liberalen Politikerin und ersten Senatorin Kolumbiens Esmeralda Arboleda er44 | Heredia Benitez, Resultados Generales, 1974, S. 62ff. Ähnliche Fragen wurden auch zu Ehen gestellt und ausschließlich der Fragenblock zu Ehen ging in die Auswertung der Studie ein. Vgl. ebd., S. 44f. Den Frauen, die für die nationale Erhebung befragt wurden, wurden diese Fragen nicht gestellt. 45 | Vgl. Erazo, Encuesta de opinión sobre planeación, 1965, S. 192; ASCOFAME-DEP: Encuesta E-V-F-1.4: RAC, PC, Acc. 2, Foreign Correspondence Series, Box 7, Folder 69. 46 | Vgl. Coker González, Charity: »Agitating for Their Rights. The Colombian’s Women’s Movement, 1930–1957«, in: Pacific Historical Review, 69, 4, 2000, S. 689–706; Bush­ nell, David: The Making of Modern Colombia. A Nation in Spite of Itself, Berkeley CA: Univ. of California Press 2003, S. 190; 216f.

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wuchs 1964 ein Gesetzentwurf, der die Scheidung von Zivilehen ermöglichen sollte. Dieser wurde jedoch von der katholischen Kirche heftig diffamiert und blieb ohne Erfolg. 47 Fragen des Eherechts wurden auch in den Medien stark diskutiert, wie jüngst eine Untersuchung kolumbianischer Frauenzeitschriften gezeigt hat. Darin wurden in den 1960er Jahren zwar einerseits schwärmerische Berichte über Traumhochzeiten abgedruckt, andererseits wurde jedoch deutliche Kritik am Eherecht und der darin festgeschriebenen männlichen Dominanz geübt. Diese manifestierte sich beispielsweise darin, dass Männer über ihre Frauen und deren Besitz verfügen durften. Berichte über Misshandlungen, so der Tenor dieser Berichte, veranlassten zahlreiche Frauen, wechselnde uniones libres der »Gefangenschaft« in einer schlechten Ehe vorzuziehen. 48 Die Möglichkeit, dass hinter dem Phänomen unverheirateter Paare und unehelich geborener Kinder eine bewusste Entscheidung der Frauen stehen konnte, die möglicherweise aus dem Eherecht resultierte, tauchte in den politischen Diskussionen um die ›verantwortungsvolle Elternschaft‹ jedoch nicht auf. Auch in einzelnen Fertilitätsstudien wurde Kritik an der Unterordnung von Frauen geäußert, z. B. in den eingangs zitierten Ausführungen von Alfredo Aguirre. Er attestierte jedoch sowohl Ehen als auch eheähnlichen Beziehungen, dass diese von alleinstehenden Müttern aus Candelaria oftmals ausschließlich aufgrund ökonomischer Probleme eingegangen würden und in diesen Konstellationen der Mann alle Entscheidungen treffe. Das gelte für die Dauer der Beziehung, die Verteilung des Familieneinkommens und die Anzahl der gemeinsamen Kinder. Frauen müssten in solch einer Beziehung jede Freiheit aufgeben. 49 Bevölkerungsexperten und -expertinnen wie Alfredo Agui­r re favorisierten dem gegenüber eine gleichberechtigte Partnerschaft, wobei sich diese Forderung nicht auf juristische Ungleichheiten bezog, sondern auf den Umgang der Eheleute miteinander. Diese Haltung dürfte darin begründet sein, dass Familienplanung, darin waren sich Forscherinnen und Forscher länderübergreifend einig, dann am erfolgreichsten war, wenn sie von Mann 47 | Im gleichen Jahr wurde allerdings ein Gesetz von 1924 abgeschafft, wonach getaufte Frauen exkommuniziert werden mussten, bevor sie zivilrechtlich heiraten konnten. Vgl. Luna, Lola G.; Villarreal M., Norma: Historia, género y política. Movimientos de mujeres y participación política en Colombia 1930–1991, Barcelona: Promociones y Publicaciones Universitarias 1994, S. 157f. Eine zivilrechtliche Scheidung für ausschließlich zivil geschlossene Ehen wurde in Kolumbien 1976 möglich, kirchlich geschlossene Ehen konnten erst ab 1991 geschieden werden. Vgl. Bushnell, The Making of Modern Colombia, 2003, S. 279. 48 | Vgl. Stanfield, Michael Edward: Of Beasts and Beauty. Gender, Race, and Identity in Colombia, Austin TX: Univ. of Texas Press 2013, S. 143f. 49 | Aguirre, Colombia, 1966, S. 2.

5. ›Moderne‹ Frauen, Männer, Familien und Sexualität

und Frau gemeinsam ausging.50 Die »Planung und Kooperation zwischen Ehemann und Ehefrau« wurde in einer 1969 publizierten Überblicksdarstellung, die in kolumbianisch-US-amerikanischer Koautorenschaft verfasst wurde und die bisherigen Ergebnisse aus kolumbianischen KAP-Studien zusammenfasste, gar als wichtigstes Ziel der Modernisierungsbemühungen bezeichnet, da nur durch sie die Verwendung von Verhütungsmitteln einsetzen werde.51 Als Voraussetzung dafür galt wiederum die offene, intensive und gleichberechtigte Kommunikation zwischen den zukünftigen Eltern, und damit diese beim Thema Familienplanung funktionierte, war sie bestenfalls auch in allen anderen Bereichen des Zusammenlebens etabliert. Die Fertilitätsstudien enthielten daher auch Fragen nach gemeinsamer Freizeitgestaltung, der Aufgabenverteilung im Haushalt sowie danach, wer wichtige Entscheidungen über Anschaffungen und in Sachen Kindererziehung treffe.52 Primär wurde jedoch die Kommunikation bezüglich der Familienplanung abgefragt.53 Die Methodik, mit der diese Kommunikation und ihr Einfluss auf die Akzeptanz von Familienplanungsprogrammen und die Verwendung von Verhütungsmitteln gemessen wurde, wurde im Laufe der 1960er Jahre zunehmend komplex und kontrovers diskutiert. So bestritt der junge Soziologe der University of Chicago, David M. Monsees, in seiner 1970 fertiggestellten Doktorarbeit, die auf Interviews mit 324 Paaren in Candelaria basierte, dass explizite verbale Kommunikation eine Voraussetzung für geplante und kleine Familien sei. Vielmehr kam er zu dem Ergebnis, dass bei den befragten Paaren Einigkeit hinsichtlich der geeigneten Kinderzahl oder der Vor- und Nachteile kleiner Familien in größerem Maße auf übereinstimmende Wertvorstellungen zurückzuführen sei, die wiederum kein Ergebnis von Kommunikation darstellten.54 Eine weitere Variable, der hinsichtlich des Ziels einer Verringerung der Kinderzahl pro Frau eine Schlüsselfunktion beigemessen wurde, war das 50 | Vgl. Prieto Duran; Cuca Tolosa, Análisis de la encuesta, 1965, S. 166; Erazo, Encuesta de opinión sobre planeación, 1965, S. 181. Schon in der Karibikforschung von J. Mayone Stycos, Kurt Back und Reuben Hill war dem Faktor Kommunikation eine hohe Bedeutung beigemessen worden. Vgl. Stycos, J. Mayone; Back, Kurt W.; Hill, Reuben: »Problems of Communication between Husband and Wife on Matters Relating to Family Limitation«, in: Human Relations, 9, 2, 1956, S. 207–215. 51 | Simmons, Alan B.; Cardona Gutiérrez, Ramiro: Family Planning in Colombia. Changes in Attitude and Acceptance, 1964–69, Ottawa: International Development Research Centre 1973, S. 29. 52 | Vgl. CELADE, Comparative Surveys of Fertility, 1963, S. 130. 53 | Vgl. u. a. Fragebogen Familienplanung Candelaria, o. D., Columbia HS A&S; Heredia Benitez, Resultados Generales, 1974, S. 80; Simmons, The Emergence of Planning Orientations, 1970, S. 199. 54 | Monsees, Correlates of Fertility Attitudes, 1970, S. 82; 143.

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Heiratsalter. In Fertilitätsstudien in Kolumbien und weltweit wurde standard­ mäßig nach dem eigenen und dem idealen Heiratsalter gefragt, und zahlreiche Forscherinnen und Forscher spezialisierten sich darauf, den Einfluss des Heiratsalters auf die weibliche ›Fertilität‹ zu ermitteln.55 Wie die kolumbianische Demografin Elena Prada Salas in einer Auswertung der nationalen Fertilitätsstudie von 1969 betonte, reduziere ein höheres Heiratsalter nicht nur den »Gefahrenzeitraum« für Schwangerschaften, sondern ermögliche Frauen auch, mehr Zeit ihres Lebens für Bildung zu verwenden, was wiederum die Kenntnisse über Familienplanung erweitere und zu einem rationalen Umgang mit den eigenen ökonomischen Möglichkeiten beitrage.56 Auch im Hinblick auf das Heiratsalter wurde die Bindung an einen Mann aus demografischer Perspektive also als gefährlich eingestuft. Aufgrund des unumstrittenen Zusammenhangs zwischen Heiratsalter und Kinderzahl listete auch die nationale Planungsbehörde eine Erhöhung des Heiratsalters als eine der Maßnahmen auf, mit denen die Bevölkerungswachstumsrate verlangsamt werden sollte. Spätere Heiraten könnten einerseits durch einen längeren Bildungsweg und andererseits durch mehr berufliche Chancen für Frauen erreicht werden.57 Innerhalb von Partnerschaften galten neben dem Grad der Kommunika­ tion unter den Ehepartnern die Hoffnungen und Wünsche, die Eltern für ihre Kinder hatten, als ausschlaggebend für modernes und ›verantwortungsvolles‹ Handeln und damit für die Entscheidung, Verhütungsmittel zu verwenden und die Kinderzahl zu beschränken. Hier folgten die Bevölkerungsforscher und -forscherinnen einer weit verbreiteten modernisierungstheoretischen Annahme. So galt die Fähigkeit, sich selbst und seine Kinder als sozial mobile Individuen innerhalb einer sich wandelnden Gesellschaft wahrzunehmen, als eine der wichtigsten psychologischen Auswirkungen des Prozesses, in dem traditionelle Menschen mit der modernen Welt in Berührung kamen.58 Gleichzeitig galt ein Wandel in der elterlichen Wahrnehmung ihrer Kinder als zentrales Merkmal im Übergang von agrarisch-traditionellen zu urban-modernen Gesellschaften. Während sie in ersteren als Arbeitskräfte und als soziale Absicherung ihrer Eltern galten, wurden Kinder in modernen Gesellschaften als

55 | Vgl. für Analysen des realen und idealen Heiratsalters folgende Auswertungen der vergleichenden Fertilitätsstudie von 1964 und des World Fertility Survey von 1976: Yau­ key, David; Thorsen, Timm; Onaka, Alvin T.: »Marriage at an Earlier than Ideal Age in Six Latin American Capital Cities«, in: Population Studies, 26, 2, 1972, S. 263–272; Flórez Nieto, Carmen Elisa; Goldman, Noreen: An Analysis of Nuptiality Data in the Colombia National Fertility Survey, Voorburg: International Statistical Institute 1980. 56 | Prada Salas, Nivel y diferenciales de fecundidad, 1974, S. 73. 57 | Vgl. Departamento Nacional de Planeación, Plan de Desarrollo, 1971, S. 36. 58 | Vgl. Latham, Modernization as Ideology, 2000, S. 95.

5. ›Moderne‹ Frauen, Männer, Familien und Sexualität

›Kostenfaktoren‹ und als ›Investitionen‹ konzipiert.59 Dieser Wahrnehmungswandel trat jedoch nicht notwendigerweise von selbst ein, sondern musste den in traditionellem Denken verhafteten Eltern in Aufklärungskampagnen oder durch Gesetze wie das »Ley de Paternidad Responsable« nahegebracht werden. Auch die Fragebögen der Fertilitätsforschung trugen sowohl dazu bei, diesen Wandel im Verhältnis zwischen Eltern und Kindern zu messen, als auch dazu, ihn zu beschleunigen. So wurden Frauen einerseits auf die Frage, warum manche Menschen Geburtenkontrolle befürworteten, die Antworten »um Kinder besser erziehen zu können« und »um die Lebensverhältnisse der Familie nicht zu senken« zur Verfügung gestellt, andererseits wurden Frauen und Männer nach den Bildungs- und Berufszielen für ihre Töchter und Söhne gefragt.60 Die einzigen für Kolumbien vorliegenden Fragebögen, die sich an Kinder und Jugendliche selbst richteten, gehören zu einer Umfrage, die die Gynäkologin und Sexualwissenschaftlerin Cecilia Cardinal de Martín für ASCOFAMEDEP 1969 anleitete. Diese lässt sich jedoch nicht als Fertilitätsstudie einordnen, war doch ihr übergeordnetes Thema Sexualerziehung. Befragt wurden für diese Studie Schülerinnen und Schüler, Eltern, Lehrerinnen und Lehrer in einem Stadtviertel Bogotás sowie in der nahegelegenen Kleinstadt Madrid. Hier wurde nun aus Perspektive der Jugendlichen nach dem Verhältnis zwischen Eltern und Kindern gefragt. Die Kinder und Jugendlichen waren sowohl aufgefordert, die Lebenseinstellungen, den Erfolg, die Zufriedenheit und die Erziehungsmethoden ihrer Eltern zu bewerten, als auch das Verständnis und die Behandlung, die sie durch diese erfuhren. Fragen wie »Kritisieren dich deine Eltern, wenn du deine Meinung äußerst?« oder »Gibt es Fragen, die du dich deine Eltern nicht zu fragen traust?« schufen das Idealbild interessierter, 59 | Für Studien zu Kolumbien, die den Zusammenhang zwischen ›Fertilität‹ und Kindern als Kostenfaktor erforschten, siehe Banguero, Harold: The Social and Economic Determinants of Fertility in Colombia. Dissertation, Chapel Hill NC: Univ. of North Carolina 1977; Oswald, Familienplanung als volkswirtschaftliches Investitionsproblem, 1979. 60 | Die genannten vorformulierten Antworten enthielt die vergleichende Fertilitätsstudie von 1964: CELADE, Comparative Surveys of Fertility, 1963, S. 135. Nach den Bildungszielen wurde sowohl in der vergleichenden Fertilitätsstudie von 1964 als auch in der nationalen Fertilitätsstudie von 1969 gefragt: Ebd; ASCOFAME-DEP, Resultados Generales, 1973, S. 265; Heredia Benitez, Resultados Generales, 1974, S. 66. In den Auswertungen der nationalen Fruchtbarkeitsstudie, die ihren Fokus auf den Zusammenhang von Modernisierung und der Verwendung von Verhütungsmitteln legte, wurde dem Thema große Bedeutung beigemessen. Vgl. Cruz Betancourt, Carmen Inés: La apertura al cambio en la población rural, Bogotá: ASCOFAME 1974, S. 37–43; Balwin, Wendy: Modernismo y fecundidad en Colombia, Bogotá: Canal Ramirez-Antares 1975.

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offener, verständnisvoller und fördernder Eltern.61 In der Begründung des Forschungsprojektes, das aus einem experimentellen Sexualkundekurs bestand, der von Umfragen umrahmt wurde, erläuterten Cecilia de Martín und ihr Team, dass gute Sexualerziehung Erziehung für das Familienleben sei und sowohl zu einem verantwortungsvollen Sexleben als auch zu verantwortungsvoller Elternschaft führe. Sie vertrat dabei ein Erziehungsideal, das auf Strafen verzichtete und die Kinder und Jugendlichen als Individuen respektierte und ihnen die ›richtigen‹ Werte und Verhaltensweisen vorlebte. Die theoretische Basis für Cecilia Cardinal de Martíns Ausführungen stellten Texte der USame­r i­ka­nischen Ärztin und Pionierin der US-amerikanischen Bewegung für Sexualerziehung Mary Calderone dar, mit der Cardinal de Martín seit den frühen 1960er Jahren freundschaftlich verbunden war.62

5.4 G eschlechternormen in der F ertilitätsforschung Wie hier bereits vielfach herausgestellt worden ist, wurden kolumbianische Frauen und Männer in der Bevölkerungsforschung nicht nur in ihrer gemeinsamen Funktion als Eltern angesprochen, sondern auch geschlechtsspezifisch als Mütter und Väter, sowie beispielsweise als berufstätige Frauen oder kon­su­ mie­rende Männer. Diese ambivalenten Idealbilder und Problematisierungen von Weiblichkeit und Männlichkeit sollen im Folgenden genauer analysiert und kontextualisiert werden. Hier liegt der Fokus stärker auf Frauen und ihren Rollen, womit der Schwerpunktsetzung der zeitgenössischen Forschung zu Kolumbien Rechnung getragen wird. Da die Modernisierungstheorie Frauen als traditionellstes Element sogenannter traditioneller Gesellschaften identifiziert hatte,63 stellten sie aus demografischer Perspektive genau das entgegensetzte Problem dar, das Frauen aus entwickelten Ländern zugeschrieben wurde: »Bekommen sie in Europa zu wenig Kinder, weil sie falschen Idealen der ›Selbstverwirklichung‹ folgen, statt sich auf die traditionelle Mutterrolle zu besinnen, so bekommen sie in den 61 | ASCOFAME-DEP: Encuesta E-V-F-1.1: RAC, PC, Acc. 2, Foreign Correspondence Series, Box 7, Folder 69, S. 2. 62 | Cardinal de Martín, Cecilia et al.: Educación para la vida familiar, [1970]: RAC, PC, Acc. 2, Foreign Correspondence Series, Box 7, Folder 69, S. 1–6. Zu Cardinal de Martíns Freundschaft mit Mary Calderone vgl. Guerrero González, Pedro Gabriel: »Mujer y sexualidad. Entrevista con la Médica Cecilia Cardinal de Martín«, in: Revista Colombiana de Psiquiatría, 25, 4, 1996, S. 249–258, hier: S. 251. 63 | Vgl. Scott, Catherine V.: »Tradition and Gender in Modernization Theory«, in: Harding, Sandra G. (Hg.): The Postcolonial Science and Technology Studies Reader, Durham NC; London: Duke Univ. Press 2011, S. 290–309, hier: S. 293.

5. ›Moderne‹ Frauen, Männer, Familien und Sexualität

Entwicklungsländern zu viele Kinder, weil sie in Traditionen verhaftet sind, statt sich zu emanzipieren.«64 Diese Diagnose wurde auch innerhalb national definierter Bevölkerungen gestellt: Die ›richtigen‹ Frauen bekamen dann zu wenige und die ›falschen‹ zu viele Kinder. Feministinnen kritisierten vor diesem Hintergrund schon früh, dass seitens der Bevölkerungsforschung Frauen und ihre Sexualität zum Problem für Fortschritt, Nation und Entwicklung erklärt wurden. Diese Kritik wurde auf internationaler Ebene in den 1970er Jahren lauter und spätestens in den 1990er Jahren durch den neuen Fokus auf sexuelle und reproduktive Rechte selbst von den Institutionen formuliert, die bis dahin ›Bevölkerungskontrolle‹ propagiert hatten. Auch in der aktuellen historischen Forschung, die sich mit Bevölkerungswissen im 20. Jahrhundert beschäftigt, ist die Kritik an den darin normierten Vorstellungen von weiblichen Körpern und weiblicher Sexualität groß.65 In welcher Hinsicht Frauen aus Expertensicht als »Quell der permanenten demografischen Katastrophe«66 galten, wird beispielsweise mit Blick auf eine Diskussionsrunde deutlich, die am 30. April 1960 an der Universidad Nacional in Bogotá stattfand. Ein Geograf, ein Arzt, ein jesuitischer Theologe und Botaniker sowie zwei Ökonomen hatten sich zum »zweiten runden Tisch über Überbevölkerung« versammelt und debattierten über die kolumbianischen ›Bevölkerungsprobleme‹, insbesondere die Legitimität von ›Geburtenkontrolle‹ und von Verhütungsmitteln. So unterschiedlich die anwesenden Experten das schnelle Wachstum der kolumbianischen Bevölkerung bewerteten, so vielfältig waren die Fehler, die Frauen vermeintlich begingen: Die Frauen der Oberschicht bekamen zu wenige Kinder und begründeten das auch noch damit, dass sie lieber ihren sozialen Verpflichtungen nachgehen und reisen wollten, arbeitende Frauen hingegen ließen ihre Kinder unbeaufsichtigt und damit zu Kriminellen heranwachsen, und Frauen im Allgemeinen heirateten zu früh. Eine der Expertenmeinungen stach jedoch heraus: Rafael Baquero, ein marxistischer Ökonom und langjähriges Mitglied der Kommunistischen Partei Kolumbiens, der unter anderem zwei Jahre für die Controlaría General gearbeitet und den Zensus von 1951 geleitet hatte, sprach den kolumbianischen Frauen zu, dass sie nicht länger »Gebärmaschinen« seien und stattdessen von ihrem Recht Gebrauch machen wollten, umfassend am politischen, sozialen

64 | Etzemüller, Thomas: »Zu traditionell, zu emanzipiert: Frauen als Quell der permanenten demographischen Katastrophe«, in: Villa, Paula-Irene (Hg.): Mütter – Väter: Diskurse, Medien, Praxen, Münster: Westfälisches Dampfboot 2009, S. 63–73, hier: S. 71. 65 | Siehe hierzu die Darstellung des Forschungsstands in Kapitel 1.5. 66 | Etzemüller, Zu traditionell, zu emanzipiert, 2009.

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und kulturellen Leben des Landes teilzuhaben. Daher befürworte er die Erforschung, Verbreitung und Verwendung von Verhütungsmitteln.67 Innerhalb der kolumbianischen Bevölkerungswissenschaften, die sich einige Jahre nach der beschriebenen Diskussionsrunde etablierten, dominierte eindeutig der hier angeführte zweite Blick auf kolumbianische Frauen. Das teils ambivalente, aber in der Regel komplementäre weibliche Idealbild, das gezeichnet wurde, war das einer modernen berufstätigen Mutter von zwei bis vier Kindern. Diese sollte gleichzeitig eine gute Mutter sein, die sich ausreichend um die Versorgung und Erziehung ihrer Kinder kümmerte, und einem Beruf nachgehen und damit zur Entwicklung Kolumbiens beitragen. An ihrer Seite hatte sie einen Ehemann, der sich ebenfalls der Kindererziehung annahm und im Haushalt mithalf. Hinsichtlich der Art und Weise, wie Frauen zum Wohl der Nation beitragen sollten, markiert die Bevölkerungsforschung der 1960er Jahre daher einen klaren Wandel. Im Gegensatz zu den hygienischen und eugenischen Sorgen, die kolumbianische Intellektuelle in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts formuliert hatten, wird diese Veränderung besonders deutlich. So wurden Frauen in den historiografisch intensiv diskutierten Texten und Vorträgen zur »Degenera­ tion« der kolumbianischen raza fast ausschließlich als gefährdete oder gefährliche Mütter dargestellt, denen die Verantwortung für die Zukunft der Nation oblag und die es mit Hilfe medizinischer und anderer Expertise vor den mit Erwerbsarbeit verbundenen Gefahren oder Krankheiten, die über Prostituierte in die Familien getragen wurden, zu schützen galt.68 Arbeit stellte für Frauen jedoch nicht nur ein gesundheitliches, sondern potenziell auch ein moralisches Problem dar. Die Verzahnung dieser beiden Ebenen in den späten 1930er und 1940er Jahren ist in einer geschlechterhistorischen Untersuchung der Textilfabriken Medellíns herausgearbeitet worden. Diese konnte zeigen, dass als Reaktion auf Arbeitskämpfe in den Fabriken, die seit der Jahrhundertwende in erster Linie Frauen beschäftigten, ›Jungfräulichkeit‹ für Frauen zur Voraussetzung für ihre Anstellung wurde, so dass verheiratete Frauen und unverheiratete Mütter von der Arbeit ausgeschlossen wurden. Die jungen, ledigen Frauen, so sah es »la moral« vor, standen bis zu ihrer Eheschließung unter dem Schutz der patriarchal strukturierten Firma. Zu Unabhängigkeit sollte die Lohnarbeit hingegen nicht führen. Erst in den 1960er Jahren, als aber ohnehin fast nur

67 | Universidad Nacional de Colombia, Segunda Mesa Redonda »Superpoblación en Colombia«, 30.04.1960, UN AS. 68 | Vgl. Villegas Vélez, Nación, intelectuales de elite, 2007, S. 17ff; Muñoz Rojas, Mas allá del problema racial, 2011, S. 45f; Pedraza Gómez, En cuerpo y alma, 2011, S. 200f.

5. ›Moderne‹ Frauen, Männer, Familien und Sexualität

noch Männer in den Fabriken angestellt wurden, war ›Jungfräulichkeit‹ keine Voraussetzung für die Anstellung von Frauen mehr.69 Die modernen Frauen der 1960er Jahre hingegen sollten in erster Linie weniger Kinder bekommen, und ihre Erwerbstätigkeit galt daher aus demografischer Perspektive als einer der Wege, um dieses Ziel zu erreichen. Erwerbstätigkeit wurde daher zu einer der Variablen, deren Verhältnis zur Kinderzahl der Frauen die Bevölkerungsforscher und -forscherinnen umtrieb und die standardmäßig in Fertilitätsstudien abgefragt wurde, allerdings mit ganz unterschiedlichen Ergebnissen. Während beispielsweise J. Mayone Stycos bei der Auswertung von KAP-Studien aus der Türkei und Peru ganz im Sinne der modifizierten Version der Theorie des demografischen Übergangs zu dem Ergebnis kam, dass weibliche Berufstätigkeit die Fertilität der Frauen nicht senke und die Regierungen dieser Länder nicht auf Modernisierungseffekte hoffen, sondern Verhütungsmittel verbreiten sollten, begriffen kolumbianische Forscherinnen und Forscher Frauenerwerbstätigkeit als wichtigen Faktor, der zur Senkung der Kinderzahl führe.70 Unabhängig davon, wo die Forschung die Kausalität sah, war die Berufstätigkeit von Frauen in der Fertilitätsforschung zu Kolumbien positiv konnotiert und galt als Indikator einer modernen Gesellschaft. Das zeigen Ausführungen wie die der Ökonomen Rafael Prieto Durán und Roberto Cuca Tolosa, die Vorurteile gegen politische, ökonomische und kulturelle Aktivitäten von Frauen kritisierten. Sie forderten, Frauen müssten Bildung erhalten und Teil der Arbeitskraft und damit »Elemente des Fortschritts« der kolumbianischen Gesellschaft werden.71 Die Fertilitätsumfragen, die den Grad an Modernisierung der interviewten Frauen ermitteln wollten, maßen der Berufstätigkeit von Frauen im Besonderen und der Gleichberechtigung von Frauen im Allgemeinen einen hohen Stellenwert bei.72 Zudem galt es auch als Ausweis von Modernität, wenn sich Männer im Haushalt betätigten, wobei in den Fragen danach nicht konkretisiert wurde, was das bedeutete.73

69 | Farnsworth-Alvear, Ann: Dulcinea in the Factory. Myths, Morals, Men, and Women in Colombia’s Industrial Experiment, 1905–1960, Durham NC: Duke Univ. Press 2005, S. 165; 224. 70 | Vgl. Stycos, J. Mayone; Weller, Robert H.: »Female Working Roles and Fertility«, in: Demography, 4, 1, 1967, S. 210–217; Stycos, Female Employment and Fertility, 1965; CIMED, Estudio ERED, 1973, S. 33. Zur Theorie des demografischen Übergangs siehe Kap. 2.2. 71 | Prieto Duran; Cuca Tolosa, Análisis de la encuesta, 1966, S. 52f. 72 | Vgl. CELADE, Reunión de trabajo sobre encuestas, 1965, S. 9; ASCOFAME-DEP, Resultados Generales, 1973, S. 267. 73 | Vgl. CELADE, Comparative Surveys of Fertility, 1963, S. 130; ASCOFAME-DEP, Resultados Generales, 1973, S. 291.

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Explizit eingefordert wurden die Arbeitsteilung im Haushalt und Reformen zur Verbesserung des Zugangs von Frauen zum Arbeitsmarkt auf mehreren Konferenzen, die die Asociación Colombiana para el Estudio de la Población (ACEP) 1969 und 1970 unter dem Titel »La Mujer Colombiana y su Res­pon­sa­ bi­lidad en el Desarrollo del País« durchführte.74 Wie der spezifisch weibliche Beitrag zur Entwicklung und Modernisierung Kolumbiens sowie zur Lösung des kolumbianischen ›Bevölkerungsproblems‹ in den Augen der kolumbianischen Bevölkerungsexpertinnen und -experten aussehen sollte, wurde mit Teilnehmerinnen aus zahlreichen Verbänden und Organisationen ausführlich diskutiert und in Abschlusserklärungen festgehalten. Diese transportierten das Idealbild einer gut ausgebildeten und berufstätigen Frau und verantwortungsvollen Mutter. Frauen, so betonten die Teilnehmerinnen der Konferenz, sollten eine eigene spezifisch weibliche Rolle innerhalb des Projektes der so­ zio­öko­no­mischen Entwicklung Kolumbiens einnehmen, die sie bisher nicht voll ausfüllen konnten, da sie traditionell unterschätzt worden seien. Die von ACEP ausgerichteten Konferenzen richteten auch Forderungen an die Politik: Frauen sollte der gleiche Zugang zu Ausbildung und zum Arbeitsmarkt wie Männern ermöglicht werden, auch sollten sie den gleichen Lohn für gleiche Arbeit erhalten.75 Im Departamento Nacional de Planeación wurden diese Ziele ebenfalls als Teil der Maßnahmen formuliert, mit denen das Tempo des Bevölkerungswachstums gesenkt werden könnte. So heißt es in einem Dokument, in dem konkrete Maßnahmen für die Erreichung der im Entwicklungsplan von 1969 genannten bevölkerungspolitischen Ziele vorgeschlagen wurden, Frauen sollten an das außerfamiliäre »Leben der Nation« gebunden werden. Diese Anbindung werde durch gleiche Chancen auf dem Arbeitsmarkt, der Möglichkeit des sozialen Aufstiegs und gleiche Löhne erreicht, und profitieren werde davon die ökonomische und soziale Entwicklung des Landes.76 Diese Forderungen wurden in den 1970er Jahren immer stärker auch von kolumbianischen Frauenorganisationen in die Öffentlichkeit getragen, die sich zudem für volle Bür74 | ACEP firmierte zu diesem Zeitpunkt ohne den Zusatz »Científico« im Titel. 75 | Vgl. ACEP (Asociación Colombiana para el Estudio de la Población), Informe del Primer Seminario »La Mujer Colombiana«, RAC; ACEP, Capítulo de Medellín: Informe del Segundo Seminario »La Mujer Colombiana y su Responsabilidad en el Desarrollo del País«, Agosto 20–22, y 21 de 1969, Medellín: RAC, PC, Acc. 2, Foreign Correspondence Series, Box 7, Folder 69. Über die Konferenzen wurde auch in den Frauenzeitschriften, die Michael E. Stanfield analysiert, ausführlich berichtet. Vgl. Stanfield, Of Beasts and Beauty, 2013, S. 163. 76 | Secretaría Técnica del Consejo an Miembros del Consejo Nacional de Población. Memorando Oficial Interno. Referencia: Política de Población y Plan Trienal de Desa­ rrollo, Bogotá, 14.12.1970: AGN.

5. ›Moderne‹ Frauen, Männer, Familien und Sexualität

gerrechte, gleiche Bildungschancen und die Abschaffung des 1877 zwischen dem kolumbianischen Staat und dem Vatikan geschlossenen Konkordats einsetzten. Feministische Gruppen verlangten zudem eine ausreichende Grundversorgung im Gesundheits- und Bildungssektor.77 Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die Expertinnen und Experten, die die Regulierung von Bevölkerungswachstum in Kolumbien propagierten, Frauen als reproduktiv regulierte und produktiv eingebundene Lohnarbeiterinnen konzipierten, die als Mütter kleiner Familien das Humankapital für die weitere Entwicklung Kolumbiens heranzogen und zu dieser gleichzeitig mit ihrer Lohnarbeitskraft beitrugen. Diese Vorstellung steht in markantem Kontrast dazu, wie US-amerikanische Sozialwissenschaftler und -wissenschaftlerinnen seit den 1950er Jahren die Erwerbstätigkeit US-amerikanischer Frauen diskutierten. Dabei dominierte die Problematisierung arbeitender ›weißer‹ Frauen der Mittelschicht, denen vorgeworfen wurde, die Familie und damit die Keimzelle der Gesellschaft zu schwächen. Die Erwerbstätigkeit nicht-weißer Frauen oder von Frauen aus der Unterschicht wurde hingegen nicht infrage gestellt.78 Dieser in den USA zirkulierende Diskurs der vernachlässigenden arbeitenden ›weißen‹ Mutter wird in der Forschung auf die Abkehr von biologischen Entwicklungserklärungen zurückgeführt. Mit der zunehmenden Bedeutung sozialwissenschaftlicher Expertise gerieten Mütter und der Einfluss ihrer Erziehung stärker in den kritischen Blick.79 Einer der Hauptkritikpunkte an der umfragenbasierten Fertilitätsforschung – der eingangs zitierte Text von Susan Cotts Watkins ist hier nur eines unzähliger Beispiele – der seit den 1950er Jahren wiederholt geäußert wurde, lautet, dass sie sich fast ausschließlich auf Frauen, deren Einstellungen und Verhütungspraktiken fokussierte und damit Verhütung und Familienplanung als primär weibliche Aufgabe definierte. Doch bereits J.  Mayone Stycos hat77 | Vgl. Stanfield, Of Beasts and Beauty, 2013, S. 167; Lamus Canavate, Doris: De la subversión a la inclusión. Movimientos de mujeres de la segunda ola en Colombia, 1975–2005, Bogotá: Instituto Colombiano de Antropología e Historia 2010, S. 100. Zur kolumbianischen Frauenbewegung siehe auch Huhle, Teresa: »Frauen und Geschlechterbeziehungen«, in: Fischer, Thomas; Klengel, Susanne; Pastrana, Eduardo (Hg.): Kolumbien heute. Politik, Wirtschaft, Kultur, Madrid; Frankfurt am Main: Iberoamericana; Vervuert 2017, S. 243–258. 78 | Vgl. Heinemann, Isabel: »Social Experts and Modern Women’s Reproduction. From ›Working Women’s Neurosis‹ to the Abortion Debate, 1950–1980«, in: Dies. (Hg.): Inventing the Modern American Family. Family Values and Social Change in 20th Century United States, Frankfurt am Main; New York: Campus 2012, S. 124–151, hier: S. 124f; 134. 79 | Vgl. Meyerowitz, Joanne: »›How Common Culture Shapes the Separate Lives‹. Sexuality, Race, and the Mid-Twentieth-Century Social Constructionist Thought«, in: The Journal of American History, 96, 4, 2010, S. 1057–1084, hier: S. 1079.

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te sich in seinen Karibikstudien mit Männern auseinandergesetzt, und auch für den kolumbianischen Fall trifft diese Beschreibung nur in Maßen zu.80 Die vom Centro Latinoamericano y Caribeño de Demografía initiierten lateinamerikaweiten Studien waren zwar ausschließlich an Frauen gerichtet,81 die kolumbianischen médicos demógrafos formulierten jedoch früh die Notwendigkeit, auch Männer zu befragen und setzten diesen Anspruch mit der eigens konzipierten »Encuesta de Fecundidad Masculina« von 1969 um.82 Diese sei, so die Herausgeber in ihrem Vorwort, die erste Studie in Kolumbien, die den bisher vernachlässigten Aspekt der »männlichen Fertilität« erforsche. Deren geringe Beachtung sei umso problematischer, als für Lateinamerika oft unhinterfragt angenommen werde, dass die hohe Fertilitätsrate lateinamerikanischer Frauen auch auf das männliche Sexualverhalten bzw. den Machismo zurückzuführen sei.83 Entgegen diesem Befund waren Männer vor allem in den kleineren mit Familienplanungsprogrammen verknüpften Studien ebenso befragt worden wie Frauen, teils auch mit den gleichen Fragebögen.84 Die Leiter des 1964 in Candelaria bei Cali begonnenen Familienplanungsprogramms beklagten von Anfang an, dass Männer schwieriger zur Teilnahme zu bewegen seien als Frauen, die Programme ohne sie aber nicht erfolgreich verlaufen

80 | Vgl. Stycos, Family and Fertility in Puerto Rico, 1955. Stycos befragte in seiner eigenen Forschung der 1950er Jahre nicht nur Frauen und Männer, er formulierte auch in den 1960er und 1970er Jahren wiederholt die Notwendigkeit, mehr zu Verhütungsmitteln für Männer zu forschen. Vgl. Stycos, Obstacles to Programs of Population, 1963, S. 11; Stycos, J. Mayone: »Backgrounds to Ideology«, in: Ders., Ideology, Faith, and Family Planning, 1971, S. 3–12, hier: S. 5. 81 | In der Planungsphase der vergleichenden Fruchtbarkeitsstudie von 1964 wurde überlegt, auch Männer zu interviewen. Vgl. Project of a Joint Program of CELADE and Cornell University for Study of Comparative Fertility in Selected Countries of Latin America. Abbreviated Translation from Spanish by DK, 11.06.1962: RAC, PC, Acc. 1, 4.3a Population Council Grant File – Regular, Box 50 – Folder 738-D62.84 U.N.-CELADE, Chile: Comparative Fertility Surveys. Weshalb der Plan verworfen wurde, ist nicht bekannt. 82 | Heredia Benitez, Resultados Generales, 1974. 83 | Ebd., S. iii. 84 | Vgl. Universidad del Valle, Facultad de Medicina, Columbia HS A&S; Jaramillo Gómez, Informe Final del Programa Experimental, 1967. In Medellín hatte Jaramillo Gómez 1967 auch eine Umfrage ausschließlich unter Männern geplant, den Plan aber als zu kostspielig und schwer durchführbar verworfen, da Männer nur in den Abendstunden interviewt werden könnten. Vgl. Mario Jaramillo Gómez an Hernán Mendoza Hoyos, 21.04.1967, RAC.

5. ›Moderne‹ Frauen, Männer, Familien und Sexualität

könnten.85 Und in Candelaria war auch schon 1966 von einem US-amerikanisch-kolumbianischen Team eine Fertilitätsstudie mit Paaren durchgeführt worden, die schwerpunktmäßig darum kreiste, welche Einstellung Männer zu weniger Kindern hatten und auf welche Art und Weise sie mit ihren Frauen darüber sprachen. Diese Fragen erachteten die Autoren deshalb für wichtig, da zu erwarten sei, dass Männer in patriarchalen Gesellschaften an der Entscheidung über die Verwendung von Verhütungsmitteln durch Paare entscheidend beteiligt waren oder diese gar alleine fällten. Das gelte selbst bei all den Kontrazeptiva, die – biologisch betrachtet – von Frauen alleine angewendet wurden.86 Wurden Männer interviewt, so wurden dabei auch deren Vorstellungen von Männlichkeit abgefragt. Die Fragen zeugen von der Annahme, dass Männlichkeit mit einer bestimmten Anzahl von gezeugten Kindern in Verbindung gesetzt wurde und es Männern besonders wichtig sei, einen oder mehrere Söhne zu zeugen.87 In der nationalen Fertilitätsstudie von 1969 wurden die Männer auch gefragt, ob sie lieber ein Mann wären, der viel Glück mit den Frauen hat oder einer, der viel Geld verdient oder der sehr gütig oder sehr berühmt ist. Weiterhin konnten sie bezüglich ihrer Rolle als Ehemann und hinsichtlich der Vorteile oder Probleme, die eine Ehe mit sich bringe, zu folgenden Aussagen Stellung beziehen: »Ein verheirateter Mann hat eine Partnerin, die seine Interessen teilt; ein verheirateter Mann lebt nur für die Arbeit; ein verheirateter Mann verliert die Möglichkeiten beruflicher Entwicklung (z. B. durch Stipendien oder Umzüge); ein treuer Ehemann findet keine vollständige sexuelle Befriedigung.« Auch zu ihrem Verständnis von Machismo wurden die Männer befragt. So mussten sie erst auf die offene Frage antworten, welche die wichtigsten Charaktereigenschaften eines Mannes seien und anschließend definieren, woran man einen »macho completo« erkenne, wie man sich als solcher zur Schau stelle, inwiefern sich Manneskraft durch Sexualität ausdrücke und ob es wichtig sei, Söhne zu zeugen, um respektiert zu werden.88 Der Autor 85 | Vgl. Aguirre, Alfredo: Universida del Valle – Facultad de Medicina, C.P.S. – Candelaria, Programa de Planificación Familiar, Informe de Actividades 1965–1966, Cali, [1967]: Columbia HS A&S, JDW, Box 18, Folder 2. 86 | Monsees, Correlates of Fertility Attitudes, 1970, S. 1. 87 | Die Frage nach dem Zusammenhang zwischen Männlichkeit und Kinderzahl findet sich z. B. in einer an das Familienplanungsprogramm in Candelaria angebundenen Umfrage von ca. 1964: »Señora (r) cuál piensa usted que es más hombre de los siguientes: A. – El que solo tiene 2 hijos, B. – El que tiene 5 hijos, C. – El que tiene 10 hijos, D. – O el tener más o menos hijos no es lo que los háce más hombres«. Universidad del Valle, Facultad de Medicina, Columbia HS A&S, S. 1. Die Annahme, wonach die Zeugung von Söhnen Männlichkeit versinnbildliche, findet sich in der nationalen Fertilitätsstudie von 1969. Vgl. Heredia Benitez, Resultados Generales, 1974, S. 56. 88 | Heredia Benitez, Resultados Generales, 1974, S. 83f.

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Rodolfo Heredia zeigte sich erleichtert, als die Auswertung der Studie ergab, dass die meisten befragten Männer einen idealen Mann über seine Arbeit, Moral und Bildung definierten und nicht über körperliche und sexuelle Attribute oder die Anzahl der von ihm gezeugten Kinder im Allgemeinen und Söhne im Besonderen.89 Die Studie kam also zu dem Ergebnis, dass sich kolumbianische Männer weniger über ihre Sexualität definierten als gemeinhin angenommen. Dies bewerteten die Forschenden angesichts ihres Interesses an der Verbreitung von Verhütungsmitteln und dem Ideal der Kleinfamilie positiv. Sexualität stand auch im Fokus bei der schon 1966 in Candelaria durchgeführten Befragung von Männern und Frauen. In der Auswertung wurde dann die These, wonach sich starke sexuelle Aktivität und das Idealbild einer großen Familie gegenseitig bedingten, infrage gestellt und widerlegt. Ermittelt wurde die sexuelle Aktivität in der Studie anhand der drei Variablen Alter beim ersten Geschlechtsverkehr, monatliche Häufigkeit von Geschlechtsverkehr und Häufigkeit von Orgasmen beim Geschlechtsverkehr. David M. Monsees kam in seiner Auswertung der Studie zu dem Schluss, dass sexuell aktive Männer weder große Familien noch Kinder in kurzen Abständen wollten und große Familien nicht als vorteilhaft erachteten. Auch redeten sie mit ihren Frauen weder weniger über Familienplanung, noch verwendeten sie weniger Verhütungsmittel als sexuell weniger aktive Männer.90 Kurzum: die meisten Vorurteile, die über den sexuell aktiven lateinamerikanischen Macho zirkulierten, erwiesen sich als falsch, und verhältnismäßig große sexuelle Aktivität – so die Botschaft der Studie – stand erfolgreicher Familienplanung nicht im Weg.

5.5 S e xualität Michel Foucault entwickelte in Der Wille zum Wissen die vielfach aufgegriffene These, wonach in den bürgerlichen christlich-moralisch geprägten europäischen Gesellschaften seit dem 19. Jahrhundert zwar »um den Sex herum […] eine Säuberung […] des zugelassenen Vokabulars« stattgefunden habe, sich die Moderne aber dennoch durch eine ausufernde und detailreiche Wissensproduktion, ja durch eine »diskursive Explosion« rund um den Sex auszeichne.91 Auch die transnationale Wissensproduktion rund um Fertilität und deren Senkung in den 1950er und 1960er Jahren zeichnet sich dadurch aus, dass Sexualität selten explizit thematisiert wurde und gleichzeitig ihr Hauptthema war. Die Zunft selbst kritisierte den Bogen, der in vielen Studien und Texten um Sexualität geschlagen wurde. So beklagte J. Mayone Stycos beispielsweise 89 | Vgl. ebd., S. 46f. 90 | Vgl. Monsees, Correlates of Fertility Attitudes, 1970, S. 92–97. 91 | Foucault, Der Wille zum Wissen, 1983, S. 23.

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in den 1970er Jahren die »Desexualisierung« der Geburtenkontrollbewegung, die es nicht wage, »unbelasteten Spaß« an Sexualität als Argument für die Verwendung von Verhütungsmitteln zu verwenden.92 Susan Cotts Watkins konstatierte in ihrer Analyse der Zeitschrift Demography gar ironisch, dass Geburten darin als das Ergebnis unbefleckter Empfängnis konzipiert würden.93 Doch die Analyse der Studien und Texte, die in den 1960er Jahren rund um die Fertilität kolumbianischer Frauen und Männer und den Möglichkeiten, diese zu regulieren, entstanden, zeigt, wie im Folgenden ausgeführt wird, ein ganz anderes Bild. Wenngleich die Bevölkerungsforschung in erster Linie die Sexualität des »Fortpflanzungskörpers« untersuchte, so war doch das Korrelat, der »Lustkörper«, in den Texten rund um das kolumbianische ›Bevölkerungsproblem‹ seinerseits sehr präsent. Die mit diesen Begriffen angesprochene »Trennung von Sexualität und Fortpflanzung« und zwischen einem »individuell (er)lebbare[n], im hormonellen Gleichgewicht gehaltenen physiologische[n] Körper und ein[em] genetisch bestimmte[n] Volks- oder Bevölkerungskörper« ist von Heiko Stoff als »herausragendes körperpolitisches Charakteristikum des 20. Jahrhunderts« bezeichnet worden. »Moderne Geburtenkontrolle und das universelle Anrecht auf sexuelle Befriedigung«, so die Annahme, sind gleichzeitig entstandene historische Phänomene des frühen 20. Jahrhunderts.94 Einige Jahrzehnte nach der Medizin und den Sexualwissenschaften erörterte auch die katholische Kirche eine mögliche Trennung von Sexualität und Reproduktion. So formulierte das Zweite Vatikanische Konzil mit Gaudium et Spes 1965 eine Pastoralkonstitution, die »Liebe und deren körperlichen Ausdruck« als Sinn und Ausdruck der ehelichen Partnerschaft konzipierte.95 In der KAP-Forschung wurde Sexualität primär im Zusammenhang mit den Fragen danach verhandelt, welche Verhütungsmittel die befragten Frauen und Männer kannten und beim ehelichen oder partnerschaftlichen Geschlechtsverkehr benutzten. Teilweise wurde zudem erfragt, welche Vor- und Nachteile die Frauen und Männer bei bestimmten Verhütungsmethoden sahen, doch in den meisten Studien wurden Bewertungen dieser Art von den 92 | Stycos, Desexing Birth Control, 1977, S. 287. 93 | Vgl. Watkins, If All We Knew about, 1993, S. 559. 94 | Stoff, Heiko: »Der Orgasmus der Wohlgeborenen. Die sexuelle Revolution, Eugenik, das gute Leben und das biologische Versuchslabor«, in: Martschukat, Geschichte schreiben mit Foucault, 2002, S. 170–192, hier: S. 170. 95 | Escobar, Francisco: »La doctrina oficial de la Iglesia en función del concepto de la naturaleza«, in: Leñero, Población, Iglesia y Cultura, 1970, S. 131–162, hier: S. 137. In der Enzyklika Humanae Vitae, die Papst Paul VI. im Juli 1968 veröffentlichte, wurde Fortpflanzung dann wieder als primärer Sinn der Ehe definiert und Liebe und Sexualität dieser untergeordnet.

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Forschenden vorausgesetzt und nicht erfragt. Das gilt z. B. für die Annahme, dass Kondome nicht benutzt wurden, weil sie als störende Unterbrechung der Lust empfunden wurden. Zwar implizierten Fragen nach der Verwendung von Verhütungsmitteln, dass sie bei oder im Vorfeld von Geschlechtsverkehr oder zumindest mit der Absicht, diesen ›sorgenfrei‹ zu gestalten, verwendet wurden, dennoch wurde in den meisten Studien kein Vokabular verwendet, das explizit darauf schließen ließ, dass sich hinter Fragen nach Familienplanung und Verhütungsmitteln Fragen nach sexuellen Praktiken verbargen. Auch in den Familienplanungskursen – das zeigen ihre Auswertungen – wurde Sexualität in erster Linie als Fortpflanzung definiert. Die Kurseinheiten zu den reproduktiven Organen von Mann und Frau, dem weiblichen Zyklus und der Funktion verschiedener Verhütungsmittel wurden anschließend abgefragt und die Antworten ausgewertet, um damit die Qualität der Kurse zu evaluieren.96 Lustvoller Sex war in der KAP-Forschung vor allem in den Umfragen mit Männern präsent. Kolumbianische Männer, so die aus den Interviewfragen ableitbare Annahme, führten mehrere Partnerschaften gleichzeitig bzw. hatten neben ihrer Ehefrau oder festen Partnerin noch eine oder mehrere Geliebte, Frauen lebten hingegen monogam. Das zeigt sich in der »Encuesta Nacional de Fecundidad«, die von ASCOFAME 1969 in Kolumbien durchgeführt wurde. Dabei machten die kolumbianischen Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen auch eine Umfrage unter Männern. Diese wurden nach der Anzahl ihrer Sexualpartnerinnen, nach unterschiedlichen Verhütungsmethoden mit den jeweiligen Partnerinnen sowie danach gefragt, ob Männer sexuelle Erfüllung nur außerhalb ihrer Ehe oder festen Partnerschaft finden könnten.97 Diese Fragen nach Promiskuität finden sich lange Zeit in keinem Fragebogen für Frauen, so dass potenzieller außerehelicher Sex von Frauen mit den Studien unsichtbar gemacht und aus der dargestellten gesellschaftlichen Realität und Normalität ausgeschlossen wurde. Auch wurden in der ersten Fertilitätsstudie von 1963 nur Frauen zu ihren Verhütungserfahrungen befragt, die angegeben hatten, in »einer Eheform« zu leben.98 Ganz anders wurde Sexualität in der Umfrage mit Kindern, Jugendlichen, ihren Eltern, Lehrerinnen und Lehrern behandelt, die 1969 im Zuge des Pilotprojektes zur Sexualerziehung durchgeführt wurde. Die meisten der darin gestellten Fragen bezogen sich auf ›richtiges‹ und ›gesundes‹ sexuelles Verhalten, die Bedeutung von Sex in der Ehe, das Verhältnis zwischen Sex und Liebe sowie unterschiedliche moralische, psychologische und körperliche Be96 | Vgl. Universidad del Valle, Facultad de Medicina, Columbia HS A&S; Jaramillo Gómez; Hartford, Encuesta de fecundidad de Medellín, 1968. 97 | Vgl. Heredia Benitez, Resultados Generales, 1974, S. 83. 98 | CELADE, Comparative Surveys of Fertility, 1963, S. 125–128.

5. ›Moderne‹ Frauen, Männer, Familien und Sexualität

wertungen der Sexualität von Männern und Frauen. Da die Fragen nicht offen gestellt wurden, sondern jeweils eine gewisse Anzahl an Antworten zur Auswahl standen, geben die Fragebögen Auskunft darüber, welche Aussagen die Forscherinnen und Forscher antizipierten.99 Unterschiede in der Bewertung sexueller Freiheiten von Männern und Frauen wurden wortwörtlich infrage gestellt: »Sollten Männer mehr sexuelle Freiheit haben als Frauen?« Zudem wurde hinterfragt, ob die sexuelle Initiative immer von Männern ausgehen müsse. Auch beinhalteten die Interviews bezüglich der Sexualmoral teils die gleichen Fragen für Frauen und Männer. Ein Beispiel hierfür ist die Frage nach dem Einverständnis mit außerehelichen sexuellen Erfahrungen verheirateter Männer wie auch verheirateter Frauen, die darauf hindeutet, dass diese für beide Geschlechter denk- und akzeptierbar erschienen. Auch vorehelicher Sex konnte bei Mann und Frau gleichermaßen entweder als unmoralisch, schädlich für den Körper, schädlich für die Psyche oder notwendig für das zukünftige erfolgreiche Eheleben eingestuft werden.100 Zudem wurde gefragt, ob Frauen genausoviele sexuelle Bedürfnisse wie Männer hätten und ob es möglich sei, dass eine Beziehung auf Initiative der Frau entstehe. An vielen anderen Stellen konstruierte und festigte die Studie jedoch mit der Ausrichtung der darin gestellten Fragen vermeintliche Unterschiede zwischen männlicher und weiblicher Sexualität und Sexualmoral. So wurde beispielsweise gefragt, ob Prostitution nötig sei, damit Männer ohne Bindung sexuelle Befriedigung erlangen könnten und ob es möglich sei, dass eine einzige Frau die sexuellen Bedürfnisse eines Mannes stille. Bei den Fragen nach dem geschätzten und idealen Alter beim ersten Geschlechtsverkehr gab es für Männer zahlreiche Optionen von »unter 15« bis »bei der Heirat«, bei Frauen hingegen einzig die Option »bei der Heirat«. Auch gab es bei der Frage nach ehelicher Treue nur die Optionen, diese beidseitig für wichtig zu erachten, Treue insgesamt unwichtig zu finden oder nur der weiblichen Treue Bedeutung beizumessen. Auch in der Bewertung jugendlicher Sexualität zeigt sich eine klare Differenz. So wurde für junge Männer danach gefragt, mit wem sie vor99 | Für die folgenden Absätze wurden fünf Fragebögen ausgewertet, wobei vier davon für Interviews mit Schülerinnen und Schülern unterschiedlicher Altersgruppen konzipiert wurden und den Interviews mit Eltern, Lehrerinnen und Lehrern derselbe Fragebogen zu Grund lag. Sie sind alle im Archiv des Population Council zu finden: PC, Acc. 2, Foreign Correspondence Series, Box 7, Folder 69. 100 | Die Annahme, dass Ehen von sexueller Erfahrung profitieren, zeigt sich auch in der Frage danach, woran Ehen scheitern. Zur Option standen hier die Antworten: wegen des Mannes, wegen der Frau, wegen mangelnder gesellschaftlicher Moral, wegen ökonomischer Schwierigkeiten, wegen fehlender Vorbereitung in der Haushaltsführung, wegen fehlender psychologischer Vorbereitung und wegen fehlender sexueller Vorbereitung.

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zugsweise den ersten vorehelichen Geschlechtsverkehr haben sollten, für junge Frauen hingegen sollten die Interviewten angeben, aus welchen Gründen diese Sex vor der Ehe hätten.101 Mögliche Antworten waren: um sicherzugehen, dass sie geheiratet wird, weil sie sinnlich ist, um ihre Freiheit zu unterstreichen oder um ihre Liebe auszudrücken. Bei der Frage nach Heiratsgründen war bei Männern Sex neben organisiertem Familienleben, Verständnis und Liebe eine der optionalen Repliken, bei Frauen standen hingegen die Antworten: aus ökonomischer Sicherheit, für Schutz und Respekt, Verständnis und Liebe oder um mehr Freiheiten als im Elternhaus zu erlangen zur Wahl. Diese Beispiele zeugen davon, dass Männern ein größeres Bedürfnis nach Sexualität und verschiedenen sexuellen Erfahrungen zugesprochen wurde als Frauen. Auch fehlender Sex wurde in dieser Studie zu Sexualerziehung thematisiert. Innerhalb der Ehe wurde steigende Impotenz als Problem ausgemacht und konnte in den Antworten auf das Alter, einen emotionalen Schock, hormonelle Schwankungen, darauf, dass verheiratete Frauen ihre äußerliche Attraktivität vernachlässigten, oder darauf, dass Männer nach der Ehe ihren Frauen gegenüber unachtsam würden, zurückgeführt werden. Weiterhin wurde danach gefragt, ob es einer Ehe schade, wenn der Mann Sex mit anderen Frauen habe und ob Frauen ihre Ehe als unglücklich bewerteten, wenn sie nicht sexuell befriedigt würden. Die Studie zeugt ebenfalls von der gesellschaftlichen Präsenz der Themen Sexuelle Revolution und Jugendrebellion in Kolumbien. So wurden die Jugendlichen danach gefragt, ob die aktuelle Jugendrebellion mit dem Bedürfnis nach sexueller Freiheit zusammenhänge, ob Sex und Liebe voneinander getrennt werden sollten, ob unter Jugendlichen die Vorstellung von romantischer Liebe im Verschwinden sei und ob Prostitution überwunden werden könnte, wenn Jugendliche größere sexuelle Freiheiten hätten.102 Zum Verhältnis zwischen Sex und Liebe wurde gefragt, ob sexuelles Verlangen ein rein physisches Phänomen, Ausdruck von Liebe oder sündhaft sei und ob Geschlechtsverkehr lediglich der Zeugung diene, für das mentale Gleichgewicht nötig oder Ausdruck eines Bedürfnisses sei, das in keinem Bezug zu Liebe stünde. Eine Frage zur Einordnung von Verhütungsmitteln assoziierte diese mit fehlender Moral, gesundheitlichen Risiken für Frauen, ökonomischer Knappheit, aber auch mit der Möglichkeit eines spontanen Sexlebens.

101 | Die Männer konnten aus einer der folgenden Antworten auswählen: mit einer Frau aus derselben sozialen Schicht, mit seiner Freundin, mit einer Frau aus einer niedrigeren sozialen Gruppe, mit einer Prostituierten oder mit einer verheirateten Frau. 102 | Weitere Fragen, die auf die Präsenz von »1968« in kolumbianischen gesellschaftlichen Debatten verweisen, bezogen sich auf einen etwaigen Generationenkonflikt, die Notwendigkeit einer gewalttätigen Revolution und Drogenkonsum.

5. ›Moderne‹ Frauen, Männer, Familien und Sexualität

Keine Studie, die im Umfeld der transnationalen Bevölkerungsforschung in Kolumbien entstand, reflektiert so eindeutig gesellschaftliche Diskussionen um neue sexuelle Freiheiten und veränderte Geschlechterrollen wie dieses Umfrageprojekt zu Sexualerziehung unter der Leitung von Cecilia Cardinal de Martín von 1969. Die Forderung nach gleichen sexuellen Freiheiten für Frauen und Männer und die Zuschreibung von festen Unterschieden zwischen männlicher und weiblicher Sexualität waren in dieser Studie jedoch gleichermaßen präsent und standen teils in direktem Widerspruch zueinander. Doch auch in der Forschung, die enger an das Ziel der Fertilitätssenkung und den Auf bau von Familienplanungsprogrammen geknüpft war, wurden Sexualität und die sexuellen Bedürfnisse von Männern und Frauen teils sehr explizit diskutiert. So wurde im Zuge der ersten experimentellen Familienplanungsprogramme, die ab den späten 1950er Jahren aufgebaut wurden, die Rhythmusmethode als Verhütungsmittel aufgrund des vermeintlich nicht zu bändigenden männlichen Sexualtriebs verworfen und mit unterdrückter weiblicher Lust für die Verwendung von Verhütungsmitteln argumentiert. Als Pioniere der Familienplanung innerhalb des staatlichen Gesundheitssystems in Kolumbien können die Ärzte Mario Jaramillo aus Medellín und Rodrigo Guerrero aus Cali gelten.103 Mario Jaramillo, der sich in seinem Medizinstudium an der Universidad de Antioquia auf Geburtshilfe und Public Health spezialisiert hatte, bot interessierten Paaren ab 1958 in einem Gesundheitszentrum in der Kleinstadt Caldas unweit von Medellín Kurse in Familienplanung an. In diesen erklärte er zunächst nur die Rhythmusmethode, die als einzige mit der Lehre der katholischen Kirche vereinbare Verhütungsmethode galt.104 Auch die Ärzte der Universidad del Valle in Cali, die 1964 Familienplanungskurse in Cali sowie dem nahegelegenen Ort Candelaria starteten, beschränkten sich dabei zunächst auf die Rhythmusmethode, begannen jedoch schon bald, auch hormonelle Antikonzeptiva zu verschreiben, die – so die offizielle ärztliche Argumentation – in Kombination mit der Rhythmusmethode angewandt werden sollten, um den Menstruationszyklus zu stabilisieren und damit die Voraussetzung für deren Effektivität herzustellen. Obgleich es der männliche Sexualtrieb war, der in der Forschung problematisiert wurde, wurden empirische Daten über die Häufigkeit von Geschlechtsverkehr fast ausschließlich von Frauen eingeholt. So sollten beispielsweise die Frauen, die an den Pilotprojekten der Familienplanung teilnahmen und mit Hilfe der Rhythmusmethode verhüteten, tabellarische Aufzeichnungen über 103 | Zu Rodrigo Guerrero siehe Kapitel 5.6 und 6.4. 104 | Vgl. Jaramillo, Mario. Interview by Rebecca Sharpless. Transcript of audio recording, July 22–23, 2004. Population and Reproductive Health Oral History Project, Sophia Smith Collection, auf: https://www.smith.edu/libraries/libs/ssc/prh/transcripts/ jaramillo-trans.pdf (21.06.2017).

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ihren Zyklus, aber auch über jeden Geschlechtsverkehr anfertigen.105 Auch einzelne mit kolumbianischen Frauen durchgeführte KAP-Studien enthielten zu jener Zeit Fragen nach der Häufigkeit von Geschlechtsverkehr.106 In den überregional angelegten Studien unter der Leitung des Centro Latinoamericano y Caribeño de Demografía fehlten diese Fragen, und J. Mayone Stycos riet in der Vorbereitung der nationalen Fertilitätsstudie von 1969 auch davon ab, Fragen dieser Art zu integrieren, wie es die médicos demógrafos zunächst vorgesehen hatten. Direkte Fragen nach Sexualität, so Stycos, seien unnötig und könnten dem Erfolg der Studie im Weg stehen.107 Am explizitesten war Mario Jaramillo unter den Familienplanungspionieren an Sexualität interessiert, wobei vor allem weibliche Sexualität und der weibliche Orgasmus einen zentralen Platz in seiner Forschung einnahmen. In der von ihm 1966 in Medellín geleiteten KAP-Studie war Sexualität einer von drei Schwerpunkten. Das begründete er mit folgenden Hypothesen: erstens wolle er zeigen, dass es einen direkten Zusammenhang zwischen fehlendem Wissen über Sexualität und Reproduktion auf der einen und hoher Fertilität auf der anderen Seite gebe, und zweitens gelte es mit dem Vorurteil aufzuräumen, wonach große sexuelle Aktivität zu einer großen Kinderzahl führe.108 In der Auswertung der Studie, für die, wie bei den meisten KAP-Studien, ausschließlich Frauen befragt wurden, rückte ein weiteres Themenfeld in den Mittelpunkt: Guter Sex als Grundlage ehelichen Glücks und psychologischer Gesundheit und weibliche »Frigidität« als Ursache für deren Mangel. Mario Jaramillo zeichnete in der Auswertung der Studie, deren Fragen leider nicht überliefert sind, ein düsteres Bild: Die interviewten Frauen wüssten vor der Ehe nichts über Sex und in der Ehe hätten sie keinen Spaß daran, bzw. seien »frigide«, wie es bei Jaramillo und in anderen zeitgenössischen Quellen heißt.109 So hätte der größte Teil der befragten Frauen angegeben, einmal die Woche oder seltener Geschlechtsverkehr zu haben. Wurde nachgehakt, wes105 | Vgl. Saunders, Colombia Log. Sept 2–19, 1964, RAC, S. 9. 106 | Vgl. Aguirre, Colombia, 1966, S. 3; Erazo, Encuesta de opinión sobre planeación, 1965, S. 168; Jaramillo Gómez; Hartford, Encuesta de fecundidad de Medellín, 1968, S. 29ff. 107 | Stycos, J.  Mayone: Population Council Office Memorandum, Subject: Colombia (ASCOFAME) Research Proposal, 12.09.1968: RAC, PC, Acc. 2, Foreign Correspondence Series, Box 8, Folder ASCOFAM 67-68. 108 | Jaramillo Gómez; Hartford, Encuesta de fecundidad de Medellín, 1968, S. 17. 109 | In Jaramillos Text werden die Formulierungen »keinen Orgasmus haben« und »frigide sein« synonym verwendet. Vgl. zum Aufkommen des Konzepts der weiblichen ›Frigidität‹ im 19. Jahrhundert Maines, Rachel P.: The Technology of Orgasm. »Hysteria«, the Vibrator, and Women’s Sexual Satisfaction, Baltimore MD; London: Johns Hopkins Univ. Press 1999, S. 59ff.

5. ›Moderne‹ Frauen, Männer, Familien und Sexualität

halb sie so selten mit ihrem Partner schliefen – mit dieser Wertung ordnete Jaramillo die genannte Häufigkeit ein – so gaben 40 Prozent der Frauen an, dass dies an ihrer Angst liege, schwanger zu werden. Doch hatten die Frauen nicht nur selten Sex, sie waren auch »frigide«. Zahlen zu diesem Thema zu erheben, so Jaramillo, stelle zwar sowohl wegen der Begrifflichkeiten als auch aufgrund der fehlenden Fähigkeit der Frauen, ihre Orgasmuserfahrung als solche einzuordnen, eine methodische Herausforderung dar, dieser sei jedoch mit der Frage, ob die Frauen Lust empfänden, wenn sie mit ihrem Mann zusammen seien, erfolgreich begegnet worden. In Medellín wüssten bei dieser Formulierung alle, was gemeint sei.110 Frauen, die angegeben hatten, dass sie selten oder nie Lust empfanden, wurden anschließend nach dem Grund dafür gefragt. Das Ergebnis war, dass um die 40 Prozent dieser Frauen Geschlechtsverkehr ausschließlich mit Reproduktion assoziierten oder Angst hatten, schwanger zu werden und über 50 Prozent Sex als etwas sahen, was Frauen »zu ertragen« hätten. Mario Jaramillo bezeichnete dies als die »tragischste« aller Antworten. Für den Arzt aus Antioquia, der sich rückblickend als Pionier der Familienplanung in Kolumbien, Verbündeter unterdrückter Frauen und entschiedener Gegner der katholischen Kirche im Besonderen und Religion im Allgemeinen stilisierte, sprachen alle diese Zahlen dafür, dass der Zugang zu Verhütungsmitteln weibliche Lust erhöhen und eheliche Gesundheit fördern würde.111 Ähnlich hohe Prozentzahlen präsentierte der Kinderarzt Alfredo Aguirre in seinem 1966 publizierten Bericht über »die Familie in Candelaria«: 74 Prozent der dort befragten Frauen hätten »nur« einmal die Woche oder noch seltener Geschlechtsverkehr, 69 Prozent hätten nie oder selten einen Orgasmus. Auch Aguirre führte beides auf Angst vor Schwangerschaft zurück, wobei er noch anführte, dass die falsche Annahme, wonach der weibliche Orgasmus im Zusammenhang mit der Befruchtung stünde, weit verbreitet sei. Zudem vermutete Aguirre, dass Frauen keinen Orgasmus hatten, um die Lust ihres Partners zu bremsen, und zeigte sich angesichts der Tatsache, dass manche Frauen Geschlechtsverkehr komplett »verweigerten«, besorgt, dass sich darin ein sehr ungesunder Umgang mit Sexualität manifestiere.112 Der Gynäkologe Fernando Navas Uribe präzisierte diese Sorge in einem Vortrag zu »familiären, partnerschaftlichen und medizinischen Aspekten der Familienplanung« vor einem Fachkongress der Geburtshilfe mit der Formulierung, dass in seiner Zunft wohlbekannt sei, dass es für die organische, psychische und emotiona110 | Die Formulierung im spanischen Original lautete »placer al estar con el marido«. »Placer« kann sowohl mit ›Lust‹, als auch als mit ›Vergnügen‹ oder ›Freude‹ übersetzt werden. 111 | Jaramillo Gómez; Hartford, Encuesta de fecundidad de Medellín, 1968, S. 22–35. Vgl. zu seiner Eigendarstellung Jaramillo, Mario. Interview by Rebecca Sharpless, 2004. 112 | Aguirre, Colombia, 1966, S. 3f.

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le Gesundheit unabdingbar sei, dass die »ehelichen Beziehungen für beide Seiten komplett« seien. Das eheliche Wohlbefinden sei also durch fehlende Verhütungsmittel und die Sorge vor Schwangerschaften empfindlich und umfassend gestört.113 Aus all diesen Argumenten spricht ein sexualreformerischer und -wissenschaftlicher Diskurs, der auf das frühe 20. Jahrhundert in Europa zurückgeht. Ende des 19. Jahrhunderts war die Medizin davon abgerückt, Empfängnis auf den gleichzeitigen Orgasmus von Mann und Frau zurückzuführen und leitete damit eine Trennung zwischen Sexualität und Reproduktion ein, wobei vor allem die weibliche Lust nicht mehr in kausale Verbindung zur Fortpflanzung gestellt wurde. Hingegen galt diese in den stark psychologisierten Sexualwissenschaften als Ausdruck eines gesunden Ehelebens und ›Frigidität‹ als the­ra­ pier­bare Abnormalität.114 In Kolumbien formierten sich die Sexualwissenschaften in den späten 1960er und frühen 1970er Jahren in enger diskursiver und institutioneller Verknüpfung mit Bevölkerungsforschung und Familienplanungsprogrammen in medizinischen Kreisen der Universidad de Caldas in Manizales, der Universidad del Valle in Cali und der Abteilung für Bevölkerungsforschung von ASCOFAME in Bogotá.115 Ein kolumbianischer Pionier für Sexualforschung, Rodríguez Aranza, soll aber schon in den 1940er Jahren in seiner »Praxis für Reflexologie« in Bogotá sexuelle »Dysfunktionen« mit Methoden behandelt haben, für die gute 20 Jahre später William Masters und Virginia Johnson berühmt wurden. So stellte er beispielsweise Prostituierte als Krankenschwestern ein, die mit Patienten in der Praxis aus Therapiezwecken verkehrten.116 In den 1970er Jahren war es jedoch nicht dieser kolumbianische Arzt, auf den sich Sexualforscher wie Heli Alzate bezogen, sondern die für ihre Forschung zum menschlichen Sexualverhalten und dem sexuellen Verhalten von Männern und Frauen berühmten Masters und Johnson und ihr ebenfalls US-amerika-

113 | Navas Uribe, Fernando: »Aspectos familiares, conyugales y medicos de la planeación familiar«, in: Revista Colombiana de Obstetricia y Ginecología, 18, 1, 1967, S. 61–66, hier: S. 63. 114 | Vgl. Stoff, Der Orgasmus der Wohlgeborenen, 2002, S. 186f. 115 | Vgl. Brigeiro, Mauro; Facundo, Angela: »Sexualidad, Ciencia y Profesión en Colombia«, 2014, auf: http://www.clam.org.br/uploads/arquivo/Sexualidad_ciencia_ profesion_Colombia.pdf (21.06.2017); Fonseca Socha, Claudia Patricia: »La vida de Cecilia Cardinal de Martín«, in: Cardinal de Martín, Cecilia (Hg.): Educación sexual. Un proyecto humano de múltiples facetas, Bogotá: Siglo del Hombre Ed. 2005, S. 17–58, hier: S. 41. 116 | Vgl. Brigeiro; Facundo, Sexualidad, Ciencia y Profesión, 2014; Guerrero González, Mujer y sexualidad, 1996, S. 251f.

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nischer Kollege Alfred Kinsey, dessen Umfragen zum sexuellen Verhalten des Mannes und der Frau in den 1940er Jahren internationale Bestseller waren.117 Auch in der kolumbianischen Sexualforschung wurde mit Umfragestudien gearbeitet, so befragte z. B. der Psychologe der Universidad de Caldas Octavio Giraldo Neira 1968 die Teilnehmerinnen und Teilnehmer einer Vortragsreihe zu Sexologie detailliert zu ihrem Sexualleben.118 Heli Alzate wiederum befragte ab Mitte der 1970er Jahre regelmäßig unverheiratete Studierende der Medizin zu ihrem »sexuellen Verhalten« und verglich die Ergebnisse mit ähnlichen Studien aus den USA und anderen lateinamerikanischen Ländern. In der ersten Befragung mit männlichen Studierenden sah Alzate die Annahme bestätigt, dass kolumbianische Studenten, wie andere lateinamerikanische Studenten auch, machistisch sozialisiert seien. Er führte das auf die im Vergleich zu ihren US-amerikanischen Kommilitonen frühen sexuellen Erfahrungen, eine stärker ausgeprägte Promiskuität und vor allem auf den sehr viel häufigeren Kontakt zu Prostituierten zurück. Insgesamt sei trotz fehlender Vergleichsstudien aufgrund der zunehmenden Akzeptanz von Striptease-Shows, »weicher« Pornographie in den Kinos und Nacktheit in Printmedien eine Liberalisierung der Einstellungen zu Sexualität und des sexuellen Verhaltens festzustellen.119 Zu diesem Ergebnis kam Alzate auch bei seiner ersten Befragung weiblicher Studierender, wobei ihm die Häufigkeit vorehelichen Geschlechtsverkehrs sowie die breite Erfahrung mit Oral- und Analverkehr als Beleg der Veränderungen in der Sexualmoral kolumbianischer Frauen dienten.120 Sexuelle Praktiken wurden hier also als Indiz eines Wertewandels gedeutet. Doch auch jenseits liberaler medizinischer Kreise wurde in Kolumbien ab den 1960er Jahren über Veränderungen in der Sexualmoral und freiere weibliche Sexualität debattiert. Das zeigt beispielsweise die Analyse von Frauenzeitschriften, in denen sich Mitte der 1960er Jahre Ausschnitte aus dem skandalträchtigen US-amerikanischen Buch The Housewife’s Handbook of 117 | Vgl. Igo, The Averaged American, 2007, S. 237. Vgl. zur kolumbianischen Rezeption bspw. die Lobeshymne auf Kinsey, Masters und Johnson in Alzate, Heli: »La sexualidad humana y el médico«, in: Revista Colombiana de Obstetricia y Ginecología, 75, 2, 1974, S. 85–93. 118 | Vgl. Giraldo Neira, Octavio: »Datos sobre la vida sexual en dos ciudades colombianas«, in: Revista Colombiana de Psicología, 13, 1–2, 1968, S. 134–141. 119 | Vgl. Alzate, Heli: »Comportamiento sexual de los estudiantes de medicina«, in: Acta Médica Colombiana, 2, 2, 1977, S. 111–118. Zu den Einstellungen hatte Heli Alzate seine Studierenden vor und nach seinem Kurs zu »menschlicher Sexualität« befragt. Vgl. Alzate, Heli: »A Course in Human Sexuality in a Colombian Medical School«, in: Journal of Medical Education, 49, 5, 1974, S. 438–443. 120 | Vgl. Alzate, Heli: »Sexual Behavior of Colombian Female University Students«, in: Archives of Sexual Behavior, 7, 1, 1978, S. 43–54.

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Promiscuity fanden, in der eine Frau aus Arizona ihre sexuellen Abenteuer und Affären beschrieb.121 Ende der 1960er Jahre formierte sich dann in kleinen Bohéme-, Kunst- und Hippiekreisen eine Gegenkultur, die freie Liebe und Sexualität propagierte. Die als Pille bekannten hormonellen Antikonzeptiva, die Anfang der 1960er Jahre auf den Markt kamen, ermöglichten den Frauen aus diesen Kreisen sorgenfreien und selbstbestimmten Sex. Diese Verknüpfung zwischen der ›sexuellen Revolution‹ und den neuen Verhütungsmitteln der 1960er Jahre, die rückblickend für Kolumbien ebenso stark gemacht wird wie für Europa und die USA,122 dominierte jedoch in den Jahren ihrer Entwicklung und ersten Verwendung nicht die Diskussionen um die Pille und Spirale.

5.6 V erhütungsmit tel In den frühen 1960er Jahre kamen mit der Pille und der Spirale gleich zwei neue Verhütungsmittel auf den Markt, die damit angepriesen wurden, im Unterschied zu den bis dato bekannten Methoden Sterilisation, Kondom, Diaphragma, Knaus-Ogino- oder Rhythmusmethode und Coitus interruptus zuverlässig, gesund und reversibel zu sein sowie zeitlich unabhängig vom Geschlechtsverkehr einsetzbar zu sein. Die Erforschung und Entwicklung beider Produkte stand, das ist in der historischen Forschung unumstritten, in direktem Zusammenhang mit dem Konstrukt einer gefährlichen globalen Überbevölkerung und der daraus abgeleiteten Notwendigkeit, dieses ›Bevölkerungsproblem‹ mit anti-natalistischen Maßnahmen zu lösen.123 Die erste Pille wurde im Oktober 1960 in den USA unter dem Produktnamen Enovid als verschreibungspflichtiges Medikament zugelassen. Sie war ein Produkt des US-amerikanischen Pharmaunternehmens Searle und schon vier Jahre zuvor in den USA und Großbritannien als Medikament gegen Unfruchtbarkeit und Menstruationsbeschwerden zugelassen worden. Getestet wurde die Pille Mitte der 1950er Jahre vor allem in Puerto Rico, wo schon seit den 1920er Jahren aufgrund der Problematisierung von Bevölkerungswachstum eine besonders liberale Verhütungsmittelgesetzgebung in Kraft war.124 Die Versuchsreihen sind in der Forschung lange ausschließlich als kolonialer Eingriff in die Körper von Puertoricanerinnen kritisiert worden, jüngere Studien weisen hingegen auf die begeisterte und aktive Partizipation der Puertoricane121 | Vgl. Stanfield, Of Beasts and Beauty, 2013, S. 143. 122 | Vgl. Medina Chávez, Los discursos sobre la planificación familiar, 2008, S. 44. 123 | Vgl. Marks, Lara V.: Sexual Chemistry. A History of the Contraceptive Pill, New Haven CT: Yale Univ. Press 2001, S. 13–40. 124 | Vgl. ebd., S. 101. Zu Bevölkerungspolitik, Fertilitätsforschung und Verhütungsmitteltests in Puerto Rico siehe auch Kapitel 2.4.

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rinnen hin.125 Auf wissenschaftlicher Seite gelten John Rock, Carl Djerassi und Gregory Pincus als Erfinder der Pille, finanziell und ideell war die Forschung in erster Linie den US-amerikanischen Grand Dames der Geburtenkontroll­ bewegung Margaret Sanger und Katherine Dexter McCormick zu verdanken.126 Die Nachricht des neuen Verhütungsmittels erreichte Kolumbien schon 1960, ein Jahr später gelangte die Pille selbst ins Land.127 Laut der Geschichtsschreibung von Profamilia kam als erstes Anovlar, die 1961 in Europa zugelassene Pille des deutschen Unternehmens Schering, über dessen Vertreter Hugo Willemitzer nach Kolumbien.128 Im gleichen Jahr, so ist es im Feldtagebuch des Mitarbeiters der Rocke­feller Foundation Guy S. Hayes zu lesen, stellte Gregory Pincus bei einem Vortrag an der Universidad del Valle in Cali das orale Antikonzeptivum Enovid vor. Hayes sprach dem Produkt in seinen Notizen voller Bewunderung zu, die Geburtenrate Puerto Ricos von 45 auf ungefähr 29 Geburten pro tausend Einwohner pro Jahr gesenkt zu haben und notierte allerhand kulturelle Aspekte hinsichtlich der Verwendung der Pille, die ihm erforschenswert erschienen.129 Hier zeigt sich deutlich die für Zeitgenossen selbstverständliche Verknüpfung zwischen der Erfindung der Pille und der Problematisierung von Bevölkerungswachstum. In den folgenden Jahren wurde die Pille entgegen der Rolle, die ihr bei der Lösung des ›Bevölkerungsproblems‹ angedacht worden war, in erster Linie ein Verhütungsmittel für die Mittel- und Oberschicht. Ärmere und weniger 125 | Vgl. für die Kontinuität der kritischen Einordnung Connelly, Fatal Misconception, 2008, S. 175. Vgl. für die genannte Neubewertung der Testreihen Schoen, Choice & Coercion, 2005, S. 209f. 126 | Vgl. Tyler May, Elaine: America and the Pill. A History of Promise, Peril, and Liberation, New York: Basic Books 2010, S. 12–34. 127 | Laut Ana María Medina Chávez stellte ein Artikel über die Präsentation der Pille auf einem Ärztekongress in den Niederlanden vom 24. Juli 1960 in El Tiempo die erste Erwähnung der Pille in der kolumbianischen Tagespresse dar. Vgl. Medina Chávez, Los discursos sobre la planificación familiar, 2008, S. 152. 128 | Der deutsche Gynäkologe Hugo Willemitzer soll nach seinem Einsatz für die Wehrmacht zwei Jahre in alliierter Haft in Italien gewesen sein und emigrierte 1947 nach Kolumbien. Dort arbeitete er als Vertreter für Bayer und Schering und war mit Fernando Tamayo, dem Gründer von Profamila, befreundet. Vgl. Dáguer; Riccardi, Al derecho y al revés, 2005. 1964 notierte der Mitarbeiter der Ford Foundation Lyle Saunders, dass Schering Pillen für 16.000 Nutzerinnen importiere. Vgl. Saunders, Colombia Log. Sept 2–19, 1964, RAC, S. 15. 129 | Vgl. Diary of Dr. Guy S. Hayes 1961, RAC, S. 145f. Hayes notierte in dem Zusammenhang auch, dass der Ort Candelaria bei Cali für solche Forschungen geeignet sein könnte. Drei Jahre später wurden dort Familienplanungsprogramme gestartet. Siehe hierzu Kapitel 6.

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gebildete Frauen aller Länder, aber insbesondere der ›Dritten Welt‹, so waren sich die Bevölkerungsexpertinnen und -experten schon wenige Jahre nach der Einführung der Pille einig, war die richtige und regelmäßige Einnahme nicht zuzutrauen, weshalb für diese Zielgruppe bald die Spirale als beste Lösung galt. Beispielhaft lässt sich dieses vielfach formulierte Argument an einer Bemerkung Edgar Bermans ablesen, der in einer Rede an der University of Notre Dame im März 1965 postulierte, dass die Pille für »unterentwickelte Nationen« zu »kompliziert und teuer« sei.130 Neben Vorurteilen gegenüber bestimmten Frauen spielten also auch ökonomische Überlegungen eine Rolle bei der Frage, wer welches Verhütungsmittel nutzen sollte. Auch in Kolumbien wurde die Pille zum Verhütungsmittel der urbanen, gebildeten Oberschicht. Die weltweit geführten und in Kolumbien sehr präsenten Diskussionen über die Nebenwirkungen der Pille, die Mitte der 1960er Jahre aufkamen, sind auf diese Konsumentinnengruppe zurückgeführt worden: Während unerwünschte und gesundheitsgefährdende Nebenwirkungen der Pille Besorgnis verursachten, spielten diese Aspekte bei der Spirale – dem Verhütungsmittel der Unterschicht – medial keine Rolle.131 Wie stark hingegen die Pille diskursiv mit der Sorge vor Nebenwirkungen verknüpft war, zeigen Publikationen der médicos demógrafos und die Anzeigen, mit denen für sie geworben wurde. So wurde die Pille 1966, als bereits zehn verschiedene verschreibungspflichtige Präparate in Kolumbien erhältlich waren, in einer Broschüre der Bevölkerungsabteilung von ASCOFAME vehement verteidigt. Es handele sich um ein 100 Prozent sicheres Verhütungsmittel, das von vielen Paaren akzeptiert werde, die andere Methoden aus Gewissensgründen ablehnten, und es würden ihr deutlich zu viele Erkrankungen und Nebenwirkungen zugeschrieben.132 Nichtsdestotrotz wurden alle mit ihr verknüpften Problematiken, seien es die als Gerücht oder die als echte Nebenwirkung klassifizierten, in der Broschüre genannt und ausführlich diskutiert. Das weist darauf hin, dass es notwendig erschien, vermeintlichen Gerüchten entgegenzuwirken und das Image der Pille zu verbessern.133 Auch von kommerzieller Seite wurde im selben Jahr auf den zunehmend schlechten Ruf der Pille eingegangen. So warb der Hersteller einer Pille in der kolumbianischen Fachzeitschrift für Geburts130 | Berman, Population and Foreign Policy, 1966, S. 1709. Der Chirurg Edgar Berman leitete ab 1964 das neu eröffnete Population Office innerhalb der Allianz für den Fortschritt. Siehe hierzu Piotrow, Phyllis Tilson: World Population Crisis. The United States Response, New York: Praeger 1973, S. 84ff. Zu der hier zitierten Rede siehe auch Kapitel 1.1. 131 | Vgl. Medina Chávez, Los discursos sobre la planificación familiar, 2008, S. 156. 132 | Vgl. ASCOFAME-DEP, Aspectos médicos de la planificación, 1966. 133 | Vgl. ebd.

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hilfe und Gynäkologie in erster Linie damit, dass diese besonders geringe Nebenwirkungen habe.134 Anfang der 1970er Jahre hatte sich an den Bedenken der Konsumentinnen noch nichts geändert, worauf Faltblätter hinweisen, mit denen die Asociación Colombiana para el Estudio de la Población 1973 in kolumbianischen Apotheken über verschiedene Verhütungsmittel aufklärte. Während in dem Faltblatt für Kondome und Verhütungszäpfchen nur sehr wenig Text verwendet wurde und den Methoden jegliche Gesundheitsrisiken abgesprochen wurden, enthielt das Faltblatt über die Pille dreimal so viel Text, informierte ausführlich über mögliche Nebenwirkungen wie Kopfschmerzen und Gewichtszunahme und schloss mit dem Satz, dass medizinisch gesehen die Pille weniger gefährlich als eine Schwangerschaft sei.135 Eine zwei Jahre zuvor im Auftrag des Population Council durchgeführte Studie über den kommerziellen Vertrieb von Verhütungsmitteln in Kolumbien war zu dem Ergebnis gekommen, dass der Verkauf von Pillen bis in die späten 1960er Jahre stetig angestiegen war, dann jedoch einen Einbruch erlitt, was auf Berichte zu den Gesundheitsrisiken und insbesondere auf den Dunlop-Report zurückzuführen sei.136 Bei den Verkäuferinnen und Verkäufern, so die Studie, sei ihr Ruf jedoch gut, die Pille gelte als ähnlich seriös wie Spritzen und Antibiotika, wozu die Rezeptpflicht einen entscheidenden Beitrag leiste, auch wenn diese in der Praxis teils umgangen werde. Einem steigenden Verkauf stünde inzwischen in erster Linie ihr hoher Preis im Wege.137 Neben der Frage gesundheitlicher Risiken war die zweite internationale Debatte mit der die Pille, aber auch die Spirale, in Kolumbien in den 1960er Jahren diskursiv aufs Engste verknüpft war, die Position der katholischen Kirche gegenüber den von ihr als ›unnatürlich‹ bezeichneten Verhütungsmitteln. 134 | Vgl. Mendoza Hoyos, Hernán: »Superpoblación y Elevada Densidad Social (Presión de la Población en Colombia)«, in: Revista Colombiana de Obstetricia y Ginecología, 17, 5, 1966, S. 321–333. Dieses Motiv ist auch in der Analyse von Werbeanzeigen für die Pille in medizinischen Fachzeitschriften in Westdeutschland und Frankreich herausgearbeitet worden. Vgl. Malich, Lisa: »Vom Mittel der Familienplanung zum differenzierenden Lifestyle-Präparat. Bilder der Pille und ihrer Konsumentin in gynäkologischen Werbeanzeigen seit den 1960er Jahren in der BRD und Frankreich«, in: NTM, 20, 1, 2012, S. 1–30, hier: S. 13. 135 | Vgl. Bailey; Zambrano, Contraceptive Pamphlets in Colombian Drugstores, 1974, S. 178. 136 | Vgl. Arthur D. Little Inc.: The Commercial Distribution of Contraceptives in Colombia, Iran, and the Philippines. Report to the Population Council, S. 13. Laut dieser Studie belegte der in Großbritannien in Auftrag gegebene Dunlop-Report erstmals den Zusammenhang zwischen der Pille und einer erhöhten Thrombosengefahr. In der einschlägigen Literatur finden sich jedoch keine Informationen über diesen Bericht. 137 | Ebd., S. 18; 24.

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Zu dem Zeitpunkt, als die Pille auf den Markt kam, galt seitens der katholischen Kirche bezüglich der Zulässigkeit von Verhütungsmitteln die Doktrin der Enzyklika Casti connubii von 1930, die Verhütung ablehnte. Lediglich die Ogino-Knaus-Methode war 1951 von Papst Pius XII. für mit der katholischen Lehre vereinbar erklärt worden. Mit der Positionierung gegenüber der neuen Herausforderung Pille befasste sich sowohl das Zweite Vatikanische Konzil (1962–1965) als auch eine eigens von Papst Johannes XXIII eingesetzte Studienkommission, die von 1963 bis 1966 tagte, sowie eine Bischofskommission, die sein Nachfolger Papst Paul VI. einsetzte.138 Entgegen deren gesammelten Empfehlungen sprach Paul VI. sich im Juli 1968 mit der Enzyklika Humanae Vitae gegen die Verwendung ›künstlicher‹ Verhütungsmittel aus und löste damit eine heftige Kontroverse unter katholischen Geistlichen und Gläubigen in aller Welt aus.139 Die kolumbianische Bischofskonferenz stellte sich hinter die Enzyklika und forderte dazu auf, Forschung zur Verbesserung der Rhythmusmethode zu betreiben. Der kolumbianische Außenminister Germán Zea Hernández äußerte sich hingegen kritisch zu der Enzyklika und musste darauf hin seinen Rücktritt einreichen. Im Vorfeld des Besuches von Papst Paul VI. in Kolumbien anlässlich der Generalkonferenz des lateinamerikanischen Bischofsrats in Medellín im August 1968 erschienen seine Äußerungen der Regierung nicht tragbar.140 An der privaten und katholisch geprägten Universidad del Rosario in Bogotá wiederum führte Humanae Vitae zu einem Studierendenstreik. Dieser bildete den Höhepunkt einer Kontroverse, den eine studentische Theateraufführung an der medizinischen Fakultät ausgelöst hatte, in der die Enzyklika satirisch behandelt worden war. Die anklagende Berichterstattung der Zeitung El Catolicismo führte zur Exmatrikulation der beiden Autoren des Theaterstücks, dem Rücktritt des Dekans der medizinischen Fakultät und schließlich in einer Spirale der Eskalation zum Streik, bei dem die Studierendenschaft forderte, ihre exmatrikulierten Kommilitonen wieder an der Universität aufzunehmen.141 Auch die Bevölkerungsforschung beteiligte sich an den Debatten um Humanae Vitae. So wurde in KAP-Studien regelmäßig der Zusammenhang zwischen religiöser Zugehörigkeit und der Verwendung von Verhütungsmitteln untersucht und immer wieder aufgezeigt, dass katholische Frauen weltweit 138 | Siehe hierzu Kaiser, Robert Blair: The Encyclical that Never Was. The Story of the Commission on Population, Family and Birth, 1964–1966, London: Sheed and Ward 1987. 139 | Vgl. Connelly, Fatal Misconception, 2008, S. 278. 140 | Vgl. Torres Bryon, Colombia, 2013, S. 43. 141 | Vgl. Quevedo V., Emilio; Pérez G., Juliana: De la restauración de los estudios de medicina en el Colegio Mayor de Nuestra Señora del Rosario, 1965–1969, Bogotá: Universidad del Rosario 2009, S. 207–289.

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regelmäßig zur Pille griffen.142 In Kolumbien und anderen lateinamerikanischen Ländern wurden auch Geistliche selbst zu ihrer Einstellung gegenüber der Pille und anderen ›artifiziellen‹ Verhütungsmitteln befragt.143 Die expliziteste Auseinandersetzung mit der Pille, der Frage ihrer moralisch-religiösen Bewertung und Akzeptanz seitens der an Verhütung interessierten Frauen und Paare fand jedoch im Zuge der ersten Familienplanungsprogramme und deren Auswertung statt, wie z. B. an der Universidad del Valle in Cali. Die Ärzteschaft dieser Universität berief sich bei der Frage, unter welchen Umständen es legitim sei, die Pille zu verschreiben, in erster Linie auf einen Text zum Verhältnis zwischen Ovulationshemmern und katholischer Moral, den der jesuitische Arzt Jaime Salazar Londoño publiziert hatte. Er forschte und lehrte am Universitätskrankenhaus der Pontificia Universidad Javeriana in Bogotá und der Text erschien Anfang 1963 in der medizinischen Zeitschrift der jesuitischen Universität.144 Die breite Zirkulation dieses Aufsatzes innerhalb der Kreise, die die Verbreitung moderner Antikonzeptiva anstrebten, wird in zahlreichen Quellen deutlich. So lag der Aufsatz beispielsweise dem Brief bei, mit dem der an Bevölkerungsforschung stark interessierte Priester Gustavo Pérez im Juli 1963 den Kontakt mit dem Population Council aufnahm.145 Als J. Mayone Stycos für den Population Council neun Monate später über sein Ge142 | Vgl. Jones, Gavin; Nortman, Dorothy: »Roman Catholic Fertility and Family Planning. A Comparative Review of the Research Literature«, in: Studies in Family Planning, 34, 1, 1968, S. 1–27. Gavin Jones und Dorothy Norman, die beide für den Population Council arbeiteten, kamen in ihrer Sichtung von KAP-Studien aus ›entwickelten‹ und ›unterentwickelten‹ Ländern mit unterschiedlich großen katholischen Bevölkerungsgruppen zu dem Schluss, dass die Unterschiede zwischen Menschen aus unterentwickelten und entwickelten Ländern hinsichtlich ihrer Familienideale und Ver­h ü­t ungs­ prak­ti­k en sehr viel größer waren als zwischen katholischen und nicht-katholischen Bevölkerungsgruppen. Weiterhin stellten sie heraus, dass erstaunlich viele lateinamerikanische Katholikinnen die Gebote der Kirche ignorierten. Für eine religionsspezifische Auswertung der Bogotá-Daten aus der vergleichenden Fruchtbarkeitsstudie von 1963 siehe Ordóñez G., Uso de anticonceptivos, 1968. 143 | Siehe Cohen, Parish Priests in Bogotá, 1971; Shea, Gail A. et al.: »Catholic Parish Priests and Birth Control. A Comparative Study of Opinion in Colombia, the United States, and the Netherlands«, in: Studies in Family Planning, 2, 6, 1971, S. 121–136; Jaramillo Gómez, Informe de la Primera Encuesta, 1967; Leñero, Población, Iglesia y Cultura, 1970. 144 | Salazar Londoño, Jaime S. J.: »El uso de los Nor-esteroides y sustancias pro­g es­ tacionales y la moral católica«, in: Universitas Medica, 5, 8, 1963, S. 127–143. Zur Rezeption des Textes seitens der Ärzte aus Cali vgl. Wray, Joe: Notes on Colombia. 1963: Columbia HS A&S, JDW, Box 2, S. 70. 145 | Vgl. Stycos, Colombia, 03.07.1963, Cornell R&M.

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spräch mit den Ärzten und Soziologen der Pontificia Universidad Javeriana, die Interesse am ›Bevölkerungsproblem‹ gezeigt hatten, berichtete, bezeichnete er Jaime Salazar Londoño schon als denjenigen, der »den berühmten Aufsatz über Pillen« verfasst hatte.146 Wer für diesen Ruhm maßgeblich verantwortlich war, wusste im September 1964 – Salazar Londoño hatte inzwischen noch zwei Texte zum Thema verfasst – Lyle Saunders von der Ford Foundation zu berichten: ein US-amerikanisches Pharmaunternehmen, das Pillen herstelle, habe 10.000 Nachdrucke bestellt, um sie in ganz Lateinamerika zu verteilen.147 Auch Pharmakonzerne waren also weit über die Entwicklung von Verhütungsmitteln hinaus an deren Verbreitung beteiligt. Dank Salazars Schriften, so interpretierten es die Gesandten des Population Council und der Rocke­feller Foundation, war selbst der als streng katholisch bekannte Arzt Rodrigo Guerrero der Universidad del Valle bereit, in den von ihm geleiteten Familienplanungsprogrammen in drei Stadtteilen von Cali Frauen die Pille zu verschreiben.148 Guerreros Argument dafür, nicht alleine auf die Kalendermethode zu setzen, so wurde es aus zweiter und dritter Hand berichtet, war in erster Linie die männliche Unfähigkeit, zehn Tage lang auf Geschlechtsverkehr zu verzichten. Einen Haushalt, in dem diese Enthaltsamkeit nicht eingehalten wurde, bezeichnete er als psychotisch, und Frauen, die

146 | JMS Diary Notes, Colombia, April 17, 1964, Interview with Dean of Medical School at the Javeriana University Dr. Bernardo Moreno-Mejia, 15.05.1964: Cornell R&M, JMS, Box 10, Folder 41. 147 | Vgl. Saunders, Lyle: Report on Demography and Population in Colombia. Based on Visits to Interested Individuals and Institutions. September 3 – September 19, 1964: RAC, FF, Catalogued Reports, Box 201, Report 004514. Die Information findet sich auch in einem Brief des in Cali stationierten Mitarbeiters der Rocke­f eller Foundation Joe D. Wray an Dudley Kirk vom Population Council. Wray schrieb jedoch, dass das deutsche Unternehmen Schering hinter der Vervielfältigung des Aufsatzes steckte. Vgl. Joe D. Wray an Dudley Kirk, 25.11.1963: Columbia HS A&S, JDW, Box 3, Folder 9. Auch die beiden anderen Aufsätze Salazar Londoños waren in der hauseigenen Zeitschrift der jesuitischen Fakultät für Medizin erschienen: Salazar Londoño, Jaime S. J.: »Píldoras anovulatorias y moral«, in: Universitas Medica, 5, 11, 1963, S. 423–426; Salazar Londoño, Jaime S. J.: »Aspectos morales del uso de anovulatorios en el periodo post-partum«, in: Universitas Medica, 6, 2, 1964, S. 93–99. 148 | Der Chirurg Rodrigo Guerrero arbeitete zu diesem Zeitpunkt für die Unternehmerfamilie Carvajal, die Sozialprojekte in drei Gemeindezentren Calis finanzierte. Guerrero machte in der konservativen Partei Kolumbiens politisch Karriere, war von 1992 bis 1994 zum ersten Mal Bürgermeister Calis und hat das Amt von 2012 bis 2015 zum zweiten Mal übernommen.

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in solch einem Haushalt lebten, ›half‹ er mit der Pille oder der Spirale.149 Schon 1962 hatte der in Cali stationierte Mitarbeiter der Rocke­feller Foundation Guy S. Hayes notiert, dass Guerrero aufgrund von Gesprächen mit Jesuiten in Erwägung ziehe, hormonelle Antikonzeptiva für Menstruationsbeschwerden zu verschreiben. Hayes und Guerrero hätten sich zudem darüber ausgetauscht, dass die Rhythmusmethode nicht funktioniere, da die Männer zuviel Alkohol konsumierten.150 Zusammenfassend ist also festzuhalten, dass einige Mediziner der Universidad del Valle die Kalendermethode verwarfen, da sie Männern die nötige Disziplin nicht zutrauten und ihnen ungezügelte Sexualität zuschrieben. Zudem zirkulierte die Meinung, das zeigt der Beitrag eines Gynäkologen in der kolumbianischen Zeitschrift für Gynäkologie und Geburtshilfe von 1967, dass die Rhythmusmethode insbesondere bei »armen Leuten« nicht funktioniere, da diese keine Ablenkungen hatten, keinen Sport trieben und ihnen die nötige Selbstbeherrschung fehle.151 Andere Studien hingegen widersprachen dem Vorurteil, wonach die Unterschicht mehr Sex habe.152 Trotz der Erleichterung, die die Mitarbeiter der Rocke­feller Foundation angesichts von Guerreros Bereitschaft äußerten, hormonelle Verhütungsmittel zu verschreiben, waren sie sich in der Frage, ob diese auch in dem von ihnen mitverantworteten Programm in der Kleinstadt Candelaria verwendet werden sollten, uneinig. So notierte Hayes 1964, dass sein Kollege Joe D. Wray dafür plädiere, er selbst jedoch ein Programm bevorzuge, in dem ausschließlich die Rhythmusmethode verwendet würde, um zuverlässige Daten über deren Effizienz bzw. fehlende Wirksamkeit zu erhalten.153 Diese Position konnte sich nicht durchsetzen, dennoch gab es in den folgenden Jahren unter den beteiligten Ärzten immer wieder Diskussionen darüber, ob die Pille in Candelaria nach den kirchlich sanktionierten Kriterien verschrieben werden könne.154 Die Idee, aus politischen Gründen nur bestimmte Kontrazeptiva anzubieten, setzte 149 | Diese Informationen notierte J. Mayone Stycos nach einem Gespräch mit Rodrigo Guerrero: JMS Diary Notes, Colombia, July 14, 1964, Interview with Dr. Rodrigo Gue­ rrero concerning his activities in the Cabarial Foundation, 28.07.1964: Cornell R&M, JMS, Box 10, Folder 41, S. 241. Andere Quellen deuten hingegen darauf hin, dass die Spirale in den Programmen, die Guerrero leitete, nie zum Einsatz kam. Vgl. Jaramillo Gómez, Mario; Londoño, Juan B.: »Rhythm. A Hazardous Contraceptive Method«, in: Demography, 5, 1, 1968, S. 433–438. 150 | Vgl. Diary of Dr. Guy S. Hayes 1962: RAC, RF, RG 12.3 Officer’s Diaries, Hayes, Guy Scoll, Box 212, S. 85. 151 | Vgl. Navas Uribe, Aspectos familiares, conyugales y medicos, 1967, S. 63. 152 | Vgl. Jaramillo Gómez; Hartford, Encuesta de fecundidad de Medellín, 1968, S. 29ff. 153 | Diary of Dr. Guy S. Hayes 1964, RAC, S. 69. 154 | Vgl. Diary of Dr. Guy S. Hayes 1965, RAC, S. 91.

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sich in Candelaria bis 1967 schließlich hinsichtlich der Spirale durch, die dort deutlich später als in umliegenden Dörfern angeboten wurde, um – so Hayes’ Darstellung – mit den ›schlechten‹ Ergebnissen eines Familienplanungsprogramms ohne Spirale für deren politische Legitimation zu kämpfen.155 Die an Verhütungsmitteln interessierten Frauen, so wird es in den Berichten der field officers zwischen den Zeilen deutlich, ließen sich nicht auf diese Rolle als Versuchsobjekte reduzieren und fanden Mittel und Wege, sich die Pille auch jenseits des gesetzten Rahmens verschreiben zu lassen oder in die Gesund­heits­ zen­tren zu reisen, in denen sie die Spirale eingesetzt bekommen konnten.156 Rodrigo Guerrero hingegen blieb, trotz aller auch von ihm indizierten Ausnahmen, bis in die frühen 1970er Jahre ein Verfechter der Rhythmusmethode und lieferte sich mit Mario Jaramillo und Juan Londoño, die die Methode 1968 in der internationalen Fachzeitschrift Demography diskreditierten, einen publizistischen Schlagabtausch, da er seine Programme zu Unrecht ver­un­ glimpft sah. Während Jaramillo und Londoño auf der Grundlage von Daten aus zehn kolumbianischen Familienplanungsprogrammen postulierten, dass die Methode sowohl wenig nachgefragt als auch ineffektiv und aufgrund der vielen zur Motivation und Kontrolle nötigen Sozialarbeiterinnen und Krankenschwestern teuer sei, verteidigte Guerrero sie als relativ sicher bzw. stellte heraus, dass die drei von ihm geleiteten Programme exzellente Resultate vorwiesen, da dort eine besonders enge Verbindung zu den teilnehmenden Frauen aufgebaut worden sei und der Fokus auf Erziehung und Kontrolle zum Erfolg geführt habe.157 Wie die Entwicklung der Pille steht auch die Weiterentwicklung von Intrauterinpessaren, die in die Gebärmutter eingesetzt und im Deutschen als Spirale bezeichnet werden, in den frühen 1960er Jahren in direktem Zusammenhang mit der Vorstellung einer bedrohlichen ›Bevölkerungsexplosion‹ und der Suche nach massentauglichen, einfach anwendbaren und günstigen Verhütungsmitteln. Die Spirale erschien hierbei vielversprechend, da sie von Ärzten oder Ärztinnen für mehrere Jahre eingesetzt wurde und daher kein Mitwirken der verhütenden Frauen erforderte. So war es der Population Council, der über seine biomedizinische Abteilung in den frühen 1960er Jahren massiv in die Entwicklung von Spiralen investierte, die meist verwendeten Modelle entwickelte und vertrieb und mit internationalen Konferenzen für den Austausch unter

155 | Ebd., S. 138. 156 | Vgl. Diary of Dr. Guy S. Hayes 1966: RAC, RF, RG 12.3 Officer’s Diaries, Hayes, Guy Scoll, Box 213, S. 83; Diary of Dr. Guy S. Hayes 1965, RAC, S. 83. 157 | Vgl. Jaramillo Gómez; Londoño, Rhythm, 1968; Guerrero, Rodrigo; Lores, Humberto: »Evaluación de la continencia periodica como método de planificación familiar«, in: Revista Colombiana de Obstetricia y Ginecología, 21, 6, 1970, S. 545–552.

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Forschenden und denjenigen, die am Einsatz der Spirale in Familienplanungsprogrammen interessiert waren, sorgte.158 Während auf der ersten vom Population Council ausgerichteten Konferenz über Intrauterinpessare im April 1962 lediglich knapp 50 Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus elf Ländern anwesend waren, tauschten sich auf der zweiten Konferenz im Oktober 1964 schon über 400 Forschende und Interessierte über deren Verwendung aus, darunter auch mindestens drei Ärzte aus Kolumbien.159 Eingesetzt wurden Spiralen in kolumbianischen Privatpraxen schon 1964, ein Jahr später wurden sie dann in Familienplanungszentren der privaten Organisation Profamilia verwendet, im Frühjahr 1966 begannen die ersten von der Universidad del Valle geleiteten Programme, die Spirale anzubieten, und ab 1967 importierte ASCOFAME Spiralen über den Population Council, die in staatlich betriebenen Gesundheitszentren Anwendung fanden.160 In der größten Familienplanungsklinik von Profamilia in Bogotá, so die Eigendarstellung 1973, wurden bis 1971 vermutlich weltweit am meisten Spiralen eingesetzt.161 Unabhängig davon, ob das stimmte, zeigt eine vergleichende Auswertung der frühen 1970er Jahre, dass in den von Profamilia und ASCOFAME verantworteten Programmen weit über die Hälfte der Patientinnen Spiralen eingesetzt bekamen, während in den Programmen des Gesundheitsministeriums die Pille an erster Stelle lag.162 Auch an der Forschung zu Spiralen, vor allem zu deren bis heute nicht einwandfrei geklärter Wirkweise, aber auch zur Verträglichkeit, Zuverlässigkeit und Akzeptanz waren kolumbianische Ärzte und Ärztinnen ab Mitte der 1960er Jahre beteiligt.163 158 | Vgl. Takeshita, Chikako: The Global Biopolitics of the IUD. How Science Constructs Contraceptive Users and Women’s Bodies, Cambridge MA: MIT Press 2012, S. 13ff. 159 | Vgl. Population Council, The Population Council, 1978, S. 62f; Dieter Zschock an Peter Fraenke, 01.07.1965, RAC, S. 3. 160 | Vgl. hierzu die Auswertungen der ersten 5000 eingesetzten Spiralen: Sarria Olcos, Carlos: »Eficacia del D.I.U.«, in: Revista Colombiana de Obstetricia y Ginecología, 20, 4, 1969, S. 279–283; Mirkow Ospina, Italo: »Evaluación de 5.000 historias clínicas sobre insercion del dispositivo intrauterino«, in: ASCOFAME-DEP, Regulación de la fecundidad Vol. 2, 1968, S. 147–166. 161 | Vgl. Echeverry, Gonzalo: »Family Planning in the Immediate Postpartum Period«, in: Studies in Family Planning, 4, 2, 1973, S. 33–35, hier: S. 33. 162 | Vgl. Measham, TAD Institutional Development Monitory – Colombia, 26.12.1973, RAC, S. 3f. 163 | Vgl. Riaño Gamboa, Germán: »Primeras observaciones sobre el I.U.D. en Colombia«, in: Revista Colombiana de Obstetricia y Ginecología, 18, 3, 1967, S. 157–163; Romero Romer, Jaime; Pérez Muñoz, Alvaro: »Fracasos y complicaciones obstetricas de los artefactos intrauterinos«, in: Revista Colombiana de Obstetricia y Ginecología, 20,

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Wie keine zweite Methode stand die Spirale für die Vorstellung, überwältigende soziale Probleme mit technischen Mitteln lösen zu können. Die Schlagkraft, die die kolumbianischen médicos demógrafos der Spirale zusprachen, zeigt sich beispielsweise in den Plänen von Gabriel Velázquez Palau, dem langjährigen Dekan der medizinischen Fakultät der Universidad del Valle, der eine der treibenden Kräfte hinter den dort angesiedelten Forschungen und Pilotprojekten zu Familienplanung war. Den 5-Stufen-Plan hin zu einer staatlichen Familienplanungspolitik entwickelte Velázquez Palau 1965. In zahlreichen Quellen wurde er schlicht »The Plan« betitelt und sah laut J. Mayone Stycos vor, innerhalb von zwei Jahren 50 Prozent der kolumbianischen Frauen im gebärfähigen Alter eine Spirale einzusetzen.164 Im selben Jahr hatte Velázquez Palau auf der vom Population Council ausgerichteten Konferenz zu Familienplanung in Genf öffentlich geäußert, dass Spiralen die einzige Lösung für Kolumbiens Bevölkerungsproblem darstellten, wie ein Mitarbeiter der Ford Foundation beeindruckt berichtete. Er erkannte darin ein Indiz dafür, dass sich Kolumbien auf dem Weg zur »Aktionsphase« befinde.165 Guy S.  Hayes notierte im Nachklang der Konferenz seine Beeindruckung darüber, dass die Spirale in den asiatischen Ländern schon weit verbreitet sei. Lateinamerika und vor allem auch Kolumbien müsse nachlegen, um in seiner ökonomischen Entwicklung nicht abgehängt zu werden.166 In dieser Gleichsetzung von eingesetzten Spiralen und wirtschaftlichem Aufschwung zeigt sich paradigmatisch die Selbstverständlichkeit der zeitgenössischen Verknüpfung zwischen Bevölkerungskontrolle und Wirtschaftswachstum. Diese war in der Theorie des demografischen Übergangs angelegt und galt aus Perspektive des Population Council spätestens seit 1958, als Ansley Coale und Edgar Hoover ihre Studie zu Bevölkerungswachstum und wirtschaftlicher Entwicklung in Indien vorlegten, als belegt.167 Der Leiter der Bevölkerungsabteilung von ASCOFAME, Hernán Mendoza, wiederum äußerte gegenüber dem Population Council, als es 1967 zu Schwierigkeiten beim Versand von knapp 40.000 Spiralen aus den USA

2, 1969, S. 103–107; Villegas; Echeverry; Measham, A Comparison of the Lippes, 1975. Vgl. auch die Tierversuche von Ramiro Delgado García an der Universidad del Valle, die in folgender Übersicht erwähnt werden: Tatum, Howard J.: »Research on Physiological Aspects of Reproduction«, in: The Milbank Memorial Fund Quarterly, 46, 2/3, 1968, S. 121–154, hier: S. 135–138. 164 | JMS Diary Notes. October 9–13, 1965, Colombia, Cornell R&M, S. 2ff. 165 | Zschock, Report on Significant Developments, 18.10.1965, RAC, S. 2ff. 166 | Diary of Dr. Guy S. Hayes 1965, RAC, S. 98f. 167 | Coale, Ansley J.; Hoover, Edgar M.: Population Growth and Economic Development in Low-Income Countries. A Case Study of India’s Prospects, Princeton NJ: Prince­ ton Univ. Press 1958.

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nach Kolumbien kam, ironisch, er hoffe, diese erreichten Kolumbien, bevor die »Bevölkerungsexplosion« alles zerstört habe.168 Gabriel Velázquez war es auch, der Ende 1965 beschloss, Ärztinnen und Ärzte im Einlegen von Spiralen auszubilden und diese in von der medizinischen Fakultät der Universidad del Valle verantworteten Familienplanungsprogrammen einzusetzen. Als erstes sollten Frauen, bei denen eine medizinische Indikation möglich war, beispielsweise Tuberkulose-Patientinnen, die Spirale bekommen. Velázquez war bereit, so notierte es Hayes, den »Showdown« mit den Autoritäten, Kollegen und Kolleginnen zu provozieren, die die Methode ablehnten.169 Katholische Kritik wurde gegenüber der Spirale noch vehementer geäußert als gegenüber der Pille, da umstritten war, ob sie abortiv wirke. Widerstand hatten vor allem die Mediziner der jesuitischen Pontificia Universidad Javeriana angekündigt. Im April 1965 hatte ein Satz in einer Broschüre der Bevölkerungsabteilung von ASCOFAME, wonach ein Antrag der Universidad del Valle eingegangen sei, zur Wirkung kupferhaltiger Spiralen zu forschen, für Aufruhr gesorgt. Ein hoher Geistlicher aus Bogotá, so Hayes, habe den Rektor der Universidad del Valle angerufen und ihm vorgeworfen, dass ein »protestantischer Gringo« Frauen in Candelaria zwinge, sich Spiralen einsetzen zu lassen. Bei einem Treffen der Fakultät sei es daraufhin zum Eklat gekommen, einigen Ärzten sei selbst die Forschung zu Spiralen an Ratten zuviel.170 Im Nachklang habe sich herausgestellt, dass Padre Salazar von der Universidad Javeriana, der zwei Jahre zuvor die Regeln für die Verwendung der Pille formuliert hatte, hinter dem Anruf aus Bogotá steckte.171 Einige Monate später drohten die Jesuiten auf dem »Segundo Seminario de Demografía« mit einer großen Gegenkampagne, sollten Spiralen erforscht oder verwendet werden.172 Hier zeigt sich nicht nur ein Konflikt zwischen den jesuitischen Medizinern und ihren liberalen Kollegen und Kolleginnen, sondern auch das Misstrauen, das schon 1965 US-amerikanischen Beratern und Beraterinnen entgegenschlug, die im Bereich Familienplanung agierten. Das religiöse Ar168 | Hernán Mendoza Hoyos an Clifford Pease, Bogotá, 08.06.1967: RAC, PC, Acc. 2, Foreign Correspondence Series, Box 8, Folder ASCOFAM 67-68. 169 | Diary of Dr. Guy S. Hayes 1965, RAC, S. 138. 170 | Ebd., S. 57. Zur Ankündigung des Forschungsprojektes vgl. ASCOFAME, Boletín Informativo de la División, 1965, S. 106. Spiralen besaßen auch in anderen latein­ amerikanischen Ländern eine hohe politische Sprengkraft, wie der Fall Boliviens zeigt. So wurden dort die Peace Corps des Landes verwiesen, nachdem ihnen vorgeworfen worden war, indigenen Frauen Spiralen eingesetzt zu haben. Vgl. hierzu Geidel, Sowing Death in Our Women, 2010; Siekmeier, James: »A Sacrificial Llama? The Expulsion of the Peace Corps from Bolivia in 1971«, in: Pacific Historical Review, 69, 1, 2000, S. 65–87. 171 | Vgl. Diary of Dr. Guy S. Hayes 1965, RAC, S. 122. 172 | Vgl. ebd., S. 123.

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gument, sprich der Verweis auf deren protestantische Religionszugehörigkeit, unterstrich ihre Fremdheit und ›zersetzende‹ Wirkung, hatte aber unmittelbar nach der Violencia, in der es auch zu Gewalt gegen protestantische Missionare aus den USA gekommen war, eine besondere Brisanz.173 Zu den Vorwürfen, die von konservativer und katholischer Seite in den 1950er Jahren gegen Protestanten erhoben worden waren, hatte auch gehört, dass diese mit vielen Frauen zusammenlebten und gleichzeitig aufgrund ihrer materialistischen Einstellung und ihrer fehlenden Verantwortungsbereitschaft ihre Kinderzahl beschränkten. Das stehe in klarem Widerspruch zu den katholischen Lehren und den Grundsätzen der Konservativen Partei.174 Familienwerte waren also Teil dessen, was der Historiker Lukas Rehm als »Dichotomisierung der sozialen Realität« während der Violencia analysiert hat.175 Weiterhin zeigt sich in den in Cali 1965 geführten Debatten um die Spirale auch die ärztliche Selbstverständlichkeit, mit Frauenkörpern zu experimentieren, wobei bestimmte Körper als besonders geeignet galten. Diejenigen, die Spiralen befürworteten, wollten diese zunächst bei Frauen einsetzen, in deren Umfeld von wenig Protest auszugehen war. Dazu zählten neben kranken Frauen auch solche, die in einer »isolierten, in erster Linie schwarzen Gemeinschaft« mit einem »liberalen Priester« und zwei Peace-Corps-Freiwilligen lebten, wobei dieser konkrete Vorschlag von Guy S. Hayes stammte.176 Ein Gegner der Methode schlug hingegen vor, wenn Ärzte und Ärztinnen das Einsetzen der Spirale üben müssten, so könnten sie diese doch direkt im Anschluss wieder entfernen, um moralische Probleme zu vermeiden.177 Der weibliche Körper wurde hier also auf ein reines Experimentierobjekt reduziert. Auch in den folgenden Jahren, als die Verwendung der Spirale in Kolumbien verbreiteter wurde, zeigte sich in medizinischen Forschungen zu deren Akzeptanz, Wirkung und Verträglichkeit deutlich, in welchem Maße weibliche Körper als Versuchsobjekte begriffen wurden. In besonderem Maße gilt das für die Forschung zu den sogenannten Post-Partum-Programmen. Hinter dem Begriff verbirgt sich der Mitte der 1960er Jahre von Mitarbeitern des Popula­ tion Council entwickelte und in zahlreichen Ländern unternommene Versuch, Frauen kurz nach der Entbindung über Verhütungsmittel zu informieren und ihnen diese im Fall der Spirale z. B. direkt einzusetzen. Institutionell und logistisch wurde Familienplanung damit direkt an die Geburtsstationen von 173 | Vgl. Bushnell, The Making of Modern Colombia, 2003, S. 206f. In den späten 1960er Jahren sollten sich Anfeindungen dieser Art deutlich verstärken und das Agieren der Stiftungen stark beeinflussen. 174 | Vgl. Rehm, Politische Gewalt in Kolumbien, 2014, S. 144. 175 | Ebd., S. 93. 176 | Diary of Dr. Guy S. Hayes 1965, RAC, S. 125. 177 | Vgl. Diary of Dr. Guy S. Hayes 1966, RAC, S. 40.

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Krankenhäusern und Gesundheitszentren angebunden. Die Erfinder zeigten sich besorgt, dass bisherige Familienplanungsprogramme »nicht schnell genug Resultate erzielten« und versprachen sich Erfolge durch den Kontakt mit einer »fruchtbaren« Bevölkerung zu einem Zeitpunkt »hoher Motivation«.178 In Kolumbien wurde ab 1968 sowohl in staatlichen Krankenhäusern als auch in von ASCOFAME betriebenen Universitätskliniken und in den Einrichtungen von Profamilia mit Post-Partum-Programmen experimentiert. Profamilia setzte dabei auf das Einsetzen von Spiralen im Wochenbett und argumentierte vor dem internationalen Fachpublikum mit den hohen »Ak­zep­ tanz­raten« seitens der Frauen, die gerade ein Kind geboren hatten. Zwar würden an die Hälfte der so früh eingesetzten Spiralen innerhalb von 30 Tagen wieder abgestoßen, was eine außergewöhnliche hohe Rate sei, dennoch sei das Einsetzen kurz nach der Geburt zu empfehlen, da 95 Prozent dieser Frauen um eine Wiedereinsetzung bäten. Nur ein Bruchteil der Frauen sei also »verloren« worden. Im Vergleich dazu kämen nur ein Drittel der Frauen, denen man nach der Geburt eine Pillenpackung mitgebe, nach einem Monat wieder, um die nächste Packung abzuholen. Unabhängig von möglichen gynäkologischen Bedenken sei das Einsetzen der Spirale zu diesem Zeitpunkt aus der »Perspektive des Familienplanungsprogramms« daher sehr zu empfehlen.179 In der Argumentation wird deutlich, dass das Hauptkriterium bei der Evaluation von Familienplanungsprogrammen die ›Akzeptanzzahl‹ war und die Selbstbestimmung und körperliche Unversehrtheit der verhütenden Frauen dem untergeordnet waren. Die bereits lange vor den 1960er Jahren existierenden Verhütungsmittel für den Mann, allen voran Kondome, fanden zu einem weitaus geringeren Anteil auch das Interesse der Bevölkerungsforschung und Familienplanungslobby, die sich – auch wenn einzelne Stimmen wiederholt eine stärkere Fokussierung auf Männer und Verhütungsmittel für den Mann einforderten – fast ausschließlich mit Verhütungsmitteln befassten, die von Frauen verwendet oder in deren Körper eingesetzt wurden.180 Kondome gehörten in Kolumbien zu den Verhütungsmitteln, deren Verwendung in Fertilitätsstudien ab den 178 | Taylor, Howard C.; Berelson, Bernard: »Comprehensive Family Planning Based on Maternal/Child Health Services. A Feasibility Study for a World Program«, in: Studies in Family Planning, 2, 2, 1971, S. 21–54, hier: S. 22. 179 | Echeverry, Family Planning, 1973, S. 33f. Eine erste Fassung des Aufsatzes war ein Jahr zuvor auf Spanisch in der kolumbianischen Zeitschrift für Gynäkologie und Geburtshilfe erschienen: Echeverry, Gonzalo: »Planificación familiar en el post-parto immediato«, in: Revista Colombiana de Obstetricia y Ginecología, 23, 5, 1972, S. 339–442. 180 | Zur Forschung an der sogenannten Pille für den Mann siehe Tyler May, America and the Pill, 2010, S. 93–116.

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frühen 1960er Jahren regelmäßig abgefragt wurde; ein Text, der sich explizit mit deren Nutzung und Ansehen auseinandersetzte, ist jedoch erst für 1973 zu finden. Auf Grundlage der Daten der nationalen Fertilitätsstudie von 1969 sowie einer Befragung mit denjenigen, die Verhütungsmittel kommerziell vertrieben, suchten Mitarbeiter der Bevölkerungsabteilung von ASCOFAME und des Population Council darin nach Antworten auf die Frage, wie der Verkauf von Kondomen in Kolumbien gesteigert werden könnte. Die Studie kam zu dem Ergebnis, dass Kondome vor allem unter Frauen recht unbekannt seien, es im Vertrieb immer wieder zu Nachschubproblemen komme und Kondome ein Imageproblem hätten, da sie in erster Linie mit Prostituierten assoziiert würden. In diesem Zusammenhang argumentierten die Forscher a priori, dass Kondome mit Prostituierten zur Vermeidung von Krankheiten und mit allen anderen Frauen zur Vermeidung von Schwangerschaften benutzt würden. Der schlechte Ruf von Kondomen sei weiterhin daran erkennbar, dass sie in Apotheken im Unterschied zur Pille nicht offen auslägen. Die Forscher plädierten dafür, die Produktion und den Vertrieb von Kondomen zu verbessern und eine Informationskampagne über deren Nutzen und Effektivität zu starten.181 Für die Studie zum privaten Sektor waren in erster Linie Apotheker und Apothekerinnen befragt worden. Die Umfrage bildete die Grundlage für die Dissertation des in Bogotá stationierten Mitarbeiters des Population Council Jerald Bailey, der darin unter anderem mit verdeckten Ermittlern bzw. getarnten Interviewern arbeitete, die vorgaben Kunden zu sein, um Informationen darüber zu erhalten, ob in den betreffenden Apotheken illegal Verhütungsmittel beworben und verkauft wurden.182 Dieses 1971 durchgeführte Forschungsprojekt ist in eine Phase einzuordnen, in der Organisationen wie der Population Council davon Abstand nahmen, in erster Linie auf die Etablierung staatlicher Familienplanungsprogramme zu setzen und verstärkt auf den privaten Sektor blickten und bauten. Es ist auch eines der wenigen Projekte, die auf finanzielle Interessen in der Entwicklung und Verbreitung von Verhütungsmitteln verweisen – eine Motivation, für die vor allem Unternehmen wie Searle oder Schering standen. Kontakte mit der Pharmaindustrie waren für die Befürworter und Befürworterinnen von Familienplanung in Kolumbien riskant. So goss Hernán Mendoza 1967 ungewollt Öl ins Feuer der Senats- und Pressedebatte um staatliche Familienplanung, als eine Fotografie von ihm in Umlauf kam, auf der ihm ein Vertreter eines holländischen Pharmaunternehmens Pillen überreichte.183 Im selben Jahr titelte die konservative Zeitung El Siglo auch: »Versuchskaninchen: 181 | Vgl. Bailey; López Escobar; Estrada E., A Colombian View, 1973. 182 | Bailey, Jerald: Contraceptive Education and the Colombian Druggists. Dissertation, Ann Arbor MI: Univ. of Michigan 1971. 183 | Vgl. Medina Chávez, Los discursos sobre la planificación familiar, 2008, S. 93.

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40.000 Frauen sind einem Sterilisationsplan unterworfen. Eine US-amerikanische Stiftung finanziert ein biologisches Experiment.« In dem Artikel hieß es, dass die Ford Foundation 300.000 kolumbianische Pesos für ein geheimes Programm zur Verfügung gestellt habe, um arme kolumbianische Frauen mit Geld und Perlen anzulocken und sie dann mit chemischen Mitteln zu sterilisieren und zu verstümmeln, so wie es auch in Teilen Indiens und in Vietnam gemacht werde. Zudem hätten US-amerikanische soziologische Studien in Viet­nam gezeigt, dass Bevölkerungswachstum eine Quelle von Konflikten und Rebellion darstelle, woraufhin das Militär berechnet habe, dass eine »Soldatenstunde« im Krieg mehr koste als eine »Pillenstunde« in Friedenszeiten.184 Die Sterilisationsmethode, die der Text kritisierte, wurde nicht expliziert, und insgesamt erscheinen die Vorwürfe, für die im Rahmen dieser Studie keine weiteren Belege gefunden werden konnten und die von Mythen über die koloniale Eroberung mit Hilfe von billigen Glasperlen geprägt sind, wenig glaubwürdig.185 Die Mischung aus dem Verweis auf ein geheimes Programm in Kolumbien und die US-amerikanische militärische und wissenschaftliche Kriegsführung in Vietnam sowie der Bezug auf Indien verdeutlichen jedoch, dass auch die Kritik an Familienplanungsprogrammen grenzübergreifend zirkulierte. Die angesprochene Praxis, Männer und Frauen zu bezahlen, wenn sie sich für eine Sterilisation entschieden, wurde in Indien bereits seit den späten 1950er Jahren angewandt.186 Sterilisation stand in den 1960er Jahren und steht bis heute sinnbildlich für die repressivste Form der Programme zur ›Geburtenkontrolle‹. 184 | Der Journalist Jaime Arango gab an, dass der konservative Senator Diego Tovar Concha im kolumbianischen Senat über die geheimen Sterilisationen berichtet hatte. Vgl. Arango, Jaime: »Conejos de Laboratorio. Cuarenta Mil Mujeres Colombianas Sometidas a Plan de Esterilización. Fundación Estadounidense Financia Experimentos de Tipo Biológico«, in: El Siglo, 03.02.1967. 185 | Die Vorwürfe der geheimen, experimentellen Sterilisationen gegen Geld und Geschenke finden sich auch in Bonnie Mass’ 1974 erschienener und vielbeachteter Kritik an Bevölkerungspolitik in Lateinamerika. Mass bezog sich dabei indirekt auf den Zeitungsartikel von Jaime Arango, der im Rahmen des »Newspaper Clipping Project« am International Population Program der Cornell University archiviert worden war. Vgl. Mass, The Population Control Establishment, 1976, S. 55. In einem 2015 erschienenen Überblickswerk zur Medizingeschichte Lateinamerikas von Marcos Cueto und Steven Palmer wird Kolumbien als eines von vier lateinamerikanischen Ländern genannt, in dem es zu besonders vielen Zwangssterilisationen gekommen sei – bemerkenswerter Weise ohne jeden Beleg. Vgl. Cueto, Marcos; Palmer, Steven Paul: Medicine and Public Health in Latin America. A History, New York: Cambridge Univ. Press 2015, S. 196. 186 | Vgl. Connelly, Matthew James: »Population Control in India. Prologue to the Emergency Period«, in: Population and Development Review, 32, 4, 2006, S. 629–667.

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Folgt man der Eigenerzählung der kolumbianischen Familienplanungsorganisation Profamilia, so hatte diese erst seit 1970 Sterilisationen für Männer und seit 1972 Sterilisationen für Frauen in ihre Programme integriert. In einer Evaluation aus den 1990er Jahren gab Profamilia an, dass ihr VasektomieProgramm an kirchlichem und medizinischem Widerstand gescheitert war, zumal viele Männer befürchteten, dass der Eingriff ihre sexuelle Begierde schmälern würde oder gar einer Kastration gleichzusetzen sei. Die Sterilisation von Frauen sei hingegen von Beginn an enthusiastisch angenommen worden. Das wiederum sei auf einen großen Bedarf vor allem älterer Frauen an einer dauerhaften Verhütungsmethode sowie auf ein großes Interesse seitens der Medizin an der damit verbundenen neuen Technik der Laparoskopie zurückzuführen.187 Von diesem Interesse zeugt beispielsweise eine Konferenz zu »freiwilliger weiblicher Sterilisation«, die 1973 vom kolumbianischen Verband für Gynäkologie und Geburtshilfe ausgerichtet wurde. Die Konferenz umfasste Vorträge zu »sozio-demografischen Aspekten«, »medizinischen Indikationen«, »psychologischen Aspekten«, »Techniken«, »legalen Aspekten« und »ethischen Aspekten«.188 Die ersten beiden Ärzte, die ab 1972 für Profamilia Sterilisationen von Frauen durchführten, waren an der Johns Hopkins University in den USA ausgebildet worden. Ab 1974 konnten dann auch in Kolumbien selbst Ärzte und Ärztinnen die Technik der Laparoskopie erlernen.189 In den folgenden zwei Jahrzehnten stieg die Zahl der Eingriffe kontinuierlich und seit den 1990er Jahren ist die Sterilisation von Frauen die meistgenutzte Form der Verhütung in Kolumbien geworden.190 Die technologische und pharmazeutische Entwicklung und Verbesserung neuer Verhütungsmittel im 20. Jahrhundert ist, wie gezeigt werden konnte, nicht von der Sorge um zu schnelles Bevölkerungswachstum zu trennen. Das gilt 187 | Vgl. Williams, Timothy; Ojeda, Gabriel; Trias, Miguel: »An Evaluation of PROFAMILIA’s Female Sterilization Program in Colombia«, in: Studies in Family Planning, 21, 5, 1990, S. 251–264, hier: S. 251. 188 | Medina Murillo, Jorge E.: »Simposio sobre Esterilización Femenina Voluntaria«, in: Revista Colombiana de Obstetricia y Ginecología, 25, 3, 1974, S. 175–176. 189 | Vgl. López Escobar, Guillermo; Cáceres Alvarez, Eduardo; Armando Muñoz, Luis: »Esterilización femenina ambulatoria. Por Laparoscopia bajo amnestesia local«, in: Revista Chilena de Obstetricia y Ginecologia, 25, 3, 1974, S. 211–220. 190  |  Laut Profamilia stieg die Zahl der kolumbianischen Frauen zwischen 15 und 49, die sich sterilisieren ließen von 1990 bis 2015 von 20,9 auf 35 Prozent. Vgl. Profamilia: »Resumen Ejecutivo. Encuesta Nacional de Demografía y Salud 2015«, auf: http://profamilia. org.co/docs/Libro%20RESUMEN%20EJECUTIVO.pdf (05.03.2017), S. 45. Für die Zahlen der 1980er Jahre vgl. Williams; Ojeda; Trias, An Evaluation of PROFAMILIA, 1990, S. 252.

5. ›Moderne‹ Frauen, Männer, Familien und Sexualität

mit Nachdruck für orale Antikonzeptiva und für die Intrauterinpessare bzw. die Spirale. Beide Produkte gelangten in den frühen 1960er Jahren auch nach Kolumbien. Der Vertrieb der Verhütungsmittel wurde über Privatpraxen und Apotheken, aber auch private und staatliche Familienplanungsprogramme organisiert. Die kolumbianischen Mediziner und Medizinerinnen, die sich der Senkung der Geburtenrate Kolumbiens verschrieben hatten und diese Familienplanungsprogramme anboten, erforschten in diesem Zusammenhang auch deren Akzeptanz und Effektivität. Hinsichtlich der ›moralischen‹ Bewertung der Verhütungsmittel waren die médicos demógrafos jedoch genauso gespalten wie die kolumbianische Gesellschaft, wie anhand der Auseinandersetzungen zwischen Mario Jaramillo und Rodrigo Guerrero um die Effektivität der Rhythmusmethode gezeigt werden konnte. Hintergrund der Auseinandersetzungen darüber, mithilfe welcher Verhütungsmethoden kolumbianische Frauen und Männer ihre Familien planen sollten, war die Position der katholischen Kirche. Diese erneuerte 1968 mit der Enzyklika Humanae Vitae das Gebot für Katholiken und Katholikinnen, keine ›künstlichen‹ Verhütungsmittel wie die Pille zu verwenden. Der Rücktritt des kolumbianischen Außenministers sowie der Skandal an der Universidad del Rosario verdeutlichen die gesellschaftliche Brisanz des Themas in Kolumbien. In der Fertilitätsforschung wurde das Thema Religion dahingehend erforscht und in die Debatte eingebracht, als dass wiederholt Umfrageergebnisse vorgelegt wurden, die zeigten, dass katholische Frauen zu den ›verbotenen‹ Verhütungsmitteln griffen oder greifen wollten und die Position der Kirche an dieser Realität vorbeiging. Neben diesen Diskussionen um Verhütungsmittel war die Fertilitätsforschung in Kolumbien noch in eine Reihe weiterer brisanter und aktueller gesellschaftlicher Debatten eingebunden. Das gilt für die Forderung nach gleichen Bildungschancen und Löhnen, die seitens der entstehenden kolumbianischen Frauenbewegung im Frente Nacional laut wurde, und für das Pochen auf ›sexuelle Freiheit‹, die in den späten 1960er Jahren auch im Zusammenhang mit sexualwissenschaftlicher Forschung und seitens der Befürworterinnen und Befürworter von Sexualerziehung eingefordert wurde. Weiterhin zeigten sich die Warnung vor den Auswirkungen des schnellen Bevölkerungswachstums und die Forderung nach Familienplanung in hohem Maße anschlussfähig für die gesellschaftliche Diskussion um und die Gesetzgebung zu ›verantwortungsvoller Elternschaft‹. Rund um dieses Konzept bildete sich ein breiter politischer Konsens zwischen den beiden Regierungsparteien des Frente Nacional, der katholischen Kirche und den médicos demógrafos heraus. Der in Gesetzesform gegossene Appell an Eltern und vor allem Väter, die Verantwortung gegenüber ihren Kindern, deren Entwicklung und Bildungschancen und damit auch gegenüber der Gesellschaft zu übernehmen, war aufs Engste mit der Sorge vor Bevölkerungswachstum verbunden. Von Politikern wie dem Präsidenten Carlos Lleras Restrepo wurde in diesem Zusammenhang nicht nur

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das absolute Bevölkerungswachstum Kolumbiens problematisiert, sondern auch vor der Reproduktion der ›falschen‹ Kinder gewarnt, die in vermeintlich instabilen Familien aufwuchsen und damit die fragile gesellschaftliche Ordnung gefährdeten. Hinsichtlich der Vorstellungen von Familie, Geschlechterrollen und Sexualität, die der Fertilitätsforschung zugrunde lagen, konnte die Analyse der Fragebögen zeigen, dass vor allem männliches Verhalten problematisiert wurde bzw. dass Vorstellungen darüber, wie diese sich ›falsch‹ verhielten, die Fertilitätsforschung in hohem Maße prägte. So waren es ausschließlich Männer, die dazu befragt wurden, welche Vorteile sie in uniones libres, d. h. in festen Partnerschaften ohne Trauschein, sahen und es waren Männer, von denen befürchtet wurde, dass sie möglichst viele Kinder und vor allem Söhne zeugen wollten, um damit ihre Männlichkeit unter Beweis zu stellen. Zudem schienen Männer nicht mit Kondomen verhüten zu wollen und nicht monogam zu leben, sondern gleich mit einer Vielzahl von Frauen Kinder zu zeugen, und weiterhin waren es Männer, von denen angenommen wurde, dass sie der Meinung waren, eine Frau alleine könne ihre sexuellen Bedürfnisse nicht stillen. Die männlichen sexuellen Bedürfnisse waren auch der Grund, dass selbst streng katholische Ärzte erwogen, ›künstliche‹ Verhütungsmittel zuzulassen. Welche familiären Attribute, geschlechterspezifischen Verhaltensweisen und Rollen in den Fragebögen und Auswertungen der Fertilitätsstudien als modern und erstrebenswert konnotiert waren, war unmittelbar mit den Annahmen darüber und Forschungsergebnissen dazu verbunden, von welchen Familienstrukturen und Verhaltensweisen sich die Bevölkerungsforscher und -forscherinnen eine Senkung der Geburtenrate versprachen. Diese Perspektive zeigt sich zum Beispiel in der Konzeption von Partnerschaften und Ehen als ›Schwangerschaftsrisiken‹. So entstand das Bild einer Kleinfamilie aus Vater, Mutter und wenigen Kindern, in der die Eltern über alle Themen, die ihr Zusammenleben sowie die Erziehung und Zukunft ihrer Kinder betrafen, offen und umfassend miteinander kommunizierten und wichtige Entscheidungen wie z. B. über die Verwendung von Verhütungsmitteln gemeinsam und gleichberechtigt trafen. Ob das Elternpaar verheiratet war oder nicht, spielte aus dieser Perspektive keine Rolle, doch wichtig war, dass sich die Frauen nicht in zu jungen Jahren in eine feste Partnerschaft begaben. Als modern galten weiterhin gut gebildete und erwerbstätige Frauen. Seitens einiger médicos demógrafos, die auch explizit zu Sexualität forschten, war zudem beidseitiges sexuelles Begehren und die an Orgasmen festgemachte sexuelle Befriedigung von Frauen ein Ausweis ehelicher Gesundheit, die nur durch den Zugang zu Verhütungsmitteln erreicht werden konnte.

6. Bevölkerungsprobleme im lokalen Entwicklungslabor

Wie in der Analyse der Abteilung für Bevölkerungsforschung des kolumbianischen Verbandes medizinischer Fakultäten (ASCOFAME-DEP) bereits herausgestellt wurde, waren es vor allem an salud pública interessierte Mediziner und Medizinerinnen, die in Kolumbien das schnelle Anwachsen der Bevölkerung problematisierten und den Auf bau von Bevölkerungswissenschaften und Familienplanungsprogrammen vorantrieben. Die ›Entdeckung‹ des ›Bevölkerungsproblems‹ wird in den Eigendarstellungen der médicos demógrafos auf die Gesundheitsprojekte zurückgeführt, die die Universidad del Valle ab den späten 1950er Jahren in ihren sogenannten »laboratorios comunales«1 in Stadtvierteln Calis sowie im nahe gelegenen Ort Candelaria durchführte.2 In der Auseinandersetzung mit der entwicklungspolitischen Mikroebene zeigt sich, wie sich das Wissen darüber, was eine gesunde und produktive Bevölkerung ausmacht, in spezifischen Praktiken und lokalen Begegnungen zwischen verschiedenen Entwicklungsakteuren und -akteurinnen und der ›Laborbevölkerung‹ herausbildete.3

1 | In einer Chronik der Escuela de Salud Pública der Universidad del Valle bezeichnet der Autor, selbst lang jähriges Mitglied, die Stadtteile Calis El Guabal und Siloé sowie die Gemeinde Candelaria als »laboratorios comunales«. Vgl. Henao Cabal, Crónica, 1996, S. 73. 2 | Vgl. Llanos, Guillermo; Pradilla, Alberto; Rueda, Alvaro: Candelaria. El Principio de la Medicina Social, Medellín: Fundación Exito 2006, S. 55; Echeverry, Contra Viento y Marea, 1991, S. 18f; Dáguer; Riccardi, Al derecho y al revés, 2005, S. 35. 3 | Insbesondere in solchen sozialen ›Laboratorien‹, deren Forschungs- und Interventionsergebnisse umfassend rezipiert und mystifiziert wurden, lohnt es sich die Schichten dieser Rezeption zu durchdringen und »Genaueres über die Gründungsidee […], die Forschungspraxis und den Alltag darin zu erfahren«, wie in einer Mikrostudie zum »Pioneer Health Centre« in London überzeugend argumentiert wurde. Kuchenbuch, David: Das

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Im Zuge epidemiologischer Studien sowie der Forschung zu Unterernährung, zu Kinder- und Müttersterblichkeit und zu Abtreibung gerieten kinderreiche Familien ins Blickfeld der Mediziner und Medizinerinnen und wurden als Problem ausgemacht, dem es mit Familienplanungsprogrammen zu begegnen gelte. Im Austausch mit den transnational agierenden US-amerikanischen Akteuren und Akteurinnen, die sich der Senkung der Geburtenrate verschrieben hatten und sich ab den frühen 1960er Jahren vermehrt für Lateinamerika interessierten, kam es dann zu einer Verschiebung in der Problematisierung großer Familien: Fehlende Familienplanung wurde nicht länger primär als Gesundheitsproblem, sondern vermehrt als Hindernis für die wirtschaftliche und soziale Entwicklung Kolumbiens bezeichnet. So heißt es ab Mitte der 1960er Jahre in zahlreichen Dokumenten der medizinischen Fakultät der Universidad del Valle, dass ein zu schnelles Bevölkerungswachstum die Bemühungen, durch Wirtschaftswachstum die Lebensbedingungen der kolumbianischen Bevölkerung zu erhöhen, zunichtemache. Die Forschung, Intervention und Interaktion im laboratorio comunal Candelaria stehen im Mittelpunkt der folgenden Darstellung. Davon ausgehend werden die entwicklungs- und gesundheitspolitischen Kontexte, namentlich das sogenannte community development, salud pública und Ernährungspolitik sowie die Wissensproduktion dazu auch auf nationaler und internationaler Ebene nachgezeichnet. 4

6.1 C ommunit y D evelopment in K olumbien Der Nexus zwischen Gesundheit und Entwicklung und der medizinische Blick auf die comunidad, d. h. die Bevölkerung in ihrem sozialen Gefüge, bilden den Kern der Ansätze, die unter dem Schlagwort salud pública in den 1950er Jahren in Kolumbien zu einem immer wichtigeren Paradigma der staatlichen Gesundheitspolitik und medizinischen Ausbildung wurden.5 In den frühen Peckham-Experiment. Eine Mikro- und Wissensgeschichte des Londoner »Pioneer Health Centre« im 20. Jahrhundert, Köln: Böhlau 2014, S. 17. 4 | Ausschnitte dieses Kapitels wurden bereits im folgenden Aufsatz veröffentlicht: Huhle, Teresa: »Ein Laboratorium der Modernisierung. Public Health, Bevölkerungsforschung und Familienplanung in Candelaria (Kolumbien)«, in: Etzemüller, Vom Volk zur Population, 2015, S. 79–104. 5 | Vgl. Hernández Alvarez, Mario; Obregón, Diana; Miranda Canal, Néstor: »La OPS y el Estado colombiano. Cien años de historia 1902–2002«, 2002, auf: http://www.paho. org/col/index.php?option=com_docman&view=download&category_slug=publicaci ones-ops-oms-colombia&alias=61-la-ops-y-el-estado-colombiano-cien-anos-dehistoria&Itemid=688 (19.06.2017); Quevedo V.; Hernández Alvarez; Miranda Canal, Ciencias médicas, estado y salud, 1993.

6. Bevölkerungsprobleme im lokalen Entwicklungslabor

1950er Jahren setzte sich an der 1951 gegründeten medizinischen Fakultät der Universidad del Valle die Idee durch, die salúd publica in das Zentrum der medizinischen Ausbildung und Versorgung zu stellen. Dazu galt es, zunächst die spezifischen Gesundheitsprobleme der lokalen Bevölkerung zu ergründen. Diese Ausrichtung der Fakultät wird auf eine Gruppe junger Ärzte rund um den ersten und langjährigen Dekan der medizinischen Fakultät, Gabriel Velázquez Palau, zurückgeführt. Unter diesen Ärzten waren ehemalige Stipendiaten der Rocke­feller Foundation und der Kellogg Foundation sowie die ersten kolumbianischen Mediziner mit einem Abschluss in Public Health von US-amerikanischen Universitäten. In diesem Kreis wurde auch seit den frühen 1950er Jahren diskutiert, laboratorios comunales einzurichten, in denen die neuen Public-Health-Ansätze getestet und angewandt werden konnten. Zunächst wurden solche ›Laboratorien‹ in zwei Stadtteilen Calis eingerichtet, 1958 übernahm die Universidad del Valle dann auf Grundlage eines Vertrags mit der Regierung des Departamento Valle del Cauca für 16 Jahre die Leitung des Gesundheitszentrums in dem nahe Cali gelegenen Ort Candelaria.6 Neben der medizinischen Fakultät waren im ›Laboratorium‹ Candelaria in den 1960er Jahren unter anderem auch Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen der Rocke­feller Foundation und US-amerikanische Freiwillige der Peace Corps präsent. Zudem erreichten den Ort die Community-Development-Programme der kolumbianischen Zentralregierung und Infrastrukturprojekte der regionalen Behörde Corporación Autónoma Regional del Cauca.7 Die vereinten Bemühungen, Candelaria in ein Vorzeigemodell lokaler Entwicklung zu verwandeln und seine Bewohnerinnen und Bewohner in produktive, selbstverantwortliche Subjekte zu transformieren, lockten zahlreiche Besucherinnen und Besucher aus der ganzen Welt an und machten den Ort weit über die Grenzen Kolumbiens hinaus bekannt.8 Community development kam bei der Herausbildung von Entwicklungspolitik seitens der Vereinigten Staaten und internationaler Organisationen ab den späten 1940er Jahren eine herausragende Bedeutung zu, wie zahlreiche jüngere Studien gezeigt haben.9 So dienten Projekte des community development 6 | In der Chronik der Abteilung für Präventivmedizin wird berichtet, dass Siloé von 1956 bis 1961 als »Labor« verwendet wurde. Der neu errichtete Modellstadtteil El Guabal löste Siloé 1961 ab, da sich dort das »Syndrom der Gemeindemüdigkeit« bemerkbar gemacht habe, also die Bewohnerinnen und Bewohner nicht mehr bereit gewesen seien, auf die Fragen der Ärzteschaft zu antworten. Henao Cabal, Crónica, 1996, S. 72–75. 7 | Vgl. Torres Rendón, Fernando: Candelaria V. Municipio modelo de Colombia, Cali 1962. 8 | Vgl. Coleman; Court, University Development, 1993, S. 47. 9 | Siehe Cullather, Nick: »The Target is the People. Representations of the Village in Modernization and U.S. National Security Doctrine«, in: Cultural Politics, 2, 1, 2006,

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Bevölkerung, Fer tilität und Familienplanung in Kolumbien

dazu, auf lokaler Ebene und unter Mitwirkung der lokalen Bevölkerung die Entwicklung vermeintlich unterentwickelter Länder zu erforschen und voranzutreiben. Der weltweit zirkulierende Terminus technicus bildete sich in den 1950er Jahren als Bezeichnung für lokale Entwicklungsprojekte heraus, die – wie Entwicklungspolitik insgesamt – in enger Verzahnung von sozialwissenschaftlicher und politisch-administrativer Expertise konzipiert und bis spät in die 1960er Jahre hinein als Forschungs- und Interventionsfeld weiterentwickelt und verfeinert wurden. Erste Modelle waren in den späten 1940er Jahren in Indien und Puerto Rico entwickelt worden. In den 1950er Jahren kam es dann zu einer Standardisierung des Modells und zu einem gezielten und zahlenmäßig bedeutenden Ausbau von community development, vor allem in zahlreichen asiatischen Staaten. Finanziert wurden die Programme durch Gelder der Ford Foundation, der US-amerikanischen staatlichen Entwicklungshilfebehörde International Cooperation Administration und der Vereinten Nationen.10 Auch die 1961 von John F. Kennedy ins Leben gerufenen Peace Corps arbeiteten in ihren Einsatzländern in erster Linie in community development-Projekten. Mit der Gründung der Peace Corps waren die Vereinigten Staaten das erste Land, das einen Freiwilligendienst in seine Außenpolitik integrierte. Kolumbien war 1961 das erste lateinamerikanische Land, in das die jungen Frauen und Männer ausreisten.11 Gleichzeitig gilt das Community Action Program, das Lyndon B. Johnson als Teil seines War on Poverty in den USA einrichtete, als prägnantes Beispiel dafür, dass entwicklungspolitische Maßnahmen, die für die Dritte Welt entwickelt wurden, in die Vereinigten Staaten zurückwirkten.12 Ein gemeinsames Merkmal der in den jeweiligen lokalen Kontexten sehr unterschiedlichen Projekte war die Konzentration auf ›Hilfe zur Selbsthilfe‹. S. 29–48; Goldstein, Alyosha: »The Attributes of Sovereignty. The Cold War, Colonialism, and Community Education in Puerto Rico«, in: Shukla; Tinsman, Imagining Our Americas, 2007, S. 313–337; Sackley, Nicole: »The Village as Cold War Site. Experts, Development, and the History of Rural Reconstruction«, in: Journal of Global History, 6, 3, 2011, S. 481–504. 10 | Wie für viele Entwicklungsprojekte der Zeit gilt auch für die Idee des community development, dass es seine Wurzeln in kolonialen Praktiken des frühen 20. Jahrhunderts hat. Vgl. Sackley, The Village as Cold War Site, 2011, S. 482. 11 | Zu den Peace Corps siehe Cobbs Hoffman, Elizabeth: All You Need Is Love. The Peace Corps and the Spirit of the 1960s, Cambridge MA: Harvard Univ. Press 1998; Fischer, Fritz: Making them Like Us. Peace Corps Volunteers in the 1960s, Washington, D.C.: Smithsonian Institution Press 1998. Zu den Peace Corps in Kolumbien siehe Wieters, Ever tried – ever failed?, 2015. 12 | Vgl. Cobbs Hoffman, All You Need Is Love, 1998, S.183–216. Siehe hierzu auch Goldstein, Alyosha: Poverty in Common. The Politics of Community Action During the American Century, Durham NC: Duke Univ. Press 2012.

6. Bevölkerungsprobleme im lokalen Entwicklungslabor

Durch den Auf bau lokaler Organisationsstrukturen, die Fortbildung von community leaders und dosierte Beratung durch Experten und Expertinnen ›von außen‹ sollte die Eigeninitiative der community gefördert werden.13 Deren Bewohnerinnen und Bewohner waren angehalten, ihre Entwicklungsprobleme in demokratischen Entscheidungsprozessen selbst zu identifizieren und daraufhin mit staatlicher Unterstützung beispielsweise Straßen, Gesund­heits­ zen­tren oder Schulen zu bauen. So sollte die Bindung zwischen ›Volk‹ und Staat vertieft und greif bar gemacht werden. Zudem sollte in der vermeintlich passiven ländlichen Bevölkerung ein modernisierender Mentalitätswandel angestoßen werden. Regiert wurde dabei nicht mittels Zwang, sondern über erzieherische, anleitende und stimulierende Prozesse, die die als Humankapital konzipierten Menschen zu Selbstdisziplin und -führung anregen sollten.14 Neben diesen gouvernementalen Effekten waren community development-Programme aber auch deshalb eine attraktive Form von Entwicklungshilfe, weil sie sich relativ kostengünstig implementieren ließen. Zudem waren sie auch von sicherheitspolitischen Interessen angeleitet. So verdeutlicht der Ansatz des community development paradigmatisch die konstitutive Verknüpfung zwischen der Genese von Entwicklungspolitik, geopolitischen Strategien und der Sorge vor revolutionären Aufständen in der Dritten Welt. Diese Gefahr wurde in den 1940er und 1950er Jahren vor allem in ländlichen Räumen verortet, und so spiegelt community development auch die Konstruktion von ›Dörfern‹ als undurchdringbarem Gefahrenraum wider, der ›sichtbar‹ gemacht werden musste.15 In der Praxis führte das zu dem Konzept der zivil-militärischen Zusammenarbeit bzw. zur sozialwissenschaftlich fundierten Verbindung von community development und counterinsurgency in ›strategischen Dörfern‹, für die sinnbildlich das berüchtigte »Strategic Hamlet Programme« steht, im Zuge dessen im Vietnamkrieg bis zu neun Millionen Menschen umgesiedelt werden sollten.16 Diese Ideen wurden auch in Lateinamerika mitentwickelt und umgesetzt. In Kolumbien implementierte 1958 der erste Präsident des Frente Nacional, Al13 | Zu den unterschiedlichen, von lokalen Gegebenheiten abhängigen Ausprägungen von community development siehe Sackley, Nicole: »Village Models. Etawah, India, and the Making and Remaking of Development in the Early Cold War«, in: Diplomatic History, 37, 4, 2013, S. 749–778. 14 | Vgl. López, A Beautiful Class, 2008, S. 36f. 15 | Zu ›Sichtbarmachung‹ als Kennzeichen moderner Staatlichkeit siehe Scott, James C.: Seeing Like a State. How Certain Schemes to Improve the Human Condition Have Failed, New Haven CT: Yale Univ. Press 1998. 16 | Vgl. Feichtinger, Moritz: »Modernisierung als Waffe – ›Strategische Dörfer‹ in Malaya und Algerien«, in: Greiner, Bernd (Hg.): Macht und Geist im Kalten Krieg, Hamburg: Hamburger Ed. 2011, S. 359–375, hier: S. 359f.

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berto Lleras Camargo, unter dem Namen Acción Comunal eine umfassende kolumbianische Variante von community development. Das Programm wurde zu einem Aushängeschild seiner Präsidentschaft und gilt als strategisch wichtige Voraussetzung für die umfangreichen Hilfsgelder, die Kolumbien ab 1961 im Rahmen der Allianz für den Fortschritt von den USA zuteil wurden.17 Das Programm baute auf dem Modell der equipos polivalentes auf, die auf Vorschlag des französischen Beraters Louis Joseph Lebret ab Mitte der 1950er Jahre gebildet und in einzelne comunidades geschickt worden waren, mit dem Ziel, diese »wiederzubeleben« und das Lebensniveau ihrer Bewohnerinnen und Bewohner anzuheben. In diesen Teams waren Fachleute aus den Bereichen Gesundheit, Ernährung, Sozialarbeit, Infrastruktur und Landwirtschaft vereint. Sie waren zunächst der Oficina de Rehabilitación y Socorro und ab 1960 dem Verband der Kaffeewirtschaft Fedecafé unterstellt.18 Kaffee war seit dem 19. Jahrhundert das ökonomisch bedeutsamste Exportgut Kolumbiens. Der 1927 gegründete Verband vertrat in erster Linie die Interessen der auf Export setzenden Kaffeeindustrie und verfügte in den 1960er Jahren über weitreichenden Einfluss auf alle politischen Fragen, die das Exportgut betrafen.19 Die Oficina de Rehabilitación y Socorro war von Rojas Pinilla eingerichtet worden, um den Wiederauf bau in Gebieten voranzutreiben, die besonders stark von der Violencia betroffen waren. De facto kamen aber vor allem von der konservativen Partei geprägte comunidades in den Genuss der staatlichen Hilfsmaßnahmen und diejenigen, die Widerstandsgruppen Hilfe gewährt hatten, erhielten kaum Unterstützung.20 Hier zeigt sich, dass schon in den ersten kolumbianischen Entwicklungsprojekten eine sehr enge Verbindung zwischen Entwicklung und Sicherheit, zivilen und militärischen Absichten sowie antikommunistischen Ideologien und dem Ziel der ›Demokratisierung‹ bestand. Zudem deutet die Beteiligung von Fedecafé darauf hin, dass diese Ziele auch von privatwirtschaftlicher Seite unterstützt wurden und die Kaffeeindustrie ein Interesse an dem Ende der 17 | Vgl. Taffet, Jeffrey F.: Foreign Aid as Foreign Policy. The Alliance for Progress in Latin America, New York: Routledge 2007, S. 152f. 18 | Vgl. Karl, Robert A.: »The Politics of International Community Development in Colombia’s New Cold War, 1957–66. Paper presented at the Transnational/International History Postgraduate Intensive, University of Sydney, 23–25 July 2008«, S. 10f. Zu Lebret und der von ihm geleiteten Beratungsmission nach Kolumbien siehe Arévalo Hernández, Decsi: »Misiones Económicas Internacionales en Colombia 1930–1960«, in: Historia Crítica, 14, 1997, S. 7–24. 19 | Vgl. Bushnell, The Making of Modern Colombia, 2003, S. 231. Vgl. hierzu grundlegend Palacios, Marco: Coffee in Colombia, 1850–1970. An Economic, Social, and Political History, Cambridge, New York: Cambridge Univ. Press 1980. 20 | Vgl. Rehm, Politische Gewalt in Kolumbien, 2014, S. 314f.

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bewaffneten Kämpfe und dem Einschlagen eines kapitalistischen Entwicklungspfades hatte. Verstärkt erhielten counterinsurgency-Praktiken und -Theorien, d. h. die Verbindung zwischen militärischer und ziviler Widerstandsbekämpfung, dann 1958 mit der Anstellung des US-amerikanischen Soziologen und Juristen Gabriel Kaplan als Regierungsberater der ersten Regierung des Frente Nacional Einzug. Kaplan hatte seine counterinsurgency-Expertise auf den Philippinen gewonnen und war in Kolumbien eng an der Konzeption von Acción Comunal beteiligt. Sein Wechsel nach Kolumbien war auf Rat des US-amerikanischen Botschafters erfolgt, der sich besorgt über die anhaltenden Aktivitäten der liberalen Guerillas in Kolumbien zeigte.21 Die Jahre zwischen dem Amtsantritt Alberto Lleras Camargos’ als erstem Präsidenten des Frente Nacional 1958 und der Gründung der kommunistischen Guerillagruppe Fuerzas Armadas Revolucionarias de Colombia (FARC) 1964 markieren den Übergang von der Violencia, d. h. dem Mitte der 1940er Jahre begonnenen Bürgerkrieg zwischen Anhängern und Anhängerinnen der liberalen und konservativen Parteien Kolumbiens, und dem Krieg zwischen Guerillagruppen und dem kolumbianischen Militär.22 Als Wendepunkt kann der Militärangriff auf die unabhängigen Republiken im departamento Tolima 1964 gelten, bei dem bäuerliche Selbstverteidigungsgruppen mit massiven Luftangriffen bekämpft wurden. Aus dem Kreis der Überlebenden dieses Angriffs gründete sich wenig später die FARC.23 Acción Comunal wirkte auf verschiedenen Ebenen: Es befähigte nationale, regionale und kommunale Regierungsbehörden, die Ausführung und Kontrolle bestimmter öffentlicher Güter an eigens dafür eingerichtete Juntas de Acción Comunal abzugeben.24 Waren in den ersten zwei Jahren nur gut achtzig dieser Gemeinderäte eingerichtet worden, so waren es bis Mitte der 1960er Jahre schon über 8000, die über 90 Prozent der municipios Kolumbiens abdeckten. 21 | Vgl. Karl, The Politics of International Community Development, 2008. Ein Jahr später schickte die CIA auch ein »Special Survey Team« nach Kolumbien, um das kolumbianische Militär im Guerillakrieg strategisch zu beraten. Vgl. Rempe, The Origin of Internal Security, 1999. Zu den Verbindungen zwischen counterinsurgency-Strategien und modernisierungstheoretischen Ansätzen siehe Latham, Modernization as Ideology, 2000, S. 167f. 22 | Vgl. Rehm, Politische Gewalt in Kolumbien, 2014, S. 81–91. 23 | Vgl. Rempe, Dennis M.: »The Past as Prologue? A History of U.S. Counterinsurgency Policy in Colombia, 1958–66«, 2002, auf: http://www.fes-seguridadregional.org/ images/stories/docs/5662-001_g.pdf (21.06.2017). Vgl. zur Geschichte der FARC: Centro Nacional de Memoria Histórica: Guerilla y población civil. Trayectoria de las FARC 1949–2013, Bogotá: Imprenta Nacional 2013. 24 | Koordiniert wurde das Programm von der División de Acción Comunal, die zunächst dem Bildungs- und ab 1960 dem Innenministerium unterstellt war.

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Die ersten Kohorten der Peace Corps, die 1961 Kolumbien erreichten, wurden ausschließlich in den Programmen der Acción Comunal eingesetzt. Mitte der 1960er Jahre wurde jedoch in Regierungskreisen vermehrt Kritik an dem Programm geäußert. Zunächst hatte Acción Comunal als Mittel gegolten, revo­lu­ tio­näre Umtriebe durch die verstärkte Anbindung an Staat und Regierung sowie die Erfüllung von Grundbedürfnissen zu verhindern. Doch nun verstärkte sich die Sorge, dass die Programme unerfüllbare Ansprüche weckten, Bauern und Bäuerinnen in den durchgeführten Fortbildungen unkontrollierbar politisiert würden und möglicherweise zurück in ihren Dörfern Führungspositionen in den zunehmend präsenten Guerillagruppen einnähmen.25 Der Blick auf die Gemeinde Candelaria zeigt jedoch, dass Juntas de Acción Comunal nur eine von zahlreichen Strukturen der Selbsthilfe waren, innerhalb derer Kolumbianerinnen und Kolumbianer in den ersten Jahren der Allianz für den Fortschritt und des Frente Nacional für die Entwicklung und den Fortschritt ihrer comunidades arbeiteten. Jugendliche wurden in Vereinen der Corporación Autónoma Regional del Cauca (CVC) in haus- und landwirtschaftlichen Fähigkeiten fortgebildet und waren Mitglied in zahlreichen Sportvereinen. Frauen waren in Mütterclubs organisiert, die an das Gesundheitszentrum und dessen Außenposten angebunden waren und sich mit der Verbesserung von Kindererziehung, Hygiene und Ernährung befassten, Arbeiterinnen und Arbeiter bildeten Kooperativen und es gab eine freiwillige Feuerwehr. Alle Vereine und Organisationen stellten ihre Aktivitäten und erste Ergebnisse auf Versammlungen und lokalen Festen vor, die zumeist mit Schönheitswettbewerben verknüpft waren und ab 1962 prämierte die Munizipalregierung deren Engagement auch mit zahlreichen Preisen, bspw. für die besten Schulleistungen oder herausragende Hygienemaßnahmen, und damit für zwei Bereiche, denen eine große Bedeutung für die Entwicklung der comunidad beigemessen wurde.26 Überliefert sind all diese Aktivitäten dank des Journalisten und ersten Vorsitzenden der Junta Central de Acción Comunal in Candelaria, Fernando Torres Rendón, der 1962 in einer Monografie die Leistungen der »Modellgemeinde« vorstellte und pries. Der knapp 200 Seiten lange Text zeugt nicht nur von den Räten, Vereinen und ihren Tätigkeiten, sondern auch von der Dominanz von Konzepten der Selbsthilfe und Eigeninitiative.27 Candelaria, so stellte es Torres 25 | Vgl. Karl, The Politics of International Community Development, 2008, S. 31f. 26 | Vgl. Torres Rendón, Candelaria V., 1962, S. 49f; 106f; 135f. Vgl. zur kulturellen und politischen Bedeutung von Schönheitswettbewerben in Kolumbien die jüngst erschienene historische Studie: Stanfield, Of Beasts and Beauty, 2013. 27 | Torres Rendón, Candelaria V., 1962. Hinsichtlich der Detailinformationen, die Torres Rendón festhielt, ist jedoch quellenkritische Vorsicht geboten. So erklärte er bspw. Candelaria zur »Pilotgemeinde« der CVC, eine Rolle, die dem Ort – das zeigt der Abgleich

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Rendón zu Beginn seines Kapitels über ländliche Entwicklungsprojekte dar, sei eine Modellgemeinde, in der zahlreiche Pilotprogramme in den Bereichen Gesundheit, Landwirtschaft und Bildung durchgeführt würden. Die comunidad partizipiere aktiv an diesen von regionalen und ausländischen Organisationen durchgeführten Programmen, die auf eine umfassende Verbesserung der Lebensbedingungen der Bevölkerung abzielten. Zu den Organisationen, die an der Umsetzung der Programme arbeiteten, gehörten auf kolumbianischer Seite zahlreiche Regierungsbehörden auf lokaler, regionaler und nationaler Ebene, die Universidad del Valle, das Gesundheitszentrum, der Servicio Cooperativo Interamericano de Salud Pública, die CVC und der aus Glücksspielen finanzierte staatliche Wohlfahrtsverband Beneficencia del Valle. Aber auch die Präsenz der USA als Entwicklungsakteur war in Candelaria deutlich. So waren u. a. die Rocke­feller Foundation und die Cooperative for American Relief Everywhere, Inc. (CARE) vor Ort. Torres Rendón zeigte sich über die Entwicklungen in Candelaria begeistert und stellte heraus, dass dank der Bemühungen all dieser Organisationen und der Partizipation der Einwohner und Einwohnerinnen Candelarias die Gemeinde eine spürbare Verbesserung des sozialen, ökonomischen und kulturellen Niveaus erreicht habe. Mehr noch, sie habe so einen privilegierten Platz im Konzert der fortschrittlichen Gemeinden Kolumbiens erobert. Aufgrund dessen genieße Candelaria internationale Bekanntheit und bildete die dort durchgeführte Forschung eine Grundlage für die Entwicklung anderer kolumbianischer und ausländischer Gemeinden.28 Weiterhin zeugt Torres Rendóns begeisterte Schilderung der Entwicklungsprojekte von der großen Bedeutung, die darin dem Bereich der Gesundheitsversorgung und -vorsorge beigemessen wurde, sowie von der Reichweite und Präsenz des von der Universidad del Valle übernommenen Gesund­heits­ zen­trums. So widmete er den Gesundheits- und Sanitätsprogrammen ein eigenes Kapitel und führte darin detailliert aus, wie sich das Centro Piloto für eine verbesserte Gesundheit der Bevölkerung Candelarias engagierte. Er stellte den Auf bau einer präventiv ausgerichteten medizinischen Versorgung, die außerklinische medizinische Ausbildung, hygienische Erziehungsprogramme, die Durchführung von Forschungsprojekten und eine beständige Evaluation der Arbeit und der Fortschritte als hervorstechende Merkmale des Gesund­ heits­zen­trums heraus. Letzteres verdeutlicht nicht nur den großen Stellenwert, der Kontrolle und Bewertungskatalogen zugemessen wurde, sondern verweist auch auf das allgegenwärtige Streben nach Wandel und Verbesserung, das als

mit Publikationen zur CVC – wohl nicht zukam. Vgl. Posada F., Antonio J.; Posada, Jeanne de: CVC. Un reto al subdesarrollo y al tradicionalismo, Bogotá: Ed. Tercer Mundo 1966. 28 | Vgl. Torres Rendón, Candelaria V., 1962, S. 55.

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zentrales Merkmal des Entwicklungsbegriffes charakterisiert wird.29 Torres Rendón führte zur Bedeutung des Gesundheitszentrums weiterhin aus, dass es in der comunidad die Zuversicht verbreite, zur Lösung ihrer eigenen Probleme mithilfe ihrer eigenen Fähigkeiten und Initiativen in der Lage zu sein.30 Doch die Aktivitäten der Universität in Candelaria umfassten weit mehr als die präventive und kurative Versorgung in dem Gesundheitszentrum und seinen Außenposten. Die Ärzte und Ärztinnen, Medizinstudierenden und Krankenschwestern arbeiteten mit den Mutterclubs, besuchten Schulen für Impfungen und zahnärztliche Prophylaxe, überzeugten die Bevölkerung von der Notwendigkeit, ihre Häuser gegen Malaria zu besprühen, führten Studien zur Wasser-, Abwasser- und Müllabfuhrversorgung durch und übten politischen Druck aus, um diese zu verbessern. Sie untersuchten die hygienischen Bedingungen im Theater, im Gefängnis und in allen Schulen, kontrollierten Prostituierte, bildeten Hebammen aus und bauten ein Haus zur Pflege und Erholung von kranken und unterernährten Kindern auf.31 Umfassende disziplinierende Interventionen in die comunidad wurden also mit den Appellen an die gouvernementale Selbstführung kombiniert. Die Gesundheits- und Hygieneprojekte der Universidad del Valle in Candelaria konnten dabei auf der Infrastruktur der Programme, die Anfang der 1950er Jahre von der Regierung des Departamento Valle del Cauca in enger Zusammenarbeit mit dem Servicio Cooperativo Interamericano de Salud Pública entwickelt worden waren, auf bauen.32 Diese dem Office of Inter-American Affairs (OIAA) unterstellte interamerikanische Institution war 1942 gegründet worden, entsandte US-amerikanische Berater und Beraterinnen in das kolumbianische Hygiene- bzw. Gesundheitsministerium und war besonders in den Bereichen Hygiene, Ernährung und Malariabekämpfung aktiv. Es existierte bis in die 1960er Jahre hinein, obgleich das OIAA schon 1951 aufgelöst wurde.33 Hier zeigt sich, dass es im Gesundheitsbereich in Kolumbien einen fließenden Übergang zwischen der im Zweiten Weltkrieg intensivierten interamerikani29 | Vgl. Speich Chassé, Daniel: »Fortschritt und Entwicklung, Version: 1.0«, 2012, auf: http://docupedia.de/zg/Fortschritt_und_Entwicklung#cite_ref-58 (21.06.2017). 30 | Vgl. Torres Rendón, Candelaria V., 1962, S. 81–86. 31 | Vgl. ebd. 32 | Vgl. ebd., S. 81. 33 | Vgl. Abel, Christopher: Health Care in Colombia, c. 1920–c. 1950. A Preliminary Analysis, London: Institute of Latin American Studies 1994, S. 46ff; Cueto, Marcos: »International Health, the Early Cold War and Latin America«, in: Canadian Bulletin of Medical History, 25, 1, 2008, S. 17–41, hier: S. 25f; Guzmán Urrea, Maria del Pilar: »La cooperación técnica norteamericana en salud pública en Colombia durante la Segunda Guerra Mundial«, in: Biomédica, 19, 1, 1999, S. 5–17; Quevedo V.; Hernández Alvarez; Miranda Canal, Ciencias médicas, estado y salud, 1993, S. 256f.

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schen Kooperation und der US-amerikanischen Entwicklungspolitik gab, die von der Forschung in den Kontext des beginnenden Kalten Krieges gestellt wird. Die in allen Entwicklungsländern lancierten Point-IV-Programme der Administration Harry Trumans sowie die Projekte der von John F. Kennedy gegründeten United States Agency for International Development (USAID) knüpften in Lateinamerika direkt an die in den Kriegsjahren geschaffenen interamerikanischen Strukturen und Verbindungen an.

6.2 S alud P ública und M edicatura R ural Fehlende Gesundheit und Mangelernährung, so heißt es in der Forschung, seien in Kolumbien erstmals in einem 1950 publizierten Bericht der Weltbank als Hindernis für die wirtschaftliche Entwicklung Kolumbiens bezeichnet worden. Der Bericht stellte auch die erste systematische Erfassung des kolumbianischen Gesundheitssektors dar.34 Dem Bericht war 1949, wie eingangs bereits erwähnt, eine viermonatige Reise durch Kolumbien eines vierzehnköpfigen Expertenteams unter der Leitung des New-Deal-Ökonomen Lauchlin Currie vorausgegangen. Die neu gegründete Weltbank hatte diese auf Einladung der kolumbianischen Regierung entsandt. In den späten 1940er Jahren kam solchen Beratungsmissionen internationaler Organisationen eine Schlüsselrolle bei der Definition von Entwicklungsproblemen und der Erarbeitung von Vorschlägen zu deren Lösung zu. In der Geschichte der Weltbank markiert die Mission einen Meilenstein, da erstmals ein Team mit dem Anspruch entsandt wurde, alle ökonomischen und sozialen Variablen eines Entwicklungslandes zu messen, mit dem Ziel, auf deren Grundlage einen umfassenden Entwicklungsplan zu formulieren.35 Zu diesen Variablen gehörte auch die Gesundheitsversorgung der kolumbianischen Bevölkerung bzw. das kolumbianische Gesundheitssystem. Nur gesundes und gebildetes »Humankapital«, so heißt es im Bericht, könne Kolumbien zu ökonomischem und sozialem Fortschritt führen, auch stelle Gesundheit die wichtigste Komponente des menschlichen Lebensstandards dar. Fehlende Gesundheit verringere die Produktivität und 34 | Vgl. Quevedo V.; Hernández Alvarez; Miranda Canal, Ciencias médicas, estado y salud, 1993, S. 255; Abel, Health Care in Colombia, 1994, S. 71. 35 | Zur sogenannten Misión Currie siehe Alacevich, Michele: The Political Economy of the World Bank. The Early Years, Stanford CA; Washington, D.C.: Stanford Univ. Press; The World Bank 2009; Canfora Argandoña, Elba: »La misión del Banco Mundial«, in: Economía Colombiana, 313–314, 2006, S. 32–53; Arévalo Hernández, Misiones Económicas Internacionales en Colombia, 1997; Sandilands, Roger J.: The Life and Political Economy of Lauchlin Currie. New Dealer, Presidential Adviser, and Development Economist, Durham NC: Duke Univ. Press 1990; Escobar, The Professionalization, 1989.

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zehre durch den Verlust von Arbeitszeit sowie durch die Kosten von Krankenhäusern und Sozialversicherungen an den nationalen Reichtümern und Ressourcen.36 Über die Verknüpfung mit Arbeitskraft wurde Gesundheit hier also zu einer entscheidenden Voraussetzung für eine Steigerung der kolumbianischen Wirtschaftsleistung. Dieser hier skizzierten Logik folgend kam es in den 1950er Jahren zu einem zunehmenden Ausbau der zentralstaatlichen Gesundheitsversorgung. Bis dahin waren Hygienemaßnahmen und präventive Gesundheitsprojekte in erster Linie seitens einzelner Kommunen, Unternehmen, Wirtschaftsverbände, medizinischer Akademien und Stiftungen gefordert und implementiert worden.37 Einen wichtigen Baustein im Ausbau des staatlichen Gesundheitssystems in den 1950er Jahren stellte die Reform der medizinischen Ausbildung dar, die von einzelnen kolumbianischen Universitäten in Kooperation mit US-amerikanischen Stiftungen und medizinischen Fakultäten aus den USA angestoßen wurde. So kam im Auftrag des Servicio Cooperativo Interamericano de Salud Pública 1948 eine medizinische Delegation unter der Leitung des Chirurgen G. H. Humphrey, der an der der Columbia University arbeitete, nach Kolumbien. Die Misión Humphrey strukturierte die bestehenden drei medizinischen Fakultäten Kolumbiens um und leitete die Gründung dreier neuer Fakultäten ein, wobei die Gründung der Fakultät an der Universidad del Valle 1951 als wichtigstes Ergebnis der Empfehlungen der US-amerikanischen Mediziner und Medizinerinnen gilt. Sie sollte zum Modell einer auf salud pública ausgerichteten medizinischen Fakultät werden. Zudem führte die kolumbianische Regierung auf Empfehlung der Delegation die sogenannte medicatura rural ein. Dabei handelte es sich um eine Reform des Medizinstudiums, die angehende Ärztinnen und Ärzte dazu verpflichtete, im Anschluss an ihre Facharztausbildung für ein Jahr in der ländlichen Gesundheitsversorgung zu arbeiten. Ebenfalls in den Kontext interamerikanischer Kooperationen ist der als Lapham36 | Currie, Lauchlin: The Basis of a Development Program for Colombia. Report of a Mission headed by Lauchlin Currie and sponsored by the International Bank for Re­c on­ struction and Development in collab. with the Government of Colombia, Washington, D.C. 1950, S. 168. Auch die kolumbianische Geburtenrate wurde innerhalb des Kapitels zu Gesundheit abgehandelt. Currie nannte die offiziellen statistischen Zahlen (30,2 bis 33,8 Geburten pro tausend Einwohner und Einwohnerinnen pro Jahr) der kolumbianischen Regierung und setzte diese mit der Sterberate des Landes in Zusammenhang, zu denen die Weltbank-Mission in einzelnen Städten eigene Berechnungen angestellt hatte. Currie diagnostizierte den Kolumbianern und Kolumbianerinnen eine »niedrige Lebenserwartung«, die in Kombination mit der »hohen« Geburtenrate zu einem Verhältnis von vier finanziell Abhängigen zu einer erwachsenen Arbeitskraft führe, was die »Pro-Kopf-Produktivität natürlich reduziere«. Ebd., S. 173f. 37 | Siehe hierzu Abel, Health Care in Colombia, 1994.

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Mission bekannte Besuch dreier US-amerikanischer Ärzte einzuordnen, die auf Einladung der Universidad Nacional 1953 nach Kolumbien reisten und auf den die Gründung des Verbandes der medizinischen Fakultäten Kolumbiens zurückgeht, die 1955 beschlossen wurde. Systematisiert wurde die Reform der medizinischen Ausbildung in Kolumbien nach US-amerikanischem Vorbild dann durch eine Kooperation der University of Tulane mit allen medizinischen Fakultäten Kolumbiens von 1957 bis 1964.38 Mit den hier nur skizzierten Veränderungen in der medizinischen Ausbildung sowie dem Ausbau der öffentlichen Gesundheitsversorgung erfuhr auch der Arztberuf einen Bedeutungswandel. Selbsternannte Pioniere der salud pública, wie z. B. der Kreis um den ersten Dekan der medizinischen Fakultät Gabriel Velázquez Palau an der Universidad del Valle, stilisierten sich als ein neuer Typ Arzt und ebendiesen sollten die Studienreformen hervorbringen. Welche Eigenschaften und Kenntnisse diesen idealtypisch charakterisieren, formulierte Velázquez Palau 1964 im Nachklang der dritten Generalversammlung von ASCOFAME, die 1963 unter dem Titel Medizin und soziale Entwicklung: Der Beitrag der medizinischen Ausbildung zur ökonomisch-sozialen Entwicklung stattgefunden hatte. Demnach sollte der »médico para la comunidad« über eine solide wissenschaftliche Ausbildung verfügen und dazu in der Lage sein Patientinnen und Patienten in der Klinik empathisch zu behandeln. Diese müsse er darüber hinaus als Teil einer Familie und comunidad begreifen, wozu ihn die Ausbildung in präventiver Medizin und salud pública befähige. Zudem sei es seitens der angehenden Ärzte und Ärztinnen erforderlich, mit den spezifischen Gesundheitsproblemen der ländlichen Bevölkerung in Berührung zu kommen. Dem sei eine interdisziplinäre Ausbildung, die auch Kenntnisse aus der Soziologie und Anthropologie sowie Elemente des community development umfasse, dienlich. Für den ländlichen Bereich sei es weiterhin notwendig, dass die medizinische Ausbildung auch darauf ausgerichtet sei, mit Personal der Ingenieurswissenschaften, Zahnmedizin, Krankenpflege und Labortechnik sowie mit medizinischem Hilfspersonal zusammenzuarbeiten.39 Die Frage, welche Rolle Mediziner und Medizinerinnen im Entwicklungsprozess Kolumbiens einnehmen sollten, diskutierte Velázquez Palau auch regelmäßig mit seinen Kollegen der Rocke­feller Foundation. 40 Diese teilten seine Überzeugung, 38 | Vgl. Quevedo V.; Hernández Alvarez; Miranda Canal, Ciencias médicas, estado y salud, 1993, S. 256–269. 39 | Velázquez Palau, Gabriel: »Un médico para la comunidad«, in: ASCOFAME (Hg.): Medicina y desarrollo social. La contribución de la educación médica a la tarea del desarrollo económico-social, Bogotá: Ed. Tercer Mundo 1964, S. 129–134. 40 | Auf regelmäßige Diskussionen zu dem Thema zwischen Gabriel Velázquez Palau, Guy S. Hayes und ihm verwies zumindest der field officer der Rocke­f eller Foundation Joe D. Wray. Vgl. Wray, Notes on Colombia 1963, Columbia HS A&S, S. 139.

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dass ein »Kern intelligenter und sozialverantwortlicher Bürger und Bürgerinnen« die richtige »Medizin« für die »kränklichen« comunidades darstellte und es die Aufgabe der Universität war, solche Ärzte und Ärztinnen auszubilden. 41 Hier wurde der Arzt selbst also zur Medizin. In den hierfür erforderlichen Kontakt mit der ländlichen Bevölkerung konnten die Studierenden seit 1949 im Rahmen der einjährigen medicatura rural treten. Die Übernahme des Gesundheitszentrums in Candelaria und seiner Außenposten durch die Abteilung für Präventivmedizin der Universidad del Valle im Jahr 1958 wird in deren Chronik in einen direkten Zusammenhang mit der medicatura rural gestellt. So handelte Gabriel Velázquez Palau mit dem Gesundheitsministerium aus, dass die residentes der Universidad del Valle, statt die einjährige medicatura rural in einem staatlichen Gesundheits­ zentrum zu absolvieren, vier Monate in Candelaria arbeiten konnten. 42 Der 30 Kilometer von Cali entfernte Ort konnte als »semi-rural« eingestuft werden und war nahe genug gelegen, um von Cali aus täglich erreicht werden zu können. 43 Die Professoren hatten also die Möglichkeit, den ländlichen Teil der Ausbildung ihrer residentes zu begleiten, ohne dafür nach »Sibirien« reisen zu müssen, wie es der Mitarbeiter der Rocke­feller Foundation Guy S. Hayes for ­mu ­l ierte. 44 Die Frage, inwiefern es gelang, die Studierenden aus der städtischen Mittel- und Oberschicht für die Gesundheitsprobleme der comunidad zu sensibilisieren und bei ihnen Empathie für die ländlichen Unterschichten zu wecken, bildete seitens der Experten und Expertinnen vor Ort den Kern ihrer Bewer41 | Ebd., S. 140. 42 | Vgl. Henao Cabal, Crónica, 1996, S. 61f. Als residentes werden in den Quellen die Ärztinnen und Ärzte bezeichnet, die in Candelaria ihre medicatura rural absolvierten. 43 | Die in den Quellen zu Candelaria vielfach verwendete Bezeichnung »semi-rural« rührt daher, dass die Gemeinde (municipio) Candelaria sowohl den gleichnamigen Verwaltungskern (cabecera municipal) als auch mindestens fünf kleine Dörfer umfasste. Henao Cabal gibt dies als weiteren Grund dafür an, dass sich die Universität für Candelaria als ›Laboratorium‹ entschied: In unmittelbarer Nähe konnten hier Gesundheitsunterschiede zwischen der urbanen und ruralen Bevölkerung statistisch erfasst und analysiert werden. Die Bevölkerungsgröße der gesamten Gemeinde wird im Jahresbericht des Gesundheitszentrums von 1962 auf knapp 22.000 geschätzt, in einem Zensus der cabecera, den die Abteilung für Präventivmedizin 1960 durchführte, wurden 3.363 Einwohnerinnen und Einwohner gezählt. Vgl. Peñaloza, Carlos A.: Informe de actividades del Centro Piloto de Salud. Año de 1963, Candelaria 1964; Universidad del Valle: Censo de población de la cabecera del municipio de Candelaria (Departamento del Valle), Cali 1960. 44 | Diary of Dr. Guy S. Hayes 1958–1960: RAC, RF, 12.3 Officer’s Diaries, Hayes, Guy Scoll, Box 211, S. 15.

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tung des Erfolgs oder Misserfolgs im ›Gesundheitslabor‹ Candelaria. Das zeigt sich beispielsweise in einer Diskussion um die »Casa de Recuperación Nutricional Infantil«, kurz Casita, einer Einrichtung, in der unternährte Kinder gepflegt wurden, zwischen den beiden in Candelaria stationierten Mitarbeitern der Rocke­feller Foundation Guy S. Hayes und John D. Wray. Während Wray Enttäuschung über fehlende Erfolge in der Casita kommunizierte, warf Hayes ihm vor, dass er zu pessimistisch sei: Die Casita sei durchaus ein erfolgreiches Projekt, an keinem zweiten Ort würden die residentes so sehr für die Bevölkerung sensibilisiert wie dort. 45 Solch eine positive Einschätzung ist jedoch auch bei Hayes eine Seltenheit. Weitaus häufiger findet sich in seinen Aufzeichnungen und in den Jahresberichten des Gesundheitszentrums die Klage, das Zentrum verfehle sein Ziel, da die residentes zu viel Zeit mit Behandlungen und zu wenig mit gesundheitsfördernden Aktivitäten verbrächten. Zudem reisten die Fakultätsmitglieder zu selten nach Candelaria, die residentes seien sich selbst überlassen und ließen sich einfach nicht für präventive Medizin und die Bevölkerung Candelarias interessieren. 46 Leider sind weder seitens der zukünftigen Ärztinnen und Ärzte noch seitens der Einwohnerinnen und Einwohner Candelarias Quellen überliefert, die deren Perspektive auf das Zusammenleben im ›Laboratorium‹ schildern. 47 Die Klagen über den Zustand des Gesundheitszentrums und die fehlende Motivation der residentes zeigen, wie sehr sich die Außendarstellung der in Candelaria erzielten Erfolge davon unterschied, was die field officers über ihre täglichen Erfahrungen vor Ort niederschrieben. In diesen Quellen verwandelt sich die tatkräftig miteinander an der eigenen Entwicklung wirkende ›Modellgemeinde‹ Candelaria aus der Beschreibung von Fernando Torres Rendón in einen Ort mit widerspenstigen und entwicklungsresistenten Bewohnerinnen und Bewohnern, in dem die Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen Räten und Gruppen in erster Linie von Konflikten geprägt war. Zudem sind 45 | Diary of Dr. Guy S. Hayes 1963: RAC, RF, 12.3 Officer’s Diaries, Hayes, Guy Scoll, Box 212, S. 103. 46 | Vgl. ebd., S. 9f; Peñaloza, Carlos A.; Lourido, Eduardo: Informe de actividades del Centro Piloto de Salud. Año de 1962, Candelaria 1963, S. 35f. 47 | Insgesamt muss zu den Quellen über Candelaria festgehalten werden, dass die Arbeit der field officers der Rocke­f eller Foundation am besten dokumentiert ist, was vor allem den Feldtagebüchern geschuldet ist, die diese für ihre Vorgesetzten in New York führten. Diesen an persönlichen Einschätzungen ihrer Arbeit und Erfahrungen sehr reichen Texten stehen auf kolumbianischer Seite weitaus trockenere Berichte des Gesundheitszentrums und einige Forschungsberichte gegenüber. Zahlreiche Auswertungen der vielen in Candelaria durchgeführten Studien zu Gesundheit und Bevölkerung, auf die sich Hinweise in diesen Publikationen finden, sind jedoch leider nicht in den Archiven und Bibliotheken der Universidad del Valle überliefert.

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die Arbeitstagebücher und Jahresberichte voller Beschwerden über fehlendes Personal und fehlende Mittel, was die Umsetzung der hochgesteckten Ziele unmöglich machte. 48 Innerhalb der Rocke­feller Foundation sei Candelaria hingegen jahrelang als das erfolgreichste Stiftungsprojekt aus dem Bereich »community-medicine« angesehen worden, ein Eindruck, den auch außenstehende Beobachter und Beobachterinnen geteilt hätten, wie es zwei Stiftungsmitarbeiter 1993 retrospektiv formulierten. 49 Die field officers vor Ort berichteten in den frühen 1960er Jahren hingegen von derart vielen Schwierigkeiten, dass ihnen aus der Zentrale der Vorwurf gemacht wurde, ihre Berichterstattung zu ausführlich und pessimistisch zu halten. So heißt es in einem Brief des Leiters der Medical and Natural Sciences Division der Rocke­feller Foundation Robert S. Morison an Joe D. Wray in Cali im Februar 1963, manchmal habe er den Eindruck, dass sich in Cali alle Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen in introvertierte Philosophen und Philosophinnen verwandelten.50 In der Tat verfasste gerade Joe D. Wray im Verhältnis zu seinen Kollegen sehr lange Einträge für sein Arbeitstagebuch. Zudem schweifte er thematisch oft ab und beurteilte die Nützlichkeit der Programme und der Entwicklungschancen Kolumbiens wiederholt negativ. Seine Aufzeichnungen lassen sich in ein »Narrativ des Scheiterns« einordnen, das die Historiker Hubertus Büschel und Daniel Speich als »immer wiederkehrende Redeweise« in der Geschichte der Entwicklungshilfe herausgearbeitet haben. Diese Redeweise sei vor allem von »Experten, die im Gestus des unmittelbar persönlichen Erlebens, sozusagen in der doppelten Ex48 | Vgl. u. a. Diary of Dr. Guy S. Hayes 1965, RAC, S. 99; Peñaloza; Lourido, Informe de actividades del Centro, 1963. 49 | So heißt es in einem Rückblick auf das University Development Program (UDP) der Rocke­f eller Foundation aus den 1990er Jahren: »MNS [Medical and Natural Sciences] officers and many outside observers considered the Candelaria program the most successful of the Foundation’s community-medicine efforts, and through the life of the UDP it enjoyed the mystique of being the model to be universally emulated.« Coleman; Court, University Development, 1993, S. 47. 50 | Zwar formulierte Morison keinen Gegenentwurf, doch ist davon auszugehen, dass ihm Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen vorschwebten, die technische und rationale Lösungen entwickelten und umsetzten. Vgl. Robert S. Morison an Joe D. Wray, New York, 21.02.1963: Columbia HS A&S, JDW, Box 13, Folder 3. Wray hatte schon vor Erhalt des Briefs Stellung zu diesen Vorwürfen bezogen, die über seinen Kollegen Hayes an ihn herangetragen worden waren. Er rechtfertigte den kritischen Ton seiner Berichte und beschwerte sich im Gegenzug über Besucher und Besucherinnen, die nur für zwei Tage kämen, die Programme in Candelaria kurz besichtigten und über deren Probleme nichts wissen wollten. Langfristig könne das Projekt jedoch nur mit ehrlicher Selbstkritik erfolgreich sein. Vgl. Joe D. Wray an Virgil C. Scott, 02.02.1963: Columbia HS A&S, JDW, Box 2.

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pertise des Entwicklungsexperten und des Augenzeugen« schrieben, verwendet worden und auf deren »Überzeugung von den eigenen zivilisatorischen Fähigkeiten und [die] Geringschätzung des Wissens der Empfänger« zurückzuführen.51

6.3 E rnährung und L andwirtschaf t Der Kinderarzt Joe D. Wray war von 1961 bis 1966 für die Rocke­feller Foun­ da­tion an der Universidad del Valle tätig. Zuvor hatte ihn die Stiftung in die Türkei entsandt, und im Anschluss an seinen Aufenthalt in Cali wurde er nach Thailand versetzt. In seiner Funktion als field officer der Rocke­feller Founda­ tion war er sowohl Gastprofessor der medizinischen Fakultät der Universidad del Valle als auch damit beauftragt, die Interessen der Stiftung zu vertreten und über den Fortschritt der von ihr mitfinanzierten Programme zu berichten.52 Wenige Wochen nach seiner Ankunft in Kolumbien im Oktober 1961 notierte Wray, seine ersten Untersuchungen in Candelaria hätten gezeigt, dass die größten Gesundheitsprobleme der dort lebenden Kinder fehlende Impfungen sowie Unterernährung seien. Er forderte daher, eine eigene Kinderklinik mit Ernährungsprogrammen einzurichten, in der gleichzeitig die Wirkung und Nützlichkeit verschiedener Nahrungszusätze getestet werden sollte.53 Ein Jahr später wurde die Casita eingerichtet, um unterernährte Kinder zu pflegen und ihre Mütter in Ernährungs- und Hygienefragen zu schulen. Die pädiatrische Forschung in Candelaria fußte in den darauffolgenden Jahren sowohl auf flächendeckenden Untersuchungen aller Kleinkinder der cabecera, also des städtischen Kerns der Gemeinde (municipio), als auch auf der Arbeit mit als unterernährt geltenden Kindern aus der Casita und den daran anschließenden Programmen.54 Studien, die Wray gemeinsam mit seinem kolumbianischen 51 | Büschel; Speich, Einleitung, 2009, S. 11f. 52 | Die Universitätsentwicklung wurde auch jenseits der medizinischen Fakultät von der Rocke­feller Foundation umfangreich gefördert. Zur Prominenz der Universidad del Valle innerhalb des University Development Program der Rocke­f eller Foundation siehe Kapitel 3.1. 53 | Wray, Joe: Notes on Colombia. 1961: Columbia HS A&S, JDW, Box 2, S. 20ff. Eine transnationale Forschungsgruppe, die zu Ernährung arbeitete, hatte es an der Abteilung für Präventivmedizin auch schon vor Wrays Ankunft gegeben. Hayes attestierte dieser jedoch, an den Gesundheitsproblemen der Region vorbeizuforschen. Vgl. Diary of Dr. Guy S. Hayes 1958–1960, RAC, S. 1f. 54 | Vgl. Aguirre, Alfredo; Wray, Joe: Dinámica de la desnutrición en Candelaria. Primer Informe, Cali 1967. Wray dienten die Zahlen aus Candelaria auch als Grundlage für seine Masterarbeit an der University of North Carolina. Vgl. Wray, Joe: Malnutrition and

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Kollegen Alfredo Aguirre durchführte, führten zu dem alarmierenden Befund, dass über 40 Prozent der Vorschulkinder Candelarias als unterernährt einzustufen waren.55 Dieser Befund beruhte auf einer einflussreichen Klassifikation von Normalgewicht und Unterernährung, die eine Forschungsgruppe um den mexikanischen Kinderarzt Federico Gómez am Hospital Infantíl de México in den 1950er Jahren entwickelt und mit der Wray auch schon in der Türkei gearbeitet hatte.56 Die Kinderärzte des Gesundheitszentrums begegneten der frühkindlichen Unterernährung einerseits mit Kursen für deren Mütter, in denen ihnen beigebracht wurde, ihre Kinder ausgewogen und vor allem proteinreich zu ernähren und dies durch den Anbau von Gemüse oder die Aufzucht von Kaninchen zu garantieren.57 Andererseits wurde in der Casita Milchpulver an die Eltern ausgegeben, das von CARE finanziert und importiert wurde.58 Unklar bleibt auf Grundlage der vorliegenden Quellen, ob dort neben Milchpulver auch in Kolumbien hergestellte Proteinprodukte auf Pflanzenbasis verwendet wurden, an deren Entwicklung seit den 1950er Jahren vor allem am Instituto de Nutrición de Centroamérica y Panama (INCAP) in Guatemala geforscht wurde. Ab den späten 1960er Jahren wurden diese Proteinprodukte auch in Kolumbien hergestellt und als Colombiarina und Bienestarina in Ernährungsprogrammen unter dem Dach des Instituto Colombiano de Bienestar Familiar verwendet.59 Das Original, die am INCAP produzierte Incaparina, wurde – entDiarrhea. The Evidence from Candelaria. Masterarbeit, Chapel Hill NC: Univ. of North Carolina 1967. 55 | Vgl. Aguirre; Wray, Dinámica de la desnutrición, 1967, S. 17. 56 | Vgl. Gómez, Federico et al.: »Mortality in Second and Third Degree Malnutrition«, in: Journal of Tropical Pediatrics, 2, 2, 1956, S. 77–83. Zur Bedeutung, die die von Gómez und seinem Team entwickelte Klassifikation in den Ernährungswissenschaften und der Pädiatrie entwickelte, siehe Onis, Mercedes de: »Measuring Nutritional Status in Relation to Mortality«, in: Bulletin of the World Health Organization, 78, 10, 2010, S. 1271–1274. Für eine historische Kontextualisierung der ernährungswissenschaftlichen Forschung am Hospital Infantil de México siehe Zazueta, Maria del Pilar: Milk against Poverty. Nutrition and the Politics of Consumption in Twentieth-Century Mexico. Dissertation, New York: Columbia University 2011, S. 103–118. 57 | Vgl. Henao Cabal, Crónica, 1996, S. 76ff. 58 | Zur Präsenz von CARE in Kolumbien siehe Wieters, Ever tried – ever failed?, 2015. 59 | Vgl. Fajardo, Luis: »Apuntes de la historia de la nutrición en Colombia«, in: Bourges R., Héctor; Bengoa, José M.; O’Donnell, Alejandro M. (Hg.): Historias de la nutrición en América Latina, Sociedad Latinoamericana de Nutrición 2005, auf: http://www.funda cionbengoa.org /publicaciones/images/414/HistoriasNutrición.pdf (19.06.2017), S. 143–174, hier: S. 151. Laut Fajardo war an der Entwicklung von Colombiarina auch ein Forscher der Universidad del Valle beteiligt.

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gegen der Ratschläge internationaler Organisationen wie UNICEF, die auf den Import von Milchpulver setzten – mit dem Ziel entwickelt, die Abhängigkeit von diesen Importen zu verringern, und gilt daher als Erfolg regionaler Wissensproduktion und Forschung.60 Auch wenn nicht klar ist, ob in Candelaria Proteinprodukte verwendet wurden, zeigen die Publikationen der dort tätigen Kinderärzte, dass sie die Forschungsprojekte des INCAP rezipierten.61 Joe D. Wray und Guy S. Hayes waren zudem auch schon 1963, als Incaparina erst seit zwei Jahren auf dem Markt war, mit der US-amerikanischen Firma Quaker Oats im Gespräch, die von INCAP die Lizenz erhalten hatte, Incaparina für den kolumbianischen Markt herzustellen. Hayes diskutierte mit einem Vertreter von Quaker Oats, welche Institutionen für den lokalen Verkauf von Incaparina geeignet seien, und wollte vermeiden, den Verkauf für Candelaria über das Gesundheitszentrum zu organisieren. Er befürchtete, dass ein potenzieller Preisanstieg der Reputation des Zentrums schaden könnte. Die Casita hielt er hingegen für geeignet.62 Wray wiederum berichtete in seinem Arbeitstagebuch, dass unter dem Gesundheitspersonal mit Sorge auf das Quaker-OatsMonopol geblickt werde. Konkret befürchteten die kolumbianischen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, dass es zu einem schnellen Preisanstieg kommen werde. Daher sei aus seiner Sicht überraschend vehement gefordert worden, weitere Produkte zu entwickeln, was auch Wray für eine gute Idee hielt. Insgesamt berichtete er recht euphorisch über die Entwicklung verschiedener Proteinprodukte und deren Einsatz in Ernährungsprogrammen.63 Die hier nur angedeutete Rolle des multinationalen Konzerns Quaker Oat als Hersteller von ›Entwicklungsprodukten‹ verweist auf die kaum erforschte Rolle privatwirtschaftlicher Akteure innerhalb der Herausbildung von Entwicklungswissen und -politik. Auch gehören die Bemerkungen Hayes’ und Wrays zu den wenigen Stellen in ihren Feldtagebüchern, an denen sie ›Unterentwicklung‹ – hier konkret Unterernährung – mit wirtschaftlichen und politischen Strukturen in Verbindung brachten. Dabei äußern die Mitarbeiter der Rocke­feller Foundation jedoch keine Kritik an der Armut der Eltern 60 | Das INCAP war 1949 unter dem Dach der Oficina Sanitaria Panamericana (OPS) eingerichtet worden. Vgl. zum INCAP und zu Incaparina Pernet, Corinne: »Between Entanglements and Dependencies. Food, Nutrition, and National Development at the Central American Institute of Nutrition (INCAP)«, in: Frey, Marc; Kunkel, Sönke; Unger, Corinna R. (Hg.): International Organizations and Development, 1945–1990, London: Palgrave Macmillan 2014, S. 101–125. 61 | Vgl. beispielhaft Wray, Joe; Aguirre, Alfredo: »Proteine-Calorie Malnutrition in Candelaria, Colombia. I. Prevalence; Social and Demographic Causal Factors«, in: Journal of Tropical Pediatrics, 15, 3, 1969, S. 76–98. 62 | Vgl. Diary of Dr. Guy S. Hayes 1963, RAC, S. 111. 63 | Vgl. Wray, Notes on Colombia 1963, Columbia HS A&S, S. 65f.

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unterernährter Kinder oder beschäftigen sich mit deren Ursachen, sondern verweisen auf Dritte – Kolumbianerinnen und Kolumbianer – von denen solch eine Kritik zu befürchten sei. Diese fehlende Auseinandersetzung mit wirtschaftlichen Strukturen fügt sich in den ›unpolitischen‹ und technischen Entwicklungsdiskurs, der das Agieren der Stiftung prägte. Das Credo galt selbst dann, wenn das Bewusstsein für politische Strukturen vorhanden war. So ist hinsichtlich ihrer Analyse der kolumbianischen Landwirtschaftsstrukturen von der Historikerin Rebecca Tally treffend formuliert worden, dass die Arbeit der Rocke­feller Foundation im Colombian Agricultural Program (CAP) von zwei unumstößlichen Vorannahmen geprägt war: Erstens, dass die Landverteilung in Kolumbien ein hohes Konfliktpotenzial barg und der Ernährungsversorgung der Bevölkerung im Weg stand, und zweitens, dass sich die Stiftung dem Thema Landverteilung nicht annehmen und daher ausschließlich auf technische Hilfe, sprich die Entwicklung von Saatgut und die Ausbildung kolumbianischer Agronomen und Agronominnen, setzen würde.64 Das CAP war einer der Versuche, die in Mexiko begonnene sogenannte Grüne Revolution in weitere Länder zu exportieren. Es begann mit einem 1950 geschlossenen Vertrag zwischen der kolumbianischen Regierung und der Rocke­feller Foundation und bestand für knapp zwei Jahrzehnte. Das Ziel war es, wie schon in Mexiko, durch die Entwicklung neuen Saatguts und die Ausbildung neuer Agrarwissenschaftler und -wissenschaftlerinnen die Produktivität der Landwirtschaft, insbesondere im Bereich von Grundnahrungsmitteln, zu erhöhen. Auch wenn das Programm mit dem Anspruch verknüpft war, Kleinbauern und -bäuerinnen zu unterstützen, profitierten davon in Kolumbien wie in Mexiko in erster Linie Großgrundbesitzer und -besitzerinnen und die industrielle Landwirtschaft, da die technischen Neuerungen für Kleinbauern und -bäuerinnen nicht erschwinglich waren.65 Obgleich Ernährung die Schnittmenge zwischen den Stiftungsaktivitäten im Landwirtschafts- und Gesundheitssektor bildete und die Stiftung in beiden Bereichen in Kolumbien aktiv war, sind in der gesundheitspolitisch motivierten Problematisierung von Unterernährung kaum Verknüpfungen mit dem landwirtschaftlichen Wissen über Saatgut, Produktivität und Ernährung 64 | Vgl. Tally, Rebecca: »No Question of Politics Ever Arose. Science, Violence, and Agriculture in Colombia, 1949–1969«, in: Anamesa, 2, 1, 2004. 65 | Vgl. Kelly, Strategic Philanthropy, 2013, S. 207–219. Zur Grünen Revolution in Mexiko siehe Cullather, Nick: The Hungry World. America’s Cold War Battle against Poverty in Asia, Cambridge MA; London: Harvard Univ. Press 2010, S. 43–71; Cotter, Joseph: »The Rocke­f eller Foundation’s Mexican Agricultural Project. A Cross-Cultural Encounter 1943–1949«, in: Cueto, Marcos (Hg.): Missionaries of Science. The Rocke­f eller Foundation and Latin America, Bloomington IN; Indianapolis IN: Indiana Univ. Press 1994, S. 97–125.

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vorhanden. Neben auffällig wenigen diskursiven Verbindungen gibt es in den Arbeitstagebüchern der Public-Health-Experten Joe D. Wray und Guy S. Hayes keinerlei Hinweise auf Kontakte zu der nahe gelegenen und renommierten Fakultät für Agronomie der Universidad Nacional in Palmira, obgleich sie in den 1950er Jahren von der Rocke­feller Foundation umfangreich gefördert worden war und die Städte Palmira und Cali nicht weit voneinander entfernt sind.66 Die verschiedenen Förderbereiche der Stiftung agierten also offenbar isoliert voneinander. An Ernährungsfragen lässt sich nicht nur aufzeigen, wie isoliert Prozesse in der Stiftungsarbeit typischerweise abliefen, sondern auch, wie unterschiedlich ›Hilfe zur Selbsthilfe‹ verstanden werden konnte. So zeigte sich Wray wiederholt empört darüber, dass Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Milchausgabe diese nur als Mittel ansahen, um Mütter für Schulungen anzulocken, es aber im Grunde ablehnten, die Milch wie »Almosen« zu verteilen. Besonders beklagten sie sich, wenn Frauen nur kamen, um das Milchpulver zu holen, aber nicht an den Ernährungskursen teilnahmen. Wray hingegen, so seine Darstellung, sah Milchpulver als Medizin an, und diese könne Patienten und Patientinnen nicht vorenthalten werden. Auch in seinen Augen problematisch war jedoch, dass es teils nicht gelang, den Müttern die Verwendung ihrer ›traditionellen‹ Lebensmittel auszureden. Anstatt das Milchpulver ihren Kindern zu geben, tränken es die Väter oder verkauften es die Mütter an reiche Frauen aus der Stadt weiter, um mit dem Geld erneut das ihnen bekannte »colada de plátano« aus Kochbananen und Wasser zuzubereiten.67 Hier zeigt sich, dass die Frauen und Männer, deren Lebensgewohnheiten und Verhalten durch Entwicklungshilfe verändert werden sollten, die Möglichkeiten, die ihnen diese Hilfe bot, kreativ nutzten, ohne das erwünschte Verhalten anzunehmen. Ähnliche Klagen gab es in den folgenden Jahren über die Frauen, die zwar Verhütungsmittel verwenden, aber keine Familienplanungskurse besuchen wollten.68 Solche Momente des Widerstands gegen das erzieherische Moment der gesundheitspolitischen Interventionen, die die Absicht der ›Hilfe zur Selbsthilfe‹ unterliefen, wurden seitens der Mediziner und Medizinerinnen meist damit rationalisiert, dass es sich bei diesen ›modernisierungsresistenten‹ Menschen um ganz besonders arme und ungebildete Frauen und Männer handelte oder kommunistische Agitatoren von ›außen‹ im Spiel waren. Die Informationen darüber drangen durch Hörensagen an die Mitarbeiter der Rocke­feller Foundation heran.69 Hier zeigt sich die allgegenwärtige Sorge vor kommunis66 | Zur Förderung der Fakultät für Agronomie der Universidad Nacional in Palmira vgl. Kelly, Strategic Philanthropy, 2013, S. 209. 67 | Wray, Notes on Colombia 1963, Columbia HS A&S, S. 120ff. 68 | Vgl. Aguirre, Análisis de las primeras cien, 1965. 69 | Vgl. Diary of Dr. Guy S. Hayes 1961, RAC, S. 22ff.

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tischer Einflussnahme und ›revolutionären Umtrieben‹ in den comunidades und die Verknüpfung von entwicklungs- und sicherheitspolitischen Zielen auf lokaler Ebene. Gleichzeitig wird sichtbar, dass im Selbstverständnis der Entwicklungsakteure und -akteurinnen fehlende Kooperation mit ihren Projekten, die ja dem vermeintlich objektivierbaren Wohlergehen der comunidades dienen sollten, nicht ›rational‹ erklärbar schien. Die Ernährungsprogramme in Candelaria richteten sich zunächst an die Familien, deren Kinder in der Casita aufgenommen wurden, nach zwei Jahren wurde das Projekt jedoch beendet und stattdessen versucht, durch Hausbesuche zu identifizieren, in welche Familien mit Ernährungshilfen interveniert werden sollte, um somit sowohl eine größere Anzahl von Kindern zu erreichen als auch stärker präventiv zu arbeiten. Zuständig dafür waren sogenannte promotoras de salud, sprich vom Gesundheitszentrum ausgebildete freiwillige Gesundheitsmultiplikatorinnen. Dieses sehr kostengünstige Modell wurde nach dem Ende der universitären Präsenz in Candelaria 1974 in Stadtvierteln Calis weiterentwickelt und unter dem Akronym PRIMOPS, das für Programa de Investigación en Modelos de Prestación de Servicios de Salud steht, bekannt.70 PRIMOPS habe, so stellt es einer der beteiligten Ernährungswissenschaftler rückblickend dar, das 1975 in Kraft getretene Nationale Gesundheitssystem (Sistema Nacional de Salud, SNS), dessen Fokus auf ›primärer‹ Versorgung lag, entscheidend beeinflusst.71 Hier zeigt sich die Verzahnung zwischen den von der Universidad del Va­ lle betriebenen lokalen Gesundheits- und Ernährungsprojekten in Candelaria und Cali und Transformationen dieser Politikbereiche auf zentralstaatlicher Ebene. In den Arbeitstagebüchern der Mitarbeiter der Rocke­feller Foundation, deren Aufzeichnungen auf kein vertieftes Verständnis der politischen Strukturen oder Entwicklungen Kolumbiens hindeuten, bleiben diese Verbindungen jedoch unsichtbar. Die Notizen erwecken zumeist den Eindruck innovativer und experimenteller Arbeit auf lokaler Ebene, die nicht im Zusammenhang mit übergreifenden Strukturen stand. Diese Verbindungen zeigen sich jedoch in der Literatur zu Ernährungsforschung und -programmen in Kolumbien. So wurden seitens des 1963 gegründeten Instituto Nacional de Nutrición, dessen Vorläufer schon 1947 konstituiert worden war, in verschiedenen Regionen des 70 | Siehe hierzu Aguirre, Alfredo: Atención a la madre y al niño menor de 5 años con énfasis en la atención primaria, Cali: Universidad del Valle, División de Salud 1978; Drake, William D.; Fajardo, Luis; Miller, Roy I.: The Promotora Program in Candelaria, Washington, D.C.: U.S. AID 1980; Nystuen, John D.: The PRIMOPS Experience. Information Processing in the Design and Performance of a Health Care System, Washington, D.C.: U.S. AID 1980. 71 | Vgl. Fajardo, Apuntes de la historia, 2005, S. 150. Zum SNS siehe Kapitel 6 in Hernández Alvarez; Obregón; Miranda Canal, La OPS y el Estado colombiano, 2002.

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Landes Erholungszentren für unterernährte Kleinkinder gegründet und zum Verhältnis von Unterernährung und kindlicher Entwicklung sowie zur Erstellung spezifisch kolumbianischer Gewichts- und Größentabellen von Kindern geforscht. An einigen dieser Projekte waren die Forscherinnen und Forscher der Universidad del Valle direkt beteiligt. Sie gelten daher als Teil der Avantgarde, die schon in den 1960er Jahren Unterernährung nicht mehr primär als Gesundheits-, sondern auch als Entwicklungsproblem konzipierte und damit eine Verbindung vorbereitete, die in den 1970er Jahren auf internationaler und nationaler Ebene zum Paradigma »Food and Nutrition Policy and Planning« erhoben werden sollte.72 Kolumbien war das erste Land der Welt, das, entsprechend der darunter gefassten Leitlinien, Ernährung ins Zentrum der Entwicklungsplanung rückte. Der Plan de Alimentación y Nutrición (PAN), den die kolumbianische Regierung 1974 in Kraft setzte, war in enger Zusammenarbeit mit zahlreichen internationalen Organisationen wie der Welternährungsorganisation FAO, der UNESCO und der Panamerikanischen Gesundheitsorganisation sowie mit einem für den lateinamerikanischen Raum geschaffenen Institut zur Förderung der nationalen Nahrungsmittel- und Ernährungspolitik entstanden. Er spiegelt eine neues und in erster Linie vom Massachusetts Institute of Technology (MIT) und der Weltbank entworfenes Instrumentarium zur zentralstaatlichen Planung von Landwirtschaft und Ernährung wider. Zudem muss er vor dem Hintergrund internationaler Debatten zu Ernährungs­ sicherheit in der Folge der sogenannten Welthungerkrise von 1974 eingeordnet werden, bei der es insbesondere in afrikanischen Ländern zu verheerenden Hungersnöten kam. Darüber hinaus steht der Ernährungsplan auch in einem Zusammenhang mit dem Abbau US-amerikanischer Lebensmittelhilfen für Kolumbien, die das Land seit Mitte der 1950er Jahre erreicht hatten.73

6.4 D ie medizinische ›E ntdeckung des B e völkerungsproblems ‹ Die im Zusammenhang mit PAN formulierte Einschätzung, wonach die an der Universidad del Valle und anderen Instituten in den 1960er Jahren durchgeführten Studien erstmalig Fragen von Ernährung und Entwicklung miteinander verknüpften und Ernährung zuvor primär als Gesundheitsproblem begriffen worden sei, mutet jedoch wenig plausibel an. So ist gezeigt worden, dass schon seit der Jahrhundertwende der Zusammenhang zwischen Ernährung, 72 | Vgl. Fajardo, Apuntes de la historia, 2005; Escobar, Encountering Development, 1995, S. 124. 73 | Vgl. Nussio; Pernet, The Securitisation of Food Security, 2013; Escobar, Encountering Development, 1995, S. 102–153.

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Energie, Arbeitskraft und den Herausforderungen der Industrialisierung seitens der kolumbianischen Elite diskutiert und auch wissenschaftlich erforscht wurde. Deren Interesse war es, die Industrialisierung Kolumbiens voranzutreiben, da sie darin die Voraussetzung für die Entstehung einer modernen, fortschrittlichen und entwickelten Nation sahen.74 Eingebettet war diese Erklärung in lamarcksche eugenische Lehren, nach denen die kolumbianische Bevölkerung »rassisch« und »energetisch« defizitär sei, jedoch gegenwärtige und zukünftige Generationen durch richtige Ernährung und Energiezufuhr physisch und erblich »verbessert« werden könnten.75 Spuren dieses Denkens finden sich auch in den ernährungswissenschaftlichen Texten der 1960er Jahre. So betonten Alfredo Aguirre und Joe D. Wray 1967 in ihrer gemeinsam verfassten Studie zu Unterernährung bei Kleinkindern in Candelaria, dass sie bei der Ursachenforschung »genetische« Faktoren ausschlössen, da es sich bei der Bevölkerung Candelarias um eine »wunderbare […] Mischung aus schwarzen, kaukasischen und indigenen Elementen« handele und die Kinder Can­de­la­r ias daher ausgezeichnete Bedingungen mitbrächten, um genauso zu wachsen wie alle anderen Kinder im Rest der Welt.76 Auch wenn in dieser Bemerkung ›genetische Defizite‹ ausgeschlossen werden, impliziert sie die Möglichkeit der Verknüpfung von race und Unterentwicklung. Neu an den Texten der 1960er Jahre war hingegen die Dominanz psychologischer Konzepte. Zahlreiche Quellen zeugen von der prominenten Stellung, die den langfristigen körperlichen und psychischen ›Entwicklungsschäden‹ durch Unterernährung und deren Auswirkungen auf das ›Humankapital‹ beigemessen wurde, von dem die Entwicklung der kolumbianischen Nation abhängig gemacht wurde. So notierte Wray in seinen Tagebuchaufzeichnungen 1962, dass es die Messung der kindlichen Ernährung in einem Land ermögliche, zu prognostizieren, welche Leistung von der zukünftigen Generation Erwachsener in diesem Land zu erwarten sei.77 Knapp zehn Jahre später begann eine interdisziplinäre, privat finanzierte Forschungsgruppe aus Cali eine aufwendige langjährige Studie zu den Auswirkungen von Nahrungshilfe für Kleinkinder auf deren kognitive Entwicklung durchzuführen. Zu der Gruppe gehörte auch der Kinderarzt Leonardo Sinisterra, der in den frühen

74 | Pohl-Valero, Stefan: »›La raza entra por la boca‹. Energy, Diet and Eugenics in Colombia, 1890–1940«, in: Hispanic American Historical Review, 94, 3, 2014, S. 455–486. 75 | Ebd. Vgl. zur sogenannten ›weichen‹ Eugenik nach Jean-Baptiste de Lamarck und deren Ausbreitung in Lateinamerika Leys Stepan, The Hour of Eugenics, 1996. 76 | Aguirre; Wray, Dinámica de la desnutrición, 1967, S. 15. 77 | Wray, Joe: Notes on Colombia. 1962: Columbia HS A&S, JDW, Box 2, S. 118.

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1960er Jahren die Casita in Candelaria geleitet hatte.78 Der Anthropologe Arturo Escobar ordnet diese und ähnliche Studien zu den langfristigen negativen Auswirkungen von Unterernährung auf die Arbeitskraft zukünftiger Generationen in seiner kritischen Geschichte der Entwicklungspolitik als den Versuch ein, Regierungen davon zu überzeugen, Ernährungssicherheit zu einer politischen Priorität zu machen.79 Doch die Probleme für Individuum und Nation, die auf Unterernährung im Kleinkindalter zurückgeführt wurden, beschränkten sich nicht auf kognitive Fähigkeiten. Laut Alfredo Aguirres Ausführungen zur »Familie in Candelaria«, mit der die Forschungsergebnisse aus dem Ort 1966 das internationale Fachpublikum erreichten, wuchsen unterernährte Kinder nicht nur zu Schulabbrechern mit mangelnder Intelligenz heran, sondern auch zu jungen Erwachsenen mit »anti-sozialen« Tendenzen. Diese verstärkten entweder die »Masse der Arbeitslosen« oder wurden, wenn es ihnen gelang, Arbeit zu finden, zu »konfliktiven Elementen«, die nicht in der Lage seien, ihre Rolle in der Gesellschaft einzunehmen und deren Gesetze zu beachten. Diese Situation spitze sich Tag für Tag zu, was sich in den Städten durch Randale und Übergriffe auf Privatbesitz und auf dem Land durch Gewalt bemerkbar mache.80 In diesem Verweis auf Gewalt in den ländlichen Gebieten klingt die Erfahrung der Violencia an, ohne dass der Bürgerkrieg beim Namen genannt wird. So trafen in Aguirres Thesen psychologisches Wissen zu Unterernährung und Entwicklungsstörungen mit den in den ersten Jahren des Frente Nacional weitverbreiteten Erklärungen der Ursachen der Violencia aufeinander. Seitens der politischen Elite wurde diese einerseits durch antikommunistische Verschwörungstheorien, andererseits durch den vermeintlich barbarischen Charakter der Landbevölkerung erklärt und damit die politische Verantwortung für den Bürgerkrieg von der Konservativen und Liberalen Partei weggeschoben.81 Alberto Lleras Camargo, der das Parteienbündnis Frente Nacional von 1958–1962 als erster Präsident anführte, bezeichnete in den 1960er Jahren zudem wie-

78 | Vgl. McKay, Harrison et al.: »Improving Cognitive Ability in Chronically Deprived Children«, in: Science, 200, 1978, S. 270–278. 79 | Vgl. Escobar, Encountering Development, 1995, S. 124. 80 | Aguirre, Colombia, 1966, S. 3. Zu Aguirres Ausführungen siehe auch Kapitel 5.1. Zum Topos der potenziell revolutionären und gefährlichen Jugendlichen als diskursiver Strang in den kolumbianischen Mediendebatten um Familienplanung in den 1960er Jahren siehe Medina Chávez, Los discursos sobre la planificación familiar, 2008, S. 141ff. 81 | Vgl. Schuster, Die Violencia in Kolumbien, 2009, S. 101–111; Laguado Duca, Arturo Claudio: »La construcción de la cuestión social en el Frente Nacional«, in: Controversia, 186, 2006, S. 55–74, hier: S. 58–62.

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derholt die »Bevölkerungsexplosion« als ursächlich für die Violencia.82 Zu schnelles Bevölkerungswachstum war auch für Alfredo Aguirre das übergeordnete ›Gesundheitsproblem‹ in Candelaria, das er für die Unterernährung von Kleinkindern und alle davon abgeleiteten individuellen und sozialen Konsequenzen verantwortlich machte. Dieser kausale Zusammenhang zwischen der Unterernährung von individuellen Kleinkindern und der Kinderzahl in der Familie, der sie entstammten, wurde von Aguirre und Wray häufig und mit verschiedenen argumentativen Schattierungen über die 1960er Jahre hinweg angeführt. Gegenüber der kolumbianischen Ernährungsforschung der vorhergehenden Jahrzehnte stellt dies eine markante Neuerung dar. Begonnen hatte das Interesse der Mediziner und Medizinerinnen an den demografischen Entwicklungen Candelarias direkt mit ihrer Übernahme des Gesundheitszentrums im Jahre 1958. Die Zählung der Bevölkerung Candelarias war eines der ersten Projekte, das die neue Leitung des Gesundheitszentrums plante. Zwei Jahre später führten Studierende der Medizin und Ökonomie erstmals einen Zensus der cabecera durch.83 Die Volkszählung und Datenerhebung verfolge, so die Eigendarstellung der medizinischen Fakultät, sowohl pädagogische als auch praktische Zwecke: Die Studierenden konnten ›im Feld‹ die Erhebung und Auswertung statistischer Daten einüben und in direkten Kontakt mit der Bevölkerung Candelarias treten. Die von ihnen erhobenen Daten wiederum, so hoben sie hervor, stellten eine unverzichtbare Berechnungsgrundlage der Stichproben für spezifischere Umfragen zum Gesundheitszustand der Bevölkerung dar. Weiterhin gäben sie Aufschluss über die Größe der Bevölkerung und einige ihrer Charakteristika, die den Autoritäten der Gemeinde für administrative Zwecke sowie zur Verbesserung der öffentlichen Infrastruktur zur Verfügung gestellt werden könnten. Schließlich dienten die Statistiken den Institutionen, die Programme in Candelaria durch-

82 | Vgl. z. B. seine Rede auf der Primera Asamblea Panamericana de Población in Cali im Juli 1965: Lleras Camargo, Palabras del Señor Alberto Lleras, 11.08.1965. 83 | In der Bibliothek der Abteilung für Salud Pública der Fakultät für Gesundheit sind die Zensus von 1960 und 1961 überliefert. Laut Llanos, Pradilla und Rueda wurden jedoch 1960, 1961, 1962, 1963, 1967 und 1972 von der medizinischen Fakultät der Universidad del Valle Zensus in Candelaria durchgeführt. Vgl. Llanos; Pradilla; Rueda, Candelaria, 2006, S. 32. Dieser 2006 erschienene Rückblick auf die Aktivitäten der medizinischen Fakultät der Universidad del Valle in Candelaria ist eine Erfolgsgeschichte aus der Perspektive dreier ehemaliger in Candelaria tätiger Ärzte und ist zu großen Teilen im Wortlaut identisch mit einem Bericht, der bereits 1978 von einem der Autoren in Zusammenarbeit mit zwei Mitarbeitern der Rocke­feller Foundation verfasst, jedoch nicht publiziert wurde: Pradilla, Alberto; Hayes, Guy S.; Arbas, Farzam: The Candelaria Experience, Mai 1978: Columbia HS A&S, JDW, Box 31, Folder 8.

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führten, als Abbild einer typischen urbanen Bevölkerung des Valle del Cauca.84 Zudem sei den amtlichen Daten nicht zu trauen gewesen.85 Insbesondere die offiziell angegebene Geburtenrate erschien den Medizinern und Medizinerinnen unglaubwürdig. Die Suche nach dieser Zahl, die in späteren Erzählungen über die ›Entdeckung des Bevölkerungsproblems‹ eine entscheidende Rolle spielte, scheint schon vor dem Eintreffen der ersten Mitarbeiter der Rocke­feller Foundation in Cali begonnen zu haben. So berichtete Guy S. Hayes in seinem ersten Tagebucheintrag aus Kolumbien, der den Zeitraum Juli und August 1960 umfasst, in Candelaria sei er bisher nur anlässlich einer Zeugnisübergabe für Hebammen gewesen. Diese seien im Gesundheitszentrum unter anderem deshalb fortgebildet worden, weil man durch diese Anbindung erwarte, von ihnen in Zukunft über Geburtenzahlen informiert zu werden.86 Die Hebammen stellten eine Konkurrenz für die Autorität des Gesundheitszentrums im Bereich der Geburtshilfe und frühkindlichen Versorgung dar. Die Anbindung erfüllte daher einen doppelten Zweck: Die Aktivitäten der Hebammen wurden kontrollierbarer und sie konnten Informationen liefern, die im Gesundheitszentrum fehlten. Bereits ein knappes Jahr später wurde geplant, ein ausgefeiltes ›Spionagenetzwerk‹ zu etablieren, über das die Informationen über Geburten von Freiwilligen aus jedem Häuserblock über Hilfskrankenschwestern an Krankenschwestern ins Gesundheitszentrum gelangen sollten. Begründet wurde das Vorgehen damit, dass zuverlässige Zahlen über Geburten und Kindersterblichkeit notwendig seien und die staatlichen Behörden die Geburtenrate nur anhand der kirchlichen Melde- und Taufregister maßen, ein Großteil der Kinder in Candelaria jedoch nicht registriert und getauft werde, und insbesondere die vielen Kinder, die im ersten Lebensjahr starben, nicht erfasst würden. Der Versuch, die Zahl selbst zu erfassen, wurde zwischen dem ersten und zweiten Zensus, das heißt zwischen Oktober 1961 und 1962, von Rodrigo Guerrero in Eigeninitiative – so Hayes – unternommen.87 84 | Diese Ziele, die mit der Durchführung des Zensus verfolgt worden seien, wurden im Vorwort der Veröffentlichung der Ergebnisse von 1960 und 1961 in identischem Wortlaut genannt. Vgl. Universidad del Valle, Censo de población, 1960, S. 2. Ähnlich wird der Anlass und Zweck des Zensus auch retrospektiv begründet. Vgl. Henao Cabal, Crónica, 1996, S. 69f; Pradilla; Hayes; Arbas, The Candelaria Experience, Mai 1978, Columbia HS A&S, S. 32. Die Bezeichnung Candelarias als ›urban‹ lässt sich dadurch erklären, dass die Zensus lediglich in der cabecera durchgeführt wurden. 85 | Vgl. Llanos; Pradilla; Rueda, Candelaria, 2006, S. 55. 86 | Diary of Dr. Guy S. Hayes 1958–1960, RAC, S. 15. 87 | Vgl. Diary of Dr. Guy S. Hayes 1961, RAC, S. 55; 141. Samuël Coghe hat in seiner Forschung zu Demografie in Angola in den 1920er Jahren gezeigt, dass die Erhebung demografischer Daten durch Mediziner und Medizinerinnen eine kolonialhistorische

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Als Ergebnis dieser Studie, deren Methodik in keiner überlieferten Quelle erklärt wird, zirkulierten ab Ende 1962 in Korrespondenzen zwischen der Rocke­feller Foundation und dem Population Council, in Jahresberichten des Gesundheitszentrums, in Förderanträgen und weiteren Publikationen unterschiedliche Angaben zwischen 50 und 70 Geburten pro tausend Einwohner und Einwohnerinnen pro Jahr. Diese auf Guerreros Studie zurückgeführte Zahl wurde dabei in der Regel dramatisierend mit einer offiziellen Geburtenrate von 30 bis 35 kontrastiert.88 Ob die Ergebnisse der Studie jemals publiziert wurden, ist nicht bekannt; Hayes erwähnte Ende 1964, dass Guerrero eine erste Fassung geschrieben habe, einige Monate zuvor hatte er notiert, dass die späteren Zensus in Candelaria niedrigere Zahlen ergeben hätten und dass es dringend einer verbesserten Methodik zur Erhebung der Geburtenrate bedürfe.89 Diese Schwierigkeiten bei der Erhebung der Rate taten dem Erfolg des Arguments, dass ihre Senkung notwendig sei, keinen Abbruch. In dem im Jahre 2006 erschienenen Rückblick auf die universitären Gesundheitsprogramme in Candelaria berichten die Autoren gar, dass die Ergebnisse zur Geburtenrate Candelarias mittels weniger Telefonate bis zum Präsidenten Kolumbiens gelangt seien und die Regierung in ihrer Entscheidung, als erstes lateinamerikanisches Land eine Bevölkerungspolitik zu etablieren, entscheidend beeinflusst hätten.90 Besonderheit in der seit dem 19. Jahrhundert auch in Europa engen Verknüpfung zwischen Demografie und Medizin darstellt. Vgl. Coghe, Samuël: »Medical Demography in Interwar Angola. Measuring and Negotiating Health, Reproduction and Difference«, in: Widmer, Alexandra; Lipphardt, Veronika (Hg.): Health and Difference. Rendering Human Variation in Colonial Engagements, New York: Berghahn Books 2016, S. 178–204, hier: S. 179. Neben dem hier analysierten Fall Candelaria zeigt auch die Studie von Claudia Prinz zu medizinischer Bevölkerungsforschung in Bangladesch, dass die demografische Datenerhebung durch Mediziner ebenfalls für postkoloniale bzw. imperiale Kontexte der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts charakteristisch ist. Siehe Prinz, Claudia: »Das ›Matlab Experiment‹. Ein ›population laboratory‹ in Bangladesch als Modell für globale Bevölkerungspolitik?«, in: Gerstenberger, Debora; Glasman, Joël (Hg.): Techniken der Globalisierung. Globalgeschichte meets Akteur-Netzwerk-Theorie, Bielefeld: transcript 2015, S. 167–182. 88 | Vgl. Joe D. Wray an Dudley Kirk, 25.11.1963, Columbia HS A&S; Peñaloza, Informe de actividades del Centro, 1964, S. 1; Universidad del Valle – Facultad de Medicina – Centro Píloto de Salud de Candelaria – C.U.I.P.: A Public Health Program in Family Planning, 1964: RAC, PC, Acc. 1, 4.3a Population Council Grant File – Regular, Box 60 – Folder 994 – D64.86 U. del Valle, Colombia Research Program in Population Problems, S. 1f; ASCOFAME, Boletín Informativo de la División, 1965, S. 96. 89 | Vgl. Diary of Dr. Guy S. Hayes 1964, RAC, S. 81. 90 | Vgl. Llanos; Pradilla; Rueda, Candelaria, 2006, S. 11.

6. Bevölkerungsprobleme im lokalen Entwicklungslabor

Die Art und Weise, wie die Geburtenrate in den Quellen problematisiert wird, ist aufschlussreich für das demografische Denken der frühen 1960er Jahre. Erst im Vergleich erlangen demografische Ziffern ihre Aussagekraft. Um als ›hoch‹ eingeordnet werden zu können, musste die Geburtenrate Candelarias also in Bezug zu anderen Zahlen gesetzt werden. Das waren neben der von offizieller Seite berechneten Geburtenrate für Candelaria auch Geburtenraten aus anderen Ländern der Welt. Joe D. Wray, der die Ziffer aus Candelaria im November 1963 in einem Brief an Dudley Kirk vom Population Council nannte, erschien die Zahl (»fast 70«) bemerkenswert, und er bat Kirk um aktuelle Geburtenraten anderer Länder aus aller Welt, um den Befund einordnen zu können.91 Drei Jahre später hieß es im Jahresbericht der Rocke­feller Foundation im Zusammenhang mit dem von der Stiftung mitfinanzierten Familienplanungsprogramm über Candelaria, dass dort eine der höchsten Geburtenraten aller Zeiten gemessen worden sei.92 Neben der Rocke­feller Foundation war auch der Population Council ab 1964 an der Finanzierung des Familienplanungsprogramms in Candelaria beteiligt. Die »alarmierend hohe Geburtenrate« nimmt einen prominenten argumentativen Platz in dem Antrag zur Förderung des Programms ein, den die Fakultät für Medizin an die Organisation gestellt hatte. Es handelt sich daher um einen der wenigen Texte, in dem die Geburtenrate nicht lediglich als besonders hoch bezeichnet wurde, sondern auch begründet wurde, weshalb die Zahl eine besorgniserregende Entwicklung widerspiegele. Argumentiert wurde zunächst mit den ökonomischen Auswirkungen des »Bevölkerungsproblems«. Diese seien in Candelaria wie im Rest der Welt anhand der Gegenüberstellung der Bevölkerungswachstumsrate und der ökonomischen Wachstumsrate sichtbar und offensichtlich. Das Wohlergehen zahlreicher Menschen werde dadurch gefährdet, bzw. ihr Schicksal verschlimmert. Dieser Zusammenhang sei wohlbekannt und müsse nicht weiter erklärt werden. Das Besondere an den Studien aus Candelaria sei hingegen, dass sie zeigten, dass die erwachsene Bevölkerung sich dieses Elends wohl bewusst sei und verzweifelt versuche, dem mit Abtreibungen zu begegnen. Die Bereitschaft, auf anderen

91 | Joe D. Wray an Dudley Kirk, 25.11.1963, Columbia HS A&S. 92 | Vgl. The Rocke­feller Foundation: »Annual Report for 1966«, auf: https://assets. rockefeller foundation.org /app/uploads/20150530122238/Annual-Repor t-1966. pdf (21.06.2017), S. 42. Drei Seiten später heißt es im Bericht, das interdisziplinäre Forschungszentrum Centro Universitario Interdisciplinario de Población (CUIP) der Universidad del Valle leiste Pionierarbeit zu Bevölkerung in einer Gegend, deren Geburtenraten zu den höchsten der Welt gehörten. Spezifiziert wurden in dem Bericht weder die Zahlen aus Candelaria und Cali noch worauf sich der Vergleich bezog.

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Wegen Familienplanung zu betreiben, sei weiterhin in einem Pilotprogramm mit Müttern unterernährter Kinder unter Beweis gestellt worden.93 Auffällig ist, dass in dem Antrag lokal erhobene Daten und spezifische Erfahrungen aus Candelaria mit Allgemeinplätzen über globale demografische Entwicklungen und Entwicklungsländer vermischt wurden. So wurde zunächst darauf verwiesen, dass das globale »Bevölkerungsproblem« so bekannt sei, dass es nicht erklärt werden müsse. Im nächsten Abschnitt wurde Candelaria dann in einer widersprüchlichen Formulierung als der »spezifische« Beweis dafür angeführt, dass sich das Problem auf genau die Art und Weise auswirke, wie »alle vermuteten«. Doch passierte in Candelaria nicht nur das, was überall passierte, die Bevölkerung Candelarias sei wiederum auch »typisch für die abertausenden Menschen in Lateinamerika, die in den Prozessen der Industrialisierung und Urbanisierung gefangen« seien. In diesem von und für den Population Council geschriebenen Antrag zeigt sich, dass aus der Perspektive der global agierenden Bevölkerungsexperten und -expertinnen ›Laboratorien‹ wie Candelaria eine große Bedeutung zukam, da dort prototypische Erkenntnisse über die ›Dritte Welt‹ gewonnen werden konnten. Gleichzeitig bestanden die Vorstellungen darüber, was diese charakterisierte, schon vor dem lokalen ›Kontakt‹.94 Anhand dieser knappen Zusammenfassung der ersten Antragsseiten wird außerdem deutlich, dass nicht nur der Erforschung der Geburtenrate, sondern auch Studien zu Abtreibungszahlen eine Schlüsselrolle dabei zukam, das ›Bevölkerungsproblem‹ sichtbar zu machen und für Familienplanungsprogramme zu argumentieren. Die Studie zu Abtreibungszahlen, auf die in dem Antrag verwiesen wird, war – entgegen der Formulierung – zu diesem Zeitpunkt noch in der Planungsphase und Teil eines vergleichenden Umfrageprojektes in Candelaria, Cali und der Hafenstadt Buenaventura. In dem Entwurf der Studie heißt es, dass Untersuchungen in der Universitätsklinik der Universidad del Valle gezeigt hätten, dass die Folgen illegaler Abtreibungen zu den häufigsten Todesursachen unter jungen Frauen gehörten und diese Praxis eine »wahrhaf-

93 | Universidad del Valle – Facultad de Medicina – Centro Píloto de Salud de Candelaria – C.U.I.P., A Public Health Program in Family Planning, 1964, RAC, S. 1f. 94 | Wer diesen Antrag verfasst hat, ist schwer zu bestimmen. Zu vermuten ist, dass der Text gemeinsam von Medizinern aus Cali und verschiedenen Stiftungsmitarbeitern verfasst wurde. Anträge dieser Art, das zeigt die untersuchte Korrespondenz ganz deutlich, wurden in hohem Maße von den field officers mitgeschrieben und wiederholt mit den Zentralen in New York abgesprochen. In aller Regel war auch schon vor dem Einreichen der letzten Antragfassung klar, dass dieser bewilligt werden würde.

6. Bevölkerungsprobleme im lokalen Entwicklungslabor

tige gesellschaftliche Krankheit« darstelle.95 Studien zu Abtreibungen bildeten in den 1960er Jahren das schlagkräftigste Argument für diejenigen, die die öffentliche Meinung Kolumbiens davon überzeugen wollten, dass kolumbianische Frauen versuchten, ihre Kinderzahl zu beschränken und daher Informationen über und Zugang zu Verhütungsmitteln brauchten.96 In der Forschungspraxis waren diese Studien jedoch sehr schwer umzusetzen. Wurden Frauen explizit nach Abtreibungen befragt, so unterstellten die Mediziner diesen Frauen, dass sie logen. Alfredo Aguirre führte diese ›Lügen‹ in der Auswertung einer Fertilitätsstudie aus Candelaria, die Fragen zu Abtreibungen enthielt, auf die zahlreichen »moralischen und religiösen Sanktionen« zurück, die mit einer ehrlichen Antwort verbunden seien. Die Sicherheit, angelogen zu werden, nahm Aguirre wiederum aus den Informationen Dritter. So hätten die Frauen aus dem Familienplanungsprogramm Candelarias ihn darüber informiert, dass Abtreibungen in Candelaria weitverbreitet seien, und konnten ihm auch sagen, wo man diese zu welchem Preis durchführen lassen konnte. Sie hätten ihm auch konkrete Frauen genannt, von deren Abtreibungen sie wussten, diese seien in den Interviews darauf angesprochen worden und hätten dann die Abtreibung geleugnet.97 Der Versuch, anhand der vorliegenden Quellen zur ›Entdeckung des Bevölkerungsproblems‹ in Candelaria nachzuspüren, worin genau die Entdeckung bestand und von wem sie gemacht wurde, zeigt, dass innerhalb eines kurzen Zeitraums lokal und transnational agierende Akteurinnen und Akteure unterschiedliche ›Entwicklungsdefizite‹ in Candelaria ausmachten, die anhand des diskursiven Rahmens ›Bevölkerungsproblem‹ und ›Familienplanung‹ miteinander in Bezug gesetzt werden konnten. Im selben Zeitraum, in dem die Messung der Geburtenrate Candelarias erstmals für Aufsehen sorgte, also im Frühjahr 1963, wurde Joe D. Wray von James Eder angesprochen. Dieser in Cali ansässige Industrielle US-amerikanischer Herkunft, der – so Wray – »sehr viel Geld und ein recht aktives soziales Bewusstsein« besaß, sei sich unsicher, wie er sein Geld ausgeben sollte. Er habe Wray gefragt, wie dieser die Möglichkeit einschätze, ein wirksames Familienplanungsprogramm in Gang zu bringen.98 Wer oder was James Eder auf den Gedanken brachte, dass sein Geld darin am besten angelegt sei und ob er die Idee jemals umsetzte, geht aus den Aufzeichnungen nicht hervor. Die Notiz zeigt jedoch, dass ›Familienpla-

95 | Villadiego, Francisco; Llanos, Guillermo: »Proyecto de estudio de abortos en Cali, Buenaventura y Candelaria«, in: CUIP (Hg.): Documentos de la conferencia sobre población, Cali 1965. Eine Auswertung dieses Forschungsprojektes ist nicht überliefert. 96 | Vgl. McGreevey, Population Policy, 1980, S. 422f. 97 | Aguirre, Programa de planificación familiar, 1965, S. 227. 98 | Wray, Notes on Colombia 1963, Columbia HS A&S, S. 66.

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nung‹ 1963 bereits ein denkbares und naheliegendes Feld philanthropischen Engagements darstellte. Wray bezeichnete das Gespräch als den Gedankenanstoß, der ihn dazu bewegte, sich mit dem Thema Familienplanung vertieft auseinanderzusetzen und zu eruieren, was seine Kolleginnen und Kollegen darüber dachten. Dabei sei er auf vielfältige Meinungen und wenige Fakten gestoßen. Das einzige Engagement in dem Bereich, das er ausmachen konnte, war ehrenamtlicher Natur. So hätten zwei US-amerikanische Frauen, die mit kolumbianischen Männern verheirateten waren, mit Erlaubnis eines Priesters damit begonnen, in armen Stadtvierteln Calis Frauen in Familienplanung zu unterrichten. Auf große Sympathie sei die Idee bei seinem Kollegen Carlos León gestoßen, der bei seiner Arbeit mit den Müttern unterernährter Kinder aus Candelaria festgestellt habe, dass die Kinder oft aus außerordentlich großen Familien stammten. Wrays Fazit in diesem ersten Eintrag zu Familienplanung in seinem Arbeitstagebuch lautete, dass sich hier ein großes Forschungsfeld eröffne.99 Auch wenn zu diesem Zeitpunkt, also im Frühjahr 1963, die Rocke­feller Foundation selbst gerade einen Richtungswechsel vollzog und das ›Bevölkerungsproblem‹ zu einem ihrer fünf Schwerpunktbereiche erklärte, war es zunächst der Population Council, mit dem Wray 1963 in Kontakt trat, um über die Förderung eines Familienplanungsprogramms in Candelaria und damit verknüpfter Forschung zu sprechen.100 Auch auf kolumbianischer Seite vertiefte sich zu diesem Zeitpunkt die Expertise. So kehrte der kolumbianische Arzt Ramiro Delgado García im Juni 1963 von einem einjährigen Forschungsaufenthalt zu Intrauterinpessaren aus den USA zurück, den der Population Council finanziert hatte, und erklärte sich dazu bereit, Kurse in Familienplanung anzubieten.101 Es waren also ganz unterschiedliche personelle Zusammenhänge und thematische Kontexte, innerhalb derer an der Universidad del Valle und dem von ihr betriebenen Gesundheitszentrum in Candelaria Bevölkerungswachstum als Entwicklungs- und Gesundheitsproblem problematisiert wurde. Dabei war die Arbeit und Forschung mit unterernährten Kindern und ihren Familien nicht nur für die Diagnose ›Bevölkerungsproblem‹, sondern auch für die praktische Umsetzung des ersten Familienplanungsprogramms von größter Bedeutung. So waren es hundert Frauen, die bereits am Ernäh99 | Ebd. Sein Kollege Guy S. Hayes hatte schon zwei Jahre zuvor eine ähnliche Schluss­ fol­g e­r ung gezogen, nachdem Gregory Pincus, einer der Entwickler der ersten ›Pille‹ Enovid, diese 1961 mit einem Vortrag in Cali angepriesen hatte. Diary of Dr. Guy S. Hayes 1961, RAC, S. 145f. Vgl. hierzu auch Kapitel 5.6. 100 | Vgl. Joe D. Wray an Dudley Kirk, 25.11.1963, Columbia HS A&S. Zu der Verstimmung, die er damit bei seinen Vorgesetzten in der Rocke­f eller Foundation auslöste, siehe Kapitel 3.1. 101 | Vgl. Wray, Notes on Colombia 1963, Columbia HS A&S, S. 82f.

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rungsprogramm der Casita teilgenommen hatten, mit denen 1964 das erste Familienplanungsprogramm gestartet wurde.102 Hayes hielt dem Ernährungsprogramm daher nicht zuletzt zugute, dass darüber Kontakt zu zahlreichen Frauen im »gebärfähigen Alter« bestand, die sich als sehr »willige Teilnehmerinnen« für die Programme zur Geburtenkontrolle bzw. zur verantwortungsvollen Familienplanung, wie sie besser genannt werden sollten, herausstellten.103 Das Ernährungsprojekt gewann also zusätzlich dadurch an Legitimität und Attraktivität, dass es den ›Zugriff‹ auf eine bestimmte Bevölkerungsgruppe ermöglichte. Die Aussage Wrays zeugt jedoch auch davon, welch große Bedeutung dem Auf bau von Familienplanungsprogrammen beigemessen wurde, und zwar schon wenige Monate, nachdem er begonnen hatte, die Akzeptanz eines solchen Programms zu eruieren. Es hatte tatsächlich nur kurz gedauert, bis sich Wrays Einschätzung vom Frühjahr 1963, wonach es ganz unterschiedliche Meinungen zum Auf bau von Familienplanungsprogrammen gebe, dahingehend wandelte, dass er einen breiten Konsens über deren Notwendigkeit sah. So listete er bereits im September 1963 in einem umfassenden Bericht zum Gesundheitszentrum in Candelaria das »Bevölkerungsproblem« in der Rubrik »Obvious Places to Begin«. Die Dringlichkeit werde fast einhellig erkannt.104 Dank der zahlreichen engagierten Individuen, die sich des »Bevölkerungsproblems« annähmen, bestünde wenigstens auf diesem Gebiet Hoffnung, dass die Maßnahmen anhaltende Wirkung entfalten könnten, notierte der pessimistische Kinderarzt ein halbes Jahr später.105 Auch wenn diese Hoffnung bald enttäuscht wurde – schon im April 1965 schrieb Wray über das Familienplanungsprogramm, »the honeymoon came to an end« 106 – so lässt sich hier doch auf der lokalen Ebene Candelarias zeigen, wie bereitwillig Public-Health-Experten und -Exper­ tinnen angesichts der überwältigenden Gesundheitsprobleme und der chronischen Unterfinanzierung, denen sie sich gegenübersahen, darauf setzten, dass diesen am besten begegnet werden konnte, wenn weniger Menschen geboren würden. Wray selbst ließen die Jahre in Candelaria daran zweifeln, ob er mit seiner ernährungswissenschaftlichen Spezialisierung die richtige Priorität gesetzt hatte. Am deutlichsten zeigt sich das in einem Brief an den Direktor des Instituts für Ernährungsforschung der Columbia University, Henry Sebrell, 102 | Vgl. Aguirre, Análisis de las primeras cien, 1965. 103 | Diary of Dr. Guy S. Hayes 1964, RAC, S. 69. 104 | Wray, Notes on Colombia 1963, Columbia HS A&S, S. 7ff. Neben den Maßnahmen gegen das ›Bevölkerungsproblem‹ nannte Wray in dieser Rubrik eine Reihe pädiatrischer Maßnahmen, wie z. B. Impfungen, Milchausgabe und einen Zensus aller Vorschulkinder. 105 | Wray, Joe: Notes on Colombia. 1964: Columbia HS A&S, JDW, Box 2, S. 38. 106 | Wray, Notes on Colombia 1961, Columbia HS A&S, S. 59.

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vom 9. September 1965. Wray schlug darin ein Stellenangebot aus, das Sebrell ihm unterbreitet hatte. Zur Begründung führte er an, dass er sich in einem »inneren Kampf zwischen Ernährung und Bevölkerung« befinde und noch entscheiden müsse, welchen Weg er einschlagen werde. Das Motto, unter dem in Candelaria derzeit gearbeitet werde, laute: »If you can’t prevent them, feed them; if you can’t feed them, prevent them!«107 Wray entschloss sich, das zeigt sein weiterer Werdegang, im Ernährungsbereich zu bleiben. Die in seiner Zeit an der Universidad del Valle aufgestellte These, dass Familiengröße als Ursache von Unterernährung gewertet werden müsse und Familienplanung daher einen Weg darstelle, Unterernährung zu verringern, vertrat er in einigen Publikationen der 1960er und frühen 1970er Jahre.108 In einem 1974 gemeinsam mit Roy E. Brown publizierten Aufsatz kritisierte er jedoch die Theorie des demografischen Übergangs dafür, medizinische Verbesserungen für die Senkung der Sterberate und folglich für die »Bevölkerungsexplosion« verantwortlich zu machen. Diese Logik habe dazu geführt, dass viel Geld in Familienplanungsprogramme fließe, andere Public-Health-Bereiche hingegen unterfinanziert seien. Wray und Brown hielten dem entgegen, dass die Sterberaten durch bessere Ernährung gesunken seien und in Ernährungsprogrammen der Schlüssel zur Senkung des Bevölkerungswachstums liege. Erst wenn sich die Ernährungslage verbessere, verringe sich die Kindersterblichkeit, und erst dann bekämen die Menschen weniger Kinder.109 Diese Argumentation zeugt von einer Unzufriedenheit mit den Prioritäten der großen Geldgeber im Gesundheitsbereich, aber auch von den breiteren Verschiebungen in den Debatten zum Verhältnis von Bevölkerung und Entwicklung.

6.5 K onkurrierende E rkl ärungen für ›U nterent wicklung ‹ Außerhalb Kolumbiens war das ›Bevölkerungsproblem‹ schon sehr viel früher als Problem des Verhältnisses zwischen Bevölkerung und Nahrung formuliert worden. Die zentrale Aussage des Textes, der in aller Regel den Ausgangspunkt 107 | Joe D. Wray an Dr. W. Henry Sebrell, Cali, 09.09.1965: Columbia HS A&S, JDW, Box 4, Folder 1. 108 | Vgl. Wray, Joe: »Population Pressure on Families. Family Size and Child Spacing«, in: National Academy of Sciences (Hg.): Rapid Population Growth. Consequences and Policy Implications, Baltimore MD: Johns Hopkins Univ. Press 1971, S. 403–461; Wray; Aguirre, Proteine-Calorie Malnutrition in Candelaria, Colombia, 1969. 109 | Brown, Roy E.; Wray, Joe: »The Starving Roots of Population Growth«, in: Natural History, 1974, S. 46–53.

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von Darstellungen des ›Überbevölkerungsdiskurses‹ bildet – Thomas Malthus’ ›Bevölkerungsgesetz‹ von 1798 –, lautete, dass die Nahrungsmittelproduktion dem Wachstum der Bevölkerung nicht standhalten könne, was zu verheerenden Hungersnöten führen werde.110 Zahlreiche jüngere Studien haben überzeugend gezeigt, wie sehr demografische Entwicklungen auch im 20. Jahrhundert in Relation zu Raum, Land und Nahrungsmitteln problematisiert wurden, und vor diesem Hintergrund kritisiert, dass dies von der Forschung zu Demografie und Bevölkerungswissen nicht ausreichend berücksichtigt werde, da diese zu sehr auf den Themenkomplex Geburtenkontrolle fokussiert sei.111 Für Kolumbien gilt jedoch auch noch in den 1960er Jahren, dass zwar kinderreiche Familien als Ursache individueller Unterernährung und infolgedessen auch als gesellschaftliches Gesundheits- und Entwicklungsproblem bezeichnet wurden, das Wachstum der Bevölkerung insgesamt hingegen selten als Ernährungsproblem gefasst wurde. Doch war auch in Kolumbien das malthusianistische Argument zu vernehmen, so z. B. bei der ersten von zwei Diskussionsrunden zum Thema »Überbevölkerung«, die 1960 von der Fakultät für Soziologie an der Universidad Nacional ausgerichtet wurden. Der Botaniker Dr. Pérez Arbeláez und der Jurist und Ökonom Jorge Cardenas García führten dabei aus, dass ein Zuviel an ›Bevölkerung‹ nur im Verhältnis zu Ressourcen denkbar sei. Sie formulierten vor diesem Hintergrund die Notwendigkeit, die kolumbianische Agrarproduktion zu steigern, und setzten Bevölkerungswachstum mit möglichen Hungersnöten in Verbindung. Der Geograf Ernesto Guhl und der Jurist und Ökonom Rafael Baquero argumentierten darauf hin scharf dagegen. Guhl verwies auf die geringe Bevölkerungsdichte Kolumbiens und Baquero bezeichnete Bevölkerungswachstum als notwendige Grundlage für die Entwicklung der kolumbianischen Nation und vertrat damit die seit dem 19. Jahrhundert und bis in die 1940er Jahre in Kolumbien dominierende Interpretation des Verhältnisses zwischen Bevölkerung und Entwicklung. Armut und Unterernährung, so Baquero, seien ausschließlich ökonomisch bedingt. Zudem verwies er auf historische Prozesse, durch die die kleinbäuerliche Landbevölkerung von den Großgrundbesitzern in die Regionen mit den schlechtesten Böden vertrieben worden sei. Eine bessere Versorgung aller Kolumbianerinnen und Kolumbianer sei mit sozialen Reformen und technischem Fortschritt zu erreichen.112 110 | Vgl. Malthus, Thomas Robert: An Essay on the Principle of Population, Mineola NY: Dover Publications 2007. 111 | Siehe u. a. Bashford, Global Population, 2014; Robertson, The Malthusian Moment, 2012. 112 | Vgl. La superpoblación en Colombia, [21.04.1960], UN AS. Zu den verschiedenen Formen von Fehlverhalten, die Frauen in der ersten Diskussionsrunde zugesprochen wurden, siehe Kapitel 5.4.

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Vier Jahre später, bei einer Diskussionsrunde zu »demografischem Wachstum« an der Universidad de los Andes, nahm der Vorsitzende des Instituts für Agrarreform INCORA, Enrique Peñalosa Camargo, eine Position ein, die sich zwischen den hier kurz skizzierten Polen einordnen lässt. Die landwirtschaftliche Produktion, so Peñalosa Camargo, könne dem Bevölkerungswachstum standhalten, jedoch seien die Ressourcen zur Erfüllung anderer menschlicher Bedürfnisse nicht in ausreichendem Maße vorhanden. Er plädierte vor diesem Hintergrund für die Schaffung von Arbeitsplätzen außerhalb der Landwirtschaft, positionierte sich hingegen nicht hinsichtlich der etwaigen Notwendigkeit von Familienplanungsprogrammen.113 Der Zusammenhang seiner Aussagen, das heißt die Namen und Positionen der anderen Diskussionsteilnehmenden, ist leider nicht überliefert, da INCORA lediglich seinen Beitrag publizierte. Die Publikation deutet jedoch darauf hin, dass das Verhältnis von ›Bevölkerung‹ und Land auch denjenigen relevant erschien, die für die Implementierung der Landreform von 1961 verantwortlich waren. Die ›Landfrage‹ stand im gesamten 20. Jahrhundert und steht auch zu Beginn des 21. Jahrhunderts im Mittelpunkt der gesellschaftlichen, politischen und bewaffneten Konflikte Kolumbiens.114 Sowohl in den 1930er als auch in den 1960er Jahren gab es Versuche, durch Proteste und Landreformen die Konzentration von Land zu verringern, doch auf beide Reformetappen folgten Gegenreformen.115 Die Landreform von 1961 kann als zentrales politisches Projekt der ersten Regierung des Frente Nacional bezeichnet werden. Auch seitens der Allianz für den Fortschritt genoss das Thema hohe Priorität, da der revolutionäre Umbruch auf Kuba in erster Linie auf die Unzufriedenheit der verarmten Landbevölkerung mit den agrarischen Besitzverhältnissen zurückgeführt wurde. Eine moderate Mischung aus Landverteilung und Produktionssteigerung durch technische Neuerungen sollte verhindern, dass bäuerliche Bewegungen in anderen Ländern Lateinamerikas diesem Beispiel folgten.116 Die kolumbianische Landreform sah vor, öffentliches Land in Anbaugebiete zu unterteilen und in Maßen auch ungenutzte Ländereien großer Anwesen an Kleinbauern und -bäuerinnen umzuverteilen. In der Praxis war dies jedoch aufgrund des erbitterten und erfolgreichen Widerstands gegen die Umverteilungen seitens der Großgrundbesitzer und -besitzerinnen kaum umsetzbar,

113 | Vgl. Peñalosa Camargo, Enrique: Crecimiento demográfico colombiano, Bogotá: INCORA 1964. 114 | Siehe hierzu Centro Nacional de Memoria Histórica: Tierras y conflictos rurales. Historia, políticas agrarias y protagonistas, Bogotá: CNMH 2016. 115 | Vgl. Albán, Álvaro: »Reforma y contrarreforma agraria en Colombia«, in: Revista de Economía Institucional, 13, 24, 2011, S. 327–356. 116 | Vgl. ebd., S. 346f.

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weswegen die Landreform in der Forschung als gescheitert bezeichnet wird.117 Gleichzeitig wurde ab Mitte des 20. Jahrhunderts der industrialisierte Anbau einzelner landwirtschaftlicher Produkte ausgebaut, die in der Regel für den Export bestimmt waren. Damit einhergehend formte sich ein landwirtschaftliches Subproletariat, das heißt Wanderarbeiterinnen und -arbeiter, die über kein eigenes Land verfügten und kontinuierlich migrierten.118 Zu den industriell angebauten und verarbeiteten Produkten zählte Zuckerrohr, für das das Valle del Cauca seit dem 16. Jahrhundert ein wichtiges Anbaugebiet ist. Mit der Industrialisierung des Zuckerrohranbaus ging ein landwirtschaftlicher Strukturwandel einher, der schon seit den 1940er Jahren von sozialwissenschaftlicher Forschung begleitet wurde, die sich kritisch mit dessen sozialen Folgen auseinandersetzte.119 Candelaria liegt inmitten des kolumbianischen Hauptanbaugebietes für Zuckerrohr. So lässt sich auch erklären, dass die Gemeinde im Mittelpunkt einer vielbeachteten Studie mit dem Titel Sozialstruktur und Wandel in der Agrartechnologie – das Beispiel Candelaria stand, die 1966 publiziert wurde. Der junge Soziologe Rodrigo Parra Sandoval hatte damit ein Jahr zuvor in den USA an der University of Wisconsin, Madison, seinen Master in Soziologie erworben und war danach Professor der Fakultät für Soziologie an der Universidad Nacional geworden.120 Er lässt sich in die Generation der kolumbianischen Soziologinnen und Soziologen einordnen, die er selbst rückblickend als diejenigen bezeichnete, die aus Postgraduiertenausbildungen in Europa und den USA nach Kolumbien zurückkehr-

117 | Vgl. Berry, Albert R.: »La tragedia de la reforma agraria del Frente Nacional«, in: Caballero Argáez, Cincuenta años de regreso, 2012, S. 295–323. 118 | Vgl. Abel, Christopher; Palacios, Marco: »Colombia Since 1958«, in: Bethell, Leslie (Hg.): Latin America since 1930. Spanish South America, Cambridge; New York: Cambridge Univ. Press 1991, S. 629–686, hier: S. 629f. 119 | Siehe Taussig, Michael: »Peasant Economics and the Development of Capitalist Agriculture in the Cauca Valley, Colombia«, in: Latin American Perspectives, 5, 3, 1978, S. 62–91; Knight, Rolf: Sugar Plantations and Labor Patterns in the Cauca Valley, Colombia, Toronto: Dept. of Anthropology, Univ. of Toronto 1972; Blasier, Cole: »Power and Social Change in Colombia: the Cauca Valley«, in: Journal of Inter-American Studies, 8, 3, 1966, S. 386–410; Crist, Raymond E.: The Cauca Valley, Colombia. Land Tenure and Land Use, Baltimore MD: Waverly Press 1952. Vgl. zur Geschichte des Zuckerrohrs im Valle de Cauca auch folgende jüngere Studien: Lorek, Imagining the Midwest, 2013; Sánchez Ángel, Ricardo: »Las iras del azúcar. La huelga de 1976 en el Ingenio Riopaila«, in: Historia Crítica, 35, 2008, S. 34–57. 120 | Parra Sandoval, Rodrigo: La estructura social y el cambio en la tecnología agraria. El caso de Candelaria (Valle), Bogotá: Facultad de Sociología, Universidad Nacional 1966.

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ten, die Methoden der dort vorherrschenden community studies kritisierten und sich für dependenztheoretische Ansätze interessierten.121 Seine Studie zu Candelaria verband folglich den Ansatz der community studies mit Annahmen der Dependenztheorie. Parra Sandoval untersuchte, welche Auswirkungen die Modernisierung der Landwirtschaft auf die arbeitende Bevölkerung Candelarias hatte. Hier wurde ein Verständnis von Modernisierung als Prozess sichtbar, von dem unterschiedliche gesellschaftliche Gruppen unterschiedlich stark profitierten. Sandoval kritisierte auch explizit einen Entwicklungsbegriff, der sich auf die Messung des Bruttoinlandproduktes beschränkte und die zunehmend ungleiche Vermögensverteilung verschleiere. Weiterhin distanzierte er sich von der Theorie des demografischen Übergangs und plädierte vielmehr dafür, auch bei der Untersuchung von demografischen Entwicklungen die Sozialstrukturen zu berücksichtigen. Er vertrat die These, dass das in einigen Statistiken sichtbare Bevölkerungswachstum in Candelaria durch Migration zu erklären sei. Diese wiederum resultiere einerseits aus dem Arbeitskräftebedarf in der Zuckerrohrindustrie, andererseits aus der Flucht vor der Violencia in nahegelegenen Gemeinden.122 In den Texten der Public-Health-Experten und -Expertinnen tauchen strukturelle Gesellschaftsanalysen dieser Art bezeichnenderweise nur am Rande auf. Migration wurde vielmehr als statistische Unruhe dargestellt, die für eine hohe Fluktuation in den Familienplanungsprogrammen sorgte und es erschwerte, diese kontinuierlich durchzuführen und zu evaluieren.123 Weiterhin bereitete diese Variable den Medizinerinnen und Medizinern Schwierigkeiten bei der Konstruktion des Zusammenhangs zwischen der Geburtenrate und Bevölkerungswachstum.124 Die ökonomische Situation der Einwohnerinnen

121 | Vgl. Parra Sandoval, La sociología en Colombia, 1993, S. 84f. Siehe hierzu auch den von Parra Sandoval herausgegebenen Band zu wissenschaftlicher Dependenz, in dem der genannte Perspektivwechsel eingefordert wurde: Parra Sandoval, Rodrigo: »La dependencia científica. Microsociología y desarrollo en Colombia«, in: Ders. (Hg.): La dependencia externa y el desarrollo político de Colombia, Bogotá: Imprenta Nacional 1970, S. 85–100. 122 | Vgl. Parra Sandoval, La estructura social, 1966, S. 29–35. 123 | So gab Alfredo Aguirre in einem Bericht über das erste Familienplanungsprogramm in Candelaria an, dass von den 100 Frauen, mit denen es begonnen hatte, nach wenigen Monaten nur noch 40 Frauen teilnahmen. Der häufigste Grund für das Verlassen des Programms sei der Wegzug aus Candelaria. Vgl. Aguirre, Programa de planificación familiar, 1965, S. 225. 124 | Vgl. Llanos; Pradilla; Rueda, Candelaria, 2006, S. 54f.

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und Einwohner Candelarias wurde vielfach erwähnt, aber nicht mit der Gesundheits- oder Ernährungslage in Verbindung gebracht.125 Wie die ländliche Bevölkerung selbst auf ihre persönliche und die nationale Wirtschaftslage blickte, notierte Joe D. Wray 1963 in seinem Arbeitstagebuch im Stile einer ethnografischen Beobachtung. Darin heißt es, ein Freiwilliger der Peace Corps habe ihm seinen Eindruck mitgeteilt, wonach die »durchschnittlichen Kolumbianer und Kolumbianerinnen« der Meinung seien, dass der Reichtum in der Welt und in Kolumbien endlich sei. Deshalb liege die einzige Lösung wirtschaftlicher Probleme in der Umverteilung von Reichtum, nicht aber in der Produktion von mehr Reichtum. Diese Sichtweise beeinflusse auch ihre Wahrnehmung der Vereinigten Staaten. Generell werde angenommen, dass die Reichen reich seien, weil sie in der Lage seien, andere auszubeuten, und nicht, weil sie sich ihren Reichtum verdient hätten. Daher sei es nur natürlich, dass sie den Reichtum der USA als Ergebnis der Ausbeutung anderer, vor allem lateinamerikanischer Länder, interpretierten. Wray attestierte der Schlussfolgerung der Dorf bewohner und -bewohnerinnen logisch zu sein, distanzierte sich durch seine Rhetorik aber klar davon und setzte den Konsens darüber, dass Reichtum sowohl vermehrbar als auch verdient sein konnte, zwischen sich und den Lesern und Leserinnen seines Tagebuchs voraus.126 Die über den Peace-Corps-Mitarbeiter an ihn herangetragene Weltsicht hingegen, die 1963 nicht wenig verbreitet und im Rahmen der Dependenztheorie auch schon auf komplexem Niveau formuliert worden war, lag augenscheinlich außerhalb seines Wahrnehmungshorizontes. Er scheint einem wirtschaftswissenschaftlichen Denken verhaftet gewesen zu sein, das Wachstum und Reichtum nicht als endlich betrachten konnte. Die entwicklungspolitischen Überlegungen, die er in Tagebuchaufzeichnungen regelmäßig und ausführlich anstellte, bauten jedoch nicht auf wirtschaftswissenschaftlicher Lektüre auf, sondern zeugen vielmehr von seinem Interesse an Fragen der Verhaltensforschung. So setzte er sich 1962 in mehreren aufeinanderfolgenden Abschnitten seines Tagebuchs mit der Klassifikation von Entwicklungsländern nach Chester Bowles auseinander und formulierte in diesem Zusammenhang, dass eine »wissenschaftliche Mentalität« unter Entscheidungsträgern und -trägerinnen sowie der Grad an Respekt gegenüber Recht und Ordnung entscheidende Faktoren seien, um den Entwicklungsgrad einer bestimmten Gesellschaft zu messen.127 ›Entwick125 | Ein Beispiel hierfür ist die Masterarbeit von Joe D. Wray, in der er die Bevölkerung Candelarias als ländlich charakterisierte und gleichzeitig darauf verwies, dass diese aufgrund der zunehmenden Industrialisierung des Zuckerrohranbaus in ähnlichen Armutsverhältnissen wie die städtische Industriearbeiterschaft lebte. Vgl. Wray, Malnutrition and Diarrhea, 1967, S. 6. 126 | Vgl. Wray, Notes on Colombia 1963, Columbia HS A&S, S. 68. 127 | Wray, Notes on Colombia 1962, Columbia HS A&S, S. 116ff.

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lung‹ und ›Moderne‹ waren für Wray also keine sozialen oder wirtschaftlichen, sondern vielmehr psychologische Kategorien. Weiterhin zeigt sich in Wrays Wiedergabe seiner Unterhaltung mit dem Freiwilligen des Peace Corps beispielhaft, dass die Mitarbeiter der Rocke­feller Foundation zwar ›im Feld‹ arbeiteten und als Ärzte sicherlich auch in direktem Kontakt mit einzelnen Patientinnen und Patienten standen, Informationen über deren Ansichten jedoch stets in Form von Informationen Dritter niederschrieben. Dies konnten entweder kolumbianische Kolleginnen und Kollegen oder Freiwillige des Peace Corps sein. Diese wiederum, auch das lässt sich an der Niederschrift des Gesprächs zwischen Wray und einem der jungen Männer exemplifizieren, wurden von den Stiftungsmitarbeitern regelmäßig zu ihrer Einschätzung der revolutionären Stimmung in ihren jeweiligen comunidades befragt und schienen von der Möglichkeit einer Revolution selbst eher angetan als abgeschreckt zu sein. Dieser Eindruck fügt sich ein in die historische Forschung zum Peace Corps, die gezeigt hat, dass viele der jungen Freiwilligen durch ihren Einsatz politisch radikalisiert wurden.128 Diese Radikalisierung zählt zu einer ganzen Reihe an unbeabsichtigten Auswirkungen, die die Entwicklungsprojekte der frühen 1960er Jahre im Allgemeinen und solche im Bereich des community development im Besonderen an vielen Orten der Welt hatten. Sowohl die Entwicklungsakteure und -akteurinnen, die die eigenverantwortliche Problemlösung der communities vorantreiben sollten, als auch die ›Objekte‹, die diesen Projekten ausgesetzt wurden, entwickelten oftmals Analysen von Unterentwicklung, die nicht im Sinne der Erfinder und Erfinderinnen, also in diesem Fall der Ärzte der Rocke­feller Foundation, waren. Deren Vorstellung von ›technischer‹ und ›unpolitischer‹ Hilfe geriet immer stärker an ihre Grenzen.129 In Kolumbien wurde aufgrund dessen ab Mitte der 1960er Jahre von Regierungsseite Kritik an Acción Comunal laut und gefordert, die comunidades weniger zu ›motivieren‹ und die Programme stärker auf ›technische‹ Hilfe zu beschränken. Insbesondere im Zusammenhang mit den Fortbildungen für community leaders wurde befürchtet, dass diese zu einer Radikalisierung der Bauern und Bäuerinnen führen. Diese Ängste wurden nicht zuletzt dadurch verstärkt, dass der prominente Priester und Soziologe Camilo Torres solche Fortbildungen durchgeführt hatte, bevor er sich dem Ejercito de Liberación Nacional (ELN) anschloss.130 Auch innerhalb des Kreises der Medizinerinnen und Mediziner der Universidad del Valle trafen im Laufe der 1960er Jahre immer unterschiedlichere politische Meinungen und Vorstellungen davon, worin 128 | Vgl. Cobbs Hoffman, All You Need Is Love, 1998, S. 211–216; Fischer, Making them Like Us, 1998, S. 189. 129 | Siehe hierzu auch Sackley, The Village as Cold War Site, 2011. 130 | Vgl. Karl, The Politics of International Community Development, 2008, S. 31f.

6. Bevölkerungsprobleme im lokalen Entwicklungslabor

die ›Entwicklungsprobleme‹ der comunidades bestanden, aufeinander, was zu heftigen Konflikten führte. Diese entzündeten sich nicht zuletzt daran, wie die Familienplanungsprogramme und demografischen Forschungsprojekte in Candelaria beurteilt wurden, die das Centro Universitario Interdisciplinario de Población (CUIP) durchführte. Diese durch den Population Council, die Ford Foundation und die Rocke­feller Foundation gut finanzierte Einrichtung führte in den 1960er Jahren zahlreiche Forschungsvorhaben durch, weitete die Unterstützung von Familienplanungsprogrammen aus und entwickelte Konzepte und Lehrerfortbildungen zur Etablierung des ›Bevölkerungsproblems‹ in den Lehrplänen kolumbianischer Schulen.131 Doch nicht alle werteten diese Entwicklung als Erfolg. Neben der katholi­ schen Kirche war es vor allem die wachsende Studierendenbewegung, die sich kritisch äußerte. Inspiriert von der kubanischen Revolution richteten Studierende im ganzen Land ihre antiimperialistische Kritik gegen universitäre Einrichtungen, die von US-amerikanischen Stiftungen finanziert wurden.132 An der Universidad del Valle schien der Einfluss der ›imperialistischen gringos‹ nirgends offensichtlicher als in den Programmen der Abteilung für Präventivmedizin, im CUIP und in der Familienplanung. Auch die universitären Programme in Candelaria gerieten als Experimentierfeld der US-amerikanischen Wissenschaft ins Kreuzfeuer der Kritik. Bei einem studentischen Generalstreik 1971 an der Universidad del Valle kam es zur Eskalation. Das Militär besetzte den Campus und die Universitätsleitung suchte Asyl in einem auf einem Nebencampus gelegenen Gebäude der medizinischen Fakultät. Dort befanden sich nicht nur die Büros der Rocke­feller Foundation, sondern auch die der Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen eines umfangreichen Kooperationsprogramms zwischen der Universidad del Valle und der University of Tulane. Zu den Geldgebern des Programms gehörte auch das US-amerikanische Verteidigungsministerium. In Henao Cabals Schilderung wurden diese Büros verwüstet und Kooperationsverträge als Beweis des ›imperialistischen Einflusses‹ beschlagnahmt. Die University of Tulane beendete im Anschluss an die Proteste von 1971 ihre Zusammenarbeit mit der Universidad del Valle, die Rocke­feller Foundation dachte erstmals über ein Ende der Unterstützung und Präsenz in Cali nach und Gabriel Velázquez Palau trat nach 20 Jahren als Dekan der medizinischen Fakultät zurück. Im selben Jahr wurde der Vertrag 131 | Vgl. Universidad del Valle. Actividades del Comité Universitario de Investigaciones sobre Población – CUIP –, Cali, Nov. 1968: UV ACH, FS/DS, Decanatura, K 12: M 2. 132 | Für eine kritische Einordnung der spärlichen Literatur zur kolumbianischen Studierendenbewegung siehe Acevedo Tarazona, Álvaro; Samacá Alonso, Gabriel: »Revolución y cultura en América Latina. El movimiento estudiantil como objeto de estudio en la historiografía colombiana y continental«, in: Memoria & Sociedad, 15, 31, 2011, S. 104–119.

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zwischen der Universidad del Valle und der Regierung des Departamento Valle del Cauca gekündigt, was einer nationalen Gesetzesänderung geschuldet war, wonach alle departamentalen Gesundheitszentren, deren Leitung an Dritte, z. B. Universitäten, abgegeben worden war, wieder rein staatlich betrieben werden sollten – so auch in Candelaria. Einige Jahre lang nutzte die Universität das Gesundheitszentrum noch für Lehrzwecke, 1974 war es auch damit vorbei; im selben Jahr wurden auch die Familienplanungsprogramme in Candelaria beendet. Dieses endgültige Ende wird in den Rückblicken der Ärzte auf die Beschwerden einiger weniger Bewohnerinnen und Bewohner zurückgeführt, man habe sie als Versuchskaninchen missbraucht.133 In einer Evaluation des bisherigen Engagements der Rocke­feller Foundation an der Universidad del Valle von 1974 wird deutlich, dass die Proteste von 1971 auch einen Bruch in der persönlichen Zusammenarbeit zwischen Angehörigen der Stiftung und der Universität bedeuteten. Zwar seien die Proteste in Cali im landesweiten Vergleich nur von einer kleinen Minderheit getragen worden, kurz und harmlos verlaufen, dennoch hätten sie einige US-amerikanische Förderinstitutionen nachhaltig schockiert. Zahlreiche Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen zeigten sich traurig und wütend ob der fehlenden Dankbarkeit seitens der Universität. Die Einschnitte in der Förderung der Universidad del Valle hätten dort wiederum all diejenigen stark getroffen, die der Kooperation mit US-amerikanischen Institutionen positiv gegenüberstanden und damit der radikalen Minderheit in die Hände gespielt. Zwischen den Zeilen wird in der Evaluation jedoch auch deutlich, dass es in den Jahren vor den Protesten schon Beschwerden gegen die Präsenz und Politik der Rocke­feller Foundation gegeben hatte. Diese betrafen einerseits deren ungleiche Mittelverteilung, von der die präventiven Gesundheitsprogramme stark profitierten, andererseits die Ausrichtung der Universität insgesamt. Die Kritiker und Kritikerinnen warfen der Rocke­feller Foundation vor, die Universidad del Valle in eine US-amerikanische Universität zu transformieren, deren Absolventen und Absolventinnen

133 | Auch in anderen Städten kam es 1971 zu großen Studierendenprotesten. In Cali wurden die Studierenden auch von Gewerkschaften und Schulen unterstützt. Die Professorenschaft war auch an der medizinischen Fakultät gespalten, unterstützte die Proteste jedoch teilweise. Zu den Studierendenprotesten an der Universidad del Valle im Allgemeinen und der medizinischen Fakultät im Besonderen vgl. Orozco O., Guillermo: La Escuela de Medicina y su Universidad, Cali: Universidad del Valle 1984, S. 119–215; Sánchez Ángel, Ricardo: »Sobre el movimiento universitario 1968–1972«, in: Humanidades, 17, 2, 1988, S. 73–78; Henao Cabal, Crónica, 1996, S. 127–139. Zu den Gerüchten um die Hintergründe des universitären Rückzugs aus Candelaria vgl. Llanos; Pradilla; Rueda, Candelaria, 2006, S. 48.

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nach ihrem Abschluss in die USA emigrierten und daher keinen Beitrag zur Entwicklung Kolumbiens leisteten.134 In diesem Bericht über die Stimmung an der Universität in den 1960er und 1970er Jahren zeigt sich weiterhin, dass nicht alle Mitglieder der Universität die Präsenz der Rocke­feller Foundation und anderer US-amerikanischer Institutionen und Personen begrüßten. Auch innerhalb der medizinischen Fakultät wurde Kritik an deren Einfluss geäußert. Schon 1967 hatte es studentische Proteste gegen den Einfluss der Stiftung auf die Abteilung für Präventivmedizin gegeben. Sie kritisierten, so schildert es Henao Cabal, dass die Laborausstattung aufgrund der finanziellen und technologischen Unterstützung aus den USA die Studierenden nicht angemessen auf ihre zukünftige Tätigkeit in Krankenhäusern und Gesundheitszentren vorbereite, wo sie mit sehr viel weniger Technik arbeiten müssten. Sie würden somit nicht zu den Ärzten und Ärztinnen ausgebildet, die Kolumbien brauche.135 Die Studierenden warfen den Lehrenden also vor, an ihrem Anspruch, Mediziner und Medizinerinnen für die Gesundheitsprobleme der kolumbianischen Landbevölkerung auszubilden, zu scheitern. Der Blick auf das ›Laboratorium‹ Candelaria konnte die Vielfalt der entwicklungspolitischen Forschungs- und Interventionsbereiche aufzeigen, innerhalb derer kinderreiche Familien, fehlende Familienplanung und Bevölkerungswachstum auf lokaler Ebene in Kolumbien als nationales Entwicklungsproblem definiert wurden. In Candelaria waren zahlreiche lokale, nationale und internationale Entwicklungsakteure und -akteurinnen präsent, die den Ort in eine ›Modellgemeinde‹ transformieren wollten. Community-Development-Programme sollten dort ihre Wirkung entfalten und die Einwohner und Einwohnerinnen dazu anregen, die Entwicklung Candelarias eigeninitiativ zu gestalten sowie ihr Verhalten und ihre Einstellungen entlang den Empfehlungen der Experten und Expertinnen für ihr eigenes Wohl und das der comunidad und Nation verändern. Vor allem die präventiven Gesundheitsprojekte, die von der Universidad del Valle durchgeführt wurden, zielten auf diese Ver­hal­tens­ än­de­r ungen ab. Diese müssen im Kontext einer umfassenden Refomierung der medizinischen Ausbildung in Kolumbien gesehen werden, mit der in den späten 1940er Jahren begonnen wurde und zu deren Kernelementen die Hinwendung zu den spezifischen Gesundheitsproblemen der kolumbianischen Landbevölkerung zählte.

134 | Vgl. Koch-Weser, Dieter: Analysis of the Rocke­feller Foundation’s Program ›Education for Development‹ in the ›Universidad del Valle‹ Cali, Colombia, [um 1974]: Columbia HS A&S, JDW, Box 19, Folder 3. 135 | Vgl. Henao Cabal, Crónica, 1996, S. 107.

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Bevölkerung, Fer tilität und Familienplanung in Kolumbien

Forschung aus dem Public-Health-Bereich, vor allem zu illegalen Abtreibungen und deren gesundheitlichen Auswirkungen sowie zu Unterernährung bei Kleinkindern, rückte die Regulierung von Schwangerschaften und Geburten in das Blickfeld von Medizinern und Medizinerinnen. Unterernährung im Kleinkindalter wurde bei der Forschung in Candelaria als zentrales Gesundheitsproblem ausgemacht, das das zukünftige ›Humankapital‹, von dem die wirtschaftliche Entwicklung Kolumbiens abhängig gemacht wurde, physisch und psychisch in hohem Maße beeinträchtigte. Als eine der Ursachen von Unterernährung wurden dabei besonders kinderreiche Familien ausgemacht. Deshalb kam der Familienplanung eine erhöhte Bedeutung zu. Ein elementarer Bestandteil der präventiven Gesundheitsarbeit wurde der Versuch, den Frauen und Männern Candelarias Zugang zu Verhütungsmitteln zu ermöglichen, sie zu ihren Kenntnissen darüber und Erfahrungen damit zu befragen sowie ihre Sexualität zu verändern. Darüber hinaus konnte die Analyse der Forschung, Intervention und Interaktion im laboratorio comunal zeigen, dass nicht nur dessen Einwohnerinnen und Einwohner dazu angeregt werden sollten, ihr Verhalten zu ändern, sondern auch der Ausbildung der Medizinstudierenden große Bedeutung beigemessen wurde. Diese sollten die Gesundheits- und damit Entwicklungsprobleme im ruralen Kolumbien kennenlernen und sich der Landbevölkerung empathisch zuwenden. In der Außendarstellung Candelarias, die in Publikationen der Acción Comunal oder Berichten der Rocke­feller Foundation vorgenommen wurde, wurden die Bemühungen, durch Selbsthilfe und dosierte Unterstützung ›von außen‹ eine ›fortschrittliche‹ comunidad zu werden, durchweg positiv dargestellt. Die Berichte der Mitarbeiter vor Ort deuten hingegen darauf hin, dass sich weder die Bevölkerung Candelarias noch die auf sie einwirkenden residentes so verhielten, wie es die Experten und Expertinnen vorgesehen hatten. So sind diese Texte von Klagen darüber durchzogen, dass sich die Studierenden nicht für die Probleme der Landbevölkerung interessierten und sich die Einwohnerinnen und Einwohner Candelarias erzieherischen Maßnahmen wie der Teilnahme an Familienplanungskursen entzogen. Zurückgeführt wurde solches Verhalten oftmals auf vermeintlichen Kontakt zu ›kommunistischen Agitatoren‹, was die sicherheitspolitische Dimension der lokalen Entwicklungsprojekte und die Präsenz der Sorge vor revolutionären Bewegungen in Kolumbien verdeutlicht. Die transnationale Expertengemeinschaft, die sich für Public Health und Familienplanung einsetzte, ignorierte konsequent konkurrierende Erklärungen für die ›Unterentwicklung Candelarias‹, die diese beispielsweise auf die Problematik der Landverteilung und die Proletarisierung der Arbeiter und Arbeiterinnen in den Zuckerrohrfabriken zurückführten.

7. Fazit

Die vorliegende wissenshistorische Untersuchung konnte zeigen, dass die Problematisierung von Bevölkerungswachstum und kinderreichen Familien sowie der Versuch, diesen ›Problemen‹ mit Anreizen zu einer Selbstregulierung der ›Fertilität‹ zu begegnen, in den Verhandlungen darüber, wie eine ›moderne‹ und ›entwickelte‹ kolumbianische Gesellschaft aussehen sollte, in den 1950er bis 1970er Jahren einen zentralen Platz einnahmen. ›Entwicklung‹ und ›Modernisierung‹ waren wiederum die Leitvokabeln, an denen sich die Reformprojekte und die Vorstellung des damit zusammenhängenden gesellschaftlichen Wandels der Regierungen des Frente Nacional und der US-amerikanischen Entwicklungshilfe für Kolumbien, die über die Allianz für den Fortschritt organisiert wurde, orientierten. Als Kernelemente ihres gemeinsamen Entwicklungsmodells können der Ausbau des kapitalistischen Wirtschaftsmodells, eine verstärkte Industrialisierung, mit deren Hilfe die Abhängigkeit von Importgütern verringert werden sollte, und der Ausbau staatlicher Aufgaben und Funktionen gelten. Als eine der wichtigsten Voraussetzungen für die wirtschaftliche Entwicklung Kolumbiens wurden seit den 1940er Jahren gesunde und gebildete Arbeitskräfte definiert. Solches ›Humankapital‹, so die Botschaft, die sich in diesem Jahrzehnt unter anderem durch Forschung zu Geburtenraten, kindlicher Entwicklung und Abtreibungen durchsetzte, konnte nur in Kleinfamilien mit spezifischen Charakteristika heranwachsen. Theoretisch untermauert wurden diese Ergebnisse von der wirkmächtigen Theorie des demografischen Übergangs. Mit dieser wurde seit den 1950er Jahren in transnationalen bevölkerungswissenschaftlichen Kreisen argumentiert, dass den meisten ›unter­ entwickelten Ländern‹ der Welt eine Phase großen und schnellen Bevölkerungswachstums bevorstand und dieses mithilfe von ›Bevölkerungskontrolle‹ oder ›Familienplanung‹, d. h. konkret, durch die Entwicklung und Verbreitung von sicheren, bezahlbaren und einfach anwendbaren Verhütungsmitteln gebremst werden müsse. Ansonsten drohten alle Bemühungen, diese Gesellschaften nach dem Vorbild des industrialisierten Westens zu transformieren,

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zu scheitern, so die demografische Hypothese. Auf deren Grundlage wurden ab den 1950er Jahren in der ganzen Welt staatliche und private Familienplanungsprogramme gestartet. Eine weltweite Popularisierung erfuhr die Theorie in der darauffolgenden Dekade mit den weit verbreiteten Schlagwörtern ›Bevölkerungsbombe‹ und ›Bevölkerungsexplosion‹. In der Logik der US-amerikanischen Kalten Krieger führte ein Scheitern des von ihnen angebotenen Entwicklungsmodells die Gesellschaften der ›Dritten Welt‹ in Versuchung, dem kommunistischen Weg in die Moderne zu folgen. Innerhalb der Amerikas war diese Gefahr nach der kubanischen Revolution von 1959 sehr viel realer geworden, was auch den Alarmismus in demografischen Texten US-amerikanischer Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen deutlich erhöhte, wie in dieser Studie herausgearbeitet wurde. Die Entwicklungshilfeprojekte der Allianz für den Fortschritt, mit denen die Regierung von John F. Kennedy 1961 auf den Machwechsel in Kuba reagierte, sollten verhindern, dass andere lateinamerikanische Länder dem kubanischen Beispiel folgten. Doch das mit diesen Projekten verknüpfte Versprechen, den Lebensstandard breiter Bevölkerungsschichten durch den Ausbau des Gesundheits- und Bildungssystems und neuen Wohnraum anzuheben, schien angesichts der stetig anwachsenden und immer jünger werdenden Bevölkerungen nicht einlösbar. Vor diesen Hintergründen kam den wissenschaftlichen Erkenntnissen darüber, wie kolumbianische Familien zusammengesetzt waren, welche geschlechterspezifischen Rollen Männer und Frauen darin einnahmen, wie Frauen und Männer zusammenlebten und Kinder in die Welt setzten, wie, wie oft und mit wem sie Sex hatten und was für Verhütungsmittel sie dabei verwendeten, aber vor allem, mit welchen sozioökonomischen Variablen all diese Fragen zusammenhingen, eine große Bedeutung zu. Erforscht wurde dies mittels sogenannter KAP-Umfragen, in denen die ›Kenntnisse‹ und ›Einstellungen‹ zu Familienplanung und Verhütungsmitteln sowie die ›Praktiken‹, d. h. ihre Verwendung, erfragt wurden. Das Ziel dieser Studien, die in Kolumbien in erster Linie von Medizinerinnen und Medizinern durchgeführt wurden, war es, politische Entscheidungsträger und -trägerinnen, genauso wie die Befragten selbst, davon zu überzeugen, dass kolumbianische Frauen und Männer mehr Kinder bekamen, als sie bekommen wollten, ihnen der Zugang zu und das Wissen über Verhütungsmittel fehlten und es eine staatliche Aufgabe sei, beides zur Verfügung zu stellen. Die transnationale Forschungsgemeinschaft hatte also zum Ziel, über einen Wandel des individuellen ›reproduktiven Verhaltens‹ kolumbianischer Frauen und Männer, d. h. über die Selbstregulierung individueller Körper, die Geburtenrate der kolumbianischen Bevölkerung und damit die Bevölkerungswachstumsrate, also den Zustand des ›Volkskörpers‹, zu verändern, und dafür politische Unterstützung zu erhalten.

7. Fazit

Die hier vorgelegte Analyse konnte zeigen, dass diese auf die Reduktion von ›Fertilität‹ ausgerichtete Forschung dazu beitrug, bestimmte Verhaltensformen und Einstellungen als ›modern‹ zu markieren und Abweichungen davon als ›traditionell‹ zu diskreditieren. Diesen Effekt hatte sowohl die Forschungspraxis selbst als auch die Verbreitung ihrer Ergebnisse. Gleichzeitig spiegeln die Fertilitätsforschung und insbesondere die Fragen, die dabei gestellt wurden, wider, was für eine Gesellschaft die transnationale Forschungsgemeinschaft imaginierte. Die moderne kolumbianische Gesellschaft bestand demnach aus Kleinfamilien mit wenigen Kindern, in denen beide Eltern erwerbstätig waren, offen und gleichberechtigt miteinander kommunizierten, alle wichtigen familiären Entscheidungen gemeinsam und rational trafen und ihren Kindern umfassende Bildungschancen und berufliche Möglichkeiten wünschten. In solchen Familien konnten wohlgenährte und physisch wie psychisch gesunde Kinder herangezogen werden, die zu produktiven Arbeitskräften und kaufkräftigen Konsumenten und Konsumentinnen heranwachsen würden. Das größte potenzielle Hindernis auf dem Weg zu solch einer Gesellschaft stellten Männer, ihre Vorstellungen von Männlichkeit, ihre sexuellen ›Bedürfnisse‹ und ihr fehlendes Verantwortungsbewusstsein gegenüber ihren Kindern und damit auch gegenüber der Gesellschaft und dem Entwicklungsprojekt des Frente Nacional dar. ›Verantwortungsvolle Elternschaft‹ und vor allem verantwortungsvolle Väter galt es zu stärken, um die Stabilität der Gesellschaft zu wahren – rund um diese Annahme bildete sich in den 1960er Jahren in Kolumbien ein breiter politischer Konsens heraus, der auch die katholische Kirche mit einschloss. Väter, die nicht für ihre Kinder sorgten, hinterließen zerrüttete Familien und schlecht versorgte Kinder, die weder in der Lage sein würden, zur Entwicklung Kolumbiens beizutragen noch vor revolutionärem Gedankengut gefeit waren. Dissens bestand hingegen hinsichtlich der Frage, ob verantwortungsvolle Eltern nur eine bestimmte Anzahl von Kindern großziehen sollten und welche Verhütungsmethoden sie anwenden durften bzw. sollten. Hier standen sich die offizielle Position der katholischen Kirche, die von der kolumbianischen Bischofskonferenz und konservativen Politikerinnen und Politikern, aber auch Medizinern und Medizinerinnen geteilt wurde und alle ›künstlichen‹ Verhütungsmittel ablehnte, und die Forderung nach einer Trennung von Sexualität und Reproduktion und den Zugang zu allen Verhütungsmethoden – nicht jedoch zu Abtreibung – gegenüber. Über die teils umstrittenen Vorstellungen von Familie, Geschlechterrollen und Sexualität hinaus wurde in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit den ›Bevölkerungsproblemen‹ Kolumbiens eine moderne und entwickelte Gesellschaft auch über ein bestimmtes Verhältnis zwischen den ›Eliten‹ und dem ›Volk‹ entworfen. Entscheidungsträgern und -trägerinnen in Lateinamerika wurde von den Bevölkerungswissenschaftlern und -wissenschaftlerinnen

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vorgeworfen, das ›einfache Volk‹ ihrer Länder zu pathologisieren und zu biologisieren, anstatt deren Entwicklungspotenzial zu erkennen und zu fördern. Für diese Förderung galten distanzierte ›traditionelle Eliten‹ als ungeeignet, es bedurfte stattdessen einer empathischen Mittelschicht, die sich mit dem ›Volk‹, dessen Problemen und Entwicklungschancen auseinandersetzte. Der richtigen Ausbildung sowie der Förderung dieser Empathie bei den Interviewerinnen und Interviewern der Fertilitätsumfragen und den Medizinstudierenden im laboratorio comunal Candelaria wurde daher große Bedeutung beigemessen, wie in dieser Studie herausgearbeitet werden konnte. Die jungen, gut ausgebildeten Frauen und Männer aus dem urbanen Kolumbien sollten durch den direkten Kontakt mit der Landbevölkerung deren spezifische Entwicklungsprobleme kennenlernen, empathisch auf die zu entwickelnden comunidades und ihre Bewohner und Bewohnerinnen eingehen, dabei deren Fähigkeiten zur Selbsthilfe stärken und gleichzeitig professionelle Distanz wahren. Die Herausbildung dieser Fähigkeiten und Eigenschaften wurde von den Public-Health-Experten und -Expertinnen in Candelaria als ebenso wichtig erachtet wie der Erfolg der präventiven Gesundheitsmaßnahmen selbst. Auch die Mittelschicht stellte also essenzielles ›Humankapital‹ für die Entwicklung Kolumbiens dar, wobei sich dieses nicht nur über gute Ausbildung, sondern, wie gezeigt wurde, auch über bestimmte Charaktereigenschaften, Verhaltensweisen und Einstellungen definierte. Die Kontakte, die bei der Forschung zu Familienplanung und Gesundheit zwischen den Interviewerinnen und Studierenden und der Landbevölkerung entstanden, hatten jedoch auch Effekte, die den Intentionen der Experten und Expertinnen diametral entgegenstanden: Anstatt die Frauen und Männer lediglich zu befragen oder ihre Fähigkeiten zur Selbsthilfe zu fördern, unterstützten einzelne Studierende diese materiell. Und hatten kurz nach der Übernahme des Gesundheitszentrums in Candelaria durch die Universidad del Valle Mitarbeiter der Rocke­feller Foundation noch beklagt, dass die Studierenden nicht für die ›Probleme‹ der lokalen Bevölkerung zu interessieren seien, so äußerten wenige Jahre später Studierende selbst den Vorwurf, dass die Präsenz und die Gelder von Akteuren und Akteurinnen wie der Rocke­feller Foundation zu einer Ausbildung führten, die an der Realität der ländlichen Gesundheitszentren, an denen sie in Zukunft arbeiten würden, vorbeigehe. Auch die Landbevölkerung, die in Familienplanungsprogrammen und anderen lokalen Entwicklungsprojekten lernen sollte, ihre Sexualität, ihre Nahrungsgewohnheiten oder die Pflege ihrer Kleinkinder zu verändern, nutzte die Angebote oftmals anders, als es die Entwicklungshelfer und -helferinnen intendiert hatten, und war vor allem nicht bereit, an den damit verbundenen Lehrgängen teilzunehmen. Das zeigen unter anderem die Klagen über Frauen aus Candelaria, die zwar Verhütungsmittel beziehen, aber nicht an den damit verbundenen Kursen teilnehmen wollten. In diesen sollten sie über die Vortei-

7. Fazit

le, die Familienplanung für sie selbst und den Fortschritt der kolumbianischen Nation brachte, unterrichtet werden, gleichzeitig dienten die Kurse dazu, Veränderungen in ihrem Verhalten und ihren Einstellungen mittels Umfragen zu untersuchen und zu messen. Diese in solchen Programmen geschaffenen Anreize, durch Selbstführung zur Entwicklung Kolumbiens beizutragen, konnten als zentrales Merkmal der gouvernementalen Entwicklungsprojekte im Frente Nacional herausgearbeitet werden. Jenseits der Klage, dass sich einzelne Kolumbianer und Kolumbianerinnen den Entwicklungsprogrammen entzogen, wurde die fehlende Teilnahme daran im Kontext der ausgehenden Violencia und der Gründung marxistischer und castristischer Guerillagruppen auch als Zeichen revolutionärer Umtriebe gedeutet. Zur Herausbildung revolutionären Gedankenguts konnte es aber auch durch die Programme selbst kommen, wie seitens der kolumbianischen Regierung im Zusammenhang mit dem Community-Development-Programm Acción Comunal im Laufe der 1960er Jahre befürchtet wurde. Auch die Sozialwissenschaftler und -wissenschaftlerinnen, die in den Reformprojekten des Frente Nacional mitarbeiteten, und innerhalb dieser Gruppe vor allem die Soziologen und Soziologinnen der Universidad Nacional, wurden von der kolumbianischen Regierung zunehmend misstrauisch betrachtet, zumal nachdem sich der Soziologe und Priester Camilo Torres 1965 dem Ejercito de Liberación Nacional (ELN) angeschlossen hatte. Neben Expertinnen und Experten der Ökonomie waren in den ersten Jahren des Frente Nacional Soziologen und Soziologinnen zuständig dafür, die kolumbianische Regierung zu beraten und deren Modernisierungs- und Entwicklungsprojekte zu implementieren. In den Vereinigten Staaten wiederum waren es speziell Modernisierungstheoretiker und -theoretikerinnen, die in der Regierung John F. Kennedys, vor allem bei der Ausgestaltung von dessen Außenpolitik und Entwicklungshilfe, wichtige Beratungsfunktionen einnahmen. In beiden Ländern kam der empirischen Sozialforschung die wichtige Aufgabe zu, die Einstellungen und Wünsche der Bevölkerung zu ermitteln, um darauf auf bauend Maßnahmen zu entwickeln, mit denen diese verändert werden konnten. Die Umfrageforschung zu Familienplanung und Verhütung, und die Bedeutung, die deren Ergebnissen seitens der staatlichen Entwicklungsplanung beigemessen wurde, fügt sich also, wie die Untersuchung herausgestellt hat, in eine umstrittene Neubewertung der Frage, auf Grundlage welcher wissenschaftlicher Erkenntnisse aus welchen Disziplinen in Kolumbien Politik gemacht werden sollte. Forschung zu Bevölkerungswachstum und den Möglichkeiten, dieses mit Familienplanungsprogrammen zu senken, eröffnete den daran beteiligten Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen aus den USA und Kolumbien in den 1960er Jahren große Karrierechancen, hoch dotierte Anstellungen in Wissenschaft und Politik und einen luxuriösen Lebensstil. Wie eine Karriere als

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Bevölkerungsexperte aussehen konnte, hat die Auseinandersetzung mit dem Werdegang J. Mayone Stycos’ gezeigt. Er produzierte erstmals in den 1950er Jahren in Puerto Rico empirisches, auf Umfragen basiertes Wissen, das die Theorie des demografischen Übergangs bestätigte, und forderte, Programme der ›Geburtenkontrolle‹ und Familienplanung auszubauen. Auf dieser Forschung und ihren Ergebnissen bauten seine Lauf bahn als Wissenschaftler, Berater zahlreicher privater und staatlicher Institutionen und seine öffentliche Anerkennung als Experte, der Lösungsvorschläge für ›Bevölkerungsprobleme‹ entwickeln konnte, auf. Sein Status und vor allem seine Sichtbarkeit veränderten sich jedoch ab Mitte der 1970er Jahre, als Familienplanungsprogramme und die damit verknüpfte Logik, dass eine Reduktion des Bevölkerungswachstums entscheidend zur wirtschaftlichen Entwicklung der Länder Asiens, Afrikas und Lateinamerikas beitragen werde, von verschiedenen Seiten immer lauter angezweifelt und kritisiert wurde. Hier zeigt sich, dass die Möglichkeit, über Forschung zu ›reproduktivem Verhalten‹ und den Mechanismen, mit denen dieses verändert werden konnte, Karrieren aufzubauen und gesellschaftliche Machtpositionen zu erlangen, zeitlich begrenzt und davon abhängig war, wie viel Wahrheit und Legitimität den Forschungsmethoden und Ergebnissen beigemessen wurde. Es ist in diesem Zusammenhang auffällig, dass die in den 1960er Jahren in den Vereinigten Staaten gegründeten population studies centers in der Regel bis heute bestehen, während die in Kolumbien geschaffenen Institutionen deutlich kurzlebiger waren. Das Prestige und die Anerkennung der US-amerikanischen Institute nahmen im Verlauf 1970er Jahren zwar deutlich ab. Doch gelang es diesen – wie für das auf Lateinamerika und Fertilitätsforschung spezialisierte International Population Program an der Cornell University herausgearbeitet werden konnte –, sich weiterhin über Forschung zu ›Bevölkerung‹ in ›unter­ entwickelten‹ Ländern zu profilieren. Die bevölkerungswissenschaftlichen Forschungsinstitute, -schwerpunkte und Studiengänge in Kolumbien wurden hingegen großteils Mitte der 1970er Jahre aufgelöst, wie die Untersuchung des Demografieprogramms am Zentrum für Entwicklungsökonomie an der privaten Universidad de los Andes und der Abteilung für Bevölkerungsforschung des Verbandes medizinischer Fakultäten Kolumbiens (ASCOFAME-DEP) gezeigt hat. Doch stellten die Bevölkerungswissenschaften und Familienplanungsprogramme der 1960er Jahre auch das Sprungbrett für Disziplinen und Bewegungen dar, die in der darauffolgenden Dekade an Bedeutung und Kontur gewinnen sollten. Das gilt, wie gezeigt werden konnte, beispielsweise für die Sexualwissenschaften und die Forderung nach umfassender Sexualerziehung für Jugendliche. Der erhebliche Legitimationsverlust, den die wissenschaftliche Forschung zur Senkung der Fertilität kolumbianischer Männer und Frauen ab den späten 1960er Jahren erlitt und der sich wenige Jahre später in der Beendigung

7. Fazit

der genannten Forschungsprogramme ausdrückte, kann auf mehrere miteinander verschränkte Entwicklungen zurückgeführt werden. So konnte gezeigt werden, dass sich in den späten 1960er Jahren in Kolumbien die Kritik an US-amerikanischer Einflussnahme im Allgemeinen und an US-amerikanischer Präsenz in kolumbianischen Universitäten wie an Forschungsmethoden, die als US-amerikanisch und damit als ›imperialistisch‹ galten im Besonderen verdichtete. Und das, obgleich die Architekten und Architektinnen der Allianz für den Fortschritt zu Beginn der Dekade die Hoffnung gehegt hatten, Kolumbien in ein Erfolgsmodell ihres kapitalistischen und demokratischen Entwicklungsprogramms verwandeln zu können und die Regierungen des Frente Nacional als treue Alliierte der Vereinigten Staaten galten. Doch in den frühen 1970er Jahren zeigte sich, dass zahlreiche mit der Allianz für den Fortschritt verknüpfte Versprechen nicht umgesetzt worden waren und der Glaube an die Wirkung von Entwicklungshilfe sowie an ihre humanistische Motivation ins Wanken geraten war. US-amerikanische Truppen waren in die Dominikanische Republik einmarschiert, der Vietnamkrieg hatte weltweit zu Protesten gegen die Außenpolitik der Vereinigten Staaten geführt und die Studierendenschaft in Berkeley, Berlin und Paris, Istanbul und Mexiko, aber auch in Cali und Bogotá hatte sich politisiert. Familienplanungsprogrammen haftete in Kolumbien wie auch in zahlreichen anderen Entwicklungsländern vor diesen Hintergründen im Verlauf der 1960er Jahre zunehmend der Ruf an, die Zahl der Armen verringern zu wollen, anstatt die Ursachen von Armut zu bekämpfen. Deshalb waren diese Programme und die damit verbundene Forschung von der genannten antiimperialistischen Kritik besonders betroffen. Die Vorwürfe konnten zwar dem Erfolg privater Familienplanungsorganisationen wie der kolumbianischen Profamilia nichts anhaben, führten jedoch an zahlreichen Universitäten zu einem Ende der Aktivitäten in diesem Bereich, wie für die Universidad del Valle herausgearbeitet wurde. Das theoretische und politische Fundament dieser Kritik fußte nicht zuletzt auf neuen in Lateinamerika entwickelten Erklärungsmodellen für globale Ungleichheiten, die sich unter dem Begriff der Dependenztheorie zusammenfassen lassen und ab Mitte der 1960er Jahre auch in Kolumbien breit rezipiert und vielfach angewandt wurden. Modernisierungstheoretische Erklärungen für Unterentwicklung, die der Politik des Frente Nacional und der Allianz für den Fortschritt zugrunde lagen, sowie das Selbstverständnis einer empirischen sozialwissenschaftlichen Forschung, die vermeintlich unpolitisches und ideologiefreies Wissen produzierte, auf dessen Grundlage Politik betrieben werden sollte, wurde von Dependenztheoretikern und -theoretikerinnen angegriffen und abgelehnt. Das gilt auch für weitere in Lateinamerika entwickelte Denkströmungen dieser Zeit wie den von kolumbianischen Soziologen und Soziologinnen entwickelten Ansatz einer sociología comprometida sowie die Befreiungstheologie, die in den späten 1960er Jahren

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auch in Kolumbien immer mehr Anhänger und Anhängerinnen fand. Kritisiert wurde von diesen Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen also der Anspruch der ›unpolitischen Politikberatung‹ selbst, verstanden sie ihre eigene Forschung doch vermehrt als expliziten und kämpferischen Bestandteil politischer Auseinandersetzungen. Wie anhand der Debatten in kolumbianischen Zeitungen und im kolumbianischen Senat gezeigt werden konnte, die auf die Integration von Familienplanungsprogrammen in das staatliche Gesundheitssystem folgten, zu der es ab 1966 durch einen Vertrag zwischen dem Gesundheitsministerium und ASCOFAME-DEP kam, wurde Kritik gegen diese Programme jedoch auch von Teilen der katholischen Kirche und der konservativen Partei erhoben. Deren Angriffe richteten sich nicht nur gegen die Programme, sondern auch gegen die damit verknüpfte Fertilitätsforschung, der manipulatives Vorgehen und fehlende Wissenschaftlichkeit vorgeworfen wurde. Als weiterer Grund für das schnelle Ende der kolumbianischen Institutionen, an denen das Wissen zu Bevölkerung, Fertilität und Familienplanung verankert war, wird der Einbruch in der US-amerikanischen Finanzierung der kolumbianischen Forschungszentren angeführt, zu dem es in dem Moment gekommen sei, als die Geburtenrate in Kolumbien messbar gesunken war, und damit Forschung dazu, wie sie zu senken sei, nicht mehr nötig war. Dieser Zusammenhang wird vor allem von den kolumbianischern Forschern und Forscherinnen selbst angeführt, die in den 1960er Jahren mit Stipendien des Population Council in den USA eine bevölkerungswissenschaftliche Spezialisierung durchliefen und zehn Jahre später vor der Situation standen, dass ihr Wissen weitaus weniger gefragt war, als sie zu Beginn ihrer Ausbildung erwartet hatten. Dieser Ausbildung war seitens der US-amerikanischen Akteure und Akteurinnen, die Anfang der 1960er Jahre nach Kolumbien reisten, um im Auftrag des Population Council, der Ford Foundation und der Rocke­feller Foundation in Kontakt mit kolumbianischen Universitäten, Forschungszentren, Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen zu treten, große Bedeutung beigemessen worden. So wurden für den Auf bau des Demografieprogramms an der Universidad de los Andes, der 1964 mit Geldern des Population Council begonnen wurde, zunächst junge Ökonomen und Ökonominnen in den USA als Bevölkerungswissenschaftler und -wissenschaftlerinnen ausgebildet, und erst in einem zweiten Schritt mit der demografischen Forschung und Lehre begonnen. Die Analyse dieser Gründung sowie der Gründung und kurzen Geschichte der Abteilung für Bevölkerungsforschung innerhalb des Verbandes der medizinischen Fakultäten Kolumbiens (ASCOFAME-DEP) und der Verbindungen zwischen dem sogenannten population establishment und dem religionssoziologischen Centro de Investigaciones Sociales und der Fakultät für Soziologie an der Universidad Nacional hat gezeigt, dass sich der Auf bau die-

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ser Institute nicht top-down erklären und erzählen lässt. Außerdem konnte die wissenshistorische Untersuchung der transnationalen Zusammenarbeit beim Aufbau der Bevölkerungsforschung in Kolumbien und im Public-Health-Labor Candelaria zeigen, wie vielfältig sich die Interaktionen und Konflikte bei der lokalen ›Begegnung‹ zwischen heterogenen Entwicklungsakteuren und -akteurinnen einerseits und den verschiedenen zu entwickelnden Bevölkerungsgruppen andererseits ausgestalteten und wie präsent in diesen Begegnungen das imperiale Verhältnis zwischen den Vereinigten Staaten und Lateinamerika war. Das Auftreten der US-amerikanischen Berater und Beraterinnen in Kolumbien zeugt durchaus davon, dass diesen eine Top-Down-Implementierung von Bevölkerungsforschung vorschwebte und sie klare Vorstellungen darüber mitbrachten, innerhalb welcher Strukturen welche Art von Forschung mit welchem Zweck durchgeführt werden sollte, und dass sie nach Institutionen und Personen suchten, mit denen sich diese Blaupause umsetzen ließ. So zeigten sich Mitarbeiter der Ford Foundation begeistert darüber, dass die ursprünglich als interdisziplinärer Dachverband angelegte Abteilung für Bevölkerungsforschung ASCOFAME-DEP bald von Medizinerinnen und Medizinern dominiert wurde. Diese schnitten alle Aktivitäten der Abteilung darauf zu, Politik und Öffentlichkeit davon zu überzeugen, dass kolumbianische Frauen und Männer verhüten wollten und es eine Aufgabe des Staates sei, ihnen diese Möglichkeit durch den Auf bau von Familienplanungsprogrammen zu eröffnen. Gleichzeitig verdeutlicht der schnelle Zerfall des Dachverbandes auch, dass die Zentralisierungsbemühungen der US-amerikanischen Geldgeber an der Heterogenität der kolumbianischen Akteure und Akteurinnen scheiterten. Aus diesem Grund veränderte sich auch die Bewertung der Abteilung seitens ihrer Geldgeber im Laufe ihres Bestehens. War zunächst viel Begeisterung über deren kompetente, charismatische und öffentlichkeitswirksame Führungsfigur Hernán Mendoza Hoyos zu vernehmen gewesen, so kam nach einigen Jahren Kritik an dessen Führungsstil auf und die Förderer und Förderinnen der Abteilung äußerten besorgt, dass sie Mendoza Hoyos im Speziellen und die Abteilung im Allgemeinen mit zu viel Macht ausgestattet hätten. Kolumbianische Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen, die sich für demografische Fragestellungen interessierten und die Regierung, die Kirche sowie die Gesellschaft davon überzeugen wollten, allen Kolumbianerinnen und Kolumbianern zu ermöglichen, die Anzahl ihrer Kinder zu planen, suchten auch von sich aus den Kontakt zu Organisationen wie dem Population Council, wie der Fall des Priesters und Soziologen Gustavo Pérez und seines religionssoziologischen Forschungsinstituts Centro de Investigaciones Sociales deutlich machen konnte. Die Korrespondenz mit Vertretern des Population Council zeugt von einer kurzen und intensiven Zusammenarbeit, die von Pérez begonnen und wieder beendet wurde, ohne dass ihnen seine Beweggründe

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verständlich wurden. Pérez wiederum, das konnte die Analyse seines Werdegangs und der Forschung, die von ihm und an seinem Institut durchgeführt wurde, zeigen, war in zahlreichen transnationalen Netzwerken verankert und von den Geldern derjenigen, die sich der Senkung des Bevölkerungswachstums verschrieben hatten, nicht abhängig, und trotz einiger gemeinsamer Interessen inhaltlich und politisch ganz anders aufgestellt. Spannungsfelder bestanden in der Entwicklungshilfe der 1960er Jahre in Kolumbien nicht nur zwischen ›Gebern‹ und ›Nehmern‹, sondern auch zwischen den Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen der US-amerikanischen Stiftungen und Organisationen, die mehrere Monate oder Jahre als field officer oder als resident advisor in Kolumbien lebten und arbeiteten, und ihren Vorgesetzten, die aus den jeweiligen Zentralen in den USA heraus agierten. Besonders deutlich konnten diese Spannungen zwischen dem in Cali und Candelaria stationierten Mitarbeiter der Rocke­feller Foundation Joe D. Wray und den Abteilungsleitern, die in New York seine Arbeitstagebücher lasen, herausgearbeitet werden. So beschwerten sich diese über den Ton seiner Berichte, der ihnen zu pessimistisch und ausführlich erschien. Wray hingegen beklagte sich über diejenigen, die für wenige Tage oder Stunden Candelaria besuchten, keine Probleme sehen wollten, wieder abreisten und wenig fundierte, begeisterte Evaluationen schrieben. Dieser Konflikt lässt sich innerhalb des für die Geschichte der Entwicklungshilfe so charakteristischen Narrativs des Scheiterns einordnen, das zahlreiche Aufzeichnungen von Entwicklungsakteuren und -akteurinnen ›im Feld‹ durchzieht. Das Verhältnis zwischen den US-amerikanischen Akteuren und Akteurinnen, die sich der Lösung des Weltbevölkerungsproblems und damit auch der kolumbianischen ›Bevölkerungsprobleme‹ verschrieben hatten, und den Kolumbianern und Kolumbianerinnen mit denen sie zusammenarbeiteten, konnte in dieser Untersuchung aufgrund der Quellenlage ausschließlich auf Grundlage der Beobachtungen und Kommentare der US-amerikanischen Seite analysiert werden. Diese Quellen zeugen einerseits von einem selbstherrlichen Auftreten bzw. von Entwicklungshelfern und -helferinnen, die von ihrer eigenen Überlegenheit überzeugt waren. Andererseits zeigen sie, wie stark ihre Arbeit und ihre Erfolge davon abhingen, im Auftreten nicht ›imperialistisch‹ zu wirken. So galt es, die kolumbianischen Institutionen, mit denen sie eng zuammenarbeiteten, nicht durch eine zu offensichtliche Zurschaustellung dieser Kooperation zu schwächen. Solch ein taktischer Rückzug aus der Öffentlichkeit fand unter anderem im Familienplanungsprogramm in Candelaria statt, nachdem Vorwürfe laut geworden waren, wonach ein ›protestantischer Gringo‹ den Frauen des Ortes Spiralen einsetzte. Ein weiteres Beispiel hierfür ist der Auszug der resident advisors des Population Council aus den jahrelang gemeinsam mit ASCOFAME-DEP genutzten Büroräumen in Bogotá, zu dem es Anfang der 1970er Jahre, und damit recht kurz vor der Auflösung

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der Abteilung für Bevölkerungsforschung, kam. ASCOFAME-DEP begründete diesen Schritt mit der Notwendigkeit, die kolumbianischen Programme zu ›nationalisieren‹. Während in der spärlichen Literatur, die sich mit den kolumbianischen Familienplanungsprogrammen der 1960er Jahre und dem Diskurs rund um die kolumbianische ›Bevölkerungsexplosion‹ auseinandersetzt, zwei gegensätzliche Thesen dominieren, die die Programme und Debatten entweder als genuin kolumbianisch oder als imperialistischen Import beschreiben, konnte dieser nur vermeintliche Kontrast in dieser Untersuchung historisiert werden. Formulierungen, die die Notwendigkeit betonten, ein ›nationales‹ Familienplanungsprogramm aufzubauen und Forschung zu den ›nationalen‹, und damit spezifisch kolumbianischen, Bevölkerungsproblemen durchzuführen, durchzogen die Texte aller kolumbianischen Akteure und Akteurinnen, die zu Bevölkerungswachstum und Familienplanung forschten, unabhängig davon, wie transnational sie agierten und vernetzt waren. Das Argument kam auf, wenn sich kolumbianische Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen gegen die Vorgaben aus übergeordneten Forschungssettings wandten, die in der Regel vom Centro Latinoamericano y Caribeño de Demografía (CELADE) in Santiago de Chile in Zusammenarbeit mit weiteren internationalen sowie US-amerikanischen Institutionen entwickelt wurden. Wie die Beispiele des Familienplanungsprogramms in Candelaria und der geteilten Büroräume zwischen ASCOFAME-DEP und dem Population Council jedoch deutlich machen konnten, war der Auf bau ›nationaler‹ Programme und Forschung nicht nur ein Argument, das zur Abgrenzung diente, sondern auch eine Strategie, die USame­ri­kanische Institutionen, Akteure und Akteurinnen entwickelten, wenn sie auf antiimperialistische Kritik trafen. Diese war nicht nur unter marxistischen Studierenden, linken Soziologen und Soziologinnen und konservativen Politikern und Politikerinnen verbreitet, sondern auch unter der vermeintlich ›traditionellen‹ und unwissenden Landbevölkerung, wie das Beispiel der kolumbianischen Frau zeigt, die ein Interview zu ihren Familienidealen und Verhütungspraktiken geben sollte, ihre Antworten jedoch mit dem Verweis darauf, dass hinter dem Umfrageprojekt nur die CIA stehen könne, verweigerte.

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Lexikon der »Vergangenheitsbewältigung« in Deutschland Debatten- und Diskursgeschichte des Nationalsozialismus nach 1945 2015, 494 S., kart. 34,99 E (DE), 978-3-8376-2366-6 E-Book PDF: 34,99 E (DE), ISBN 978-3-8394-2366-0

Debora Gerstenberger, Joël Glasman (Hg.)

Techniken der Globalisierung Globalgeschichte meets Akteur-Netzwerk-Theorie 2016, 296 S., kart. 29,99 E (DE), 978-3-8376-3021-3 E-Book PDF: 26,99 E (DE), ISBN 978-3-8394-3021-7

Alban Frei, Hannes Mangold (Hg.)

Das Personal der Postmoderne Inventur einer Epoche 2015, 272 S., kart. 19,99 E (DE), 978-3-8376-3303-0 E-Book PDF: 17,99 E (DE), ISBN 978-3-8394-3303-4

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Geschichtswissenschaft Manfred E.A. Schmutzer

Die Wiedergeburt der Wissenschaften im Islam Konsens und Widerspruch (idschma wa khilaf) 2015, 544 S., Hardcover 49,99 E (DE), 978-3-8376-3196-8 E-Book PDF: 49,99 E (DE), ISBN 978-3-8394-3196-2

Pascal Eitler, Jens Elberfeld (Hg.)

Zeitgeschichte des Selbst Therapeutisierung — Politisierung — Emotionalisierung 2015, 394 S., kart. 34,99 E (DE), 978-3-8376-3084-8 E-Book PDF: 34,99 E (DE), ISBN 978-3-8394-3084-2

Thomas Etzemüller

Auf der Suche nach dem Nordischen Menschen Die deutsche Rassenanthropologie in der modernen Welt 2015, 294 S., kart., zahlr. z.T. farb. Abb. 29,99 E (DE), 978-3-8376-3183-8 E-Book PDF: 26,99 E (DE), ISBN 978-3-8394-3183-2

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