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German Pages 340 Year 2016
Albert Manke, Katerˇina Brˇezinová (Hg.) Kleinstaaten und sekundäre Akteure im Kalten Krieg
Albert Manke, Katerˇina Brˇezinová (Hg.)
Kleinstaaten und sekundäre Akteure im Kalten Krieg Politische, wirtschaftliche, militärische und kulturelle Wechselbeziehungen zwischen Europa und Lateinamerika
Dieser Sammelband ist in Kooperation mit dem Global South Studies Center der Universität zu Köln, dem University of Cologne Forum ›Ethnicity as a Political Resource: Perspectives from Africa, Latin America, Asia, and Europe‹ sowie der Metropolní univerzita Praha (Metropolitan University Prague) entstanden. Die Zusammenarbeit mit der Metropolní univerzita Praha fand im Rahmen des Projekts »Institutionelle Förderung der wissenschaftlichen Entwicklung« statt. Wir danken allen Kooperationspartnern für die großzügige Förderung und die gute Zusammenarbeit.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
© 2016 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Comandante Ernesto Che Guevara, der damalige Präsident der kubanischen Nationalbank, auf einem Traktor der Marke Zetor in Brno (Brünn), Tschechoslowakei, 27.10.1960. Fotograf: Bican Emil. Eine kubanische Wirtschaftsdelegation unter der Leitung Guevaras besuchte damals die Waffen- und Maschinenfabrik Zbrojovka Brno (damaliger Name auf Deutsch: Jan-Šverma-Werke Brünn), zu der auch der Traktorenhersteler ZKL Brno zählte. © CTK/Bican Emil Printed in Germany Print-ISBN 978-3-8376-3526-3 PDF-ISBN 978-3-8394-3526-7 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]
Inhalt
Vorwort
Bernd Greiner | 7 Einleitung Kleinstaaten und sekundäre Akteure im Kalten Krieg aus der Perspektive der europäischen Lateinamerikaforschung
Albert Manke, Kateřina Březinová und Laurin Blecha | 11 Im Schatten des Imperiums Überlegungen zur politisch-strategischen Position von Kleinstaaten in Europa und in Lateinamerika und der Karibik zur Zeit des Kalten Krieges
Mitchell Belfer | 35 Iberoamerikanische Studien in der Tschechoslowakei zur Zeit des Kalten Krieges
Markéta Křížová | 61 Historische Grundlagen der tschechoslowakischlateinamerikanischen Beziehungen zwischen 1945 und 1989
Josef Opatrný | 83 ›Profite‹ oder ›Politik‹ Die Dilemmata der britisch-kubanischen Beziehungen zu Beginn des Kalten Krieges
Steve Cushion | 105 Die deutsch-brasilianische Connection Eine geheime Kooperation zum Aufbau des brasilianischen Atomprogramms zu Beginn der 1950er Jahre
Carlo Patti | 127 Guatemala und die Tschechoslowakei zu Beginn des Kalten Krieges
Lukáš Perutka | 149
Waffen für ein revolutionäres Kuba Kuba und die Tschechoslowakei: Der Beginn einer neuen transatlantischen Allianz im Kalten Krieg
Albert Manke | 169 Tropenfrüchte für die Tschechoslowakei, Techniker für Kuba Die Wirtschaftsbeziehungen zwischen der sozialistischen Tschechoslowakei und dem revolutionären Kuba
Hana Bortlová-Vondráková | 187 Der Aufbau der Beziehungen zwischen der SBZ/DDR und Argentinien, 1947-1972
Víctor M. Lafuente | 207 Der Putsch Pinochets und die ersten Jahre des chilenischen Militärregimes in Geheimdienstberichten der tschechoslowakischen Residentur in Santiago de Chile
Michal Zourek | 231 Die Tschechoslowakei und Brasilien im Kalten Krieg Diplomatie, Wirtschaft, Geheimdienste und Guerillas
Matyáš Pelant | 253 Von Ottakring nach Cuatro Esquinas Beziehungen und Kooperationen zwischen Nicaragua und Österreich von 1979 bis 1990
Laurin Blecha | 275 Der Kalte Krieg auf Film Propaganda im Dienste tschechoslowakischer Aktivitäten in Lateinamerika
Kateřina Březinová | 303 Schlussbetrachtungen
Albert Manke, Kateřina Březinová und Holger M. Meding | 325 Autorinnen und Autoren | 335
Vorwort B ERND G REINER
Im Grunde betonierte der Kalte Krieg ein jahrhundertealtes, dem Kolonialismus verpflichtetes Weltbild, treffend parodiert in Bertolt Brechts Moritat von Mackie Messer: »Denn die einen sind im Dunkeln / Und die andern sind im Licht / Und man siehet die im Lichte / Die im Dunkeln sieht man nicht.« Weltpolitik war demnach eine Sache der Hegemonialmächte, der Blockführer in Ost und West sowie einiger störrischer Renegaten wie China, gegen deren Machtvollkommenheit scheinbar kein Kraut gewachsen war. Begriffliche Schwundgrößen dieser Sichtweise geistern noch heute durch die Literatur – beispielsweise in der Rede von den ›Stellvertreterkriegen‹, der zufolge die ›Großen‹ nach Gusto und Gelegenheit ihnen ergebene oder ausgelieferte ›Kleine‹ wie Schachfiguren bewegten und im Zweifel buchstäblich zu Bauernopfern bereit waren, wenn es ihre strategischen Gesamtinteressen erforderten. Die Kehrseite dieser Wahrnehmung, ebenfalls dem Zeitgeist des Kalten Krieges geschuldet, klang gleichermaßen schlicht. Sie verklärte die Akteure abseits der Metropolen mal zu Opfern, mal zu Visionären – Letzteres vorzugsweise mit Blick auf die Geschichte der ›Blockfreien‹, die angeblich einen ›dritten‹, per definitionem emanzipatorischen Weg zwischen den Blöcken gehen wollten. Zweifellos konnte sich die internationale Geschichtswissenschaft seit 1989 aus derlei kognitiven Umklammerungen lösen. Die binär kodierte Sichtweise hat ausgedient, von einer strikten Trennung der Welt in ›Zentrum‹ und ›Peripherie‹ kann keine Rede mehr sein, gefragt sind eine ›Dezentralisierung‹ des Blicks und eine Verflechtungsgeschichte, die vielschichtige Handlungsebenen freilegt sowie unterschiedliche Akteure zu Wort kommen lässt. Es geht also um eine Vermessung der Grenzen des Kalten Krieges – nicht allein der Grenzen auf der politischen Weltkarte, sondern auch und vor allem der Grenzen gesellschaftlicher Ordnungsvorstellungen und Denkmuster. Wann, unter welchen Voraussetzungen
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und weshalb wurden die Grenzen des Sag- und Machbaren umgangen, untergraben oder gar außer Kraft gesetzt? Wer waren die Akteure? Welche Grenzen konnten wie weit verschoben werden? Welche waren durchlässig, welche besonders stabil, gar irreversibel und über das Ende des Kalten Krieges hinaus wirksam? Wie ausgeprägt waren die Spannungen zwischen zentripetalen und zentrifugalen Kräften? Damit wird das Interesse auf Gegenläufiges und Beharrendes gelenkt, auf Öffnendes und Schließendes – Eigendynamiken und nicht intendierte Konsequenzen eingeschlossen. Dass auf diese Weise Ambivalenzen, Widersprüchlichkeiten und vielfach gebrochene Dynamiken erfasst werden, liegt auf der Hand. Und nicht zuletzt verbindet die ›Grenzperspektive‹ den Kalten Krieg mit der Diplomatie-, Gesellschafts- und Gewaltgeschichte vor 1945 und den teils parallelen, teils gegenläufigen Prozessen wie Entkolonialisierung, Liberalisierung und Globalisierung. Dergleichen Impulse weiterzuentwickeln und mit ihrer Hilfe die vielfach verschränkte Geschichte des Kalten Krieges zu entwirren, gehört auf absehbare Zeit zu den großen Herausforderungen zeithistorischer Forschung. Damit ist zugleich der historiographische Ort des vorliegenden Bandes markiert. Er knüpft an zahlreichen Debatten zurückliegender Jahre an, prüft sie auf ihre Belastbarkeit und setzt zugleich neue Akzente. Im Grund dreht sich dabei alles um eine ironische Pointe: Eben weil auf der nördlichen Halbkugel die Grenzen von Einfluss- und Machtzonen fixiert waren, verlagerten die konkurrierenden Machtblöcke in Ost und West ihren Kampf um Ressourcen, Deutungsmacht und Prestige seit den späten 1950er Jahren zusehends in die südliche Hemisphäre. Ob in Asien, Afrika oder Lateinamerika, überall meldeten sie Alleinvertretungsansprüche auf den richtigen Weg in die Moderne an und buhlten um Unterstützung, wenn nicht Gefolgschaft. Welche Instrumente – politische, wirtschaftliche oder militärische – zum Zuge kamen, war eine Frage der Opportunität, vielfach auch der von Ort und Zeit bestimmten Gelegenheiten. Dessen ungeachtet galt die Faustregel: Wer die Bastionen der Konkurrenz von den Rändern her untergräbt und möglicherweise zu Fall zu bringt, nutzt sich selbst, denn der Schaden des Anderen ist stets der eigene Gewinn. Da beide Seiten auf dieses ›Nullsummenspiel‹ fixiert waren, lief ihr Versuch zur Verschiebung von Grenzen verlässlich ins Leere. Will heißen: Am Ende neutralisierten sie sich auch auf diesem Terrain. Ihrerseits auf die Maxime rascher Entwicklung und Modernisierung verpflichtet, ließen sich bemerkenswert viele Eliten der ›Dritten Welt‹ aus freien Stücken auf diesen Wettbewerb ein. Und zwar umso mehr, je deutlicher die Vorteile einer realen oder gespielten Loyalität zu Tage traten. Immer wieder eröffnete das Engagement der ›Supermächte‹ den vermeintlich ›Schwachen‹ ungeahnte
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Handlungsspielräume. Allein die Drohung, ins gegnerische Lager zu wechseln, erwies sich als zuverlässiges Instrument zur Aufstockung von Wirtschafts- und Militärhilfe seitens der scheinbar ›Starken‹. In diesem Spiel über Bande hatten ›Charismatiker der zweiten Reihe‹ fortgesetzt große Auftritte. Gemeint sind Potentaten wie Fidel Castro, Norodom Sihanouk, Pol Pot, Haji Mohamed Suharto, Mobutu Sese Seko, Saddam Hussein, Jonas Savimbi, Julius Nyerere oder Nguyen Van Thieu, die mit viel durchtriebener List die west-östlichen Führungsmächte gegeneinander ausspielten und mitunter den Eindruck vermittelten, als wedelte der Schwanz mit dem Hund. Vertreterinnen und Vertreter der so genannten ›Blockfreien‹ wie Gamal Abdel Nasser und Indira Gandhi können ebenfalls zu dieser Kohorte gerechnet werden, waren sie doch weniger einem ›Dritten Weg‹ als vielmehr einer ›Schaukelpolitik‹ zwischen Ost und West verpflichtet. Damit wird zugleich deutlich, welchen Preis die ›Supermächte‹ für die Globalisierung ihres jeweiligen Deutungs- und Ordnungsanspruchs zu zahlen hatten. Stets der Gefahr einer Überdehnung materieller wie auch ideeller Ressourcen ausgesetzt, mussten sie nolens volens auf die Dienste von Verbündeten zurückgreifen, mitunter auch auf buntscheckige ›Koalitionen von Willigen‹. Gerade die vermeintlich ›Kleinen‹ innerhalb und an den Rändern des eigenen Lagers nahmen die Gelegenheit dankend an, konnten sie doch auf diesem Wege selbst definierte Interessen verfolgen, Handlungsspielräume ausbauen und Optionen testen, die ihnen andernorts verwehrt waren – militärische, geheimdienstliche und rüstungspolitische Geschäfte inklusive. Aus ›Fußvolkstaaten‹ konnten mithin unter der Hand Vetomächte werden. Die Handlungsspielräume bis dato vernachlässigter Akteure sowie deren Einfluss auf die große Politik zu rekonstruieren, wird noch geraume Zeit in Anspruch nehmen. Ausweislich der in diesem Band diskutierten Evidenz kann aber schon jetzt zweierlei die Orientierung erleichtern. Erstens war ein robuster Pragmatismus das Abklingbecken für überhitzte Ideologen und ihre Aufgeregtheiten. Deshalb konnte blockübergreifend Handel betrieben, Wissen ausgetauscht und Politik gemacht werden – auch von konservativen Regierungen, die ansonsten keinen Zweifel an ihrem Antikommunismus und der Unvereinbarkeit der Systeme aufkommen ließen. An dieser Stelle zeigt sich wieder einmal die Zählebigkeit von Traditionen: Viele der vor 1945 geknüpften Verbindungen und Netzwerke waren schlicht nachhaltiger als die Imperative des Kalten Krieges, von der Globalisierung mit ihrer grenzöffnenden Dynamik ganz zu schweigen. Erst eine in diesem Sinne zeitlich wie räumlich erweiterte Betrachtung kann den Kalten Krieg tiefenscharf erfassen und verdeutlichen, wieviel Altes im Neuen steckte und inwieweit das Neue seinerseits Traditionen stiftete, die über seine Zeit hinaus wirksam blieben.
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Zweitens lebte der Kalte Krieg politisch von Voraussetzungen, die von seinen Impulsgebern auf Dauer nicht zu kontrollieren waren – noch nicht einmal in staatssozialistischen Diktaturen. Gemeint ist die umfassende Personalrekrutierung innerhalb wie außerhalb des Staatsapparates. Einerseits für den ›Vielfrontenkrieg‹ der Systemauseinandersetzung unerlässlich, schuf diese personelle Vervielfachung andererseits Probleme ganz eigener Art. Vieles war schlicht kontraproduktiv, etwa der in Ost wie West grassierende Eigensinn aufgeblähter Geheimdienste und Militärbürokratien. Und anderes entzog sich dem Zugriff des Staates ganz und gar, vorweg Aktivistinnen und Aktivisten aus Nichtregierungsorganisationen, die als Mittlerinnen und Mittler zwischen den Blöcken angetreten waren und am Ende mit alternativen Politikentwürfen die Blocklogik in Frage stellten. Dass der Kalte Krieg die gesamte Welt umspannte und in alle Lebensbereiche vordrang, ist eine Binsenweisheit. Historisch einzuordnen und zu verstehen ist er aber erst, wenn seine Widersprüche, Bruchlinien und vor allem die teils vorgegebenen, teils selbst gemachten Grenzen kartographiert werden – und mit ihnen jene Grauzonen, die in der Schwarz-Weiß-Choreographie der Zeit keinen Platz hatten und auch deshalb in Vergessenheit gerieten. Hier hakt der vorliegende Band ein, zum Gewinn von Expertinnen und Experten und von Laien erst Recht.
Einleitung Kleinstaaten und sekundäre Akteure im Kalten Krieg aus der Perspektive der europäischen Lateinamerikaforschung A LBERT M ANKE , K ATEŘINA B ŘEZINOVÁ UND L AURIN B LECHA
Konzentrierte sich die Forschung zum Kalten Krieg lange Zeit auf einschneidende Konfliktmomente und die Konfrontation zwischen den Supermächten (AutioSarasmo/Humphreys 2010a: 16), so ist in etwa seit der Jahrtausendwende ein verstärktes Interesse an bisher vernachlässigten Akteuren und Themen zu erkennen. Dadurch entspannen sich auch von postkolonialen und subalternen Ansätzen geprägte Debatten zur Entwicklung von Ländern im ›Globalen Süden‹ (womit in der Forschung zum Kalten Krieg meist summarisch die Länder der damaligen ›Dritten Welt‹ bezeichnet werden).1 Der Historiker Robert McMahon fasst diese Entwicklung folgendermaßen zusammen: »Das wachsende Interesse an derartigen ›heißen‹ Themen wie Dekolonialisierung, Entwicklung, Souveränität, Staatenbildung und Menschenrechten hat dazu beigetragen, die Dritte Welt in mehreren Disziplinen und untergeordneten Feldern von der Peripherie ins Zentrum zu rücken, was eine im Entstehen begriffene Forschung zum globalen Süden in der Zeit nach dem [Kalten, d.Hg.] Krieg weiter befeuert hat.« (McMahon 2013: 4)2
1
Für eine kritische Auseinandersetzung mit diesen Begriffen vgl. Dirlik (2007: 12-14).
2
Alle Zitate aus dem Englischen und Spanischen wurden in diesem Sammelband von Albert Manke und Laurin Blecha ins Deutsche übersetzt. Wir danken darüber hinaus den studentischen Hilfskräften der Iberischen und Lateinamerikanischen Abteilung des Historischen Instituts der Universität zu Köln, die uns tatkräftig dabei unterstützt haben. Alle Zitate aus anderen Sprachen wurden von den Autorinnen und Autoren der jeweiligen Beiträge in das Englische oder Spanische übersetzt, soweit nicht anderweitig angegeben.
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Dieses wachsende Interesse ist laut Rupprecht das Ergebnis einer veränderten Perspektive: »In einer bewussten Abgrenzung vom Eurozentrismus rückt der Fokus dorthin, wo der Kalte Krieg heiß war und wo seine Folgen bis heute am deutlichsten zu sehen sind: auf die Dritte Welt« (Rupprecht 2007:2).3 Forschungen, die sich in dieses Paradigma einschreiben, schließen Wechselwirkungen zwischen lokalen Bestrebungen zur Dekolonialisierung und dem Einfluss der Supermächte (Bradley 2010; Engerman 2011) sowie postkoloniale (Kwon 2010), transnationale und transsystemische (Péteri 2008) Perspektiven mit ein. Auch der Blick aus anderen Weltregionen heraus findet zunehmend Beachtung (Hong/Szonyi/Zheng 2010). Studien dieser Art sind zur New Cold War History zu zählen, die nach ersten, noch bipolar geprägten Ansätzen von Gaddis (1997 und 2005) vor allem durch Odd Arne Westads globalgeschichtliche Perspektive etabliert wurde, wie er in seinem Standardwerk The Global Cold War eindrücklich darlegen konnte (2005). Diese neue Herangehensweise wurde durch kulturwissenschaftliche Ansätze aus den Geistes- und Sozialwissenschaften bereichert und erweitert und schafft so eine Grundlage für inter- und transdisziplinäre Dialoge: indem sie die Bedeutung intersektierender Themenbereiche wie Identität, Ethnizität, Gender, Religion, Emotionen, Mentalität und Sprache in den Vordergrund rücken,4 wird der Kalte Krieg zunehmend als global verflochtener Konflikt- und Zeitraum begriffen.5 Die dort entfesselten Dynamiken prägten die Welt nicht nur in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts maßgeblich, sondern zeitigen bis heute ihre Auswirkungen auf das globale politische, ökonomische und soziokulturelle Gefüge einer multipolaren Welt.6
3
Vgl. hierzu auch McMahon (2005); Jacob (2015a: 5). Angesichts der Konzentration von Konfliktschauplätzen im ›Globalen Süden‹ scheint es daher nur eingeschränkt angebracht, von Peripherie zu sprechen, wie Jacob (2015) es tut.
4
Vgl. Maguire (2016); Iber (2015); McMahon (2013: 4); Aparicio [u.a.] (2013); Calandra/Franco (2012); Isaac/Bell (2012); Niño Rodríguez/Montero (2012); GienowHecht (2010); Jervis (2010); Greiner [u.a.] (2009); Stöver (2007: 247-296); Caute (2003); Richmond (2003); Hixson (1997).
5
Vgl. Immerman/Goedde (2013). Zur Diskussion von Definitionen des Kalten Krieges vgl. Nehring (2012); Duara (2011); Wallerstein (2010). Einen neuen Ansatz der Ideologiegeschichte betreibt Leffler (2007).
6
Wir sind uns der Problematik von Begriffen wie ›Dritte Welt‹, ›Entwicklungsländer‹ oder ›Industrieländer‹ bewusst. Diese spiegeln laut Englert, Grau und Komlosy »[...] letztlich immer auch die Machtverhältnisse wieder, die der ungleichen internationalen Arbeitsteilung zugrunde liegen [und] fixieren […] bestimmte Länder und Regionen in
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Nach dem Fall der Berliner Mauer hat die Erforschung des Kalten Krieges durch die (teils nur vorübergehende) Öffnung von Archiven nicht nur neue Impulse erhalten, sondern auch zuvor gültige Interpretationen auf den Prüfstand gebracht. Archivfunde in Zentral- und Osteuropa, die vor dem Zusammenbruch der Sowjetunion unzugänglich waren, aber auch die Freigabe von Dokumenten in den USA, Europa, China und Lateinamerika haben weitere wichtige Einblicke ermöglicht.7 Der Kalte Krieg ist nicht länger vorrangig ein Feld des USamerikanischen und sowjetischen historischen Gedächtnisses und der damit verbundenen Geschichtsschreibung. Der Blick hinter den ›Eisernen Vorhang‹ (etwa in Kramer/Smetana 2013) sowie multipolare und dezentrale Ansätze machen die Komplexität dieses Konflikts erst greifbar (Pieper Mooney/Lanza 2013). Auch die meisten Beiträge im vorliegenden Sammelband stützen sich entscheidend auf Quellen (u.a. aus Archiven der Tschechischen Republik, der BRD, Großbritanniens und zahlreicher Länder Lateinamerikas), welche die bipolare Fixierung auf die Supermächte erweitern und neue Perspektiven eröffnen. Die Rolle Lateinamerikas im globalen Kalten Krieg wurde bisher vor allem als Teil einer Geschichte der Amerikas erzählt, bei der das Verhältnis zwischen verschiedenen Staaten Lateinamerikas und den USA in der longue durée – also seit dem Aufstieg der USA zur hemisphärischen Hegemonialmacht im 19. Jahrhundert – im Vordergrund stand.8 Hierbei wurde insbesondere die Rolle der USA als
einer Position, obwohl diese Wandlungsprozesse durchlaufen und ihre Rolle in der Welt verändern können« (2006: 13). 7
Vgl. Joseph (2008: 8-9); Blanton (2008); Spenser (2008: 392-394); Hanhimäki/Westad (2004); Leffler (1996). Das 1991 eingerichtete und bis heute tätige Cold War International History Project (CWIHP) am Woodrow Wilson International Center for Scholars in Washington beherbergt ein öffentlich zugängliches digitales Archiv mit übersetzten Dokumenten zur Geschichte des globalen Kalten Krieges. Website: http://digitalarchive.wilsoncenter.org/ (7.9.2016). Einige dieser Funde wurden in Forschungskooperationen aufgearbeitet (z.B. Fursenko/Naftali 2006 und 1997). In Deutschland erforscht derzeit eine Historikerkommission, die auch eine Lateinamerikasektion besitzt, die Geschichte des Bundesnachrichtendienstes. Nach der Publikation ihrer Ergebnisse wird es hierdurch ebenfalls neue Einblicke in die Geschichte des Kalten Krieges geben.
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Vgl. u.v.a. Pardo Rueda (2014); Brands (2010), Grandin/Joseph (2010); Joseph/Spenser (2008); O’Brien (2007); Reid (2007); McPherson (2006); Nieto (2003); Robinson (2003); Ayerbe (2001); Huggins (1998); Dietrich (2007); Meding (2007); Spenser (2004); Grandin (2002); Longley (2002); die Dokumentensammlung in Hol-
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imperialistischer Aggressor und Unterstützer von Staatsterrorismus angeprangert, die sie am sichtbarsten 1954 beim Putsch in Guatemala, 1961 bei der Invasion der Schweinebucht in Kuba, 1973 beim Putsch Pinochets in Chile, in den 1970er und 1980er Jahren bei der Unterstützung der Operation Condor im Cono Sur Südamerikas und beim Contra-Krieg in Nicaragua nach der Revolution von 1979 innehatten,9 mit einer kurzen Unterbrechung unter US-Präsident Carter (Schoultz 1981; Sikkink 2007: 121-147). Die Beschäftigung mit den Folgen der damit einhergehenden Menschenrechtsverletzungen und der Umgang damit hat bereits einen eigenen Forschungszweig begründet (vgl. z.B. Luther [u.a.] 2011; Mayer/Molden 2009; Molden 2007). Der Grundtenor der neueren Forschung zum Kalten Krieg in Lateinamerika ist der Versuch, das Agieren der lateinamerikanischen Staaten und gesellschaftlichen Akteure auf unterschiedlichen Ebenen in den Blickpunkt zu rücken, wie es etwa Joseph und Spenser in ihrem Sammelband praktizieren (2008). Eine besonders prominente Rolle nahm das revolutionäre Kuba ein, das durch die Hinwendung zur Sowjetunion und die 1962 folgende Kubakrise zu einem der prägnantesten Schauplätze des Kalten Krieges wurde.10 Zum Einfluss der Sowjetunion und ihrer Blockstaaten in Lateinamerika während des Kalten Krieges lassen sich (mit Ausnahme der Arbeiten zu Kuba)11 deutlich weniger Studien finden als zum Einfluss der USA.12 Das gilt in gewisser
den/Zolov (2000); Arbex (1997); Smith (1996); Artaud (1995); Immerman (1990); Niess (1984). 9
Vgl. u.v.a. Cullather (1999); Grandin (2004); Streeter (2000); Immerman (1982); Blight/Kornbluh (1998); Rodríguez Cruz (2005); Manke (2014); Morley (1987); Kornbluh (2003); Harmer (2011); Haslam (2005); LaFeber (1983); Menjívar/Rodriguez (2005); Lynch (2011); Gill (2004); Calloni (2010); McSherry (2005); Wright (2007); Schoultz (1998 und 1987); Valdés (1995); Walker/Wade [2017].
10 Vgl. u.v.a. Greiner (2010); Fursenko/Naftali (1997); Chang/Kornbluh (1998); Diez Acosta (2002). 11 Speziell zu Kuba vgl. Loss (2013); Loss/Prieto (2012); Pavlov (1994); Carbonell Cortina 1989; Levesque (1976); Torres-Ramírez (1971). 12 Vgl. Rupprecht (2015); Andrew/Mitrokhin (2005: 27-137); Kanet (2005); Paszyn (2000); Balmaceda (1996); Adams (1992); Tagor (1991); Varas (1991); Miller (1989); Blasier (1987; 1981); Varas (1987), sowie die frühen Studien von Goldenberg (1971); Oswald (1970); Clissold (1970). Zur Innenperspektive der Sowjetunion im Kalten Krieg allgemein vgl. Zubok (2007); Zubok/Pleshakov (1997); Rubinstein (1988).
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Hinsicht noch stärker für China13 und mag auch daran liegen, dass die USA ihre hegemoniale Rolle, die sie ab etwa 1898 ihrem ›Hinterhof‹ als Regionalmacht ausübten, mit Beginn des Kalten Krieges als Supermacht entfalteten, mit all ihren Konsequenzen für die Menschen Lateinamerikas und der Karibik. Dennoch bietet die Literatur zur Sowjetunion einige interessante Einblicke, die natürlich auch das strategische Interesse des Kremls aufzeigen, in Lateinamerika Kooperationen in militärischer, wirtschaftlicher und kulturell-propagandistischer Hinsicht einzugehen, allen voran mit Kuba, aber auch mit Nicaragua, Peru und weiteren Ländern. Daher bleiben sowohl in der ›westlichen‹ Lateinamerikaforschung als auch in der Forschung in den Ländern des ehemaligen Ostblocks viele Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler den Paradigmata der US-amerikanischen respektive sowjetischen Hegemonie und des Konflikts zwischen den Supermächten verhaftet. Nur wenigen gelingen andere Ausblicke, die z.B. stärker die SüdSüd-Beziehungen ins Auge fassen.14 Obgleich der vorliegende Sammelband nicht das zugrundeliegende Paradigma der hegemonialen Dominanz durchbrechen kann, versucht er doch, durch eine dezentralere und verflochtene Leseweise andere Einblicke zu ermöglichen. Indem er die wechselseitigen Beziehungen zwischen Kleinstaaten und sekundären Akteuren auf beiden Seiten des Atlantiks in den Blick rückt, geht er über eine rein bipolare Perspektive hinaus und erweitert diese zugleich. Die Beschäftigung mit Gesellschaften im Kalten Krieg in unterschiedlichen ideologischen Lagern wurde bereits in komparativer Perspektive unternommen, etwa am Beispiel Ostund Westeuropas (Vowinckel [u.a.] 2012). Diese Betrachtung aus mehreren Blickwinkeln heraus bringt einen Erkenntnisgewinn, der zugleich den Dialog zwischen unterschiedlichen Wissenschaftskulturen befördert. Vowinckel, Payk und Lindenberger stellen diesbezüglich etwa fest, dass allein der Begriff ›Kalter Krieg‹ bereits eine westliche Prägung sei, die im ›Ostblock‹ vor 1989 praktisch keine Verwendung erfuhr. Sie nutzen ihn als analytischen Terminus, der Vielschichtigkeit statt Eindimensionalität und Schwarz-Weiß-Denken betonen will: »[...] anstelle ein schematisches Modell auf die wechselnden Realitäten des Kal-
13 Die Beziehungen zwischen China und Lateinamerika werden meist auf einer breiteren Ebene beleuchtet und beschränken sich in der Regel nicht auf den Zeitraum des Kalten Krieges, vgl. u.a. Connelly/Cornejo Bustamante (1992); Mora (1997). Für neuere Ansätze zu den Auswirkungen chinesischer Einflüsse im Kalten Krieg vgl. u.a. Manke (2015); López (2013: 221-236); Rothwell (2013); García Triana (2003); Mann (2002). 14 Gleijeses (2002), Hatzky (2012) und Ribeiro (2015) lieferten diesbezüglich wichtige Einblicke zu Kubas Engagement in Afrika.
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ten Krieges anzuwenden, wollen wir seine unterschiedlichen Horizonte und multiplen Ausdrucksformen erkunden – insbesondere in ihren europäischen Ausprägungen« (Vowinckel [u.a.] 2012a: 1). Auch im vorliegenden Sammelband soll dies – mit Bezug auf die Wechselbeziehungen der hier behandelten Länder – als konzeptioneller Ausgangspunkt dienen. Wir verstehen den Begriff ›Kalter Krieg‹ in diesem kritisch reflektierten, weiter gefassten Sinn, gehen aber nicht so weit, ihn im Sinne Wallersteins und Jacobs zu dekonstruieren,15 da er uns für die hier vereinten Beiträge als operable Grundlage erscheint.
K LEINSTAATEN UND SEKUNDÄRE A KTEURE IN E UROPA UND L ATEINAMERIKA Im Mittelpunkt des vorliegenden Sammelbandes stehen die Wechselbeziehungen, Verflechtungen und Kooperationen zwischen Europa und Lateinamerika. Er vereint Aufsätze von Autorinnen und Autoren unterschiedlicher Disziplinen, die politische, wirtschaftliche, militärische und kulturelle Aspekte dieser Beziehungen untersuchen, viele davon auf Basis umfangreicher empirischer Quellenarbeit. Derartige Interaktionen zwischen Staaten und nichtstaatlichen Akteuren und Medien über die Grenzen der ideologischen Blöcke hinaus wurden auch im ersten Sammelband der Aleksanteri Cold War Series untersucht, den die Forschungsgruppe zum Kalten Krieg (Cold War Research Group) der Universität Helsinki veröffentlichte (Autio-Sarasmo/Humphreys 2010). Laut der Herausgeberin und dem Herausgeber jenes Bandes scheinen sich diese gerade zwischen weniger einflussreichen Akteuren besser darstellen zu lassen. Da sie damit ein Kernelement unseres Ansatzes treffen, räumen wir ihren Worten etwas mehr Raum ein:
15 Wallerstein stellt die universale Gültigkeit dieses Begriffes mit Verweis auf die Versuche alternativer Modelle wie die Bewegung der Blockfreien Staaten in Frage. Seines Erachtens konstituierte sich damit ein Gegennarrativ, das nicht unter dem Konzept des Kalten Krieges zu subsumieren sei (2010:17-18). Damit verkennt er allerdings, dass die Blockfreien Staaten keineswegs von den Auswirkungen des Kalten Krieges ausgenommen waren. Wir folgen der Argumentation Wallersteins nur insofern, als wir die Erweiterung des Konzepts ›Kalter Krieg‹ durch alternative Leseweisen, durchaus (aber keineswegs ausschließlich) aus dem ›Globalen Süden‹ heraus, ergänzen. Jacob schließt sich Wallersteins auf Asien abzielende Argumentation an und weist ihr zudem eine Gültigkeit für Afrika, Lateinamerika und den Mittleren Osten zu (2015a: 5).
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»Bisher sind derartige Studien fast ausschließlich ›top-down‹ und nehmen politische Entscheidungsfindungen höchster Ebene sowie einflussreiche Akteure in der Arena der Weltpolitik in den Fokus. Die neue Veränderung in der Forschung, welche ein Licht auf kleine und nichtstaatliche Akteure unterhalb des höchsten Niveaus des Entscheidungsfindungsprozesses geworfen hat, ereignete sich zuerst auf dem Gebiet der Kulturwissenschaften, doch diese Entwicklung ist jetzt im weiteren Feld der Geschichte des Kalten Krieges deutlich zu spüren. [...] Diese neuen Cold War studies legen den Schwerpunkt auf Interaktionen und Kooperationen; einzelne Staaten, nichtstaatliche und kleine Akteure, einschließlich von Individuen auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs – mit besonderer Berücksichtigung des unterforschten östlichen Blickwinkels. Die Forschung hat sich nun den Begegnungen und Interaktionen gewöhnlicher Menschen zugewandt, anstelle von Konfrontationen und Konflikten.« (Autio-Sarasmo/Humphreys 2010a: 17)
Wir wollen noch einen Schritt weitergehen und stellen mit den Wechselbeziehungen zwischen Europa und Lateinamerika nicht nur die Interaktionen zwischen Ost und West in den Mittelpunkt, sondern auch zwischen ›Globalem Norden‹ und ›Globalem Süden‹, Zentrum und Peripherie. Allerdings wollen wir dies nicht mittels des klassischen Blicks auf Asymmetrien (Long 2015: 1-3) bewerkstelligen, sondern wir rücken Kleinstaaten16 und sekundäre Akteure17 in den Mit-
16 Zur Diskussion des Konzepts von Kleinstaaten aus einer politikwissenschaftlichen Perspektive siehe den Beitrag von Belfer in diesem Band. Wir lehnen uns an den darin genannten relativen Ansatz an, wonach Staaten vom Einfluss her als ›klein‹ bezeichnet werden, wenn sie mächtigere Nachbarn haben, welche ihren Handlungsrahmen vorzeichnen (vgl. hierzu auch Hey 2003). Zudem betrachten wir Kleinstaaten nicht nur auf die Ebene ihres jeweiligen Blocks, sondern ihre Beziehungen untereinander. 17 Da einige Staaten aufgrund der Nichterfüllung weiterer Kriterien nicht als klein bezeichnet werden können, haben wir zusätzlich die Kategorie ›sekundäre Akteure‹ eingeführt, mit der meist Regionalmächte gemeint sind (vgl. hierzu Frazier/StewartIngersoll 2012). Daher verzichten wir im Falle eines nicht eindeutig auf Personen bezogenen Gebrauchs auf die Nennung der femininen Form ›Akteurinnen‹. Die definitorischen Grenzen des Begriffs ›sekundäre Akteure‹ sind fließend. In der Politikwissenschaft als ›Mittelstaat‹ oder ›Mittelmacht‹ (Von Bredow 2003) bezeichnet, erscheint uns dieses Konzept als zu statisch, da je nach Konstellation ein Kleinstaat zu einer Regional- oder gar (temporären) Großmacht werden kann, wie es der Einsatz Kubas in Angola zeigte (1975-1991). Als sekundäre Akteure bezeichnen wir im vorliegenden Band Brasilien, Argentinien und Großbritannien (im Verhältnis zu den USA). Die BRD zählte im Untersuchungszeitraum des Beitrags von Patti unseres Erachtens noch nicht dazu; die Atomwissenschaftler aus der BRD verfügten hingegen über das hoch
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telpunkt und beleuchten einige ihrer wechselseitigen Beziehungen auf politischer, wirtschaftlicher, militärischer und kultureller Ebene. Indem wir diese Staaten nicht auf die Rolle bloßer Statisten im Kalten Krieg reduzieren (etwa in Konflikten wie der Kubakrise), können deren Kooperationen genauer untersucht und die Möglichkeiten und Grenzen derartiger Beziehungen ausgelotet werden, die sich auch über ideologische Gräben hinaus entwickelten. Hierzu werden anhand der Beziehungen zwischen mehreren Staaten Lateinamerikas und Europas (mit Schwerpunkt auf Zentral- und Osteuropa) neue Perspektiven auf den Aktionsradius und den Einfluss von Kleinstaaten und sekundären Akteuren herausgearbeitet. Diese erfolgten häufig in Form von Kooperationen und sind nicht als einseitige, nur von Europa ausgehende Impulse zu verstehen. Vielmehr handelte es sich um transnationale, vielschichtige und strukturell gesehen dynamische Verflechtungsprozesse, die stets eine Vielzahl an unterschiedlichen Akteuren miteinschlossen, von denen hier vor allem öffentlichstaatliche Akteure wie diplomatische Gesandtschaften, Geheimdienste, Parteiund Guerillaeliten sowie (im Auftrag von Regierungen aktive) Wirtschaftsunternehmen untersucht werden. Dazu kommen öffentlichkeitsbezogene Akteure wie Dokumentarfilmer und Solidaritätsbewegungen. Obgleich der Bezugsrahmen, den die Supermächte USA und Sowjetunion spannen, in den Beiträgen dieses Sammelbandes in der Regel eine gewichtige Rolle spielt, sind sie durch den Fokus auf kleinere Akteure nicht explizit Gegenstand der hier vereinten Studien. Die Beiträge in diesem Sammelband untersuchen anhand der genannten Akteure nicht nur bilaterale Beziehungen, sondern auch die Zirkulation von Ideen, Gütern, Kulturen und Bildern. Damit werden unterschiedliche Ausprägungen verflochtener und mehrschichtiger Beziehungen im Kalten Krieg zwischen Lateinamerika und meist weniger im Fokus stehenden Staaten (Ost-) Europas herausgestellt. Die Beiträge dieses Bandes stammen von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, die sich aus mehreren Disziplinen heraus mit der Erforschung des Kalten Krieges beschäftigen. Sie haben ihre Ausbildung in unterschiedlichen Wissenschaftstraditionen erhalten, was einer der Gründe für das Zustandekommen dieses Gemeinschaftswerks war: Wir streben an, durch die Einbeziehung
spezialisierte Know-how einer Atommacht. Kuba wiederum stieg in den 1960er Jahren durchaus zur ideologischen Regionalmacht für revolutionäre Bewegungen in Lateinamerika auf, doch sein Einfluss wurde aufgrund der harten Linie der USA eingeschränkt, ähnlich wie Nicaragua nach der Revolution von 1979. Mit seinem Engagement in Angola ab Mitte der 1970er Jahre ließ sich Kuba schließlich bis Ende des Kalten Krieges als sekundärer Akteur mit interkontinentaler Reichweite einstufen.
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von (durchaus kontrastierenden) Sichtweisen aus der Tschechischen Republik, Argentinien, Brasilien, Großbritannien, Österreich und Deutschland einen weiteren Beitrag zum interdisziplinären Dialog sowie zur inner- und außereuropäischen Vernetzung der Lateinamerikaforschung zu leisten. Dies wurde auch bei den Übersetzungen deutlich. Es ging den Übersetzerinnen und Übersetzern nicht darum, Begriffe und Definitionen ›politisch korrekt‹ oder im Sinne einer einzigen vorherrschenden Wissenschaftstradition wiederzugeben. Vielmehr betrachten wir als Herausgeberin und Herausgeber die unterschiedlichen Standpunkte und Perspektiven der Autorinnen und Autoren als einen Gewinn, da sie Einblick in unterschiedliche Ansätze und Modelle geben. Wir teilen nicht die Intentionen aller in den Beiträgen verwendeten Definitionen, Begriffen und Positionen, möchten aber im oben genannten Sinne einen offenen wissenschaftlichen Dialog ermöglichen, um somit neuen Ansätzen und Fragestellungen in der Erforschung des Kalten Krieges Anstoß zu geben. Bernd Greiner hat in seinem Vorwort den Stand der aktuellen Forschungsfragen zum Kalten Krieg umrissen und darin den seit den späten 1990er Jahren anhaltenden Trend zur dezentralisierenden Auflösung polarisierender Betrachtungsweisen verortet, die zugleich einer verflochtenen Geschichte Rechnung tragen. Im Sinne einer »Vermessung [...] der Grenzen gesellschaftlicher Ordnungsvorstellungen und Denkmuster« des Kalten Krieges verweist er auf die Bedeutung staatlicher Akteure an der globalen Peripherie und ihrer Beziehungen zu den ›Zentren‹ sowie ihres Einflusses auf weitere periphere Akteure. Mitchell Belfer nähert sich auf dem Gebiet der internationalen Beziehungen dem Konzept von Kleinstaaten im Kalten Krieg. Variablen wie Bevölkerungsgröße, Territorium sowie Ressourcen spielen hierbei eine ebenso entscheidende Rolle wie politische Akteure, die es verstehen, sich neuen außenpolitischen Situationen anzupassen und schnell auf Veränderungen zu reagieren. Belfer betont, dass die vermeintlich kleinen Staaten nicht als bloße Anhängsel der Hegemonialmächte zu betrachten sind, sondern als durchaus autonom agierende Akteure, die innerhalb eines größeren Netzwerks an politischen, kulturellen wie ökonomischen Beziehungen handeln. Markéta Křížová zeigt in ihrem Beitrag, dass Wissenstransfers nicht nur innerhalb, sondern auch über die jeweiligen ›Blöcke‹ hinaus stattfanden. Im Mittelunkt steht dabei die Frage, wie in der damaligen Tschechoslowakei die Geschichte Lateinamerikas interpretiert, verfasst und für politische Zwecke sowie auch wirtschaftliche Interessen be- und genutzt wurde. Křížovás wissenschaftsgeschichtliche Analyse sucht darüber hinaus nach Themen und Motiven in der Lateinamerikaforschung und stellt die tschechoslowakische Forschung im Kalten Krieg weder als von Moskau völlig abhängig dar, noch als vollständig überzeugt
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von ›westlichen‹ Modellen, sondern vielmehr als eigenständige und zum Teil autonom agierende Gemeinschaft von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern. Josef Opatrný, der sowohl in der sozialistischen Tschechoslowakei als auch nach deren Ende die historische Lateinamerikaforschung maßgeblich mitgestaltet hat, stellt die multilateralen Beziehungen zwischen der Tschechoslowakei und den Staaten Lateinamerikas im Kalten Krieg in den Vordergrund seiner Betrachtung. Er zeigt auf, wie pragmatischen Überlegungen in der tschechoslowakischen Politik größeres Gewicht zukam als einer statischen Befolgung ideologischer Blockzugehörigkeiten. Als profunder Kenner der tschechoslowakischen Emigration nach Lateinamerika betrachtet er vor allem die von tschechoslowakischen Unternehmen und Einzelpersonen etablierten Kontakte seit dem Ende des Ersten Weltkrieges, die als entscheidend für spätere Kooperationen der Tschechoslowakei in Lateinamerika zu betrachten sind. Politische Zäsuren hemmten demnach wenig bis gar nicht die gegenseitigen Handelsbeziehungen in den darauffolgenden Dekaden, was besonders bei der Fortführung der Beziehungen zu den Militärdiktaturen in Argentinien und Brasilien in den 1970er und 1980er Jahren ins Auge fällt. Während Belfer, Křížová und Opatrný hilfreiche Überblicke zu den Wechselbeziehungen von Kleinstaaten in Lateinamerika und der Tschechoslowakei gewähren, rückt mit dem Beitrag von Steve Cushion die erste der Fallstudien in den Fokus, die allesamt auf einer breiten empirischen Quellenbasis gründen. Cushion beleuchtet die kubanisch-britischen Beziehungen zu Beginn der 1950er Jahren auf doppelte Weise. Anhand von Archivmaterial weist er detailliert nach, wie Großbritannien das Regime des kubanischen Diktators Fulgencio Batista bei der Durchsetzung der eigenen ökonomischen Interessen als lokalen Alliierten in der Karibik betrachtete und zugleich im wirtschaftlichen Wettstreit mit den USA an seine Grenzen stieß. Cushion verknüpft seine diplomatiegeschichtliche Analyse auf innovative Weise mit der Geschichte der kubanischen Arbeiterbewegung und ihrem Kampf gegen Wirtschafts- und Politikereliten auf Kuba und in Großbritannien. Carlo Patti beschäftigt sich ebenfalls mit den eingeschränkten Möglichkeiten der Kooperation zwischen Westeuropa und Lateinamerika unter dem wachsamen Auge der USA. Sein Beitrag ist in die internationale Nuclear History einzuordnen, einem in den letzten Jahren stetig an Bedeutung gewonnenem Forschungszweig innerhalb der Wissenschaftsgeschichte des Kalten Krieges.18 Pattis Fokus
18 Die Verquickung von Militär und Wissenschaft war im Kalten Krieg von Beginn an gegeben: »The term Cold War science is commonly used to describe the tight rela-
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liegt auf der Kooperation Brasiliens mit Westdeutschland beim Versuch des Aufbaus des brasilianischen Atomprogramms in den 1950er Jahren. Die Studie möchte zudem zeigen, wie ein sekundärer Akteur im ›Globalen Süden‹ versuchte, durch Industrialisierungsmaßnahmen im eigenen Land einen autonomen Platz im Gefüge des Kalten Krieges zu erlangen. Lukáš Perutka eröffnet uns im gleichen Zeitraum einen Blick auf die erste tiefer gehende Kooperation zwischen einem lateinamerikanischen Land und einem sozialistischen Land Osteuropas im Kalten Krieg, indem er die militärische Zusammenarbeit zwischen der linksprogressiven Regierung in Guatemala und der Tschechoslowakei untersucht. Er analysiert, inwiefern die geheimen Lieferungen tschechoslowakischer Waffen an das Land mitverantwortlich für ein Schlüsselereignis des Kalten Krieges in Lateinamerika waren: der Putsch gegen Guatemalas Präsident Jacobo Árbenz im Jahr 1954. In seiner detaillierten, diplomatiegeschichtlich fundierten Studie kommt er zu dem Schluss, dass sich beide Seiten der Konsequenzen ihrer Politiken nicht vollends bewusst waren, letztlich aber auch zeigt, wie schnell vermeintlich kleine Staaten im Gefüge des Kalten Krieges eine Supermacht in Zugzwang bringen konnten. Eine derartige Kooperation im militärischen Bereich, welche Lateinamerika und das sozialistische Lager in Europa erstmals dauerhaft verband, gelang schließlich durch die Militärhilfe der Tschechoslowakei für das revolutionäre Kuba. Der deutsch-spanische Lateinamerikahistoriker Albert Manke zeichnet anhand dieser Kooperation den Aufbau der tschechoslowakisch-kubanischen Beziehungen ab 1959 nach, die auf persönlichen Netzwerken aus der Zeit vor der Revolution basierten. Er zeigt zudem, wie im Rahmen der außenpolitischen Abkehr Kubas von den USA und dessen Hinwendung zum sozialistischen Block die Tschechoslowakei eine Vorreiterrolle einnahm – natürlich stets in enger Abstimmung mit der Sowjetführung. Parallel zu dieser militärischen Kooperationen beleuchtet die Zeithistorikerin Hana Bortlová-Vondráková in ihrem Beitrag die offiziellen Wirtschaftsbeziehungen des revolutionären Kuba zur Tschechoslowakei. Der Blick wird hierbei auf die Wirtschaftsgeschichte zweier Staaten innerhalb des kommunistischen Blocks gerichtet, wobei nicht nur die Diversität der Handelsgüter Beachtung erfährt, sondern auch die Entsendung von Tschechoslowakinnen und Tschecho-
tionship between science and the military during the Cold War« (Heymann/MartinNielsen 2013: 222). Zu nennen ist hier in diesem Zusammenhang auch das aktuelle Forschungsprojekt zur Geschichte der International Atomic Energy Agency (IAEA) am Institut für Zeitgeschichte an der Universität Wien; für erste Ergebnisse siehe Röhrlich (2016).
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slowaken nach Kuba zeigt, dass der zentraleuropäische Staat eine Schlüsselposition in Lateinamerika einnahm. Es ist beachtlich, auf welch breiter Ebene die beiden Staaten trotz des Embargos der USA hier interagieren konnten und welch einen pragmatischen Charakter diese Beziehungen letztlich besaßen. Víctor M. Lafuente verweist ebenfalls auf pragmatische Gesichtspunkte in bilateralen Handelsbeziehungen, hier im Rahmen seines Dissertationsprojekts zu den Beziehungen zwischen Argentinien und der DDR bis 1972. Ausgehend von der – in diesem Fall ideologische Grenzen überschreitenden – Fragestellung, warum Argentinien ein zentraler Partner der DDR in Lateinamerika war, wird ersichtlich, wie einerseits Argentinien seine ›Ostpolitik‹ nach pragmatischen Überlegungen abstimmte, was vor allem wirtschaftlichen Interessen der Agrarproduzenten zugutekam. Andererseits musste sich Buenos Aires den globalen Rahmenbedingungen anpassen und wollte sich zugleich international als eine der ›Speerspitzen‹ gegen den Kommunismus positionieren. Die Überschneidungen zwischen wirtschaftlicher und geheimdienstlicher Tätigkeit osteuropäischer Staaten im Cono Sur, welche bereits von Lafuente thematisiert werden, spielen auch in Michal Zoureks Beitrag eine wichtige Rolle. Er beleuchtet die tschechoslowakischen Aktivitäten in Chile nach dem Putsch Pinochets. Anhand von Geheimdienstberichten wird das Zusammenspiel der Nachrichtendienste der DDR und der Tschechoslowakei in Chile offengelegt, wobei beide Staaten versuchten, ihre dortigen Interessen und ihre Position auch nach dem Putsch zu bewahren. Wenngleich die DDR stärker aus ideologischen Gründen heraus handelte, so kooperierte auch die Tschechoslowakei mit der kommunistischen Widerstandsbewegung gegen das Pinochet-Regime, das Zourek teils neutraler als ›Militärregierung‹ bezeichnet. Matyáš Pelant analysiert die bilateralen Beziehungen zwischen Brasilien und der Tschechoslowakei zwischen 1945 und 1989. Aus der Sicht der diplomatischen und geheimdienstlichen Kontakte schildert er, wie die beiden Staaten auf die sich über Jahrzehnte hinweg verändernden innen- wie außenpolitischen Rahmenbedingungen reagierten. Dabei war das gemeinsame Credo die Stabilität in den wirtschaftlichen Beziehungen, wie sich auch im Kontext der brasilianischen Militärdiktatur zeigte. Pelants Beitrag verdeutlicht noch eindringlicher als die Beiträge von Lafuente und Zourek das enge Zusammenspiel von wirtschaftlichen, politischen und nachrichtendienstlichen Interessen, welche die Tschechoslowakei insbesondere im Cono Sur entwickelte, trotz der deutlichen ideologischen Gegensätze. Laurin Blechas Beitrag rückt als Ergänzung zu den vorangegangenen Aufsätzen zivilgesellschaftliche Akteure in den Mittelpunkt der Analyse. In seiner Untersuchung zu den Beziehungen und Kooperationen zwischen Nicaragua und
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Österreich in den 1980er Jahren argumentiert er, dass sich diese Kooperationen durch Initiativen der österreichischen Zivilgesellschaft als besonders langlebig präsentierten. Auch zentrale Persönlichkeiten der nicaraguanischen wie der österreichischen Politik, wie etwa Bruno Kreisky oder Ernesto Cardenal, spielten dabei eine entscheidende Rolle – besonders wenn es um die Frage nach der internationalen Legitimierung der sandinistischen Regierung in Managua ging. Blecha betont damit die einzigartigen Verflechtungen von Politik und Solidaritätsbewegung im Grenzstaat Österreich, was gewissermaßen als ein Ausdruck dessen formaler Neutralität interpretiert werden kann. Die Verbindung zwischen zivilen Akteuren und politischen Interessen lassen sich auch in dem letzten Beitrag dieses Sammelbandes aufzeigen. Die Historikerin, Politikwissenschaftlerin und Ethnologin Kateřina Březinová widmet sich in ihrem Beitrag den tschechoslowakischen Propagandafilmen über Lateinamerika in der Zeit von 1945 bis 1989. Sie argumentiert, dass die Dokumentarfilmproduktion einerseits der imaginären Selbstdarstellung des kommunistischen Regimes diente, wobei hier vor allem den wirtschaftlichen Aktivitäten und wissenschaftlichen Expeditionen, die gekonnt von der Propaganda in Szene gesetzt wurden, eine zentrale Rolle zukam. Andererseits sollte die zur Schau gestellte Präsenz in Lateinamerika die Außenpolitik der Tschechoslowakei legitimieren. Dabei wurde angestrebt, deren Funktion als sozialistische Vorreiterin in Lateinamerika hervorzuheben. Die Einbettung dieser Thematik in die Medien- und Kulturgeschichte verdeutlicht zudem Zusammenspiel und Widersprüche von außenpolitischen Ambitionen des Staates und ästhetischem Interesse der Filmschaffenden. Mit diesem Dekaden und Länder Lateinamerikas übergreifenden Beitrag schließt sich der Kreis zu den Überblicken von Belfer, Křížová und Opatrný; zudem erweitert er die Perspektive der Wechselbeziehungen zwischen Europa und Lateinamerika um die kulturwissenschaftliche Ebene.
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Die Idee für diesen Sammelband entstand auf Initiative von Kateřina Březinová, Martina Kaller-Dietrich und Albert Manke im Anschluss an die internationale Konferenz Cold War Engagements: Czechoslovakia and Latin America, die im November 2013 an der Metropolitan University Prague in Kooperation mit der Karlsuniversität Prag abgehalten wurde. Dadurch liegt ein besonderer Schwerpunkt auf Beiträgen, die sich mit den Beziehungen zwischen der Tschechoslowakei und mehreren Ländern Lateinamerikas beschäftigen. Konzeptuell wird jedoch für diesen Band der Fokus breiter angelegt, indem die Beziehungen zwi-
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schen verschiedene Länder Lateinamerikas und mehreren Staaten in Europa berücksichtigt werden. Zu diesem Zweck wurden weitere Beiträge aufgenommen, die ein differenziertes Bild der multiplen und teils problematischen Kooperationen vermitteln, welche häufig ideologische Grenzen überschritten. Ein besonderes Anliegen war uns zudem das Erreichen des deutschsprachigen Publikums. Keiner der vorliegenden Beiträge ist bisher in deutscher Sprache erschienen. Da sich diese Publikation auch für Lehrkräfte, Studierende und ein nicht spezialisiertes Publikum eignen soll, wurden elf fremdsprachige Beiträge in die deutsche Sprache übersetzt. Den Leserinnen und Lesern soll so durch eine nicht allzu spezialisierte Sprache erlaubt werden, sich neue Aspekte des globalen Kalten Krieges anzueignen, die teils direkt an bereits bekannte Themen des OstWest-Konflikts anschließen. Damit stellt diese Publikation den Beginn einer neuen Kooperation in der interdisziplinären Lateinamerikaforschung und zusätzlich in der Übersetzung von Fachliteratur zum Kalten Krieg zwischen Deutschland, Österreich und der Tschechoslowakei dar.19 Die Erstkorrektur und Edition der in der Tschechischen Republik verfassten Texte wurde von Kateřina Březinová koordiniert, die Übersetzungen in die deutsche Sprache und das Korrektorat aller Beiträge durch Albert Manke. Unser besonderer Dank gilt an dieser Stelle Laurin Blecha, der sich sowohl bei der Übersetzung mehrerer Beiträge als auch beim Korrektorat der deutschen Texte und bei der Verfassung der Einleitung als herausragende und unentbehrliche Stütze erwiesen hat. Des Weiteren danken wir herzlich Agnes Effland, Stella Loth und Marius Zaudtke für Ihre tatkräftige Hilfe bei der Übersetzung der Texte an der Universität zu Köln. Natürlich wäre diese Publikation ohne die fachliche Unterstützung von Bernd Greiner und Holger M. Meding ebenfalls undenkbar. Als ausgewiesene Experten auf ihrem Feld haben sie uns ihre umfassende fachliche Kompetenz zur Erforschung des Kalten Krieges zur Verfügung gestellt, wie dem Vorwort und den Schlussbetrachtungen zu entnehmen ist. Damit konnte dieser Sammelband inhaltlich in zwei Wirkungskontexte gestellt werden, was erheblich zum besseren Verständnis der hier zugrunde liegenden Idee beiträgt. Und last but not least sind wir sehr froh darüber, den Transcript-Verlag für die Umsetzung unserer Idee gewonnen zu haben, der sich sehr interessiert an dieser Thematik zeigte und sie passgenau in seine Reihe Global Studies einfügte. Die Realisierung dieses Sammelbands wäre zudem ohne die großzügige finanzielle Unterstützung der Universität zu Köln und der Metropolitan University Prague nicht möglich gewesen. Daher danken wie an der Universität zu Köln insbesondere herzlich dem
19 Damit folgen wir der Tradition von Publikationen wie den Ibero-Americana Pragensia, die unter der Leitung von Josef Opatrný an der Karlsuniversität Prag erscheint.
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Global South Studies Center und dem University of Cologne Forum ›Ethnicity as a Political Resource‹. An der Metropolitan University Prague gilt unser Dank dem Rektorat, bei dessen Beitrag es sich um eine ›Institutionelle Förderung der wissenschaftlichen Entwicklung‹ handelt.
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Im Schatten des Imperiums Überlegungen zur politisch-strategischen Position von Kleinstaaten in Europa und in Lateinamerika und der Karibik zur Zeit des Kalten Krieges M ITCHELL B ELFER
Im öffentlichen Diskurs haben mittlerweile revisionistische Untersuchungen zum Kalten Krieg Eingang gefunden, die zum Verständnis der Ursachen und Entwicklungen beitragen, welche für das lange Spiel einer Politik am Rande des Abgrundes zwischen den USA und der UdSSR grundlegend waren. Der vorliegende Beitrag möchte nicht erneut die Meta-Probleme der aktuellen Herangehensweise an den Kalten Krieg ansprechen. Er versucht vielmehr, einige der Unterströmungen zu untersuchen, welche es in jener Zeit in der Geschichte der internationalen Beziehungen gab. Genauer gesagt soll hier eine theoretische Beurteilung der kleinen, so genannten ›Fußvolkstaaten‹ der beiden Blöcke im Kalten Krieg untersucht werden. Als Beispiele für die theoretische Untermauerung dieser Studie sollen Staaten der Karibik, Lateinamerikas und Zentral- sowie Osteuropas dienen. Schlussendlich hebt sich diese Untersuchung von konventionellen Herangehensweisen an den Kalten Krieg ab, indem auf intellektuellem Niveau reflektiert wird, wie die Kleinstaaten von den Anführern ihres jeweiligen Blocks, also den USA und der UdSSR, behandelt wurden. Jegliche Beurteilung der internationalen und sozioökonomischen Konflikte im 20. Jahrhundert stützt sich unausweichlich auf die Literatur, welche die Beziehungen zwischen und innerhalb der Blöcke des Kalten Krieges abbildet. Diese mentale Festsetzung von Maßstäben ist so umfassend geworden, dass selbst die welterschütternden Weltkriege, welche der US-amerikanisch-sowjetischen Politik am Rande des Abgrundes vorausgingen, mit dem Kalten Krieg verknüpft wurden. Dies geschah zu dem Zweck, ein Meta-Narrativ zu schaffen, welches
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die Dynamik der internationalen Beziehungen an sich verständlich machen sollte. Zum Beispiel ist der Erste Weltkrieg nicht nur aufgrund seiner unmittelbaren Ergebnisse in die Geschichte eingegangen, sondern er wurde auch als Grundlage für die kommunistische Revolution Russlands und für den Aufstieg der USA zur Führungsmacht des Westens angesehen – zwei notwendige Voraussetzungen für das halbe Jahrhundert des Kalten Krieges. Dies allerdings erst, nachdem beide ideologisch gegensätzlichen Blöcke sich verbündeten, um die Welt vom Faschismus und von der deutschen Vormachtstellung in Europa zu befreien. Der Zweite Weltkrieg wurde als Repräsentant für drei Abschnitte in der Geschichte der Zivilisation interpretiert: Für die Geschichte des Genozids (also den Versuch Nazi-Deutschlands, das Weltjudentum zu vernichten), für die Geschichte der nicht-nationalistischen säkularen ideologischen Konflikte und für die Geschichte der Macht jenseits der Grenzen der Macht (also der Nuklearisierung der Macht). Anders gesagt wurde der Zweite Weltkrieg häufig als ein notwendiges Kapitel in den Kalten Krieg eingeschlossen, was er sicherlich auch war. Es scheint schwer, sich vorzustellen, wie oder ob die UdSSR sich ohne den Zweiten Weltkrieg nach Westen ausgedehnt und Zentraleuropa besetzt hätte, ob sich die westeuropäischen Staaten nicht gen Osten gerichtet hätten, ob die USA ihr Engagement nach Europa hin vertieft hätte, oder ob sich jegliche weiteren Ereignisse ergeben hätten. Es ist klar, dass mit dem Kalten Krieg ein entscheidender Abschnitt der Geschichte der internationalen Beziehungen begann. Trotz alledem implizieren solche großen Zuschreibungen auch, dass es ein so weitgehendes Ungleichgewicht der Kräfte gegeben haben muss, dass angenommen wird, nur zwei Staaten-Blöcke hätten das internationale politische Leben für den Großteil des Jahrhunderts bestimmt. Obwohl sich das Gewicht dieser Blöcke im Hinblick auf Truppenentsendungen, Kampfhandlungen und Expansionen sicherlich empirisch nachweisen lässt, haben solche Verallgemeinerungen stets gravierende Fehler an sich: sie neigen dazu, die Rollen der Supermächte überzubewerten und unterschätzen die Rollen der Kleinstaaten sowie die Allianzen und Auseinandersetzungen, welche deren weltpolitische Position und Auslandspolitik bestimmten. Diese waren – und sind – wichtig und verdienen es, ernst genommen und untersucht zu werden. Dieser Beitrag will den Versuch unternehmen, der instinktiven Vernachlässigung von Kleinstaaten entgegenzuwirken, welche das System transatlantischer und transpazifischer Wettstreite im Kalten Krieg beeinflussten, das auch in die Zeit danach ausstrahlte. Während die eingehende Beschäftigung mit den Dynamiken von Kleinstaaten in einem von Supermächten dominierten Weltsystem umfassende Forschungen erfordert, kann diese Studie nur einen kleinen Schritt in diese Richtung wagen. Ziel ist es, Kleinstaaten konzeptuell zu definieren und
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zu zeigen, wie diese Staaten in den sprichwörtlichen ›shatterbelts‹ liegen, die es in den ›Reibungszonen‹ gibt, wo sich die politischen Einflussbereiche der Superund Großmächte überlappen. Angesichts der Spaltung in (grob gesagt) zwei große Blöcke und der erheblichen Einschränkung der außenpolitischen Handlungsspielräume der Kleinstaaten durch ihre Blockanführer beschränkt sich die Erforschung der Beziehungen von Kleinstaaten im Kalten Krieg nur auf die Ebene innerhalb des jeweiligen Blocks. Für diese Ziele dieser Studie reicht es, die Beispiele vor allem aus dem jeweiligen unmittelbaren geopolitischen Einflussbereich der Supermächte auszuwählen – die USA und zentral- wie südamerikanische Staaten einerseits, und die UdSSR und Mitglieder des Warschauer Pakts andererseits. Denn es geht in diesem Beitrag darum, wie Kleinstaaten im Schatten der Imperien ihre Beziehungen zueinander gestalteten. Diese Regionen sind von besonderem Interesse, da die UdSSR versuchte, den Einfluss der USA in den Amerikas zu begrenzen, indem sie kommunistische militärische, paramilitärische und politische Aktivitäten unterstützte, während die USA antikommunistische Regierungen in West- und Südeuropa stärkten und dabei beträchtliche Energien in das Galvanisieren der NATO steckten. Kurz gesagt stellte die Karibik für die UdSSR das dar, was West- (und Süd-) Europa für die USA war: eine Problemzone des geostrategischen Körpers seines Kontrahenten. Darüber hinaus sind die geographischen, kulturellen, soziopolitischen und ökonomischen Unterschiede zwischen der US-amerikanischen und der sowjetischen Sphäre so interessant wie anregend. Diese Studie ist dementsprechend aufgebaut.
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Wenn es um die Bewahrung der regionalen oder sogar internationalen MachtBalance geht, darf die Bedeutung von Kleinstaaten nicht unterschätzt werden. Ebenso, wie die politische Neutralität Belgiens vor dem Ersten Weltkrieg zur Aufrechterhaltung der Balance im europäischen Mächtesystem beitrug, provozierten die Versuche Georgiens, sich den westlichen Sicherheitsorganisationen anzuschließen, russische Aggressionen, die 2008 im Kaukasuskrieg gipfelten. Groß- und Supermächte unternehmen enorme Anstrengungen, um Kleinstaaten in ihrer Sicherheitsarchitektur zu verankern und verteidigen diesen Status quo, egal ob die Bevölkerung dieser Kleinstaaten dies willkommen heißt oder nicht. Demokratie ist ein Luxusgut für Staaten, die von ihrem als solchem empfundenen geopolitischen Überleben besessen sind. Wenn man dies berücksichtigt, so wird es erforderlich, Kleinstaaten zu definieren und deren spezifisches Verhalten gegenüber den Groß- und Supermächten zu analysieren. Da diese Studie sich
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dem Verständnis der politischen Nuancen in der Zeit des Kalten Krieges widmet, wird der Fokus auf die Jahre 1945 bis 1991 gelegt. Außerdem sollen in diesem Abschnitt nicht nur die Beziehung zwischen den Mitgliedern der beiden Zangen der UdSSR – den Staaten des Warschauer Paktes und dem ›karibischen Nachzügler‹ – untersucht werden, sondern es wird ein breiteres Verständnis von Kleinstaaten insgesamt angestrebt.
Was sind Kleinstaaten? Ein merklicher Teil der Forschungsliteratur über internationale Beziehungen befasst sich mit der Natur, dem Verhalten und der politischen Orientierung von Kleinstaaten und Kleinmächten.1 Diese Studien bieten eine solide Verknüpfung zwischen historischen (z.B. der Republik Venedig) und aktuelleren Beispielen für Kleinstaaten (z.B. dem Großherzogtum Luxemburg). Trotzdem neigen solche Abhandlungen dazu, Verallgemeinerungen zu sein, da viele ihrer Annahmen zeitgebunden sind und selten die Veränderungen in der Entstehung internationaler Beziehungen berücksichtigen. Anders gesagt tendieren viele der Forscherinnen und Forscher, die Kleinstaaten untersuchen, dazu, eher als Historikerinnen und Historiker zu agieren, denn als Expertinnen und Experten für internationale Beziehungen. Das führt dazu, dass sie die Kleinstaaten in ihren Studien in deren historischem Rahmen einfrieren. Die Überlegung, dass es Klein-, Mittel-, Großund Supermächte gibt, die in der internationalen Arena operieren, ist keinesfalls neu. Die Forschung zu internationalen Beziehungen beschäftigt sich bereits seit ihrer Gründung mit solchen Unterscheidungen. Um genau zu bestimmen, worum es sich bei einem Kleinstaat handelt, ist es entscheidend, einen theoretischen Schritt zurückzugehen, und zwar zum letzten Jahr der Napoleonischen Kriege: »Vor diesem Ereignis [...] galt die Annahme, alle souveränen und unabhängigen Staaten wären in der Theorie gleich, was auch immer ihre Verantwortung oder ihre physische Kraft sein möge« (Nicolson 1961, zit. in Rothstein 1968: 11). Von diesem ersten Punkt an galt die Annahme, dass alle Staaten als gleichwertig angesehen worden waren und dass das Prinzip der Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten anderer Staaten als eiserne Regel etabliert wurde. Trotzdem werden solche eisernen Regeln typischerweise immer wieder von der rohen Stärke der Großmächte ausgedehnt. Deren Wille, ihre Machtbasis und ihre Expansionsfähigkeiten auszuweiten, führte oft dazu, dass sie sich in die Angele-
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Dieser theoretische Abschnitt erschien erstmals in Belfer (2014).
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genheiten anderer Staaten einmischten, sowohl der großen als auch der kleinen. Rothstein erinnert dahingehend, dass »[...] die angenommene Gleichheit aller Staaten die Großmächte natürlich nicht davon abhielt, schwächere Staaten zu instrumentalisieren. Kleinstaaten, die durch benachbarte Großmächte bedroht wurden, oder die im Verlauf von Konflikten zwischen Großmächten auf Sicherheitsvorteile abzielten, wurden zu einem gefährlichen Spiel gezwungen: Sie mussten sich schnell von der leichteren auf die schwerere Seite der Waage begeben, sobald ein möglicher Sieger in jeglichem dieser Wettstreite ausgemacht werden konnte.« (Rothstein 1968: 11)
Derartige Meinungen weisen darauf hin, dass pragmatische Führung der Grundpfeiler nationalstaatlicher Langlebigkeit war, da – wenn Kleinstaaten instrumentalisiert und dazu gezwungen wurden, ihre Allianzen schnell verlagern zu müssen – nur kluge politische Anführer dazu in der Lage waren, Machtverschiebungen zu erkennen und schnelle Allianzwechsel zu vollziehen, um ihr politisches Überleben zu garantieren. Doch Kleinstaaten agieren nicht aus einem politischen Vakuum heraus und es ist ihnen nicht vergönnt, sich nur um die regionale Balance zu kümmern, um ihre Interessen zu verteidigen und ihr Überleben zu sichern. Oft sind die Kleinstaaten selbst der Stein des Anstoßes für Wettstreit oder gar Konflikt der Großmächte. Die Annäherung des revolutionären Kuba an die UdSSR kann als Erinnerung daran dienen, wie weit Großmächte zu gehen bereit sind, um sich auszubreiten und Kleinstaaten in ihre Einflusssphäre zu hineinzuziehen. Weder vor noch nach der Kubakrise stand die internationale Gemeinschaft so kurz vor der atomaren Apokalypse, wie es während der ›Quarantäne‹ der Insel durch die USA und deren aktive Behinderung der weiteren sowjetischen Expansion der Fall war. Fidel Castro war sich dessen bewusst, in welchem Gegensatz sein Regime zu den USA stand und traf seine Entscheidung für eine dementsprechende Ausrichtung. Allerdings konnte er dabei nicht ahnen, wie weit die USA gehen würden, um das regionale Gleichgewicht der Macht – und des Schreckens – zu bewahren. Der Pragmatismus Castros war alles andere als optimal, und infolgedessen erlitt Kuba eine erhebliche wirtschaftliche Schwächung. Und doch überlebte Kuba. Das Gleiche lässt sich von dem späteren Versuch sagen, ein (dem Anspruch nach) radikales kommunistisches Regime in Grenada zu errichten, wie es nach der Ermordung des dortigen Premierministers Maurice Bishop im Jahre 1983 der Fall war. Die US-amerikanische Operation Urgent Fury gipfelte darin, dass der unabhängige Staat Grenada in die erniedrigende Rolle eines Pseudo-Marionettenstaates der USA gedrängt wurde. Wenn Kleinstaaten unbedacht handeln und ihre Rolle bei der Bewahrung des regiona-
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len Machtgleichgewichts nicht berücksichtigen, setzen sie ihre nationale Souveränität und ihr Überleben aufs Spiel. Daher müssen sich Kleinstaaten nicht nur mit dem regionalen Machtgleichgewicht befassen, sondern sie sollten auch versuchen, ein ›niedriges Profil‹ zu bewahren, da jene Kleinstaaten, welche »die Aufmerksamkeit der Großmächte auf sich zogen […], nur dann bemerkt wurden, wenn sie für eine Großmacht zum Objekt der Begierde wurden, oder wenn sie sich selbst zu deutlich ins diplomatische Geschehen einmischten« (ebd.: 12). Für Rothstein sollten Kleinstaaten nach diesen drei wichtigen Maßstäben definiert werden: Erstens, dass sie instrumentell behandelt werden, dass es also eine unsichtbare Hand gibt, die ihren Handlungsspielraum bestimmt und den Grad ihrer Unabhängigkeit begrenzt. Dies bezieht sich auf die Entwicklung einer eigenen Außenpolitik, die vollständig im nationalen Interesse liegt, welches wiederum durch die Forderungen der Bevölkerung und der politischen Klasse definiert wird. Zweitens, dass Kleinstaaten zu dem gefährlichen Spiel gezwungen werden, andauernd abzuwägen und enorme politische und ökonomische Energien (und Ressourcen) darauf zu verwenden, stets sicherzustellen, dass sie auf der ›Gewinnerseite‹ einer Waage stehen und sich nicht in regionalen und internationalen Auseinandersetzungen zu verfangen, die ihre Fähigkeiten überschreiten. Und schließlich drittens, dass die Außenpolitik von Kleinstaaten insofern besonderen Einschränkungen unterliegt, als die Außenpolitik von Großmächten als Grundlage für die Entscheidungsfindung von Kleinstaaten fungieren. Selbst eine nur oberflächliche Betrachtung zahlreicher Staaten Lateinamerikas, der Karibik und Mittel- und Osteuropas – die im Schatten des USamerikanischen oder sowjetischen Imperiums lagen – bestätigt die Gültigkeit der Überlegungen Rothsteins. Die Sowjets waren weniger an der kubanischen Revolution und an sozialer Gerechtigkeit in jenem Land interessiert, als daran, die US-amerikanische Machtposition in der nördlichen Karibik zu schwächen – ebenso wenig waren die USA an den Folgen des Staatsstreichs gegen Allende und der Etablierung des Pinochet-Regimes in Chile interessiert (Kornbluh 2003). Derartige Instrumentalisierungen von Verbündeten beschränkten sich allerdings keineswegs nur auf Lateinamerika. Auch in Mittel- und Osteuropa ergaben sich ähnliche Situationen, wie es der russisch-ungarische Konflikt 1956 und die Invasion der Tschechoslowakei durch den Warschauer Pakt im Jahr 1968 belegen. Doch während Rothstein vorschlägt, eine ›unsichtbaren Hand‹ habe darüber bestimmt, welche Handlungsspielräume Kleinstaaten in ihrer Formulierung einer unabhängigen Außenpolitik hatten, erscheinen uns das Handeln der Supermächte im Kalten Krieg keinesfalls als subtil: die Hand war vielmehr deutlich sichtbar und zur Faust geballt.
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Was die oben genannte Einschätzung Rothsteins betrifft, dass Kleinstaaten dazu gezwungen seien, ständig ihr außenpolitisches Handeln abzuwägen, um sicherzustellen, dass sie in regionalen und internationalen Wettstreiten nicht untergehen, lässt sich feststellen, dass der hohe Grad der Instrumentalisierung die Flexibilität bei der Bildung von Allianzen zwischen Kleinstaaten während des Kalten Krieges deutlich beeinträchtigte. Obwohl Albanien und Rumänien tatsächlich beide aus dem Warschauer Pakt austraten und es zutrifft, dass Frankreich sich aus der militärischen Kooperation mit der NATO zurückzog, bedrohte keine dieser Lossagungen von Allianzen die Sicherheit eines gesamten Blocks; außerdem sind diese Vorgänge eher als Ausnahmen denn als Regeln anzusehen. Der Kalte Krieg war meist ein großer Balanceakt, in dem die Kleinstaaten aufgrund ihrer Instrumentalisierung durch die Supermächte feststeckten. Es gab nur wenige Möglichkeiten, dem zu entgehen. Albanien hatte sich an ein erstarkendes China gebunden, Rumänien musste mit den USA, Frankreich und Italien flirten, während Frankreich auf einer bilateralen Ebene an die USA gebunden blieb. Bei jeder dieser Veränderungen in den Blöcken des Kalten Krieges wurden Gleichgewichte eher bekräftigt denn missachtet (Garthoff 1995: 111). Dass Kleinstaaten in der Formulierung ihrer Außenpolitik sehr von der Außenpolitik der Großmächte abhängen, ist schlussendlich eine sehr wichtige Beobachtung. Als die UdSSR nach neuen Wegen der Einflussnahme in Lateinamerika suchte, bemühte sie ihren tschechoslowakischen Verbündeten, da er noch (relativ) gute Beziehungen in der Region unterhielt. Dass die Tschechoslowakei zustimmte, die Rolle des Unterhändlers zu spielen, hatte weniger mit deren instinktiven politischen Präferenzen zu tun, als mit der Tatsache, dass außenpolitische Entscheidungen immer öfter in und von Moskau getroffen wurden (Pelant 2013; Opatrný 2013). Mitten im Kalten Krieg stellte Rothstein fest, dass »für Kleinstaaten [...] die Lösung eines jeglichen ›Sicherheitsdilemmas‹ von einer äußeren Quelle her kommen muss« (Rothstein 1968: 24). Bei einer näheren Betrachtung der Hegemonie der USA ist dies wiederum ein zentrales Merkmal für einen Kleinstaat, wenngleich es zu diesem Zeitpunkt in der Geschichte deutlich schwieriger ist, ein Sicherheitsdilemma zu lösen, was sich der Natur regionaler Wettstreite verdankt, insbesondere in gefährlichen Regionen. Die Karibik, Lateinamerika und Zentral- sowie Osteuropa waren – das ganze 20. Jahrhundert lang – von sehr vielen Konflikten geprägt. Der Aufstand des maoistischen Leuchtenden Pfads in Peru, die konstanten zwischenstaatlichen Konflikte in Zentralamerika, wie z.B. der bekannte Briefmarkenkrieg zwischen Nicaragua und Honduras 1937, der Fußballkrieg zwischen El Salvador und Honduras 1969 oder die schwelenden (und oft offen ausbrechenden) Spannungen zwischen Costa Rica und Nicaragua über
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den San Juan-Fluss (um nur einige wenige zu nennen) – all diese Beispiele zeigen, dass es in und um das südliche Dreiviertel der Amerikas ein unverhältnismäßiges Maß an politischer Gewalt gab. Dies rührt weitgehend daher, dass es in dieser Region besonderes viele Kleinstaaten gibt und dass diese ihre Sicherheitsansprüche nur durch die Inanspruchnahme großer regionaler oder internationaler Mächte durchsetzen konnten. Während also die Lösung für deren eigene Sicherheitsprobleme von einer äußeren Quelle her kommen muss, können, solche exogenen Akteure zumindest teilweise an erster Stelle für den Beginn dieser Sicherheitsprobleme verantwortlich gemacht werden, da der exogene Staat den Kleinstaat für seine eigenen Interessen instrumentalisiert. Die Konflikte von Kleinstaaten können daher durchaus als Überrest der Verfolgung eigener Interessen durch Großmächte angesehen werden. Laut Rothstein lässt sich Ähnliches bereits für die Zeit vor dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg feststellen: »Kleinstaaten müssen sich daher auf sehr ambivalente externe Hilfe verlassen, um das grundlegende Ziel aller Staaten zu erreichen: ihr Überleben. Wenn sie irgendetwas aus der Geschichte gelernt haben sollten, dann ist es, dass Hilfe von außen üblicherweise spät ankommt und dass sie nur in Erwartung künftiger Vorteile geleistet wird.« (Ebd.: 24)
Darüber hinaus gibt es nur einen »begrenzten Sicherheitsraum, über den eine kleine Macht verfügt. Das (in der Regel) kleine Territorium, begrenzte Ressourcen und unklare Verbündete sorgen für einen sehr kurzen Zeitraum, in dem sich Fehler korrigieren lassen. Um Risiken zu vermeiden, ist Vorsicht angesagt« (ebd.: 25). Die ungarische Revolution kann hierfür als typisches Beispiel dienen (Granville 2004). Während die USA und ihre westlichen Alliierten die Ungarn sicherlich zum Aufstand gegen die UdSSR ermutigten, um die kommunistische Präsenz in Mitteleuropa zu brechen, leisteten sie keine Unterstützung, als Ungarn diese am meisten benötigte (ebd.). Stattdessen musste Ungarn alle Risiken auf sich nehmen und bezahlte für seine Fehleinschätzung mit Blut und harschen politischen wie wirtschaftlichen Restriktionen infolge der sowjetischen Invasion. Um das Ganze noch schlimmer zu machen, scheint es, als habe die Art und Weise, wie die USA die moderateren Kommunisten Ungarns an die Macht bringen wollten, direkt zu der Entscheidung der Sowjets beigetragen, in das Land einzufallen und Imre Nagy abzusetzen (ebd.: 200-201). Als die USA dann schließlich ihre Alliierten dazu bewegt hatten, zumindest einer Unterstützung Ungarns zu zustimmen, war der Krieg bereits beendet. Der Westen schien bereit gewesen zu sein, die UdSSR bis zum letzten Ungarn zu bekämpfen. Kleinstaaten sind nicht nur aufgrund ihrer unzuverlässigen und selbstsüchtigen Verbündeten verwundbar, sondern sie werden auch (wegen der Größe ihres
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Territoriums) aufgrund ihrer geopolitischen Lage verwundbar gemacht, sowie – und das ist bedeutsam – vor dem Hintergrund des verkürzten Zeitfensters, in dem sie zum Handeln gezwungen sind. Das politische Geschehen wird beschleunigt, da Geduld ein Luxus ist, den sich Kleinstaaten kaum leisten können. Und tatsächlich »genießen nur wenige Kleinstaaten den Luxus, genug Stärke zu besitzen, um allen Probleme innerhalb ihres politischen Horizonts begegnen zu können; bestenfalls können sie dazu in der Lage sein, die größten und ernstesten Probleme anzugehen und zu überleben, vorausgesetzt, sie schätzen diese korrekt ein« (Rothstein 1968: 25). Ein weiterer Aspekt von Kleinstaaten basiert also auf der Führung und dem Entscheidungsfindungsprozess, was man als den zentralen Grundpfeiler für ihr Überleben ansieht. Es scheint, als befänden sich Kleinstaaten konstant auf dem Kriegspfad, da sie ihre Politik ständig verändern, sobald neue Informationen verfügbar sind. Außen- und Verteidigungsministerien, das Amt des Premierministers und praktisch das gesamte Spektrum des Personals der Exekutive und der Legislative sind dazu gezwungen, ununterbrochen und umsichtig zu agieren, um das Überleben des Staates zu sichern. Dies mag teilweise als Erklärung dafür dienen, welche Regierungsformen sich sowohl in Mittel- und Osteuropa als auch in Lateinamerika während des Kalten Krieges durchgesetzt haben: starke Führung, Personenkulte und roher Populismus.2 Oft liegen die internen Dimensionen politischer Entscheidungsfindungsprozesse außerhalb der Reichweite angemessener Forschungen. In Kleinstaaten überwiegt dennoch oft ein Gefühl nationaler Angst, dass eine politische Entscheidung unzureichend sei oder dass gewisse regionale Strömungen zu stark sind, um sich diesen zu widersetzen. Daher »führt die Psychologie der Angst Kleinmächte in widersprüchliche Richtungen« (Rothstein 1968: 28), welche nur sehr schwer miteinander in Einklang zu bringen sind.
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Für eine Einführung in den wirtschaftlichen Populismus in Lateinamerika siehe Edwards (2010). Diese Studie ist darauf zwar ausgerichtet, zu erklären, auf welche Weise politische Ausrichtungen und Ideologien über lange Zeit hinweg Lateinamerikas Wirtschaftswachstum gebremst haben. Sie weist aber zugleich darauf hin, dass Formen von Nepotismus und sektoraler Ermächtigung häufig ein Spiegelbild Anführer sind, die paranoid sind oder einen Personenkult pflegen. Für eine Einführung in den Personenkult und den Führungsstil in kommunistischen Ländern Zentral- und Osteuropas im Kalten Krieg siehe Fowkes (1999).
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Was macht einen Kleinstaat klein? Zwei Variablen Für alle vorangegangenen Diskussionen über die inhärenten Schwachstellen, die Kleinstaaten ausmachen, ist es außerdem wichtig, Klarheit über die jeweiligen Merkmale zu gewinnen, die einen Staat klein und damit für die oben genannte Verwundbarkeit anfällig machen. Den Zielen dieses Beitrags sind hierzu zwei grundlegende Ansätze dienlich: ein absoluter und ein relativer Ansatz, die sich beide im Zusammenspiel zweier Variablen widerspiegeln. Diese sind: • •
Die Bevölkerungsgröße: die gesamte Anzahl aller Bewohner eines Landes (Menschen mit und ohne Staatsbürgschaft). Das nationale Territorium: die geostrategische Tiefe eines Staates und der verfügbaren Ressourcen.
Diese Definitionen wurden Easts Vier-Variablen-Beschreibung des ›konventionellen Modells‹ eines Kleinstaats entliehen (und verfeinert), in dem er vorschlägt: »Das konventionelle Modell geht generell davon aus, dass Kleinstaaten durch eines oder mehrere dieser Kriterien charakterisiert werden: (1) kleines Landgebiet, (2) kleine Gesamtbevölkerung, (3) kleines BSP (oder einer anderen Maßeinheit gesamten Produktionsleistung) und (4) ein niedriges Niveau militärischer Kapazitäten.« (East 1973: 557)
Meine Entscheidung, das Bruttosozialprodukt (BSP) wie das Niveau militärischer Kapazitäten wegzulassen, basiert darauf, dass sich das BSP auf die Wirtschaft eines Landes und nicht dessen geopolitische Dynamik bezieht. Zugleich muss gesagt werden, dass internationale Verhältnisse und Sicherheit wesentlich stärker nuanciert sind und dass das strikte Kriterium, ein niedriges Niveau militärischer Kapazitäten aufrechtzuerhalten kein Indikator für die nationale Größe oder (zu diesem Zweck) für Stärke ist. Auch wenn sie nicht als eine Variable betrachtet wird, erkennt diese Studie stattdessen die Verschiedenheit nationaler Bedürfnisse und Fähigkeit, diese zu befriedigen, als Indikator für einen Kleinstaat an. Denn es scheint, dass Kleinstaaten nationale (sowie sektorale und regionale) Forderungen deutlich akuter verspüren, als dies bei größeren Staaten der Fall ist. Da ein Kleinstaat territorial klein ist und eine niedrige Bevölkerungszahl aufweist, folgt daraus, dass es weniger Bedürfnisse und mehr Möglichkeiten gibt, diese zu befriedigen. Umgekehrt kann es vorkommen, dass es mehr Bedürfnisse und weniger Möglichkeiten gibt, diese zu befriedigen, was impliziert, dass Kleinstaaten dazu gezwungen sind, sich anders als größere Staaten zu ver-
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halten, was von den inhärenten internen Spannungen herrührt, die aus der Varianz zwischen Bedürfnissen und den nationalen Fähigkeiten zu deren Befriedigung resultieren. Da derartige Situationen aber als Symptom des Klein-Seins entstehen und nicht der Grund für das Klein-Sein sind, wird der Gegensatz zwischen Bedürfnissen und Ressourcen als symptomatisch angesehen.
1. Variable: Die Bevölkerungsgröße Die Bevölkerungsgröße ist weiterhin relevant, da sie zu erkennen gibt, ob es eine angemessene Zahl von Bürgern gibt, um die politischen, militärischen, sozialen, diplomatischen und wirtschaftlichen Herausforderungen zu bewältigen. Obwohl die Verwendung der Bevölkerungsgröße als Indikator für die Größe eines Staates in der Forschung zu internationalen Beziehungen im Zentrum zahlreicher Debatten stand, wird sie in dieser Arbeit durchgängig als zentrale Determinante eingesetzt.3 Sawyer stellt fest: »Von allen nationalen Charakteristika ist die Bevölkerungsgröße wahrscheinlich die offensichtlichste – was ihre Bedeutung keineswegs schmälert. Und obwohl die Bevölkerung wohl am besten die Größe eines Staates widerspiegelt, sind Variablen wie die Energieressourcen eines Landes, das kultivierbare Ackerland und das BSP ebenfalls sehr wichtig für diesen Faktor.« (Sawyer 1967: 152)
Auch die vorliegende Studie erkennt an, dass es andere Faktoren gibt, die zum allgemeinen Verständnis dessen beitragen, was einen Staat groß oder klein macht, obwohl sie daran festhält, dass die Bevölkerungsgröße der wichtigste Faktor ist, da nur durch eine landesweite Mobilisierung nur gelingen kann, wenn die Individuen eines Staates in dessen politische und ökonomische Strukturen sowie dessen Streitkräfte integriert werden. Da Kleinstaaten eine geringere Anzahl an Akteurinnen und Akteuren für diese Aufgaben und Positionen zur Verfügung steht, liegt es nahe, dass Kleinstaaten durch eine geringere Anzahl an Individuen charakterisiert werden, wodurch die Größe an Bedeutung gewinnt. Wenn ein Staat weniger politisch befähigtes Personal zur Auswahl, weniger Soldatinnen und Soldaten zum Einziehen oder Anwerben und weniger ökonomische Akteurinnen und Akteure zur Verfügung hat, dann wird der gesamte Staatsapparat davon beeinflusst – selbst wenn der Staat, um den es geht, wohlhabend ist und signifikante natürliche Ressourcen kontrolliert.
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Einen Überblick zur Debatte über die Bevölkerungsgröße bietet Maass (2009: 70-74).
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Darüber hinaus ist es von Nutzen, darauf hinzuweisen, dass die Bevölkerungsgröße die generelle Macht eines Staates nicht eindeutig widerspiegelt – Kleinstaaten können relativ stark oder schwach sein – sondern dies hängt von einer ganzen Reihe miteinander interagierender Variablen ab. Rothstein stellt fest: »[…] der bloße Besitz einer größeren Armee, höher entwickelter Waffen oder einer modernen Wirtschaft garantiert nicht die Fähigkeit, die erwünschten Ziele zu erlangen – die Beziehung zwischen greifbarer Macht und dem Erreichen nationaler Ziele ist immer indirekter und undurchsichtiger geworden.« (Rothstein 1968: 19-20).
Trotz dieser Tatsache können Kleinstaaten ihre Macht bewahren und große Staaten können schwach sein. Die Größe des Territoriums hat dennoch einen Einfluss auf die Art, wie die Staaten sich verhalten, da Kleinstaaten dazu tendieren, sich auf Allianzen zu verlassen und sich ihrer Verwundbarkeit eher bewusst sind, als dies bei größeren Staaten der Fall ist. Es erscheint daher als wichtige Aufgabe, ein Verständnis dafür zu entwickeln, welche Rolle die Bevölkerungsgröße in nationalen politischen Kulturen und Verhaltensweisen spielt. Derartige theoretische Überlegungen können an dieser Stelle nicht fortgeführt werden, da nun versucht wird, die Kriterien für die Größe eines Staates zu bestimmen. Der ›absolute Ansatz‹ untersucht die Gesamtzahl der Einwohnerinnen und Einwohner eines Staates – sowohl Menschen mit als auch ohne Staatsbürgschaft – und legt eine Bevölkerungsgröße von maximal 1,5 Millionen als Merkmal für einen Kleinstaat fest. Diese Anzahl wurde nicht willkürlich bestimmt, sondern beruht auf der Tatsache, dass die große Mehrheit anerkannter nationalstaatlicher Unternehmungen die Grenze von 1,5 Millionen Einwohnern überschreitet, wodurch kleinere Staaten mit einer Bevölkerungszahl in dieser Höhe oder darunter deutlich in der Minderheit sind.4 Zusätzlich kann bei Staaten mit einer Bevölkerung von maximal 1,5 Millionen davon ausgegangen werden, dass weniger als eine Million Menschen für die Teilnahme am wirtschaftlichen, politischen, sozialen und militärischen Geschehen eines Staates geeignet sind. Bei einer Bevölkerung von 1,5 Millionen gelangen wir nach Abzug der Alten, Jungen und Menschen mit Behinderung ergibt sich eine aktiv teilhabende Bevölkerung von rund einer Million. Obwohl es vergleichsmäßig wenige dieser Staaten gibt, lassen sich
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Von den derzeit 193 Mitgliedstaaten der Vollversammlung der Vereinten Nationen haben 150 eine Bevölkerung von über 1,5 Mio. Menschen, was bedeutet, dass weniger als ein Viertel aller anerkannten Staaten eine Bevölkerungszahl von unter 1,5 Mio. haben.
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dennoch mehrere Beispiele dafür finden, auch wenn diese im vorliegenden Fall während des Kalten Krieges eher in oder nahe der Karibik liegen – sowohl Inselstaaten als auch Staaten entlang der umliegenden Küsten des Festlands – und nicht in Mittel- und Osteuropa.5 Nehmen wir zum Beispiel Anguilla (Großbritannien, 12.000), Antigua und Barbuda (73.000), Aruba (Niederlande, 100.000), die Bahamas (310.000), Dominica (79.000), Französisch-Guayana (178.000), Grenada (80.000), Guadeloupe (Frankreich, 440.000), Guayana (765.000), Martinique (Frankreich, 393.000), Montserrat (Großbritannien, 4.000), die Niederländischen Antillen (221.000), St. Kitts und Nevis (42.000), St. Lucia (149.000), St. Vincent und die Grenadinen (120.000), Surinam (435.000), Trinidad und Tobago (1,3 Mio.), die Turks- und Caicosinseln (21.000) sowie die britischen (21.000) und die US-amerikanischen Jungferninseln (111.000). All diese ergeben bereits ungefähr die Hälfte aller Kleinstaaten der internationalen Gemeinschaft (The Times reference atlas of the world 2011: 18-37). Um also einen Staat als absolut klein bezeichnen zu können, muss dieser eine Bevölkerung von maximal 1,5 Millionen und eine aktiv partizipierende Bevölkerung von 800.000 bis 1,2 Millionen Menschen haben. In der Karibik ist die große Mehrheit aller dortigen Staaten und Territorien absolut gesehen klein. Somit scheint das (oben beschriebene) Verhalten von Kleinstaaten anwendbar zu sein: Nur wenige dieser Staaten sind in der Lage, sich angemessen zu verteidigen, weshalb sie von der dominanten Macht in jener Region – den USA – instrumentalisiert werden. Natürlich gab es auch Zeiten, in denen einige der aktiveren Regionalmächte wie Kuba und Venezuela versucht haben, das regionale Machtgleichgewicht – auch bekannt als die regionale Hegemonie der USA – zu stören. Doch derartige Versuche waren meist wahnwitzig und planlos. Im Gegensatz hierzu basiert der ›relative Ansatz‹ auf einer 10%-Regel, die einen Staat im Vergleich zu seinen territorialen Nachbarn als klein bezeichnet, oder, im Falle von Inselstaaten, einen Staat, der das unmittelbare Küstengebiet des Gewässers, das ihn umgibt, mit anderen teilen muss. Dieser Ansatz ermöglicht wichtige Einblicke zu Kleinstaaten, da er auf der Beurteilung der relativen Macht basiert, die sich von der Demographie eines Staates ableiten lässt. Diese – nicht immer faire – Beurteilung erlaubt es Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, Hypothesen bezüglich der Fähigkeiten eines Staates aufzustellen,
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Es sollte daran erinnert werden, dass in letztgenannter Region die Nachfolgestaaten eine Bevölkerung von unter einer Mio. haben können, da einige der größeren Staaten zersplittert sind, insbesondere Jugoslawien. Montenegros Bevölkerung beläuft sich gerade einmal auf etwas über 600.000 Menschen.
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denn Staaten mit einer größeren Bevölkerung sollten (in den meisten Fällen) dazu in der Lage sein, eine größere Zahl ihrer Bürgerinnen und Bürger für politische Aufgaben, den aktiven Militärdienst und das wirtschaftliche Leben zu gewinnen. Allerdings birgt auch dieser Ansatz einige Probleme, da er nicht automatisch auf unausgeglichene Machtverhältnisse hinweist. Es müssen zahlreiche weitere Faktoren in Betracht gezogen werden. Zum Beispiel können größere Staaten stärker zerrüttet bzw. weniger einheitlich sein und weniger Ressourcen zur Verfügung haben, was wiederum dazu führt, dass sie, relativ gesehen, schwächer als ein kleinerer Kontrahent wären. Derartige Überlegungen sind zwar sicherlich nützlich, gleichwohl sind sie nicht für die vorliegende Diskussion relevant, die im engen Sinn zu zeigen versucht, was ein Kleinstaat ist und nicht, über welche Fähigkeiten er verfügt. Unter Berücksichtigung dieses Ansatzes lässt sich also sagen, dass ein Staat relativ gesehen klein ist, wenn er zehn Prozent der Bevölkerung eines seiner Nachbarländer besitzt. Mit wenigen Ausnahmen hatten alle Staaten an den Grenzen zu den USA (237 Millionen Einwohner) und zur UdSSR (277 Millionen Einwohner) unter zehn Prozent von deren Bevölkerungsgröße. In Lateinamerika und der Karibik waren es nur Mexiko, Argentinien und Brasilien, welche diese Zehn-Prozent-Regel überschritten (im Jahr 1985). Auf der anderen Seite hatte nur Polen zu jenem Zeitpunkt eine Bevölkerung von über zehn Prozent von jener der UdSSR.
2. Variable: Nationales Territorium Das nationale Territorium bietet als Variable zwei wichtige Merkmale, anhand derer sich ein Staat als klein oder groß einstufen lässt: Das Niveau der geostrategischen Tiefe und das Vorhandensein einer nachhaltigen Ressourcenbasis (dazu zählen auch die Möglichkeiten des Zugangs, der Nutzung und des Transports von Ressourcen).6 Im Gegensatz zu der Art, wie die Bevölkerung oben behandelt wurde – nämlich mittels einer Trennung des absoluten und des relativen Ansatzes – werden in diesem Abschnitt beide Ansätze in den Hauptargumenten zusammenfließen. Die ›geostrategische Tiefe‹ eines Staates zu messen, gestaltet sich als schwierige Aufgabe, da es sich um eine ambivalente Variable handelt, für deren Messung den Sozialwissenschaftlerinnen und -wissenschaftlern nur wenige Methoden zu
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Diese Untervariablen wurden Jeffery Hart (1976) entliehen.
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Verfügung stehen.7 Oft wird der Begriff der geostrategischen Tiefe auf vergegenständlichte Weise verwendet, ohne eine klare Definition zu liefern. Diese Arbeit bietet eine unvollkommene Definition, hofft aber, dass dieses Unterfangen in künftigen Arbeiten weiterentwickelt wird. Für die hier verfolgten Ziele genügt es, geostrategische Tiefe als jene Menge eines Territoriums zu beschreiben, die ein Staat einer feindlichen Armee überlassen kann, bevor er die letzte Unabhängigkeit verliert. Anders gesagt: der prozentuale Anteil des Territoriums, das unter der Kontrolle von Regierung ›A‹ bleiben muss, damit diese Regierung legitim die Ausübung seiner souveränen Kontrolle über das Land ›A‹ beanspruchen kann. Nehmen wir eine kontrafaktische Situation an, um diesen Punkt näher zu erläutern. Man stelle sich vor, der nicaraguanische Bürgerkrieg hätte zu einem Zeitpunkt stattgefunden, an dem die USA darum bemüht gewesen wären, die Durchsetzung von Menschenrechten in Zentralamerika voranzutreiben und die Leiden der Zivilbevölkerung zu lindern.8 Nehmen wir weiterhin an, die USA hätten dazu auf nicaraguanischem Territorium an der Grenze zu Costa Rica einen zehn Kilometer breiten ›humanitären Korridor‹ eingerichtet, um der Zivilbevölkerung einen sicheres Rückzugsgebiet zu bieten und damit die sandinistische Armee zehn Kilometer von deren souveränen Grenzen fortzutreiben. Nicaragua würde im Zuge dieser Intervention nicht aufhören, ein eigenständiger und legitimer Staat zu sein, da Nicaraguas geostrategische Tiefe größer als zehn Kilometer ist. Sollten die USA (rein hypothetisch) diesen Korridor auf 250 Kilometer vergrößern und somit den Großteil der nicaraguanischen Bevölkerung sowie der
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Die Mehrheit der Wissenschaftler tendiert dazu, strategische Tiefe eher als etwas Abstraktes denn als eine Realität des geopolitischen Denkens eines Staates anzusehen, z.B. Faruk Yalvac. Yalvac trägt mit seinem Aufsatz (2012) sicherlich zur Erforschung internationaler Beziehungen bei, doch bietet er nicht gerade viele Anhaltspunkte dafür, wie geostrategische Tiefe als Konzept verallgemeinert und für die politische Orientierung von Staaten eingesetzt werden kann. Yalvac versucht zumindest, geostrategische Tiefe zu verstehen; die meisten anderen nehmen schlicht und einfach an, dass es ein breites Wissen zu diesen Thema gibt und vermeiden eine Definition desselben.
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Es sei darauf hingewiesen, dass es sich hierbei um ein Argument handelt, das nicht den Tatsachen entspricht. Historisch gesehen wird die Unterstützung des diktatorialen Regimes von Präsident Somoza durch die USA häufig als Hauptursache für den Bürgerkrieg von 1978/1979-1989 genannt, da sie einen Block im Kampf gegen die Zivilgesellschaft, die Bauern und die Intelligenzija stärkte. Der Bürgerkrieg endete mit der Unterzeichnung des Abkommens im honduranischen Tela, woran die USA nur am Rande beteiligt waren.
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industriellen Produktion vereinnahmt haben, würde Nicaragua in seiner jetzigen Form aufhören zu existieren. Stattdessen könnte es zu einer kleineren Einheit werden, die z.B. um Managua herum konzentriert wäre, oder versuchen, die verlorenen Gebiete durch Guerillakriegsführung zurückzuerobern. In jedem Fall würden das Land und dessen Regierung als illegitim gelten, obwohl die Anführer weiterhin als legitime Vertreter der nicaraguanischen Bevölkerung angesehen werden könnten. In diesem hypothetischen Beispiel würde Nicaraguas geostrategische Tiefe im Verhältnis zu den USA etwa 250 Kilometer betragen. Allerdings ist auch das keine feste Regel. Sollte z.B. Nicaraguas Nachbarland Honduras in diesem Szenario ebenfalls militärisch interveniert haben – um die unvermeidliche Migration der fliehenden Zivilbevölkerung zu stoppen – würde dies keine 250 Kilometer große Besatzungszone erfordern, um Nicaragua zu zerstören. Die Besetzung der Hauptstadt Managua würde in diesem Fall bereits ausreichen. Sollte Honduras mit diesem Versuch Erfolg haben, so würde die nicaraguanische Führung entweder abgesetzt (getötet, verhaftet, ins Exil geschickt) oder ins im Hinterland getrieben werden, von wo aus sie den Konflikt mit asymmetrischen Mitteln fortführen würde. In jedem Fall würde dies implizieren, dass Nicaraguas Anführer nicht weiter dazu in der Lage wären, effektiv eine Politik für das Land zu entwickeln oder zu implementieren, wodurch der Staat nicht weiter als eine Einheit existieren würde. An diesem Beispiel wird deutlich, dass es zwei wichtige Determinanten geostrategischer Tiefe gibt. Erstens eine auf Kilometern beruhende Determinante, der zufolge die geostrategische Tiefe eines Staates nach der Menge an nationalem Territorium gemessen wird, die er behalten muss, um der gleiche Staat zu bleiben. Oder anders gesagt, wie viel Land ein Staat verlieren kann, bevor er aufhört, ein Staat zu sein. Die zweite Determinante basiert auf der Kontrolle über die Hauptstadt des besagten Staates, da diese Kontrolle eine enorme symbolische und praktische Bedeutung hat. Sie zeigt an, dass eine Regierung die Kontrolle über die Apparate und Institutionen der Entscheidungsfindung verloren und der Staat aufgehört hat, in seiner vorherigen Form zu existieren. Man bedenke, dass die UdSSR nicht ganz Ungarn besetzen musste, um das Land 1956 schließlich dazu zu zwingen, sich zu ergeben. Bereits die Besetzung Budapests und die anschließende Verbannung, Ermordung, Gefangennahme oder Kooptation der Regierungsmitglieder der Exekutive, der Legislative und der Jurisdiktion reichten dazu aus. Obwohl dies als Beispiel für die Bedeutung der Besetzung der Hauptstadt als eine Schlüssel-Determinante für die geostrategische Tiefe eines Landes dienen kann, sei darauf hingewiesen, dass bereits Drohungen gegen eine Hauptstadt ein effektives Werkzeug der Machtausübung darstellen können.
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Die gerade angestellten Überlegungen sollten dazu dienen, mit einigen Ideen zur geostrategischen Tiefe zu spielen. Allerdings waren diese auf größere Staaten bezogen und haben Kleinstaaten daher bislang ausgeschlossen. Während die allgemeine Theorie, die hier zur Anwendung gelangt, für Kleinstaaten gültig ist, gilt es festzuhalten, dass die Beibehaltung eines kleinen Territoriums auch eine begrenztere geostrategische Tiefe bedeutet. Der Verlust von zehn Kilometern Territorium würde Nicaragua nicht automatisch seine Unabhängigkeit kosten. Sollten die USA allerdings zehn Kilometer von Grenada erobern (was sie auch taten), würde Grenada aufhören zu existieren und müsste die US-amerikanische Herrschaft akzeptieren (was es ebenfalls tat). Für die Ziele dieser Studie wird angenommen, dass Kleinstaaten naturgemäß eine geringere geostrategische Tiefe haben als größere Staaten. Daher sind Kleinstaaten vom Wesen her verwundbar, da eine fremde Besetzung durch kleinere Territorien und den Mangel an angemessener geostrategischer Tiefe erleichtert wird. Kuba ist z.B. ein relativ kleiner Inselstaat und die Tschechoslowakei (war) ein kleiner Territorialstaat. Quester nennt als relevante und größte Schwachpunkte solcher Staaten, dass »es kein Hinterland gibt, wohin sich die Bewohner dieser Insel zurückzuziehen könnten, es gibt keine zweite Verteidigungslinie, keine Rückzugsposition, von der aus man derartige feindliche Angriffe zurückschlagen könnte« (Quester 1983: 161). Inselstaaten sind sogar noch verwundbarer, da es keine durchlässigen Grenzen gibt, über die man in der Hoffnung auf Asyl schleichen könnte, keine Sicherheitsnetzte und keine sicheren Häfen. Die ›nachhaltige Ressourcengrundlage‹ untersucht die Fähigkeit eines Staates, bei der Versorgung der eigenen Bevölkerung mit grundlegenden Ressourcen autark zu sein, die auf dem nationalen Territorium gewonnen werden können. Im heutigen komplexen internationalen Umfeld bleiben die notwendigen Bedingungen für das soziopolitische Überleben relativ konstant. Diese Bedingungen sind: •
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Erstens das Vorhandensein urbarer Flächen, um sowohl hygienische Wohngebiete als auch die Lebensmittelversorgung zu sichern, was durch angemessene Landwirtschaft und Viehhaltung ermöglicht wird. An zweiter Stelle, aber keinesfalls weniger notwendig, ist Trinkwasser: frisches, gereinigtes Wasser für den Konsum, die Zubereitung von Nahrungsmitteln, die Landwirtschaft und zur Sicherung hygienischer Zustände (die Reinigung von Flächen und Menschen). Wasser ist außerdem von essentieller Bedeutung für moderne Medikamente und industrielle Aktivitäten. Drittens fügt der Zugang zu Energiequellen der Liste nötiger Ressourcen für jegliche politische Gemeinschaft eine wichtige Dimension hinzu. Energieres-
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sourcen können archaischer sein, wie etwa Holz. Es kann sich auch um Öl, Gas oder noch modernere Energiequellen wie Biomasse handeln. Gemeinschaften benötigen Energie zur Beleuchtung und Beheizung des eigenen Wohnraumes, zur Zubereitung von Nahrung, zur Sterilisierung alltäglicher und medizinischer Utensilien sowie (in entwickelteren Gesellschaften) zur Versorgung von Städten und Verkehrsmitteln und zur Aufrechterhaltung der Annehmlichkeiten des modernen Lebens. Viertens werden Humanressourcen benötigt, um das grundlegende Funktionieren einer jeden Gemeinschaft (egal welcher Größe) zu garantieren. Die Menschen müssen dazu in der Lage sein, die Schlüsselpositionen des öffentlichen Dienstes (Polizei, Streitkräfte, Regierung, etc.) zu besetzen, als auch in Sektoren, in denen es um die Gewinnung, die Verarbeitung und den Transport von Ressourcen geht. Alle politischen Gemeinschaften benötigen schließlich angemessene Lebensräume, also Orte, an denen Individuen und Familien leben können und öffentliche Orte, an denen es soziale Interaktionen und sozialen Austausch geben kann.
Dies sind die Grundressourcen, welche jede Gemeinschaft benötigt. Mit der Weiterentwicklung der modernen Gesellschaften schreiten auch die Forderungen nach benötigten und erwünschten Ressourcen einher: Sie betreffen die Bildung, die Industrie, den Handel und das sozialen Leben. Es ist klar, dass bei der Aufrechterhaltung einer nachhaltigen Ressourcengrundlage Kleinstaaten aufgrund ihres kleineren Territoriums (nahezu immer) benachteiligt sind. Es gibt zwar leider keine Möglichkeit, anhand einer festen Quadratkilometerzahl genau festzulegen, was einen Staat klein macht. Allerdings ist es möglich, Hypothesen auf der Grundlage der Vermengung eines relativen und eines absoluten Verständnisses territorialer Größe aufzustellen, indem man die Zahl der Einwohner pro Kilometer zur Größe des Territoriums in Beziehung setzt.
Die territoriale Größe als Determinante von Kleinstaaten Die Bevölkerungsgröße wurde bereits als Variable genutzt, die dazu operationalisiert werden kann, um zumindest teilweise zu bestimmen, ob ein Staat klein ist oder nicht. In diesem Abschnitt soll der gleiche Versuch unter der Verwendung der territorialen Größe unternommen werden. Diese Variable wurde an sich bereits bis zu einem gewissen Grad erläutert. Nun sollen der absolute und der relative Ansatz vorgestellt werden, die beide für ihre Operationalisierung nötig sind.
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Beide Ansätze beziehen sich eher auf die tatsächliche und potenzielle strategische Tiefe als auf die nachhaltige Ressourcengrundlage eines Staates. Diese Auswahl beruht auf der Annahme, dass selbst große Staaten nicht über alle nötigen Ressourcen für die Versorgung ihres Landes verfügen und sich aus diesem Grund am internationalen Handel beteiligen. Gleichzeitig kann es vorkommen, dass Kleinstaaten tatsächlich in der Lage sind, nachhaltig Ressourcen für die Versorgung ihrer Bevölkerung zu gewinnen. Die Menge an Ressourcen ist also durchaus und insbesondere in einem Umfeld mit starker Konkurrenz von Bedeutung ist; dennoch kann sie an dieser Stelle nicht weiter verwendet oder entwickelt werden, da sie die umfassende Identifizierung eines Staates als Kleinstaat nur weiter verkomplizieren würden. Um dies zu verdeutlichen, soll das Beispiel Perus herangezogen werden, das eine Bevölkerung von 28 Millionen Menschen hat, die über mehr als 700.000 km² verteilt sind. Trotz seiner Größe ist nur ein sehr kleiner Teil dieses Territoriums urbar, was an den Anden und den geschützten Regenwäldern liegt. Um die Grundbedürfnisse seiner Bevölkerung zu erfüllen, ist Peru daher auf internationale Handelsbeziehungen angewiesen.9 Zur gleichen Zeit beträgt die Bevölkerungsgröße Costa Ricas in etwa 4,5 Millionen Menschen auf einem winzigen Territorium, wovon rund 35% urbar sind, was dazu führt, dass Costa Rica genügend landwirtschaftliche Ressourcen zur Verfügung stehen (ebd.). Dieser Unterschied an nachhaltigen Ressourcen deutet allerdings nicht auf die absolute oder relative Größe von Peru oder Costa Rica hin. Stattdessen wird hier nur eine Dynamik verdeutlicht. Daher wird die Betrachtung nachhaltiger Ressourcen aus den weiteren Überlegungen ausgeschlossen, obgleich die Annahme akzeptiert wird, dass Kleinstaaten dazu tendieren, gravierendere Probleme damit zu haben, die Ressourcenbedürfnisse ihrer Bevölkerung zu erfüllen. Dies dient eher als eine punktuelle Überlegung als eine Regel. Die nun folgenden Punkte verweisen auf die absolute und die relative territoriale Größe eines Staates zum Zwecke der Bestimmung seiner strategischen Tiefe. Absolut: Klein impliziert hierbei, dass das Territorium kleiner als 5000 km² ist. Diese territoriale Determinante wurde aufgrund eines Maximums von 222,5 Kilometern Tiefe des betreffenden Staates gewählt. Oder in anderen Worten nach der Möglichkeit, das Zentrum eines Staates von seinen Grenzen aus nach 222,5 Kilometern zu erreichen. Dies impliziert eine minimale strategische Tiefe und kann daher als Indikator dafür dienen, dass ein Staat absolut klein ist. Topographische Begebenheiten können militärische Invasionen natürlich beschleunigen
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Diese Informationen stammen aus dem CIA Factbook (2013).
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oder behindern. Wenn ein Staat eine Größe von 5001 km² hat, wird er kaum in einer besseren Situation sein, doch es scheint statistisch einen größeren Sprung zwischen Staaten zu geben, die weniger als 5000 km² umfassen und solchen mit einer Größe von 7000 oder mehr. Anders gesagt: Es gibt nur sehr wenige Staaten mit einer Größe von 5000-7000 km², weshalb es nur natürlich erscheint, den Grenzwert bei 5000 km² festzulegen (ebd.). Bezüglich der topographischen Begebenheiten muss gesagt werden, dass die technischen Innovationen der letzten 50 Jahre erhebliche Auswirkungen gehabt haben. Gerade im Bereich der Luftfahrt- und Raketentechnik lässt sich erkennen, dass sich territoriale Hindernisse wesentlich einfacher zu überwinden lassen. In dieser Hinsicht bietet ein Territorium von 5000 km² praktischen keinen Schutz vor Luftangriffen, da diese Staaten innerhalb von weniger als 20 Minuten überflogen werden können. Solche Staaten sind daher absolut verwundbar. In Zentral- und Osteuropa besitzen alle Länder Landmassen, welche die Regel von 5000 km² überschreiten. Andererseits sind die Inselstaaten in der Karibik und in Lateinamerika in der Regel wesentlich kleiner. Dominica (751 km²), Saint Lucia (616 km²), Antigua und Barbuda (442 km²), Barbados (430 km²), Saint Vincent und die Grenadinen (398 km²), Grenada (344 km²) und Saint Kitts und Nevis (261 km²), sind alles Beispiele für absolut kleine Staaten, die auch als Kleinststaaten bezeichnet werden können. Relativ kleine Staaten sind jene, die ein Territorium von maximal 10% des Territoriums eines ihrer Nachbarländer besitzen. Diese 10%-›Regel‹ beruht auf den relativen strategischen Vorteilen, die ein größerer Staat haben könnte, was die strategische Tiefe und die relative Verwundbarkeit betrifft. In einem Konflikt zwischen zwei Gegnern, der von relativer Asymmetrie bestimmt wird, was die Größe des Territoriums betrifft, ist der kleinere Staat weniger dazu in der Lage, seinen größeren Kontrahenten vollständig zu bedrohen, als es umgekehrt der Fall wäre. Ein Territorium (und eine Bevölkerung) von 90% seiner Größe zu besetzen, ist für einen relativ kleinen Staat quasi ein Ding der Unmöglichkeit. Umgekehrt sind Staaten, die mindestens 90% größer als ihre Gegner sind, eher dazu in der Lage, den gesamten kleineren Staat zu besetzen. Dies liegt an der relativen strategischen Tiefe der Akteure. Vielleicht erklärt dies die aggressivere Politik mancher kleinen Staaten gegenüber ihren größeren Nachbarn. Ein Kleinstaat wird eher auf eine Strategie setzen, welche das begrenzte Ziel der Errichtung einer Pufferzone verfolgt; also nicht die Eroberung seines größeren Gegners, sondern die Besetzung von dessen Territorium, um eine Pufferzone zu errichten. Damit würden künftige Kampfhandlungen eher auf dem eroberten Gebiet erfolgen als auf dem nationalen Territorium des Kleinstaats, der eine inhärente Verwundbarkeit und keine strategische Tiefe hat. In Zentral- und Osteu-
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ropa besaß keines der Mitglieder des Warschauer Paktes bis auf Polen eine größere Bevölkerung als 10% der Bevölkerung der UdSSR, wodurch sie relativ gesehen alle klein waren. Zugleich waren in der Karibik und in Zentralamerika alle Staaten kleiner als 10% der USA, Brasiliens und Mexikos. In Südamerika war hingegen der Großteil der Staaten größer als 10% der USA, wobei Ecuador, Französisch-Guayana, Guayana, Uruguay und Paraguay relativ zu den USA (und zu Brasilien) klein waren.
Eine Zusammenfassung der Merkmale von Kleinstaaten Es sollte festgehalten werden, dass ein Kleinstaat – sei er nun relativ oder absolut klein – zwar verwundbarer sein mag, dies aber nicht zwingend bedeuten muss, dass er schwach ist. Kleinstaaten können trotz eines demographischen oder territorialen Nachteils mächtig sein.10 In der Mehrheit der Fälle verfügen Kleinstaaten jedoch über eine sehr begrenzte Macht und tendieren daher selten dazu, aggressiv zu sein. Sie tendieren dazu, sich auf Allianzen zu verlassen, die meist bestimmte Einschränkungen mit sich bringen. Oder, um die Logik von Aron nachzuvollziehen, die Maass wiederholt hat: »Kleinstaaten müssen eine defensive Einstellung haben und sich fast ausschließlich auf ihre eigene Sicherheit konzentrieren. [Sie sind, M.B.] nicht dazu in der Lage, eine Agenda gegenüber anderen Staaten zu verfolgen – denn ihnen fehlt es an der Macht, dies zu tun […]« (Maass 2009: 73). Dies wird durch die Beispiele Zentral- und Osteuropa, der Karibik und Lateinamerika während des Kalten Krieges bestätigt. Mit sehr wenigen Ausnahmen war der Kalte Krieg eine Zeit des zwischenstaatlichen Friedens in diesen Regionen – ungeachtet der Einschränkungen und der politischen Gewalt gegen interne Akteurinnen und Akteure. Zwar mögen einige Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler die Art und Weise hervorheben, wie die Supermächte im Kalten Krieg innerhalb ihres jeweiligen Blocks über die kleineren Staaten herrschten. Doch spricht sich der vorliegende Beitrag dafür aus, dass der Grund für diese (größtenteils) friedlichen Beziehungen zwischen Kleinstaaten im gleichen Block gerade die defensive Natur des internationalen Systems zu jener Zeit war. Die möglichen Vorteile einer Aggression waren es nicht wert, die Konsequenzen eines politischen Bruches zu riskieren. Trotzdem war es nicht das Ziel dieses Beitrags, darzulegen, welche Möglichkeiten Kleinstaaten hatten oder die relative Bedeutung solcher Akteure hervorzuheben, sondern klar auf Folgendes hinzuweisen:
10 Das ist die hauptsächliche Argumentationslinie, die Michael Handel (1981) vertritt.
56 | M ITCHELL BELFER »[...] dass Kleinstaaten nicht einfach nur schwächere Großmächte sind, […] sie müssen durch ein anderes Kriterium als durch ihren relativen Machtstatus definiert werden. […] Es gibt sowohl eine psychologische als auch eine materielle Unterscheidung zwischen Groß- und Kleinmächten. Die Letztgenannten verdienen ihren Titel nicht nur durch ihre Schwäche, sondern durch die Anerkennung der Implikationen dieses Zustands.« (Rothstein 1968: 29)
Kleinstaaten sind also weiterhin Staaten und nicht bloße Anhängsel größerer Gebilde; sie nehmen am wirtschaftlichen, diplomatischen und politischen Austausch mit anderen teil und tragen zu ihren lokalen und regionalen Sicherheitsgefügen bei. Wenn man Kleinstaaten auf diese Weise über ihre Möglichkeiten, mit inländischen und internationalen Problemen umzugehen, definiert, verlagert sich der Schwerpunkt eher auf Sicherheitsfragen. Kleinstaaten oder Kleinmächte sind nicht in der Lage, die interne Dynamik ihrer größeren Nachbarn empfindlich zu beeinflussen. Daher konzentrieren sie sich darauf, ihre politischen Energien auf die Verbesserung ihrer eigenen Sicherheitslage zu konzentrieren. Dieser Beitrag hält somit fest, dass ein Kleinstaat [...] erkennt, dass er die eigene Sicherheit nicht primär durch den Gebrauch seiner eigenen Fähigkeiten erreichen kann, sondern dass er dafür ganz grundlegend auf die Unterstützung anderer Staaten, Institutionen, Prozesse und Entwicklungen angewiesen ist. Das Bewusstsein eines Kleinstaates, sich nicht nur auf seine eigenen Mittel verlassen zu können, muss auch von anderen Staaten erkannt werden, die in der internationalen Politik involviert sind. (Ebd.)
Weiterhin wird ein Kleinstaat »durch seine begrenzten Fähigkeiten definiert, 1. die Sicherheitsinteressen einer Großmacht zu beeinflussen oder diese zu bedrohen, und 2. sich selbst gegen einen Angriff einer Großmacht zu verteidigen, welche eben dadurch motiviert wird« (Fendius Elman 1995: 171, Anm. 1). Diese Aussagen basieren auf der zuvor erarbeiteten Definition von Kleinstaaten, wonach diese in Bezug auf ihre Bevölkerung und die Größe ihres Territoriums entweder absolut oder relativ klein sind. Um es noch einmal deutlich zu sagen: Kleinstaaten werden über ihre demographische und territoriale Größe definiert. Ihre Bevölkerung darf nicht größer als 1,5 Millionen Menschen sein (absolut) oder größer als 10% eines jeglichen benachbarten Staates (relativ). Gleichzeitig darf das Territorium eines Kleinstaats nicht größer als 5000 km² sein (absolut), oder größer als 10% der Größe eines benachbarten Territoriums. Nehmen wir diese Parameter als gegeben an, tendieren Staaten, die als klein eingeschätzt werden, dazu, gewisse politische
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Verhaltensmerkmale aufzuweisen: Risikovermeidung, die Abhängigkeit von Allianzen und die Aufrechterhaltung eines begrenzten internationalen Einflusses zum Erreichen eigener und internationaler Interessen. Kurz gesagt bewahren Kleinstaaten ein begrenztes Maß an internationaler Macht, die auf ihren begrenzten internen Fähigkeiten und Mitteln zur Ausdehnung beruhen. Der Kleinstaat erkennt wie auch andere seine eigene Verwundbarkeit in Sicherheitsfragen an, weshalb die Welt in Verbündete (potentielle oder tatsächliche Sicherheitsgaranten) und Kontrahenten (potentielle oder tatsächliche Sicherheitsverminderer) aufteilbar ist. Dabei gibt es international nur wenige Nuancen. Dies mag die Art und Weise erklären, wie sich die Staaten Lateinamerikas, der Karibik und Zentral- sowie Osteuropas nach dem Untergang der UdSSR verhielten: sie orientierten sich schnellstmöglich auf Washington um. Da gab es kein großes Zögern. Bereits in der ersten postsowjetischen Dekade vollzogen Ungarn, Polen und die Tschechische Republik eine Kehrtwende, traten der NATO bei und 2004 auch der EU. Ihnen folgten die anderen, bis der Großteil Europas als ein geeinter politischer und strategischer Block hervortrat. Dieser Prozess hatte weniger mit den euroatlantischen Werten zu tun, als mit der prekären Lage von Kleinstaaten, die auf der Suche nach neuen und passenden Allianzbindungen waren, um die eigene Verwundbarkeit zu vermindern. Dies betraf auch Lateinamerika und die Karibik. Der Großteil der dortigen Staaten und deren Bevölkerungen haben sich auf die Seite der USA gestellt. Nur Kuba, Venezuela und seit kurzem Brasilien versuchen noch, sich dem Einfluss der USA zu widersetzen, doch nur halbherzig.
K LEINSTAATEN IM S CHATTEN EINE B ESTANDSAUFNAHME
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Kleinstaaten spielen seit jeher eine Rolle in den internationalen Beziehungen. Ob es nun um Kuba geht – ein Bruchteil der Größe der USA oder ein noch kleinerer Teil im Verhältnis zur ehemaligen UdSSR – oder um Grenada, die Tschechoslowakei oder Ungarn (usw.); stets wird klar, dass das Beherrschen von Kleinstaaten und die Lenkung ihrer Fähigkeiten zu einer Art von Initiationsritual für die Groß- und Supermächte dieser Welt geworden ist, wodurch sie die Kontrolle über deren Außen- und Sicherheitspolitik ausüben. Der Kalte Krieg mag als ein Unentschieden zwischen den USA und der UdSSR, zwischen der NATO-Allianz und der des Warschauer Pakts, zwischen parlamentarischer Demokratie und kommunistischer Planwirtschaft in die Geschichte eingehen. Dennoch steckten unter dem Mantel der Ideologie und der waghalsigen Politik Akteure, die den
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Supermächten ihr internationales Durchsetzungsvermögen verleideten. Kleinstaaten waren im Kalten Krieg ebenso wichtig wie die Supermächte, die den Anspruch erhoben, erstere und deren Interessen zu repräsentieren. Obwohl dieser Beitrag vor allem auf einer Einschätzung des Wesens von Kleinstaaten im internationalen ›shatterbelt‹ während des Kalten Krieges basiert, war das bescheidenere Ziel die systematische Klassifizierung von Kleinstaaten. Natürlich ist das Ausblenden dieser Akteure in allgemeinen Diskussionen und Diskursen eine natürliche Folge der begrenzten Rollen, die sie in einer von transnationalen Konflikten geprägten Welt spielten. Dennoch lag die Essenz des Kalten Krieges für die Supermächte der beiden Blöcke darin, einen Weg zu finden, Kleinstaaten entweder direkt (durch Besetzung) oder indirekt zu beherrschen. In Lateinamerika und der Karibik sowie in ganz Zentral- und Osteuropa gelangten viele Kleinstaaten infolgedessen zu internationaler Bedeutung. Doch auch jetzt, Jahrzehnte nach dieser Epoche, ist die internationale Forschung sich nur wenig darüber im Klaren, welchen Einfluss Kleinstaaten auf das internationale System bei der Suche nach mehr Macht tatsächlich haben. Der Beitrag, den wir hier leisten wollten, lässt sich darin erkennen, wie sich das politische Leben von Staaten gestaltete, die dazu gezwungen waren, sich im Schatten von Imperien zu suhlen.
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Iberoamerikanische Studien in der Tschechoslowakei zur Zeit des Kalten Krieges M ARKÉTA K ŘÍŽOVÁ
Dieser Aufsatz analysiert die Entstehung und Verbreitung der Studien zu Lateinamerika in der Tschechoslowakei im Rahmen der Area Studies, einer besonderen Form der Wissensproduktion über die Welt.1 Diese diente im Kontext der Rivalität zwischen den Blöcken des Kalten Krieges als wichtiges Werkzeug zur diskursiven ›Aneignung‹ mehrerer Regionen der Erde. Unter dem Einfluss der kubanischen Revolution von 1959 und dem Boom der lateinamerikanischen Literatur in den 1960er Jahren wuchs in Europa generell und insbesondere in Osteuropa das Interesse an der Geschichte und Kultur Lateinamerikas. Das 1967 gegründete Zentrum für Iberoamerikanische Studien in Prag war die erste Institution im so genannten Ostblock außerhalb Moskaus, das sich auf lateinamerikanische Studien spezialisierte, darunter insbesondere auf Iberoamerika. Das Jahrbuch Ibero-Americana Pragensia wurde zur ersten wissenschaftlichen Zeitschrift in spanischer Sprache, die (ebenfalls ab 1967) im Ostblock publiziert wurde. Es spielte eine wichtige Rolle im Prozess der Schaffung einer breiteren Grundlage der osteuropäischen Lateinamerikastudien und diente als Kommunikationskanal zwischen Lateinamerikanistinnen und Lateinamerikanisten in ganz Europa. Das Studium der Geschichte Lateinamerikas wurde in der Tschechoslowakei durch den dominanten Diskurs der sowjetischen Sozialwissenschaften beeinflusst. Doch diese Dominanz wurde nicht einfach auf passive Weise hingenommen, noch wurden passiv Modelle der westlichen Area Studies übernom-
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Die Recherche für den vorliegenden Beitrag wurde innerhalb des Programms PRVOUK 12 ›History in an Interdisciplinary Perspective‹ an der Karlsuniversität Prag durchgeführt. Siehe http://www.cuni.cz/UKEN-245.html#12 (5.7.2016).
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men. Es gab vielmehr bewusste Bemühungen um eine aktive Suche nach einem eigenen Weg, diese Probleme zu erforschen. Die Regionalwissenschaften entstanden nach dem Zweiten Weltkrieg innerhalb der Sozialwissenschaften als eine spezifische Form der Wissensproduktion mit klaren politischen Implikationen. Die Gründung einer interdisziplinären Forschungsrichtung, die außereuropäische Regionen in den Vordergrund rückte, steuerte zu einem gewissen Grad zu deren »intellektueller Dekolonisation« (Manning 2003: 145) bei, da Forscherinnen und Forscher aus den verschiedenen Regionen ihre spezifische Geschichte und Identität betonten. Aber genau diese Abgrenzung der Regionen folgte den Konditionen, die durch den Kalten Krieg2 vorgegeben wurden und die Disziplin diente somit als wichtiges Instrument für die diskursive ›Aneignung‹ verschiedener Teile der Welt. Generiertes Wissen wurde nicht nur für die Entwicklung der Geschichts- und anderer Wissenschaften und verwendet, sondern stand auch im Dienste von ökonomischen und politischen Interessen. Aufgrund der engen Verflechtungen mit Politik und Ideologie waren die verschiedenen Teilgebiete der Regionalwissenschaften nach dem Ende des Kalten Krieges im Osten wie im Westen Gegenstand zahlreicher Kritik von Historikerinnen und Historikern. Diese brachten ihren Unmut sowohl gegen die Kategorien als auch gegen die Epistemologie zum Ausdruck, die in der vorherigen Periode formuliert worden waren.3 Jedoch ermöglicht es die Analyse der komplexen intellektuellen Geschichte der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, zu verstehen, wie diese spezielle Art von Wissen generiert wurde und wie dieses in den größeren politischen Kontext und wissenschaftlichen Rahmen integriert wurde. Somit ist das Ziel dieses Aufsatzes, die Lateinamerikastudien nicht als isoliertes wis-
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Der Begriff ›Kalter Krieg‹ wird in diesem Text konventionell und ohne Vorbehalte für die gesamte Zeit von 1945-1989 verwendet, auch wenn ich mir der Entwicklungen und Veränderungen bewusst bin, die sowohl auf globaler/europäischer Ebene, als auch innerhalb der tschechoslowakischen Gesellschaft in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts stattfanden.
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Hierzu meinte Palat: »Obwohl dieses Projekt versprach, die an die Disziplinen gebundene Aufteilung der Wissensakkumulation zu überwinden und eine integrierte sowie holistische Sicht auf die Völker und Institutionen der Welt zu schaffen, durchdrangen ihre Verbindungen mit den außenpolitischen Zielen der Hegemonialmacht und der Auftragsforschung jedweden Aspekt der Regionalwissenschaften. Dies infiziert, verletzt und kontaminiert alle Bereiche der Regionalwissenschaften, nicht nur in den Sozialwissenschaften, sondern auch in den Geisteswissenschaften« (Palat 2000: 69).
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senschaftliches System zu betrachten, sondern zu zeigen, dass sie kulturellen, sozialen und politischen Entwicklungen unterliegen.4 In den westlichen Wissenschaften spielte nicht nur die öffentliche, sondern auch die private Finanzierung von Forschungsprogrammen eine wichtige Rolle.5 Im Gegensatz dazu waren innerhalb des Sowjetblocks die Rolle des Staates und dessen Vorgaben ausschlaggebend, welche die Satellitenstaaten von Moskau erhielten. In Anbetracht der geringen Anzahl der Akademikerinnen und Akademiker in diesem Forschungsfeld war und ist die Rolle der Einzelnen in der Entwicklung der Disziplin von großer Bedeutung, da sie die Richtung und das Tempo der Forschung und der Publikationen vorgaben. Die Erforschung der außereuropäischen Kulturen war besonders in der Tradition der Orientalistik des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts verankert, mit dem Ziel, die außereuropäische Welt zu »dominieren, restrukturieren und Autorität über sie auszuüben« (Said 1978: 5)6 und zugleich das Selbstwertgefühl der Europäerinnen und Europäer zu stärken. Mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges war die hegemoniale Vormachtstellung Europas in der Welt vorüber. Aber die gewaltige Expansion USamerikanischer Staats- und Handelsunternehmen verlängerten diese Entwicklung als Antwort auf die Interessen des Kalten Krieges und aufgrund der besonderen
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Ich wurde in meiner Forschung von dem Langzeitprojekt der Universität Leipzig inspiriert, in dem ein vergleichender Ansatz zur Geschichte der Regionalwissenschaften, sowohl im Osten als auch im Westen, entwickelt wurde (Marung/Middell/Naumann/ Loschke 2016; Marung/Naumann 2010; Middell/Roura y Aulinas 2013).
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Dass die Ausbreitung der Forschungsprogramme in den Regionalwissenschaften in den USA in den 1950er Jahren nicht nur auf staatliche, sondern auch essenziell auf Unterstützung von Privatstiftungen (z.B. die Ford- und die Carnegie-Stiftung) beruhte erwähnt Manning (2003: 147). Zu einer gleichen Feststellung kommen auch Palat (2000: 69), Middell/Naumann (2010: 156) und Hanke (1967: 44). Siehe auch die Analyse der Lateinamerikastudien in den USA in Loschke (2012) oder Delpar (2008).
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Dies trifft auch auf den Ostblock zu. Siehe zum Beispiel die detaillierte Darstellung der Anfänge der Regionalwissenschaften in der Sowjetunion von Vol’ski. Hier wird insbesondere die Gründung des Lazarevskii Instituts für orientalische Sprachen in der Mitte des 19. Jahrhunderts erwähnt, als erstes von vielen »Zentren, zur komplexen Erforschung der verschiedenen Regionen der Welt« (1967: 85), die nicht nur Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, sondern insbesondere auch den Interessen des Russischen Kaiserreichs dienten.
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Ambitionen Nordamerikas, obwohl die Grenzen der erforschten ›Regionen‹ beziehungsweise ›Räume‹ teilweise neu gezogen wurden (Palat 2000: 68).7 Dieselbe Motivation, sich die Welt durch den wissenschaftlichen Diskurs anzueignen, kann in den ersten ernsthaften Versuchen des Ostblocks bei der Intensivierung der Kontakte mit außereuropäischen Regionen festgestellt werden. Diese wurden im Kontext der Kommunistischen Internationalen (Komintern) konzipiert und gewannen in den 1950er und 1960er Jahren zusammen mit den sich beschleunigenden Prozessen der Dekolonisierung an Bedeutung. Die sowjetische Regierung suchte nach Wegen, politisch und ökonomisch in die dekolonisierten Regionen vorzudringen und machte explizit Gebrauch von den neu geschaffenen ›Regionalwissenschaften‹ (Regional Studies oder Area Studies), wie jene Disziplin meist genannt wurde (Vol’ski 1967). Die Expertinnen und Experten sollten wissenschaftliche und politische Modelle für die neue internationale Situation entwerfen. Die Regionalwissenschaften stellten Informationen zusammen, halfen beim Aufbau der Beziehungen zu den neuen unabhängigen Staaten und der sozialistischen Welt und legitimierten diese. Andererseits waren die Erwartungen in den außereuropäischen Regionen groß, denn nach den Unabhängigkeitserklärungen – und oftmals schon davor – begannen die Intellektuellen jener Regionen, die eigene Vergangenheit zu entdecken und neue Interpretationen vorzustellen, außerhalb dominanter Paradigmen eurozentrischer Weltgeschichte. Die marxistische Ideologie etwa lieferte hierbei einen passenden Rahmen für neue Darstellungen. Zwar nahm in den 1970er und 1980er Jahren die Vormachtstellung der außereuropäischen Wissenschaften in der Sowjetunion ab, doch machte gerade der Verlust der politischen Relevanz die ›Akademisierung‹ der Disziplinen und ihre größere Inspiration aus dem Westen möglich (wie noch gezeigt werden wird). Was die Geschichte der Lateinamerikaforschung in Zentral- und Osteuropa betrifft, gab es einige Präzedenzfälle aus der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg. In Zentral- und Osteuropa finden sich nur spärliche Erwähnungen der Amerikas und ihrer Geschichte seit der Zeit der Entdeckungsfahrten,8 da die Aufmerksamkeit der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler für diese Region bis weit in
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Palat meint dazu weiter: »eine Reihe von Berichten, die von Gelehrtengesellschaften [im westlichen Block] in Auftrag gegeben wurden, befürworteten die Schaffung von multidisziplinären Kooperationen von Forschenden, die sich auf spezifische geokulturelle Regionen spezialisierten, um politischen Entscheidungsträgern nutzvolle Informationen bereitstellen zu können« (ebd.).
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Für eine Zusammenfassung dieser frühen Analysen siehe Opatrný (2005).
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das 20. Jahrhundert kaum vorhanden war. Das lag vor allem daran, dass zumindest bis zum Jahr 1945 die Erforschung der außereuropäischen Regionen an europäischen Universitäten und Akademien gleichgesetzt wurde mit der imperialen Geschichte und die eigene Geschichte der Amerikas, Afrikas und Asiens als Ableger der Geschichte der Kolonialmächte behandelt wurde. Zum einen waren die Überseegebiete für den Rest der ›Alten Welt‹ nicht mehr von Bedeutung – außer für eigenen Mitbürgerinnen und Mitbürger, die ›ihre Spuren‹ in den entlegensten Gebieten der Welt hinterlassen hatten (Kybal 1935; Kalista 1939; Kalista 1941; Mathesius [u.a.] 1940). Zum anderen, und vermutlich mangels eines direkten Kontaktes, gab es ein starkes öffentliches Interesse an exotischen Themen. Dies war eingebettet in die damalige Popularität der Werke von Karl May in ganz Zentral- und Osteuropa9 und der Schriften des tschechischen Amateurethnographen Alberto Vojtěch Frič (Frič 1918; 1921; 1941).10 Die kubanische Revolution von 1959 spielte insofern eine wichtige Rolle in der Entstehung eines verstärkten Interesses für Lateinamerika in den osteuropäischen Ländern, da – in den ironischen Worten von Lewis Hanke – die Öffentlichkeit im Westen und Osten »Lateinamerika wiederentdeckten«11 und auf lange Zeit gesehen die Erforschung der lateinamerikanischen Geschichte legitimierte. Historikerinnen und Historiker begannen in der Geschichte des Kontinents nach den Wurzeln der sozialen und ökonomischen Probleme zu suchen und erkannten die Chance einer ökonomischen Einflussnahme. Während die politische Relevanz Finanzierungsmöglichkeiten eröffnete, was zur Gründung neuer Institute für unterschiedliche Forschungsfragen führte, begrüßten nicht alle Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der Lateinamerikastudien diesen plötzlichen Anstieg des Interesses. Hanke unterstrich selbst, dass die Forschung und Lehre der Geschichte Lateinamerikas nicht darauf abzielte, »politisches Handeln oder [die, M.K.] Wirtschaftspolitik der Vereinigten Staaten in Lateinamerika zu verteidigen, [und, M.K.] nicht einmal gegen den Kommunismus zu kämpfen! [Ebenso wenig darauf, M.K.] die ›kulturellen und institutionellen Imperative der Vergangenheit festzulegen, die den zeitgenössische Prozess‹ mitbestimmen, wie dies ein Historiker […] beschrieben hat« (Hanke 1967: 58). Die Geschichte La-
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Die tschechische Erstedition von Winnetou erschien bereits 1901.
10 Siehe auch das als Reisebericht verfasste ethnographische Werk von Frič (1943). 11 Hanke (1967: 44). »Lateinamerika ist eine extreme interessante Region, weil sie heute entscheidenden revolutionären Veränderungen unterworfen ist« (Polišenský u.a. 1979: 5). Zu den Tätigkeiten sowjetischer Historikerinnen und Historiker hinsichtlich Lateinamerikas vor 1959 siehe Okinshevich/Gokokhof (1959), Lavretskii (1960), Ortega y Medina (1961).
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teinamerikas solle stattdessen »als Thematik anerkannt werden, die es als signifikanter Teil der Weltgeschichte Wert war, erforscht zu werden, die das Licht auf eine andere Kultur als die Unsere wirft« (ebd.). Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler wie auch Studierende ergriffen jedoch auf beiden Seiten des ›Eisernen Vorhangs‹ meist die sich gebotenen Möglichkeiten und folgten in ihrer Forschung den vorgegebenen Linien der vorherrschenden Ideologien. Was die Forschung im Ostblock betraf, waren zentrale Themen die Dependenztheorie und die Theorie der Unterentwicklung, die im Kontext der Enttäuschung der postkolonialen Zeit entstanden waren und im Osten dazu dienten, Zweifel an der Modernisierungsrhetorik des Westens zu üben.12 Außerdem gab es Bemühungen, die lateinamerikanische Geschichte vollständig in die Weltgeschichte zu integrieren, anstatt sie als bloßes ›Anhängsel‹ der westlichen Zivilisation zu beschreiben. In Leipzig beispielsweise widmete sich eine Gruppe ostdeutscher Historikerinnen und Historiker um Manfred Kossok in den 1950er und 1960er Jahren der Erforschung der Unabhängigkeitskriege Lateinamerikas, die sie als organischen Teil des »Zeitalters der demokratischen Revolutionen« (Palmer 1959/1964) in der atlantischen Region beschrieben.13 Generell konnte jedes Thema der Geschichte der Amerikas als Testfeld für den historischen Materialismus herangezogen werden.14 In der Praxis jedoch wurde meist die einfache
12 Der argentinische Ökonom Raúl Prebisch formulierte 1947 die Dependenztheorie, die besonders in den 1960er Jahren Anerkennung fand (Cardoso/Faletto 1968; Frank 1967). Auch polnische Lateinamerikanistinnen und Lateinamerikanisten brachten sich in die Debatte ein (Kula 1972). Kula kritisierte heftig die Thesen von Frank. Dasselbe Thema war Gegenstand einer Debatte im Rahmen der Eröffnungssitzung der Arbeitsgruppe für Lateinamerika am Institut für Geschichte der Tschechoslowakischen Akademie der Wissenschaften (Baďura 1963). 13 Palmer schloss die lateinamerikanischen Revolutionen nicht in seine Analyse mit ein. Siehe außerdem Kossok/Markov (1955-1956); Kossok (1957-1958; 1969). 14 Aussagekräftig ist in dieser Hinsicht das Resümee des Direktors des Lateinamerikainstituts der Sowjetischen Akademie der Wissenschaften zum Stand der Forschung: »Die Forschungen von sowjetischen Lateinamerikanisten über die großen sozialökonomischen und politischen Prozesse in Lateinamerika haben uns zu dem Schluss gebracht, dass die Entwicklung der lateinamerikanischen Länder unter den gleichen Rahmenbedingungen wie die historischen Entwicklungen der ganzen Menschheit stattfindet und dass die Gesetze der sozioökonomischen Entwicklung, die von der marxistisch-leninistischen Wissenschaft entdeckt wurden, in Lateinamerika mit der gleichen Kraft wie in anderen Teilen der Welt funktionieren« (Vol’ski 1967: 83).
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Erzähltechnik angewendet, anstatt einer komplexeren Methodik. Interessanterweise mussten sich die osteuropäischen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aufgrund des Mangels an Forschungsmöglichkeiten im Ausland oft auf Sekundärquellen (Monographien und wissenschaftliche Fachzeitschriften) verlassen, die sie aus dem Westen erhielten, wenn auch meist nach dem Zufallsprinzip. In ihren Arbeiten erschienen somit auch die von den westlichen Forscherinnen und Forschern konzipierten Ideen (Mörner 1973: 78). Ein typisches Thema der osteuropäischen Lateinamerikanistinnen und Lateinamerikanisten war die auf den ersten Blick nur am Rande interessante Debatte über die Zweckmäßigkeit der Methoden des spanischen Kolonialismus. In den 1950er und 1960er Jahren reflektierten und kommentierten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler im Ostblock immer wieder die ›Schwarze Legende‹ (leyenda negra), die den spanischen Eroberern die vorsätzliche Vernichtung der Indigenen Lateinamerikas vorwarf. Die Forscherinnen und Forscher, die dieser Deutung folgten, beriefen sich vor allem auf den spanischen Dominikanermönch Bartolomé de Las Casas,15 dessen Schriften seit dem 16. Jahrhundert in den protestantischen Ländern, die mit Spanien um die Reichtümer der Neuen Welt konkurrierten, übersetzt und veröffentlicht wurden. Auf der anderen Seite hatte sich die spanische Historiographie lange Zeit bemüht, die Schwarze Legende zu widerlegen und die Eroberungen der Spanier zu rechtfertigen, basierend auf dem besonderen spanischen Nationalcharakter.16 Da die sowjetische Geschichts-
15 Westeuropäische Historikerinnen und Historiker interessierten sich lange nicht für Bartolomé de Las Casas. Einzig Marcel Bataillon publizierte 1951 eine erste Serie, die dem ›Verteidiger der Indianer‹ gewidmet war (Bataillon 1965). Der US-amerikanische Forscher Lewis Hanke wies auf die entscheidende Bedeutung der Debatten über die Rechte der Indigenen und der nachfolgenden intellektuellen Entwicklung Europas hin: Hanke (1949) und Hanke (1959). Der Begriff ›Rassenvorurteile‹ ist im Hinblick auf heutige Wissenschaftsstandards sehr problematisch. 16 Der Begriff ›Schwarze Legende‹ tauchte in der spanischen Historiographie zu Beginn des 20. Jahrhunderts auf (Juderías y Loyot 1914). Die ›Schwarze Legende‹ wurde folgendermaßen beschrieben: »Die Atmosphäre, die durch die fantastischen Geschichten über unser Land geschaffen wurde, [...] die groteske Beschreibung, die stets dem Charakter der Spanier als Individuum und Kollektiv zugeschrieben wurde, die Verweigerung oder zumindest die systematische Unkenntnis alles Positivem und Ehrbarem über uns [und] in den verschiedenen Erscheinungsformen unserer Kultur und Kunst. Mit einem Wort meinen wir mit der Schwarzen Legende, die Legende von Spanien, die unwissend, fanatisch, unfähig unter den zivilisierten Völkern von heute wie gestern dazuzugehören und immer zur gewaltsamen Unterdrückung geneigt, ein Feind des
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schreibung sich auf jene Figuren der Vergangenheit konzentrierte, die gegen soziale Ungerechtigkeit, die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen, Raubzüge und Kolonialismus kämpften, stellte Bartolomé de Las Casas ein attraktives Forschungsobjekt dar. Bereits im Jahr 1954 wurde die tschechische Übersetzung des bekanntesten Pamphlets von Las Casas (Kurzgefaßter Bericht von der Verwüstung der Westindischen Länder)17 publiziert. In seiner Einleitung verortete Josef Plojhar Las Casas unzweideutig in den zeitgenössischen politischen Kontroversen des Kalten Krieges: »Die Imperialisten dieser Tage unterscheiden sich von den mittelalterlichen [sic] Eroberern durch ihre Techniken und Methoden, jedoch nicht in ihren Zielen oder ihrer Moral. Ihr Ziel ist es, in den Besitz der Reichtümer des Landes zu kommen, die Menschen zu unterwerfen und ihre Arbeitskraft auszunutzen. [...] Las Casas, der große Christ und Humanist des 16. Jahrhunderts, [...] akzeptierte voll und ganz das Recht der angegriffenen und unterworfenen Nationen, sich ihren Eroberern zu widersetzen.« (Plojhar 1954: 11)18
Im Jahr 1966 feierte die Sowjetische Akademie der Wissenschaften den 400. Todestag von Las Casas mit einem Sammelband seiner Texte, der von sowjetischen Historikerinnen und Historikern sowie Ethnologinnen und Ethnologen herausgegeben wurde.19 Freilich war die sowjetische Interpretation der ›Schwarzen Legende‹ nicht direkt gegen die Meistererzählung der westlichen Geschichtsschreibung Lateinamerikas gerichtet. Denn auch in Westeuropa wurden nach dem Zweiten Weltkrieg die Ideen von Las Casas durch revisionistische historiographische Darstellungen wiederbelebt und das Bild der siegreichen europäischen Zivilisation problematisiert, die angeblich das Licht des Evangeliums sowie die Vernunft zu den barbarischen nicht-europäischen Gesellschaften ge-
Fortschritts und der Innovation« (Cowans 2003: 111). Aus der neueren Literatur zu diesem Thema siehe Gibson (1971) und Cárcel (1992). 17 Die Brevisima relación de la destrucción de las Indias occidentales wurde 1552 erstmals publiziert. In deutscher Sprache ist sie in mehreren Ausgaben erhältlich. 18 Zwei Jahre später erschien die polnische Version dieses Textes (Zywczyński 1956). 19 Die offizielle sowjetische Sicht wird am besten in der Monographie von Grigulevich sichtbar (1966: 16). Darin heißt es: »Die Kommunisten betrachteten sich als die ideologischen Erben von all jenen Figuren der Vergangenheit, die gegen soziale Ungerechtigkeit, die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen, Raubzüge und Kolonialismus gekämpft hatten. Bartolomé de las Casas war so ein Mann« (zit. nach Keen 1971: 55). Eine marxistische Interpretation von Las Casas findet sich auch bei Afanasiev (1971).
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bracht hätten. Dennoch kann dies als gutes Beispiel für die Bemühungen der sowjetischen Wissenschaften genannt werden, mit der westlichen Ideologie zu konkurrieren. Charakteristisch dafür ist etwa die Negation der theologischen Dimension von Las Casas Werk. Trotz der steigenden Anzahl verschiedener Studien zur Geschichte und Kultur Lateinamerikas, im Westen wie auch im Osten, blieb die ›Neue Welt‹ im Allgemeinen ein relativ randständiges und exotisches Thema. Dies verstärkte paradoxerweise den Boom der lateinamerikanischen Literatur in den 1960er Jahren in Europa, da die lateinamerikanischen Autorinnen und Autoren dafür gelobt wurden, ›anders‹ und ›exotisch‹ zu sein, sowie für ihre Fähigkeit, die ›Magie‹ der Natur ihres Kontinents darstellen zu können. Dank dieser Tatsache konnten insbesondere in Osteuropa die Lateinamerikastudien zusammen mit anderen ›exotischen‹ Disziplinen wie der Orientalistik oder der Afrikanistik als eine Art ›geistiges Asyl‹ für Forscherinnen und Forscher dienen, die aus verschiedenen Gründen in anderen Bereichen keinen Platz fanden.20 In diese Zeit fällt auch die Gründung des Zentrums für Iberoamerikanische Studien in Prag. Im Jahr 1971 verlor Josef Polišenský, ein prominenter Vertreter der Nachkriegsgeneration tschechoslowakischer Historikerinnen und Historiker,21 seinen Lehrstuhl am Institut für Allgemeine Geschichte. »Als ein Schiffbrüchiger auf einer Eisscholle habe ich mich durch das Zentrum für Iberoamerikanische Studien selbst gerettet« (Polišenský 2001: 143-144), wie Polišenský in seinen Erinnerungen festhielt, die erst nach seinem Tod ohne seine definitive Zustimmung erschienen. Doch die osteuropäischen Historikerinnen und Historiker, die ihre Aufmerksamkeit nun auf Lateinamerika richteten, standen vor einem ernstem Problem: das der Quellen oder besser gesagt dem Mangel an Quellen. Sie hatten fast keinen direkten Zugang zu lateinamerikanischen Archiven und Literatur, mit Ausnahme von Kuba und später Chile, wo auch Sekundärliteratur über die Geschichte der anderen Länder verfügbar war. Aber auch in Kuba waren die Primärquellen des 20. Jahrhunderts für ausländische Forscherinnen und Forscher unzugänglich, was den Umfang der Forschungsthemen erheblich begrenzte. Das Hauptthema der osteuropäischen Lateinamerikastudien wurde somit die Erforschung der Emigration aus der eigenen Region nach Lateinamerika (Anderle 2006: 272-
20 Interessant ist, dass in Westeuropa während der 1960er Jahre viele Absolventinnen und Absolventen der Geisteswissenschaften gezwungen waren, auf weniger gewünschten Forschungsfelder umzusteigen, unter ihnen auch auf die Lateinamerikastudien. Dass diese und die Region Lateinamerika auch in der westlichen Forschung als marginal betrachtet wurden, bestätigte etwa Van Young (1985). 21 Für einen Überblick über seine Laufbahn siehe Baďura (2001) und Evans (2002).
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273). Forscherinnen und Forscher aus allen Ländern konnten sich hierbei auf Quellen stützen, die in den Nationalarchiven ihrer Länder zu finden waren. Hierbei manifestierten sich interessante Überschneidungen mit den progressiven Strömungen der westlichen Historiographie, da die Migrationsforschung ein wichtiger Teil der ›Atlantischen Geschichte‹ wurde (Wesseling 1991: 79; Bailyn 2005: 32). Wie in anderen osteuropäischen Ländern war die kubanische Revolution auch in der Tschechoslowakei entscheidend, da sie ein verstärktes Interesse an der Region auslöste, die bis zu jenem Zeitpunkt unter dem ›Schutz‹ der USA und Großbritanniens stand. Erst nach 1959 erschienen in der tschechoslowakischen Geschichtszeitschrift Historica Texte und Buchbesprechungen zu den verschiedenen Aspekten der lateinamerikanischen Geschichte (Baďura 1964; Polišenský 1963b, 1963c und 1965). Es gab auch ein wachsendes Interesse an der lateinamerikanischen Kultur und Literatur in den Abteilungen der Romanistik in Prag und Olomouc sowie in der Abteilung für Moderne Sprachwissenschaft der Tschechischen Akademie der Wissenschaften. In gewisser Weise sollte bis zu den 1980er Jahren eher von ›tschechischen‹ als von ›tschechoslowakischen‹ Lateinamerikastudien gesprochen werden, da die lateinamerikanische Geschichte und Kultur an slowakischen Universitäten fast vollständig vernachlässigt wurden (Opatrný 2002). Der entscheidende Schritt in Richtung der Herausbildung der Lateinamerikastudien als eine eigenständige Disziplin wurde aber Mitte der 1960er Jahre durch den bereits erwähnten Josef Polišenský getan. Schon vor seinem Engagement in der lateinamerikanischen Geschichte war Polišenský als Verfechter des holistischen Ansatzes in der historischen Forschung bekannt. Er stellte stets die nationale Vergangenheit der Tschechoslowakei in den europäischen Kontext und suchte nach »Parallelen und Divergenzen« (1991: 7). Diesen Ansatz verwendete er bereits in seinen frühen Schriften wie Anglie a Bílá hora (England und der Weiße Berg) oder Nizozemská politika a Bílá hora (Niederländische Politik und der Weiße Berg) (Polišenský 1949; 1958). Beide Texte hatten zum Ziel, den breiteren Kontext des Aufstandes der böhmischen Stände von 1618 bis 1620 aus einer marxistischen Perspektive heraus zu erklären und den Dreißigjährigen Krieg als Konflikt darzustellen, der in den Spannungen der komplexen wirtschaftlichen und sozialen Lage Europas verwurzelt war, das an der Schwelle zur Modernisierung stand.22
22 Im Jahr 1991 kam Polišenský zu dem Schluss, dass der Dreißigjährige Krieg ein » in der Vergangenheit verwurzelter militärisch-politischer Konflikt war, in dem zwei Modelle der europäischen Zivilisation aufeinander trafen: jene Länder, in denen die Entwicklung hin zu einem modernen kapitalistischen Gesellschaft zum Stillstand ge-
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In seiner unermüdlichen Suche nach Zusammenhängen wurde Polišenský in Richtung der ›Allgemeinen Geschichte‹ getragen, die über die Grenzen nationaler Territorien hinausreichte. Allerdings wurde die Allgemeine Geschichte an den tschechischen Universitäten marginalisiert, nicht nur aufgrund der ›patriotischen Pflicht‹ der Historikerinnen und Historiker, welche die Geschichte ihrer Nation erforschen sollten, sondern auch wegen des bereits erwähnten Mangels an Archivquellen. Die Lösung, die Polišenský vorschlug, lautete, in nationalen Archiven Quellen zur Geschichte anderer Länder und Völker zu suchen. Diese sollten dann wiederum Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus anderen Ländern durch Editionen und Übersetzungen zugänglich gemacht werden, um ihnen die »Leerstellen« (1991: 8) in der Geschichte ihres Landes zu erklären. Allerdings gab es nur eine begrenzte Anzahl von Verbindungen zu Thematiken der tschechischen Geschichte. Außerdem bestimmten die zugänglichen Quellen meist die Auswahl des Forschungsthemas der Historikerinnen und Historiker und nicht umgekehrt. Hier bot sich die lateinamerikanische Geschichte als willkommene Lösung an. Bereits um das Jahr 1962 herum schlug Polišenský die Einrichtung eines separaten Instituts für Lateinamerikanische Geschichte an der Karls-Universität Prag vor. Zu dieser Zeit existierte bereits in Moskau ein ähnliches Institut, das im Rahmen der Akademie der Wissenschaften im Jahr 1961 gegründet worden war. Dies war eine direkte Reaktion auf die Entwicklungen in Kuba und das Ziel war es, auf »das wachsende Interesse des sowjetischen Volkes an Lateinamerikas reichem historischem Hintergrund, seiner Kultur und den derzeitigen Problemen dieses Teils der Welt« (Vo’lski 1967: 77) zu reagieren. Victor Vo’lski, der Direktor jenes Instituts, verkündete im Jahr 1967 stolz, dass »die wirtschaftlichen und politischen Beziehungen der Sowjetunion zu den Länder Lateinamerikas auf dem Vormarsch« (ebd.) seien. Bezugnehmend auf diesen wichtigen Präzedenzfall gelang es Polišenský, seine Bemühungen fortzusetzen (Polišenský 2001: 237). Unter dem Einfluss von Herbert Eugene Boltons Konzept eines ›Groß-Amerika‹, das der anglozentrischen Geschichte der Vereinigten Staaten eine spanische Dimension hinzufügte, hatte Polišenský ursprünglich ein Institut für die Erforschung der Geschichte und Kultur des gesamten Kontinents im Sinn.23 Er behauptete wiederholt, dass »die marxistische Geschichtsschreibung
bracht und solchen, in denen diese Entwicklung ermöglicht worden war« (1991: 8). Zur Beurteilung dieses spezifischen Ansatzes siehe auch Evans (2002: 272). 23 Bolton (1933). Diese These konnte jedoch nicht überzeugen. Zu den Reaktionen siehe Hanke (1964). Allerdings war Polišenský ein ausgesprochener Bewunderer von Bol-
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keine ›chinesischen Mauern‹ kenne, welche die Geschichten der Kontinente, Regionen, Nationen und Länder trenne, sondern nur allgemeine und spezifische Problemstellungen« (Polišenský [u.a.] 1979: 6). Am Ende musste er jedoch die Einschränkungen der Tätigkeitsfelder der tschechischen Lateinamerikanistinnen und Lateinamerikanisten im südlichen Teil des Doppelkontinents akzeptieren. Im Handbuch der Geschichte Lateinamerikas, das in den 1970er Jahren unter der Leitung von Polišenský veröffentlicht wurde, erschien als positives Vorbild die Vision des kubanischen Dichters José Martí, »der zu Recht den Unterschied zwischen ›unserem‹ Lateinamerika und dem ›anderen‹, angelsächsischen Amerika, betonte« (ebd.).24 Anhand dieser Leitlinie war es im Jahr 1967 nun möglich, das Zentrum für Iberoamerikanische Studien als Teil des Instituts für Weltgeschichte an der Philosophischen Fakultät der Karls-Universität-Prag zu gründen, welches das erste auf Lateinamerikastudien spezialisierte Institut in Osteuropa außerhalb Moskaus darstellte. Dies war auch aufgrund des sich vermindernden ideologischen Drucks in den späten 1960er Jahren möglich. Das Zentrum hatte zwei Direktoren: den bereits genannten Polišenský sowie den Literaturhistoriker und Übersetzer Oldřich Bělič (Housková 2002: 9-11). Die Doppelführung spiegelte auch die Ausrichtung des Zentrums wieder. Trotz der Zugehörigkeit zur historischen Fakultät war es interdisziplinär konzipiert und bot Platz für Forschungen über Literatur, Kultur und Linguistik. Dies zeigt sich auch im Jahrbuch Ibero-Americana Pragensia, welche die erste im Ostblock publizierte spanischsprachige Fachzeitschrift war und deren erste Ausgabe im Jahr der Gründung des Institutes erschien. Da der Schwerpunkt der tschechoslowakischen Lateinamerikastudien auf Literatur und Kultur lag, unterschied sie sich von der westlichen Tradition der Regionalstudien, in denen Politik, Wirtschaft und Soziologie prominente Rollen einnahmen und erst später die Geisteswissenschaften in ihre Programme aufnahmen (Manning 2003:146).
ton und zitierte ihn bei vielen Gelegenheiten, wie etwa in der Einleitung eines Handbuches zu Lateinamerika (Polišenský [u.a.] 1979: 5-6). 24 In Polišenskýs Geschichte über Kuba erklärte er: »Für den großen kubanischen Denker, Schriftsteller und Politiker war Lateinamerika ›unser‹ Amerika, ausgebeutet und unterdrückt. Dagegen stellte er das ›andere Amerika‹, das Amerika der nordamerikanischen Yankees« (1964: 16). Tatsächlich wurde der Begriff ›anderes Amerika‹ zur selben Zeit auch in der westeuropäischen Historiographie benutzt, jedoch um – genau auf umgekehrte Weise – Lateinamerika zu benennen (vgl. González Casanova 1949: 66-67).
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Das Jahrbuch nahm in den folgenden Jahren eine wichtige Rolle im Konstituierungsprozess der osteuropäischen Lateinamerikastudien ein, da die eigenen Forschungsresultate ausländischen Kolleginnen und Kollegen vorgelegt werden konnten. Polišenský erinnerte sich, dass »diese Zeitschrift uns zu einem hohen Grad gegen den Auflösungsdruck des Zentrums gerettet hat. Zu diesem Zeitpunkt hatten nicht einmal die Sowjets angeordnet, eine fremdsprachige Zeitschrift zu verbieten, um so ihre Texte bei uns zu veröffentlichen« (2001: 241). Außerdem diente die Zeitschrift als Sprachrohr für Lateinamerikanistinnen und Lateinamerikanisten ›zwischen den Blöcken‹, da einerseits Rezensionen und Konferenzberichte veröffentlicht wurden und damit die Präsentation von Forschungsergebnissen aus Osteuropa gegenüber der Weltöffentlichkeit ermöglicht wurde. Andererseits konnte auf Theorien und wichtige Werke aus dem Westen hingewiesen werden. Der Austausch mit anderen Publikationen half des Weiteren beim Aufbau der Bibliothek des Zentrums. Da das Erscheinen einer Zeitschrift von solcher Qualität nicht ohne die ständige Hilfe der Linguistinnen und Linguisten und der Literaturhistorikerinnen und Literaturhistoriker möglich gewesen wäre, führten die tschechoslowakischen Lateinamerikastudien ihre Kooperationen mit den Geschichts- und Sprachwissenschaften weiter. Auch die Wahl des Namens des Zentrums war symptomatisch: Der Begriff ›Lateinamerika‹ entstand während des 19. Jahrhunderts als Variante des Konzepts ›Iberoamerika‹. Er betonte die sprachliche und kulturelle Nähe sowie die Einheit der ›lateinischen‹ Völker, für die Frankreich die inspirative Führungskraft und Verteidiger gegen den angelsächsischen (nordamerikanischen) Einfluss darstellte. Letztlich war es auch eine Frage der Herrschaft sowie der Anspruch auf ihr Recht eines Anteils am Reichtum der Amerikas. Die Idee der ›race latine‹ (anders als der angelsächsische Begriff ›race‹) wurde als erstes von Michel Chevalier im Jahr 1836 konzipiert und trat während der mexikanischen Kampagne von Maximilian von Habsburg und Napoleon III in den Vordergrund (Phelan 1968). Nach dem Zweiten Weltkrieg betrachteten viele Intellektuelle aus der Region den Begriff Lateinamerika als einen von außen aufgezwungenen, in dem sich der europäische Expansionismus manifestiere. Zum Zeitpunkt der Gründung des Zentrums war der Begriff Lateinamerika bereits tief in der tschechischen Sprache verwurzelt, aber sowohl das Zentrum selbst als auch die neue Disziplin verwendeten die Bezeichnung ›Iberoamerikanische Studien‹. Das Hauptziel des Zentrums war die »systematische Erhebung und Inventarisierung der Quellen zur Geschichte und Kultur der Iberoamerikanischen Staaten in den Archiven, Bibliotheken, Galerien und Museen der Tschechoslowakei und
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den Nachbarländern« (Polišenský/Vrhel 1969: 279).25 Das eigentliche Ziel war jedoch nicht die Erforschung der lateinamerikanischen Geschichte, sondern die Erweiterung der Erkenntnisse der europäischen (und konkret der tschechischen) Geschichte, um Veränderungen festzustellen, die durch unterschiedliche Umstände verursacht wurden, unter anderem durch den Kontakt mit der Neuen Welt. Die Mitglieder des Zentrums setzten auch ihre Suche nach ›Spuren‹ tschechischer und slowakischer ›Landsleute‹ in den lateinamerikanischen Ländern fort, wobei die Spanne sich von jesuitischen Missionaren über Glashändler bis zu dem im 18. Jahrhundert tätigen Naturforscher Thaddeus Haenke bewegte (Baďura 1964; Polišenský 1963a und 1969; Odložilík 1968). Auch wenn dieser Ansatz die tschechischen Archive bei ausländischen Lateinamerikanistinnen und Lateinamerikanisten bekannt gemacht hatte (etwa: Barnadas 1970), war der Schwachpunkt der Forschung immer der gleiche: die Quellen bestimmten die Wahl der Forschungsthemen, da sie meist eher willkürlich und zufällig erhalten geblieben waren. Trotz dieser Probleme blieb Polišenský von der Zweckmäßigkeit des ›Blicks von außen‹ (d.h. von Prag) auf die wesentlichen Probleme der Weltgeschichte überzeugt. Er befürwortete den Ansatz der Makroanalyse, die auf den Ergebnissen der lateinamerikanischen, nordamerikanischen, europäischen und sowjetischen Historiographie basierte, kombiniert mit Mikroanalysen von Quellen in tschechoslowakischen Archiven und Bibliotheken. Wie er während einer Konferenz erwähnte, die dem globalen Wettkampf der Pazifikküste von Nordamerika im 18. und 19. Jahrhundert gewidmet war, sollten die Ergebnisse solcher Analysen berücksichtigt werden, »auch wenn die verfügbaren Quellen uns nicht erlauben, die wichtigsten Fragen zu lösen. Aber wir können sicherlich einige traditionelle Meinungen richtigstellen, unter anderem den Begriff der ›Einzigartigkeit‹ der Geschichte der USA, die nie existierte, wie die Geschichte des Wettkampfes um die Pazifikküste deutlich zeigt« (Polišenský 1976: 262-265).26 Mit diesem
25 Siehe auch Polišenský (1967: 175-178). 26 In einem anderen Text meinte Polišenský, dass es » möglich ist, in den tschechischen Archiven so unterschiedliche Problematiken zu studieren wie die Geschichte des Bauernkrieges in Deutschland, die Bauernaufstände des 16. und 17. Jahrhunderts in Österreich, die Handelsgeschäfte der Fugger, die Türkenkriege, den Aufstand von Masaniello in Neapel und die komplizierten Episoden der Geschichte der Niederlande. Es wäre absolut falsch, anzunehmen, dass die Quellen der Weltgeschichte, die in tschechoslowakischen Archiven aufbewahrt werden, autark sind. Im Gegenteil, die Ergebnisse zukünftiger Forschungen werden nur dann zufriedenstellend sein, wenn das Ma-
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Ansatz war es auch möglich, den Zugang der Forscherinnen und Forscher und des ›anderen Europa‹ in das Forschungsfeld der lateinamerikanischen Geschichte zu legitimieren und auf eine breitere Basis zu stellen, als auf die zu kurz gedachten Ziele der Politik. Das Zentrum für Iberoamerikanische Studien existierte im Rahmen des Instituts für Allgemeine Geschichte bis zum Jahr 1971. Von diesem Zeitpunkt an war es bis 1990 in das Institut für Ethnologie und Folklorestudien der KarlsUniversität eingegliedert. Die ganze Zeit über diente es nur als ein Zentrum zur Koordination von Forschung, nicht als Lehrinstitution. Dennoch blieb es im Ostblock einzigartig. Ähnliche Rollen wie jene Polišenskýs, jene des einsamen Vertreters des exotischen Bereiches der Lateinamerikastudien, kamen in den 1960er und 1970er Jahren in Ungarn Tibor Wittman (Inotai 2002; Wittman 1975; Wittman 1979) und in Polen Tadeus Lepkowski zu (Patula 1991; Lepkowski 1964/1968; Lepkowski 1970). Hier dauerte es aber deutlich länger, spezialisierte Institute aufzubauen und sich ausschließlich auf die Region Lateinamerika zu konzentrieren.27 Dies war auch in vielen westlichen Ländern zu dieser Zeit der Fall. Josef Polišenský fungierte bis 1981 als Direktor und gab dann die Leitung an den bis heute tätigen Direktor Josef Opatrný ab (Polišenský 1981). In den 1970er Jahren wurde die Lateinamerikaforschung am OrientalistikInstitut der Tschechoslowakischen Akademie der Wissenschaften angesiedelt. Trotz seiner institutionellen Zugehörigkeit folgte es nicht der linguistischhistorischen Tradition der Orientalistik, sondern konzentrierte sich auf Zeitgeschichte und politisches Geschehen. Unter den untersuchten Thematiken fanden sich etwa die kubanische Revolution, der Sandinismus in Nicaragua oder die Arbeiterbewegung in Lateinamerika. Die Forscherinnen und Forscher des Instituts publizierten jedoch vor allem auf Tschechisch, sodass ihr Kontakt mit ausländischen Kolleginnen und Kollegen stark eingeschränkt war. Mit dem Schwerpunkt auf zeitgenössischen Themen gingen auch die Anforderungen der strengen marxistischen Methodologie einher, die den Forscherinnen und Forschern nicht viele Freiheiten ließen. Was die Etablierung lateinamerikanischer Themen in der Öffentlichkeit betrifft, spielten die Ethnologinnen und Ethnologen des NáprstekMuseums für Asiatische, Afrikanische und Amerikanische Kulturen eine wichti-
terial zusammen mit Dokumenten aus dem Ausland untersucht wird« (Polišenský 1959: 272). 27 Magnus Mörner beschwerte sich, dass es in Schweden in den 1970er Jahren noch immer keinen Lehrstuhl für lateinamerikanische Geschichte oder Lateinamerikastudien an einer Universität gab (Mörner 1973: 79).
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ge Rolle und das trotz der bescheidenen Größe und Ressourcen des Museums. Dies wurde unter anderem durch Dauerausstellung (ab 1965) und gelegentliche Ausstellungen erreicht (die erste wurde bereits 1963 in Zusammenarbeit mit dem Museum für Völkerkunde in Dresden organisiert) und der Name des langjährigen Mitarbeiters und Direktors des Museums (1970-1979), Václav Šolc, sollte in diesem Zusammenhang auch erwähnt werden.28 Allerdings erfolgte die Darstellung der amerikanischen Ethnographie und Geschichte immer im Einklang mit dem Bedürfnis nach dem Exotischen, dem Seltsamen und dem Anderen. Im Vergleich zu diesen beiden in der Tschechoslowakei bestehenden Instituten mit einer (begrenzten) thematischen Ausrichtung auf Lateinamerika, die Gegenstücke in anderen osteuropäischen Staaten hatten, wird der spezielle Charakter des Zentrums für Iberoamerikanische Studien noch offensichtlicher. Die Ergebnisse waren sicherlich vom herrschenden Diskurs der sowjetischen Sozialwissenschaften beeinflusst und bestimmte Themen wurden von außen aufgezwungen. Allerdings wurde diese Dominanz weder passiv akzeptiert, noch folgte man den westlichen Modellen. Im Gegenteil, es gab stets ein bewusstes Bemühen für eine aktive Suche nach einer eigenen Vorgehensweise.
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28 Unter den vielen von Šolc publizierten Werken ist das Handbuch zu erwähnen, welches er zusammen mit Pavel Hořejší herausgab (Šolc/Hořejší 1968). Siehe auch Šolc (1966; 1969; 1974). Der junge Anthropologe und Museumsmitarbeiter Milan Stuchlík verbrachte mehrere Jahre (1968-74) in Chile (Stuchlík 1976). Zur Geschichte von Stuchlíks Aufenthalt in Chile und zu den Gründen seiner Entscheidung, nicht nach Prag zurückzukehren, siehe die Memoiren seiner Frau (Stuchlíková 1997).
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Historische Grundlagen der tschechoslowakisch-lateinamerikanischen Beziehungen zwischen 1945 und 1989 J OSEF O PATRNÝ
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1
Opatrný (2000; 2003; 2005; 2006).
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Die Ausrufung der Tschechoslowakischen Republik im Jahr 1918 hatte die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zu Argentinien, Brasilien, Kuba und Mexiko (im Jahr 1919) zur Folge. Im darauffolgenden Jahrzehnt folgten weitere. Die diplomatischen Kontakte in den 1920er und 1930er Jahren waren jedoch nur ein Teil der Beziehungen zwischen Prag und den Hauptstädten Lateinamerikas. Vielleicht noch wichtiger waren in diesen Jahrzehnten die Wirtschaftsbeziehungen zwischen den lateinamerikanischen Ländern und der Tschechoslowakei. Die Exporteure folgten ihrer traditionellen Linie und verkauften in Lateinamerika Industrieprodukte aus der Tschechoslowakei, die – historisch betrachtet – eines der Industriezentren der österreichisch-ungarischen Monarchie war und vor dem Ersten Weltkrieg mehr als ein Drittel aller Industrieprodukte der Monarchie produziert hatte. Dies erstreckte sich von der Bewaffnung der österreichischungarischen Armee, der Ausrüstung der Textil- und Lederfabriken bis hin zur Herstellung von Glas, Keramik, Eisenbahnschienen und Maschinen für die Landwirtschaft. Die tschechische Industrie profitierte in dieser Zeit nicht nur von ihren Rohstoffvorkommen und von qualifizierten Arbeitskräften, sondern auch von der Tatsache, dass der Verkauf der Produkte innerhalb der Monarchie nicht durch Handelsschranken behindert wurde und es sehr wenig Wettbewerb gab. Diese Situation änderte sich grundlegend mit dem Zerfall der Monarchie im Jahr 1918 und der Gründung der souveränen Staaten. Ungarn, Polen, Jugoslawien und Österreich schützten ihre Industrie durch Zollgesetze und die Tschechoslowakei musste mit den Produkten anderer Industriemächte konkurrieren. Vor allem die Waffenfabrikanten und die Maschinenhersteller (für die Landwirtschaft, Brauereien, Zucker- und Alkoholfabriken), die zuvor die kaiserlichen Truppen und viele Bereiche der Landwirtschaft des Reiches beliefert hatten, waren auf der Suche nach neuen Absatzmärkten. Die tschechoslowakischen Exporte nach Lateinamerika in den 1920er Jahren beschränkten sich nicht nur auf Ausrüstungsgegenstände für Zuckerfabriken und Brauereien sowie auf Rohstoffexporte zur Bierherstellung. Das Interesse am lateinamerikanischen Markt wurde von drei tschechischen Fabriken in die Hand genommen, die hochwertige und gleichzeitig robuste landwirtschaftliche Maschinen herstellten (Novotný/Šouša 1989; 1990). Lateinamerika importierte in diesen Jahrzehnten Produkte der tschechoslowakischen Textil- und Metallindustrie sowie Glas, Keramik und Papier. Die Tschechoslowakei war außerdem einer der größten zentraleuropäischen Absatzmärkte für lateinamerikanische Waren. Lateinamerika deckte fast 100% der tschechoslowakischen Importe von Quebracho (Holz des Quebrachobaums) und Leinsamen ab, welche für die Leder- und Chemieindustrie unerlässlich waren. Weitere wichtige Produkte waren Kaffee, Baumwolle, Leder und Wolle (Novotný/Šouša 1997).
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Mitte der 1930er Jahre erwog Škoda, eines der größten tschechoslowakischen Unternehmen, eine Niederlassung in Buenos Aires zu gründen, da man bereits verschiedene Produkte (Metallwaren, Lokomotiven, Motoren, etc.) in die Amerikas verkaufte. Im Jahr 1936 wurde die Industrie- und Handels-AG Škoda La Plata Buenos Aires (Sociedad Anónima Industrial y Comercial Škoda Platense Buenos Aires) gegründet, die unter dem gleichen Namen auch nach 1948 existierte, nachdem das kommunistische Regime der neu gegründeten Firma den Handel mit Industrieprodukten erlaubte. Škoda gehörte zu den großen Rüstungsunternehmen in der Tschechoslowakei, die ihre Produkte in Lateinamerika verkauften (Bouček 1988). Am Waffenhandel beteiligten sich in der Zwischenkriegszeit auch andere tschechoslowakische Unternehmen, die ihre Erzeugnisse vor allem nach Kolumbien, Paraguay und Peru exportierten. Peru kaufte im Jahr 1938 von der Tschechoslowakei Gebirgspanzer, die eine der wichtigsten tschechoslowakischen Lieferungen von Militärausrüstung in Lateinamerika darstellten (Novotný/Šouša 2004) und die peruanischen Behörden dazu veranlasste, nach dem Zweiten Weltkrieg einen neuen Vertrag auszuhandeln. Die Tschechoslowakei führte auch in den späten 1930er Jahren die diplomatischen Beziehungen mit den meisten der lateinamerikanischen und karibischen Ländern weiter, darunter befanden sich Argentinien, Brasilien, Uruguay, Venezuela, Chile, Peru, Kuba, Kolumbien und Mexiko. Die Besetzung der Tschechoslowakei durch das nationalsozialistische Deutschland im März 1939 bedeutete jedoch das vorläufige Ende der Beziehungen Prags zu Lateinamerika. Das tschechoslowakische diplomatische Personal wurde gezwungen, seine Missionen an die deutschen Diplomaten abzugeben. Das entlassene Personal schloss sich in den folgenden Monaten der tschechoslowakischen politischen Vertretung im Exil an, die ein Programm zur Wiederherstellung einer unabhängigen Tschechoslowakei und die Zusammenarbeit mit den Alliierten nach dem Kriegsausbruch im September 1939 formulierte. Die Exilregierung, angeführt von Edvard Beneš, versuchte in der Zwischenkriegszeit, durch die in Lateinamerika verbliebenen tschechoslowakischen Diplomaten die Anerkennung der Exilregierung und Wiederherstellung der Beziehungen zu erreichen. Die tschechoslowakische Diplomatie erzielte hierbei Erfolge und die meisten der lateinamerikanischen Staaten erkannten die Beneš-Regierung in der zweiten Hälfte des Jahres 1942 an (Nálevka 1972). Im Mai 1945 konnte die Tschechoslowakei auf die gleiche Anzahl diplomatischer Vertretungen in Lateinamerika wie vor 1938 zurückgreifen und hatte Gesandtschaften in Argentinien, Brasilien, Mexiko, Uruguay, Chile, Ecuador, Venezuela, Kuba und Peru. Zumindest ein Teil der Diplomaten der Zwischen-
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kriegszeit arbeitete auch unter den neuen Bedingungen weiter, beobachtete aber mit wachsender Sorge die immer stärker werdende Position der Kommunistischen Partei (KP) in ihrem Land. Beim Eintritt der Tschechoslowakei in den Sowjetblock, der sich bereits durch Vereinbarungen zwischen der Sowjetunion und den USA im Sommer 1945 abgezeichnet hatte, verloren die Befürworter eines Dritten Weges jedwede Illusionen, dass die Tschechoslowakei als Brücke zwischen Ost und West dienen könnte. Die Machtergreifung der KP im Februar 1948 beendete schließlich auch dieses Projekt (Smetana 2005). Die tschechoslowakische Diplomatie wurde nun nicht mehr vom Außenministerium geleitet, sondern von der KP selbst (Dejmek 2012: 144 ff.), die ihre Entscheidungen mit den »amigos«2 in Moskau abstimmte. Die Sowjetunion verfolgte in Lateinamerika gewiss eigene Interessen und wollte die tschechoslowakische Position in der Region zu ihrem eigenen Nutzen verwenden. Nichtsdestoweniger wurde es im Frühjahr 1948 notwendig, das ›Problem‹ mit Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in den Ministerien und Botschaften zu lösen, die nicht das Vertrauen der Partei besaßen. Einige der Diplomaten halfen sogar bei der Lösung, indem sie von ihren Ämtern zurücktraten und nicht in die Tschechoslowakei zurückkehrten. Die meisten lateinamerikanischen Botschafter traten ebenfalls zurück und wurden durch Repräsentanten des kommunistischen Regimes ersetzt. Jene sollten nun drei Aufgaben erfüllen: die Politik des Sowjetblocks verteidigen, die ›fortschrittlichen Kräfte‹ in den jeweiligen Ländern unterstützen und die Interessen der Regierung in Prag vertreten. Letzteres wurde nicht nur – in den Worten der damaligen Zeit – als Kampf gegen den Imperialismus verstanden, sondern sollte auch dem Aufbau und der Stärkung der wirtschaftlichen Beziehungen dienen. Die Tschechoslowakei war das am stärksten industrialisierte Land im Ostblock und benötigte einerseits Rohstoffe aus Lateinamerika, andererseits den lateinamerikanischen Markt für ihre Produkte. Zwar waren die Ostblockstaaten in der Lage, die gesamten tschechoslowakischen Industrieprodukte zu verbrauchen, doch war es ihnen nicht möglich, die tschechoslowakische Nachfrage nach modernen Technologien und Waren zu erfüllen, die auf den Märkten der ›entwickelten‹ Staaten angeboten wurden. Für den Erwerb dieser Produkte benötigte man US-Dollar und der Handel mit den lateinamerikanischen Ländern war daher eine der wichtigsten Quellen, da es hier keiner US-Dollar bedurfte. Die tsche-
2
Das Wort ›amigos‹ taucht ohne Anführungszeichen in den Dokumenten des Außenministeriums bis 1989 auf und meint die Sowjets. In einigen Dokumenten des Archivs des Außenministeriums und des Archivs für Staatssicherheit finden sich russische Übersetzungen.
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choslowakischen Diplomaten in Lateinamerika wurden daher angehalten, die wirtschaftlichen Initiativen ihrer Vorgänger weiterzuführen. Von der zweiten Hälfte des Jahres 1945 an versuchten die tschechoslowakischen Diplomaten deshalb, die Verbindungen zu ihren Handelspartnern in Lateinamerika wiederherzustellen. Die Handelsinteressen förderten außerdem die Reisen von Vertretern tschechoslowakischer Banken, die daran arbeiteten, die Schulden der Zwischenkriegszeit zu verringern und das Problem der (Auslands-) Überweisungen zu lösen (Jůn 1994). Die Auswirkungen des gegenseitigen Handelsaustauschs zeigen sich bereits in den ersten Statistiken nach dem Krieg. Im Export und Import dominierte Brasilien, gefolgt von Argentinien, die beide ihre Vorrangstellung im gesamten Jahrzehnt aufrechterhalten konnten (s. Tabelle 1 und 2). Dies zeigt die Bedeutung, die den beiden Ländern durch das tschechoslowakische Ministerium für Außenhandel und durch das Außenministerium zugeschrieben wurde. Tabelle 1: Tschechoslowakische Exporte in Tausend Kronen3 1946
1947
1948
1949
1950
Argentinien
15.022
84.583
76.850
61.329
69.797
Brasilien
53.862
38.949
64.951
73.193
61.877
Mexiko
6.829
13.995
9.461
6.026
10.390
Venezuela
2.532
16.195
10.526
9.554
12.653
Lateinamerika gesamt
85.903
188.974
207.143
175.177
198.159
3
»Bericht über die Beziehungen zwischen der Tschechoslowakischen Republik mit Lateinamerika«, 10.11.1955, S. 17-18. Aus: Archiv Ministerstva zahraničních věcí České republiky (AZMV), f. Porady kolegia, 1953-1989, Buch 18. Alle Titel von Archivdokumenten wurden von Josef Opatrný ins Spanische und von Albert Manke ins Deutsche übersetzt.
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Tabelle 2: Tschechoslowakische Importe in Tausend Kronen (ebd.) 1946
1947
1948
1949
1950
Argentinien
20.001
39.470
111.71
122.136
62.996
Brasilien
15.521
116.336
80.470
35.437
55.828
Mexiko
1.981
2.528
3.969
12.854
1.731
-
5.594
4.189
-
646
40.825
169.973
214.098
182.874
134.833
Venezuela Lateinamerika gesamt
Die Diplomaten hatten in jenem Zeitraum jedoch nicht nur die Handelsstatistiken im Auge. Der Bruch zwischen der Sowjetunion und den Vereinigten Staaten war immer deutlicher zu spüren, was auch Folgen für die Beziehungen zwischen den lateinamerikanischen Staaten und den so genannten ›Ostblockstaaten‹ hatte. Eine der ersten direkten Auseinandersetzungen betraf etwa die tschechoslowakische Botschaft in Chile. Die Veränderungen innerhalb der chilenischen Regierung im Jahr 1947, in deren Kontext kommunistische Minister entlassen wurden, lösten eine Streikwelle der chilenischen Gewerkschaften aus, die von der tschechoslowakischen KP (KPČ) unterstützt wurde. Die chilenischen Behörden beschuldigten die jugoslawischen Diplomaten in diesem Zusammenhang subversiver Aktivitäten und verwiesen sie des Landes. Jugoslawien reagierte mit der Einstellung der diplomatischen Beziehungen, der sich die Sowjetunion anschloss. Im Kontext der von beiden Seiten betriebenen Propaganda brach Chile die diplomatischen Beziehungen zu Prag ab, auch wenn beide ein Interesse an einer Klärung und an einer positiven Beendigung der Konflikte hatten. Eine Wiederherstellung der diplomatischen Beziehungen erfolgte jedoch erst im Jahr 1968. Im Jahr 1952 wurde die diplomatische Eiszeit außerdem durch den Abbruch der Beziehungen zu Venezuela vertieft. Der Konflikt zwischen den sowjetischen Diplomaten und den venezolanischen Behörden am Flughafen von Caracas im Juni 1952 mündete in die Unterbrechung der diplomatischen Beziehungen zwischen Moskau und Caracas. Auch die Tschechoslowakei kappte daraufhin die Beziehungen zu Venezuela. Dies schadete jedoch Handelsunternehmen wie
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Jablonex, Strojexport oder Strojitex, die in dieser Zeit versuchten, ihre Produkte nach Venezuela zu verkaufen.4 Dennoch verfolgte das tschechoslowakische Außenministerium in den frühen fünfziger Jahren mit größter Aufmerksamkeit die diplomatischen Berichte aus Mexiko und Argentinien, die sich u.a. mit den Entwicklungen in Guatemala und Bolivien beschäftigten. Die Landreform, die Verstaatlichung des Besitzes der United Fruit Company und der Zinnminen sowie die Kritik Guatemalas und Boliviens an der Politik der USA weckten bei den tschechoslowakischen Eliten die Hoffnung, dass die Position der Vereinigten Staaten auf dem lateinamerikanischen Kontinent geschwächt werden könne. Das diplomatische Korps begannen daraufhin – mit der Zustimmung Moskaus – sich La Paz und Guatemala-Stadt anzunähern. Der Prozess war langwierig und kompliziert und im Fall von Guatemala machten sich die Kritikerinnen und Kritiker der Regierung von Jacobo Árbenz Guzmán die Lieferungen von tschechoslowakischen Waffen zunutze, da sie diese als Vorwand für den Sturz des Präsidenten im Jahr 1954 hernahmen.5 In Bolivien unterzeichneten tschechoslowakische Unternehmen mehrere Verträge über den Verkauf von Industriegütern und über den Bau von metallverarbeitenden Anlagen, die zur Verarbeitung des Antimonerzes gebraucht wurden. Die Realisierung des Projektes nahm jedoch mehr als ein Jahrzehnt in Anspruch und diente später als Beispiel für die verfehlte Politik der Tschechoslowakei in Lateinamerika zu jener Zeit. Im Jahr 1954 verfasste die Abteilung für Amerika des tschechoslowakischen Außenministeriums, die auch die lateinamerikanischen Angelegenheiten regelte, das Dokument »Fragen der Beziehungen zwischen der Tschechoslowakei und den Ländern Lateinamerikas unter Berücksichtigung der wirtschaftlichen Kontakte«.6 Neben einer allgemein gehaltenen Einleitung, welche die Abhängigkeit der Region zu den USA unterstrich, enthielt der Text eine Darstellung der natürlichen Ressourcen der Region, die von der lateinamerikanischen Landwirtschaft auf dem Weltmarkt angeboten wurden. Das Dokument beinhaltete auch Handelsstatistiken für das Jahr 1953 und die ersten Monate des Jahres 1954 zwischen den lateinamerikanischen Ländern und der Tschechoslowakei. Darin werden Brasilien, Argentinien und Mexiko als die wichtigsten Handelspartner auf-
4
»Bericht des Botschafters Khek«, AMZV, f. TOO (Teriotoriální odbory otevřené) Venezuela 1945-1959, kart. 1, spisový obal 40.
5
Siehe den Beitrag von Lukáš Perutka in diesem Sammelband und Perutka (2014).
6
»Fragen der Beziehungen zwischen der Tschechoslowakei und den Ländern Lateinamerikas unter Berücksichtigung der wirtschaftlichen Kontakte«, 19.06.1954, AZMV, f. Porady kolegia, 1953-1989, Buch 6.
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gelistet (s. Tabelle 3). Der Bericht erwähnt ausdrücklich das Desinteresse der meisten lateinamerikanischen Staaten hinsichtlich der Wirtschaftsbeziehungen zu den Ländern des Ostblocks, zudem zeigt er die pessimistische Perspektive der politischen Klasse in der Tschechoslowakei gegenüber Lateinamerika: »In anderen lateinamerikanischen Ländern – mit der Ausnahme von Chile, Bolivien, Mexiko und Paraguay – zeigt sich nicht das Interesse an der Weiterführung des Handels mit uns und in anderen Staaten wie Argentinien, Guatemala, Brasilien und Uruguay wächst die Zusammenarbeit zwar, aber nur langsam« (ebd.). Tabelle 3: Handel zwischen der Tschechoslowakei und Lateinamerika in Tausend Kronen (ebd.: 16) 1953
1954 (Januar-April)
Exporte
Importe
Exporte
Importe
Brasilien
48.966
55.404
22.852
14.303
Argentinien
29.532
10.499
22.405
1.015
Mexiko
7.905
3.949
2.454
2.754
Venezuela
6.729
-
2.605
-
Kuba
4915
285
1.679
96
Uruguay
3.480
3.021
2.505
803
Guatemala
3.150
1.828
1.456
-
Dominikanische Republik
2.268
-
666
-
Ecuador
2.016
360
315
-
Haiti
2.004
-
537
-
Honduras
1.309
-
343
-
Costa Rica
1.198
1.457
374
-
El Salvador
1.110
-
416
-
Bolivien
1.045
-
952
-
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Peru
583
-
62
-
Panama
568
-
155
-
Nicaragua
545
-
202
-
Chile
343
718
433
-
Paraguay
33
-
16
-
-
-
1.992
-
Kolumbien
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Ähnlichkeiten zeigen sich auch im Material, das für die Sitzung des Ministerrates im Oktober 1956 verfasst wurde.7 Das Dokument stellt nicht nur eine Zusammenfassung der Beziehungen zwischen der Tschechoslowakei und Lateinamerika dar, sondern zeigt auch die Politik gegenüber jenen Ländern (Brasilien, Argentinien und Mexiko) auf, die von der Tschechoslowakei als wichtig angesehen wurden. Richard Ježek, der Autor jenes Textes und ehemaliger tschechoslowakischer Botschafter in Buenos Aires, schrieb in der Einleitung: »Während des Jahres 1956 vertieften und erweiterten sich die Beziehungen zwischen der Tschechoslowakischen Republik und den Ländern Lateinamerikas und die Position der Tschechoslowakei, die diese mit jenen Ländern aufweist, welche die umfangreichsten diplomatischen und wirtschaftlichen Kontakte aller sozialistischen Länder darstellen, verstärkte sich.« (Ebd.)
Im Jahr 1957 bereitete das tschechoslowakische Außenministerium einen weiteren Text in Bezug auf Lateinamerika vor.8 Die Verfasserinnen und Verfasser betonten die Notwendigkeit einer langfristigen Zielsetzung der Beziehungen und der Text wirft auch ein Licht auf das umfangreiche Material dieser Dekade. Außerdem betonen sie die Bedeutung der lateinamerikanischen Wirtschaft, die (immer noch) durch Latifundien und die Monokultur gekennzeichnet war. In
7
»Bericht über die derzeitige Entwicklung der Beziehungen zwischen der Sozialistischen Republik der Tschechoslowakei und den lateinamerikanischen Ländern mit den Vorschlägen für den künftigen Fortschritt«, 11.10.1956, AMZV, Porady kolegia, 1953-1989, Buch 22.
8
»Geplantes Projekt der Beziehungen zwischen der Sozialistischen Republik der Tschechoslowakei und den Staaten Lateinamerikas«, Prag, 23.09.1957, AMZV, Porady kolegia, 1953-1989, Buch 29.
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diesem Zusammenhang erwähnt das Dokument die Abhängigkeit Brasiliens und Kolumbiens vom Kaffee sowie Chiles, Boliviens und Perus von den Zinn- und Kupferminen und Venezuelas vom Erdöl. Die Position der USA im wirtschaftlichen und politischen Gefüge Lateinamerikas wecke zunehmend den Widerstand der ›nationalen Bourgeoisie‹. Diese machte sich dadurch zu temporären Verbündeten »[...] der Arbeiterklasse in der breiten demokratisch, anti-imperialistischen und antifeudalistischen Front. Beispiele für die Stärke der demokratischen und nationalen Kräfte gegen den US-Imperialismus sind die Regierungswechsel in Uruguay (1955), Brasilien, Peru, Honduras, Ecuador und Panama (1956) und die wachsende Instabilität der Regierungen in Kuba, Venezuela, der Dominikanischen Republik, Guatemala, Kolumbien und Paraguay, die Beseitigung des nicaraguanischen Diktators und der zunehmende Druck auf die lokalen Regierungen bei der Schaffung einer unabhängigen Innen- und Außenpolitik.« (Ebd.: 3)
Im Jahr 1959 deutete Vieles daraufhin, dass die Hoffnungen der AmerikaAbteilung9 des Außenministeriums, welche die Materialien über die Situation in Lateinamerika und Konzepte der tschechoslowakischen Aktivitäten in der Region für die Leitung des Außenministeriums und die Organe der KP10 vorbereitete, zumindest in einem Land erfüllt wurden. Im Januar jenes Jahres verkündete Fidel Castro in Santiago de Cuba den Sieg der Revolution und die Regierungen in Moskau und Prag erkannten das neue Regime in Havanna an, was mit der Aufnahme von Verhandlungen über die Normalisierung der diplomatischen Beziehungen und über die Einrichtung von Botschaften seinen Anfang nahm. Die Verschlechterung der Beziehungen zwischen den USA und der neuen Regierung in Havanna wurde von einer Stärkung der Kontakte zwischen der Sowjetunion und Kuba begleitet. Während dieses Prozesses bot die Tschechoslowakei Castro Waffenlieferungen an (die von der kubanischen Regierung zum größten Teil durch sowjetische Kredite bezahlt wurden), die bereits bei der Invasion in der Schweinebucht zum Einsatz kamen.11
9
Jene Abteilung wurde aus einer Gruppe von Lateinamerikaexperten geleitet, die zum Teil aus Diplomaten bestand, welche zuvor in verschiedenen Bereichen der Botschaften in Lateinamerika tätig gewesen waren oder sich auf diese Positionen vorbereiten.
10 Ein Großteil der Akten der Amerika-Abteilung enthält Listen der Abteilungen der Ministerien und externer Institutionen, die Kopien der Dokumente erhielten. Fast nie fehlt ein Organ der KP und des Öfteren erscheint das Ministerium für Außenhandel. 11 Siehe hierzu den Beitrag von Albert Manke in diesem Sammelband.
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In jener Zeit verstärkten sich nicht nur die wirtschaftlichen und politischen Beziehungen zwischen Prag und Havanna, sondern im tschechoslowakischen Außenministerium wuchs auch die Hoffnung, dass die kubanische Revolution der erste Schritt zu grundlegenden Veränderungen auf dem gesamten Kontinent sei (Bortolová 2011). Im Juni 1959 entwarf das Außenministerium einen ersten umfassenden Plan für die tschechoslowakischen Beziehungen zu Lateinamerika.12 Wie üblich wurde das Dokument zunächst zu den obersten Organen der KP geschickt, am 26. Juni 1959 genehmigt und dem Ministerium zur Ausführung übergeben. Das Dokument unterteilt die Region in zwei Teile: Lateinamerika mit Ausnahme von Kuba und Kuba selbst.13 Die Verfasserinnen und Verfasser hielten fest, dass der Kampf gegen den Imperialismus in eine neue Phase eingetreten sei, was der Tschechoslowakei politische Einflussmöglichkeiten in der Region ermögliche, und umfasste zehn Punkte als zukünftige Aufgabenbereiche: •
•
• •
• •
Im Einklang mit der Sowjetunion und anderen sozialistischen Staaten sollte eine aktivere Politik geführt werden, um die Position des Ostblocks in der Region zu verbessern. Hinsichtlich der Zusammenarbeit mit den genannten Ländern sollten Bedingungen hergestellt werden, die den Ausbau und die Vertiefung der Handelsund Wirtschaftskontakte mit den ›großen Staaten der Region‹ verstärken. Es soll die Zusammenarbeit mit dem Ministerium für Außenhandel gestärkt und Mängel sollen beseitigt werden. Für die Errichtung von Konsulaten in den Industriezentren sollen die Bedingungen für den Handel und die diplomatischen Aktivitäten verbessert werden (Monterrey und São Paulo). Offizielle Besuche von Regierungs- und Parlamentsvertretern sollen angeregt werden (speziell in Brasilien, Argentinien, Mexiko, Bolivien). Der Ausbau von Gesandtschaften soll angeregt und deren Netzwerk vergrößert werden.
12 »Konzeption der Beziehungen zwischen der Tschechoslowakei und Lateinamerika«, S. 1. Aus: Národní Archiv Česká Republika, Archiv Komunistická strana Československa - Ústřední výbor (NAČR KSČ-ÚV), f. 1261/0/11 Antonín Novotný, kart. 5 13 In diesem Zusammenhang ist zu erwähnen, dass das Konzept im Frühjahr 1959 formuliert wurde, also einige Wochen nach der Machtübernahme Castros auf Kuba. Es wird deutlich, dass in dem Plan bereits zu diesem Zeitpunkt der Charakter des Regimes in Kuba von Prag nicht angezweifelt wurde, obwohl Castro erst im April 1961 öffentlich den sozialistischen Charakter ›seines‹ Kubas ankündigte.
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Die Normalisierung zu jenen lateinamerikanischen Ländern vorantreiben, mit denen bisher keine oder unterbrochene Kontakte bestehen. Die kulturelle Zusammenarbeit durch Abkommen, die Verbreitung innerhalb der Tschechoslowakei und verschiedene kulturelle Aktivitäten vertiefen. Partnerschaften und Institutionen nutzbar machen, um das System der Tschechoslowakei zu propagieren. In Brasilien, das andere lateinamerikanische Länder beeinflusst, Maßnahmen durchführen, die den antisowjetischen Druck der USA in Argentinien und Mexiko schwächen.14
Die Kombination von wirtschaftlichen und politischen Interessen bestimmte somit die Bedeutung der lateinamerikanischen Staaten für die Tschechoslowakei, welche die Interessen der Sowjetunion mitberücksichtigte. Das Konzept betonte die natürlichen Ressourcen der Länder und den ›Grad der Fortschrittlichkeit‹ angesichts des Ausmaßes der Abhängigkeit von den USA und die Kritik an den USA in den Ländern der Region. 1959 waren Brasilien, Argentinien, Chile, Uruguay und Mexiko von besonderem Interesse. Im Gegensatz zu 1954 fehlten Guatemala (Sturz von Árbenz) und Paraguay (Verfolgung der dortigen KP durch das Stroessner-Regime). Konkrete Maßnahmen des Ministeriums waren die Entsendung von Gesandtschaften nach Kolumbien, Venezuela, Peru, Ecuador, Chile und Kuba, die Errichtung von Konsulaten in Costa Rica, Panama, Monterrey und São Paulo, die Umwandlung der Gesandtschaften Argentinien, Brasilien und Mexiko in Botschaften sowie die Unterzeichnung von Kulturabkommen mit Uruguay, Mexiko und Brasilien. Dieses Konzept wurde bereits bei seiner Formulierung und in den darauffolgenden Monaten verändert und neu interpretiert, was vor allem mit den rasanten Entwicklungen der politischen Lage in Kuba zusammenhing. Dies schlug sich in einem Dokument aus dem Jahr 1962 nieder, das die neuen Absichten der brasilianischen Politik hervorhob. Die neue Regierung in Brasilien versuchte, sich von den USA zu emanzipieren, was in anderen Staaten, etwa in Bolivien, Mexiko und Ecuador, Anklang fand. Der Text von 1962 betont besonders den Weg Kubas zum Sozialismus, betreffend der Auswirkungen für die gesamte Region. In diesem Kontext entstand in der tschechoslowakischen Politik gegenüber Lateinamerika das Bewusstsein, Kuba und andere Länder in Lateinamerika in ihrem
14 Bei diesem Punkt hob das Konzept drei brasilianische Politiker hervor, besonders Präsident Kubitschek, mit dem das Dokument Sondierungsgespräche im Rahmen seines Besuches in der Tschechoslowakei vorschlug. Juscelino Kubitschek war tschechischer Herkunft, was in der Tschechoslowakei immer wieder erwähnt wurde.
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Kampf gegen den US-Imperialismus und ihr Recht auf Selbstbestimmung zu unterstützen sowie wirtschaftlich gesehen den Import landwirtschaftlicher Produkte zu steigern. Die lateinamerikanischen Produkte deckten zusätzlich die Bedürfnisse der tschechoslowakischen Wirtschaft, wobei der Text Metalle, Wolle, Felle, Fleisch, Kaffee und Kakao anführt. Was die tschechoslowakischen Exporte betrifft, erwähnt das Dokument die Erzeugnisse der Energiebranche, der Kühlmittel-, Textil-, Lebensmittel- und Lederindustrie sowie Ausrüstung für Minen, Transport- und Industriebetriebe. Beim Import werden die bereits genannten (landwirtschaftlichen) Massenwaren angeführt, sowie auch Halbfertig- und Fertigwaren. Die Verfasserinnen und Verfasser des Textes legten großes Augenmerk auf die ideologischen Berührungspunkte und die gemeinsamen Unternehmen unter Beteiligung des lokalen und des tschechoslowakischen Kapitals. Ihnen schienen die geeignetsten Länder für diese Art von Politik Mexiko, Chile, Guyana, Venezuela, Kolumbien und Ecuador zu sein.15 Das Dokument formulierte außerdem Ziele auf der kulturellen, wissenschaftlichen und akademischen Ebene, wobei die Tschechoslowakei als Vorzeigemodell propagiert wurde. Außerdem betonte es die Zusammenarbeit zwischen den Staaten und ihren Institutionen, besonders auf universitärem Niveau. Neben den bereits etablierten Kooperationen zu den Universitäten in Brasilien, Bolivien, Chile, Mexiko und Uruguay empfahlen sie, die Kontakte zu Argentinien, Kolumbien, Venezuela und Ecuador zu verbessern. Die Kooperation sah Stipendien vor, allen voran für technische Studien, mit dem Ziel, den Studierenden nicht nur Bildungschancen zu ermöglichen, sondern sie von den Vorteilen des Sozialismus zu überzeugen.16 Schließlich beurteilte der Text die lateinamerikanischen Länder nach ihrer Bedeutung für die Tschechoslowakei. Als erstes stellte er Brasilien mit seiner unabhängigen Politik, dem
15 Die Umsetzung ging allerdings langsamer voran als angedacht. In den frühen 1970er Jahren existieren Kooperationen mit Chile, Venezuela, Ecuador, Argentinien und Mexiko, welche den gegenseitigen Handel beförderten. Manchmal entsprachen die Abrechnungen allerdings der lokalen Gesetzgebung, was Probleme verursachte und Strafen für die Repräsentantinnen und Repräsentanten in den Unternehmen nach sich zog. 16 Die Tschechoslowakei gründete 1961 speziell für Studierende aus Afrika, Asien und Lateinamerika die neue ›Universität 17. November‹. Dort studierten bis zur Auflösung der Universität 1974 zahlreiche lateinamerikanische Studierende, finanziert durch tschechoslowakische Stipendien. Das Stipendienprogramm für diese Studierenden lief indes weiter, wobei der größte Teil von ihnen aus Kuba stammte. Es gab aber auch Studierende aus Mexiko, Bolivien, Ecuador etc., die an den Universitäten und technischen Fachhochschulen in Prag, Brno oder Ostrava studierten.
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Reichtum an natürlichen Ressourcen, seinen landwirtschaftlichen Produkten und dem großen Binnenmarkt vor, der in der Lage sei, die Produkte der tschechoslowakischen Industrie (einzelne Maschinen, Ausrüstungsgegenstände oder gesamte Industrieanlagen) aufzunehmen. An zweiter Stelle stand Mexiko, gefolgt von Bolivien, Argentinien, Chile und schließlich Venezuela. Die neue tschechoslowakische Politik in Lateinamerika beinhaltete auch die Reise einer Kulturdelegation im April und Mai 1962 nach Brasilien, Chile, Bolivien, Mexiko und Kuba. Das eigentliche Ziel der Reise war weitaus umfassender, als offiziell behauptet wurde. Offiziell ging es um die Verbreitung der tschechoslowakischen Kultur und Stärkung der kulturellen Kontakte, doch eigentlich diente die Reise dazu, die politischen Beziehungen zwischen Vertreterinnen und Vertretern von Politik und Kultur zu stärken. Sie bot der Tschechoslowakei die Möglichkeit, sich auf der internationalen Bühne zu präsentieren. Der Leiter der Delegation, Kulturminister František Kahuda, wurde durch den mexikanischen und den kubanischen Präsidenten, den brasilianischen Ministerpräsidenten und die jeweiligen Außenminister empfangen. Die große Bedeutung, die dem Besuch in Kuba zugeschrieben wurde, sollte die Beziehungen zwischen den beiden ›sozialistischen Bruderstaaten‹ stärken. Während des Besuches in Havanna wurde das Haus der tschechoslowakischen Kultur eröffnet, das in den darauffolgenden Dekaden eines der wichtigsten kulturellen Zentren tschechoslowakischer Kultur in der westlichen Hemisphäre war. An der Einweihung nahm die politische und kulturelle Elite Kubas teil, ohne zu wissen, dass ein halbes Jahr später die Kubakrise die politischen Beziehungen zwischen Kuba und der Sowjetunion und der Ostblockstaaten abkühlen würde. Die Verschlechterung der politischen Beziehungen wurde nicht nur durch die Kritik der kubanischen Elite an der Beilegung der Kubakrise herbeigeführt, sondern sie wurde zusätzlich durch die Meinungsverschiedenheiten mit Moskau und dessen Politik gegenüber den USA verstärkt. Trotz der verbalen Kritik an Washington war Moskau gezwungen, die Stärke seines größten Rivalen zu respektieren und politischen Pragmatismus zu zeigen. Havanna beschuldigte die Sowjets daraufhin, die internationalen revolutionären Bewegungen nur unzureichend zu unterstützen und begann intensiv damit, linke Bewegungen und Guerillas in zahlreichen Ländern Lateinamerikas sowie auf anderen Kontinenten zu stärken. Auf Kuba wurden lateinamerikanische Guerillakämpferinnen und -kämpfer ausgebildet und erhielten Waffen, die Kuba wiederum von der Sowjetunion und der Tschechoslowakei erhalten hatte. Ab 1962 war Prag eine Station für diese Guerillakämpferinnen und -kämpfer auf ihrem Weg in die Trainingslager Kubas und weiter in die Länder Lateinamerikas. Ende jenes Jahres kam die
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erste Gruppe der hierzu geschaffenen Operation MANUEL nach Prag, um die Hilfe des tschechoslowakischen Geheimdienstes auf ihrer Reise nach Lateinamerika in Anspruch zu nehmen. Der Geheimdienst in Prag zeigte jedoch wenig Begeisterung über die Operation und über sein Mitwirken daran. Er kritisierte die mangelhafte Qualität der Vorbereitungsarbeit der Gruppen und deren Dokumente angesichts der Beteiligung der Tschechoslowakei in Lateinamerika: »Die Aktion Manuel ist eine komplizierte und politisch heikle Angelegenheit in Anbetracht des widersprüchlichen Charakters gegenüber den kommunistischen Parteien in Lateinamerika. Die Tschechoslowakei wird zur Station der nach Lateinamerika entsendeten Revolutionäre. In diesem Sinne erscheinen von Zeit zu Zeit Artikel in der internationalen Presse. Unsere Teilnahme berücksichtigt diese Gefahr und alle Bemühungen des tschechoslowakischen Geheimdienstes in Prag waren immer vor allem auf die Verteidigung der Interessen der Tschechoslowakischen Sozialistischen Republik ausgerichtet.«17
Im Jahr 1967 tauchte in den Dokumenten des Geheimdienstes die Überlegung auf, die tschechoslowakische Beteiligung an der Operation MANUEL zu beenden. Begleitet von der Sorge, dass dies ernsthaft die Beziehungen zu Kuba beschädigen könne, war Kuba trotz aller Schwierigkeiten der engste Verbündete des Sowjetblocks in Lateinamerika. Die Autorin oder der Autor des Textes schrieb über das Risiko fehleranfälliger Aktionen und berief sich dabei auf den Fall eines Teilnehmers an jener Operation: »Es ist von der Verhaftung anderer Teilnehmer auszugehen, die die gleiche Reiseroute, entweder in der Vergangenheit oder in der Gegenwart, benutzen und es wahrscheinlich ist, dass sie aufgrund von Repressionen andere Personen, die sich im Transit durch die Tschechoslowakei befinden, enttarnen. Damit wird die Möglichkeit geschaffen, neue Anschuldigungen gegenüber der Tschechoslowakei zu formulieren, die diese Aktionen tolerierte und auch dabei mithalf.«18
Trotz dieser ernsten Zweifel des tschechoslowakischen Geheimdienstes dauerte die Operation MANUEL bis in die späten 1960er Jahre an. Während dieser Zeit diente Prag als Transitstation für 1209 Personen auf Lateinamerika, um von Ha-
17 »Information zur Operation Manuel«, Prag 14.07.1969. Aus: Archív bezpečnostních složek (ABS), f. I. S –SNB, sv. no. 80723. Vgl. auch Tomek (2002). 18 Auszug aus dem Bericht »Die Kooperation zwischen dem tschechoslowakischen und dem kubanischen Geheimdienst«, 11.01.1967, ABS, f. I. S. –SNB, sv. r. č. 80723.
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vanna aus in andere Länder Lateinamerikas zu gelangen. In einem Geheimdienstbericht aus dem Jahr 1968 heißt es: »Von Juli bis Dezember sorgten wir im Rahmen der Operation Manuel für den geheimen Aufenthalt und die konspirative Ausreise von 38 Lateinamerikanern aus der Tschechoslowakei, die mit verschiedenen nationalen Pässen reisten. Während dieser Zeit passierten ein Brasilianer, zwei Dominikaner, zwei Guatemalteken, zehn Haitianer, zwei Peruaner, zwei Salvadorianer, fünf Uruguayer, acht Venezolaner, ein Costaricaner, einer aus Guadeloupe, ein Schweizer und ein Nicaraguaner, siebzehn Gruppen [die Tschechoslowakei, J.O.].«19
Die tschechoslowakische Politelite kam in jenen Jahren zu dem Schluss, dass sich die ›revolutionäre Welle‹ in Lateinamerika, die durch das kubanische Beispiel inspiriert worden war, verringerte und das Interesse der USA und der lokalen Regime die Situation stabilisierte. Die Kombination aus Reformen und Militärregimen hatte laut den Dokumenten der KP die »Stärkung reaktionärer Positionen in der Region«20 zur Folge. Diese Beurteilung veränderte die tschechoslowakische Politik gegenüber Lateinamerika – zusammen mit den Veränderungen innerhalb der tschechoslowakischen Gesellschaft. Die zweite Hälfte der 1960er Jahre war in der Tschechoslowakei durch wirtschaftliche Schwierigkeiten und die Suche nach einer Lösung aus der Krise gekennzeichnet. Die Diskussionen über eine gewisse Eigenständigkeit in der Wirtschaft förderten einen breiter geführten Diskurs über Veränderungen in der Tschechoslowakei und fanden ihren Höhepunkt im Prager Frühling. Während interner Diskussionen in verschiedenen staatlichen Institutionen wurde der Ruf nach mehr Autonomie der staatlichen Organe laut, vor allem hinsichtlich der Entscheidungen der Partei, was auch größere Eigenständigkeiten im Rahmen des sowjetischen Blocks miteinschloss. Die Besetzung der Tschechoslowakei durch die Truppen des Warschauer Pakts veränderte erneut die Situation in der tschechoslowakischen Diplomatie. Außenminister Jiří Hájek, einer der wichtigsten Persönlichkeiten des Prager Frühlings, wurde im September 1968 gezwungen, sein Amt niederzulegen und teilte somit das gleiche Schicksal wie viele seiner Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. In den darauffolgenden Monaten sorgten die staatlichen Behörden und die Partei für die ›Normalisierung‹ und Rückkehr zum alten System, wobei die Entscheidungen der Partei mit Moskau abgestimmt wurden.
19 »Der Beitrag im Tagesbericht«, Prag, 03.01.1969, ABS, I. S –SNB, s. r. č. 80723. 20 »Die neuen Phänomene in der nationalen Befreiungsbewegung in Lateinamerika«, 04.11.1966, S. 16, NAČR KSČ-ÚV, f. 1261/0/11 Antonín Novotný, kart. 5, obal 51.
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Im Jahr 1970 präsentierte die Abteilung für Lateinamerika ein abgeändertes Konzept der Beziehungen zwischen der Tschechoslowakei und jener Region. Unter Berücksichtigung der Entwicklungen in Lateinamerika in den Jahren zuvor – die Machtergreifungen durch Militärregime in Panama, Bolivien und Peru – äußerten die Autorinnen und Autoren die Idee fortschrittlicher Militärregimes.21 Diese kennzeichneten sich durch ihr Programm zur Verstaatlichung der natürlichen Ressourcen, der Kommunikationskanäle, der Banken und großer Unternehmen auf der einen Seite und auf der anderen durch ihre Landreformen. Hinsichtlich der Außenpolitik jener Regimes betonte das Dokument deren Ehrgeiz, die politischen und wirtschaftlichen Abhängigkeiten zu den USA zu beenden und diplomatische, politische sowie wirtschaftliche Beziehungen vor allem mit den Ländern des sowjetischen Blocks zu errichten oder zu erweitern. Der Text verweist auf die Bedeutung der aufgebauten Handelskontakte, ohne auf die ideologischen Differenzen einzugehen und präsentiert einen noch offensichtlicheren Pragmatismus als frühere Berichte. In diesem Prozess spielte auch der Verlust der Einzigartigkeit der Tschechoslowakei in der Region und innerhalb des Sowjetblocks eine Rolle. Andere Ostblockstaaten knüpften ebenfalls Kontakte in Lateinamerika und einige tschechoslowakischen Unternehmen berichteten von ihrem Wettbewerb mit der Sowjetunion, der DDR und Ungarn. Zusätzlich zu den wichtigsten Handelspartnern der Tschechoslowakei in der Region – Brasilien, Argentinien und Mexiko – verstärkte sich die Bedeutung von Peru, Ecuador und Venezuela. Einen Sonderfall stellte Anfang der siebziger Jahre das Chile unter Salvador Allende dar. Einerseits schätzten Medien und politische Vertreter den Sieg eines Repräsentanten der Linken. Andererseits finden sich in den Dokumenten Zweifel an der Fähigkeit der sozialistischen Regierung, den wirtschaftlichen Kollaps des Landes zu verhindern und Befürchtungen über die finanziellen Kosten der ›internationalen Hilfe‹ seitens der Tschechoslowakei, was auf Erfahrungen aus den tschechoslowakisch-kubanischen Wirtschaftsbeziehungen herrührte. Die Handelskontakte zwischen Chile und der Tschechoslowakei bremsten die bürokratischen Hindernisse. Nach dem Sturz Allendes hatte die Tschechoslowakei keinen wirtschaftlichen Grund mehr, die diplomatischen Beziehungen zu Chile aufrechtzuerhalten und brach diese (sofort nach Moskau) ab. Bis Ende der 1980er Jahre nutzte die Tschechoslowakei den Fall Chiles in ihren Kampagnen gegen die USA. Auf der anderen Seite blieben Ar-
21 »Die aktuelle Situation der Beziehungen zwischen der Sozialistischen Republik der Tschechoslowakei und Ländern Lateinamerikas, die zum sechsten territorialen Departement zählen und die wichtigsten Aufgaben dieser Beziehungen im Jahr 1971«, AMZV, f. Porady kolegia, 1953-1989, Buch 140.
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gentinien und Brasilien, die ebenfalls von Militärregimes regiert wurden, die wichtigsten Handelspartner der Tschechoslowakei. Deren Politik wurde also mehr durch wirtschaftliche Interessen als durch ideologische Dogmen bestimmt. Tabelle 4: Tschechoslowakische Exporte (in Mio. US-Dollar) an die wichtigsten Handelspartner in Lateinamerika, 1975-1979 (ohne Kuba)22 1975
1976
1977
1978
1979
Brasilien
31,1
24,7
69,2
42,4
22,5
Argentinien
9,1
7,4
25,2
36,0
26,3
Venezuela
15,9
13,8
21,0
22,8
22,6
Mexiko
9,5
9,8
7,3
11,5
18,9
Ecuador
2,3
2,2
4,8
7,6
9,1
Lateinamerika gesamt
82,9
73,
147,9
138,1
129,2
Tabelle 5: Tschechoslowakische Importe (in Mio. US-Dollar) von den wichtigsten Handelspartner in Lateinamerika, 1975-1979 (ohne Kuba) (ebd.) 1975
1976
1977
1978
1979
Brasilien
59,6
102,8
127
131,4
144,6
Argentinien
14,9
18,7
24,3
37,9
49,5
Venezuela
1,3
4,5
5,7
4,8
4
Mexiko
2,2
8,5
7,8
7,2
6,9
Peru
19,7
23,1
32,7
22,0
26,5
Lateinamerika gesamt
123,1
189,5
242,6
251,9
283,3
22 »Handelsabteilung in Buenos Aires, Bericht für das zweite Halbjahr 1981«, März 1982, AMZV, f. DTO, Argentinien, Buch 42.
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In den 1980er Jahren setzte die Tschechoslowakei in Lateinamerika ihre Politik des vorangegangenen Jahrzehnts fort. Öffentliche Unterstützungserklärungen zugunsten revolutionärer Prozesse in Lateinamerika wurden von ökonomischen Berechnungen der Mitglieder der Wirtschaftsabteilungen der Botschaften begleitet. Laut der Quellen der tschechoslowakischen Diplomatie brachte der Sieg der Sandinistinnen und Sandinisten in Nicaragua die Gefahr mit sich, enorme Ressourcen für die ›internationale Hilfe‹ aufzuwenden. Diese Reaktion zeigt einmal mehr den Primat einer pragmatischen Politik gegenüber Lateinamerika. Vor allem die wirtschaftliche Bedeutung Lateinamerikas förderte den Ehrgeiz der tschechoslowakischen Diplomatie, Beziehungen mit fast allen Ländern in der Region zu etablieren. Gemäß des Materials des Außenministeriums unterhielt die Tschechoslowakei im Jahr 1988 Beziehungen auf dieser und weiteren Ebenen mit Chile, Belize und einigen karibischen Inselstaaten wie Antigua und Barbuda, den Bahamas, Dominica, St. Kitts und Nevis, St. Lucia, St. Vincent und Grenada. Die Beziehungen zu Paraguay, Guatemala, El Salvador, Haiti und der Dominikanischen Republik befanden sich im »Ruhestatus«23. Dieser Text war das letzte Dokument über die tschechoslowakische Politik in Lateinamerika in der kommunistischen Ära der Tschechoslowakei, das eine allgemeinere Reichweite besaß. Seine Schlussfolgerungen unterstrichen die Bedeutung der wirtschaftlichen Kontakte in der Region und gingen von einer baldigen Intensivierung der Beziehungen aus. Das Jahr 1989 veränderte jedoch vollkommen die außenpolitische Ausrichtung der Tschechoslowakei und die Kontakte Prags zu Lateinamerika.
Z USAMMENFASSUNG
UND
S CHLUSSFOLGERUNGEN
Die Beziehungen zwischen der Tschechoslowakei und Lateinamerika in der Zeit des Kalten Krieges beruhten auf den Grundlagen der Zwischenkriegszeit, als die politischen und wirtschaftlichen Eliten der Tschechoslowakei von der Emigration nach Lateinamerika profitierten, vor allem hinsichtlich der aufgebauten Handelskontakte in der Region. In den ersten Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg konnte die Tschechoslowakei dann ihr diplomatisches Netzwerk in Lateinamerika nutzen. Ihre Repräsentantinnen und Repräsentanten erfüllten zusätzlich Aufgaben in politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Bereichen. Auf der politi-
23 »Die Situation in Lateinamerika und die neue Ausrichtung der tschechoslowakischen Außenpolitik gegenüber der Länder der Region«, Prag, 02.05.1988, S. 6, AMZV, f. Porady kolegia, 1953-1989, KM-12/88.
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schen Ebene wollte die Tschechoslowakei die Beziehungen auf dieselbe Basis wie in den 1950er Jahren bringen, vor allem mit Guatemala und Bolivien, die mit ihrer Kritik an der Politik der USA, den Landreformen und ihrer Verstaatlichungspolitik hervorstachen. Im ökonomischen Bereich stellte die gesamte Region einen Absatzmarkt für tschechoslowakische Industrieprodukte dar und die Tschechoslowakei importierte ihrerseits Rochstoffe für die eigene Industrie. Die tschechoslowakische Elite erwartete sich davon eine positive Handelsbilanz, die in Form von ›freien Dollars‹ in den Staatshaushalt einfließen sollte. Bei den Handelskontakten waren Argentinien und Brasilien von größter Bedeutung und konnten ihre Stellung als wichtigste Handelspartner in der Region während des Kalten Krieges aufrechterhalten. Eine Ausnahme stellte Kuba dar, das seit 1959 für die Tschechoslowakei von besonderem Interesse war. Die unerfüllten Hoffnungen, die in die revolutionären Bewegungen in anderen Ländern Lateinamerikas gesteckt wurden und die durch das kubanische Modell inspiriert worden waren, führten in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre zu einem Gefühl allgemeiner Ernüchterung. Dies bedeutete jedoch nicht, dass es zu einer Verminderung der Bemühungen hinsichtlich der Etablierung von diplomatischen Beziehungen mit Ländern kam, in denen die Tschechoslowakei keine Botschaften besaß. Dieser Ehrgeiz wurde von der pragmatischen Politik Prags begleitet, die unabhängig von der Ideologie der lateinamerikanischen Regimes – mit Ausnahme Chiles – eine Stärkung der wirtschaftlichen Beziehungen vorsah. Diese Politik führte in den späten 1980er Jahren zu zahlreichen Eröffnungen tschechoslowakischer Botschaften in Lateinamerika, wo die Tschechoslowakei diplomatische Beziehungen zu den meisten Ländern unterhielt.
A RCHIVQUELLEN ABS – Archív bezpečnostních složek (Staatssicherheitsarchiv), Prag I. S. –SNB AZMV – Archiv Ministerstva zahraničních věcí České republiky (Archiv des Tschechischen Außenministeriums), Prag Porady kolegia TOO (Teriotoriální odbory otevřené) NAČR – Národní Archiv Česká Republika (Nationalarchiv der Tschechischen Republik), Prag KSČ-ÚV: Archiv Komunistická strana Československa - Ústřední výbor (Archiv des Zentralkomitees der KSČ) Antonín Novotný
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›Profite‹ oder ›Politik‹ Die Dilemmata der britisch-kubanischen Beziehungen zu Beginn des Kalten Krieges S TEVE C USHION
Zu Beginn des Kalten Krieges gestalteten sich die Beziehungen zwischen den Regierungen Großbritanniens und Kubas sehr komplex, was vor allem an der Präsenz der USA nördlich der Karibikinsel lag. Großbritannien war ein politischer Verbündeter der USA, der sich vollständig der nordamerikanischen, antikommunistischen Politik des Kalten Krieges verpflichtet fühlte. Die britischen Kapitalisten (womit große Investoren und Unternehmer gemeint sind) aber – und das ist ein sehr großes ›aber‹ – standen im direkten Wettbewerb mit ihren USRivalen, vor allem bezüglich des Handels mit Kuba. Eine diplomatische Note des britischen Botschafters in Washington aus dem Jahr 1960 fasst diese Dichotomie folgendermaßen zusammen: »Jeder Schritt unsererseits, Waren und Materialien für die enteigneten US-Unternehmen zu liefern, würde hier zutiefst übel genommen werden. Mir ist klar, dass, wenn wir nicht liefern, Kuba sich sehr gut das, was benötigt, anderweitig bekommen kann und dies wird die kommunistische Durchdringung beschleunigen. Ich bin mir auch dessen bewusst, dass US-amerikanische Firmen in zwei Weltkriegen, während wir für die Freiheit kämpften, unseren Handel in Lateinamerika übernahmen. Zugleich gibt es diese besondere Rücksichtnahme gegenüber Kuba. Ihrer Majestät Regierung haben vereinbart, die Regierung der Vereinigten Staaten in ihrer Politik gegenüber Kuba beizustehen, soweit dies von uns aus möglich ist.«1
1
The National Archives (TNA), Foreign Office (FO) 371-148260-AK1152-20.
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Eine der wichtigsten Aufgaben von Botschaften ist es, die Interessen der Unternehmen ihres Landes in dem Land, in dem sie ihren Sitz haben, zu fördern – eine Verantwortung, die zwangsläufig die Sicht des Botschaftspersonals auf die lokale Politik widerspiegelt. Somit legte die britische Botschaft in Kuba in den 1940er und 1950er Jahren ein spezielles Augenmerk auf die Rendite von sowohl kubanischen als auch von britischen Kapitalinvestitionen. Im Lichte derartiger Überlegungen wird dieser Artikel die britische Sicht auf Kuba anhand der diplomatischen Korrespondenz aus dem britischen Nationalarchiv (The National Archives in Kew, London) untersuchen. Es wird argumentiert, dass das BatistaRegime die Unterstützung lokaler und ausländischer Kapitalträger erhielt, da diese als Garanten für eine Steigerung der kubanischen Produktivität betrachtet wurden. Nachdem sich der britische Botschafter auf Kuba lange über die ›unvernünftigen Forderungen der Arbeiterschaft‹ in jenem Land beschwert hatte, begrüßten die Berichte, die er nach London schickte, Fulgencio Batistas Putsch im Jahr 1952 – auch in der Hoffnung, dass die De facto-Regierung ihre Position ausnutzen würde, um die Lohnkosten zu senken. Die ›intensivismo‹-Kampagne des Regimes wurde durch ›unseren Mann in Havanna‹ billigend in Kauf genommen, wobei im Gegenzug eine höhere Rentabilität und die vage Hoffnung auf einen steigenden Wohlstand erwartet wurden. Als ›intensivismo‹-Kampagne wurde auf Kuba der Einsatz repressiver Gewalt und die weit verbreitete Korruption bezeichnet, die gezielt dazu eingesetzt wurden, um die Fähigkeit der Arbeiterschaft einzuschränken, ihre Löhne und Arbeitsbedingungen zu verteidigen. Insbesondere wurde die korrupte Führung der kubanischen Gewerkschaften nur dann als ein Problem betrachtet, wenn sich diese gegen Stellenabbau und Lohnkürzungen einsetzte. Dies geriet jedoch im Lichte ihrer späteren Unterstützung für das Regime schnell in Vergessenheit. Da sich das britische Außenministerium über die Erfolge der revolutionären Rebellen in Kubas Bergen im Kampf gegen Batista in zunehmendem Maße besorgt zeigte, tat es alles in seiner Macht stehende, um diesen zu unterstützen. Dazu zählten auch Lieferungen von Panzern und Kampfflugzeugen, selbst nachdem die USA derartige Waffenexporte 1958 (zumindest offiziell) durch ein Embargo gestoppt hatten. Nachdem aber Batista am 1. Januar 1959 aus Kuba geflohen war und die Rebellen unter der Führung Fidel Castros gesiegt hatten, gewöhnte sich die britische Diplomatie (trotz ihrer Abscheu gegenüber der Revolutionsregierung) rasch an die neue Realität. Es gelang ihr, einen kommerziellen Vorteil gegenüber den USA zu erzielen: So wurden Verbündete des Kalten Krieges zu Rivalen im wirtschaftlichen Wettstreit.
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Die US-Regierung hatte während des Zweiten Weltkrieges reformistische Regimes in Lateinamerika toleriert, um deren für den Krieg gegen das nationalsozialistische Deutschland und das faschistische Italien zu gewinnen. Progressiv orientierte Regierungen Lateinamerikas hatten sozialstaatliche Maßnahmen eingeführt und den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern das Recht gewährt, sich gewerkschaftlich zu organisieren. Solange die Sowjetunion im Zweiten Weltkrieg ein Alliierter der USA war, duldeten die USA auch die Beteiligung von Mitgliedern der Kommunistischen Partei (KP) Kubas an der Regierungskoalition, die sich 1940 unter der ersten Präsidentschaft Batistas formiert hatte. Dies änderte sich allerdings grundlegend nach der Niederlage der Achsenmächte, als die Sowjetunion schnell zum neuen ›totalitären‹ Feind des selbst ernannten ›freien Westens‹ wurde. Um die neue Situation nach Kriegsende auszunutzen, suchten Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber sowie konservative Regierungen in mehreren Ländern Lateinamerikas nach Wegen, die während des Krieges beschlossenen Reformen rückgängig zu machen und die Rentabilität unter den ökonomisch schwierigen Umständen der Nachkriegszeit wiederherzustellen. Die antikommunistische Hysterie, die geschürt wurde, um die veränderte US-Politik gegenüber der Sowjetunion zu rechtfertigen, wurde auch von herrschenden Eliten in Lateinamerika eingesetzt. Es handelte sich dabei um den Versuch, die Gewerkschaften von linken Mitgliedern unterschiedlicher politischer Überzeugungen zu säubern und die übrig gebliebenen Führungspersönlichkeiten zu ›zähmen‹. Das Ziel war es, auf Kosten der Löhne und Arbeitsbedingungen der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer eine wirtschaftsfreundliche Atmosphäre wiederherzustellen und die Gewinnspannen zu steigern. Im Kontext der besonderen Umstände im Kuba der späten 1940er Jahre bedeutete dies unter den beiden Legislaturperioden der Auténtico-Partei (19441952) eine Mischung aus staatlicher Intervention und organisierter Kriminalität. Die Angriffe auf die kubanische Kommunistinnen und Kommunisten und andere militante Arbeiterinnen und Arbeiter diente deshalb zwei Zwecken: den kommunistischen Einfluss zu beseitigen und die Fähigkeit der Arbeiterinnen und Arbeiter zu mindern, ihre Rechte und Löhne zu verteidigen, die sie während des Zweiten Weltkrieges erreicht hatten. Zu Beginn der 1950er Jahre befand sich Kuba in wirtschaftlichen Schwierigkeiten, da die weltweite Zuckerproduktion die Nachfrage überstieg und die Zuckerpreise sanken (Pino Santos: 2008). Der Zucker war von zentraler Bedeutung für die kubanische Wirtschaft und der Einbruch seines internationalen Preises wirkte sich auf jegliche wirtschaftliche Aktivität auf der Insel negativ aus, was die Ar-
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beitgeberseite die Notwendigkeit einer Steigerung der Produktivität spüren ließ. Ein Bericht der britischen Botschaft brachte dies so zum Ausdruck: »[V]iele Beobachter waren der Ansicht, dass die Arbeiter eine bessere Behandlung erhielten, als es sich die Wirtschaft des Landes auf lange Sicht leisten könnte.«2 Der Bericht erwähnte außerdem, dass die kubanischen Arbeiterinnen und Arbeiter die am besten bezahlten in ganz Lateinamerika seien. Doch für die Mehrheit der kubanischen Arbeiterschaft schien dies lediglich der Normalzustand zu sein. Die Tatsache, dass deren Lebensstandard höher war als jener der peruanischen oder mexikanischen Arbeiterinnen und Arbeiter, führte zwar eventuell zu Solidaritätsbekundungen, doch es war höchst unwahrscheinlich, dass dies zu einer Bereitschaft führte, selbst Opfer zu bringen. Kuba hatte zu jener Zeit auch den höchsten Anteil an gewerkschaftlich organisierten Arbeiterinnen und Arbeitern in ganz Lateinamerika, wobei der kubanische Gewerkschaftsbund (Confederación de Trabajadores de Cuba, CTC) von der Regierung abhängig war und die meisten Auseinandersetzungen durch das Eingreifen des Arbeitsministeriums und nicht durch gemeinsame Verhandlungen gelöst wurden. Die CTC wurde von Generalsekretär Eusebio Mujal geleitet, der 1947/48 die Kommunistinnen und Kommunisten in der CTC bezwungen und durch eine Mischung aus organisierter Kriminalität und Gönnerschaft der Regierung die Kontrolle über die Gewerkschaftsmaschinerie erlangt hatte. Mujal war bekannt dafür, durch und durch korrupt zu sein (Rojas Blaquier: 1983). Die britischen diplomatischen Berichte enthalten einige wenige Hinweise auf Morde an einem Dutzend kommunistischer Gewerkschaftsführer, die sich während Mujals Machtübernahme in der CTC ereigneten. Sogar der Bericht über den Mord an Jesús Menéndez, dem Generalsekretär des Verbandes der Zuckerarbeiter und wahrscheinlich wichtigsten Gewerkschafter Kubas, stellt schlicht fest: »Ich schreibe Ihnen dies nur, weil Sie eventuell weitere Beweise für die kubanischen Ideen von öffentlicher Moral und Gerechtigkeit benötigen mögen.«3 Die Gefühlskälte, mit der die Nachrichten der Ermordung kommunistischer Gewerkschaftsführer in London empfangen wurden, lässt sich anhand einer handschriftlichen Notiz auf diesem Bericht zeigen: »[A]b mit ihren Köpfen sagte die Herzogin« (ebd.). Mujal nutzte seine guten Verbindungen zur kubanischen Regierung, um genügend finanzielle Vorteile für die Arbeiterinnen und Arbeiter zu erhalten. So konnte er seine Führungsposition sichern und beweisen, dass er in dieser Hinsicht mindestens ebenso effizient wie die Kommunistinnen und Kommunisten
2
TNA/FO 371/103390-AK2181/1.
3
TNA/FO 371/67972-AN0684.
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war, die er zuvor ersetzt hatte. Die Berichte des britischen Botschafters aus dem Jahr 1952 sind voll von Kritik an den »endlosen, unverantwortlichen Forderungen der Arbeiterbewegung«4, für die er Mujal verantwortlich machte. Dieser »zwinge Präsident Prío seinen Willen auf und sichere sich die Zufriedenstellung all seiner Launen, wie unverantwortlich und schädlich dies auch für die langfristigen Interessen des Landes sein könnte.«5 Die geringe Produktivität war auch im 1951 von Francis Truslow verfassten Report on Cuba die größte Sorge. In diesem Bericht, der für die Internationale Bank für Wiederaufbau und Entwicklung erstellt wurde, wurde der Widerstand der Arbeiterinnen und Arbeiter gegen die Mechanisierung und andere Maßnahmen zur Produktivitätssteigerung deutlich als das Haupthindernis der kubanischen Wirtschaft identifiziert: »Mitarbeiter widersetzen sich heftig der Mechanisierung und den Kostensenkungsmethoden. ›Featherbedding‹ [d.h. die Einstellung von mehr Arbeitnehmerinnen und -nehmern als nötig, L.B.] wird gefördert und die Entlassung von Mitarbeitern aus legitimem Grund erschwert oder unmöglich gemacht. Während die Arbeiterschaft noch Lohnforderungen stellt, wird angenommen, dass sie in vielen Fällen die Grenze dessen erreicht haben, was die Arbeitgeber tolerieren werden. Eine Bewegung zur Anerkennung fairer Rechte der Arbeiterschaft hat sich seitdem zu einer Pyramide von Exzessen entwickelt, die viele der produktiven Vermögenswerte des Landes zu liquidieren droht.« (Truslow 1951: 10)
Der Bericht argumentierte, dass eine höhere Produktivität Investitionen anziehen und die Diversifizierung fördern würde, wodurch Arbeitsplätze geschaffen würden. Hinter dem Aufruf zu einer verstärkten Kooperation zwischen Arbeitgeberschaft und Arbeitnehmerschaft auf der Grundlage veränderter Einstellungen lag der konkrete Vorschlag, die Entlassung von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern einfacher, schneller und billiger zu machen. Die Statistiken zum Pro-Kopf-Einkommen verschleierten jedoch das Ausmaß der Ungleichheit und das permanent hohe Niveau der Arbeitslosigkeit und der Unterbeschäftigung. Das Vorhandensein einer großen ›Reservearmee von Arbeitslosen‹ berührte das Bewusstsein der arbeiteten Menschen sehr stark und die Frage nach der Sicherheit des Arbeitsplatzes war somit stets ein Hauptanliegen der gewerkschaftlich organisierten Arbeiterinnen und Arbeiter. In Anbetracht der Stärke der Gewerkschaften bestand kaum die Möglichkeit, dass der Truslow-Bericht von einer gewählten Regierung umgesetzt werden würde. Dies erforderte eher ein autoritäres Regime, welches die Empfehlungen des Berichts
4
TNA/FO 371/97515-AK1011/1.
5
TNA/FO 371/97516-AK1015/33.
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erzwingen konnte, die – zumindest auf kurze Sicht – zu einer deutlichen Erhöhung des bereits dauerhaft hohen Niveaus der Arbeitslosigkeit geführt hätten. Der Putsch, der Batistas Diktatur einläutete, wurde als Mittel interpretiert, um dies zu erreichen. Daher wurde der Putsch durch die britische Botschaft begrüßt: »Ich bin mehr und mehr davon überzeugt, dass der eigentliche Grund für die von den Streitkräften inszenierte Revolution ihre völlige Abscheu vor der wachsenden und unbeschränkten Macht der Arbeiterschaft war«.6 In einem weiteren Schreiben meinte die britische Botschaft: »Die Geschäftswelt, Industrie und Handel haben die neue Regierung begrüßt. [...] Wenn der Staatsstreich kommen musste, hätte ihrer Ansicht nach kein besserer Anführer gefunden und kein günstigerer Zeitpunkt gewählt werden können«.7 Mit dem Putsch konfrontiert, wechselte die Führung der CTC schnell die Seiten und Mujal wurde Batistas loyalster Kollaborateur. Als Gegenleistung für seine Unterstützung ließ die Regierung den Anhängern Mujals (mujalistas) großzügige Schmiergelder zukommen und verpflichte die Arbeitnehmerseite dazu, die Gewerkschaftsbeiträge in Form einer Zwangsabgabe vom Lohn der Arbeiterinnen und Arbeiter abzuziehen. Diese neue Einnahmequelle für die Führungsriege der CTC befreite sie vom Druck der einfachen Gewerkschaftsmitglieder. Die Regierung setzte ihrerseits auf ein Bündel repressiver Aktionen, um jeglichen Einfluss der Kommunistinnen und Kommunisten in der Gewerkschaftsbewegung zu unterbinden und sie als Konkurrenz auszuschalten, was ihr die Unterstützung durch Mujal und das britische Außenministerium einbrachte. Ein bedeutender Teil der Konflikte des Kalten Krieges im Kuba jener Jahre wurde auf dem Feld der organisierten Arbeiterbewegung sowie bei der Übernahme der CTC durch die mujalistas ausgefochten. Die darauffolgenden Säuberungen können gar als Teil einer antikommunistischen Offensive betrachtet werden. Die antikommunistischen Kräfte hatten nicht nur mächtige öffentliche Verbündete im Internationalen Kongress Freier Gewerkschaften (International Congress of Free Trade Unions, ICFTU) und seiner lateinamerikanischen Regionalabteilung, der Regionalen Interamerikanischen Arbeiterorganisation (Organización Regional Interamericana de Trabajadores, ORIT). Die hier verwendeten Quellen aus dem britischen Nationalarchiv zeigen außerdem, dass die antikommunistischen Kräfte im Britischen Gewerkschaftskongress (British Trades Union Congress) einen noch vertrauenswürdigeren Verbündeten hatten, der die Behörden mit nützlichen Informationen versorgte.
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Die CTC schloss sich dem ICFTU auf ihrem 6. Kongress im Jahr 1949 an und begann damit, die antikommunistische Arbeit der ORIT zu organisieren. Das Geld wurde von Batista zur Verfügung gestellt, der in dieser Hinsicht quasi als ›Geldwäscheservice‹ des US-Außenministeriums agierte. Eine wichtige Person war hierbei Serafino Romualdi, der öffentlich durch den Amerikanischen Arbeiterbund (American Federation of Labour, AFL) angestellt wurde und heimlich für den US-Geheimdienst CIA tätig war. Romualdi arbeitete eng mit Mujal und Bernardo Ibáñez vom chilenischen Gewerkschaftsbund beim Aufbau der ORIT zusammen. Romualdi erklärte in seiner Autobiographie, dass die Aufgabe der ORIT nicht nur im politischen Antikommunismus bestand, sondern auch in der Schaffung »eines neuen Typs des lateinamerikanischen Gewerkschaftsführers, der das übliche Konzept des Klassenkampfes verlassen und durch konstruktive Beziehungen zwischen den Arbeitern und den Arbeitgebern ersetzen würde« (Romualdi 1967: 5). Dies mag auch erklären, warum der ICFTU mit der Lage in Kuba unter Batista vollständig zufrieden war und das britische Außenministerium das »erfrischende Spektakel eines amerikanischen Diktators, der die Unterstützung der ICFTU genießt«, anmerkte.8 Mujals Antikommunismus sollte aber nicht als prinzipientreue politische Position interpretiert werden. Einst Mitglied der KP, schaffte es immer wieder, sich derjenigen Gruppe anzuschließen, die seine Karriereaussichten begünstigte. Seine opportunistische Annäherung an Batista sollte daher keine allzu große Überraschung gewesen sein. Die Logik einer Gewerkschaft, deren Praxis darauf basiert, eine gute Beziehung zum Staat aufrechtzuerhalten, erfordert bei jedem Regierungswechsel eine gewisse Neuausrichtung der Loyalität. Dies geschah im Fall der CTC nach dem Coup von Batista sehr schnell. Abgesehen von einigen einzelnen Streiks in besonders gut organisierten Arbeitssektoren wie der Textilindustrie in Matanzas und einiger separat organisierter Buslinien in Havanna kam es von gewerkschaftlicher Seite nur zu wenigen Reaktionen. Jedweder Widerstand der Arbeiterklasse wurde schnell isoliert und gebrochen. Die offiziellen Gewerkschaften organisierten eine Art symbolische Widerstands-Show, bei der Mujal erst einen Generalstreik ausrief, um diesen dann schnell abzubrechen, noch bevor die meisten Arbeiterinnen und Arbeiter überhaupt davon erfahren hatten. Nicht nur Mujal, sondern die Mehrheit der Gewerkschaftsbürokratie kam schnell zu einer Übereinkunft mit dem neuen Regime. Als Gegenleistung für diese Zusammenarbeit ignorierte Batistas Regierung die Korruption vollständig und verordnete – wie bereits erwähnt – obligatorische Gewerkschaftsbeiträge,
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die so genannte Gewerkschaftsquote (cuota sindical), welche die CTC-Führung unabhängiger von den einfachen Gewerkschaftsmitgliedern machten. Diese Maßnahme stellte sich jedoch als zutiefst unpopulär heraus und während der gesamten Regierungszeit Batistas wurde von den Arbeiterinnen und Arbeitern die Abschaffung der Gewerkschaftsquote gefordert. Die Hafenarbeiter von Havanna machten trotz des Eingreifens der Polizei eine so große Sache daraus, dass die Arbeitgeberseite der CTC schließlich das Geld auszahlte, ohne es vom Lohn abzuziehen. Die Abschaffung dieser Quote war denn auch eine der ersten Handlungen der Revolutionsregierung im Jahr 1959. Die 1950er Jahre waren in Kuba eine Zeit großer Spannungen und das Ausmaß des kommunistischen Einflusses war offenbar ein Anliegen, das dem britischen Botschafter große Sorgen bereitete. Dies zeigt sich etwa an dessen Freude, dass die Sängerin Josephine Baker, »diese heiße Gospelsängerin des Rassismus, Peronismus und Kommunismus«9 in Konflikt mit dem Militärgeheimdienst geraten war. Der Ordner des Dokuments, der diese Zeilen enthält, enthält jedoch eine handschriftliche Notiz, die darauf hinweist, dass »Herr Holman scheinbar ein bisschen zu hart mit Josephine Baker umgeht« (ebd.). Das Botschaftspersonal stand vor der sichtlich schweren Aufgabe, die Pressemitteilungen der kubanischen Regierung zum Einfluss des Kommunismus auf Kuba zu sichten. Denn Batistas Regierung war sich – in voller Gewissheit über die US-amerikanischen Ansichten zu diesem Thema – dessen bewusst, wie sie derartige Pressemitteilungen zu ihren Zwecken instrumentalisieren konnte, etwa wenn es um die Übertreibung der Stärke und Militanz der Sozialistischen Volkspartei (Partido Socialista Popular, PSP) ging, wie sich die kubanische KP damals nannte. Aus dem Tonfall der häufigen Berichte über den ›Kommunismus in Kuba‹ wird ersichtlich, dass die britischen Diplomaten dies durchschauten und – allgemein gesprochen – eine angemessene Einschätzung der relativen Schwäche des kubanischen Kommunismus in den 1950er Jahren hatten. Dennoch war das britische Außenministerium sehr dankbar für die repressiven antikommunistischen Aktionen des Batista-Regimes, welches es dafür lobte, die PSP schwach zu halten. Nach einer späteren Einschätzung des Economist bewegte sich Batista mit Bedacht.10 Er versuchte, die ›Rentabilität‹ wiederherzustellen, indem er die Arbeiterbewegung Stück für Stück bekämpfte. Damit wollte er sicherstellen, dass die Regierung das Kampffeld bestimmte, während jedwede Chance auf einen umfassenden Arbeitskampf verhindert wurde.
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10 The Economist, 27.5.1978, S. 21-23.
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Zu einem ersten Angriff kam es im Juli 1952, als die Regierung ohne Vorwarnung eines der beiden Busunternehmen Havannas unter militärische Kontrolle stellte, dessen Gewerkschaftschef Marco Hirigoyen verhaftete und 600 der 6000 Busfahrerinnen und Busfahrer entließ. Damit wurde einerseits einer von Mujals internen Rivalen aus der CTC entfernt, andererseits wurde eine der militantesten Gruppierungen von Arbeiterinnen und Arbeitern in der Hauptstadt eingeschüchtert. Mujal sollte so davon überzeugt werden, dass seine Zukunft auf der Seite des Regimes lag. Für die britische Seite war dies erfreulich, da sie zuvor in einen Skandal verwickelt war, den ein korrupter US-Geschäftsmann und einstiger CIA-Agent namens William Pawley ausgelöst hatte. Dieser hatte die kubanische Regierung davon überzeugt, ihm das Straßenbahnunternehmen Havannas zu überlassen und die Straßenbahnen durch Busse zu ersetzten. Die Verhandlungen über den Ankauf neuer Busse des britischen Herstellers Leyland Motors begannen Ende Januar 1950.11 Pawley geriet jedoch fast umgehend in finanzielle Schwierigkeiten, da er darauf zählte, Rechnungen zu begleichen, die seine Provision bei der Royal Bank of Canada betrafen, noch bevor die Busse ausgeliefert wurden. Als sich herausstellte, dass das nicht möglich war, fragte er bei den Briten einen Kredit an, der auf dieser Provision basierte. Das britische Finanzministerium stimmte zu, bis einer Höhe von einer Million britischer Pfund die Kredithaftung zu übernehmen.12 Auch bei den US-Behörden kam Pawley unter gewissen Druck, da er sich entschieden hatte, in erster Linie britische Busse zu kaufen. Im Juni 1950 hielt er sich in England auf, um den Vertrag mit Leyland zu unterzeichnen. Der US-Botschaft in London teilte er mit, dass er bereits über 200 Busse in den USA bei General Motors und Brill gekauft habe und dass die weiteren 620 von ihm benötigten Busse zu einem Preis von 8,5 Millionen US-Dollar von Leyland Motors geliefert werden könnten. Der Hauptvorteil des britischen Angebots war, dass die Finanzregelung durch die Exportkreditgarantieabteilung (Export Credit Guarantees Department, ECGD) des britischen Außenhandelsministeriums übernommen wurde. US-Banken, so behauptete er, hätten sich geweigert, Kredite zu gewähren. Er erklärte auch, die ganze Aktienschuld dieser Gesellschaft werde Eigentum der kubanischen Regierung sein, was eine Änderung der im März jenes Jahres übermittelten Informationen war, welche die kubanische Regierung nur zur Hälfte als Eigentümerin vorsahen.13
11 TNA/FO 371/81476-AK1372/1, AK1372/2, AK1372/3. 12 TNA/FO 371/81476-AK1372/4. 13 »Arrangement made by Ex-Ambassador William Pawley to acquire British-made buses for use in Cuba; Autobuses Modernos«. Aus: US-Botschaft London, Depesche Nr.
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Während die britische Regierung voller Vertrauen zu William Pawley schien, waren britische Geschäftsleute auf Kuba weniger begeistert. Der Geschäftsführer der Eisenbahngesellschaft United Railways of Cuba beklagte sich, dass die britische Regierung ihre Unterstützung für diese Regelung aussprach, während US-amerikanische Banken, die »Geld zum verprassen hatten«14 abgelehnt hatten, dieses anzurühren. Auch wurde davor gewarnt, dass es Probleme mit der Straßenbahnergewerkschaft geben würde, da in diesem Unternehmen der »Betrieb vollständig von seinen Mitarbeitern beherrscht wurde« (ebd.). Diesem Einwand wurde aber nicht die geringste Aufmerksamkeit geschenkt. Pawleys finanzielle Schwierigkeiten gingen indes weiter. Das ECGD und das britische Finanzministerium garantierten 85% aller Darlehen bis zu 800.000 USDollar, die Pawley von der Royal Bank of Canada erhielt, wobei er aber deutlich mehr benötigte.15 Pawley wandte sich dann an das kubanische Finanzministerium, um ein Darlehen für Betriebskapital zu erlangen. Trotz der anfänglich positiven Antwort des Ministers legte der kubanische Präsident ein Veto dagegen ein und Pawleys finanzielle Vereinbarungen wurden offengelegt, indem deren pyramidales System aufgedeckt wurde. Ende Oktober 1950 informierte er die britische Botschaft über seine Absicht, von dem Geschäft zurückzutreten und behauptete, der kubanische Präsident habe ihm seine Unterstützung verweigert und würde ihn nun auch nicht mehr empfangen wollen. Er sprach zudem von Schwierigkeiten mit den Gewerkschaftsführern, die er beschuldigte, nicht genügend kompetentes Fahrpersonal zu bekommen und dass dieses aus den ehemaligen Straßenbahnfahrern auszuwählen sei. Dies führte dazu, dass ein Drittel der 160 US-amerikanischen Busse aufgrund von Unfällen und dem Mangel an Reparaturen stillstanden. Britische Diplomaten schienen geneigt zu sein, Pawley beim Wort zu nehmen und nannten Präsident Prío einen »schäbigen kleinen kubanischen Politiker«.16 Die britische Regierung war in erster Linie darum besorgt, sicherzustellen, dass der Vertrag zum Ankauf der Busse von Leyland eingehalten wurde. Nach einem Treffen in den Büros von Leyland wurde vereinbart, dass der Vertrag unter der Voraussetzung, dass die Zahlungen erfolgten, nicht gekündigt werden würde.17
2958, 19.6.1950, online: http://www.latinamericanstudies.org/embassy/R34-2958-619-1950.pdf (6.7.2016). 14 TNA/FO 371/81476-AK1372/6. 15 TNA/FO 371/81476-AK1372/7. 16 TNA/FO 371/81476-AK1372/10. 17 TNA/FO 371/81476-AK1372/12.
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Da die finanziellen Probleme von Autobuses Modernos – wie die neue Busgesellschaft genannt wurde – in der Öffentlichkeit bekannt wurden, verstaatlichte die kubanische Regierung das Unternehmen sehr schnell, um einen weiteren Skandal zu vermeiden. Die finanziellen Vereinbarungen blieben indessen weiter unklar, aber ein durchgesickerter Bericht eines Mitarbeiters der Regierung bezifferte die Verluste auf eine viertel Million Pesos pro Monat. Außerdem hatte es Pawley anscheinend geschafft, die Busse, die er von der Miami Railway Company pachtete, als sein persönliches Eigentum zu registrieren, um sie schließlich an Autobuses Modernos für 20 Pesos pro Tag zu vermieten.18 Die britischen Behörden sahen aber immer noch keinen Grund, Pawley für das Debakel verantwortlich zu machen. Sie dachten, dass das Hauptproblem darin läge, dass »der Präsident, in den Pawley seine Hoffnungen gesetzt hatte, sich als ein geknicktes Schilfrohrrohr erwiesen hatte.«19 Lord Stokes, der Direktor von Leyland Motors, flog im November 1951 nach Havanna und weigerte sich, mehr Busse zu schicken, es sei denn, sie würden ihm sogleich in bar bezahlt werden. Da Pawley die Straßenbahnschienen hatte entfernen lassen, war er aus britischer Sicht in einer guten Verhandlungsposition. Mit Stokes Zustimmung sicherte sich die britische Regierung eine Hypothekenanleihe im Wert von 10 bis 15 Millionen US-Dollar auf Autobuses Modernos. Dies garantierte einen Deal, durch den die kubanische Regierung vor dem 31. Dezember 1951 zwei Millionen US-Dollar zahlen sollte, mit einer ersten Auszahlung von einer Million US-Dollar vor dem 1. April 1952 und dem Rest in Raten bis Juni jenen Jahres. Das war für die britische Diplomatie ein vollkommen zufriedenstellendes Ergebnis: Sie hatte eine beträchtliche Summe riskiert, um rivalisierenden USamerikanischen Busherstellern zuvorzukommen und sie hatte die Bezahlung der Busse gesichert. Und schließlich war auch Gewerkschaftsführer Marco Hirigoyen, den sie als einen der Urheber ihrer Probleme ansahen, von der kubanischen Regierung aus dem Weg geräumt und mit einer Anklage wegen Mordes belastet worden, wodurch die britische Position gerechtfertigt wurde. Dies beeindruckte den britischen Botschafter so sehr, dass er berichtete, der öffentliche Verkehr Havannas sei »hinsichtlich der Bestechung, Ineffizienz und finanziellen Verluste ein himmelschreiender Skandal geworden.«20 Er berichtete weiter:
18 TNA/FO371/90793-AK1372/2. 19 TNA/FO 371/90793-AK1372/3. 20 TNA/FO371/97517-AK1015/38.
116 | S TEVE C USHION »[…] dieser Vorfall dient als ein Beispiel dafür, was von einem starken Mann in Kuba erreicht werden kann, der ohne Furcht vor Einschüchterung ist und der es darauf anlegt, die öffentlichen Versorgungsbetriebe von Gangstern und überflüssigen Elementen zu säubern. Es bleibt zu hoffen, dass ähnliche Maßnahmen, wenn erforderlich, zu gegebener Zeit getroffen werden, um die United Railways auf eine wirtschaftliche Grundlage zu stellen«. (Ebd.)
Bei den United Railways, deren Fall uns einen weiteren Einblick in diese Dynamiken bietet, handelte es sich um die Eisenbahngesellschaft Ferrocarriles Unidos (FFCC Unidos), die in der westlichen Hälfte der Kubas aktiv war. Das Unternehmen befand sich zu mehr als 50% in den Händen britischer Aktionärinnen und Aktionäre und war praktisch bankrott. Die britischen Eigentümer hatten seit einiger Zeit versucht, sich selbst und ihr verbliebenes Kapital aus dem Unternehmen herauszuziehen. Damit wurde das Unternehmen zu einer der wichtigsten Angelegenheiten des britischen Botschafters und es gab ihm einen weiteren Grund, freundlich über die Batista-Regierung zu urteilen: »[…] die Existenz einer starken Regierung in Kuba verbessert die Chancen für eine Beilegung der Ansprüche der United Railways erheblich, was durch die Haltung der organisierten Arbeiterbewegung in Kuba erschwert worden war«.21 Die Netzwerkinfrastruktur der FFCC Unidos war stark heruntergekommen und auf massive Investitionen angewiesen. Der Bericht und die Abrechnungen für die Jahre 1948/49 zeichnen das katastrophale Bild eines bankrotten Unternehmens, das unter staatlicher Aufsicht operierte und durch Subventionen am Leben gehalten wurde. Der sinkende Zuckerpreis, an den die Frachtkosten gebunden waren, sowie eine geringere Ernte führten zu Einnahmeverlusten beim Zucker von ca. einer halben Million britischer Pfund. Der Vorstandsvorsitzende beklagte, dass »die größte Schwierigkeit in der Weigerung der Gewerkschaften liege […], zuzulassen, dass das Unternehmen grundlegende Sparmaßnahmen wie die Senkung der Löhne, die Entlassung von überflüssigem Personal und die Aufhebung unnötiger Dienstleistungen einführe.«22 Daraus folgerte der TruslowBericht, dass die Löhne und Arbeitsbedingungen der Arbeiterinnen und Arbeiter nicht mehr auf dem bestehenden Niveau aufrechterhalten werden konnten und ein Hindernis für weitere Investitionen darstellten. Im September 1949 gelang es der Geschäftsleitung von FFCC Unidos schließlich, 800 Entlassungen durchzusetzen und die Löhne auf das Niveau der Zeit vor 1945 zu drücken. Durch diese Maßnahmen konnte das Unternehmen bis
21 TNA/FO 371/97516/7-AK1015/9. 22 The Times, 30.11.1950, S. 10.
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1952 weitertorkeln, als es schließlich aufgrund steigender Schulden weitere Entlassungen und Frühpensionierungen vornahm. Das seit dem Putsch im März 1952 regierende Batista-Regime billigte einen nach seinem Verfasser Luis Chiappy benannten Plan, um die unmittelbare finanzielle Zukunft des Unternehmens zu sichern. Demzufolge übernahm die Regierung 51% der Anteile von FFCC Unidos und handelte ein Darlehen mit der Bank of America und der Hannover Bank aus, um die Rechnungen mit den britischen Aktionärinnen und Aktionären zu begleichen.23 Zusätzlich zu diesen Maßnahmen kündigte die Regierung ihre Absicht an, die im ›Chiappy-Plan‹ beschriebenen Entlassungen durchzusetzen. Da die Arbeiterinnen und Arbeiter noch von der Reaktion ihrer Gewerkschaft im Jahr 1949 enttäuscht waren, stellten sie aus einfachen Mitgliedern ein Streikkomitee (comité de lucha) auf die Beine, das Ende Juni 1953 einen Streik ausrief. Die Regierung reagierte mit einem Eingreifen des Militärs und dekretierte, dass alle, die nicht sofort an die Arbeit zurückkehrten, sofort entlassen werden würden. Javier Bolaños, der Präsident der Eisenbahnergewerkschaft Hermandad Ferroviaria, rief die Arbeiterinnen und Arbeiter an ihren Arbeitsplatz zurück und betonte zugleich, er werden alles Notwendige tun, damit die Reduzierung der Betriebsmitglieder »strikt auf die Zahl beschränkt werde, die das Unternehmen benötigte.«24 Am 26. Juli 1953 griff eine bewaffnete und von Fidel Castro angeführte Truppe die Moncada-Kaserne in Santiago de Cuba an. Im Schatten der darauf folgenden Repressionen seitens der Regierung zwangen die Behörden die Arbeiterinnen und Arbeiter zur Rückkehr an ihre Arbeitsplätze und es kam zu weiteren Entlassungen im August jenes Jahres. Batistas Regime zeigte sich schließlich noch entgegenkommender, als es die verlustträchtigen FFCC Unidos verstaatlichte und dafür eine Entschädigung von 13 Millionen US-Dollar in bar zahlte.25 Dies stellte aus der Sicht der britischen Diplomatie eine weitere zufriedenstellende Lösung dar und gab der Botschaft einen guten Grund, um ihre Unterstützung Batistas auszuweiten – vor allem, da er die Bahngewerkschaften besiegte und Arbeitsplatz- und Lohnkürzungen durchsetzte, welche die britische Seite stets als erforderlich angesehen hatte. Es scheint eine Art Volkssport der britischen Oberschicht zu sein, den Arbeiterinnen und Arbeitern für ihre eigenes schlechtes ›Marketing‹ und den inkompetenten Betrieb der Eisenbahn die Schuld zuzuschieben.
23 TNA/FO 371/103386. 24 Noticias de Hoy, 17.7.1953, S. 5. 25 TNA/FO 371/108989-AK1011/1.
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Die Gewerkschaftsbürokratie akzeptierte die Niederlage der Arbeiterinnen und Arbeiter der Bahn- und Busunternehmen sowie das Verbot, bei der Parade am 1. Mai aufzumarschieren. Dies hatte zur Folge, dass es zu einer relativ ruhigen Phase kam. Batista gelang es, sich durch die Wahlen im November 1954 zu legitimieren und er war für die Briten eindeutig der bevorzugte Kandidat, denn er sei »die Art von Präsident, der am geeignetsten für das Land [war, L.B.]«.26 Nach den Wahlen stand das Regime vor zwei drängenden Probleme: Der fallende Zuckerpreis führte dazu, dass die Arbeitgeberschaft den Lohn- und Arbeitsplatzabbau besonders hartnäckig einforderte, da die geforderten Kürzungen während der Wahlen im Vorjahr weitgehend ignoriert worden waren. Darüber hinaus hatte auch die im US-Besitz befindliche Eisenbahngesellschaft Ferrocarriles Consolidados, die im östlichen Teil der Insel das Schienennetz betrieb, finanzielle Probleme, was bedeutete, dass die Eigentümer dieses Unternehmens nun ebenfalls ihre Lohnkosten und Personalzahlen senken wollten. Zu jener Zeit trat mit Fordham ein neuer britischer Botschafter sein Amt an. Er berichtete nicht sehr ausführlich über das Jahr 1955 – vermutlich, weil er sich gerade erst in sein Amt einarbeiten musste. Obwohl es sich um eine Zeit intensiver Klassenkämpfe auf Kuba handelte, verwies er nur auf »einige Arbeitsprobleme […], von denen keines zufriedenstellend gelöst wurde«.27 Das Jahr 1955 begann mit einer Unterbrechung des Bahnverkehrs auf der halben Insel und endete mit einem Streik von einer halben Million Zuckerarbeiterinnen und Zuckerarbeitern. Während des Jahres kam es auch zu militanten Aktionen von Bankangestellten, Telefonistinnen und Telefonisten, Busfahrern, Hafenarbeitern, Tabakrollerinnen und Tabakrollern, Brauereipersonal sowie Textilarbeiterinnen und -arbeitern. Mittels einer Mischung aus Korruption, Polizeigewalt und einer geschickten Politik unter dem Motto ›teile und herrsche‹ gelang es der Regierung unter Batista, diesen Arbeitskampf zu überstehen, während Arbeitsplatz- und Lohnkürzungen weiterhin umgesetzt wurden. Besonders wichtig war die Niederlage der Zuckerarbeiterinnen und -arbeiter im Dezember 1955. Nach Angaben der britischen Economist Intelligence Unit (1955: o. S.) gab es in der Arbeitgeberschaft viele, die dies nicht so interpretierten. Im Februar 1955 hatte die Economist Intelligence Unit gehofft, dass Batista »die Opposition der organisierten Arbeiterschaft ausschalten würde« (ebd.). Im Februar des darauffolgenden Jahres zeigte sie sich enttäuscht und meinte: »Ein Streik von 500.000 Zucker- und Hafenarbeitern wurde nach kurzer Zeit durch eine Entscheidung der Regierung zugunsten der Arbeiter beigelegt« (Economist Intelligence Unit 1956: o. S.).
26 TNA/FO 371/108990-AK1015/16. 27 TNA/FO 371/120115-AK1011/1.
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Nachdem ab 1956 wieder regelmäßig diplomatische Berichte über die innenpolitische Situation verfasst wurden, war die einzige wirkliche wahrgenommene Bedrohung ein Generalstreik, da Batista »die Unterstützung der Armee, der Großunternehmen und der Vereinigten Staaten hat.«28 Die legalen Oppositionsparteien stellten keine Bedrohung dar und waren hoffnungslos gespalten (Ibarra Guitart 2000) – trotz der Einschätzung des britischen Botschafters, dass der Opposition »zweifellos viele der besten Elemente der Intellektuellen und der höheren Berufsstände«29 angehörten. Unter Ausblendung der weit verbreiteten Polizeibrutalität und Korruption wurde berichtet, dass »man weit davon entfernt ist, das Gefühl zu haben, in einem Polizeistaat zu leben«30 und dass Batista »anscheinend die wahren Interessen seines Landes in seinem Herzen trägt« (ebd.). Diese Auffassung sollte durch die Ankunft Fidel Castros Ende des Jahres 1956 heftig erschüttert werden, auch wenn es einige Zeit dauerte, bis Analysen der Bedrohung durch die Rebellinnen und Rebellen im diplomatischen Gepäck auftauchten. Die Botschaft stand mit ihrer Unterschätzung der Bedrohung, die Castro und seine Truppen für Batistas Regime darstellen könnten, jedoch nicht alleine da. Ihre Einschätzung zu Beginn des Jahres 1957 lautete, dass »die jüngsten Ereignisse, welche die Aufmerksamkeit auf die Stimmung gegen Batista auf der Insel lenken, uns nicht von der grundsätzlichen Stärke der Regierung ablenken sollten.«31 Dies erwies sich in den ersten schwierigen Tagen für die Rebellinnen und Rebellen in der Sierra Maestra als korrekt. Als die Rebellenarmee jedoch im weiteren Jahresverlauf an Größe und Wirksamkeit wuchs, wurden die diplomatischen Berichte zunehmend besorgter, dass »es wenig Aussicht auf eine Verbesserung gebe, solange die kubanische Regierung so schlecht mit diesen Angelegenheiten umgeht wie bisher.«32 Die Botschaft erkannte die kontraproduktive Art der Polizeibrutalität und akzeptierte, dass »es nicht einfach ist, die Polizei davon abzubringen, rechtswidrige Methoden anzuwenden, wenn der Terrorismus grassiert« (ebd.). Im April 1958 war sich der Vizekonsul in Santiago de Cuba vollkommen darüber im Klaren, dass die Situation in den Provinzen immer prekärer wurde und dass »jeder, gleich ob reich oder arm, für Castro zu sein scheint.«33 Trotz
28 TNA/FO 371/126467-AK1015/1. 29 TNA/FO 371/126467-AK1015/28. 30 TNA/FO 371/126466-AK1012/2. 31 TNA/FO 371/126467-AK1015/8. 32 TNA/FO 371/126467-AK1015/28. 33 TNA/FO 371/132164-AK1015/20.
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seiner Meinung, dass »die derzeitige Regierung mehr für Kuba getan hat als alle bisherigen zusammengenommen«34, erkannte der Vizekonsul, dass »einer der Gründe, dass die Rebellen so viel Immunität genossen haben, am äußerst armseligen Typ Mensch liegt, der in der kubanischen Armee dient. Sie sind bewaffnet und leben wie die Made im Speck, denn jeder von ihnen ist ein korrupter Schieber und er ist nicht darauf erpicht, erschossen zu werden« (ebd.) Eine Armee, deren Hauptaufgabe die Unterdrückung ihrer Mitbürgerinnen und Mitbürger ist, neigt dazu, korrupt und demoralisiert zu sein. Somit war Batistas Armee im Kampf nicht besonders effektiv, als sie es mit gut trainierten und politisch motivierten Guerillas zu tun bekam, die in der zweiten Hälfte des Jahres 1958 sehr schnell die militärische Oberhand errangen. Der Botschafter selbst beklagte die Tatsache, dass »die Armee nicht zu heroischen Taten neigt.«35 Noch bevor der militärische Erfolg der Rebellinnen und Rebellen offensichtlich wurde, war es zu zwei Versuchen eines Generalstreiks gekommen, um die Regierung zu Fall zu bringen. Einer davon wurde im August 1957 infolge der Ermordung von Frank País organisiert, dem Anführer des urbanen Widerstands in Santiago de Cuba. Der Streik war im Osten der Insel kurzzeitig erfolgreich, konnte sich aber nicht nach Westen und somit in die Hauptstadt ausbreiten. Der zweite Versuch im April 1958 wurde für die Rebellenbewegung zu einem Desaster. Diese Rückschläge zeigen, wie wichtig die Unterstützung von Mujal und der CTC-Bürokratie für Batista waren. Die Kontrolle der formellen Gewerkschaftsstrukturen hatte dem Regime anfangs ein gewisses Maß an Legitimität verliehen, aber Mujals Machtmissbrauch machte ihn schließlich zum am meisten gehassten Mann auf Kuba nach Diktator Batista. Seine Kollaboration mit der Regierung bei der Zustimmung zur Mechanisierung der Arbeitsabläufe und anderer Maßnahmen zur Produktivitätssteigerung sowie sein Versagen, den Arbeiterinnen und Arbeitern die Vergütungen zu sichern, die viele von ihnen als den ihnen zustehenden Anteil an einer moderat prosperierenden Wirtschaft betrachteten, zeigten die Schwächen von Mujals Führung der Gewerkschaften auf. Zugleich gewann die Rebellenbewegung dadurch bei den ›einfachen‹ Arbeiterinnen und Arbeitern an Unterstützung. Allerdings konnte diese Unterstützung nicht als selbstverständlich betrachtet werden und die Arbeiterinnen und Arbeiter würden keinen Streik unterstützen, den sie als offensichtlich selbstmörderisch erkannten. Sich in Batistas Kuba an einem Streik zu beteiligen, konnte eine Entscheidung zwischen Leben und Tod sein und die Arbeiterinnen und Arbeiter mussten ein gewisses Vertrauen in ihre
34 TNA/FO 371/132164-AK1015/28. 35 TNA/ FO 371/132.164-AK1015/44.
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Überlebenschancen und in ihre Aussichten auf Erfolg haben, um zu einem Ergebnis zu gelangen, das ihren politischen und wirtschaftlichen Interessen entsprach. In seinen Berichten bezog sich der britische Botschafter häufig auf den Wohlstand Kubas in den 1950er Jahren sowie auf den deutlichen Anstieg der USInvestitionen. Dieser scheinbare Wohlstand verschleiert die Auswirkungen auf Individuen und sozialen Gruppen, die ausgegrenzt wurden (Ibarra Cuesta 1998: 5-20). Die eigentliche Frage aber lautete: ›Wohlstand für wen?‹ Die Produktivitätssteigerungen, die zu einer Steigerung der Rentabilität beigetragen hatten, wurde durch Entlassungen, eine höhere Arbeitsbelastung und längere Arbeitszeiten erreicht, wofür die gleichen oder niedrigere Löhne gezahlt wurden. Der Anstieg des Pro-Kopf-Einkommens, kombiniert mit einer höheren Arbeitslosigkeit und stagnierenden Löhnen für Arbeiterinnen und Arbeiter, bildeten eine Zunahme der Ungleichheit ab. Die Arbeiterinnen und Arbeiter waren sich sehr genau dessen bewusst, wie schwer sie für ihren Lohn arbeiten mussten und wie leicht sie auch ihre Arbeit verlieren konnten, wobei die Arbeitslosigkeit bereits bei 20% lag. Es gab auch eine moralische Dimension des Wohlstands: Ein signifikanter Teil der Investitionen der USA flossen in die Tourismusindustrie, die stark auf Prostitution und Glücksspiel gründete, in die in hohem Maße die Mafia involviert war (Cirules 1993). Das gibt jedoch die zur Verfügung stehende diplomatische Korrespondenz nicht wieder. Während es also aus der Perspektive des Botschafters so schien, als »genieße die organisierte Arbeiterschaft Wohlstand und Privilegien, die ihr zuvor unbekannt waren«36, erinnerten sich im Jahr 1958 viele Arbeiterinnen und Arbeiter an die kürzeren Arbeitswochen und den höheren Lebensstandard in der Zeit vor Batistas Putsch. Die Niederlage in den größeren Klassenkämpfen (als welche die Arbeitskämpfe von 1955 interpretiert werden können) wurde als Signal empfunden, dass gewaltloser Gewerkschaftsaktivismus keine gangbare Option mehr war und dass die Arbeiterschaft, wenn sie der Produktivitätssteigerungsoffensive der Unternehmer etwas entgegensetzen wollte, bewaffnete Unterstützung benötigte. Beginnend in der östlichen Provinz Oriente gelang es der Rebellenbewegung, eine beeindruckende Untergrundbewegung von Arbeiterinnen und Arbeitern aufzubauen (Comisión Nacional de Historia 1980), was auch als kurze Anmerkung in einem Bericht des Vizekonsuls in Santiago de Cuba zu dessen Reise nach Guantánamo zu finden ist. Allerdings erschwerte der geheime und regionale Cha-
36 TNA/FO 371/126467-AK1015/8.
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rakter dieser Organisation deren Enttarnung von Havanna aus, wo Mujals Kontrolle der offiziellen Arbeiterbewegung gesichert schien. Die Unterstützung der Arbeiterklasse für die Rebellinnen und Rebellen hing von deren militärischen Erfolgen ab. Die britische Regierung versuchte diese Erfolge zu verhindern, indem sie Batista ab 1958 mit Panzern und Sea FuryKampfflugzeugen versorgte, obwohl sie zu dem Schluss gelangt war, dass »wir nicht beliebt sein werden, wenn wir den Kubanern Comet-Panzer verkaufen.«37 Die prognostizierte Unbeliebtheit erwies sich als zutreffend. Die BBC schnappte Berichte von Radio Rebelde auf, dem Radiosender von Castros Guerillatruppe. Darin wurden die Briten für ihren Verkauf von Kampfflugzeugen kritisiert, während damals doch sogar die USA ein Waffenembargo verhängt hatten. Außerdem rief Radio Rebelde zum Boykott britischer Unternehmen auf, allen voran von Shell, das in Kuba von einem alten Freund und Verbündeten Batistas geleitet wurde. Der damalige US-Botschafter Earl Smith gab dem britischen Botschafter insgeheim zu verstehen, dass »er persönlich hofft, dass wir die Waffenlieferungen an Batista fortsetzen werden.«38 Eine derartige britisch-amerikanische politische Zusammenarbeit zeigte sich jedoch nicht auf dem Gebiet des Handels, wo es eine beachtliche Konkurrenz gab. Wie oben bereits erwähnt wurde ungeachtet des Drucks des US-Botschafters, der eifrig auf ein Konkurrenzangebot von General Motors drängte, ein Vertrag mit British Leyland Motors vereinbart, um Havanna mit 620 neuen Bussen zu beliefern. Dieser Deal überlebte den Sturz Batistas und linderte 1959 erheblich den Zorn der neuen Rebellenregierung, welche die Sea Fury-Flugzeuge noch in den Kisten der Docks in Havanna vorfand. Es wurde eine endgültige Versöhnung arrangiert und der Boykott während eines privaten Treffens zwischen Fidel Castro und dem britischen Botschafter beendet. Der britische Botschafter empfahl der britischen Regierung anschließend mittels der Heilsarmee eine »wohltätige Spende, um den kubanischen Familien zu helfen, die in den jüngsten Kämpfen gelitten hatten.«39 Die vorherrschende Meinung jener Zeit – dass die politische Macht in Lateinamerika nur unter der Kontrolle der Armee und der Politikerelite den Besitzer wechseln konnte – brach an Neujahr 1959 in sich zusammen, als Fidel Castro einen überaus erfolgreichen Generalstreik ausrief, der verhinderte, dass die »USBotschaft diskret versucht, eine Junta hochrangiger Offiziere zu unterstützen, die Anhänger Batistas und Castros sind, um eine provisorische Regierung zu bil-
37 TNA/FO 371/132165-AK1015/38. 38 TNA/FO 371 132165-AK1015/62. 39 TNA/FO 371/139399-AK1015/52.
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den.«40 Zugleich gewann Castro auch die vollständige Kontrolle über die CTC (Alexander 2002: 161-173), als – wie der diplomatische Bericht es formulierte – »die organisierte Arbeiterschaft auf den fahrenden Zug aufsprang.«41 Die britische Regierung erkannte die neue Regierung Kubas am 7. Januar an. Der Ton, in dem sie dies tat, hätte aber einem Botschaftsbericht des Jahres 1951 entstammen können: »Was die Arbeiterschaft betrifft, höre ich von allen Seiten, dass sie vollständig außer Kontrolle gerät […] es scheint, dass die nationale Wirtschaft ernsthaft bedroht werden wird, wenn die Produktivität nicht gesteigert und die Löhne in gewissen Grenzen gehalten werden.«42 Trotz der britischen diplomatischen Berichte, die Castros Rede bei einer Veranstaltung der CTC als »erschreckende Erfahrung«43 bezeichneten und vermuteten, er verwende »Amphetamine oder ähnliche Mittel« (ebd.), waren beide Seiten pragmatisch genug, um eine Übereinkunft zustande zu bringen. Dies wurde wahrscheinlich durch das für beide Seiten bedeutsame Geschäft mit den Leyland-Bussen beschleunigt. Leyland hatte Ende 1958 mit der Batista-Regierung ein Einvernehmen erreicht, welches eine Lieferung von weiteren 300 Bussen nach Kuba vorsah, was aber durch den Sieg der Revolution in Frage gestellt wurde. Dennoch erbrachten die Verhandlungen zwischen Julio Camacho, dem neuen Verkehrsminister und ehemaligen Eisenbahner, und den Managern von Leyland die Unterzeichnung eines Vertrags über 200 Busse im Wert von 4,2 Millionen US-Dollar.44 Die britische Regierung erlaubte auch den Export von fünf bis dahin nicht gelieferten Sea Fury-Kampfflugzeugen im Mai 1959. Eine hübsche Ironie des Schicksals war es, dass jene Kampfflugzeuge zum ersten Mal in der Schlacht gegen die von den USA orchestrierte Invasion der Schweinbucht zum Einsatz kamen: Darin kämpften auf Seiten der Exilkubaner auch viele ehemalige Anhänger des Batista-Regimes, für welche die Kriegsflugzeuge ursprünglich gedacht gewesen waren. Es kommt heute selten vor, dass auf die Batista-Regierung ein positives Licht geworfen wird. Die diplomatischen Berichte der 1950er Jahren aus Kuba aber zeigen die britische Regierung als entschiedenen Befürworter der Diktatur, die in ihren Augen ihren kommerziellen Interessen diente, indem sie die Arbeitskosten senkte und damit die Rentabilität der britischen Investitionen steigerte. Zugleich
40 TNA/FO 371/132165-AK1015/77. 41 TNA/FO 371/132165-AK1015/47. 42 TNA/FO 371/132165-AK1015/93. 43 TNA/FO 371/132165-AK1015/59. 44 TNA/FO 371/139471-AK1223/25.
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passte Batistas Antikommunismus gut in das Konzept der britischen Außenpolitik während des Kalten Krieges. Trotzdem gab es innerhalb des Batista-Regimes einen zentralen Widerspruch: Um sich an der Macht zu halten und seinen Plan zur Erhöhung der wirtschaftlichen Produktivität umzusetzen, benötigte das Regime die Unterstützung der Gewerkschaftsbürokratie. Doch wenn es die Arbeitsbedingungen der Arbeiterinnen und Arbeiter so schnell und so drastisch angegriffen hätte, wie dies die Arbeitgeberschaft wünschte, hätte sie die Unterstützung riskiert, für die Mujal und dessen weitere Gewerkschaftsführer sorgen konnten. In Anbetracht der ständigen Spaltungen innerhalb der legalen Opposition und deren wenig überzeugenden Alternativen hätte das Regime wahrscheinlich überleben können, wenn es nicht zu der Krise gekommen wäre, die entstand, als der Guerilla-Aufstand in der Sierra Maestra das Gleichgewicht durcheinanderbrachte. Der brutale und letztlich erfolglose Versuch der kubanischen Armee, diesen Aufstand niederzuschlagen, verschärfte die krisenhafte Atmosphäre nur noch weiter. Letztlich führte die Spannung zwischen den Erwartungen seiner Anhängerschaft und den Schwierigkeiten, diese zu erfüllen, zu Batistas Sturz. Als jedoch deren Strategie und das Regime gescheitert waren, erscheint die Geschwindigkeit, mit der das britische Außenministerium eine Übereinkunft mit der neuen kubanischen Regierung erzielte, bemerkenswert. Die erfolgreiche Fortsetzung des Vertrags mit Leyland und die rasche Aufhebung des Boykotts von Shell zeigen die Fähigkeit der Briten, politische Abneigungen pragmatisch hinter wirtschaftlichen Notwendigkeiten zu verstecken.
A RCHIVQUELLEN TNA – The National Archives, Kew (London Borough of Richmond upon Thames) Foreign Office (FO) 317 (General Correspondence from Political and Other Departments from 1906-1966)
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Die deutsch-brasilianische Connection Eine geheime Kooperation zum Aufbau des brasilianischen Atomprogramms zu Beginn der 1950er Jahre C ARLO P ATTI
Zu Beginn des Atomzeitalters im Jahr 1945 begann Brasilien, einer der wichtigsten Lieferanten für nukleare Minerale, sich um die Entwicklung einer nuklearen Produktion zu bemühen, um die eigene Energieautonomie zu erreichen.1 Doch die Regierung in Rio de Janeiro sah sich mit der entschiedenen Opposition des Monopolisten atomarer Geheimnisse konfrontiert: den Vereinigten Staaten von Amerika. Zwischen 1946 und 1954 gelang es der US-Regierung, substantielle Formen der Kooperation mit diesen aufstrebenden nuklearen Neulingen effektiv zu unterbinden.2 Vor diesem Hintergrund entwickelte Brasilien 1951 eine klare Linie in der Atompolitik, um das US-Monopol zu überwinden. Dies geschah durch die Zusammenarbeit mit denjenigen Ländern, die sowohl über die Kenntnisse als auch über die Technologie zur Etablierung eines Atomprogramms verfügten und die sich darüber hinaus für Brasiliens Reichtum an nuklearen Mineralen interessierten. Freigegebene Dokumente verdeutlichen Brasiliens Ambitionen, über Beschaffungen im Ausland den Uranzyklus – vom Abbau des Urans
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Brasilien erhielt im April 1946 eine bedeutsame Kooperationsanfrage von einem privaten niederländischen Unternehmen, das Technisch Bureau S.K.F. mit Sitz in Rijswijk, das Kernkraftwerke zum Verkauf anbot. Memorandum von Ramiro Saraiva Guerreiro an den Chef der Politischen Abteilung, 2.4.1946. Arquivo Histórico do Ministério das Relações Exteriores, Rio de Janeiro (AHMRE-RJ) 524.25. Diversos do Ministério. 136/4/10. Divisão Política. Informações e Relatórios. 1939-47. Ich danke Alexandre Luís Moreli Rocha für die Bereitstellung dieses Dokuments.
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Zur Politik der USA der Nichtverbreitung von Kernwaffen zu Beginn des Atomzeitalters vgl. Bernstein (1974); Maddock (2010: 47-80).
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bis zur Produktion des Reaktorbrennstoffs – zu meistern. Dieses Ziel verkörperte für Brasilien das Versprechen nationaler Autonomie im Bereich der Produktion von Technologie und Maschinenanlagen zur Produktion von Atomenergie. Die Bundesrepublik Deutschland war zur Erreichung dieses Ziels ein Partner von entscheidender Bedeutung. Dieser Beitrag will klären,3 warum Brasilien 1951 sein Atomprogramm startete, welche Überlegungen hinter der Kooperation mit BRD standen und wie es den USA gelang, die Entwicklung eines autonomen brasilianischen Atomprogramms Mitte der 1950er Jahre zu behindern. Letzteres wurde durch den Widerstand gegen die Kooperation zwischen westdeutschen Forschungszentren und Rio de Janeiro verfolgt, sowie durch die Einbindung Brasiliens in das ›Atoms for Peace‹-Programm. Meine Arbeit hierzu basiert auf Primärquellen aus Brasilien, den USA, Deutschland und Großbritannien. Sie unterstreicht die Bedeutung dieses frühen Kooperationsprogramms für die spätere Entwicklung des brasilianischen Atomprogramms.
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Das Engagement Brasiliens im Bereich der Entwicklung von Nukleartechnik begann als Lieferant für Monazitsande zur Gewinnung von Thorium für das Manhattan-Projekt. Dies geschah auf der Grundlage eines geheimen Abkommens, das am 6. Juli 1945 während der Interamerikanischen Konferenz in Chapultepec (Mexiko) geschlossen wurde (Helmreich 1986: 49-57). Brasilien belieferte die USA mit atomaren Mineralen, bis die brasilianische Regierung in den 1950er Jahren eine neue Politik der ›spezifischen Kompensation‹ einläutete. Dies bedeutete, dass Brasilien – nunmehr unzufrieden mit seiner Rolle des bloßen Rohstofflieferanten für die nukleare Entwicklung anderer Länder – von da an verlangte, dass mit jedem Export strategischer Minerale als Gegenleistung ein Technologietransfer erfolgen musste, der die Entwicklung des brasilianischen Nuklearsektors fördern sollte.
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Teile dieses Aufsatzes wurden bereits auf Englisch veröffentlicht (Patti 2015). Die Recherchen für diesen Aufsatz konnten dank der freundlichen Unterstützung des Nationalrats für Wissenschafts- und Technologieentwicklung (Conselho Nacional de Desenvolvimento Científico e Tecnológico) durchgeführt werden (Förderung Nr. 446011/2014-2).
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Ernsthafte Diskussionen um das Atomprojekt begannen im Jahr 1949. Doch bereits im Jahr 1947 hatte der damalige Vorsitzende der Wissenschaftlichen Akademie Brasiliens und Repräsentant Brasiliens in der Atomenergiekommission der Vereinten Nationen, Admiral Álvaro Alberto, Präsident Eurico Gaspar Dutra einen ersten Entwurf für die Gründung eines Nationalen Atomenergierats (Conselho Nacional de Energia Atômica) vorgestellt. Die brasilianische Regierung entschied sich jedoch, keine Atomenergiekommission nach dem Vorbild der USA zu gründen, sondern die Atomenergie in die Prioritäten eines möglichen Nationalen Forschungsrates aufzunehmen. Im April 1949 legte eine Kommission namhafter Wissenschaftler unter der Führung von Álvaro Alberto dem Kongress einen Gesetzesentwurf vor, um einen solchen Forschungsrat zu schaffen. Nach zwei Jahren Diskussion billigte der Kongress das Gesetz und Präsident Dutra unterschrieb es schließlich am 15. Januar 1951 in den letzten Tagen seiner Amtszeit. Durch dieses Gesetz wurde der Nationale Forschungsrat (Conselho Nacional de Pesquisa, CNPq) unter der Leitung von Álvaro Alberto gegründet.4 Eines der zentralen Ziele des CNPq war die Koordination der nationalen Entwicklung der Atomenergie. Das Jahr der Billigung der neuen Gesetzgebung war ein entscheidender Moment für das politische System Brasiliens. Getulio Vargas, der von 1930 bis 1945 ein autoritäres Regime geführt hatte, war nun demokratisch zum neuen Präsidenten des Landes gewählt worden und trat am 31. Januar 1951 sein Amt an. Vargas war Nationalist und ein starker Verfechter des nuklearen Projekts, das Alberto vorangetrieben hatte. Alberto war zusätzlich Anführer der patriotischen Verteidigungsliga (Liga de Defesa Nacional) und unterhielt hervorragende persönliche Beziehungen zum neuen Präsidenten. Die enge Kooperation zwischen Präsident Vargas und Álvaro Alberto, der als Vorsitzender des CNPq dem Präsidenten direkt Rechenschaft ablegte, war die Grundlage für die Strategie, mit der das brasilianische Atomprogramm ins Leben gerufen wurde. Die politische Entwicklung sowohl von Vargas als auch von Alberto kann also als bestimmend für das Schicksal des brasilianischen Versuchs gewertet werden, die Erforschung nuklearer Energie zwischen 1951 und 1955 zu bewältigen.
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Das Gesetz Nr. 1310 vom 15.1.1951 etablierte den CNPq und trat am 17.4.1951 in Kraft, kurz nach Beginn der Präsidentschaft von Vargas (Batista Pereira 2013: 55).
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D IE E NTWICKLUNG DES ERSTEN NUKLEAREN P LANS UND DIE K OOPERATION MIT WESTDEUTSCHEN F ORSCHUNGSZENTREN Mitte des Jahre 1951 begann der erste nukleare Plan nach seiner politischen Billigung durch Vargas Form anzunehmen. Alberto und seine engsten Vertrauten begannen damit, ein Atomprojekt zu entwickeln, indem sie die wichtigsten zivilen Forschungszentren in Nordamerika und Westeuropa besuchten.5 Das Ziel dieser Reisen war es sowohl, ein institutionelles Modell für das entstehende Atomprogramm Brasiliens zu finden, als auch die Gewinnung internationaler Partner zur erfolgreichen Umsetzung des Plans. Alberto sah in den USA, welche den fortschrittlichsten Nuklearsektor der Welt und enge diplomatische Verbindungen zu Brasilien besaßen, den besten potentiellen Partner zur Ausbildung von Atomwissenschaftlern und zur Bereitstellung der entscheidenden Technologie und Materialien. Zur Vermeidung einer einseitigen Abhängigkeit von den USA entschied der Vorsitzende des CNPq, außerdem mit anderen Ländern wie Kanada, Frankreich, Italien und BRD zu kooperieren.6 Die Strategie Albertos war vorhersehend. Trotz intensiver Verhandlungen über den Handel mit nuklearen Mineralen und der Lieferung nuklearer Anlagen, die zwischen 1951 und 1954 in Washington stattfanden, entschieden sich die USA dazu, nicht mit Brasilien zu kooperieren. Das magere Ergebnis dieser Verhandlungen war die Ausbildung einer Handvoll brasilianischer Wissenschaftler an US-amerikanischen Universitäten und der begrenzte Ankauf von Ausrüstung und Materialien für brasilianische Laboratorien und die Uranforschung.7 Ein substantielleres Ergebnis der brasilianischen Missionen im Ausland resultierte aus einem Treffen Albertos mit Paul Harteck in den USA. Harteck war ein renommierter westdeutscher Wissenschaftler, der den Sohn von Alberto am
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Brasilianische Atomwissenschaftler besuchten gemeinsam mit anderen Mitgliedern des CNPq Forschungszentren in den USA, Kanada, Frankreich, Italien, BRD, Großbritannien, Belgien, den Niederlanden, Schweden und Norwegen. Im persönlichen Archiv von Álvaro Alberto (Arquivo Álvaro Alberto, Universidade de São Paulo, AA/USP abgekürzt) findet sich ein detaillierter, aber undatierter Bericht von dieser Mission. Bei Dokumenten aus dem elektronischen Archivkatalog wird zusätzlich die Nummer in eckigen Klammern angegeben [Q045009].
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Álvaro Alberto an Getulio Vargas. E.M. 723. Vertraulich. 10.11.1951. AA/USP.
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Lewis Strauss an Ribeiro de Carvalho. 24.9.1953. Emb. Washington/1122/592.01(22)/ 1953/Anexo Único. Energia Atômica. Tomo I. 1951/1953. AHMRE-B.
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Rensselaer Polytechnic Institute in Troy (US-Bundestaat New York) unterrichtet hatte. Vor seiner Auswanderung in die USA im Jahr 1951 war Harteck Rektor der Universität Hamburg und eine der wichtigsten Figuren im deutschen Atomprogramm während des Zweiten Weltkrieges.8 Mitte der 1940er Jahre hatte Harteck mit seinem Team einen Prozess zur Anreicherung von Uran entwickelt – die Methode der Ultrazentrifuge zur Uranisotopentrennung. Diese Technologie, welche die US-Amerikaner im Manhattan-Projekt zunächst für undurchführbar hielten, wurde letztlich in deutschen Laboratorien erfolgreich zur Produktion von angereichertem Uran eingesetzt.9 Als Alberto Harteck fragte, was er als beste Option für das brasilianische Atomprogramm erachtete, empfahl Harteck, dass Brasilien im Falle einer Verweigerung der Kooperation durch die USA westdeutsche Reaktoren nutzen solle, die mit angereichertem Uran befüllt würden, das in westdeutschen Ultrazentrifugen produziert wurde.10 Als die Option einer Zusammenarbeit mit den USA tatsächlich wegbrach, entschloss sich der Vorsitzende des CNPq zur Kooperation mit den Deutschen. Harteck reiste 1952 im Rahmen eines befristeten Arbeitsvertrags mit den Brasilianern in die BRD. Dort etablierte er ein Netzwerk zwischen dem CNPq und deutschen Forschungszentren, insbesondere in Bonn und Göttingen, wo Wilhelm Groth und Konrad Beyerle, frühere Kollegen Hartecks, im Geheimen die im Krieg getätigten Forschungen zu Ultrazentrifugen wieder aufnahmen.11 Es ist notwendig, festzuhalten, dass die westdeutsche Regierung laut der zugänglichen Quellen nicht in diese Verbindungen involviert war. Diese Mission war von entscheidender Bedeutung, um Alberto und weitere Mitglieder des CNPq von diesen Bemühungen zu überzeugen, welche die BRD von 1952 bis 1953 mehrfach besuchten. Im Sommer 1953 vereinbarten Groth, Beyerle und ihr Team, mit Brasilien zu kooperieren, indem sie brasilianische Wissenschaftler im Umgang
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Paul Harteck war einer von zehn deutschen Atomwissenschaftlern, die 1945 im Rahmen der Operation Epsilon sechs Monate lang durch die Alliierten in Farm Hall eingesperrt wurden. 1951 zog er in die USA (Walker 1995: 208-236; McPartland 2013).
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1943 wurde in deutschen Laboratorien eine Urananreicherung auf 5% erreicht, technische Probleme verhinderten jedoch eine Produktion in großem Umfang (Hentschel/Hentschel 2011: Anhang F, XXIX). Zu den Gründen der USA, die Forschungen zur Methode der Ultrazentrifugen-Anreicherung während des Zweiten Weltkrieges abzubrechen vgl. den Brief von Arthur H. Compton an Álvaro Alberto, 10.12.1958. AA/USP [Q071061].
10 Paul Harteck an Álvaro Alberto, 18.8.1952. AA/USP [Q071001]. 11 Paul Harteck an Álvaro Alberto, 27.2.1953. AA/USP [Q071002].
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mit Urananreicherungstechnologien und der Produktion von Uranhexafluorid (UF6) ausbildeten, das in den Zentrifugen zur Isotopentrennung genutzt wurde. Bereits vor Hartecks Mission versuchte Alberto, die internationale politische Lage zu nutzen, um andere renommierte deutsche Wissenschaftler für die Entwicklung von Brasiliens Nuklearplänen zu gewinnen.12 Ende 1951 flog eine brasilianische Delegation im Geheimen nach Deutschland, die von Oberst Orlando Rangel angeführt wurde, wichtigster Mitarbeiter Albertos und Repräsentant der Armee im CNPq. Dank der Zustimmung durch Brasiliens Präsidenten Vargas und der Unterstützung der USA konnte Rangel den Vorschlag machen, Werner Heisenberg und Otto Hahn anzuwerben, welche für die Entdeckung der Quantenmechanik und für die Kernspaltung den Nobelpreis erhalten hatten, außerdem weitere Wissenschaftler wie Karl Friedrich von Weizsäcker und Karl Friedrich Bonhoeffer. Es war nicht das erste Mal, dass ein lateinamerikanisches Land versuchte, bedeutende deutsche Wissenschaftler für sich zu gewinnen. Vor Brasilien hatte bereits Argentinien versucht, Werner Heisenberg anzuwerben, der 1947 nach Buenos Aires ziehen wollte, um gemeinsam mit weiteren deutschen Wissenschaftlern Peróns Atomprogramm zu etablieren. Damals untersagten die britischen Besatzungsbehörden jedoch seine Ausreise aus der BRD (Stanley 2002: 213). Im Gegensatz zur Zeit der Anfrage Argentiniens förderten westliche Behörden nun plötzlich die Emigration von Wissenschaftlern in die Amerikas. Die USA etwa veränderten Ende der 1940er Jahre radikal ihre Position, da sie befürchteten, der UdSSR würde es gelingen, Physiker, Chemiker oder Techniker des ehemaligen Atomprogramms der Nationalsozialisten für eine Kooperation mit den sowjetischen Atombemühungen zu gewinnen (ebd.: 214). Vor dem Hintergrund der Möglichkeit einer erneuten Zunahme der Spannungen zwischen den USA und der UdSSR in Deutschland als Folge des Koreakrieges wurde Brasilien im Jahr 1951 für Heisenberg und seine Kollegen als sicherer Hafen angesehen.13 Obwohl der Versuch der Anwerbung westdeutscher Wissenschaftler durch die US-Behörden in BRD unterstützt wurde, entschied sich Alberto gegen eine Einbeziehung des brasilianischen Außenministeriums, da er ein mögliches
12 Álvaro Alberto an Getulio Vargas (mit der Zustimmung von Vargas). E.M. 723-11951. Vertraulich. 10.11.1951. AA/USP [Q037004]. Im gleichen Dokument wird berichtet, dass der US-General, der für die Emigration deutscher Wissenschaftler verantwortlich war, diese Idee unterstützte, da Heisenberg und seine Kollegen zu jener Zeit »durch sowjetische Angebote verführt« werden könnten. 13 Álvaro Alberto an Getulio Vargas. E.M. 737. Vertraulich. 20.11.1951. AA/USP. [Q037015].
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Durchsickern von Informationen befürchtete.14 Er entsandte hingegen wie bereits erwähnt seinen persönlichen Vertrauten Orlando Rangel in die BRD, um herausragenden Wissenschaftlern eine zweijährige Mitarbeit zum Aufbau des brasilianischen Atomprogramms anzubieten. Werner Heisenberg und Karl von Weizsäcker sollten in diesem Zusammenhang ein neu zu schaffendes Institut für Theoretische Physik in São Paulo leiten. Dieses wurde im Juli 1952 eingeweiht und durch den Bundesstaat São Paulo sowie durch die militärischen Bundesbehörden finanziert.15 Diese Anwerbung machten den die USA keine Sorgen, wohl aber Großbritannien, das in eben jenem Jahr zur dritten Atommacht aufstieg. Auch wenn die Anwendung der Kenntnisse und der Erfahrung von Weizsäcker und Heisenberg der Industrie, dem Militär und der Verteidigung Brasiliens kurzfristig keine konkreten Resultate bringen sollte, so wurde doch befürchtet, dass die »offensichtlich enge Verbindung [des Instituts] mit dem Militär darauf hindeutet, dass seine Forschung sich als ›operationaler‹ und weniger ›rein‹ herausstellen [könnte], als sich man [zu jenem Zeitpunkt] erhoffte.«16 Die westdeutschen Wissenschaftler zerstreuten die britischen Bedenken, indem sie von Beginn an erklärten, ihr Interesse an einem Umzug nach Brasilien verfolge das Ziel, »ausschließlich zu friedlichen Zwecken zu arbeiten, aufgrund des drohenden Krieges in Europa.«17 Im Jahr 1952 bevorzugten sie letztlich doch, in der BRD am neuen dortigen Atomforschungsprogramm zu arbeiten, wie aus der Korrespondenz eines dieser Wis-
14 Es scheint von Bedeutung, darauf hinzuweisen, dass das Archiv des brasilianischen Außenministeriums über keine spezifischen Dokumente zu dieser deutschbrasilianischen Kooperation in den 1950er Jahren verfügt. Dies bestätigt den hohen Geheimhaltungsgrad der Operation, war außerdem durch ein diplomatisches Dokument belegt wird, siehe João Batista Pinheiro an den Generalsekretär. Memorandum Nr. 4. 4.1.1955. Geheim. S. 9. AHMRE-B, Energia Atômica, tomo II. 1951/1953. 15 W. Mitchell Carse (Britisches Generalkonsulat in São Paulo) an G. H. Thompson (Britischer Botschafter in Rio de Janeiro). 13.6.1952. Aus: The National Archives (TNA), AB 16 1079. Work on Atomic Energy in Countries other than U.K, U.S.A. and Canada. 16 W. Mitchell Carse (Britisches Generalkonsulat in São Paulo) an G. H. Thompson (Britischer Botschafter in Rio de Janeiro). 18.6.1952. TNA, AB 16 1079. Alle Ergänzungen in eckigen Klammern von C.P. 17 Álvaro Alberto an Getulio Vargas. E.M. 737. Contrato de técnicos alemães para o CNPq. Vertraulich. 20.11.1951. AA/USP [Q037015].
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senschaftler mit Alberto deutlich wird.18 Obwohl die Wissenschaftler Albertos Angebot letztlich nicht annahmen, besuchten mehrere von ihnen in den darauffolgenden Jahren Rio de Janeiro, um Vorträge zu halten oder an kurzzeitigen Forschungskooperationen teilzunehmen.19 1953 war ein entscheidendes Jahr für Brasiliens Atompolitik. Am 25. November 1953 billigte Präsident Vargas einen Plan zur Kooperation mit anderen Ländern, um sich alle Phasen nuklearer Energieproduktion aneignen zu können, einschließlich des Baus von Atomkraftwerken und der Ausbildung von Atomwissenschaftlern. Die Suche nach den Möglichkeiten der Entwicklung eines einheimischen und vollständig unabhängigen Atomprogramms war eine große Ambition von Brasiliens Repräsentanten aus Politik, Wissenschaft, Wirtschaft und Militär.20 Dank Brasiliens Überfluss an Bodenschätzen lassen die zugänglichen Dokumente darauf schließen, dass die Bemühungen zur Erreichung der atomaren Autonomie Brasilien mit einer neuen Energiequelle versorgt hätten, die von fundamentaler Bedeutung für das Wirtschaftswachstum des Landes gewesen wäre. Brasilien ähnelte anderen Entwicklungsländern dahingehend, dass die nationale Entwicklung als Grundbaustein der nationalen Sicherheit angesehen wurde.21 Entsprechend wurde die Kooperation mit der BRD als grundlegend angesehen. Das wurde bestätigt, als der CNPq 1953 einen Vertrag mit Forschungszentren in Bonn und Göttingen unterzeichnete, um drei Modelle von Zentrifugen zu erhalten, die durch das Unternehmen Sartorius gebaut werden sollten, und um brasilianisches Personal im Umgang mit diesen Anlagen auszubilden.22 Dies war
18 Karl Friedrich Bonhoeffer an Álvaro Alberto. 21.8.1952. AA/USP [C280001]. Weizsäcker besuchte Forschungszentren in Rio de Janeiro und São Paulo. 19 Álvaro Alberto an Caiado de Castro (Chef der Casa Militar). E.M. 639/1952-2. 30 June 1952. AA/USP [Q007032]. Die Casa Militar war der Sitz des Nationalen Sicherheitsrats. 20 Caiado de Castro an Getulio Vargas (Mit der Billigung von Vargas). E.M. 772. 25.11.1953. Geheim. AA/USP [Q085021]. 21 Ab diesem Zeitpunkt vereinte Brasilien die wirtschaftliche Entwicklung mit der nationalen Sicherheit. Dieses Gespann wurde zur Basis für Brasiliens Verteidigungsstrategie während des Militärregimes (1964-1985). Kürzlich erst unterstrich die 2008 veröffentlichte Nationale Verteidigungsstrategie die enge Verbindung zwischen Verteidigung und Entwicklung (Brazil, Ministério da Defesa 2008). 22 Groth sollte im März 1954 drei brasilianische Chemiker in Bonn empfangen. Laut des Vertrages zwischen dem CNPq und Groth sollten die Ultrazentrifugen in westdeutschen Laboratorien hergestellt und später von Groth und Beyerle in Brasilien zusammengebaut werden. Sie sollten ein Jahr in Laboratorien in Petrópolis (nahe Rio de
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nur einer der Bereiche eines Kooperationsprogramms, das auch geologische Prospektionen und mögliche Uranexporte von Brasilien in die BRD umfasste. Die geheime Kooperation zwischen westdeutschen und brasilianischen Institutionen sollte 1954 umgesetzt werden. Die noch von den Alliierten besetzte BRD und Brasilien, das zum ›Hinterhof‹ der USA gehörte, hatten äußerst triftige Gründe für eine Kooperation miteinander. Die beiden Staaten konnten Minerale gegen Technologie tauschen und die BRD konnte erneut ein Programm zu sensiblen Aspekten der Atomenergie starten, wie es die Urananreicherung für friedliche und militärische Zwecke war. Konrad Beyerle schrieb Alberto einige Jahre später, dass das deutsch-brasilianische Abkommen und die damit verbundenen finanziellen Ressourcen und Exportanreize Brasiliens die Forschung erleichterten, und dies trotz der Hürden, welche die Alliierten der Reaktivierung des westdeutschen Atomprogramms in den Weg stellten.23 Obwohl der damalige Kanzler Konrad Adenauer darauf verwies, dass »Deutschland nur friedliche Absicht auf atomarem Gebiet hat« (Rost Rublee 2009: 151), konnte Brasilien als relativ unverdächtiger Partner für westdeutsche Forschungszentren dienen, um Atomtechnik im Ausland zu entwickeln und zu erproben.
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DER USA GEGEN DIE A TOM KOOPERATION ZWISCHEN DER BRD UND B RASILIEN UND DAS E NDE DER NUKLEAREN P LÄNE Á LVARO A LBERTOS Anfang Juli 1954 wurde Álvaro Alberto mit ersten Hindernissen für Brasiliens nukleare Ambitionen konfrontiert. Mit der Erlaubnis von Vargas reiste Alberto in die BRD, um die Herstellung der Zentrifugen durch die Firma Sartorius zu beschleunigen und um die Autorisierung der Alliierten für den Export dieser Anlagen zu erlangen. Durch die guten Dienste, die Bernard Baruch ihm erwies, konnte Alberto sich am 9. Juli 1954 mit James B. Conant treffen, dem damaligen Hohen Kommissar der USA in der BRD. Bei diesem erkundete er sich nach der Möglichkeit des Baus von Laborgerätschaften zu Pilot-Ausbildungszwecken zur Produktion von Reaktorbrennstoff ohne militärische Zwecke, die nach Brasilien
Janeiro) verbringen, um brasilianische Wissenschaftler auszubilden. Álvaro Alberto an Wilhelm Groth. 20.3.1954. Vertraulich. 139/1954-2. AA/USP [Q071005]. 23 Konrad Beyerle an Alberto. 16.5.1961. AA/USP [Q071075].
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verschifft werden sollten.24 Conants Antwort war negativ. Alberto wurde mitgeteilt, dass die Lieferung ausschließlich durch die US-Atomenergiekommission (United States Atomic Energy Commission, USAEC) autorisiert werden könne. Den US-Amerikanern war die wahre Natur dieser ›Laborausrüstung‹ sehr wohl bekannt und sie waren an einer Zusammenarbeit mit dem westdeutschen Forschungszentrum interessiert, dem es im Gegensatz zu den USA bereits gelungen war, den Ultrazentrifugalprozess zu beherrschen. Techniker der USAEC unterrichteten die brasilianischen Behörden darüber, dass diese Ausrüstung aufgrund des Kontrollgesetzes, das die Alliierte Hohe Kommission 1950 erlassen hatte, nicht durch westdeutsche Laboratorien hergestellt werden konnte.25 Die Ultrazentrifuge würde eine Menge des Isotops 235U produzieren, die über den gesetzlich zulässigen Grenzwerten lag. Dies könne zur Produktion waffenfähigen Materials für militärische Zwecke durch die BRD und Brasilien führen. Den Brasilianern wurde zudem mitgeteilt, dass es nicht möglich sei, eine Beschwerde gegen die Entscheidung der USAEC einzulegen, da das Kontrollgesetz nicht nur durch die USA, sondern auch durch Frankreich und Großbritannien beschlossen worden war.26 Im Gegenzug versuchte die brasilianische Regierung, durch ein persönliches Treffen zwischen dem Präsidenten des CNPq und dem Vorsitzenden der USAEC ihre letzte Karte auszuspielen. Im Juli 1954 flog Alberto nach New York, wo er sich mit Lewis Strauss traf, der jedoch nach dem Gespräch dennoch dem Exportverbot zustimmte.27 Einige Wochen zuvor hatten die westdeutschen Wissenschaftler eine ähnliche Nachricht von den US-Behörden erhalten, die über die »Angelegenheit mit den Zentrifugen« (ebd.) besorgt waren. Brasiliens Versuch, diese Anlagen zu erwerben, war blockiert. Laut der persönlichen Unterlagen Albertos standen Groth und Beyerle, die beim CNPq unter Vertrag standen, zur Verfügung, um die Zentrifugen in Brasilien herzustellen, sollte sich das Verbot seitens der USA, sie in der BRD zu bauen, bewahrheiten (ebd.).
24 Comissão Parlamentar de Inquerito para Proceder a Investigações sobre o Problema da Energia Atomica no Brasil - Relatório. 1956. AA/USP [Q141009], S. 40-45. Zum Treffen zwischen Conant und Alberto siehe Burr (2015). 25 Das Gesetz Nr. 22 zur ›Überwachung von Stoffen, Einrichtungen und Ausrüstungen auf dem Gebiete der Atomenergie‹ trat am 15.3.1950 in Kraft. 26 Carvalho e Souza (Chef der Division für Politische und Kulturelle Angelegenheiten) an den Außenminister. Dok. 7. Geheim. 19.7.1956. AHMRE-B, Energia Atômica. Tomo II. 1951/1953. 27 Zu den Treffen zwischen Alberto und James B. Conant sowie Lewis Strauss vgl. auch Rocha Filho/Garcia (2006: 74-75).
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Zu diesem Zeitpunkt war sich das US-Außenministerium vollkommen über die geheime Kooperation zwischen dem CNPq und westdeutschen Universitäten im Klaren. Im Juni 1954 ließ ein Mitglied des CNPq die wichtige Informationen an die US-Botschaft in Rio durchsickern, »vier junge Chemiker beteiligten sich in Deutschland an einem Forschungsprojekt zur Zentrifugalmethode der 235UIsotopentrennung«28 und dass »dies als hoch geheime Angelegenheit durch mehrere Brasilianer betrachtet wird, die an dieser Operation beteiligt zu sein scheinen [da laut ihnen] die US-Behörden andernfalls strikter werden würden, da das Projekt die Besatzungsstatute verletzt« (ebd.). Robert Terrill, der auch für Atomenergiefragen zuständige Wirtschaftsattaché der US-Botschaft, informierte das Außenministerium, dass bedeutende brasilianische Wissenschaftler wie Djalma Guimarães und Francisco Maffei zu jener Zeit in der BRD waren, um an diesem Projekt zu arbeiten (ebd.). Das war der Anfang vom Ende von Albertos Atomplänen und der Beginn der US-Politik der Verweigerung sensibler Technologien zur Prävention der Verbreitung nuklearer Technologie (Burr 2015: 433). Das Problem der Ultrazentrifuge fiel in Brasilien mit einer Zeit tiefer politischer Wirren zusammen. Nach einer Reihe politischer Skandale, die seine Regierung betrafen, begann Präsident Vargas am 24. August 1954 Selbstmord. Vargas war ein großer Unterstützer von Albertos Plan gewesen und hatte fast alle Entscheidungen gebilligt, die der CNPq in Atomfragen getroffen hatte. Hausgemachte und externe Faktoren determinierten das Ende der ersten Phase des brasilianischen Atomprogramms. Eine der ersten Entscheidungen des Nachfolgers von Vargas, João Café Filho, war die Einsetzung von General Juarez Távora, dem Chef seines Militärkabinetts, zur Kontrolle nuklearer Aktivitäten. Während General Caiado de Castro, der Vorgänger von Távora, die Politik des CNPq enthusiastisch geteilt hatte, verhielt sich Távora, durch einige Abgeordnete und Mitarbeiter der US-Botschaft beeinflusst, genau gegenteilig. Das internationale Klima veränderte sich zu jener Zeit radikal, als USPräsident Eisenhower das ›Atoms for Peace‹-Programm lancierte und der Kongress der USA im August 1954 eine Änderung der gesetzlichen Bestimmungen zur Atomenergie beschloss, die eine Kooperation mit anderen Ländern ermöglichten. Diese Entscheidung der USA beeinflusste sowohl die Nuklearpläne Bra-
28 Robert Terrill an Gerard C. Smith. Streng geheimes Kabel. 7.6.1954. National Archives and Records Administration, College Park, RG 59, Finding Aid A1, Entry Number 3008/A, Records Relating to Atomic Energy Matters, Special Assistant to the Secretary for Energy and Outer Space (NARA S/AE), 21.10 Country File: Brazil a. General, 1953-54, Box 79.
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siliens als auch die Kooperation zwischen Brasilien und der BRD. Die Logik der neuen US-amerikanischen Politik bestand in einer Zusammenarbeit bei der friedlichen Nutzung von Atomenergie, schloss aber Technologien mit doppeltem Verwendungszweck, wie die westdeutschen Wissenschaftler sie vorgeschlagen hatten, aus. Brasiliens Interesse am Kauf der Gaszentrifuge und der Anlage für Uranhexafluorid wird aus den Diskussionen deutlich, die Edmundo Barbosa da Silva, Chef der Wirtschaftsdivision des brasilianischen Außenministeriums (Itamaraty)29 und Gerard C. Smith, Sonderassistent zu Atomfragen für den USAußenminister, Ende September 1954 in Washington führten. Barbosa, der Brasiliens diplomatischen Standpunkt vertrat, »gab [Smith] zu verstehen, dass er dachte, das [d.h. die Kooperation mit den Deutschen] mache keinen Sinn«30. Außerdem gab der brasilianische Diplomat an, »er habe seine Kollegen im Außenministerium informiert, dass derartige Anfragen in jedem Fall nach Washington gehen mussten« (ebd.). Am Ende dieses Treffens brachte Barbosa seine negative Meinung zu Alberto zum Ausdruck, indem er Smith sagte, »der Admiral werde wohl ins Trockendock gehen müssen« (ebd.). Wie der US-amerikanische Historiker William Burr anmerkt, entschied der Ausschuss für Militärische Sicherheit der Alliierten Hohen Kommission in Deutschland einen Monat nach dem Treffen zwischen Barbosa und Smith, den Sartorius-Werken nicht die Genehmigung zum Bau der Zentrifugen zu erteilen. Ende November 1954 wurde Brasiliens Regierung über diese Entscheidung informiert. In der Zwischenzeit hatte General Távora vor dem Hintergrund der Implementierung der Abkommen mit Frankreich und westdeutschen Universitäten um Erlaubnis gebeten, die brasilianische Atomenergiepolitik auf den Prüfstand zu stellen.31 Ein geheimes internes Dokument, das er in Auftrag gegeben hatte, stellte fest, dass einerseits die wissenschaftliche Gemeinschaft die Entscheidungen des CNPq unterstützte, die USA aber andererseits Brasiliens Nuklearstrategie nicht billigten (ebd.). US-Diplomaten sahen in Albertos Politik und die Kooperation mit westdeutschen Forschungszentren ein Hindernis für eine
29 Itamaraty ist der Spitzname des brasilianischen Außenministeriums. Es wurde nach dem vorherigen Außenministerium in der ehemaligen Hauptstadt Rio de Janeiro benannt, welches ebenfalls Itamaraty genannt wurde. Dieser Terminus wird vielfach im Alltagsgebrauch, aber auch in den Medien, in wissenschaftlichen Publikationen sowie auch im Ausland verwendet. 30 Gerard Smith an Robert Terrill. Luftpost. Offiziell – informell. Vertraulich. 12.10.1954. NARA S/AE, ebd. 31 Resposta dada ao deputado Aliomar Baleeiro pela Casa Militar no final de novembro de 1954. 3954-2. Geheim. AA/USP [Q1270072].
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mögliche Kooperation mit Brasilien. Diese Position wird aus geheimen Dokumenten ersichtlich, welche die US-Botschaft an Távora sandte und die später durch den parlamentarischen Untersuchungsausschuss zur Atomenergie im Juli 1956 offengelegt wurden. Die Sorge der USA wird aus der internen Korrespondenz zwischen dem Außenministerium und der US-Botschaft in Rio ebenfalls sehr gut deutlich. Der Wirtschaftsattaché der US-Botschaft in Rio de Janeiro, Robert Terrill, hielt »das brasilianisch-deutsche Uran 235-Projekt für [...] eine Verschwendung von Ressourcen, eine Verschwendung von Zeit und eine Verschwendung von Geld.«32 Das Dokument betonte insbesondere die möglichen Konsequenzen für Brasilien, sollte das Land sich dafür entscheiden, mit der BRD zu kooperieren. Die USA drohten mit dem Verbot jeglicher Kooperation und stuften diese als Sicherheitsrisiko für die USA und die Westliche Hemisphäre ein (ebd.). Die harte Linie Terrills schien nicht den Empfehlungen aus Washington zu entsprechen. Smith schrieb an Terrill: »die Atomenergiekommission ist derzeit dabei, die Informationen zur Zentrifuge als Teil der Festlegung einer präzisen Definition einer Produktionsanlage für die Ziele des Atomenergiegesetzes von 1954 einzustufen.«33 Nach der Unterzeichnung der Pariser Verträge im Oktober durfte die BRD schließlich derartige Anlagen bauen und ohne externe Beschränkungen nach Brasilien exportieren. Smith war nicht geneigt, die Brasilianer »zu einer raschen Lösung dieser Anfragen zu drängen« (ebd.) und er schloss: »Ich denke, wir sollten die brasilianischen Aktivitäten in Deutschland nicht behindern. Dennoch bringen sie sehr reale Probleme mit sich und es besteht durchaus die Möglichkeit, dass die neue brasilianische Regierung diese Aktivitäten neu bewerten und möglicherweise auch annullieren wird.« (Ebd.)
Obwohl Terrill sich nicht an den Rat Smiths hielt, blieb es bei dieser Position der USA. Die brasilianische Nuklearpolitik wurde neu gestaltet, um die Kooperation mit den USA entsprechend der Bedingungen zu priorisieren, welche brasilianische und US-amerikanische Repräsentanten seit August 1953 diskutiert hatten. Dennoch gilt es zu beachten, dass die Kooperation mit den europäischen Län-
32 Ofício nº 0215/Gab./81, 24.7.1956. Vom Chef der Casa Militar an den Präsidenten der Abgeordnetenkammer. Aus: Arquivo Pessoal Renato Archer (RA-CPDOC/FGV), DF 1956.02.10-XVI-A10. 33 Gerard C. Smith an Robert P. Terrill. Luftpost. Offiziell – Informell. Vertraulich. 12.10.1954. NARA S/AE, 21.10 Country File: Brazil a. General, 1953-54, Box 79.
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dern zu jener Zeit nicht vollständig aufgegeben wurde.34 General Távora unterstützte die Position der USA voll und ganz. Im Mai 1955, als westdeutsche Anlagenteile zur Verschiffung nach Brasilien bereit standen, zwang er Alberto, seinen Führungsposten im CNPq aufzugeben, nachdem diesem Misswirtschaft vorgeworfen worden war.35 Albertos Rücktritt bedeutete einen Triumph für die Vereinigten Staaten, die in ihm ein zentrales Hindernis für die Kooperation und – was weitaus wichtiger war – für den Zugang zu Brasilien als einem Lieferanten für Atomminerale gesehen hatte. Seit März 1953, als Alberto versucht hatte, Gegenleistungen für den Export von Thorium in die USA einzufordern und damit begonnen hatte, mit anderen Ländern Verhandlungen aufzunehmen, hatte das Außenministerium die Ersetzung des CNPq-Vorsitzenden durch einen US-freundlichen Nuklearwissenschaftler in Betracht gezogen. Dieser sollte in der Lage sein, die Struktur des CNPq zu reorganisieren und eine Abteilung zu schaffen, die sich ausschließlich der Atomenergie widmen sollte.36 Ab Mitte des Jahres 1955 »sollte Brasilien eine Politik der vollständigen Kooperation mit den Vereinigten Staaten verfolgen« (ebd.), zumindest eine Zeit lang. Nach dem Rücktritt Albertos wurde der CNPq reformiert und Angelegenheiten in Sachen Atomenergie wurden unter der Aufsicht der Atomenergiekommission (Comissão de Energia Atômica) reorganisiert.37 Es ist wichtig, darauf hinzuweisen, dass Alberto und der CNPq schon mehrere Monate vor seinem Rücktritt von den Verhandlungen mit den USA ausgeschlossen worden waren. Der brasilianische Außenminister, selbst kein Freund der von Alberto eingenommenen Verhandlungsposition, begann im Januar 1955 mit der Billigung
34 Zu den Verhandlungen zwischen den USA und Brasilien 1947-1953 siehe den langen Bericht E.M. 29 – 1953-2. Alberto an Vargas. 5.10.1953. AA/USP. Zur neuen Nuklearpolitik Brasiliens unter Präsident Café Filho siehe Távora an Café Filho N.98. 5.4.1955. Geheim. AHMRE-B, Energia Atômica, tomo II. 1951/1953. 35 Robert P. Terrill an Gerard C. Smith, 5.7.1955. NARA S/AE, 21.10 Country File: Brazil m. d. General 1955-56, sowie Drogan (2011: 228). 36 Robert P. Terrill an Gordon Arneson. 4.3.1953. Vertraulich. NARA S/AE, Country File: Brazil a. General, 1953-54. Box 79. 37 Portaria n. 46. 13.5.1955. Reserviert. Comissão de Energia Atômica. Cessão de Reator. Rio de Janeiro an Brasilianische Botschaft in Washington. 10.5.1955. Dec/De/Dpo. Geheim. 2085. AHMRE-B, Energia Atômica, tomo II. 1951/1953. Zu den ersten Verhandlungsversuchen über den Transfer eines nuklearen Forschungsreaktors siehe Raul Fernandes an Juarez Távora. 22.3.1955. G/DE/524.26. Geheim. AHMRE-B, Energia Atômica, tomo II. 1951/1953.
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Távoras, direkte Verhandlungen mit der US-Regierung aufzunehmen, als Teil einer bilateralen Kommission brasilianischer und US-amerikanischer Diplomaten. Vor dem Hintergrund der neuen US-Gesetzgebung erachteten die brasilianischen Diplomaten es als notwendig, den CNPq auszuschließen, was die Kooperation mit den USA über Forderungen nach »spezifischen Kompensationen«38 konditionieren würde. Auf der anderen Seite des Verhandlungstisches knüpften die USA die neuen Kooperationsbemühungen Brasiliens an den Aufbau einer exklusiven Beziehung zu den USA in Atomfragen. Für Brasilien war es unmöglich, eine derartige Voraussetzung zu akzeptieren, da der CNPq bedeutende Abkommen mit Italien, Frankreich und der BRD unterzeichnet hatte, die »im Falle der letztgenannten Länder mehrere Probleme mit den Besatzungsbehörden mit sich bringen« (ebd.). Um dem eindeutigen Ziel fruchtbarer Verhandlungen mit den USA näher zu kommen, war es nötig, »die brasilianische Position zu überprüfen« (ebd.). Gemäß des US-brasilianischen Militärabkommens, das am 15. März 1952 unterzeichnet worden war, durfte Brasilien keine »Kriegsmaterialien [...] an Nationen [exportieren], die Feinde des Friedens waren.«39 Es ist nicht klar, ob Westdeutschland vor den Pariser Verträgen von 1954 zu dieser Gruppe von Feinden zu zählen war, aber es schien sicher, dass die brasilianisch-deutsche Kooperation und die Lieferung von Uran an westdeutsche Forschungszentren den Westalliierten Probleme bereiten konnten. Washington konnte das Abkommen mit Rio de Janeiro unilateral aufkündigen und die Wirtschafts- und Militärhilfe, die von zentraler Bedeutung für die Modernisierung von Brasiliens Streitkräften war, zusammenstreichen. Nach fünfmonatigen Verhandlungen einigten sich die Vertreter Brasiliens und der USA durch einen Austausch diplomatischer Noten am 3. August 1955 auf den Export eines Forschungsreaktors und die Lieferung von Kernbrennstoff an Brasilien, im Austausch für die Lieferung von Atommineralen.40 Dieser Reak-
38 João Batista Pinheiro an den Generalsekretär von Itamaraty. Memorandum N. 115. Geheim. 6.1.1955. AHMRE-B, Energia Atômica, tomo II. 1951/1953. 39 Der Mutual Defense Assistance Control Act von 1951, auch U.S. Battle Act genannt, spezifizierte, dass die US-Regierung »Ländern, die zur militärischen Stärkung von Ländern beitrugen, die Feinde des Friedens waren, ihre Unterstützung entziehen« konnte. Bina Machado an Café Filho. 2.8.1955. E.M. 286. Geheim. AHMRE-B, Energia Atômica, tomo II. 1951/1953. 40 Raul Fernandes (brasilianischer Außenminister) an Dunn (US-Botschafter in Brasilien). 3.8.1955. DE/DAI/524.26. Geheim. AHMRE-B, Energia Atômica, tomo II. 1951/1953. Brasiliens Präsident Café Filho bewilligte umgehend den Notenaustausch.
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tor, den Brasilien im Jahr 1957 im Rahmen des ›Atoms for Peace‹-Programms erhielt, war der erste Atomreaktor in ganz Lateinamerika. Die Lieferung einer derart bedeutsamen technischen Anlage an Brasilien verdeutlicht die besondere Bedeutung der damaligen Beziehungen zwischen Washington und Rio de Janeiro. Der CNPq, nun nicht mehr unter der Führung von Alberto, begrüßte das Ergebnis der Verhandlungen. Wichtige Mitglieder der Atomenergiekommission waren schließlich an den finalen Details der Verhandlungen beteiligt.41 Die Wissenschaftler stimmten der Übereinkunft zu, da sie glaubten, das Prinzip der besonderen Kompensation respektiert zu haben, welches von Alberto etabliert worden war. Ein weiterer Faktor für die Bewilligung war, dass die Übereinkunft mit den USA bedeutete, dass brasilianische Wissenschaftler endlich damit beginnen konnten, mit einem Forschungsreaktor zu arbeiten und so das Niveau des brasilianischen Atomprogramms anzuheben. Dies bedeutete das Ende der Kooperation mit Westdeutschland. Die USA, welche über den fortschrittlichsten Nuklearsektor der Welt verfügten, konnten Brasiliens kurzfristiges Bedürfnis nach der Belieferung mit diesen unentbehrlichen Technologien und Materialien zufriedenstellen. Diese neue politische Ausrichtung und die von den USA aufgestellten Bedingungen markierten das Ende der ersten durch Álvaro Alberto geprägten Phase der Geschichte des brasilianischen Atomprogramms. Die Atomenergiekommission des CNPq beschloss, das Abkommen mit Frankreich zu beenden und die Kooperation mit der BRD einzufrieren, obwohl es westdeutschen Wissenschaftlern freigestellt blieb, die Ultrazentrifugen zu verschiffen, und zwar in Übereinstimmung mit den Pariser Verträgen von 1954, durch welche das Besatzungsstatut in Westdeutschland beendet wurde und die BRD ihre Souveränität erlangte (Batista Pereira 2013: 107-110).
Bina Machado (Chef der Casa Militar) an Café Filho. 2.8.1955. E.M. 286. Geheim. AHMRE-B, Energia Atômica, tomo II. 1951/1953. 41 Heitor Grillo (Interimsvorsitzender des CNPq) an Café Filho. 30.7.1955. E.M. 286. Geheim. AHMRE-B, Energia Atômica, tomo II. 1951/1953. Im gleichen Ordner findet sich die Agenda der Diskussionen zwischen brasilianischen und USamerikanischen Atomwissenschaftlern zum Forschungsreaktor, Kernbrennstoff, Prospektionen von Mineralen und zu Atomkraftwerken. Tópicos da Agenda discutidos com a Delegação Americana no CNPq. Internes Dokument, CNPq-CEA. Geheim. 22.7.1955. Acordos entre o Brasil e os Estados Unidos da América, para cooperação no campo das aplicações pacíficas da energia atômica. Bina Machado an Café Filho. 2.8.1955. E.M. 286. Geheim. AHMRE-B, Energia Atômica, tomo II. 1951/1953.
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Wie wir gesehen haben, markierte Brasiliens neue Nuklearpolitik, die durch eine US-freundliche Regierung eingeläutet worden war, das Ende von Albertos nuklearen Plänen. Juscelino Kubitschek, der Juarez Távora 1955 im Wahlkampf um die Präsidentschaft schlug und damit zum neuen Präsidenten gewählt wurde, versuchte, Albertos Strategie wieder aufleben zu lassen, indem er eine erneute Kooperation mit Westdeutschland startete, welche die Anreicherung von Uran betraf. Für Kubitschek zählte die Atomenergie zu den höchsten Prioritäten seines ehrgeizigen Entwicklungsplans (dem so genannten ›Plano das Metas‹). Durch diesen Plan strebte der neue brasilianische Präsident eine Industrialisierung in kürzester Zeit an.42 Er unterstützte die Wiederaufnahme der Bemühungen Albertos, nachdem ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss zur Atomenergie illegale Exporte von Nuklearmaterial an die USA zwischen 1953 und 1955 aufgedeckt hatte. Der Ausschuss konnte Beweise dafür finden, dass die USBotschaft das Ende der Kooperation mit Westdeutschland und das Ende der Karriere Albertos erwirkt hatte. In seinem Abschlussbericht forderte der Ausschuss eine Überprüfung der brasilianischen Atompolitik und die Schaffung einer brasilianischen Atomenergiekommission. Darüber hinaus empfahl der Ausschuss die Wiederaufnahme der Kooperation mit westdeutschen Forschungszentren und den Abschluss der Ausrüstungsankäufe, die zwar durch Alberto in Auftrag gegeben, aber nie nach Brasilien geliefert worden waren. Nach Kubitscheks Zustimmung wurden die Zentrifugen schließlich 1957 nach Brasilien verschifft und die Kooperation schien so zu funktionieren, wie es im ursprünglichen Abkommen vereinbart worden war.43 Brasilianische Wissenschaftler besuchten die BRD, um diese Anlagen zu studieren, und Groth und Beyerle verbrachten längere Zeit in Rio de Janeiro, um die Zentrifugen zu installieren und die Brasilianer im Umgang mit ihnen sowie mit Uranhexafluorid aus-
42 Raul Fernandes (brasilianischer Außenminister) an Dunn (US-Botschafter in Brasilien). 3.8.1955. DE/DAI/524.26. Geheim. AHMRE-B, Energia Atômica, tomo II. 1951/1953. Brasiliens Präsident Café Filho bewilligte umgehend den Notenaustausch. Bina Machado (Chef der Casa Militar) an Café Filho. 2.8.1955. E.M. 286. Geheim. AHMRE-B, Energia Atômica, tomo II. 1951/1953. 43 Von 3 Gaszentrifugen an den Nationalen Forschungsrat. Deutsch-Brasilianische Zusammenarbeit auf dem Atomgebiete und der Nuclearforschung. Vom 5.9.1951 bis 30.5.1958. Auswärtiges Amt, Politisches Archiv (PA/AA), 1346.
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zubilden.44 Die Brasilianische Atomenergiekommission (Comissão Nacional de Energia Nuclear, CNEN) wurde jedoch 1956 gegründet, um einen anderen Weg einzuschlagen. Ziel war die Autonomie der einheimischen Atomfähigkeiten durch den Gebrauch verschiedener Thoriumreaktoren und nicht durch angereichertes Uran oder andere Technologien, die Alberto sich vorgestellt hatte. Die brasilianischen Atomwissenschaftler setzten auf Reaktoren mit natürlichem, nicht angereichertem Uran, ähnlich wie ihre Fachkollegen in Ländern wie Frankreich und Indien. Dieser Weg würde es Brasilien erlauben, nicht von externen Kooperationen zum Erwerb angereicherten Urans oder von Technologien zur Produktion von Kernbrennstoff abzuhängen. Brasilien entschied sich also dazu, seine eigenen, reichhaltigen Thoriumreserven zu nutzen. Die CNEN beschloss außerdem, die Kooperation mit den USA in Atomfragen fortzusetzen. Daher dienten die Zentrifugen aus der BRD ausschließlich dem Zweck von Forschungen einer kleinen Gruppe brasilianischer Wissenschaftler am Institut für Chemische Forschung der Universität von São Paulo, die im Jahr 1968 endeten. Die Anlagen, welche in den 1950er Jahren gekauft worden waren, wurden Ende der 1970er Jahre wieder in Betrieb genommen. Nachdem ein Abkommen, wodurch sich die BRD zum Transfer des Kernbrennstoffkreislaufs verpflichtete, gescheitert war, unternahm Brasilien Bemühungen, eine eigene Urananreicherungstechnologie zu entwickeln. Im Jahr 1987 verkündete die brasilianische Regierung, man habe die Technologie zur Anreicherung von Uran gemeistert und eine eigene Gas-Ultrazentrifuge gebaut, auch dank der Erfahrung, die man aus der Kooperation mit westdeutschen Forschungszentren gewonnen habe. Brasilien, das zu jenem Zeitpunkt nicht Mitglied des Vertrags über die Nichtverbreitung von Kernwaffen war und dem man Ambitionen zum Bau einer eigenen Atombombe unterstellte, wurde damit eines der wenigen Länder weltweit, die über ein entscheidendes Werkzeug zur Herstellung atomwaffenfähigen Materials verfügten. Gegen Ende des Kalten Krieges entschied sich das Land jedoch gegen die Entwicklung eines atomaren Waffenarsenals und hielt sich an die internationalen Normen zur Nichtverbreitung von Kernwaffen.
44 Wilhelm Groth besuchte Brasilien im November 1958 und hielt dort einen Vortrag über die Entwicklung der Atomenergie in Deutschland und über die Installation der Zentrifugen in Brasilien. Siehe CNPq an die Botschaft der BRD. 28.11.1958. Atomfragen und Kernenergie-Versorgung. Hier: Brasilien. Vom 1.12-1951 Bis 3-11-1961. PA/AA, 849.
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Dieser Aufsatz behandelte eine relativ unbekannte Episode der Beziehungen zwischen Brasilien und Westdeutschland zu Beginn des Kalten Krieges und des Atomzeitalters. Die Kooperation zwischen westdeutschen Forschungszentren und einem lateinamerikanischen Land, das reich an Atommineralen war und anstrebte, sich den Kernbrennstoffkreislauf anzueignen, wurde als Bedrohung für das Sicherheitssystem angesehen, welches in der Westlichen Hemisphäre und in Westeuropa durch die USA etabliert worden war. Diese Beziehung wurde als Gefahr für den Aufbau eines US-amerikanischen Monopols über Atomressourcen eingestuft und barg zugleich die Gefahr eines möglichen Wiederauflebens des deutschen Nuklearprogramms mit Technologien, die in Brasilien entwickelt wurden. Nachdem die Realisierbarkeit von Ultrazentrifugen zur Anreicherung von Uran demonstriert worden war, wurde Anfang der 1960er Jahre die Geheimhaltung über diese Anlagen als Grundpfeiler des Regelwerks zur Nichtverbreitung auferlegt. Moskau wie Washington verboten aus internationalen Sicherheitsbedenken heraus den Austausch von Informationen zu Zentrifugen und den Handel mit ihnen, um eine Verbreitung neuer Atomwaffen zu verhindern. Das erklärt die Bedeutung der brasilianisch-westdeutschen Kooperation und die möglichen Auswirkungen, die sie auf die Entstehung der internationalen Nichtverbreitungspolitik hatte.
A RCHIVQUELLEN AA/USP – Arquivo Álvaro Alberto, Universidade de São Paulo AHMRE-B – Arquivo Histórico do Ministério das Relações Exteriores, Brasília Energia Atômica AHMRE-RJ – Arquivo Histórico do Ministério das Relações Exteriores, Rio de Janeiro Diversos do Ministério NARA S/AE – National Archives and Records Administration, College Park Record Group 59, Finding Aid A1, Entry Number 3008/A, Records Relating to Atomic Energy Matters, Special Assistant to the Secretary for Energy and Outer Space PA/AA – Politisches Archiv des Auswärtigen Amts, Berlin RA-CPDOC/FGV – Arquivo Pessoal Renato Archer, Centro de Pesquisa e Documentação de História Contemporânea do Brasil da Fundação Getulio Vargas TNA – The National Archives, Kew (London Borough of Richmond upon Thames)
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Guatemala und die Tschechoslowakei zu Beginn des Kalten Krieges L UKÁŠ P ERUTKA
Dieser Aufsatz beleuchtet das bisher wenig untersuchte historische Problem des Verhältnisses zwischen der Tschechoslowakei und Guatemala während der so genannten guatemaltekischen Revolution zwischen 1944 und 1954.1 Die Recherche beruht größtenteils auf unveröffentlichten Quellen aus tschechischen Archiven, den Archiven der Central Intelligence Agency (CIA) und wichtigen Monographien zu dieser Thematik. Das tschechoslowakische Verhältnis zu Guatemala entstand bereits in der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen, als der Kaffeehandel zur Entstehung erster diplomatischer Kontakte beitrug, die 1936 in ein Handelsabkommen mündeten. Nach dem Zweiten Weltkrieg verlor die Tschechoslowakei zunächst den Einfluss, den sie zwischen den beiden Weltkriegen erfolgreich in Lateinamerika erlangt hatte. Der Grund hierfür war nicht der Krieg, sondern die weitreichenden Veränderungen in der Führung der Tschechoslowakei im Jahr 1948. Die neue kommunistische Regierung des Landes, welche unter dem Einfluss der sowjetischen Politik stand, wollte eine Provokation der USA vermeiden, indem sie keine neuen Verbindungen zu Staaten aufbaute, die unter deren direktem Einfluss standen. 1953 änderte sich dies auf Grund des Todes von Josef Stalin und des Todes des tschechoslowakischen Präsidenten Klement Gottwald. In Guatemala kam 1944 eine neue demokratische Regierung unter Präsident Juan José Arévalo an die Macht, welche die Beziehungen zur Tschechoslowakei zu erneuern suchte. In diese Richtung agierte auch sein Nachfolger Jacobo Árbenz, der 1951 sein Amt antrat. Es gelang ihm, die Beziehungen auf einer dip-
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Teile dieses Beitrags wurden bereits auf Englisch veröffentlicht (Perutka 2013).
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lomatischen Basis zu erneuern und im Jahr 1954 eine größere Waffenlieferung aus der Tschechoslowakei zu veranlassen. Leider erfolgte dies zu einem Zeitpunkt, als die USA den Druck auf das guatemaltekische Regime erhöhten. Die von der Tschechoslowakei gekauften Waffen spielten also eine tragende Rolle bei dem Sturz des demokratischen Systems in Guatemala, da sich den USA dadurch ein idealer Grund bot, um in Guatemala zu intervenieren.
G ENESE DER B EZIEHUNGEN ZWISCHEN DER T SCHECHOSLOWAKEI UND G UATEMALA Um vollständig die Gründe nachvollziehen zu können, aus denen beide Seiten ein solches Handelsabkommen abschließen würden, muss die Zwischenkriegszeit genauer beleuchtet werden, da dort die Grundlage für die zukünftige Zusammenarbeit gelegt wurde. 1918, kurz vor Ende des Ersten Weltkrieges, wurde die Tschechoslowakei von Österreich-Ungarn unabhängig. Die neue zentraleuropäische Republik suchte nach neuen Märkten, wo sie neue Güter erwerben und eigene Produkte verkaufen konnte. Die tschechoslowakische Regierung entwickelte schnell ein Interesse an Lateinamerika, insbesondere an Guatemala und weiteren Staaten Zentralamerikas. Die erste wichtige Amtshandlung des Außenministeriums der Tschechoslowakei war die Einrichtung eines Konsulats in Mexiko-Stadt Ende 1922.2 Dieses Konsulat war auch für Guatemala zuständig, was jedoch für die tschechoslowakische Gemeinschaft, die sich seit Beginn des 20. Jahrhunderts dort gebildet hatte, nicht ausreichend war. Um deren konsularen Bedürfnisse sowie der Kontrolle und Organisation des Handels gerecht zu werden, erwog die tschechoslowakische Regierung die Eröffnung einer weiteren Botschaft direkt in Guatemala. Daher nahm sie 1922 Angebot des tschechoslowakischen Ökonomen Rudolf Zrnovský, der bereits einige Jahre in Guatemala lebte, als neuer Stellvertreter in Guatemala zu fungieren, dankend an.3
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[ČSSR, Federální ministerstvo zahraničních věcí] (Hg.) (1987): Příručka o navázání diplomatických styků a diplomatické zastoupení Československa v cizině a cizích zemí v Československu 1918-1985, Praha: Federální ministerstvo zahraničních věcí, Archívně dokumentační odbor, S. 118.
3
»Zrnovský Československému ministerstvu zahraničí«, 18.10.1922. Aus: Archiv Ministerstva zahraničních věcí (AMZV) (1918-1939), f. Sekce MZV I - prezidium, honorární konzulát Guatemala 1918-1939.
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Dieses Angebot wurde auch durch die Botschaft in Mexiko-Stadt und den Hauptdiplomaten Vladimír Smetana unterstützt. Dieser verdeutlichte in einem Brief an das Außenministerium die ökonomische Bedeutung diplomatischer Vertretungen in Lateinamerika. Obwohl die Tschechoslowakei im Jahr 1922 Waren im Wert von 16 Millionen Kronen nach Mexiko exportierte, waren es allein in der ersten Hälfte des Jahres 1923, also nach der Einrichtung der Botschaft, bereits 12 Millionen. Nach Zentralamerika exportierte die Tschechoslowakei 1923 Waren im Wert von einer Million Kronen, während es in der ersten Hälfte, also ohne diplomatische Vertretungen in der Region, nur eine halbe Million Kronen waren. Dies zeigt, dass eine Steigerung der tschechoslowakischen Exporte ohne diplomatische Repräsentanten nur schwer zu erreichen war.4 Im Jahr 1936 wurden diese Situation und der Mangel an Engagement seitens der Regierung in Prag durch Vlastimil Kybal, den tschechoslowakischen Gesandten in Mexiko-Stadt, deutlich kritisiert. Er veröffentlichte in der Tschechoslowakei mehrere Artikel über die Problematik der Handelsbeziehungen mit Lateinamerika.5 Dank seiner Bemühungen wurde im Oktober jenes Jahres ein neues Handelsabkommen mit Guatemala geschlossen, welches den bilateralen Handel förderte und der Tschechoslowakei dort die gleichen Vorzüge wie den USA einräumte.6 Die Handelsbeziehungen verbesserten sich rapide und die Tschechoslowakei wurde erneut zu einem wichtigen Importeur guatemaltekischen Kaffees. Zugleich wurde die Tschechoslowakei zu einem wichtigen Exporteur nach Guatemala, da sich die Exporte dorthin im Jahr 1937 im Vergleich zu 1935 verneunfachten (Třebický 1948: 10-11). Viele bedeutende tschechoslowakische Unternehmen hatten Vertreter in Guatemala, z.B. die berühmte Schuhmarke Baťa oder der Waffenhersteller Zbrojovka aus Brno (Brünn). Der Vertreter der Firma Zbrojovka war niemand anders als der tschechoslowakische Honorarkonsul František Krafka. Es ist wahrscheinlich, dass dieser das größte guatemaltekisch-tschechoslowakische Geschäft der Zwischenkriegszeit alleine arrangierte. Die guatemaltekische Regierung war besonders an den tschechoslowakischen Waffen interessiert, da diese in Lateinamerika einen hervorragenden Ruf besaßen. Im Jahr 1936 kaufte Guatemala von Zbrojovka 4000 Ge-
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Notiz ohne Datum und Nummer, AMZV (1918-1939), f. Sekce MZV I - prezidium, honorární konzulát Guatemala 1918-1939.
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Venkov, 17.6.1936 und Světový obchod, 19.6.1936, AMZV, f. Sekce MZV IV – národohospodářská.
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»Československé ministerstvo zahraničí československému velvyslanectví v Bernu«, 9.2.1938, AMZV, f. Sekce MZV VI - právní.
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wehre Modell 24,7 die auf dem Mauser-System basierten. Ein Jahr später kamen weitere 50 leichte Maschinengewehre Modell 30 bei Zbrojovka dazu.8 Leider dauerte dieses wirtschaftliche Wiedererwachen nur zwei Jahre an, da die Tschechoslowakei unter deutschen Einfluss geriet – zuerst durch das Münchner Abkommen am 30. September 1938, und später durch die Errichtung des ›Protektorats Böhmen und Mähren‹ am 16. März 1939. Der Zweite Weltkrieg brachte einschneidende Veränderungen in beiden Ländern mit sich: Eine tschechoslowakische Exilregierung in London und eine Revolution in Guatemala. Im Jahr 1944 wurde der seit 1931 regierende Diktator Jorge Ubico gestürzt und durch den demokratisch gewählten Präsidenten Juan José Arévalo abgelöst. Der neue guatemaltekische Präsident war an der Wiederaufnahme diplomatischer und wirtschaftlicher Beziehungen mit der Tschechoslowakei interessiert, weshalb er der Tschechoslowakei einige wichtige Zugeständnisse machte. Er erkannte beispielsweise weiterhin das Handelsabkommen von 1936 an, obwohl es nicht erneuert worden war.9 Jedoch war die Tschechoslowakei damals nicht in der Lage, eine angemessene Antwort zu geben. Gegen Ende des Zweiten Weltkrieges waren die diplomatischen Kapazitäten nicht gegeben10 und in den Nachkriegsjahren erlitt die Tschechoslowakei eine Revolution. Die demokratische Regierung wurde im Februar 1948 durch eine kommunistische ersetzt und die Tschechoslowakei schloss sich dem sowjetischen Einflussbereich an, was auch die außenpolitischen Beziehungen betraf. Das bedeutete, dass die Tschechoslowakei weder direkte diplomatische Beziehungen aufbauen noch neue Handelsabkommen schließen konnte. Vereinzelte Aktionen wie die Handelsmission der Gesandten Landa und Hermann 1949 blieben vergebliche Bemühungen.11 Aufgrunddessen vertagte sich die Wiederaufnahme der Beziehungen zwischen der Tschechoslowakei und Guatemala auf die Amtszeit des neuen Präsidenten Guatemalas, Jacobo Árbenz Guzmán.
7
»7,92mm
puška
vz.24«,
gepostet
von
sa58,
31.3.2008,
13:10
Uhr,
http://www.palba.cz/viewtopic.php?f=36&t=2503&p=227285&hilit=pu%C5%A1ka+ vz.+24+vz.+24#p227285 (31.3.2011). 8
Fencl, Jiří: »Nejprodávanější česká zbraň«, http://www.militaria.cz/archiv/391/
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»Hall Krafkovi«, 20.1.1948, AMZV (1945-1959), TO-O Guatemala 1945-1959.
clanky/391-08.html (10.2.2012). 10 »Československé ministerstvo zahraničí v Londýně československému velvyslanectví v Limě«, 2.9.1944, AMZV (1939-1945), f. Londýnský archiv D (1939-1945), Diplomatický sbor, honorární konzuláty, Guatemala. 11 »Hermann Československému ministerstvu zahraničí«, 14.12.1950, AMZV (19451959), TO-O Guatemala 1945-1959.
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G RÜNDE FÜR
DEN
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Á RBENZ
Das bedeutendste Element der Beziehungen zwischen der Tschechoslowakei und Guatemala war das von Jacobo Árbenz arrangierte Waffenhandelsabkommen. Árbenz spürte eine Bedrohung durch die USA und wollte seine Armee stärken. Allerdings stand Guatemala zu diesem Zeitpunkt unter einem Waffenembargo der USA. Árbenz hatte mehrere Gründe, die Tschechoslowakei um die Lieferung von Militärmaterial zu bitten: •
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Trotz der genannten Veränderungen blieb die Tschechoslowakei nach dem Zweiten Weltkrieg der größte Wirtschaftspartner Guatemalas im sowjetischen Einflussbereich. 1952 exportierte Guatemala Waren im Wert von 8,5 Millionen Kronen in die Tschechoslowakei, während es nach Ungarn nur sechs Millionen Kronen waren und die Exporte nach Polen, China und die Sowjetunion als irrelevant beziffert wurden.12 1953 exportierte die Tschechoslowakei Ware im Wert von 18,7 Millionen Kronen und importierte Kaffee im Wert von 1,8 Millionen Kronen.13 Der tschechoslowakische Waffenproduzent Zbrojovka verkaufte bereits 1936 Gewehre an Guatemala und 1937 leichte Maschinengewehre. Dank des Waffenembargos der USA musste die guatemaltekische Armee diese Waffen noch Ende des Jahres 1953 nutzen. Daher war es ein logischer Schritt, die tschechische Regierung um Munition zu bitten.14 Als wichtiges Kriterium lässt sich nennen, dass die Tschechoslowakei nicht in der NATO war oder anderweitig von den USA beeinflusst wurde. Daher lag die Annahme nahe, dass die Tschechoslowakei nicht zögern würde, Militärgerät an Guatemala zu liefern. Die Tschechoslowakei war guatemaltekischen Kommunisten und engen Vertrauten von Árbenz wie Carlos Manuel Pellecer oder dem Kongressabgeordneten José Manuel Fortuny gut bekannt. Beide hatten die Tschechoslowakei in der Vergangenheit besucht – der erste 1948, der zweite 1949 – und beide waren als Freunde der Tschechoslowakei bezeichnet. Der Besuch Fortunys war von größerer Bedeutung – er besuchte die Zentrale der kommunistischen Par-
12 »Graclík Československému ministerstvu zahraničí«, 26.3.1953, AMZV (1945-1959), TO-O Guatemala 1945-1959. 13 »Střední Amerika: sdělení o plnění plánu na leden – prosinec 1953«, 20.1.1954, AMZV (1945-1955), TO-T Guatemala 1945-1955. 14 »Graclík Československému ministerstvu zahraničí«, 24.11.1953, AMZV (19451955), TO-T Guatemala 1945-1955.
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tei, das Außenministerium und einige Gewerkschaftsorganisationen.15 Er knüpfte dort wichtige Kontakte und wahrscheinlich war er es, der Árbenz davon überzeugte, Munition aus der Tschechoslowakei zu erwerben. Auch war es Fortuny, der von Árbenz entsandt wurde, um eine entsprechende Anfrage zu stellen. Schlussendlich gab es einen besonderen Grund für diese Anfrage an Prag: Árbenz’ mangelndes Verständnis des breiteren Kontexts der außenpolitischen Beziehungen in der Welt der 1950er Jahre. Natürlich war Árbenz in einer verzweifelten Position. Zugleich erscheint er jedoch als naiv, als er dachte, dass solch ein Waffenhandel mit einem sowjetischen Satellitenstaat von den USA toleriert werden würde, die im Zustand einer allgegenwärtigen Angst vor dem Kommunismus lebten. Außerdem schätze er die Reaktionen in Lateinamerika und in Guatemala selbst falsch ein, da er dachte, dass sich niemand für diesen Kauf interessieren würde. Árbenz stand sich damit nicht nur selbst im Weg, sondern gab im Gegenteil sogar seinen Gegnern Argumente an die Hand, um diesen Waffenhandel gegen ihn zu verwenden.
D ER A BSCHLUSS
DES
W AFFENDEALS
Obgleich Árbenz sich dafür entschied, Waffen in der Tschechoslowakei zu adquirieren, konnte er die Konsequenzen des Kaufes kaum abschätzen. Wie bereits erwähnt verhielt sich die Tschechoslowakei nach dem Zweiten Weltkrieg zurückhaltend. Präsident Arévalo wollte die diplomatischen Beziehungen normalisieren und ein neues Wirtschaftsabkommen abschließen, doch die Tschechoslowaken reagierten nicht auf diese Bemühungen. Árbenz beabsichtigte dies ebenfalls, da die Tschechoslowakei ein wichtiger Verbündeter sein sollte, um die Wirtschaft Guatemalas auszudifferenzieren und selbständiger zu machen. Allerdings verstärkte er im Vergleich zu Arévalo die Bemühungen: Er lud Vertreter der tschechoslowakischen Botschaft in Mexiko häufig zum Essen ein; zugleich veranlasste er seine Botschafter dazu, den Kontakt zu den Tschechoslowaken zu suchen. Gleichwohl war das Resultat das gleiche und die tschechoslowakische Seite behielt ihre zurückhaltende Position bis Mitte 1953 bei. Es erscheint berechtigt, zu fragen, warum sie dies tat. Obwohl wir uns nicht sicher sein können, schien es dafür mehrere Gründe gegeben zu haben.
15 Dokument o. Titel u. Nr., 3.6.1949, AMZV (1945-1959), TO-O Guatemala 19451959.
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Der erste Grund war das Ausbleiben der Zustimmung durch die UdSSR. Die außenpolitischen Beziehungen Prags standen ohne Zweifel unter dem Einfluss Moskaus. Dies lässt sich deutlich an der peinlichen Abwesenheit der tschechoslowakischen Vertreter bei der Amtseinführung von Árbenz erkennen, zu der man sie eingeladen hatte. Der tschechoslowakische Außenminister sagte die Teilnahme an der Veranstaltung ab, als er erfuhr, dass der sowjetische Botschafter ebenfalls nicht teilnehmen würde.16 Auch ist bekannt, dass die tschechoslowakischen Vertreter in Mexiko jedwedes Handeln mit ihren sowjetischen Kollegen abstimmten.17 Daher ist es möglich, dass die Sowjetunion unter Stalin die Normalisierung der politischen Beziehungen zwischen Guatemala und der Tschechoslowakei blockierte. Obwohl dies auch Zufall sein mag, änderte sich die tschechoslowakische Position schlagartig nach dem Tode Stalins und des tschechoslowakischen Präsidenten Klement Gottwalds (repektive am 5. und am 14. März 1953). Diese Aussage deckt sich mit den Erkenntnissen der revisionistischen Historiografie des Kalten Krieges. Demnach hatte Stalin kein Interesse an einer offiziellen Verbreitung des Kommunismus auf der ganzen Welt. Lediglich in Osteuropa betrieb er diese Politik, um eine Pufferzone für die Sowjetunion zu schaffen, welche sie vor möglichen Angriffen wie dem des Deutschen Reiches im Jahr 1941 schützen sollte. Stalin wollte demnach keinesfalls mit Ländern der ›Dritten Welt‹ und ganz besonders nicht mit Lateinamerika kooperieren, da er die USA nicht in ihrem eigenen Hinterhof provozieren wollte (Jones 2010: 21). Diese Theorie wird auch von Fortuny gestützt, welcher nach dem Tode Stalins eine größere Flexibilität der Sowjetunion gegenüber der ›Dritten Welt‹ erkannte.18 Als weiterer Grund kann die Februarrevolution in der Tschechoslowakei angesehen werden. Der Sturz der demokratischen Regierung und die Machtübernahme der Kommunisten gingen mit Säuberungen im Außenministerium einher. Zu Beginn mangelte es an geeigneten und qualifizierten Beamten und Vertretern, was bedeutet haben könnte, dass die Botschaften im Ausland voller Amateure waren, die nicht dazu in der Lage waren, die Beziehungen zu Guatemala zu normalisieren. Als die jüngere Generation übernahm, veränderte sich die Situation. Antonín Novotný etwa, der neue Generalsekretär der KP der Tschechoslowakei (KPČ), wurde 1953 vereidigt und begeisterte sich bald für praktisch alles, was mit Guatemala zu tun hatte.
16 Notiz o. Titel u. Nr., 1.3.1951, AMZV (1945-1959), TO-O Guatemala 1945-1959. 17 »Kaisr Československému ministerstvu zahraničí« 1. 12. 1951, AMZV (1945-1959), TO-O Guatemala 1945-1959. 18 Interview von Gleijeses mit Fortuny (Gleijeses 1992: 188).
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Das Jahr 1953 bedeutete für die tschechoslowakisch-guatemaltekischen Beziehungen einen großen Durchbruch, da die Tschechoslowaken plötzlich ihre Einstellung änderten und die Beziehungen zu Guatemala normalisierten. Die beiden Länder planten eine neue und enge wirtschaftliche Zusammenarbeit und die Einrichtung von Konsulaten in Guatemala-Stadt und Prag. Allerdings wurde nichts davon in die Tat umgesetzt, da Árbenz von der plötzlichen Veränderung überrascht war und umgehend tschechoslowakische Waffen kaufen wollte. Obwohl es bereits seit Arévalo bei gemeinsamen Abendessen erste informelle Anfragen bezüglich des Kaufs tschechoslowakischer Waffen gegeben hatte, zeigte Árbenz erst 1953 konkreteres Interesse. Daher schickte er seinen engsten Vertrauten, José Manuel Fortuny, zur tschechoslowakischen Botschaft nach Mexiko-Stadt, da dieser in der kommunistischen Welt und damit auch bei den Vertretern der Tschechoslowakei gut bekannt war. Als Fortuny im November 1953 in Mexiko ankam, führte ihn sein erster Besuch in die sowjetische Botschaft. Dort berichtete er von den Problemen, die Árbenz mit der Beschaffung von Militärmaterial hatte und von dessen Versuchen, dieses in der Tschechoslowakei zu erwerben. Der sowjetische Botschafter Antipov empfahl ihm, alles Weitere direkt mit den Tschechoslowaken zu klären. Daher wandte sich Fortuny an die tschechoslowakische Botschaft: »Fortuny informierte mich darüber, dass Guatemala von einer Invasion der ODECAStaaten19 bedroht sei. [...] Árbenz glaubt an die guatemaltekische Armee und die Bevölkerung, allerdings mangelt es an Waffen. Guatemala hat bereits kurz vor dem Krieg [d.h. dem Zweiten Weltkrieg, L.P.] oder direkt danach Waffen in der Tschechoslowakei gekauft, vor allem Gewehre, welche die Hauptbewaffnung der guatemaltekischen Armee ausmachen. Allerdings gibt es einen Mangel an Munition, der so gravierend ist, dass die Armee keine Übungen mit scharfer Munition durchführen kann. [...] Daher nutzt Árbenz Fortuny als Mittelsmann, um Waffen von uns zu beschaffen.«20
Die Tschechoslowaken luden Fortuny nach Prag ein, wo dieser Árbenz’ Begehr führenden Regierungsmitgliedern vorbringen sollte. Er verhandelte mit Premierminister Viliam Široký, Präsident Antonín Zápotocký und Verteidigungsminis-
19 Die Organisation der Zentralamerikanischen Staaten (Organización de Estados Centroamericanos, ODECA) wurde 1951 gegründet, doch Guatemala trat im April 1953 aufgrund von Differenzen mit anderen Staaten über die Frage des Kommunismus (insbesondere mit Nicaragua) daraus aus. 20 »Graclík Československému ministerstvu zahraničí«, 24.11.1953, AMZV (19451955), TO-T Guatemala 1945-1955.
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ter Alexei Čepička (Nálevka 2001: 191).21 Das wichtigste Gespräch fand allerdings am 14. November 1953 mit dem Generalsekretär der KPČ statt: »Zum Sekretariat des UV KPČ22 kam der Generalsekretär der guatemaltekischen Arbeiterpartei G.[enosse] Manuel Fortuny. Er wurde von Kamerad Novotný im Beisein von Genosse Baramová23 empfangen. Im Namen der Führung seiner Partei und im Namen des Präsidenten der guatemaltekischen Republik Oberst Jakub Arvenz [sic] bat er unsere Partei und Regierung um eine Lieferung von Waffen und Munition für ihre Armee im Wert von ca. zwei bis zweieinhalb Millionen Dollar. [...] Es ist notwendig, dass wir G.[enosse] Fortuny eine Antwort geben, sollten wir der Nachfrage zustimmen. Sollten wir dies tun, wird er uns eine Liste der benötigten Güter geben und ein offizieller Vertreter der [guatemaltekischen, L.P.] Regierung, Landwirtschaftsminister Herr Alfonso Martinez, wird alle weiteren Details klären.«24
Die Tschechoslowaken gaben Fortuny nicht sofort eine Antwort, da sie sich in dieser Frage an die Sowjets wenden mussten. Daher schrieb Novotný einen Brief an das ZK der KP der Sowjetunion: »Gen.[osse] J. M. Fortuny wartet in Prag auf unsere Antwort, doch wir schicken voraus, dass wir eine solche Sache nur auf der Grundlage gegenseitigen Einvernehmens mit Ihnen entscheiden können, weshalb wir Sie in dieser Angelegenheit um eine Stellungnahme bitten.«25 Schließlich hatten die Tschechen zwei Rückmeldungen für Fortuny: Sie besaßen die angefragte Munition zwar nicht mehr, erklärten sich aber zu dem Waffenhandel bereit, weshalb Árbenz zur Klärung der Details Martínez schicken sollte. Alfonso Martínez war ein weiterer enger Vertrauter von Árbenz. Er war zwar kein Mitglied der KP, doch vertraute Árbenz ihm genug, um ihn nach Prag zu schicken, um dort den Waffenkauf abzuschließen. Anfang 1954 verbrachte Martínez 20 Tage in Prag. Leider gibt es bis auf die folgende kurze Notiz keine
21 Zápotocký wird hier erwähnt: »Nóta«, 26.11.1953, AMZV (1945-1955), TO-T Guatemala 1945-1955. 22 Ústřední výbor Komunistická strana Československa (Zentralkomitee der KP der Tschechoslowakei, ZK der KPČ). 23 Chef der internationalen Abteilung des ZK der KPČ. 24 »Záznam«, 14.11.1953. Aus: Národní Archiv Česká Republika (NAČR), KSČ-ÚV (1946-1968), f. Kancelář 1. tajemníka ÚV KSČ Antonína Novotného II. část (1946) 1951-1967 (1968), zn. KSČ-UV-AN II, č. 1261/0/44. 25 »Novotný Ústřednímu výboru KSSS«, NAČR KSČ-ÚV (1944-1968), f. Kancelář 1. tajemníka ÚV KSČ Antonína Novotného II. část (1946) 1951-1967 (1968), zn. KSČUV-AN II, č. 1261/0/44.
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Quellen bezüglich seiner Verhandlungen mit der tschechoslowakischen Regierung zu dem Waffenkauf: »Die Geschäftsgespräche in Prag wurden wahrhaftig im Geiste gegenseitigen Verständnisses und Freundschaft geführt. A. M. [Alfonso Martínez, L.P.] erklärte, dass er zum ersten Mal nicht nach Fallstricken in den Angeboten der anderen Partei zu suchen hätte, im Gegensatz zu den Verhandlungen mit englischen, amerikanischen, französischen oder italienischen Unternehmen. Trotz der geografischen Distanz und dem Unterschied der Regierung fühlte er sich wie bei wahren Freunden. Dies äußerte er in beiden Gesprächen mit G.[enosse] Široký und den Verhandlungen mit G.[enosse] Dvořák.«26
Es ist zwar nicht viel über die Verhandlungen bekannt, doch wir kennen deren Ergebnis. Die Tschechoslowaken erkannten, dass sie die Waffen, welche Fortuny angefordert hatte, nicht besaßen, hatten aber eine Lösung parat. Sie entschieden sich dazu, Guatemala alte deutsche Waffen zu verkaufen, welche gegen Ende des Zweiten Weltkrieges zurückgelassen und anschließend von der tschechoslowakischen Armee wieder instand gesetzt worden waren. Der Waffenkauf umfasste somit Gewehre, Maschinengewehre, Granaten, aber auch schwere Waffen wie Panzerabwehrkanonen, Flugabwehrgeschütze und Mörser mit der dazugehörigen Munition. Insgesamt handelte es sich um 2000 Tonnen Waffen27 für eine Armee von 12.000 Soldaten, welche damit in Friedenszeiten für zehn bis fünfzehn Jahre versorgt gewesen wäre (Nálevka 2001: 192).
D IPLOMATISCHE
UND WIRTSCHAFTLICHE
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Nahezu zwei Jahre lang hatte die Tschechoslowakei keinen Botschafter in Mexiko ernannt. Dies änderte sich Ende des Jahres 1953, als Vladmimír Pavlíček in Mexiko eintraf, welchem im November 1953 das Agrément für Guatemala erteilt wurde. Sofort begann er, seine Besuche in das nunmehr erneut befreundete Land zu planen. Als er am 1. Februar 1954 in Guatemala ankam, wollte er sich dem guatemaltekischen Außenminister Guillermo Toriello und dem Präsidenten
26 Richard Dvořák war Minister für Außenhandel der Tschechoslowakei. »A. M. Guatemala«, 10.2.1954, NAČR KSČ-ÚV (1945-1962), f. Mezinárodní oddělení 19451962. 27 »Guatemalan procurement of arms from the Soviet orbit«, Nr. 921353, 23.6.1954, S. 6-7. Aus: Freedom of Information Act of the Central Intelligence Agency (FOIACIA).
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Árbenz umgehend vorstellen. Dort verbrachte er 13 Tage mit seiner Frau und schrieb an die Heimat: »Ich wurde sofort am 2. Februar um 18:00 Uhr im Antrittssaal von Präsident Árbenz empfangen. […] Er äußerte große Freude über die Grüße unseres Präsidenten, welche er erwiderte, und über die Ankunft des tschechoslowakischen Gesandten in Guatemala. Als Árbenz Informationen über den Wunsch erhielt, in der tschechoslowakischen Botschaft eine Handelsabteilung einzurichten, stimmte er begeistert zu und drückte seinen Wunsch aus, dass dies so schnell wie möglich umgesetzt werde.«28
An den restlichen Tagen seines Aufenthaltes besuchte Pavlíček weitere guatemaltekische Minister und empfing verschiedene diplomatische Kollegen. Er wollte nur zehn Tage bleiben, doch sorgte Árbenz mit seiner Bitte um ein weiteres Treffen für einen längeren Aufenthalt, hatte allerdings erst am 11. Februar wieder Zeit. An diesem Gespräch nahm auch José Manuel Fortuny teil. Erneut äußerte Árbenz seinen Wunsch nach der schnellen Einrichtung einer tschechoslowakischen Botschaft in Guatemala, nach einer neuen Handelsabteilung und nach einem neuen Handelsabkommen. Außerdem wurde Pavlíček dazu eingeladen, an den Feierlichkeiten zum Tag der Arbeit teilzunehmen (ebd.). Pavlíčeks Bericht wurde in Prag sehr gut aufgenommen: »Während der Besuche der einzelnen guatemaltekischen Minister wurde unser Gesandter spontan und enthusiastisch mit dem Vorhaben begrüßt, eine tschechoslowakische Botschaft mit einer Handelsabteilung einzurichten. […] Abschließend lässt sich der Besuch unseres Gesandten in Guatemala in jeder Hinsicht als positiv beurteilen. Angesichts unserer derzeitigen Verzögerungen bei der Normalisierung der diplomatischen Beziehungen, worum sich Guatemala seit 1951 lebhaft bemüht hat, sowie des steigenden Drucks seitens der USA sind wir dazu gezwungen, unser Versprechen, in Guatemala eine tschechoslowakische Botschaft mit Handelsabteilung einzurichten, auch umzusetzen. Dies stellt die effizienteste Handlungsoption für eine wirtschaftliche und kulturelle Entwicklung zwischen den beiden Staaten dar [...].«29
Die politischen Vertreter planten außerdem, ein neues Konsulat in Guatemala zu eröffnen. Anfang März wurde beschlossen, dass der zukünftige Geschäftsträger a. i. Miloš Komzala sein sollte, welcher etwa zwei Monate in der Botschaft in
28 »Pavlíček ministerstvu zahraničí«, 18.2.1954, AMZV (1945-1955), TO-T Guatemala 1945-1955. 29 »Záznam«, 1.3.1954, AMZV (1945-1955), TO-T Guatemala 1945-1955.
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Mexiko bleiben sollte, um die guatemaltekischen Problematik besser kennenzulernen und sein Spanisch zu verbessern. Er sollte im Juli mit einem Entschlüsselungsagenten und zwei Wirtschaftsbevollmächtigten nach Guatemala geschickt werden.30 Komzala wurde am 17. April offiziell ernannt und reiste Ende des Monats mit Vladimír Pavlíček nach Guatemala, um sich dort vorzustellen. Mit ihnen reiste auch der Wirtschaftsdelegierte Knébl. Komzala kooperierte mit einer progressiven guatemaltekischen Gruppe namens Sakerti und zeigte ihnen eine Ausstellung über Julius Fučík und kommunistischen Journalismus. Der Anführer von Sakerti besuchte Komzala später in dessen Hotel und übergab ihm einige Grafiken der Künstlergruppe. Währenddessen sprach Pavlíček mit Außenminister Toriello über die USA und zukünftige diplomatische Beziehungen: »[Toriello, L.P.] sagte, Guatemala werde im Juli versuchen, in Paris einen Gesandten für Prag zu benennen, wo sie derzeit einen Geschäftsträger benötigten. (Den Signalen hier in Mexiko zufolge wird es wohl der progressive Schriftsteller Luis Cardoza y Aragón werden.) Zur gleichen Zeit kündigte er an, dass er nächstes Jahr einen Gesandten nach Prag schicken würde, welcher möglicherweise auch für Warschau zuständig wäre. Er sagte, dass die Einrichtung einer vollständigen Botschaft in Prag in diesem Jahr zu finanziellen Problemen geführt hätte. Er machte im Gespräch klar, dass das Gleiche auch von uns erwartet werde. Daher sagte ich, dass unsere Regierung auch schon über eine baldige Ernennung eines eigenen Botschafters für Guatemala nachdachte.«31
Alle drei tschechoslowakischen Gesandten gingen zu den Feierlichkeiten zum 1. Mai 1954 und am Ende ihres Besuches nahmen Komzala und Pavlíček an einem Abendessen teil, das von Árbenz und seiner Ehefrau organisiert worden war. Auch Fortuny und Alfonso Martínez waren anwesend. Gemeinsam besprachen sie die diplomatischen Verhältnisse und wie die Tschechoslowakei bei der Industrialisierung Guatemalas behilflich sein könnte. Ein weiter Bestandteil der neuen Beziehungen war die Wirtschaftsmission, welche von den Ingenieuren Kohout und Piroch angeführt wurde. Sie verbrachten im März 1954 zwei Wochen in Guatemala und legten anschließend dem tschechoslowakischen Außenministerium einen Bericht vor.32 Dieser Bericht bestand aus zwei Teilen, von denen der erste von den unverzüglichen Wirtschaftsmaßnahmen handelte, welche
30 Dokument o. Titel, 3.3.1954, AMZV (1945-1955), TO-T Guatemala 1945-1955. 31 »Pavlíček ministerstvu zahraničí«, 29.5.1954, AMZV (1945-1955), TO-T Guatemala 1945-1955. 32 »Kohout ministerstvu zahraničního obchodu«, 22. 3. 1954, AMZV (1945-1955), TOT Guatemala 1945-1955.
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die Tschechoslowakei gegenüber Guatemala umsetzen sollte. Der zweite Teil behandelte langfristige Optionen: »Ing. Jaroslav Kohout ließ gemeinsam mit der oben genannten Delegation verlauten, dass das tschechoslowakische Außenhandelsministerium dazu bereit sei, einen Handel mit Guatemala zu betreiben, bei dem Guatemala besondere Maschinen und Gerätschaften für den Straßenbau sowie für landwirtschaftliche und industrielle Produktionsstätten erhält. Im Austausch dafür erhalte die Tschechoslowakei landwirtschaftliche Produkte wie Kaffee, Kakao, Ölsamen, Reis, Minerale, etc. in Mengen, auf die man sich noch einigen wird.« (Ebd.)
Im zweiten Teil ging es in erster Linie um mögliche Importe aus Guatemala. Darin wurde insbesondere ein Interesse an Kaffee, Kakao, Ölsamen, pflanzlichen Ölen, Baumwolle, Reis, Tropenholz, Blei, Mais und möglicherweise Früchten zum Ausdruck gebracht. Ein weiterer Teil war ein Blick in die Zukunft und hing von Guatemalas Fähigkeit ab, folgende Produkte herzustellen: Kühlfleisch, Rohgummi, Glimmer, Rohmetalle (Kupfer, Chrom, etc.), Kuhhaut und Quecksilber (ebd.). Dieser Teil beinhaltete auch den Export folgender Artikel an Guatemala: Bewässerungs- und Landwirtschaftsmaschinerie, Maschinen für den Bau von Straßen und Gebäuden, Häfen und öffentlichen Gebäuden, Transportfahrzeuge, Maschinen für die Industrie und Werkstätten, Krankenhaus- und Telekommunikationsgerätschaften aller Art (ebd.). Schließlich wurde der Bericht Árbenz vorgelegt, der ihn absegnete. Dieser Bericht hatte auch immense Auswirkungen in Prag, wo der vom tschechoslowakischen Wirtschaftsministerium angestellte Ingenieur Parma vier Punkte unmittelbarer Handlungsnotwendigkeiten benannte, um diese Handelsbeziehung aufzubauen. Der erste Punkt betraf ein sofortiges Abkommen zum Handel mit den im Bericht genannten Waren. Der zweite handelte von einem neuen Handelsabkommen, der dritte von Lieferungen großer Industriesysteme und der letzte Punkt betraf die technische Unterstützung Guatemalas, einschließlich des Entsendens tschechoslowakischer Experten (ebd.). Doch dieser Plan wurde der tschechoslowakischen Regierung zu spät vorgelegt – nach dem Fall der Regierung Árbenz – sodass keiner dieser Punkte umgesetzt wurde.
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V ORWAND
Als die Guatemalteken mit der Tschechoslowakei über Waffen verhandelten, bereiteten die CIA und das US-Außenministerium gerade sorgfältig ihre Operation gegen Árbenz vor. Ihr erster wirklicher Testlauf wurde die 10. Panamerikanische Konferenz in Caracas. Für Washington war es von großer Bedeutung, dass die Konferenz einer antikommunistischen Resolution zustimmte, welche schließlich die Operation in Guatemala legitimieren würde. Dies war von solch großer Bedeutung, dass US-Außenminister John Foster Dulles im März nach Caracas reiste, um diese Resolution selbst einzubringen. Sie wurde schließlich angenommen, allerdings mit weniger Enthusiasmus, als Dulles es erwartet hatte. Für ihn und seinen Bruder Allen Welsh Dulles (damals CIA-Direktor) wurde klar, dass sie der lateinamerikanischen Öffentlichkeit etwas Einleuchtenderes vorlegen mussten, um die Operation PBSUCCESS legitimieren und durchführen zu können. Unglücklicherweise sollte es Árbenz selbst sein, der den Dulles-Brüdern diesen Grund lieferte. Die Dulles-Brüder waren im April 1954 so verzweifelt, der Öffentlichkeit zu beweisen, dass Guatemala ein kommunistisches Land war, dass sie beschlossen, eine Geheimoperation durchzuführen, mittels derer Kisten voller Waffen an der zentralamerikanischen Küste platziert wurden. Parallel dazu bereiteten sie eine Propagandakampagne vor, welche die Öffentlichkeit davon überzeugen sollte, dass diese Waffenkisten von einem sowjetischen U-Boot stammten.33 Diese Bemühungen scheiterten allerdings, da die Presse kein Interesse an dieser Geschichte zeigte (Schlesinger/Kinzer 2005: 150). Als dann am 15. Mai 1954 in Puerto Barrios das mit tschechoslowakischen Waffen beladene schwedische Schiff Alfhem eintraf,34 sorgte dies bei den Dulles-Brüdern für Erleichterung. Einer der CIA-Mitarbeiter sagte, dies habe sich im Nachhinein als Segen erwiesen.35 Am 16. März saß Allen Dulles einem Treffen des Intelligence Advisory Commitee vor, dem mehrere Vertreter des US-Außenministeriums und der USArmee angehörten. Dulles stellte seine Informationen über die Waffen vor und verkündete, dass mit einer derartigen Menge an Waffen ganz Zentralamerika bis
33 »Kugown – PBSUCCESS – Soviet submarine operation (W/Attachments)«, n. 916617, Lincoln an Wiesner, 7.4.1954, d. n. BUL-A-445, S. 1-18, FOIA-CIA. 34 »Guatemalan procurement of arms from the Soviet orbit«, n. 921353, 23.6.1954, S. 5, FOIA-CIA. 35 »List of those participating in briefing (W/attachment)«, n. 920203, »Memorandum for Allen Dulles«, 29.7.1954, S. 6, FOIA-CIA.
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zum Panamakanal kontrollierbar sei. Am nächsten Tag traf er den Beratern Präsident Eisenhowers gegenüber ähnliche Aussagen. Unverzüglich bekam er die Unterstützung für die Operation PBSUCCESS (Schlesinger/Kinzer 2005: 151). Auch in den Beziehungen zu den lateinamerikanischen Staaten liefen die Dinge für Árbenz immer schlechter. Am 19. Mai 1954 brach Nicaragua seine diplomatischen Beziehungen zu Guatemala ab. Dies war keine Überraschung, da der dortige Diktator Somoza ein starker regionaler Verbündeter der Vereinigten Staaten war. Allerdings kamen die weiteren Reaktionen unerwartet. Somoza organisierte ein Treffen der lateinamerikanischen Außenminister, um die Gefahr des Kommunismus in Guatemala zu besprechen. Der erste der zustimmte, war José Figueres, Präsident von Costa Rica und ein bisheriger Unterstützer von Árbenz. Batistas Kuba mobilisierte seine Armee, Polizei und Marine, um der kommunistischen Gefahr zu begegnen. Haiti wies zwei Repräsentanten Guatemalas aus. Costa Rica und Panama zogen ihre Botschafter aus Guatemala zurück – offiziell zu »Besprechungen« (Gleijeses 1992: 308-309). Obwohl Honduras vor der Ankunft der Alfhem der Operation PBSUCCESS zurückhaltend gegenübergestanden hatte, unterschrieb das Land nun einen Vertrag zur Gewährleistung der gegenseitigen Sicherheit mit den Vereinigten Staaten (Schlesinger/Kinzer 2005: 160). Auch Mexiko änderte seine Einstellung. Es war eines der beiden Länder, welche die Resolution gegen Guatemala in Caracas nicht unterstützt hatten. Trotzdem brachte Präsident Ruiz Cortines in einem Gespräch mit US-Botschafter White seine Enttäuschung über den Waffenhandel zum Ausdruck: »Der Präsident schien sehr beeindruckt davon zu sein, wie heimlich die Lieferung durchgeführt worden war. Er gab zu Bedenken, dass selbst, wenn Guatemala keine Waffen von den USA, Mexiko oder einem anderen Land bekommen hätte, es für den Zweck der Selbstverteidigung kein Problem gewesen wäre, solch einen Handel auf eine normale und offene Art und Weise abzuschließen. Da sie das aber nicht getan hatten, hatte man natürlich das Gefühl, dass das Geschäft weder normal noch sauber war.«36
Als White Cortines über den Umfang der Waffenlieferung nach Guatemala informierte, bewertete Cortines dies als noch verdächtiger (ebd.).
36 »Memorandum for the Files, by Ambassador in Mexico White«, 3.6.1954, d. n. Holland files, lot 57 D 295, »Mexico, 1954«. Aus: United States (Hg.) (1955): Foreign relations of the United States (FRUS), 1952-1954, Bd. IV: The American republics, Washington: [o.V.], digitalisierte Version, University of Wisconsin Digital Collections, http://uwdc.library.wisc.edu/collections/FRUS (13.2.2012).
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Die Waffenlieferung aus der Tschechoslowakei bot den USA den so dringend benötigten Vorwand, um militärisch gegen Guatemala vorzugehen. Sie wurde als endgültiger Beweis dafür genutzt, dass Guatemala ein kommunistischer Staat sei. Somit half diese Lieferung den USA dabei, ihre Militärkampagne in den Augen der lateinamerikanischen Regierungen zu legitimieren. Daher gab die CIA kurz darauf der Gruppe der guatemaltekischen Rebellentruppe im Exil grünes Licht, um ihr eigenes Heimatland zu überfallen. Zwischen dem 17. und 18. Juni fiel der von den USA unterstütze Rebellenanführer Castillo Armas mit 150 Guerillakämpfern von Honduras aus in Guatemala ein. Nach zehn Tagen des Kampfes hatte die guatemaltekische Armee ihren Kampfeswillen verloren und der enttäuschte Präsident Jacobo Árbenz trat, ohne sich zuvor mit seinem Kabinett zu beraten, am 27. Juni 1954 von seinem Posten zurück (Muñoz 2000: 284285). Damit war der von CIA und US-Außenministerium initiierte Putsch perfekt.
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Der ehemalige Präsident Árbenz wurde ins Exil nach Mexiko geschickt, wo er sich für einen Umzug in die Tschechoslowakei entschied, was von den Zentraleuropäern akzeptiert wurde. Im Dezember 1954 reiste Árbenz mit seiner Familie nach Europa. Zuerst ging er nach Frankreich und in die Schweiz, allerdings war er in beiden Staaten eine Persona non grata. Er wurde dort zwar toleriert, doch blieben ihm jegliche politische Aktivitäten verwehrt. Aus diesem Grund entschied er sich in Paris dazu, die tschechoslowakische Botschaft aufzusuchen und dort um ein Visum zu bitten.37 Die Tschechoslowaken waren sich über seine Absichten im Klaren und gewährten ihm und seiner Familie daher die Visa. Am 3. September 1955 kam Árbenz mit seiner Frau María Villanova, seinen Töchter Arabela und Leonora und seinem Sohn Jacobo in Prag an. Am dortigen Flughafen wurde die Familie durch den ehemaligen Botschafter in Mexiko, Vladimír Pavlíček, und zwei weiteren Vertretern des tschechoslowakischen Außenministeriums begrüßt. Nach einem kurzen Gespräch, in dem Árbenz sich zu seiner schlechten Behandlung in der Schweiz und in Frankreich äußerte, fuhr die Familie ins Hotel Esplanade in der Prager Innenstadt.38 In den darauffolgenden
37 AMZV (1945-1955), »Souček ministerstvu zahraničí«, 24.8.1955, TO-T Guatemala 1945-1955. 38 »Hrůza k Novotný i Široký«, 4.10.1955, AMZV (1945-1955), TO-T Guatemala 19451955.
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Wochen traf sich Árbenz mit einigen wichtigen Vertretern der tschechoslowakischen Regierung. So traf er z.B. erneut Vladimír Pavlíček, seinen Vorgänger Oldřich Kaisr und den tschechoslowakischen Außenminister Václav David. Mit diesen erörterte er einen Besuch weiterer Volksrepubliken Osteuropas, der Sowjetunion, Chinas und Indiens. Außerdem sprach er über seine Pläne, erneut nach Mexiko zu ziehen, um dort den Kampf um ein demokratisches Guatemala fortzuführen.39 Noch im Monat September 1954 verbesserte sich die Situation der Familie Árbenz. Ihnen wurde ein Haus zugewiesen und sie kamen mit weiteren Exilguatemalteken in Kontakt: »Man kann von der Familie Árbenz sagen, dass sie aufgrund der schlechten Erfahrungen im Westen ziemlich von der Außenwelt abgeschnitten war und sehr schüchtern, ernst, zurückhaltend und von der Angst, sich unpassend zu verhalten, geprägt scheint. Die ersten Eindrücke in unserem Land sorgten allerdings sicherlich für ein beruhigendes Gefühl und wir können davon ausgehen, dass ihre Schüchternheit und ihr Gefühl der Ungerechtigkeit bald von ihnen abfallen werden. Aus Gesprächen mit ihnen lässt sich entnehmen, dass es ihnen in Prag sehr gut gefällt. Es sollte angemerkt werden, dass wir der Familie Árbenz kontinuierlich werden helfen müssen.« (Ebd.)
Im Winter traf sich Árbenz mit dem Generalsekretär der KPČ, Antonín Novotný, und dem Präsidenten Antonín Zápotocký. Im Januar 1956 entschied er sich zu einem erneuten Umzug, dieses Mal in die Sowjetunion. Davor nahm an einer Pressekonferenz teil, wo er über die guatemaltekische Revolution, seinen Sturz und die tatsächliche Situation in diesem zentralamerikanischen Land sprach. Er äußerte sich optimistisch über die guatemaltekische Zukunft und glaubte, dass Guatemala erneut seine Freiheit erlangen würde. Außerdem bedankte er sich beim tschechoslowakischen Volk für dessen Mitgefühl und für seine Unterstützung im Kampf gegen die USA.40 Am 25. Januar 1956 reiste die Familie Árbenz nach Moskau weiter. Der Besuch der Familie Árbenz in Prag hatte einen mehr oder weniger privaten Charakter gehabt. Der Aufenthalt erregte kein größeres Aufsehen und war für den ehemaligen Präsidenten sehr zufriedenstellend und komfortabel. Seine Gesundheit verbesserte sich nach der zuvor schlechten Behandlung in Guatemala, Mexiko und Westeuropa. Die tschechoslowakische Regierung war hilfsbereit und erleichterte seinen Aufenthalt in Prag. Seine Frau erinnerte sich:
39 »Arbenz v Praze«, 24.8.1955, AMZV (1945-1955), TO-T Guatemala 1945-1955. 40 Rudé Právo, 24.1.1956, S. 3.
166 | L UKÁŠ P ERUTKA »Das Verhältnis von Jacobo zu diesen Regierungen war stets sehr herzlich, weshalb sie die einzigen waren, die bereit waren, ihm Schutz zu gewähren. In Prag erhielten wir ein Haus, was wir sehr schätzten, aber nach kurzer Zeit erkannten wir, dass die Sprache eine nahezu unüberwindbare Barriere darstellte, was die Ausbildung unserer Kinder massiv beeinträchtigen würde.« (Vilanova de Árbenz 2000: 95)
Die Abreise von Árbenz bedeutete eindeutig das Ende der offiziellen Kontakte zwischen der Tschechoslowakei und Guatemala während des Kalten Krieges. Guatemala entwickelte sich zu einem Schlachtfeld und obwohl die Tschechoslowaken weiterhin Interesse an ihrem alten Partner hatten, wurde dies nie offiziell bekundet. Schlussendlich bemühten sie sich eher um andere revolutionäre Staaten in der Region wie das Kuba Fidel Castros. Dieser Kurswechsel wurde 1960 symbolisch durch die Ernennung des ehemaligen Botschafters in Mexiko und Guatemala, Vladimír Pavlíček, zum neuen Botschafter in Havanna bestätigt.
S CHLUSSFOLGERUNGEN Die Beziehungen zwischen Guatemala und der Tschechoslowakei zu Beginn des Kalten Krieges bleiben einzigartig. Es war nicht nur der erste Versuch, eine enge Beziehung zwischen einem Staat aus dem sowjetischen Einflussbereich und einem lateinamerikanischen Land aufzubauen, sondern es war auch ein einzigartiges Beispiel dafür, wie zwei Kleinstaaten eine entscheidende Rolle in der Geschichte des Kalten Krieges spielen konnten. Letztlich war es aber eine Beziehung, die auf tragische Art und Weise endete, insbesondere für Guatemala und dessen Präsidenten Jacobo Árbenz. Keinem der beiden Staaten gelang es, die Gefahren und Konsequenzen einer solchen Verbindung zu erkennen. Besonders deutlich wurde dies durch den Waffenhandel, der die USA zu einer Aktion provozierte und Guatemala in jener Region isolierte. Trotzdem sorgte diese bilaterale Beziehung für neues Interesse seitens der kommunistischen Regierungen der Tschechoslowakei an Lateinamerika. Ein Interesse, welches später wichtig wurde, als die Tschechoslowaken Beziehungen zu Kuba oder Nicaragua aufbauten.
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Waffen für ein revolutionäres Kuba Kuba und die Tschechoslowakei: Der Beginn einer neuen transatlantischen Allianz im Kalten Krieg A LBERT M ANKE
Während die Geschichte der Supermächte im Kalten Krieg – ihre Beziehungen, Interaktionen und Konflikte – lange Zeit im Mittelpunkt der Cold War Studies standen, blieben kleinere Akteure eher am Rande des wissenschaftlichen Interesses der Geschichtsschreibung. Im Sinne einer, wie Bernd Greiner es formuliert, »multipolaren und transnationalen Historiografie« (Greiner 2010: 1) soll in diesem Beitrag ein Blick auf zwei Kleinstaaten geworfen werden, deren Beziehungen im Kalten Krieg bisher vorrangig auf bilateraler Ebene betrachtet wurden, gleichwohl sie Auswirkungen von hemisphärischer Bedeutung haben sollten: Kuba und die Tschechoslowakei. Was die Rezeption der Geschichte Kubas im 20. Jahrhundert betrifft, so wurde das Land erst mit der Revolution von 1959 einem größeren Publikum bekannt. Damals kam es erstmals zu einer ernsthaften Infragestellung der USamerikanischen Hegemonie in Lateinamerika. Im Falle Kubas wurde diese Hegemonie mit dem Beginn der ersten Okkupation Kubas im Jahr 1898 etabliert und noch Jahrzehnte nach der formalen Unabhängigkeit Kubas im Jahr 1902 ein Faktum. Beendet wurde diese Vormachtstellung schließlich durch die kubanische Revolution von 1959, die Fidel Castro 1961 für sozialistisch erklärte. Dies markierte eine wirtschaftliche und politische Emanzipation, die Viele als ›zweite Unabhängigkeit‹ bezeichneten, wenngleich Kuba bald darauf immer abhängiger von der Sowjetunion werden sollte. Die Kubakrise im Oktober 1962 situierte die Insel vollends im Fokus des globalen Kalten Krieges.
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Der radikale Wechsel der Allianzen1, den Kuba in den Jahren 1959 bis 1961 durchlief, erfolgte mittels einer schrittweisen (und anfangs streng geheimen) Annäherung an mehrere Länder des sozialistischen Lagers. Zu Beginn basierte die Annäherung auf persönlichen Beziehungen, die als Grundlage für die Errichtung stabilerer Kanäle auf offizieller Ebene dienten. Während die Sowjetunion angesichts der chaotischen Zustände im Kuba des Jahres 1959 noch zurückhaltend agierte, genehmigte sie die Vorstöße der Tschechoslowakei, wohin Kuba bald die erste Brücke zum sozialistischen Lager schlug. Insbesondere durch die militärische Kooperation entwickelte sich die Tschechoslowakei für das neue Kuba schnell zu einem Partner von strategischer Bedeutung. Auf der Grundlage von Archivquellen, Interviews mit Zeitzeugen und weiteren Quellen strebt der vorliegende Beitrag an, einige Aspekte des Aufbaus jener neuen transatlantischen Allianz darzulegen, die Kuba mit der Tschechoslowakei verband.2 Der Schwerpunkt liegt hierbei auf der Militärkooperation, von den ersten informellen Kontakten bis zu den Waffenlieferungen in großem Umfang.3 So entwickelte sich mit der Tschechoslowakei eine der ersten strategischen Allianzen Kubas mit dem sozialistischen Lager, die der kubanischen Revolution das schiere Überleben sichern sollte.
K UBA 1895-1958: V ON SPANISCHER K OLONIE › NEOKOLONIALER ‹ R EPUBLIK
ZU
Um die Suche Kubas nach neuen Allianzen ab 1959 besser zu verstehen, bietet es sich an, einen kurzen Blick auf den Einfluss von Hegemonialmächten in Kuba seit der Kolonialzeit zu werfen. Die Unabhängigkeitskriege Kubas (1868-1878, 1879, 1895-1898) waren sehr intensiv und forderten eine außerordentlich hohe Zahl an Menschenleben.4 Die spanische Krone entsandte etwa 200.000 Soldaten in jene drei Kriege – während der Unabhängigkeitskriege auf dem lateinamerikanischen Festland wurden zwischen 1810 und 1826 weniger als die Hälfte da-
1
Mit Allianz ist hier nicht die formale Zugehörigkeit zu einem militärischen Bündnis gemeint, sondern eine enge Kooperation mit einer hohen Bedeutung für die nationalen Interessen des revolutionären Kuba.
2
Teile dieses Aufsatzes wurden bereits auf Spanisch veröffentlicht (Manke 2015).
3
Für die Bedeutung der tschechoslowakischen Waffen in den Jahren 1959-1961 vgl.
4
U.a. aufgrund der Strategie der reconcentración des spanischen Generals Valeriano
Manke (2014: 222-227). Weyer im letzten Unabhängigkeitskrieg (Stucki 2014: 118-126).
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von eingesetzt (Izquierdo Canosa 2005: 39, 65-67). Dennoch schaffte es Spanien nicht, die Insurrektion niederzuschlagen. Im Jahr 1898 traten schließlich die USA in den Krieg ein, schlugen die spanische Kriegsflotte vor Santiago de Cuba und besetzten die Insel. Als Spanien und die USA in Paris den Friedensvertrag unterzeichneten, saßen die kubanischen Unabhängigkeitskämpfer nicht mit am Verhandlungstisch. Bevor die USA ihre Truppen 1902 wieder abzogen und Kuba in die Unabhängigkeit entließen, sicherte sich die US-Regierung u.a. durch das Platt-Amendment, das ein ständiges Interventionsrecht garantierte, und durch die Errichtung einer Marinebasis in Guantánamo Bay eine dauerhafte Abhängigkeit der Insel in wirtschaftlicher und politischer Hinsicht (Roig de Leuchsenring 1973; Foner 1972; Cummins 1967; Pérez 1976: 19). Trotz der Abschaffung des Platt-Amendment im Jahr 1934 blieb die hegemoniale Dominanz enorm, wodurch Kuba faktisch bis zur kubanischen Revolution von 1959 eine Republik in neokolonialer Abhängigkeit von den USA blieb. Auch während der Demokratisierung der 1940er Jahre und der Diktatur Fulgencio Batistas (1952-1958) änderte sich an dieser asymmetrischen Beziehung nichts Grundlegendes.
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USA: D IE R EVOLUTION
VON
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Der Sieg der Guerilleros unter der Führung Fidel Castros im Januar 1959 gegen Diktator Fulgencio Batista schien zunächst nur ein leichter Rückschlag für die US-Administration unter Eisenhower. Zwar hatten die diplomatischen Versuche, Batista vorzeitig durch einen den USA genehmen Kandidaten zu ersetzen, nicht gefruchtet. Da aber noch nicht absehbar war, wohin sich die Politik der Revolutionsregierung entwickeln würde, schien sich aus Sicht der USA der Schaden in Grenzen zu halten. Das sollte sich in den darauffolgenden Monaten ändern. Die bilateralen Beziehungen zwischen den beiden Staaten kühlten sich rasch ab, da die Revolutionsregierung im Zuge ihrer distributiven Politik und ihres Strebens nach nationaler Souveränität damit begann, die politischen und wirtschaftlichen Interessen der Supermacht in Frage zu stellen. In Washington betrachtete man diese Entwicklung mit Argwohn und unternahm bald Maßnahmen, um diesen Prozess zu stoppen und wieder rückgängig zu machen. Dem Aufbau diplomatischen Drucks folgten empfindliche Wirtschaftssanktionen; zugleich wurde ein Programm subversiver Aktivitäten zum Sturz Castros erarbeitet. Es sollte bald jenem ähneln, mit dem die CIA 1954 den Putsch gegen Jacobo Árbenz in Guatemala durchgeführt hatte (Schoultz 2009: 86 ff; Escalante 2004). Während die US-Regierung Batista bis zur Verhängung eines Waffenembargos im Frühjahr 1958 unterstützt hatte, begann sie 1959, er-
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neut ein Waffenembargo gegen das nunmehr revolutionäre Kuba durchzusetzen. Schrittweise erhöhten sie den diplomatischem Druck auf befreundete Länder, was zu jenem Zeitpunkt noch mit dem Verweis auf die Instabilität der Karibikregion durch Castro und Trujillo (Dominikanische Republik) begründet war.5 Die kubanische Regierung versuchte, sich über die bisherigen Kanäle Waffen zu beschaffen, was vor allem Importe aus Westeuropa betraf, etwa aus Großbritannien, Belgien und Italien. Bis Anfang 1960 gelang es Kuba noch, trotz des Widerstands der USA relativ umfangreiche Waffenkäufe in Westeuropa zu tätigen.6 Als die Bemühungen der USA zu deren Unterbindung schließlich fruchteten, weitete Kuba seine Kontakte zur Tschechoslowakei aus (Manke 2014: 221).
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Blicken wir auf die bilateralen Beziehungen zwischen Kuba und der Tschechoslowakei vor 1959 zurück, so lässt sich mit Vít Rouč konstatieren, dass sie nach 1948 im Grunde nur auf der Handelsebene bestanden (Rouč 2010: 294). In den 1950er Jahren überwogen dabei die Exporte Kubas in die Tschechoslowakei deutlich die Importe.7 Derartige Kooperationen zwischen den sozialistischen Ländern und Lateinamerika wurden seit Beginn des Kalten Krieges genau durch die USA beobachtet – umso genauer, wenn es sich um Waffenlieferungen handelte.8 Im Jahr 1958, kurz vor Ende des Guerillakrieges auf Kuba, nahmen Castros Rebellen Kontakt zur Tschechoslowakei auf, um Waffen zu kaufen (Rouč
5
Im April 1959 informierte die britische Botschaft in Havanna in einem geheimen Bericht das britische Kabinett darüber: »Die Regierung der Vereinigten Staaten hat beschlossen, die Waffenlieferungen in die Region zunächst einzustellen, und jetzt übt sie Druck auf befreundete Lieferländer aus, einschließlich Großbritanniens, es ihnen gleich zu tun.« Aus: »Arms for the Caribbean«, 20.4.1959 (Priestland 2003, Bd. 1: 410-412). Alle Übersetzungen der Zitate stammen von A. M., sofern nicht anderweitig gekennzeichnet.
6
Vgl. den Anhang »Military equipment known to have been received by the Castro government« zum internen Schreiben »Cuban arms build-up« des Office of Coordinator of Cuban Affairs im Bureau of Inter-American Affairs der USA vom 16.11.1960. Aus: NARA, RG 59, ARA/CCA, Subject Files, 1960-1963. Zu den Bemühungen der US-Regierung, Großbritanniens Waffenlieferungen an Kuba zu unterbinden, vgl. Rubiera Zim (2002).
7
Siehe Tabelle 3 im Beitrag von Josef Opatrný in diesem Band.
8
Vgl. hierzu den Beitrag von Lukáš Perutka in diesem Band.
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2010: 294). Dies geht aus einem Dokument des Politbüros des Zentralkomitees der tschechoslowakischen Kommunistischen Partei (PB des ZK der KPČ) hervor, wonach die tschechoslowakische Botschaft in Mexiko-Stadt ein Schreiben eines Unternehmens in Costa Rica mit einem entsprechenden Gesuch erhielt. Während dem in Prag und Moskau nachgegangen wurde, errangen die Rebellen auf Kuba Anfang Januar 1959 den Sieg. Kurz darauf wurde aus Moskau die entsprechende Genehmigung erteilt. Am 20. Januar wies das PB des ZK der KPČ den damaligen Außenhandelsminister František Krajčír an, das Geschäft in die Wege zu leiten, allerdings nur, wenn die – nunmehr regierenden – kubanischen Rebellen die Tschechoslowakei erneut kontaktieren sollten.9 Den verfügbaren Quellen nach scheint es aber so, dass es letztlich nicht dazu kam. Im März 1959 erhielt das PB des ZK der KPČ einen Bericht über den Besuch von Severo Aguirre in der Tschechoslowakei. Aguirre, Mitglied der kubanischen Kommunistischen Partei (KP) Kubas, die damals Sozialistische Volkspartei (Partido Socialista Popular, PSP) hieß, bezog sich auf die ursprünglich für die Rebellen unter Castro geplante Waffenlieferung und erklärte, dass die kubanische Revolutionsregierung sie weiterhin benötige, trotz des Sieges über Batistas Armee.10 Doch nun bevorzugte die tschechoslowakische Regierung ihrerseits, die weitere Entwicklung Kubas abzuwarten, wobei sie sich nach den Vorgaben aus der Sowjetunion richtete.11 Diese abwartende Haltung spiegelte sich darin wieder, dass ein erneuter Versuch Kubas, einen Waffenhandel zu vereinbaren, nicht vor dem Sommer des Jahres 1959 erfolgt zu sein scheint, was zeitlich mit
9
Siehe Anhang III »Zpráva pro politické byro ÚV KSČ o projednávání dodávek speciální techniky z ČSR kubánským ozbrojeným silám«, 28.9.1959 zum Entwurf »Politické Byro Ústředního Výboru KSČ 3552/14; K bodu: Dodávky speciální techniky Kubě«, 25.9.1959, für die Entscheidung des PB des ZK der KPČ vom 29.9.1959. Aus: NAČR, ÚV KSČ, fond 02-2, PB ÚV KSČ, 1958-1962, sv. 235, a.j. 314, bod 14, 9 listů, S. 1-4 (fol. 6-9). Für diese und die weiteren Dokumente existieren mittlerweile englische Übersetzungen des Wilson Center.
10 Siehe Anhang III, 10.3.1959, zu »Politické Byro Ústředního Výboru KSČ 1991/14; K bodu: Zpráva o rozhovoru s představitelem Lidové socialistické strany Kuby«, 17.3.1959. Aus: NAČR, ÚV KSČ, fond 02-2, PB ÚV KSČ, 1958-1962, 211, aj. 287, bod 7, 7 listů, S. 1-5 (fol. 3-7). 11 Für die Entwicklung der Beziehungen zwischen der Tschechoslowakei und Kuba aus der Perspektive des Reisenden Lumír Čivrný siehe Opatrný (2010a), für die militärische Annäherung bis 1962 Rouč (2010: 293-295).
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der Reise Che Guevaras nach Ägypten zusammenfällt, die offenbar ebenfalls diesen Zweck verfolgte.12 Ende September 1959 debattierte das PB des ZK der KPČ erneut über ein Waffengeschäft mit Kuba, das möglicherweise durch Che Guevara initiiert worden war. Dieses Mal war ein detaillierterer Plan ausgearbeitet worden, wie der Handel durchzuführen sei: Die Bestellung bezog sich auf 50.000 Maschinenpistolen der Modelle Samopal Sa.23 und Sa.25. Zu deren Ankauf war der Zwischenhändler Willy Strub demnach durch das schweizerische Unternehmen Philipp Friedländer nach Prag entsandt worden, um im Auftrag der kubanischen Regierung den Kaufvertrag dafür abzuschließen. František Krajčír stimmte nur zu, die Waffen bis zur tschechoslowakischen Grenze zu liefern, danach würde die Firma Friedländer dafür die Verantwortung tragen. Die erste Lieferung würde ein Drittel der Gesamtmenge an Waffen und Munition umfassen, der Rest würde im Jahr 1960 erfolgen. Seitens der Tschechoslowakei wollte man zu jenem Zeitpunkt offensichtlich noch kein Risiko eingehen; von einer innigen Partnerschaft zwischen Kuba und der Tschechoslowakei konnte 1959 noch keine Rede sein. Das lässt sich auch daran erkennen, dass der Gesamtpreis der Lieferung in Höhe von 32 Mio. tschechoslowakischen Kronen (Kčs) in harten Devisen gezahlt werden sollte.13 Auch bei dieser Lieferung bleibt unklar, ob sie letztlich durchgeführt wurde. In einem Bericht der New York Times aus dem Jahr 2001 wird dies bejaht (Weiner 2001), doch bezieht er sich sehr wahrscheinlich auf das hier genannte Dokument, aus dem dieser Umstand meines Erachtens nicht klar hervorgeht. Hieraus wird ersichtlich, dass die Beziehungen zwischen Havanna und Prag sich damals noch in einer Phase des (seitens der Tschechoslowakei mit Vorsicht bedachten) gegenseitigen Kennenlernens befanden.
12 Am 1. Juli 1959 berichtete die US-Botschaft in Havanna, man verfüge über verlässliche Informationen, dass eines der Ziele von Che Guevaras Reise nach Ägypten die Bestellung einer Waffenlieferung von der Tschechoslowakei für Kuba sei; vgl. Incoming Telegram Nr. 11, US-Botschaft in Havanna an das US-Außenministerium, 1.7.1959. Aus: NARA, 737.56/7-159. Doch sieben Monate später konnte man diese Information seitens des US-Außenministeriums noch immer nicht bestätigen; vgl. Telegram Nr. 2509, US-Botschaft in Kairo an das US-Außenministerium, 14.2.1960. Aus: NARA, 737.56/2-1460. 13 Siehe Anhang III, 10.3.1959, zu »Politické Byro Ústředního Výboru KSČ 1991/14; K bodu: Zpráva o rozhovoru s představitelem Lidové socialistické strany Kuby«, 17.3.1959 sowie den Entwurf der Entscheidung in Anhang I »Usnesení 69. schůze politického byra ÚV KSČ ze dne 29. IX. 59«. Aus: NAČR, ÚV KSČ, fond 02-2, PB ÚV KSČ, 1958-1962, 211, aj. 287, bod 7, 7 listů, S. 1-5 (fol. 3-7).
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Im Jahr 1959 war die politische Orientierung der Revolution noch unklar, obgleich Schlüsselfiguren der Revolutionsführung wie Ernesto Che Guevara und Raúl Castro bereits ihre Beziehungen zur PSP-Führung vertieften, die ihrerseits seit Jahren mit Prag und Moskau verbunden war. Der damalige Innenminister Luis Buch Rodríguez beschrieb diesen Prozess folgendermaßen: »Die Kommunisten hatten im Staat einige strategische Posten inne, waren aber nicht Teil der Revolutionsregierung« (Buch/Suárez 2002: 95). Guerra und Maldonado präzisieren dies: »Heute wissen wir, dass seit Anfang 1959 Treffen in Tarará und Cojímar [im Osten Havannas, A.M.] stattfanden, wo Che und Fidel Castro jeweils lebten, um das Gesetz zur Agrarreform auszuarbeiten und Pläne für die ideologische Bildung der Rebellenarmee vorzubereiten, an denen Marxisten wie Alfredo Guevara, Oscar Pino Santos, Antonio Núñez Jiménez sowie Mitglieder der höchsten Führungsebene des M-26-7 teilnahmen. In jenen Häusern fanden die ersten geheimen Treffen mit der PSP-Führung statt: Blas Roca, Aníbal Escalante, und Carlos Rafael Rodríguez.« (Guerra/Maldonado 2006: 74, Anm. 18)
In der Praxis wurden also bereits Kontakte zur PSP auf- bzw. ausgebaut, als die Hinwendung zum Sozialismus offiziell noch keine Leitlinie der kubanischen Revolutionsregierung war. So wird verständlicher, warum sich dies durch die Kanäle der PSP auf internationaler Ebene fortsetzte, obwohl Kuba noch kein sozialistischer Staat war. Laut Fursenko und Naftali reiste das PSP-Führungsmitglied Lázaro Peña schon im April 1959 im Auftrag Raúl Castros nach Moskau, um die Möglichkeit der Entsendung dort exilierter spanisch-republikanischer Militärberater nach Kuba auszuloten (Fursenko/Naftali 1999: 11). Diese trafen aber erst ein Jahr später in Havanna ein und auch die Beziehungen zwischen Havanna und Prag verblieben zunächst auf einem niedrigen Niveau.14 Im Jahr 1960 begannen sich die bilateralen Beziehungen zwischen Kuba und der Tschechoslowakei signifikant zu vertiefen, stets in Abhängigkeit von der Position der Sowjetunion. Ein erstes Zeichen war die Ausrichtung der Ausstellung für Wissenschaft, Technik und Kultur der UdSSR in Havanna, die im Jahr zuvor in Mexiko-Stadt Station gemacht hatte; 1962 sollte Rio de Janeiro folgen (Yost 2015: 2). In deren Rahmen unterzeichneten am 13. Februar 1960 Vertreter der kubanischen Revolutionsregierung und der sowjetische Premierminister Anastas
14 Zur Geschichte dieser spanisch-republikanischen Militärberater vgl. Yasells (2008).
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Mikoyan das erste offizielle Handelsabkommen zwischen der UdSSR und dem revolutionären Kuba.15 Auf informeller Ebene wurden die Kontakte ebenfalls ausgebaut, wie mehrere Berichte über erneute Versuche zum Waffenkauf in der Tschechoslowakei verdeutlichen. Anfang Februar 1960 hatte der mexikanische Botschafter in Prag die dortige US-Botschaft darüber informiert, dass mehrere Kubaner in Prag angekommen seien, um Waffen und Munition zu kaufen. Diese sollten anschließend unter der Flagge Panamas oder eines anderen zentralamerikanischen Landes nach Kuba verschifft werden.16 Einige Tage darauf berichtete die spanische Botschaft in Kairo über ein bereits zuvor vermutetes trilaterales Handelsabkommen zwischen Kuba, der Tschechoslowakei und Ägypten.17 Konkrete Nachweise blieben aber auch dieses Mal aus. Aus den Beschlüssen des PB des ZK der KPČ lässt sich schließen, dass der erste koordinierte Besuch der kubanischen Seite in der Tschechoslowakei nicht vor April 1960 erfolgte. Damals reiste PSP-Generalsekretär Blas Roca zum Aufbau einer Handelskooperation nach Prag. Die weiteren Details wurden Ende April durch Capitán Pina ausgehandelt, der damals der Kommandeur des Pilotentrainings der Revolutionären Luftstreitkräfte Kubas war.18 Es handelte sich dabei wahrscheinlich um Víctor Pina Cardoso, ein langjähriges PSP-Mitglied und Veteran des Spanischen Bürgerkrieges, der damals an der Seite von Enrique Líster Forján und Osvaldo Sánchez Cabrera für die spanische Republik gekämpft hatte (Massón Sena 2007: 133). Zur Beleuchtung der langjährigen Netzwerke, die hier offenbar zum Tragen kamen, kann hier ein Artikel von Eduardo Prida dienen (Prida 2009).19 Laut Prida kämpfte Pina im Zweiten Weltkrieg für die französische Résistance und ließ sich nach dem Krieg in Moskau durch das KGB ausbilden. Während jener Zeit habe sich zwischen ihm und Anastas Mikoyan eine persönliche Freundschaft
15 Weitere Abkommen folgten, u.a. mit China und der Tschechoslowakei, (Bortlová 2013: 81-82). 16 Siehe Telegram Nr. 401, US-Botschaft Prag an das US-Außenministerium, 2.2.1960. Aus: NARA, 737.56/2-960. 17 Siehe Telegram Nr. 2570, US-Botschaft Kairo an das US-Außenministerium, 18.2.1960. Aus: NARA, 737.56/2-1860. 18 Siehe Anhang III »Zpráva o dodávkách speciálních materiálů z Československa na Kubu« zum Entwurf »Politické Byro Ústředního Výboru KSČ 5155/14; K bodu: Dodávky speciálních materiálů kubánské revoluční vládě«, 16.5.1960, für den Beschluss des PB des ZK der KPČ am 17.5.1960. Aus: NAČR, ÚV KSČ, fond 02-2, PB ÚV KSČ, 1958-1962, sv. 259, aj. 343, bod 28, 19 listů, S. 1 (fol. 7). 19 Der Autor bezieht sich auf Memoiren eines Adjutanten von Pina in den 1970er Jahren.
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entwickelt. Ab 1959 war Pina am Aufbau des kubanischen Geheimdienstes und der Revolutionären Luftwaffe beteiligt. Rubén Martínez Puente bestätigte, dass Pina ab 1959 Adjutant Raúl Castros für Angelegenheiten der Luftwaffe war. Darüber hinaus organisierte er 1960 den ersten Trainingskurs für Piloten in der Tschechoslowakei: »Es war die erste Gruppe [kubanischer Piloten, A.M.], die in einem sozialistischen Land an Düsenjägern ausgebildet wurden.«20
H AVANNA – P RAG – M OSKAU : E INE A LLIANZ
ENTSTEHT
Die Annäherung Kubas an das sozialistische Lager schritt derweil rasch voran. Am 8. Mai 1960 nahmen Kuba und die Sowjetunion offiziell diplomatische Beziehungen auf. Im gleichen Jahr folgten die Tschechoslowakei, Polen, Rumänien, Bulgarien, Ungarn, China, die Mongolei, Vietnam und Nordkorea; die DDR folgte erst 1963.21 Noch im Mai 1960 wurde der sowjetische General Georgii Stepanovich Sidorovič nach Prag entsandt, um die kubanische Forderung nach Waffenlieferungen mit Premierminister Antonín Novotný zu diskutieren.22 Der Entwurf wurde bis auf wenige Abstriche genehmigt, was Lieferungen im Wert von 866 Mio. Kčs an Militärmaterial (›Spezialtechniken‹) und nur 40 Mio. Kčs an zivilen Gütern umfasste. Außerdem sollten die Entsendungen tschechoslowakischer Techniker nach Kuba und Trainingskurse für Kubaner in der Tschechoslowakei ausgeweitet waren. Dieses Abkommen scheint unter strenger Geheimhaltung am 11. Juni 1960 in Havanna unterzeichnet worden sein, wie aus diesen Dokumenten hervorgeht.23
20 Zit. aus: »Actuaron con honor« (Báez 1996: 232). 21 Die BRD brach daraufhin unter Anwendung der Hallstein-Doktrin die Beziehungen zu Kuba ab (Langer 2010: 26). 22 Siehe Anhang III »Zpráva o dodávkách speciálních materiálů z Československa na Kubu« zum Entwurf »Politické Byro Ústředního Výboru KSČ 5155/14; K bodu: Dodávky speciálních materiálů kubánské revoluční vládě«, 16.5.1960, für den Beschluss des PB des ZK der KPČ am 17.5.1960. Aus: NAČR, ÚV KSČ, fond 02-2, PB ÚV KSČ, 1958-1962, sv. 259, aj. 343, bod 28, 19 listů, S. 1 (fol. 7). 23 Siehe den Verweis auf dieses Datum im Anhang I »Usnesení 143. schůze politické byra ÚV KSČ ze dne 18. 4. 1961« zum Entwurf »Politické Byro Ústředního Výboru KSČ 7588/14; K bodu: Zájem kubánské revoluční vlády o dodávky dalši speciální techniky« vom 4.4.1961 für den Beschluss des PB des ZK der KPČ am 18.4.1961. Aus: NAČR, ÚV KSČ, fond 02-2, PB ÚV KSČ, 1958-1962, sv. 303, aj. 387, bod 20, 10 listů, S. 1-2 (fol. 2-3).
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Zwar ist bekannt, dass das erste offizielle Handelsabkommen zwischen Kuba und der Tschechoslowakei einen Tag zuvor von Frantisek Krajčír und Fidel Castro in Havanna unterzeichnet wurde. Für den militärischen – und vom Umfang her deutlich signifikanteren – Teil des Abkommens war hingegen in bisherigen Studien kein Hinweis darauf zu finden. Einige Wochen danach reiste eine geheime Delegation hochrangiger Offiziere unter der Leitung Raúl Castros nach Prag. Dort traf man sich in der Politischen Akademie der tschechoslowakischen Volksarmee zu Gesprächen, in denen offenbar die Details zu diesem Teil des Abkommens erörtert wurden (Hernández Sánchez 1988: 48). Anfang Juli 1960 warnte Nikita Chruschtschow die USA davor, Kuba anzugreifen, und stellte das Land zumindest symbolisch unter den nuklearen Schutzschirm der UdSSR: »Es sollte nicht vergessen werden, dass die Vereinigten Staaten sich nun in einer nicht so unerreichbaren Reichweite von der Sowjetunion befinden wie zuvor. Bildlich gesprochen können sowjetische Artilleristen, sollte dies nötig sein, das kubanische Volk mit ihrem Raketenfeuer unterstützen, sollten die aggressiven Kräfte des Pentagons es wagen, eine Invasion gegen Kuba zu starten.« (Pavlov 1994: 15)24
Dies wurde in Westeuropa und den USA als offene Drohung angesehen. Dieser Erklärung und den geheimen Vereinbarungen folgten die ersten größeren Waffenlieferungen der (in der Zwischenzeit in Tschechoslowakische Sozialistische Republik umbenannten) ČSSR und der UdSSR an Kuba. Diese begannen laut Quellen des US-Außenministeriums im September 1960 mit der Ankunft des Frachtschiffs Mechnikow im Hafen von Havanna.25 Zwischen Juli 1960 und März 1961 erreichten geschätzte 30.000 Tonnen Militärmaterial aus sozialistischen Ländern Kuba, mit einem Wert von ca. 50 Mio. US-Dollar.26
24 Dort zit. aus: Pravda, 10.7.1960, o.S. Die Rede Chruschtschows begann mit einem Verweis auf die Drohungen Rockefellers in New York gegen Kuba (Levin 1963: 50f). In Levin wurde allerdings der zitierte Passus zur Drohung mit Atomraketen ausgespart. Vgl. zur Ankündigung Chruschtschows auch Levesque (1976: 38). Der Interpretation, man werde Kuba fortan unter den nuklearen Schutzschirm der Sowjetunion stellen, stimmte Chruschtschow nur zögerlich zu (Torres Ramírez 1971: 41). Che Guevara bezeichnete dies dennoch als historische Warnung (Pavlov 1994: 17). 25 Office Memorandum, US-Außenministerium, 14.11.1960, Betreff: »Arms Shipments to Cuba«, S. 3. Aus: NARA, RG 59, Bureau of Inter-American Affairs, Office of Caribbean & Mexican Affairs, Subject Files, 1957-62. 26 Vgl. den Bericht von Goodwin an Kennedy, Anhang als Kopie in einem Dokument vom 17.3.1961 an US-Außenminister Dean Rusk. Aus: NARA, 737.5-MSP/3-1761.
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Nachdem im Laufe des Jahres 1960 aus Sicht der Sowjetunion immer deutlicher geworden war, dass Kuba von strategischer Bedeutung sein könnte, wurden für diese Lieferungen Kredite ausgehandelt, die Kuba zu äußerst günstigen Bedingungen erhielt; später wurden die Schulden vollends erlassen (Bortlová 2013: 91), was nach Ende des Kalten Krieges zu ernsthaften diplomatischen Verstimmungen zwischen Kuba und der Tschechischen Republik führen sollte. Für die Sowjetunion und die Tschechoslowakei dienten diese Investitionen der Sicherung Kubas als dem ersten Verbündeten des sozialistischen Lagers in den Amerikas, dem ›Hinterhof‹ der USA. Für Kuba wiederum erfolgte die Hinwendung zum sozialistischen Lager primär aus pragmatischen Gründen heraus, um das Programm radikaler sozialer und nationalistischer Reformen durchzuführen. Erklärtes Ziel war die Erlangung der nationalen Souveränität, was nicht ohne eine politische und wirtschaftliche Emanzipation von der hegemonialen Dominanz der USA möglich schien. Im Zuge der Verschärfung des Konfliktes mit den USA erhielt die strategische Allianz Kubas mit der Tschechoslowakei und der Sowjetunion eine vitale Bedeutung. Die Waffen aus der Tschechoslowakei wurden auch zur Bewaffnung der über 600.000 freiwilligen Milizionärinnen und Milizionäre verwendet, die im ganzen Land trainiert wurden, um Land und Revolution zu verteidigen.27 Dass diese ihre Rolle erfüllten, wurde insbesondere bei der Verteidigung gegen die durch die CIA organisierte Invasion in der Schweinebucht deutlich, welche im April 1961 erfolgte und auch mit Hilfe der tschechoslowakischen Waffen zurückgeschlagen wurde. Nach diesem Zusammenstoß wurden aus der Tschechoslowakei und insbesondere aus der UdSSR vor allem schwere Waffen geliefert, darunter Kampfflugzeuge vom Typ MiG – und schließlich Atomwaffen. Die transatlantische Allianz gewann somit eine wahrlich strategische Bedeutung und Brisanz: Im Rahmen der Kubakrise im Herbst 1962, als die Welt am Rande eines Atomkrieges stand, hatte sie schließlich Konsequenzen von globaler Reichweite.
Z USAMMENFASSUNG
UND
A USBLICK
Die Impulse zur Errichtung der strategischen Allianz zwischen Kuba und der Tschechoslowakei erfolgten auf mehreren Ebenen und auf asymmetrische Weise. Zunächst lässt sich feststellen, dass Umfang, Qualität und Tempo der entstehenden Kooperation erheblich durch den Verlauf der Beziehungen zwischen Kuba und den USA bestimmt wurden, die sich rasch und drastisch verschlechter-
27 Zur quantitativen Dimension der Milizen vgl. Manke (2014: 355).
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ten. Im Jahr 1959 öffnete sich Kuba politisch wie wirtschaftlich neuen potentiellen Partnern, zunächst ergebnisoffen und über die Grenzen der ideologischen Lager des Kalten Krieges hinweg. In den ersten Monaten war der Revolutionsregierung noch daran gelegen, die traditionell engen Beziehungen zu den USA und Westeuropa beizubehalten, doch gleichwohl neu zu definieren. Ziel war es, auf der Grundlage einer kapitalistischen oder gemischten Ökonomie die nationale Souveränität zu erlangen und zugleich ein soziales und egalitäres Gesellschaftskonzept zu entwickeln. In dieser Phase erschienen die Beziehungen zur Tschechoslowakei eher als vorsichtige Annäherung, sowohl auf politischer Ebene (was die Beziehungen zwischen der PSP und Prag betrifft), als auch auf der militärischen (Waffenkäufe ohne ideologischen Kompromiss, vergleichbar zu Waffenkäufen Kubas in Italien oder Belgien). Auf beiden Ebenen war ein hohes Niveau an Geheimhaltung nötig, wollte sich die kubanische Regierung nicht des ohnehin sehr früh erhobenen Verdachtes der Hinwendung zum Kommunismus aussetzen. Dies hätte seitens der USA und der Organisation Amerikanischer Staaten schnell den gewünschten Vorwand für Sanktionen oder eine Intervention geschaffen, wie es 1954 in Guatemala der Fall war. Im Jahr 1960 veränderte sich die Situation erheblich. In dem Maße, in dem sich die Revolution radikalisierte, wurde der kubanischen Führung klar, dass sie ihr Programm nicht ohne eine Konfrontation mit US-amerikanischen Interessen durchführen konnte. Daher wurden bald militärische wie wirtschaftliche Vorkehrungen getroffen, um für die erwarteten Sanktionen gewappnet zu sein. Da die US-amerikanische Blockadepolitik sowohl im Bereich der Waffenlieferungen als auch in politischer Hinsicht immer erfolgreicher eine Isolation Kubas vorantrieb, mussten neue Alliierte gesucht werden. In diesem Kontext erreichten die Beziehungen Kubas zu den sozialistischen Staaten eine neue Stufe, wie im Fall der Tschechoslowakei an Art und Umfang der Verträge für die Waffenlieferungen erkenntlich wird, die von Blas Roca eingeleitet und von Raúl und Fidel Castro formalisiert wurden. An der Rolle, welche die Kontakte zwischen PSP und KPČ beim Aufbau sicherer Netzwerke und Kommunikationswege spielten, wird erneut die Bedeutung persönlicher Verbindungen deutlich, die vor 1959 bestanden. Die strategischen Entscheidungen wurden freilich direkt von der Revolutionsführung getroffen, nicht von der PSP-Führung. Im Sommer 1960 wurde die strategische Allianz zwischen Havanna und Prag durch die Unterzeichnung der zivilen und militärischen Handelsabkommen im Geheimen formalisiert, obgleich Kuba erst 1972 dem Warschauer Pakt und dem
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Rat für Gegenseitige Wirtschaftshilfe beitrat.28 Die Militärhilfe, welche Kuba 1960 und 1961 durch die Tschechoslowakei erhielt, bedeutete eine substantielle Verstärkung von Kubas Verteidigungskapazität. Dies traf insbesondere auf Flugabwehrgeschütze und die Infanteriewaffen zu, mit denen Hunderttausende von Milizionärinnen und Milizionären ausgerüstet wurden, und die auch bei Verteidigung gegen die Invasion der Schweinebucht zum Einsatz kamen. Es lässt sich also der Schluss ziehen, dass die neue transatlantische Allianz zwischen Kuba und der Tschechoslowakei als ›Eisbrecher‹ der Sowjetunion (wie Kateřina Březinová es in ihrem Beitrag in diesem Band treffenderweise ausdrückt) einen direkten Einfluss auf die geostrategische Entwicklung der westlichen Hemisphäre hatte. Sie wurde zu einem Schlüsselfaktor für das schiere Überleben der kubanischen Revolution, welche bald die Hegemonie der USA in ganz Lateinamerika in Frage stellen sollte und deren Anführer zu Vorbildern für antikoloniale und antiimperialistische Strömungen weltweit machte (Blasier/Mesa-Lago 1979). Die Tschechoslowakei hingegen hatte 1959 eher aus wirtschaftlichen Gründen ein Interesse an der Etablierung dieser Allianz. Obwohl sie vollständig von den strategischen Interessen der Sowjetunion abhing, lässt sich eine eigene Dynamik beim Aufbau der Allianz zu Kuba konstatieren, die Prag – möglicherweise um die eigene Pionierstellung in Lateinamerika im Vergleich zu weiteren Ländern des Ostblocks zu festigen – an den Tag legte. Die Tschechoslowakei diente als Brücke zwischen ihrem Hegemon, der versuchte, dadurch im ›Hinterhof‹ der USA an Einfluss zu gewinnen.29 Obwohl Qualität wie Intensität der bilateralen Beziehungen während der darauffolgenden Dekaden abnahmen, standen die Tschechoslowakei und Kuba bis zum Ende des Kalten Krieges und der Auflösung des Warschauer Pakts im Jahr 1991 in enger Verbindung. Für Kuba hingegen endete der Kalte Krieg nicht im Jahr 1991, sondern verschärfte sich aufgrund der forcierten Blockadepolitik der USA in den 1990er Jahren erneut (Domínguez 1997).
28 Das war einer der Gründe dafür, warum der Warschauer Pakt bei der Kubakrise 1962 keine nennenswerte Rolle spielte (Kramer 1995: 109). 29 Vgl. hierzu auch den Beitrag von Josef Opatrný in diesem Band.
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30 Ich danke Hana Bortlová-Vondráková für die Bereitstellung dieser Dokumente und die Hilfe bei deren Übersetzung.
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Tropenfrüchte für die Tschechoslowakei, Techniker für Kuba Die Wirtschaftsbeziehungen zwischen der sozialistischen Tschechoslowakei und dem revolutionären Kuba H ANA B ORTLOVÁ -V ONDRÁKOVÁ
Der vorliegende Beitrag befasst sich mit den Wirtschaftsbeziehungen zwischen Kuba und der sozialistischen Tschechoslowakei in der Zeit von den ersten Jahren der kubanischen Revolution bis zum Fall der kommunistischen Regime in Zentral- und Osteuropa. Der Beitrag will zeigen, dass die Wirtschaftsbeziehungen das Rückgrat der tschechoslowakischen Politik gegenüber Kuba darstellten, und unterteilt die wechselseitigen Beziehungen in drei markante Zeiträume: 1. Die ›euphorische Phase‹ (von 1959 bis zur Kubakrise 1962); 2. die Zeit nach der Kubakrise bis zum Prager Frühling im Jahr 1968; und 3. die Phase der ›normalisierten Beziehungen‹ (nach der Invasion der Tschechoslowakei 1968 bis Anfang 1990). Diese Arbeit basiert in erster Linie auf tschechischen Archivmaterialien wie etwa Akten der kommunistischen Parteiführung der Tschechoslowakei (Archive des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei, ZK der KPČ), des Außen- sowie des Außenhandelsministeriums und des Zivilen Nachrichtendienstes. In den drei Jahrzehnten nach 1959 – dem Jahr, in dem Fidel Castro in Kuba an die Macht kam – fungierte die Tschechoslowakei als ein wichtiger Übermittler sowjetischer Einflüsse auf dieser Karibikinsel. Die Tschechoslowakei hatte eine Art Gatekeeper-Funktion inne, da sie im Gegensatz zu den anderen Ländern des Sowjetblocks über umfassende diplomatische, wirtschaftliche und kulturelle Verbindungen verfügte, die bereits vor dem Zweiten Weltkrieg mit Kuba geknüpft worden waren. Anfangs wurden tschechoslowakische Güter zusammen mit der kommunistischen Ideologie der Sowjets exportiert, später waren sie un-
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verzichtbarer Bestandteil der so genannten ›internationalen Hilfe‹, die der Sowjetblock Kuba gewährte, und welche hauptsächlich aus Industriegütern und Waffen bestand. Die Tschechoslowakei versorgte Kuba überdies mit Militärexpertinnen und -experten, Technikerinnen und Technikern sowie Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern. Diese wirtschaftlichen Beziehungen bildeten das Rückgrat der tschechoslowakischen Politik gegenüber Kuba. Die vorliegende Arbeit unterteilt und erörtert diese Beziehungen in drei Phasen. Die erste Phase wird als ›euphorisch‹ bezeichnet, da sie ihren Ursprung in der Euphorie um den Aufstieg Castros im Jahr 1959 hatte und bis zur Kubakrise im Oktober 1962 anhielt, als diese Euphorie wieder abnahm. Diese Phase wurde insbesondere durch den Beginn substantieller Lieferungen tschechoslowakischer Waffen gekennzeichnet und durch die ersten Einsätze tschechoslowakischer Berater in verschiedenen Bereichen von Kubas Wirtschaft und Verwaltung. Die zweite Phase dauerte von 1962, also der Zeit nach der Kubakrise, bis zum Prager Frühling im Jahr 1968. Verglichen mit den frühen 1960er Jahren nahmen die Wirtschaftsbeziehungen mit Kuba in dieser Zeit ab: Die anfängliche Euphorie verflog vor dem Hintergrund der Unzufriedenheit Prags bezüglich Kubas Unvermögen, seinen vertraglichen Verpflichtungen nachzukommen. Zugleich schlugen sich reformistische Tendenzen der Tschechoslowakei – welche seit 1964 im Bereich der Wirtschaft des Landes auszumachen waren – immer deutlicher auf die Beziehungen zwischen den beiden Ländern nieder. Wirtschaftsexpertinnen und -experten der Tschechoslowakei waren mit der Ausrichtung des Außenhandels des Landes unzufrieden und betonten die ungünstigen Handelsbeziehungen zu bestimmten Ländern, darunter auch zu Kuba. Sie legten nahe, dass es von Nutzen wäre, effizient zwischen ›echten‹ Prioritäten und politisch motivierter ›internationaler Unterstützung‹ zu unterscheiden. Von kubanischer Seite her kühlten die Beziehungen zur Tschechoslowakei naturgemäß ab: Kuba unterstützte die von der Sowjetunion angeführte Invasion des Landes durch den Warschauer Pakt und drosselte den Import von Gütern aus der Tschechoslowakei, die diesbezüglich von der DDR überholt wurde. Die letzte Phase wird als Zeit der ›normalisierten Beziehungen‹ bezeichnet und dauerte von Ende 1969 bis Anfang 1990 an. Die Beziehungen zwischen der Tschechoslowakei nach 1968 und Kuba kehrten langsam auf das Niveau der Zeit vor 1968 zurück, was zu einer Ausweitung der bestehenden Kooperationsvereinbarungen im Bereich der Wirtschafts-, Wissenschafts-, Bildungs- und Kulturbeziehungen führte. Der Beitritt Kubas in den Rat für Gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW) im Jahr 1972 wertete die Wirtschaftsbeziehungen ebenfalls deutlich auf, da Kuba für den RGW zum Lieferanten einiger Rohstoffe (Nickel) und Zucker wurde. Auch tropische Früchte (z.B. Orangen), tief verankert im ›Ge-
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schmacksgedächtnis‹ vieler Generationen von Tschechoslowakinnen und Tschechoslowaken, machten einen bedeutenden Teil der Importlisten aus. Die Exporte der Tschechoslowakei nach Kuba waren im Vergleich zu den 1960er Jahren keinen wesentlichen Schwankungen mehr unterworfen. Zu Beginn der 1970er Jahre waren bereits tausende von kubanischen Gastarbeiterinnen und Gastarbeitern in die Tschechoslowakei gekommen und wurden hier in zentralen Wirtschaftsbereichen wie der Automobilindustrie, als Ingenieurinnen und Ingenieure oder in der Textilproduktion eingesetzt. Eine eher schrittweise Transformation der Beziehungen zwischen der Tschechoslowakei und Kuba vollzog sich in den 1980er Jahren als Ergebnis von Gorbatschows Perestroika, welche Castro mit wachsendem Misstrauen verfolgte, da sie ideologische und wirtschaftliche Veränderungen bedeutete. Nach 1989 kann die Beziehung zwischen der Tschechoslowakei und (später) der Tschechischen Republik und Kuba als beinahe feindlich beschrieben werden, da die politischen Veränderungen in der Zeit nach dem Kalten Krieg die diplomatischen Beziehungen belasteten und die wirtschaftlichen Verbindungen mit der Insel ernsthaft beeinträchtigten (Opatrný 2007). Ziel dieses Beitrags ist es, für ein tieferes Verständnis der genannten Perioden zu sorgen, um die Variablen herauszuarbeiten, die zu wirtschaftlicher und politischer Harmonisierung führten.1 Das Beispiel der Tschechoslowakei und Kubas während des Kalten Krieges kann sicherlich dazu beitragen, ein vollständigeres Bild davon zu zeichnen, wie innerkommunistische Kooperationen funktionierten. Dieser Text basiert zu einem Großteil auf tschechischen Archivdokumenten – Akten aus den Archiven des ZK der KPČ, des Außen- sowie des Außenhandelsministeriums und des Zivilen Nachrichtendienstes – und wird sich deshalb ausschließlich auf die ›euphorische Phase‹ konzentrieren, da für diese Periode die meisten Verweise und Querverweise in den Archiven zu finden sind. Das soll nicht heißen, dass die anderen Perioden nicht ausreichend beleuchtet worden sind – sie sind es –, jedoch hat die Hauptrichtung der Nachforschungen der Autorin eine Fülle von Archivinformationen über die erste Phase zu Tage gefördert, weshalb in diesem Beitrag hierauf das Hauptaugenmerk liegt. Wir hoffen, dass die beiden anderen Phasen auf der Grundlage neuer Informationen noch eingehender untersucht werden können. Um die Umstände, die zur ersten Phase der Beziehungen der Tschechoslowakei zum kommunistischen Kuba geführt haben, sowie deren Ergebnisse angemessen darstellen zu können, geht dieser Beitrag folgendermaßen vor: Zuerst wird die Wirtschaftssituation Kubas und der Tschechoslowakei während des anfänglichen Prozesses der Annäherung skizziert, einschließlich der Einschrän-
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Teile dieses Aufsatzes wurden bereits auf Englisch veröffentlicht (Bortlová 2013).
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kungen, unter denen beide Länder die Kooperation begannen. Anschließend beschreibt die Arbeit die charakteristischen Merkmale dieser Kooperation und ihre Entwicklung in der ersten Hälfte der 1960er Jahre. Zuletzt beleuchtet die Arbeit ›Spezialfälle‹, um Überlegungen zu den Schwächen, politischen Verflechtungen und Auswirkungen der Wirtschaftsbeziehung der Tschechoslowakei zu Kuba anzustellen. Hinzuzufügen ist, dass bei der Forschung für diesen Artikel bewusst auf eine Untersuchung des Waffenhandels zwischen der Tschechoslowakei und Kuba verzichtet wurde, da diese Industrie nicht als Teil des ›normalen Handels‹ betrachtet wird und in einem separaten Text diskutiert werden sollte (wie etwa in Zídek 2002 und im Beitrag von Albert Manke in diesem Band).
E INE E INSCHÄTZUNG DER W IRTSCHAFTSSITUATION IN K UBA UND DER T SCHECHOSLOWAKEI IN DEN ERSTEN J AHREN DES K ALTEN K RIEGES Ein kurzer Blick auf die tschechoslowakische Wirtschaft nach 1948 Nachdem die Tschechoslowakei im Januar 1949 dem RGW beigetreten war, wurde ihre Wirtschaft auf die UdSSR und deren Satellitenstaaten ausgerichtet. Das Land wurde dazu gezwungen, den ›Vorschlägen‹ (sprich: ›Befehlen‹) aus Moskau nachzukommen. Die Tschechoslowakei war im RGW benachteiligt, da sie im Vergleich zu anderen Mitgliedern in wirtschaftlicher wie sozialer Hinsicht hoch entwickelt war und deshalb nach der Logik des proletarischen Internationalismus dazu verpflichtet wurde, andere Länder des Blocks in deren wirtschaftlicher Entwicklung und Industrialisierung zu unterstützen. Dementsprechend konzentrierte sich die tschechoslowakische Wirtschaft ab 1949 auf die Schwerindustrie, die teuer und vom Import von Rohstoffen abhängig war, während ihre traditionellen Bereiche (Glas-, Lebensmittel- und Textilindustrie) vernachlässigt wurden. Obwohl der Schwerpunkt auf dem Wachstum der Produktionsmittel (Fabriken, Maschinen, Gerätschaften), der Produktion und der Qualität der Konsumgüter lag, spiegelte der Binnenmarkt nicht die Dynamik von Angebot und Nachfrage wieder. Zugleich wurde der Außenhandel durch den Staat monopolisiert und der Aufsicht durch das Außenhandelsministerium unterstellt. Innerhalb des Rahmens der ›koordinierten Handelspolitik gegenüber kapitalistischen Staaten‹ wurde der Import von Gütern aus dem Westen auf Bedarfsartikel beschränkt, die in den RGW-Länder nicht vorhanden waren, und exportierte Waren durften nicht in anderen Ländern des RGW ›unterproduziert‹ sein. Gemäß den
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Richtlinien des RGW sollte die Tschechoslowakei zudem die anderen Mitglieder (kostenlos) mit Patenten, Lizenzen und technischen Anleitungen versorgen. Dies war jedoch für die Tschechoslowakei nicht nur von Nachteil, da das westliche Embargo es der Tschechoslowakei de facto erlaubte, ein Monopol bei der Versorgung der RGW-Länder mit Gerätschaften aufzubauen und aufrechtzuerhalten, wenngleich diese von schlechter Qualität waren. Der Außenhandel wurde ausschließlich durch registrierte Außenhandelsunternehmen (Podniky zahraničního obchodu) mit je eigenen Warenschwerpunkten durchgeführt, welche direkt durch das Außenhandelsministerium gegründet und geleitet wurden. Die Unternehmen mit dem höchsten Anteil an den Exporten der Tschechoslowakei waren im Untersuchungszeitraum Motokov, Technoexport, Strojexport (Maschinerie und Gerätschaften) und Omnipol (Waffenexporte, wird daher in der weiteren Analyse nicht weiter verfolgt).
Ein kurzer Blick auf die kubanische Wirtschaft nach 1959 Der Wandel der kubanischen Wirtschaft nach Castros Machtübernahme war nicht weniger radikal als in der Tschechoslowakei nach 1948; die Marktwirtschaft verwandelte sich in ein zentral gesteuertes und hyperbürokratisch organisiertes System. Experimente einer gemischten Wirtschaftsordnung scheiterten, und 1960 verstaatlichte die kubanische Regierung die meisten Produktionsmittel. Die zentralisierte Wirtschaftslenkung sollte die wirtschaftliche Planung erleichtern und das Wachstum beschleunigen. Nie zuvor in Kubas Geschichte hatte der Staat eine dermaßen dominante Rolle bei der Lenkung der Wirtschaft übernommen – jedoch wurden inkompetente Menschen mit der Umgestaltung betraut, die ernstzunehmende Fehler machten und gewaltige wirtschaftliche Verluste verursachten. Kuba wurde von einigen sozialen Experimenten besonders schwer getroffen, etwa durch eine kostenlose öffentliche Verkehrs- und Telefonversorgung und großzügige Sozialleistungen. Kubas wirtschaftliche Schwäche war mit Guevaras Politik verflochten, materielle Arbeitsanreize abzuschaffen und durch moralische Anreize zu ersetzen (Zimbalist 1989: 68-69). Der Mangel an Koordination innerhalb des Wirtschaftssystems erschütterte Kubas Wirtschaft in ihren Grundfesten und führte zur Knappheit von Grundnahrungsmitteln auf dem Binnenmarkt und 1962 zur Einführung des Rationierungssystems. Des Weiteren wurde das ausländische Kapital im Land – von dem drei Viertel US-amerikanisches Kapital war – infolge der Verstaatlichung US-amerikanischer Zuckerfabriken, Banken, Ölraffinerien und anderer großer Industrieunternehmen schwer getroffen. Dem folgte die Verstaatlichung des Wohnungswe-
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sens, der Leichtindustrie, des Verkehrs, der öffentlichen Leistungen, des Bildungswesens und des Gesundheitssystems. Bald waren auch kubanische Unternehmen betroffen, was mit einer gewissen zeitlichen Verzögerung einen mehr schlecht als recht funktionierenden Dienstleistungssektor mit sich brachte. Während der ersten Hälfte des Jahres 1959 war es noch unklar, wie die geplante Transformation der kubanischen Wirtschaft aussehen würde. Castros Einstellung gegenüber privaten Investitionen aus dem Ausland war skeptisch, wenn auch nicht gänzlich ablehnend. Ein größerer Durchbruch vollzog sich zwischen 1959 und 1960. Im Februar 1960 wurde das erste Handelsabkommen mit der UdSSR unterschrieben. Es beinhaltete einen Kredit über 100 Mio. US-Dollar, der dazu dienen sollte, die Industrialisierung und die wirtschaftliche Entwicklung anzukurbeln, sowie die Übereinkunft, technische Hilfsleistungen zu erbringen. Moskau verpflichtete sich zudem, kubanischen Zucker aufzukaufen, der für den US-Markt bestimmt gewesen war, sowie Öl, Weizen, Stahl und Konsumgüter bereitzustellen. Es folgten Handelsabkommen mit China und einigen osteuropäischen Ländern, einschließlich der Tschechoslowakei. Offensichtlich verschlechterten sich die Beziehungen zwischen Kuba und den USA und im Sommer des Jahres 1960 eskalierte die Situation, als ein offener Wirtschaftskrieg ausbrach. Die USA verboten den Export jeglicher Güter (ausgenommen Lebensmittel und Medizin) nach Kuba und verhängten ein Embargo, das zu einer Lähmung der Wirtschaft Kubas beitrug, indem es erhebliche Engpässe an Ersatzteilen für Maschinen und Gerätschaften verursachte. Die wirtschaftlich äußerst schwierige Situation wurde durch vorzeitig abgebrochene Wirtschaftsexperimente der Revolution – etwa die beschleunigte Industrialisierung – noch verschärft, was zu einer weiteren Verschlimmerung führte und damit Wirtschaft und Lebensstandard im Land noch weiter untergraben wurden. Wissen über Wirtschaftsmanagement existierte praktisch nicht; das Land benötigte Expertinnen und Experten und war nicht auf ein zentral gelenktes Wirtschaftsleben vorbereitet. Aus diesem Grund wurde die wirtschaftliche Entwicklung von sowjetischen und osteuropäischen Fachleuten geplant. Die Verstaatlichung des Außenhandels und der Bruch mit den traditionellen Wirtschaftsverbindungen hatten fatale Konsequenzen für eine Wirtschaft, die seit jeher auf Exporten basierte. Obwohl neue Wirtschaftsbeziehungen mit den Ostblockstaaten und China aufgebaut wurden (1961 erreichte der Anteil der UdSSR am kubanischen Außenhandel 50%), schlugen sich die neuen Partnerschaften nicht in Gewinnen am Devisenmarkt nieder. Kuba fehlte es an dringend benötigten harten Devisen und der Außenhandel des Landes begann unter der negativen Handelsbilanz zu leiden. Gleichzeitig wuchsen Kubas Schulden bei
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sozialistischen und kapitalistischen Ländern immer weiter an. 1962 wurde für die meisten Konsumgüter ein Rationierungssystem eingeführt. Nach der Kubakrise und der damit einhergehenden Abkühlung der Beziehungen zur UdSSR wandte sich Kuba mit der Hoffnung auf wirtschaftliche Unterstützung auf politischer Ebene China zu. Jedoch konnte China in Bezug auf die Fähigkeit, wirtschaftliche Unterstützung für Kuba bereitzustellen, nicht mit der UdSSR mithalten, und der andauernde wirtschaftliche Abschwung ließ Kuba wenige andere Optionen übrig, als sich wieder mit der Bitte um Hilfe an die UdSSR zu wenden (Mesa-Lago 2009: 516; Bethell 1990, VII: 504). Kuba gab es auf, seine Wirtschaft diversifizieren zu wollen und läutete im Einklang mit der sowjetischen Nachfrage und sowjetischen Forderungen eine neue Ära der massiven Produktion und Ausfuhr von Zucker in die RGW-Länder ein.
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Zwischen 1959 und 1962 hatte die Tschechoslowakei nach der UdSSR und China den größten Anteil an der kubanischen Wirtschaft und war somit drittwichtigster Handelspartner Kubas innerhalb des ›sozialistischen Blocks‹. Die Unterstützung Kubas war politisch motiviert und spiegelte das Interesse der Sowjets wider, im sprichwörtlichen ›Hinterhof‹ der USA pro-sowjetische Regimes zu installieren und zu konsolidieren. Teil des Planes war es, Kuba ein großzügigeres wirtschaftliches Unterstützungspaket anzubieten als China es tat, um die Insel vor dem Hintergrund des chinesisch-sowjetischen Zerwürfnisses enger an Moskau zu binden. Während sowjetische Exportgüter in erster Linie Verbrauchsgüter waren (z.B. Petroleum), und China hauptsächlich Lebensmittel (z.B. Reis) ausführte, konnte die Tschechoslowakei Maschinen und Anlagen, Transportfahrzeuge, Kriegsgerät und Waffen, Produktionsmittel und Konsumgüter anbieten. Indem die Tschechoslowakei ihre üblichen Exportgüter anbot, die es in den anderen Sowjet-Ländern nicht gab, errang sie in Kuba eine privilegierte Position. Bereits 1959 stieg der Handel mit der Insel rasant an.2 Im Sommer 1959 wurde eine pro-
2
Zwischen 1959 und 1960 nahmen die Exporte nach Kuba um 400% zu, die Importe aus Kuba stiegen um 1480%. Vgl. [ČSSR, Federální Ministerstvo zahraničního obchodu] (Hg.) [1982]: Vývoj zahraničního obchodu ČSSR za léta 1948-1981 (TAJNÉ), Praha: Federální Ministerstvo zahraničního obchodu, ekonomický odbor – oddělení statistiky.
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visorische tschechoslowakische Handelsabteilung in Havanna eröffnet. Nachdem Mitte des Jahres 1960 die Botschaft der Tschechoslowakei in Havanna eröffnet und erste Wirtschaftsabkommen unterzeichnet worden waren, stieg der Handel zwischen den beiden Ländern deutlich an. Zwischen 1960 und 1961 nahm das Gesamthandelsvolumen um mehr als das Vierfache zu. Die Exportrate der Tschechoslowakei stieg um 300%, Kubas Importe um nahezu 2300%. 1961 gingen 42,2% aller Exporte aus der Tschechoslowakei in lateinamerikanische Länder nach Kuba, wobei gleichzeitig 40% aller Importe der Tschechoslowakei aus Lateinamerika kubanischer Herkunft waren (ebd.). Das oben genannte, im Juni 1960 unterzeichnete Wirtschaftsabkommen schaffte die Grundlage für den bilateralen Handel. Dieser beinhaltete die Gewährung eines Kredits von über 20 Mio. US-Dollar zu einem Zins von 2,5%, ein Übereinkommen zu technischer Unterstützung und ein Handelsabkommen. Die Menge der Güter war nicht festgelegt. Die Unterzeichner des Abkommens gingen davon aus, dass die Vertragsbedingungen jährlich verlängert werden würden, wobei man nur kleinere Änderungen an der Liste der Güter vornehmen würde. An den Vertrag angehängt waren ›Liste A‹ mit den Gütern, die aus der Tschechoslowakei nach Kuba exportiert werden sollten, und ›Liste B‹ mit den Gütern, die aus Kuba in die Tschechoslowakei exportiert werden sollten. Anhand des Archivmaterials wird deutlich, dass die Tschechoslowakei Interesse daran hatte, Eisenerz, Nickeloxid, Elektrolytkupfer und Kupferkonzentrat, Manganerz, unbehandelte Kuhhäute, Kakao, Kaffee, Tabak, Südfrüchte und Säfte zu importieren. Die Liste tschechoslowakischer Güter, die nach Kuba exportiert werden sollten, war umfangreicher. Sie beinhaltete insbesondere Bergbaugerät und Förderanlagen, Gerätschaften für den Maschinenbau, Motoren und Antriebsmaschinen, Pumpen und Kompressoren, Spezialgerät, Konsumartikel, chemische Rohmaterialien und Lebensmittel.3 Die wirtschaftliche Unterstützung Kubas wurde im Oktober 1960 ausgebaut, nachdem Ernesto Guevaras Delegation die Tschechoslowakei besucht hatte (siehe Umschlagabbildung). In Übereinstimmung mit einer Direktive des Politbüros wurde nahezu allen Forderungen Kubas Folge geleistet: Die Erhöhung eines Langzeitkredits um weitere 20 Mio.US-Dollar, verkürzte Lieferfristen für Güter, die aus der Tschechoslowakei nach Kuba exportiert wurden, die Vergabe hunderter Schülerstipendien für junge Kubanerinnen und Kubaner (usw.). Der Vertrag zur verstärkten wirtschaftlichen Unterstützung
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»Obchodní dohoda mezi ČSR a Republikou Kuba«. Aus: Archiv Ministerstva průmyslu a obchodu (AMPO), f. MZO, VI, Republika Kuba, Právní, smlouvy 19601971.
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Kubas wurde am 28. Oktober 1960 als Zusatzprotokoll des Juniabkommens unterzeichnet, und »in Anbetracht seiner außerordentlichen politischen Bedeutung«4 sollte seine Inkraftsetzung »zur Not mithilfe außergewöhnlicher Maßnahmen« (ebd.) sichergestellt werden. Der wichtigste Teil des Abkommens war die Ausweitung des Kredits, der sich auf etwa 40 Mio. US-Dollar (bzw. 290 Mio. tschechoslowakische Kronen, Kčs) belief. Dies war nach den Krediten der UdSSR und Chinas der drittgrößte Kredit, der dem Land gewährt wurde (die UdSSR bewilligte 100 Mio. USDollar, China 60 Mio. US-Dollar). Der Kredit sollte dem Aufbau einer Traktoren- und Automobilindustrie auf Kuba dienen. Darüber hinaus wurde den Kubanern technische und materielle Unterstützung für die Nickelwerke in Nícaro und Moa zugesichert. Die Tschechoslowakei erklärte sich zudem bereit, bis 1966 die Lieferfristen für drei vertraglich vereinbarte Anlagen zu verkürzen (eine Schraubenfabrik, eine Fabrik, in der Schlösser produziert wurden, und eine Spaten- und Schaufelfabrik), sowie sechs Dampfkraftwerke mit einer Gesamtkapazität von 270-275 Megawatt zur Verfügung zu stellen.5 Die einzige Bedingung der Tschechoslowakei, nämlich die Lieferung von Mangan, Chrom, Eisenerz und Kupferkonzentrat, unterlag der Auflage zusätzlicher Rücksprachen in Moskau.6 Die einzige Forderung Guevaras, der zunächst nicht Folge geleistet wurde, war die Aufnahme einer direkten Flugverbindung zwischen Prag und Havanna.7 Obwohl die Tschechoslowakei nahezu umgehend
4
»Výsledky jednání mezi vládními delegacemi ČSSR a republiky Kuba a delegacemi ostatních ZST. Usnesení 133. schůze politbyra ze dne 31.1.1961«. Aus: Národní Archiv Česká Republika (NAČR), f. 1261/0/11 KSČ-ÚV-PB, Faszikel 294.
5
»Protokol o jednání mezi vládními delegacemi ČSSR a Republiky Kuba o čs. dodávkách parních elektráren pro Republiku Kuba, podepsaný 14. listopadu 1960 vedoucími delegací F. Krajčírem a E. Guevarou«. AMPO, f. MZO, Právní, mez. smlouvy, Kuba.
6
»Výsledky jednání mezi vládními delegacemi ČSSR a republiky Kuba a delegacemi ostatních ZST ze dne 27. ledna 1961«. NAČR, f. 1261/0/44 KSČ-ÚV-AN II (Antonín Novotný).
7
Kuba interessierte sich bereits im Sommer 1960 für die Aufnahme dieser Verbindung. Im Oktober telegrafierte der tschechische Botschafter Pavlíček nach Havanna und ließ verlauten: »Das andauernde Hinauszögern einer Antwort auf Fidels, Rauls und Guevaras Anfragen bezüglich der Aufnahme von Flugverbindungen ist blamabel. Bitte informieren Sie mich, welche Position ich einnehmen soll.« Aus: Archiv bezpečnostních složek (ABS), »Letecká linka Praha-Havana, informace pro R. Baráka 19.10.1960«, f. I. správa SNB, Faszikel 80589.
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ein Team von Transportexperten nach Kuba entsendete, konnte die Verbindung erst im Februar 1962 aufgenommen werden (zu Beginn flog die Maschine mit einer Kapazität von 80 Passagieren zwei Mal pro Woche). Die Verbindung der Tschechoslowakischen Fluggesellschaft ČSA war die erste Flugverbindung zwischen Zentraleuropa und der Karibik, und die erste transatlantische Verbindung der ČSA überhaupt. Die Tschechoslowakei versprach sich von dem Ausbau der Wirtschaftsbeziehungen mit Kuba gewisse Vorzüge. Während der ersten Verhandlungssitzungen signalisierten die Regierungsvertreter ihr Interesse an der Einfuhr von Südfrüchten, Kuhhäuten, Seidengarn, Tabak oder Kaffee, und allem voran von Erzen (Nickel, Kupfer, Mangan und Chrom), die in der nationalen Schwerindustrie benötigt wurden. Dies ist auch Grund, warum die Tschechoslowakei nicht zögerte, beachtliche Summen in den Ausbau der kubanischen Bergbauindustrie und Erzaufbereitungsanlagen zu investieren und die dafür nötigen Gerätschaften zur Verfügung zu stellen, sowie für das notwendige technische Know-how zu sorgen, indem Experten nach Kuba entsendet und Kubaner in Prag ausgebildet wurden (u.v.m.). Die Hilfe zahlte sich jedoch entgegen der Erwartungen nicht in Form von gesteigerten Importen dieser Materialien aus, da Kuba es bevorzugte, diese Güter in die westlichen Märkte zu exportieren, die mit harter Währung zahlten. Die an die Tschechoslowakei gelieferte Menge blieb hinter den Erwartungen des Außenhandelsministeriums und hinter den vertraglichen Vereinbarungen zurück. Kuba schaffte es nicht einmal, die vereinbarte Menge an Zucker zu liefern, welcher schließlich die meistexportierte Ware Kubas an die Tschechoslowakei war. In diesem Zusammenhang können die Vorschläge, die Castro und Guevara im Sommer 1961 einer tschechoslowakischen Wirtschaftsdelegation in Havanna unterbreiteten, nur als extravagant bezeichnet werden. Dabei gilt es Folgendes zu beachten, das sich aus Archivmaterial schließen lässt: »Es wäre für die Tschechoslowakei angemessen, ihre eigene Zuckerproduktion neu zu überdenken. Sie behaupteten, […] es wäre für die Tschechoslowakei von Vorteil, kubanischen Zucker zu kaufen und auf diese Weise dazu beizutragen, einander wirtschaftlich zu ergänzen. Sie rieten dazu, die Saatflächen für Zuckerrüben nicht weiter zu vergrößern und den verbleibenden Boden stattdessen für den Anbau anderer Feldfrüchte zu nutzen.«8
Was Kaffee und Kakaobohnen betrifft, lieferte Kuba diese Güter nur in den Jahren 1960 und 1961; das Gleiche gilt für Felle und Leder, wobei im Jahre 1960 Kuhhäute 22% der Gesamtexporte Kubas an die Tschechoslowakei ausmachten. 8
»Pobyt čs. vládní delegace na Kubě ve dnech 3.-19.6.1961«. NAČR, f. 1261/0/11 KSČ-ÚV-PB 1954-1962, Faszikel 313.
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Die Lieferungen von Früchten, Tabak und Tabakerzeugnissen unterlagen in den 1960er Jahren beachtlichen Schwankungen. Im Vergleich dazu entsprachen die tschechoslowakischen Exporte nach Kuba den Bedürfnissen der kubanischen Wirtschaft. Sie bestanden zu zwei Dritteln aus Maschinen, Gerätschaften und Fahrzeugen (insbesondere Autos und Busse, landwirtschaftliche Fahrzeuge wie Traktoren, Kraftmaschinen und elektrotechnische Gerätschaften). Ein wichtiges Exportgut waren Teile für komplette Industrieanlagen (d.h. Kapitalgüter), welche durch Langzeitkredite finanziert wurden. Rohstoffe, Halberzeugnisse und Konsumgüter machten circa 20% des gesamten Exportvolumens aus. Nahrungsmittel nahmen hierbei den kleinsten Teil ein. Im Vergleich zu Produkten anderer osteuropäischer Länder und Chinas wurden tschechoslowakische Erzeugnisse erfolgreich auf den Markt gebracht, auch wenn sie häufig fehlerhaft und von ausgesprochen schlechter Qualität waren. Oft waren die Güter, die nach Kuba kamen, beschädigt, Reserveteile und Geräte inkompatibel oder von sehr minderwertiger Qualität, und auch bei der Inbetriebnahme traten vermehrt Probleme auf. Die Anschaffung von Bussen aus der Tschechoslowakei wurde geradezu zu einem ›traumatischen Erlebnis‹: Ein Drittel der rund 400 Busse, die 1961 nach Kuba geliefert wurden (bei einer Gesamtzahl aller Busse auf der Insel von etwa 4000 Stück), war bereits 1962 außer Betrieb: »Es gelang der tschechoslowakischen Seite nicht, die nötigen Ersatzteile rechtzeitig zu liefern, insbesondere nicht die montagefertigen Bremsbeläge. 1965 kam [das Außenhandelsunternehmen, H. B.-V.] Motokov den Vertragsvereinbarungen nicht nach, da es Ersatzteile für mehr als 920.000 Kubanische Pesos – was in etwa 6,5 Millionen Kčs entspricht – nicht auslieferte.«9
Auch die gelieferten Kapitalgüter ließen zu wünschen übrig. Oft wurden Betriebsanleitungen verspätet geliefert, sodass man die Anlagen auf Kuba nicht in Betrieb nehmen konnte. Während eines Besuchs in der Tschechoslowakei im September 1962 beklagte Guevara: »[I]n technischer Hinsicht befand sich Kuba früher in einer bedeutend besseren Situation […]. Damals waren die technischen Standards einheitlich US-amerikanisch und auch die Ersatzteile waren einheitlich, während jetzt jedes Land des Sowjetblocks seine eigenen
9
»Mimořádná hospodářská zpráva č. 3 o situaci ve veřejné dopravě za rok 1962 ze dne 31.1.1963«. Aus: Archiv Ministerstva zahraničních věcí (AMZV), f. Zprávy ZÚ, Havana 1945-1965.
198 | H ANA B ORTLOVÁ-V ONDRÁKOVÁ Standards anwendet. Die Technologie, die von Ländern des sozialistischen Lagers angeboten wird, bleibt häufig hinter dem weltweiten Durchschnitt zurück.«10
Die unterdurchschnittliche Qualität der gelieferten Güter und die wiederholten Beschwerden wurden für die tschechoslowakische Botschaft in Havanna zu einem Problem, da sich die kubanische Führung in der Regel mit ihrer Kritik an sie wandte. In der Botschaft fürchtete man, dass sich Kubas Unzufriedenheit mit der importierten Ware auf die politischen Beziehungen mit der Tschechoslowakei und anderen Ostblockstaaten niederschlagen würde. Im Außenministerium teilte man diese Bedenken und merkte an: »Noch hat die Tschechoslowakei auf Kuba einen guten Ruf, doch wir müssen zugeben, dass unser Ansehen auf der Insel etwas Schaden erlitten hat […]. Die kubanischen Genossen haben in einer verkehrstechnisch schwierigen Situation besonders große Erwartungen an uns gehabt. Bislang hat die Tschechoslowakei 450 Busse ausgeliefert. Bis zum 25. September sind 130 von ihnen außer Betrieb genommen worden, weil Ersatzteile fehlten, und im Laufe der nächsten Tage müssen noch dutzende mehr ausgemustert werden. Die Ersatzteilfrage […] richtet zudem politischen Schaden an und schwächt die Sache des Sozialismus auf Kuba […]. Der Mangel an Ersatzteilen für Maschinen aus der ČSR könnte den Ruf der Tschechoslowakei in Kuba schädigen. In einer der Schuhfabriken arbeitet man an alten US-amerikanischen Maschinen. In jeder Halle gibt es eine der tschechischen SvitMaschinen, aber keine von ihnen funktioniert. Bei einer von ihnen fehlen Eisennägel (die Maschinen sind nur mit unseren oder den polnischen kompatibel), eine andere hat einen Defekt, den die Kubaner nicht beheben können.«11
Prag war nicht fähig, qualitativ hochwertige Güter zu liefern, nicht einmal durch ›außerordentliche Maßnahmen‹. Hinzu kam, dass auch die Tschechoslowakei versuchte, ihre qualitativ hochwertigen Erzeugnisse in Länder zu exportieren, die mit frei konvertierbarer Währung bezahlten. Ab dem Zeitpunkt, als Kuba dem sozialistischen Lager beitrat, begann die Tschechoslowakei damit, Güter zu liefern, die sie sonst nirgends verkaufen konnte. Darüber hinaus verlängerten sich die Lieferzeiten deutlich. Die zunehmenden wirtschaftlichen Probleme, die ständige Überschätzung der eigenen Exportmöglichkeiten und das Ungleichgewicht zwischen Im- und
10 »Záznam o pobytu soudruhů Ernesto Guevary a Emiliano Aragonése.« NAČR, f. 1261/0/11 KSČ-ÚV-PB, Faszikel 364. 11 »Situační zpráva za měsíc září 1962« und »Technická pomoc ČSSR Kubě – zpráva ze dne 5.3.1962.« ABS, f. I. správa SNB, Faszikel 80721 und 80582.
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Exporten führten zu einer starken Verschuldung Kubas gegenüber der Tschechoslowakei. Als treuer Bündnispartner Moskaus blieb Prag jedoch nichts anderes übrig, als sich des Schuldenproblems mit einem ›hochgradig politischen Ansatz‹ anzunehmen. Bisweilen veranlasste das Land den ›improvisierten Import‹ jeglicher Güter, die Kuba gerade produzieren und anbieten konnte, ungeachtet der realen Importbedürfnisse der Tschechoslowakei. In der zweiten Hälfte des Jahres 1962 wurden die Handelsbeziehungen durch zwei Faktoren beeinflusst: Erstens durch die eigenen wirtschaftlichen Probleme der Tschechoslowakei, welche die ›Großzügigkeit‹ gegenüber Kuba zunehmend erschwerten. Zweitens machte sich in Kuba eine gewisse Irritierung bzw. geradezu ein Misstrauen gegenüber dem gesamten Sowjetblock breit, was eine Folge der Kubakrise im Oktober 1962 war. Im November und Dezember 1962 wurden Verhandlungen zu einem tschechoslowakisch-kubanischen Handelsabkommen für das Jahr 1963 geführt. Dabei sahen sich beide Verhandlungspartner mit ernsthaften Schwierigkeiten bezüglich ihrer Möglichkeiten konfrontiert, den Forderungen des jeweils anderen nachzukommen. Während die Tschechoslowakei sich mit dem wachsenden finanziellen Defizit Kubas befassen wollte, forderte Kuba die Bewilligung der noch ausstehenden 20 Mio. US-Dollar, die unverzügliche Lieferung benötigter Güter und die Platzierung eines vollen Kontingents kubanischen Zuckers auf dem tschechoslowakischen Markt. Die Forderung Kubas, keinen kubanischen Zucker in Drittländer zu reexportieren, stellte für die Tschechoslowakei ein Problem dar, da dies für sie die einzige geeignete Möglichkeit war, über die ungewollte Ware auf geeignete Weise zu verfügen. Kuba stellte noch weitere Forderungen, mit denen sich Prag schließlich einverstanden erklärte. Die Geschäftsverhandlungen mit Kuba waren jedoch ab Ende 1962 durch eine gewisse Spannung gekennzeichnet und die meisten der hier beschriebenen Schwierigkeiten blieben in den Folgejahren weiterhin bestehen.
I NDUSTRIELLE K APITALGÜTER Kapitalgüter nahmen in der Wirtschaftsbeziehung eine wichtige Stellung ein. In den ersten zwei Wochen nach der Unterzeichnung des tschechoslowakischkubanischen Abkommens (Juni 1960), wurden Verträge über die Lieferung von tschechoslowakischen Kapitalgütern im Wert von 24 Mio. Kronen abgeschlossen.12 Der Export von Kapitalgütern nach Kuba war zunächst Teil des tschechoslowakischen Beitrags zur Industrialisierung von Entwicklungsländern, die sich
12 »Zpráva pro RVHP za I. pololetí 1960«. NAČR, f. MZO 1945-1968, Kuba.
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im Kampf um ›nationale Befreiung‹ befanden, oder sich ›dem Sozialismus zuwandten‹. Später war er Teil des tschechoslowakischen Beitrags zur Wirtschaftsentwicklung der sozialistischen Staaten und wurde mithilfe staatlicher Langzeitkredite finanziert. Es handelte sich hauptsächlich um Anlagen für die Zucker-, Milch-, Metall-, Textil- und Schuhindustrie, für den Bergbau und zur Verarbeitung von Industriemineralen. Auch in den kubanischen Energiesektor wurden erhebliche Summen investiert. Kurz nach dem Sieg der Revolution kam es zu den ersten Lieferungen von Francis-Turbinen für Wasserkraftwerke, die von ČKD Blansko gefertigt worden waren.13 Während der 1960er Jahre stellte die Tschechoslowakei weitere Anlagenteile für kubanische Kraftwerke zur Verfügung, u.a. für Tallapiedra (Havanna), Hanabanilla (R. León) und Río Yara, für Punta de Martillo, Regla (Havanna), H. Pavón (Santiago de Cuba), Nuevitas (Diez de Octubre), Cienfuegos-O’Bourke (C. M. Céspedes) und Parellada.14 Bereits 1959 hatte die kubanische Führung Interesse an tschechoslowakischen Kapitalgütern und ganzen Industrieanlagen signalisiert. Das bloße Signalisieren von Interesse führte jedoch nicht immer zu einem Vertrag für eine Lieferung und es kam bei den Verhandlungen teils zu Komplikationen. Eine typische Situation war, dass Castro oder Guevara persönlich in einer Unterredung mit tschechoslowakischen Vertretern Interesse an, sagen wir, einer Munitionsfabrik äußerten. Keiner lieferte jedoch konkretere Informationen. Während man auf der tschechoslowakischen Seite unsicher darüber war, ob dies als Aufforderung für die Unterbreitung eines konkreten Angebots zu werten sei, und anstatt die Initiative zu ergreifen lieber weiter wartete, reagierten andere Länder umgehend und ließen die Tschechoslowakei so hinter sich. Obwohl man dies als politischen Fehler wertete, musste man sich in Prag auch mangelnde Flexibilität in der Reaktion auf die kubanische Nachfrage eingestehen: »Wenn Kubas Führung Interesse an Kapitalgütern, Industrieanlagen oder sonstigen Anlagen signalisiert, so können wir von den unerfahrenen kubanischen Funktionären nicht er-
13 »Ayuda y cooperación«, in: Colaboración. Revista trimestral informativa de la colaboración económica y científico-técnica internacional 6:20 (1984), S. 37. 14 »Informácia o rozvoji kubánskej energetiky«. AMZV, f. Dokumentace TO Kuba 1979. Die Beteiligung der Tschechoslowakei am Auf- und Ausbau des kubanischen Energiesektors stieg in den 1970er und 1980er deutlich an. 1975 waren rund 26% der gesamten kubanischen elektrischen Energie in tschechoslowakischen Anlagen erzeugt worden (Košťák 1980: 142). Laut der Florida International University kommen auch heute noch rund 30% der elektrischen Energie, die in Kuba produziert wird, aus damals von der Tschechoslowakei gelieferten Anlagen.
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warten, dass sie unsere Außenhandelsunternehmen mit unterstützenden Unterlagen zur Umsetzung unserer Projekte versorgen. Wir selbst sind es, die die Initiative ergreifen und nach der Entwicklung des Projekts einen Kostenvoranschlag unterbreiten müssen. Im Notfall müssen wir sogar einen Experten schicken, um das Projekt vor Ort zum Abschluss zu bringen. Während der Verhandlungen mit unserer Handelsdelegation im Juli 1959 äußerte Fidel Castro beispielsweise Interesse am Bau von Traktorfabriken. Heute, sechs Monate später, hat die Tschechoslowakei noch immer kein Angebot unterbreitet. Laut der neuesten Informationen hat Jugoslawien gemeinsam mit einem italienischen Unternehmen ein Angebot gemacht.«15
Zur Verteidigung der Passivität der Tschechoslowakei muss jedoch angemerkt werden, dass die Kubaner sich nicht willens zeigten, für die Unterbreitung von Angeboten und Projektvorschlägen zu bezahlen. Sie beriefen sich darauf, dass dies im Falle der Tschechoslowakei Teil der internationalen Hilfe sein sollte (ganz im Gegensatz zu den Ländern des Westens, die sich für ihre Angebote selbstverständlich bezahlen ließen). Nichtsdestotrotz konnten dank der Tschechoslowakei während der ersten Hälfte der 1960er Jahre zahlreiche Anlagen auf Kuba ihren Betrieb aufnehmen: Eine Fabrik für verschiedene Arten von Schlössern nahm 1961 in Cárdenas die Produktion auf, eine Stiftefabrik 1963 in Batabanó, eine zur Produktion von Schrauben, Bolzen und Muttern 1963 in Santiago de Cuba, eine ZündkerzenFertigungsanlage 1964 in Sagua la Grande (geschätzter Produktionsumfang: 2 Mio. Stück/Jahr), 1961 und 1963 in Guantánamo eine Fabrik, in der Spitzhacken, Spaten und Schaufeln hergestellt wurden (Produktionsumfang: 325.000 Stück/Jahr), 1964 eine Besteckfabrik sowie eine Kugellager-Fertigungsanlage in Santiago de Cuba, 1965 die Schuhfabrik Nguyen-Van-Troi in Havanna, 19611965 eine Fahrradfabrik in Caibarién (20.000 Stück/Jahr), 1964 die Anlage INPUD in Santa Clara, in der Kühlschränke, Herdplatten und andere Haushaltsgeräte hergestellt und zusammengebaut wurden (40.000 Stück/Jahr), 1966 eine Fabrik für Dieselmotoren und Kompressoren in Cienfuegos (3.300 Stück/Jahr). Dazu kamen um 1965 eine Waffenfabrik in Cienfuegos, Reparaturwerkstätten in Havanna, Ausbildungszentren (centros de aprendizaje), die Filmlaboratorien des ICAIC, Umspannwerke in Manzanillo, Bayamo, Artemisa, Cárdenas und Pinar del Río sowie eine Zementfabrik in Guayo.16 Obwohl mit dem Bau mancher An-
15 »Perspektivy čs. obchodních styků s Kubou, 15.2.1960«. ABS, f. I. správa SNB, Faszikel 80589. 16 Dieser Überblick speist sich hauptsächlich aus Archivmaterial der Ministerien für Außenhandel und Außenpolitik. Die Auflistung muss unvollständig bleiben und beinhal-
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lagen bereits 1960 und 1961 begonnen worden war, nahmen die meisten aufgrund erheblicher Verzögerungen bei der Lieferung von Teilen nicht vor Mitte der 1960er Jahre den Betrieb auf. Zu den Investitionsprojekten gehörte auch eine sogenannte technische Unterstützung, d.h. es waren Fachleute vor Ort, die beim Aufbau der gelieferten Anlagen behilflich waren. Die Installation durch tschechische Fachleute und deren Arbeit unter Kubanerinnen und Kubanern war von einigen Schwierigkeiten begleitet. Die Fachleute berichteten von einer niedrigen Arbeitsmoral und beklagten sich über den Mangel an kompetenten kubanischen Arbeiterinnen und Arbeitern, anarchische Zustände bei der Arbeitsorganisation, usw. Darüber hinaus wiesen sie auf die unzureichende Wartung der gelieferten maschinellen Ausstattung hin (z.B. von Kraftwerksblöcken). Nachdem sie den Bau der Anlagen und deren erste Inbetriebnahme beendet hatten, kehrten die Fachleute in die Tschechoslowakei zurück und die Kubaner baten in der Regel nicht um weitere technische Assistenz, hauptsächlich aus finanziellen Gründen. Die tschechoslowakische Botschaft berichtete Ende 1965: »Nach einigen Monaten können wir sagen, dass die vollständige Auflösung der technischen Unterstützung ernsthafte Konsequenzen für die Produktion und Produktivität dieser Anlagen hat, deren Kapazitäten von 10% bis 30% genutzt werden. In drei Anlagen – Sagua La Grande, Cárdenas (Schlösserfabrik) und Guantánamo – ist die Produktion vollends zum Stillstand gekommen. Oft werden die Maschinen nicht ordentlich gewartet und diverse notwendige Bauteile werden nicht rechtzeitig bestellt. Unsere Produktionsmethoden, Maschinerie und unser Gerätschaften und somit all unsere Hilfe, wird häufig verantwortungslos und demagogisch kritisiert.«17
Es trifft jedoch nicht zu, dass Kubas Kritik immer »verantwortungslos und demagogisch« (ebd.) war. Im Gegenteil, sie war oft gerechtfertigt. Die Kubaner beschwerten sich über die schlechte Qualität der Anlagen und Gerätschaften, deren häufige Fehlerhaftigkeit und die Zeitverzögerungen bei den Lieferungen. Nach einem Besuch auf der Insel berichtete Karel Podlaha, der Generaldirektor der tschechoslowakischen Nationalbank:
tet auch nicht die Stromkraftwerke, welche an anderer Stelle des vorliegenden Textes behandelt werden. 17 »Zpráva o vědecko-technické pomoci Kubě, 29.12.1965«. AMZV, f. Zprávy ZÚ, Havana 1945-1965.
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»Betriebsleiter sind ebenso wie einfache Arbeiter oft enttäuscht ob des niedrigen technischen Niveaus der Produktionsmittel aus den sozialistischen Ländern, im Vergleich zu den amerikanischen oder denjenigen aus Westdeutschland, die sie aus eigener Erfahrung kennen […].«18
K REDITPOLITIK
UND
S CHLUSSFOLGERUNGEN
Im Einklang mit der Politik des sozialistischen Internationalismus gewährte die Tschechoslowakei Kuba langfristige Kredite zu niedrigen Zinsen (um die 2%). Ähnlich wie bei anderen Entwicklungsländern gab es jedoch nicht viele Garantien, dass Kuba je in der Lage sein würde, diese zurückzuzahlen. Die Staatsdarlehen der Tschechoslowakei lassen sich nach ihren Zwecken in drei Gruppen unterteilen: Konsolidierungskredite, Investitionskredite (für Kapitalgüter) und eine ganz besondere Kategorie von Krediten, die für die Versorgung mit ›speziellen Materialien‹ (mit anderen Worten: Waffen) bewilligt wurden, bei denen häufig verschiedene Arten von Ermäßigungen, Rabatten und Abschreibungen gewährt wurden. Abgesehen von den Staatskrediten, die politisch motiviert, günstig und sicher waren, konnte Kuba auch Unternehmenskredite verwenden, wenngleich diese durch weit strengere Vorschriften reguliert wurden – ein Unternehmen konnte im Gegensatz zum Staat auf eine schwarze Liste gesetzt werden. Um dies zu verdeutlichen, soll gezeigt werden, wie der erste tschechoslowakische Staatskredit (1960) genutzt wurde. Die 290 Mio. Kronen (40 Mio. USDollar), die Havanna gewährt wurden, waren ursprünglich für den Aufbau der Automobilindustrie gedacht. Der Kredit konnte den Import von Kapitalgütern und entsprechenden Maschinen aus der Tschechoslowakei abdecken.19 Im Herbst 1960 wurde die Ausarbeitung von Kubas Vorhaben, eine eigene Automobilindustrie aufzubauen, einer tschechoslowakischen Expertengruppe übertragen. Das Ergebnis war das gigantische Projekt AUTOMOTRIZ-Santiago de Cuba, welches vorsah, dass die Tschechoslowakei bis zum Ende des Jahres 1965 diverse provisorische Montagefabriken für Traktoren und Autos, sowie eine Fabrik für stationäre Motoren (15.000 Stück/Jahr), Motorräder, Roller (10.000 Stück/Jahr) Traktoren (15.000 Stück/Jahr) und Fünf-Tonnen-Lastwagen (5.000 Stück/Jahr) gebaut haben würde. Zusätzlich sollte im Jahr 1966 mit der Produk-
18 »Poznatky vrchního ředitele SBČS Karla Podlahy o situaci na Kubě – některé projevy kritiky vůči ČSSR a ZST, 20. 10. 1962«. NAČR, f. 1261/0/44 KSČ-ÚV-AN II, Kuba. 19 »Pamětní zápiska/Aide memoire, 28.10.1960«. AMPO, f. MZO, Právní, mez. smlouvy-Kuba, Referenznr. MZO/26998/60-27005/60.
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tion von Škoda-Kfz begonnen werden (20.000 Stück/Jahr).20 Die Autoren des Projektes rechneten mit der Einbindung hunderter Arbeiterinnen und Arbeiter aus der Tschechoslowakei: 564 Arbeiterinnen und Arbeiter sollten bis 1962 eintreffen und fast 1000 bis 1963.21 Die Schwachstellen des AUTOMOTRIZ-Projektes wurden sofort deutlich und die unrealistischen Pläne mussten korrigiert werden: In erster Linie, weil die Tschechoslowakei nicht in der Lage war, rechtzeitig und in gleichbleibender Qualität zu liefern. Gegen Ende des Jahres 1962 war klar, dass sich das Projekt noch weiter verzögern und die Kosten bedeutend höher sein würden. Und das selbst, wenn nicht mit eingerechnet wurde, dass Kuba nach der Invasion von Anti-Castro-Streitkräften in der Schweinebucht einen Teil des Kredits dazu nutzte, um tschechische und sowjetische Militärausrüstung zu erwerben. Zudem verschlechterte sich die Verständigung und das Projekt wurde de facto von niemandem koordiniert. Mitte des Jahres 1962 traf José Estrada, Guevaras Verantwortlicher für die Traktoren- und Automobilindustrie, in der Tschechoslowakei ein. Er beschwerte sich bei dem ZK der KPČ über die Verzögerungen der Lieferungen und über die Nichteinhaltung des Bauzeitplans: »[Die Verzögerungen, H. B.-V.] werden den Bedürfnissen der nationalen Wirtschaft Kubas nicht gerecht. Die Versprechen, die durch die tschechoslowakische Seite gegeben wurden, werden nicht erfüllt und die Verhandlungen zum Aufbau einer Traktorenindustrie haben mehr kommerziellen Charakter als den einer Freundschaftshilfe.«22
Obwohl infolge der Beschwerden Estradas ein ›politischer Koordinator‹ nach Kuba geschickt wurde, beorderte das Politbüro bereits am 23. Oktober 1962 Außenhandelsminister Krajčíř, »mit den Kubanern den Stopp des Automobilindustrieausbaus in der zuvor vorgeschlagenen Größenordnung zu besprechen.«23 Ende
20 »Výstavba automobilového průmyslu na Kubě - pamětní zápis.« NAČR, f. MZOKUBA, Faszikel »Možnost vybudování autom. průmyslu AUTOMOTRIZ Santiago de Cuba, 1960.« 21 »Dodatkový protokol k Hospodářské dohodě mezi Republikou Československou a Republikou Kuba, 28.10.1960«. AMPO, f. MZO, VI – Republika Kuba, Právní, smlouvy 1960-1971. 22 »Informace o průběhu jednání s José Estradou [undatiert]«. NAČR, f. 1261/0/11 KSČÚV-PB, Faszikel 363. 23 »Zpráva o čs. hospodářské pomoci Kubě, včetně dodávek speciálního material - Usnesení politbyra ze dne 23.10.1962«. NAČR, f. ÚV KSČ 1261/0/11 1954-1962, Faszikel 367.
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des Jahres 1962 wurde das Projekt auf eine einfache Montagefabrik für Traktoren reduziert und in den darauffolgenden Jahren von beiden Seiten her vollständig aufgegeben. Der verbleibende Kredit wurde anschließend vor allem für den Kauf tschechoslowakischer Kraftwerke genutzt. In der ersten Hälfte der 1960er Jahre gewährte die tschechoslowakische Regierung Kuba Kredite in einer Gesamthöhe von annähernd 1,2 Mrd. Kčs (bis zum Jahr 1966 hatte Kuba lediglich um die 280 Mio. Kronen zurückgezahlt).24 Nicht quantifizierbar sind die Staatskredite, die für den Kauf von Waffen gedacht waren. Es ist möglich, dass die kubanische Schuld für ›spezielle Lieferungen‹ im Dezember 1962 etwa 46 Mio. US-Dollar ausmachte.25 Obwohl im Jahr 1964 einige Expertinnen und Experten damit begonnen hatten, die nachteilige Kreditpolitik gegenüber Kuba zu kritisieren, wurden die reformorientierten Stimmen ab August 1968 zum Schweigen gebracht. Im Zuge der ›Normalisierung‹ ihrer Außenbeziehungen musste die Tschechoslowakei unter anderem ihre Haltung in Bezug auf die Bitten der kubanischen Führung um Kredite überdenken. Als Castro (nachdem er die Invasion der Tschechoslowakei durch den Warschauer Pakt als Akt der Verteidigung des Sozialismus gut geheißen hatte) im Juni 1972 erstmals persönlich die Tschechoslowakei besuchte, wurden wieder großzügig Staatskredite gewährt. Castros Besuch bekräftigte nicht nur die engen politischen Kontakte und markierte den Höhepunkt der Propagandakampagne der Freundschaft und des gegenseitigen Verständnisses der beiden Länder. Er leitete auch zwei weitere Dekaden intensiver wirtschaftlicher Beziehungen ein.
A RCHIVQUELLEN ABS – Archiv bezpečnostních složek (Archiv der Sicherheitsdienste), Prag I. správa SNB AMPO – Archiv Ministerstva průmyslu a obchodu (Archiv des Ministeriums für Industrie und Handel), Prag MZO AMZV – Archiv Ministerstva zahraničních věcí (Archiv des Ministeriums für auswärtige Angelegenheiten), Prag
24 »Zpráva o vývoji na Kubě, v její komunistické straně a návrhy na další postup, 6.5.1967«. NAČR, f. 1261/0/44 KSČ-ÚV-AN II, KUBA. 25 »Zápis z rozhovoru V. Širokého s Carlosem Rafaelem Rodríguezem, 20.12.1962«. NAČR, f. 1261/0/44 KSČ-ÚV-AN II, KUBA.
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Dokumentace TO Kuba 1979 Zprávy ZÚ, Havana 1945-1965 [ČSSR, Federální Ministerstvo zahraničního obchodu (Bundesministerium für Außenhandel)] (Hg.) [1982]: Vývoj zahraničního obchodu ČSSR za léta 1948-1981 (TAJNÉ), Praha: Federální Ministerstvo zahraničního obchodu, ekonomický odbor – oddělení statistiky NAČR – Národní Archiv Česká Republika (Nationalarchiv der Tschechischen Republik), Prag KSČ-ÚV: Archiv Komunistická strana Československa - Ústřední výbor (Archiv des Zentralkomitees der KSČ) KSČ-ÚV-AN II KSČ-ÚV-PB
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Der Aufbau der Beziehungen zwischen der SBZ/DDR und Argentinien, 1947-1972 V ÍCTOR M. L AFUENTE
Die Beziehungen zwischen der DDR und Argentinien sind ein noch kaum erforschtes Thema. Die Literatur zum Thema ist fragmentarisch: längere Abhandlungen sind entweder Überblicksdarstellungen zu den Beziehungen zwischen den beiden Ländern oder den Kontakten der DDR mit ganz Lateinamerika gewidmet, wodurch das Verhältnis zwischen Argentinien und der DDR jeweils nur sehr knapp untersucht wird (z. B. Musacchio 2011; Schönwald 1998). Tatsächlich blieb der Umfang der offiziellen Beziehungen Argentiniens zur DDR deutlich geringer als jener zur BRD und beschränkte sich anfangs auf den wirtschaftlichen Bereich. Die 1954 in Buenos Aires eröffnete Handelsvertretung der DDR (HV) wurde 1962 von der argentinischen Regierung wieder geschlossen. Erst 1973 wurden diplomatische Beziehungen zwischen den beiden Ländern aufgenommen. Die Erforschung der Beziehungen zwischen der DDR und Argentinien ist dennoch lohnend: Die sich zwischen den verschiedenen Akteuren entwickelnde Handlungsdynamik erlaubt einen interessanten Einblick in die Strukturen des komplexen politischen Umfelds der argentinischen Innenpolitik im Kontext des Kalten Krieges. Auf welche Vor- und Nachteile traf die DDR bei der Anbahnung von Beziehungen mit Argentinien? Warum war dieses lateinamerikanische Land ein wichtiger Partner für die DDR? Und welche Interessen hatte Buenos Aires wiederum an der Beziehung mit Ost-Berlin? Welche Rolle spielten die HallsteinDoktrin und die zunehmende finanzielle Abhängigkeit Argentiniens von den Westmächten? In diesem Beitrag wird versucht, durch die Analyse des Zeitraumes 1947-1972 Antworten auf diese Fragen zu finden. Dazu werden vorwiegend deutsche und argentinische Quellen aus Archiven sowie Publikationen aus dem zu untersuchenden Zeitabschnitt ausgewertet. Die Recherchen, die diesem Bei-
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trag zugrunde liegen, wurden im Rahmen meines Promotionsprojekts an der Universität zu Köln zum Thema Die Beziehungen der SBZ/DDR und Argentinien zwischen 1945 und 1990 durchgeführt. Da sie nicht abgeschlossen sind, könnten die hier vorgestellten Thesen durch weitere Aktenfunde ergänzt oder revidiert werden.
D IE N ACHKRIEGSZEIT Unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg fand sich Argentinien vor eine neue außenpolitische Lage gestellt. Die traditionelle finanzielle Hegemonie Großbritanniens in Argentinien, die seit dem Ersten Weltkrieg in die Krise geraten war, war definitiv gebrochen. Die USA wurden zur Weltmacht, aber die Welt war in zwei ideologische Lager geteilt (Rapoport 2005: 35). Auch die Sowjetunion hatte ihre politische Macht ausgebaut und war imstande, die Vormachtstellung der USA infrage zu stellen. Argentinien wurde ab 1946 von Juan Domingo Perón regiert. Die Beziehungen zwischen den USA und Argentinien waren in dieser Phase konfliktiv. Gründe dafür waren zum einen die abwartende Haltung Argentiniens, das erst spät den Achsmächten den Krieg erklärte, zum anderen die zunehmende US-amerikanische Hegemonie und der Anspruch des Peronismus auf eine Vormachstellung in Lateinamerika. Perón betrieb eine von Verstaatlichungen ausländischer Betriebe gekennzeichnete nationalistische Politik, verbunden mit umfassenden sozialen Maßnahmen und der Entwicklung der Leichtindustrie mit dem Ziel der Importsubstitution (Horowicz 2015: 146-147). Die Politik des ersten Peronismus wurde von der Mehrheit des argentinischen Volkes begrüßt, fand aber keinen Beifall bei Großbritannien und den USA. In der Außenpolitik beschritt Perón den so genannten ›Dritten Weg‹: Argentinien und Lateinamerika sollten unter den Rahmenbedingungen des Kalten Krieges ihre Position stärken, indem sie mit Ost und West Beziehungen pflegten (Rapoport 2005: 36-37). Dies darf nicht als Liebäugeln mit dem Kommunismus verstanden werden. Obwohl viele soziale Maßnahmen getroffen und die Wirtschaft stark zentralisiert wurde, war der Peronismus antikommunistischer Natur. Argentinien war Teil der westlichen Welt (Schönwald 1998: 327). Die NordSüd-Konflikte innerhalb des kapitalistischen Systems ließen dem Regime Peróns Spielräume in Westeuropa, im Ostblock und in den Nachbarländern. Die peronistische Planwirtschaft organisierte den Außenhandel um das Argentinische Institut zur Förderung des Außenhandels (Instituto Argentino de Promoción del Intercambio, IAPI) und die argentinische Zentralbank (Banco Central de la República Argentina, BCRA) herum. Das IAPI kaufte die Agrar-
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produktion argentinischer Großlandwirte zu relativ günstigen Preisen auf und förderte bilaterale Abkommen zu deren Absatz. Seine Überschüsse dienten der Finanzierung der Sozial- und Umverteilungspolitik des Peronismus (Novik 2004: 76-78). Angesichts der Konjunkturschwäche der argentinischen Wirtschaft in der ersten Hälfte der 1950er Jahre suchte das IAPI Handelspartner in Osteuropa. Das erste Abkommen mit der Sowjetunion kam 1953 zustande (Rapoport 2005: 37). Schon 1947 bekundete die Sowjetische Militäradministration Deutschlands (SMAD) in zwei Briefen an die argentinisch-schweizerische Handelskammer in Genf und Bern ihr Interesse, Kompensationsgeschäfte mit argentinischen Handelsinstitutionen abzuschließen.1 Im selben Jahr fanden in Berlin Gespräche zwischen dem Hamburger Unternehmer Max Klein und der Deutschen Verwaltung für Interzonen- und Außenhandel statt. Klein gab an, in Buenos Aires über Verbindungen zu verfügen, die bereit wären, ein Handelsabkommen zwischen dem IAPI und der SMAD anzubahnen. Das Vorhaben wurde jedoch nicht realisiert, da Argentinien vor allem an harten Devisen (US-Dollar) interessiert war, um sein Außenhandelsdefizit auszugleichen (Schönwald 1998: 314-315). Die SMAD und später die DDR konnten aber argentinische Produkte über Drittländer wie Bulgarien oder die UdSSR auf Kompensationsbasis erwerben, ohne Devisen einsetzen zu müssen.2 Solange Buenos Aires hohe Preise verlangte und harte Bedingungen stellte, bevorzugte die DDR daher Dreiecksgeschäfte. Dies änderte sich, als die ostdeutsche Industrie sich erholte und Überschüsse in einem Umfang herstellte, um über die Reparationsleistungen an die UdSSR hinaus zu exportieren (Schönwald 1998: 315). Im Jahre 1949 setzte sich Herbert Staudt vom Konzern Staudt & Co mit der Hauptverwaltung Interzonen- und Außenhandel in Verbindung. Er stand in Kontakt mit dem argentinischen Konsul in Frankfurt am Main, Enrique Dubois, und versicherte, Argentinien habe Interesse an einem Handelsabkommen mit der SBZ. Eine Voraussetzung für dessen Zustandekommen war aber, dass die SBZ mindestens ein Viertel der Vergütung für die argentinischen Importe in USDollar begleichen sollte – eine Bedingung, die die SBZ nicht erfüllen konnte (Musacchio 2011:82). Im selben Jahr machte sich eine Delegation aus Ostdeutschland mit dem Ziel der Anbahnung von Handelbeziehungen nach Lateinamerika auf. Diese Reise beunruhigte die Westmächte, was sie die betroffenen
1
»Brief an die argentinisch-schweizerische Handelskammer«, 29.9.1947, Bl. 5-6, Aus: Bundesarchiv (BArch), Ministerium für Außenhandel und Innerdeutschen Handel. Teil 1:1945-1964, DL 2/3268.
2
»Reexporte nach Argentinien«, 24.7.1954, Bl. 222-223, BArch DL 2/988.
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Länder wissen ließen. Während Brasilien der Delegation die Einreise verweigerte, wurde sie in Argentinien genehmigt, was als Zeichen für das Interesse am Handel mit der DDR gewertet werden kann. Einen offiziellen Empfang gab es jedoch nicht (Schönwald 1998: 311-312). Ob die Delegation sich dennoch inoffiziell mit argentinischen Funktionären, Firmen oder Vereinen treffen konnte, muss noch geklärt werden, konnte aber bisher keiner der Quellen entnommen werden. Ab 1952 wuchsen die Möglichkeiten für den Handel zwischen Ost-Berlin und Buenos Aires durch die Gründung der Argentinische Handelskammer zur Förderung des Außenhandels (Cámara Argentina pro Fomento del Intercambio, CAFI). Die CAFI unterstützte den Außenhandel durch Vermittlung zwischen Firmen und Behörden und spielte eine maßgebliche Rolle bei der Anbahnung von Handelsbeziehungen mit dem Ostblock. Zwar war sie auch für die anderen Länder des sowjetischen Einflussbereichs von großer Hilfe, die DDR hing aber von ihr und den Botschaften der »befreundeten Länder«3 ab, denn sie verfügte bis 1954 über keine eigene Handelsdelegation in Argentinien und kam mit argentinischen Funktionären nur über lange Umwege in Kontakt, während die anderen Länder auf ihre Botschaften zählen konnten. Außerdem wurde die CAFI von Unternehmern gebildet, welche die Lage vor Ort und Funktionäre persönlich kannten – eine zwingende Voraussetzung für Geschäfte in Argentinien. Leider gibt es nur wenig Material der CAFI selbst zu ihrer Entstehung und Entwicklung. Die CAFI gab in Buenos Aires die Zeitschrift Intercambio. Comerciar con todo el mundo heraus, in der über die Vorteile des Handels mit den Ländern jenseits des Eisernen Vorhangs berichtet und Anzeigen veröffentlicht wurden.4 Tatsache ist, dass die CAFI in Verbindung mit der Welthandelskonferenz in Moskau 1952 stand. Eine argentinische Delegation besuchte diese Konferenz, darunter Felipe Freyre und Jaime Fuchs, beide bekannte Mitglieder der Kommunistischen Partei Argentiniens (KPA). Sie sprachen vom Problem einer von Agrarexporten abhängigen Wirtschaft, der es an Maschinen und Traktoren zu ihrer Modernisierung fehle (Komitee in der DDR zur Förderung des Welthandels 1952: 45-46). Die CAFI übte in Argentinien eine rein handelspolitische Funktion aus; für eine politische Tätigkeit zur Verbreitung des Kommunismus in Argentinien ließ sich bisher kein Hinweis finden. In Intercambio wurden auch Artikel über den Handel mit westeuropäischen Ländern veröffentlicht, sogar mit der BRD. Die CAFI stand unter der Regierung Peróns in Verbindung mit dem argen-
3
»Brief der HV in Buenos Aires an das MAI«, 4.4.1954, Bl. 359-360, BArch DL
4
»¿Nos conviene comerciar con el Este?«, in: Intercambio 21:3 (1956), S. 21-22.
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tinischen Handelsministerium, ebenso nach dessen Sturz.5 Sie war nicht illegal tätig, aber den argentinischen Sicherheitsdiensten ein Dorn in Auge. Intern wurde die CAFI von diesem als »subversiv«6 und »ideologische Infiltration im Land« (ebd.) eingestuft. 1953 hielt sich in Ost-Berlin eine Delegation der CAFI auf, die sich später in Buenos Aires erfolgreich für den Empfang von DDR-Funktionären einsetzte (Schönwald 1998: 319-320). So gingen 1954 Mitarbeiter des Ministeriums für Außen- und Innenhandel der DDR (MAI) nach Buenos Aires, die feierlich von der CAFI empfangen wurden.7 Ihnen gelang es nach sehr schwierigen Verhandlungen, im September 1954 ein Kompensationsabkommen mit dem IAPI mit Gültigkeit bis zum 31. Dezember 1955 abzuschließen und die HV zu eröffnen.8 Dass nur das IAPI als Handelspartner im Abkommen genannt ist, hat mit der Haltung Argentiniens zur deutschen Frage zu tun: das Außenhandels- bzw. das Außenministerium als Vertragspartner wäre einer staatlichen Anerkennung der DDR gleichgekommen. Die CAFI organisierte 1954 die erste Teilnahme Argentiniens an der Leipziger Messe. In der argentinischen Delegation befanden sich Unternehmer, Diplomaten und Funktionäre des Außenhandelsministeriums. Letzteres gab dies bekannt und hob hervor, dass wichtige DDR-Funktionäre den argentinischen Stand besucht hatten.9 Wie unterschiedlich die Meinungen der verschiedenen argentinischen Stellen zur DDR waren, lässt sich daran erkennen, dass die argentinischen Sicherheitsdienste das Geschehen bei der Leipziger Messe misstrauisch durch das Außenministerium beobachten ließen.10 Durch das IAPI und die CAFI kam die HV in Verbindung mit der Nationaldirektion für Staatsindustrien (Dirección Nacional de Industrias del Estado, DINIE). Diese Institution verwaltete Firmen, die unter der Regierung Peróns
5
»Carta del Subsecretario de Comercio al Pte. de la CAFI«, in: Intercambios 21:3
6
»Comunismo en Argentina«, Bl. 10. Aus: Comisión Provincial por la Memoria,
(1956), S. 12. Dirección de Inteligencia de la Provincia de Buenos Aires, División Central de Documentación y Registro, Mesa C, Carpeta Varios, Legajo 121. 7
»Note an das Amt des Hohen Kommissars«, 13.4.1954, Bl. 59, BArch DL 2/153.
8
»Acuerdo con Alemania Oriental«, in: Revista del Comercio Exterior Argentino 9:1-2 (1955), S. 8.
9
»La Feria de Leipzig«, in: Ebd., S. 24.
10 »Respuesta de la Dirección Europa Oriental al Memorandum 289/867 del Departamento de Coordinación y Enlace«. Aus: Archivo Histórico de la Cancillería Argentina (MREC), Europa Oriental I, AH 0060.
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verstaatlicht oder beschlagnahmt wurden. Die Entstehung der DINIE war von nationalistisch-propagandistischer Symbolik behaftet. Sie sollte ein Wahrzeichen für die Verteidigung der nationalen Interessen Argentiniens gegen das ausländische Kapital werden. Zu den beschlagnahmten Firmen zählten auch die deutschen Unternehmen, die mit dem Abbruch der Beziehungen Argentiniens zum Dritten Reich und schließlich der Kriegserklärung als feindliches Eigentum eingestuft und unter Staatsverwaltung gestellt wurden (Romero 2012: 124). Die Rückgabe dieser Unternehmen war Gegenstand langjähriger Verhandlungen, die erst während der Regierung Frondizis abgeschlossen wurden. Solange diese Unternehmen zur DINIE-Gruppen gehörten, waren sie ideale Handelspartner für die DDR, denn sie wiesen ähnliche Strukturen auf. Es handelte sich um staatliche Firmen, die ihren Warenaustausch über staatliche Einrichtungen – MAI bzw. IAPI – abwickeln konnten. Als die DINIE nach dem Putsch 1955 wegen Korruption ins Visier der neuen Regierung geriet, und mit ihrer Auflösung im Zusammenhang mit der Wirtschaftsliberalisierung nach 1958 verlor das MAI einen bedeutenden Handelspartner in Argentinien. Der Sturz der Regierung Peróns durch die Revolución Libertadora (Befreiungsrevolution) erschütterte 1955 die politische Landschaft in Argentinien. Die neue Regierung führte eine Säuberungsaktion in Ämtern und Organisationen mit dem Ziel der Bekämpfung von Korruption und antidemokratischen Elementen durch. Zweifellos hatte das Ausmaß der Korruption während der Regierungszeit Peróns die argentinische Wirtschaft und das Funktionieren der verschiedenen Institutionen belastet, die Maßnahmen der Revolución Libertadora führten jedoch vor allem zu einer starken Repression der mit dem Peronismus identifizierten Arbeitnehmerschaft (ebd.: 157-158). Für die HV bedeutete dies, dass sich die Verhandlungen für die Erneuerung des Handelsabkommens verzögerten. Es hatte lange gedauert, bis man mit den peronistischen Funktionären ins Gespräch gekommen war. Kaum ein Jahr nach Abschluss des Abkommens wurde das Regierungspersonal fast vollständig ausgetauscht. Die HV beschloss, argentinische Berater hinzuzuziehen. Trotz hoher Honorare wurde das Ziel nicht schneller erreicht (Musacchio 2011: 90-91). Die Außenpolitik der Revolución Libertadora wird durch eine Intensivierung der Beziehungen zu den Westmächten gekennzeichnet, vor allem zu den USA. Klar ersichtlich wird dies im Beitritt Argentiniens zum Internationalen Währungsfonds (Romero 2012: 158). Dennoch entsandte das argentinische Außenhandelsministerium im Januar 1958 die Mission Ondarts in die UdSSR. Sie hatte die Handelserweiterung zum Ostblock zum Ziel. Die Mission war nicht erfolgreich und wurde im Außenministerium sehr kritisch beurteilt (Ruth 1995: 137). Am 31. März 1958 wurde nach langjährigen Verhandlungen ein Zahlungsab-
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kommen zwischen der argentinischen Zentralbank und der Deutschen Notenbank (DNB) unterzeichnet. Die argentinischen Behörden vermieden es, die DDR in diesem Abkommen als Staat zu erwähnen. Im Text steht wörtlich »die Einflusszone der DNB«11. Es kann noch nicht erklärt werden, warum dieses Dokument zwischen der Wahl und der Amtsübernahme Frondizis unterzeichnet wurde. In Ost-Berlin sah man es kritisch, denn die HV hätte sich um ein Abkommen mit der neuen Regierung bemühen müssen (Musacchio 2011: 90). Ob das Abkommen zwischen der BCRA und der DNB nur durch die Bemühungen der HV in Buenos Aires entstand oder auch in Europa während der Mission Ondarts diskutiert wurde, ist noch nicht geklärt. Arturo Frondizi wurde am 23. Februar 1958 zum Präsidenten gewählt. Er trat das Amt am 1. Mai jenes Jahres mit einem von der Idee des desarrollismo geprägten Entwicklungsprogramm an. Argentinien stand vor zahlreichen Herausforderungen, u.a. vor der Notwendigkeit einer Modernisierung der Infrastruktur, unterstützt durch ausländische Investitionen. Die Regierung musste akute politische und wirtschaftliche Krisen überwinden, was Kurswechsel in der Innen- und Außenpolitik zufolge hatte (Romero 2012: 162-164). Inwieweit diese Kursänderungen Frondizi von ausländischen oder argentinischen Interessengruppen aufgezwungen wurden, kann im Rahmen dieser Arbeit nicht ausführlich analysiert werden. Die Untersuchung der Beziehungen zur DDR kann aber zur Klärung dieser Frage einen kleinen Beitrag leisten. In verschiedenen Reden Frondizis wurde betont, dass Argentinien zur westlichen, christlichen Welt gehöre. Daraus ergebe sich aber kein Widerspruch zur Ausweitung der wirtschaftlichen Beziehungen nach Osteuropa. Die Nichteinmischungspolitik sei eine Prämisse der argentinischen Außenpolitik – in einer Zeit, die von der kubanischen Revolution und der Verschärfung des Ost-WestKonflikts in der Deutschlandfrage geprägt war. Diese Politik lasse sich mit dem Handel mit den volksdemokratischen Ländern vereinbaren und ermögliche die Modernisierung des Landes. Denn zur Entwicklung Argentiniens sei die Hilfe aus dem Ostblock willkommen, aber gleichzeitig wurde jeglicher kommunistischen Infiltration der Kampf erklärt.12 Ein Beispiel dafür sind die Entsendung der Mission Liceaga nach Osteuropa, um Handelsabkommen zu verhandeln, und die Umsetzung des Plan Conintes (Conmoción Interna del Estado, Innere Erschütterung des Staates), womit dem ›kommunistischen Terrorismus‹ im Lande
11 »Acuerdo de pagos entre el BCRA y el Deutsche Notenbank«, 31.3.1958, BCRA, Circular C. 3217. 12 Zum Beispiel die Rede »El gobierno es nacional«, 23.11.1960, (Frondizi 2012: 311321).
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zwischen 1958 und 1961 der Krieg erklärt wurde. Er beinhaltete eine Umstrukturierung der Sicherheits- und Geheimdienste und die Unterdrückung der sozialen Unruhen, welche durch die Folgen der Liberalisierung der Wirtschaft (wie Entlassungen und die Abschaffung von Arbeitnehmerrechten) verursacht wurden (Chiarini/Portugheis 2014: 21). Die KPA und angeblich mit ihr in Verbindung stehende Institutionen wurden verboten und ihre Mitglieder verhaftet.13 Dazu gehörten auch die CAFI und der Verein Vorwärts.14 Das MAI verlor so seinen wichtigsten Rückhalt in Argentinien. Die Geheimdienste und die Armee blieben aber auch nach der offiziellen Beendigung des Plan Conintes aktiv und wurden zu politischen Akteuren, die nicht der Kontrolle der Institutionen der Republik Argentinien unterstanden (Potasch 1996: 32-33). In den ersten Monaten der Regierung Frondizi gab es aber zunächst gute Vorzeichen für den Warenaustausch mit der DDR. Die HV und weitere Vertreterfirmen von DDR-Produkten nahmen an den zahlreichen öffentlichen Ausschreibungen von Maschinen und technischer Hilfe zur Modernisierung des Landes teil. Die Teilnahme an öffentlichen Ausschreibungen wurde aber dadurch erschwert, dass sie nicht transparent und daher korruptionsanfällig waren. Anderseits waren die Lieferzeiten sehr streng und die Planwirtschaft der DDR war nicht immer in der Lage, sie einzuhalten. Paradigmatisch ist die Zunahme der Ölförderung, eines der wichtigsten Projekte der Regierung Frondizi, das Argentinien die Selbstversorgung mit Erdöl und Erdgas ermöglichte. Durch die Firma Rimaco wurden Hunderte von DDR-Motoren für die Ölfelder in Patagonien erworben. DDR-Techniker waren auch vor Ort.15 Während der Regierungszeit Frondizis wurden die Verhandlungen zwischen Argentinien und der BRD zur Rückgabe der als feindliches Eigentum eingestuften deutschen Betriebe geführt (Schönwald 1998: 309-310). Die DDR überreichte der argentinischen Botschaft in Moskau eine Verbalnote, in der man die ar-
13 »El Comunismo y la acción del gobierno«, 13. 4.1961, Bl. 4-5. Aus: Centro de Estudios Nacionales, Presidencia Arturo Frondizi (CEN-PAF), Política de defensa, 03.408.4. 14 Der 1872 gegründete Verein Vorwärts war eine linke Organisation deutscher Einwandererinnen und Einwanderer. Bis Ende des Zweiten Weltkrieges war ein er wichtiger Treffpunkt der antinationalsozialistischen Deutschen. Die Spaltung in Sozialdemokraten und Kommunisten, Anhänger der BRD und der DDR, spitzte sich in den 1960ern zu. Die Kommunisten gründeten später das Centro Democrático Argentino Germano, später das Ateneo Humboldt, Freundschaftsgesellschaften der DDR in Argentinien. 15 »Memorandum al Juez Aguirre«. Aus: Privater Nachlass Carlos Krotsch (PNCK), ohne Signatur.
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gentinische Regierung darauf »hinweisen möchte«16, dass Vermögensansprüche juristischer Personen, die im Rechtsgebiet der DDR angesiedelt waren, nur von der Regierung der DDR als souveränem Staat vertreten werden dürften. Die argentinische Botschaft weigerte sich, die Note offiziell anzunehmen. Eine Kopie derselben wurde jedoch von Botschafter Del Carril nach Buenos Aires gesandt. Dieser zeigte sich über deren undiplomatischen Wortlaut empört. Man fordere darin faktisch von Argentinien, die DDR anzuerkennen, indem man sie als Vertreterin von Vermögensansprüchen an den Verhandlungstisch lade. Das argentinische Außenministerium stimmte dem Botschafter zu.17 Weitere Versuche, das Thema erneut aufzunehmen, sind bisher nicht bekannt. Dennoch wäre es falsch zu glauben, dass Ost-Berlin »aus mangelnden Kenntnissen oder Desinteresse« (Musacchio 2011: 85) das Thema nicht verfolgt hätte. Nachdem Bonn und Buenos Aires sich darauf geeignet hatten, die beschlagnahmten Firmen zu versteigern, wobei den Zentralen westdeutscher Konzerne Priorität eingeräumt werden sollte, legte die von Carlos Krotsch geleitete Firma Rimaco einen Vorschlag zur möglichen Teilnahme der HV an der Versteigerung einer zur DINIE-Gruppe gehörenden ehemaligen deutschen Firma vor.18 Ost-Berlin entschied nach ausführlicher Analyse, nicht an der Versteigerung teilzunehmen. Die Lage sei nicht geeignet, in Argentinien mit eigenen Unternehmen zu operieren. Solange keine staatlichen Beziehungen zwischen der DDR und Argentinien bestünden, existiere keine rechtliche Grundlage, um über Eigentum in Argentinien zu verfügen. Außerdem sei es noch weit komplizierter, sozialistische Betriebe im kapitalistischen Ausland erfolgreich zu führen. Um die infrage kommenden Betriebe im Rahmen kapitalistischer Wirtschaftsordnungen funktionsfähig zu machen, hätte man Umstrukturierungsmaßnahmen treffen müssen, die nicht ohne politische Folgen geblieben wären.19 Die Versteigerung und Rückgabe der ehemaligen deutschen Firmen fanden im Rahmen einer Liberalisierung der argentinischen Wirtschaft statt, die zu Privatisierungen, Entlassungen und Sozialabbau führte (Romero 2012: 164). Für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, Gewerkschaftlerinnen und Gewerkschaftler war der Unterschied zwischen verstaatlichten und beschlagnahmten Firmen nicht von Belang; ihrer Auffassung nach war ihr Verkauf an die ehema-
16 »Verbalnote an das Ministerium für Auswärtige Beziehungen der Republik Argentinien«, 23.4.1957, Bl. 65-66. Aus: Politisches Archiv des Auswärtigen Amts (PA/AA), MfAA A620. 17 »Nota al Embajador del Carril«, 12.6.1957, MREC, Europa Oriental II, AH 017/19. 18 »Schreiben der Fa. Rimaco«, 26.6.1958, Bl. 34-35, PA/AA, MfAA A3374. 19 »Analyse Erwerb Betriebe in Argentinien«, Bl. 3-5, ebd.
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ligen Besitzer ein Landesverrat zugunsten des ausländischen Kapitals. Infolgedessen fanden zahlreiche Demonstrationen der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der DINIE-Unternehmen statt. Ein Teil der Belegschaften erhoffte sich von der DDR die Beteiligung an den Verhandlungen und die Errichtung von Betrieben mit sozialistischen Strukturen. In Ost-Berlin aber fürchtete man, im Fall einer Firmenübernahme Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter entlassen zu müssen, was zur politischen Diskreditierung der DDR beigetragen hätte.20 Die politische Orientierung, die für einen ideologisch offenen Handel eintrat, verlor immer mehr an Gewicht. Die radikale Rechte sah in den Vertretungen der Ostblockländer eine ideologische Beeinflussung Argentiniens durch »revolutionären Handel«21. 1959 wurde das Abkommen von Buenos Aires aufgekündigt, zugleich jedoch auch sämtliche bilateralen Handelsabkommen mit den Nachbarländern. Dies lässt sich als Maßnahme zur Liberalisierung der Wirtschaft und Förderung des freien Handels und nicht als direktes Vorgehen gegen die DDR erklären. Für die Beziehungen zur DDR hatte dies dennoch einschneidende Folgen. Die politische Lage spitzte sich zu, und am 29. März 1962 wurde Frondizi von der Armee abgesetzt. Der Staatsstreich wurde dadurch gerechtfertigt, dass Frondizi nicht hart genug gegen die kommunistische und peronistische Gefahr vorgegangen sei.
1962: D IE F OLGEN DES S TAATSSTREICHS GEGEN F RONDIZI FÜR DIE B EZIEHUNGEN MIT DER DDR 1960 fuhren zum ersten Mal zwei ostdeutsche Schiffe in argentinische Gewässer ein: die MS Halberstadt und die MS Freudenstadt.22 Die Ankunft der Schiffe in den Häfen von Rosario und Buenos Aires bot Anlass zu Feierlichkeiten und zu Kontakten mit der deutschen Gemeinschaft in Argentinien. Zu Ehren der Besatzung der MS Freudenstadt wurde vom Verein Vorwärts ein Willkommensfest veranstaltet (Bauer 1989: 129). Auch auf den Schiffen selbst fanden Veranstaltungen statt, zu denen viele argentinische und deutsche Gäste geladen waren, ebenso die Presse. Es wurden Zeitschriften zum Außenhandel der DDR und zur
20 »Stellungnahme zur Errichtung bzw. Erwerb eines Industriebetriebes in Argentinien«, Bl. 2-3, PA/AA, MfAA A5857. 21 »Proposiciones de medidas anticomunistas«, 1.12.1959, Bl. 5-6, CEN-PAF, Política de defensa, 03.4.8.4. 22 Z.B. »Llega el primer buque de carga que procede de Alemania Oriental«, in: La Razón, 1.9.1960, o.S.; »Arribó a ésta el Freundschaft«, in: La Nación, 2.9.1960, o.S.
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Berliner Frage ausgelegt.23 Der argentinische Inlandsgeheimdienst (Secretaría de Inteligencia de Estado, SIDE) nutzte dies als Vorwand, um beide Schiffe am 5. Juli 1962 nach kommunistischer Propaganda zu durchsuchen.24 Es wurde Material gefunden, das als politisch bezeichnet werden konnte; dennoch war es fraglich, ob dieses zur Verteilung in Argentinien bestimmt gewesen war. Sogar die westdeutsche Botschaft äußerte sich in einem internen Bericht diesbezüglich skeptisch.25 Während der Durchsuchung der beiden Schiffe wurden die Matrosen KarlHeinz Lorenz und Alan Oliver verhaftet. Während letzterer, ein Australier, bald wieder freigelassen wurde, veröffentlichte die Presse, dass Lorenz Asyl bei der westdeutschen Botschaft beantragt habe. Verschiedene Zeitungen, vor allem die Freie Presse, berichteten ausführlich über die angeblich von den Schiffsbesatzungen betriebene kommunistische Propaganda und die spektakuläre Flucht von Lorenz.26 Dieser wurde anschließend in die BRD geflogen und in Düsseldorf wurden ihm Arbeit und Schutz angeboten. In Wirklichkeit war Lorenz vom SIDE und dem westdeutschen Konsul in Rosario praktisch gezwungen worden, ein Presseinterview zu geben und Asyl zu beantragen.27 Kurze Zeit nach seiner Ankunft in Düsseldorf begab sich Lorenz angeblich freiwillig in die DDR, wo er weiter als Matrose arbeiten durfte.28 Obwohl vieles an dem Fall darauf hindeutet, dass der Bundesnachrichtendienst (BND) involviert war29 und die Beteiligung der westdeutschen Diplomatie in Buenos Aires klar nachgewiesen ist, bleibt zu klären, warum der SIDE, welcher sonst äußert diskret und im Schatten der Öf-
23 »Einschätzung der Ereignisse in Argentinien vom 10.6. bis 27.7.1962«, Bl. 2. Aus: Bundesbeauftragte der Unterlagen des ehemaligen Staatssicherheitsdiensts der DDR (BStU/MfS), BV Rst AP 3658/63. 24 »Note an den VEB deutsche Seereederei Rostock«, 16.7.1962, Bl. 8, BStU/MfS, BV Rst AKK 311/78. 25 »Note an das Auswärtige Amt«, 30.8.1962, PA/AA, AV Neues Amt 5494. 26 »Kommunistische Propaganda und sowjetzonale Wirklichkeit«, in: Freie Presse 8.8.1962, S. 3. 27 »Bericht über die Befragung des ehemaligen Matrosen der MS ›Halberstadt‹, Lorenz, Karl-Heinz«, 15.11.1962, Bl. 29-31, BStU/MfS BV Rst AKK 311/78. 28 Lorenz arbeitete als Monteur bis Mitte Oktober 1962 in Düsseldorf. Am 11.11.1962 überquerte er die Staatsgrenze und wurde in der DDR verhaftet (ebd.). 29 »Einschätzung der Ereignisse in Argentinien vom 10.6. bis 27.7.1962«, Bl. 3-4, BStU/MfS BV Rst AP 3658/63.
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fentlichkeit arbeitete, Pressemitteilungen30 herausgab. Es steht zu vermuten, dass er Versuche kommunistischer Infiltration in Argentinien nachweisen wollte, um die allgemeinen Repressionsmaßnahmen und letztendlich den Staatsstreich gegen Präsident Frondizi im Februar 1962 zu legitimieren. Ein weiterer Schlag für die Präsenz der DDR in Argentinien war die Verhaftung von Alfredo Michelsohn und Carlos Krotsch am 9. Juni 1962. Sie wurden der Spionage beschuldigt und sollen Berichte für das Ministerium für Staatssicherheit der DDR (MfS) angefertigt haben. Beide gerieten ins Visier verschiedener argentinischer Geheimdienste, nachdem Günter Männel, ein für Lateinamerika zuständiger MfS-Offizier, 1961 desertierte und mit US-amerikanischen Dienststellen kollaborierte.31 In einem Bericht an Honecker bedauerte man, »dass Männel viel mehr wusste als zur Durchführung seiner Aufgaben notwendig war« (Kowalczuk 2013: 203). Alfredo Michelsohn hatte Deutschland 1938 verlassen und lebte bis zu seiner Verhaftung in Buenos Aires. Er war ein bekannter Boxer und Physiotherapeut.32 Carlos Krotsch war Sudetendeutscher und 1926 nach Argentinien emigriert, wo er bis 1949 für Siemens arbeitete. Der renommierte Ingenieur hatte sich 1931 einbürgern lassen und gründete 1952 zusammen mit weiteren ehemaligen Siemens-Mitarbeitern die Firma Rimaco,33 die neben anderen anspruchsvollen Projekten die Vertretung der ostdeutschen DIAElektronik für den Verkauf elektrischer Motoren in Argentinien innehatte.34 Krotsch stand als Vorstandmitglied der CAFI in Verbindung mit der HV der DDR in Buenos Aires.35 Die Verhaftung von zwei angeblichen kommunistischen Spionen sorgte für ein großes Echo in der Presse.36 Obwohl beide gestanden, tatsächlich dem MfS Bericht erstatten zu haben, wurden sie 1965 freigesprochen, denn die Beweislage
30 »Kommunistisches Propagandamaterial auf Ostdeutschen Schiffen«, in: Argentinisches Tageblatt, 8.8.1962, o.S. 31 Causa Krotsch, Carlos y Michelsohn, Alfredo s/Inf. Art. 3 Ley 13.985. Aus: Poder Judicial de la Nación (PJN), Expediente 2625, Cuerpo 2, Fol. 6. 32 Ebd., Cuerpo 1, Fol. 264-269. 33 »Memorandum al Juez Aguirre«, PNCK, ohne Signatur. 34 In: Intercambio 21:3 (1956), S. 6. 35 »Memorandum al Juez Aguirre«, PNCK, ohne Signatur. 36 Z.B. »Sowjetzonen-Spionage in Argentinien«, in: Freie Presse, 16.6.1962, S. 3-4; »Confirmóse la preventiva a un espía rojo«, in: La Nación, 28.11.1962, o.S.; »Espionaje: Indagan a un detenido«, in: Clarín, 17.6.1962, S. 12.
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für eine Verurteilung reichte nicht aus.37 Die Berichte hatten nichts mit Spionage zu tun, sondern enthielten Information zur Politik und Wirtschaft Argentiniens und zur Beziehung des Landes zur BRD – Berichte also, wie sie sonst von Botschaften erstellt werden.38 Krotsch war überzeugt, dass seine Verhaftung mit dem Staatsstreich gegen Präsident Frondizi im Februar 1962 in Verbindung stand: Die angebliche Untätigkeit Frondizis angesichts einer kommunistischen Infiltration im Lande sollte bewiesen werden, um den Putsch zu legitimieren.39 Die bisherigen Aktenfunde bestätigen dies: Auch der Botschafter der BRD war der Meinung, dass der SIDE sich durch die Verhaftung beider angeblichen Spione als Partner des BND profilieren wollte.40 Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der HV hatten immer wieder Schwierigkeiten, für ihre Tätigkeit in Argentinien eine Aufenthaltsgenehmigung zu erhalten. Solange sie über keinen Aufenthaltstitel verfügten, wurden sie von den argentinischen Regierungen zwar geduldet, ihre prekäre rechtliche Lage wurde aber von den Argentiniern bei den kommerziellen Verhandlungen gerne als Druckmittel eingesetzt (Musacchio 2011: 97). Die nächsten Ereignisse aber müssen im Rahmen der Entwicklung der argentinischen Innenpolitik betrachtet werden. Trotz der unterschiedlichen Ansichten über die Handelsmöglichkeiten mit kommunistischen Ländern setzte sich die radikalere Vision durch, die darauf drängte, jeglichen Kontakt mit Osteuropa und Kuba zu unterlassen. Die Folge war eine Verringerung des Personals in den argentinischen Botschaften dieser Länder, wodurch infolge des Gegenseitigkeitsprinzips die Verkleinerung der Botschaften und Vertretungen dieser Länder in Argentinien erreicht wurde. Diese waren in der Auffassung nationalistischer Gruppen in Argentinien nichts anderes als ein großes Spionagenetz, das von Präsident Frondizi geduldet wurde.41 Allerdings muss betont werden, dass viele argentinische Politikerinnen und Politiker sowie Diplomatinnen und Diplomaten dieses Vorgehen ablehnten, da die Verringerung der Zahl der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter dieser Botschaften, vor allem der Handelsattachés, auch für die
37 »Causa Krotsch, Carlos y Michelsohn, Alfredo s/Inf.«, Art. 3, Ley 13.985, PJN, Expediente 2625, Cuerpo 3, Folio 655. 38 »Memorandum al Juez Aguirre«, PNCK, ohne Signatur. 39 Mehrere Gespräche zwischen V.L. und Monica Krotsch (Tochter von Carlos Krotsch), Buenos Aires, November 2015. 40 »Telegramm an das Auswärtige Amt in Bonn«, 28.6.1962, PA/AA, AV Neues Amt 5505. 41 »Monatsbericht über Weltkommunismus«, 31.11.1958, PA/AA, B130 4788A.
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argentinische Wirtschaft von Nachteil war.42 Anders als in den kapitalistischen Ländern, wo der Handel letztendlich zwischen privaten Unternehmen stattfindet, ließen sich die argentinischen Exporte in den Ostblock nur über staatliche Institutionen realisieren. Mehrere Spionageskandale, die Entführung Eichmanns in Buenos Aires durch den israelischen Geheimdienst MOSSAD und die Verschärfung des Kalten Krieges, vor allem infolge der kubanischen Revolution, trugen zu einer nationalistischen Stimmung bei. Diese stärkte in den verschiedenen Fraktionen der Armee und der Parteien in Argentinien die Position, jedwede Art von Beziehungen mit dem Ostblock abzulehnen. So wurde am 3. September 1962 das Dekret über den Aufenthalt ausländischer Bürgerinnen und Bürger auf argentinischem Territorium erlassen, wonach jede Ausländerin bzw. jeder Ausländer mit befristetem Visum sich binnen drei Tagen beim nächsten Polizeirevier zu melden hatte. Ausländerinnen und Ausländer, deren Visum abgelaufen war, hatten Argentinien innerhalb von zehn Tagen zur verlassen. Das Dekret richtete sich ausdrücklich an die Bürgerinnen und Bürger »volksdemokratischer Länder«43. Damit bekam der SIDE grünes Licht, gegen die Handelsvertretung der DDR in Buenos Aires vorzugehen. Am 12. September 1962 wurde die HV durchsucht und geschlossen, obwohl man schon mit ihrer geordneten Räumung begonnen hatte. Ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern wurde angeboten, in der BRD Asyl zu beantragen. Sämtliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter wurden nach Montevideo ausgeflogen, wo sie von der ostdeutschen HV in Uruguay betreut wurden. Sie kehrten jedoch in die DDR zurück, mit Ausnahme der Familie Hahn.44 Otto und Elly Hahn arbeiteten zu jener Zeit in der HV und entschieden sich dafür, mit ihrer sechsjährigen Tochter in die BRD zu übersiedeln.45 Ebenso wie in den Fällen Lorenz und Krotsch-Michelsohn berichtete die Presse ausführlich darüber.46 Über die tatsächlichen Gründe, warum die HV auf diese die DDR brüskierende Weise geschlossen wurde, kann nur spekuliert werden. Zweifelsohne fand
42 »Carta de la Embajada Argentina en Moscú al Presidente Frondizi«, 20.12.1960, CEN-PAF, Política internacional, 03.4.7.6. 43 »Information Beschlüsse der argentinischen Regierung«, 3.9.1962, Bl. 14, PA/AA, MfAA A3114. 44 »Vermerk über Besprechung mit Gen. Springmann«, 24.9.1962, ebd., Bl. 16. 45 »Sowjetzonen-Funktionär suchte die Freiheit«, in: Freie Presse, 28.9.1962, S. 4; »Solicitó Asilo un Delegado Comercial de Alemania del Este«, in: La Prensa, 19.9.1962, o.S. 46 »Die Pankower wurden abgeschoben«, in: Der Tag, 16.10.1962, o.S.; »Pankow in Buenos Aires unerwünscht«, in: Süddeutsche Zeitung, 27.9.1962, o.S.
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diese Aktion Beifall bei der westdeutschen Botschaft in Buenos Aires; Äußerungen, die sich auf diesen Vorfall bezogen, wurden jedoch bisher nicht gefunden. Anderseits war die DDR keine Ausnahme: Sämtliche kommunistischen Länder mussten unter dieser Konjunktur leiden, aber mit dem Unterschied, dass die diplomatischen Beziehungen weiter bestanden, die Botschaften daher nicht geschlossen wurden und zumindest ein Minimum an Personal behielten. Die Schließung der HV kann also nicht nur aus der Rivalität der beiden deutschen Staaten und dem Einfluss der BRD in Argentinien heraus erklärt werden. Dazu kommt, dass es weder in Dokumenten der BRD-Botschaft noch des argentinischen Außenministeriums Hinweise auf einen direkten Druck der BRD auf die argentinische Seite gibt. Die Schließung der HV wird in diesen Dokumenten als eigenes Anliegen der argentinischen Sicherheitsdiente betrachtet.47 In diesem Sinne ist zu beobachten, dass der Plan Conintes, obwohl dieser 1961 offiziell für beendet erklärt worden war, es den verschiedenen argentinischen Sicherheitsdiensten auf eine neue Art und Weise ermöglicht wurde, die Innen- und Außenpolitik Argentiniens über die nächsten Jahrzehnte hinweg mitzubestimmen. Obwohl die Handelsbeziehungen mit der Schließung der HV einen schweren Rückschlag erlitten, erholten sie sich bald darauf und entwickelten sich rasant. Ost-Berlin entschied, wann immer es möglich war Uruguay den Vorrang zu geben – als Ersatz für den argentinischen Markt. Dadurch wollte man Buenos Aires spüren lassen, dass ihm mit der Schließung der Handelsdelegation der DDR der argentinischen Wirtschaft wichtige Geschäfte entgingen.48 Diese Strategie erwies sich als erfolgreich. Argentinische Firmen setzten sich vor der argentinischen Regierung in ihrem eigenen Interesse für die Entwicklung der Handelsbeziehung mit der DDR ein.
D ER N EUANFANG Mit der Amtsübernahme des demokratisch gewählten argentinischen Präsidenten Arturo Illia 1963 eröffneten sich für die DDR wieder bessere Chancen. Während seiner Regierungszeit vertrat Illia eine offene Außenpolitik, die vom Prinzip der Nichteinmischung geprägt war. Man suchte man Dialog mit allen Ländern jenseits ideologischer Differenzen (Simonoff 2007: 121). 1964 besuchte eine ostdeutsche Delegation Argentinien und wurde vom argentinischen Außenhandels-
47 »Telegramm an das Auswärtige Amt in Bonn«, 28.6.1962, PA/AA, AV Neues Amt 5505. 48 »Länderkonzeption Argentiniens«, Bl. 4, BArch, DE 1/50948.
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ministerium empfangen. Mit der Regulierungsbehörde für Getreidesamen (Junta Nacional de Granos), Nachfolgerin des IAPI, wurde der Kauf von 24.000 Tonnen Weizen vereinbart, und man stellte der Delegation in Aussicht, wieder eine Handelsvertretung in Buenos Aires zu eröffnen.49 Dies muss explizit vorgeschlagen worden sein, denn in Ost-Berlin begann man mit der Personal- und Kostenplanung für die neue HV.50 Für die argentinische Wirtschaft kam dieses Arrangement sehr gelegen. Die Weizenernte war in den Jahren zuvor besonders gut ausgefallen, zudem wurde Westeuropa durch die Anbahnung des gemeinsamen europäischen Marktes als Absatzmarkt für die argentinischen Agrarprodukte immer schwieriger (Simonof 2007: 121). Somit wurden die DDR und die anderen osteuropäischen Länder für Argentinien in kommerzieller Hinsicht interessanter. Die Eröffnung der neuen Handelsdelegation in Buenos Aires hing aber von der Entscheidung des argentinischen Außenministeriums und der Zustimmung der Sicherheitsdienste ab.51 Sie lehnten dies offenkundig ab. Bis 1966 ging man in Ost-Berlin dennoch davon aus, dass die Chancen für die Etablierung einer Handelsrepräsentation in Buenos Aires groß waren. Warum dies nicht geschah, ist den Quellen nicht direkt zu entnehmen. Alles deutet auf die Zusammenarbeit eines Staatssekretärs im argentinischen Außenministerium mit der westdeutschen Botschaft hin.52 Direkter Druck aus Bonn, Verhandlungen mit der DDR zu unterlassen, scheint nicht nötig gewesen zu sein. Mit dem Militärputsch Juan Carlos Onganías, bekannterweise ein Verbündeter der USA und der BRD (Rapoport 2005: 5),53 verstärkte sich diese Tendenz und die Gespräche zur Eröffnung einer Handelsvertretung wurden wieder aufgegeben. Die Situation änderte sich schließlich durch den politischen Wandel auf internationaler Ebene, aber auch durch die Innenpolitik Argentiniens. Zum einen wurde die DDR durch die Anbahnung der Ostverträge in ihrer Position gestärkt. Andererseits musste Onganía wegen sozialer Proteste zurücktreten. Ihm folgten die Generäle Lanusse und Levingston. Beide Präsidenten waren konservativ und nationalistisch orientiert. Die argentinische Souveränität sollte durch die Diversifizierung der Handelsbeziehungen gestärkt werden, um so die Folgen der US-
49 »Kosten- und Personalplanung der HV in Buenos Aires«, PA/AA, MfAA C1136/73. 50 »Botschaft der BRD in Buenos Aires an das Auswärtige Amt«, 14.6.1965, Bl. 9, PA/AA, B33 386. 51 »Kosten- und Personalplanung der HV in Buenos Aires«, PA/AA, MfAA C1136/73. 52 »Errichtung von HV Rotchinas und der SBZ in Argentinien«, 22.12.1965, PA/AA, B33 386. 53 »Telegramm an den Botschaften in London, Paris, Rom«, 1.7.1966, PA/AA, B33 445.
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amerikanischen Hegemonie in Lateinamerika zu mildern. Politisch ansonsten pro-westlich, suchten beide Präsidenten die Öffnung neuer Absatzmärkte für argentinische Agrarprodukte, eine alte Forderung der argentinischen Großgrundbesitzer (ebd.: 46-47). Das Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten der DDR (MfAA) versuchte immer wieder, Aide-Mémoires und Noten einzureichen. Einer in der argentinischen Botschaft in Moskau 1970 eingereichten Note an den argentinischen Präsidenten Levingston ist zu entnehmen, dass die DDR nach dem Zustandekommen der Ostverträge höhere Erwartungen entwickelte: Es ginge nicht mehr nur darum, die Handelsbeziehungen zu erweitern, sondern man wolle diplomatische Beziehungen zu Argentinien aufnehmen.54 Das MfAA nahm ein gemeinsames Kommuniqué der argentinischen und der kolumbianischen Regierung, in dem zur Überwindung der Konflikte des Kalten Krieges und zur Erweiterung der politischen Beziehungen mit Ländern anderer Ideologien aufgefordert wurde, zum Anlass, mit Argentinien über die Aufnahme diplomatischer Beziehungen ins Gespräch zu kommen.55 Die von Buenos Aires vorgeschlagene Eröffnung einer HV nach dem Vorbild von 1954 käme für Ost-Berlin nicht mehr infrage. Der Inhalt des Schreibens an Levingston war auch Bonn und Washington bekannt, denn beide Regierungen forderten Buenos Aires auf, die Note nicht zu beantworten.56 Die Argentinier taten das auch nicht, setzten sich jedoch intern mit den Forderungen der DDR auseinander. Im Mai 1970 trafen sich in Buenos Aires der Außen- und der Außenhandelsminister Argentiniens mit dem Leiter der HV der DDR in Uruguay. Ziel des Treffens war es, die Möglichkeiten zur Aufnahme umfangreicherer Handelsbeziehungen zu analysieren. Für die argentinischen Funktionärinnen und Funktionäre kam lediglich die Eröffnung von Handelsvertretungen in Ost-Berlin und Buenos Aires infrage, die auf Abkommen zwischen einzelnen Institutionen, wie z. B. zwischen der Handelskammer und Banken, basieren sollte – keinesfalls auf zwischenstaatlichen Abkommen.57 Anschließend wurde den Argentiniern ein Aide-Mémoire mit Vorschlägen zu weiteren Verhandlungen überreicht, das allerdings unbeantwortet blieb.58 Buenos Aires ging es hauptsächlich darum, die
54 »Note an den Präsidenten Argentiniens«, Bl. 48-52, PA/AA, MfAA C3378. 55 »Note an den Botschafter der DDR in der ČSSR«, Bl. 30, ebd. 56 »Telegramm vom Auswärtigen Amt an Buenos Aires«, 19.8.1970, PA/AA, AV Neues Amt 5505. 57 »Memorando Ref.: Viabilidad de instalar en el país una Misión Comercial de Alemania Oriental«, 2.5.1972, Bl. 2, MREC, Embajada en Bonn, AH 004/001. 58 »Note an den Botschafter der DDR in der ČSSR«, Bl. 32, PA/AA, MfAA C3378.
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rechtlich-politischen Folgen einer eventuellen Annährung an die DDR und das Wirtschaftspotenzial der DDR als Handelspartner zu evaluieren. Das argentinische Außenministerium forderte im Dezember 1970 bei seiner Rechtsabteilung ein Gutachten über die rechtlichen Grundlagen und möglichen Folgen einer Anerkennung der DDR an.59 Die Antwort war eindeutig: Rechtlich sei die DDR als souveräner Staat zu betrachten. Die Frage der Anerkennung der DDR und die Beziehungen zu den Ländern des Warschauer Pakts, so das Gutachten, sei eine politische und keine rechtliche (ebd.: 6). Die Abteilung Osteuropa des Außenministeriums äußerte sich im Zusammenhang mit diesem Memorandum auch zur Frage der Unabhängigkeit der DDR. Ihrer Auffassung nach unterschied sich die DDR nicht von den anderen Ländern Osteuropas, denn sie stünden alle gleichermaßen unter dem Einfluss der Sowjetunion.60 Die Abteilung des argentinischen Handelsministeriums, welche mit Abkommen und Verhandlungen betraut war, nahm ebenfalls Stellung zu einer möglichen Erweiterung der Beziehungen zur DDR. In einem Memorandum aus dem Jahr 1972 wird der Warenaustausch analysiert.61 Buenos Aires verfügte nur über Daten für die Jahre 1970 und 1971, denn das Nationale Institut für Statistik und Zensus (Instituto Nacional de Estadística y Censo, INDEC) begann erst 1970, den Außenhandel mit der DDR zu erheben. Nach jenen Informationen war die Handelsbilanz für Argentinien stets positiv (ebd.: 4). Der Außenhandel der DDR mit anderen lateinamerikanischen Ländern wurde ebenfalls analysiert und man kam zu dem Schluss, dass die Eröffnung von Handelsdelegationen in Ost-Berlin und Buenos Aires zu begrüßen sei. Denn im Gegensatz zum Handel mit Ländern mit freier Marktwirtschaft war es für Käufer und Verkäufer schwierig, ohne staatliche Vermittlung mit den Staatsbetrieben der DDR ins Geschäft zu kommen (ebd.: 2). Argentinische Produkte würden sich also mit staatlicher Unterstützung durch HV besser exportieren lassen. Der handelspolitische Vorteil dieser Einrichtung war also nicht zu verkennen. Aber das Außenministerium und die Sicherheitsbehörden hatten die politische Entscheidung zu treffen (ebd.: 11). In diesem Zusammenhang nahm das MfAA Kontakt mit Diplomaten argentinischer Auslandsvertretungen auf. Sein wichtigster Kontakt war Botschafter Horacio Portela, ein erfahrener Diplomat und Verwandter des argentinischen
59 »Memorandum Nr. 28/100-71 de la Consejería Legal. Ref.: Status jurídico de Alemania Oriental«, 29.1.1971, Bl. 1, MREC, Fondo E, AH 0054. 60 »Nota a la Subsecretaría de Relaciones Exteriores y Culto«, 26.2.1971, ebd. 61 »Memorando Ref.: Viabilidad de instalar en el país una Misión Comercial de Alemania Oriental«, 2.5.1972, Bl. 1, MREC, Embajada en Bonn, AH 004/001.
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Staatspräsidenten.62 Die ersten Kontakte mit Botschafter Portela fanden zu seiner Zeit als Botschafter in Algier statt. Er soll sich so zuvorkommend gezeigt haben, dass nach seiner Versetzung nach Montevideo das MfAA weiter mit ihm in Verbindung blieb. Der Leiter der HV der DDR in Montevideo, Hermann Kühne, suchte Portela am 24. Mai 1972 auf, um ein Visum zu beantragen. Er wollte nach Buenos Aires reisen und dem argentinischen Außenministerium persönlich ein Aide-Mémoire überreichen, in dem er das Interesse der DDR an der Aufnahme von Beziehungen mit Argentinien bekundete.63 Offensichtlich wurde Portela über den Inhalt des Dokuments unterrichtet, denn er nahm in einem Memorandum an Buenos Aires dazu Stellung: Er befürworte die Eröffnung von Handelsvertretungen. Dennoch genehmigte Buenos Aires das Visum für Kühne nicht.64 Und obwohl er eine Audienz mit einem Staatssekretär vereinbart hatte, ließ man ihn stundenlang warten.65 Das kann als ein Zeichen der argentinischen Stellung zur deutschen Frage gedeutet werden: Traditionell bestand in Buenos Aires Übereinstimmung mit Bonn, die DDR nur als Handelspartner und nicht als souveränen Staat zu betrachten. Obwohl das Dokument eine mögliche Zusammenarbeit auf verschiedenen Ebenen erwähnt, wird besonders hervorgehoben, dass »die Ex- und Importstrukturen beider Staaten gute Voraussetzungen für die Entwicklung fruchtbarer wirtschaftlicher Beziehungen bieten«66. Ganz pragmatisch betonte man den Bereich, in dem die meisten Vorteile zu erwarten waren. Die Zusammenarbeit auf politischer Ebene wurde nicht erwähnt, denn die argentinischen Regierungen der damaligen Zeit machten aus ihrer antikommunistischen Haltung keinen Hehl – sogar nach der staatlichen Anerkennung sollten die Beziehungen sich in ihren ersten zehn Jahren auf den wirtschaftlichen Austausch beschränken. Man schlug in dem Aide-Mémoire »staatliche Einrichtungen in den Hauptstädten beider Länder« (ebd.) vor. Die Frage, welcher Art diese sein sollten, blieb offen, aber das
62 »Note an den Minister für Auswärtige Angelegenheiten der DDR«, Bl. 64-67, PA/AA, MfAA C3378. 63 »Note an den Botschafter der DDR in Rumänien«, ebd., Bl. 38. 64 »Memorandum del Embajador Don Horacio Portela al Subsecretario de Relaciones Económicas Internacionales«, 24.5.1972, MREC, Embajada en Bonn, AH 004/001. 65 »Note an den Botschafter der DDR in der ČSSR«, Bl. 33, PA/AA, MfAA C3378. 66 »Aide-Mémoire der Regierung der Deutschen Demokratischen Republik«, 23.5.1972, MREC, Embajada en Bonn, AH 004/001.
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argentinische Außenministerium ging nur von der Eröffnung einer »privaten«67 Handelsvertretung aus. Obgleich Buenos Aires nach der Unterzeichnung der Moskauer Verträge die Anerkennung der DDR in Betracht zog, blieb die traditionell enge Zusammenarbeit mit Bonn vorherrschend. In einem Telegramm an das Auswärtige Amt schrieb der Botschafter der BRD, Werz, das argentinische Außenministerium zeige sich in Bezug auf die deutsche Frage der Bonner Position so nahe, dass es nicht nötig sei, über Verbündete Druck auszuüben.68 Nach der Verabschiedung der Grundlagenverträge war die Anerkennung der DDR für Buenos Aires schließlich unausweichlich; am 25. Juni 1973 erfolgte die Aufnahme diplomatischer Beziehungen. Buenos Aires konsultierte die Texte des gemeinsamen Kommuniqués zur Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen Buenos Aires und Ost-Berlin vorab mit Bonn. Damit begann ein neues Kapitel der Beziehungen zwischen der DDR und Argentinien.
S CHLUSSBETRACHTUNGEN Das Ende des Zweiten Weltkrieges und die Konsolidierung der US-amerikanischen Hegemonie in Lateinamerika beeinflussten die argentinische Innen- und Außenpolitik. In der unmittelbaren Nachkriegszeit charakterisierte sich die Außenpolitik der Regierung Perón durch den so genannten ›Dritten Weg‹, der zum einen Vorteile für die argentinischen Großlandwirte brachte, da sie auch nach Osteuropa exportieren konnten, ebenso wie für den Staat, der den Export mit Hilfe des IAPI zentralisierte. Zum anderen wurden die nationalistischen Gruppen zufrieden gestellt, die Argentinien weder unter der Hegemonie der USA noch unter jener der Sowjetunion sehen wollten. Gleichzeitig aber zeigte sich Argentinien dem Kommunismus gegenüber feindlich und beanspruchte eine Vormachtstellung in Südamerika. In diesem Sinne ist die abweisende Haltung gegenüber den USA zu verstehen. Während der letzten Jahre des peronistischen Regimes geriet Argentinien zunehmend in den Einflussbereich der USA. Diese Tendenz beschleunigte sich nach dem Putsch von 1955. Die kubanische Revolution und die darauffolgende Zuspitzung des Kalten Krieges hatten schwerwiegende Folgen für Buenos Aires.
67 »Memorandum del Embajador Don Horacio Portela al Subsecretario de Relaciones Económicas Internacionales«, 24.5.1972, ebd. 68 »Telegramm von Botschafter Werz an das Auswärtige Amt«, 31.8.1970, PA/AA, AV Neues Amt 5505.
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Die argentinische Ostpolitik stand immer im Konflikt mit der Zugehörigkeit des Landes zur westlichen Welt, verfolgte aber das Ziel, im Ostblock wichtige Handelspartner zu finden. Je nachdem, wie stark die Interessen der Agrarexporteure vertreten waren, wurden die Beziehungen zum Ostblock von Buenos Aires als Gefahr oder als Chance betrachtet. So wurde beispielsweise 1962 die HV der DDR geschlossen, doch schon 1964 erneut in Erwägung gezogen, gegenseitige Vertretungen in Buenos Aires und Ost-Berlin zu eröffnen. Dies waren zum Teil Auswirkungen der Hallstein-Doktrin auf die Beziehungen zwischen beiden Ländern: Bis dahin hatte keine argentinische Regierung die DDR als Staat anerkannt; der Schulterschluss mit der BRD war eindeutig. Dennoch ließ die Hallstein-Doktrin durchaus Spielräume, wie am Fall Brasiliens und anderer lateinamerikanischer Länder beobachtet werden kann. Man erkannte die DDR zwar nicht an, unterhielt aber kommerzielle Beziehungen über Handelsvertretungen. Dass sich die BRD und ihre Nato-Verbündeten in Argentinien gegen Beziehungen mit der DDR einsetzten, ist in den Quellen gut belegt. Jedoch kann ebenso behauptet werden, dass Buenos Aires sich diesem Druck nicht beugte, denn man verfolgte auch eine harte Position in der deutschen Frage. Eher als von Druck kann von Übereinstimmung gesprochen werden. Streitkräfte und Geheimdienste etablierten sich in Argentinien als politische Akteure und fanden in der HV der DDR ein leichtes Opfer, das es ihnen erlaubte, sich als Beschützer des Landes vor der kommunistischen Gefahr zu positionieren. Nach der offiziellen Beendigung des Plan Conintes versuchten die argentinischen Sicherheitskräfte, sich als effiziente Kollegen der westlichen Dienste zu profilieren. Die feindliche Einstellung zum Ostblock wurde in Argentinien aber nicht von allen geteilt. Zum einen bedeuteten die Beziehungen mit der ganzen Welt die Möglichkeit, den Einfluss der Westmächte zu verringern. Dies galt nicht nur für die Wirtschaft; auch die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der DINIE sahen in der DDR eine Möglichkeit, die befürchteten Entlassungen wegen der Rückgabe der Betriebe an die BRD zu vermeiden. Für andere erschien die Gefahr der kommunistischen Infiltration wiederum zu groß. Dieses Hin und Her in der Innen- und Außenpolitik am Rio de la Plata hatte für die volksdemokratischen Länder zur Folge, dass zeitweilig der Handel stärker gefördert wurde und die Botschaften mehr oder weniger im Visier der Sicherheitsdienste standen und mit weniger Personal auskommen mussten. Für die DDR als Land ohne diplomatische Beziehungen mit Argentinien waren die Folgen schwerwiegender, denn sie verfügte über keine Botschaft, die ein Minimum an Beziehungen hätte aufrechterhalten können. Solange Institutionen wie die CAFI funktionieren durften, waren sie natürlich eine große Hilfe für die Außenpolitik der DDR in Argen-
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tinien. Aber man sah sich auf Organisationen angewiesen, die von den periodischen Kurswechseln in der argentinischen Innenpolitik gefährdet waren. Im Außenhandelsbereich standen beide Länder vor derselben Problematik: Sie waren auf harte Devisen angewiesen und wollten sie entweder durch Kompensationsgeschäfte einsparen oder durch freie Exporte ergattern. Im ersten Fall waren lange und schwierige Verhandlungen zur Festlegung der Liste der auszutauschenden Waren vonnöten. Im zweiten Fall, dem Export von Agrarprodukten in die DDR gegen harte Devisen, waren die argentinischen Behörden immer bereit, Geschäfte anzubahnen. Die Industrieprodukte der DDR waren in Argentinien aus zweierlei Gründen beliebt: Sie waren von guter Qualität und günstiger als Waren aus der westlichen Welt. Zahlreiche Projekte, die zur Entwicklung strategischer Infrastruktur in Argentinien beitragen sollten, wurden mit DDR-Technik geplant – es waren jedoch weit mehr, als sich realisieren ließen. Diese Tendenz verstärkte sich ab 1973, als der Beginn der diplomatischen Beziehung zwischen den beiden Ländern auch den bilateralen Handel beflügelte.
A RCHIVQUELLEN BArch – Bundesarchiv, Berlin Ministerium für Außenhandel und Innerdeutschen Handel. Teil 1: 1945-1964 (DL2) Staatliche Plankommission (DE1) BCRA – Banco Central de la República Argentina Memorias e informes (1935-2008) BStU/MfS – Bundesbeauftragte der Unterlagen des ehemaligen Staatssicherheitsdiensts der DDR Bezirksverwaltung Rostock (BV Rst) CEN-PAF – Centro de Estudios Nacionales, Presidencia Arturo Frondizi, Biblioteca Nacional, Buenos Aires Comisión Provincial por la Memoria, La Plata Dirección de Inteligencia de la Provincia de Buenos Aires, División Central de Documentación y Registro MREC – Archivo Histórico de la Cancillería Argentina, Buenos Aires Embajada en Bonn E Europa Oriental I Europa Oriental II PA/AA – Politisches Archiv des Auswärtigen Amts, Berlin
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BRD (B) Auslandsvertretungen Neues Amt (AV Neues Amt) Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten der DDR (MfAA) PJN – Poder Judicial de la Nación, Buenos Aires Expediente 2625, Causa Krotsch, Carlos y Michelsohn, Alfredo s/Inf. Art. 3 Ley 13.985 PNCK – Privater Nachlass Carlos Krotsch, Buenos Aires
P ERIODIKA Clarín (Buenos Aires) Der Tag (Westberlin) Freie Presse (Buenos Aires) La Prensa (Buenos Aires) La Nación (Buenos Aires) La Razón (Buenos Aires) Intercambio. Comerciar con todo el mundo (Buenos Aires) Revista del Comercio Exterior Argentino (Buenos Aires) Süddeutsche Zeitung (München)
L ITERATUR Bauer, Alfredo (1989): La asociación Vorwärts y la lucha democrática en la Argentina, Buenos Aires: Legasa. Chiarini, Sebastián/Portugheis, Rosa Elsa (Hg.) (2014): Plan Conintes. Represión política y sindical, Buenos Aires: Ministerio de Justicia y Derechos Humanos de la Nación, Secretaría de Derechos Humanos, Archivo Nacional de la Memoria. Frondizi, Arturo (2012): Mensajes presidenciales 1958-1962, Bd. II, Buenos Aires: Fundación Frondizi. Horowicz, Alejandro (2015): Los cuatro peronismos, Buenos Aires: Edhasa. Komitee in der DDR zur Förderung des Welthandels (Hg.) (1952): Die Lage des Welthandels und die Internationale Wirtschaftskonferenz, Berlin: Die Wirtschaft. Kowalczuk, Ilko-Sascha (2012): Stasi konkret. Überwachung und Repression in der DDR, München: C.H. Beck.
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Der Putsch Pinochets und die ersten Jahre des chilenischen Militärregimes in Geheimdienstberichten der tschechoslowakischen Residentur in Santiago de Chile M ICHAL Z OUREK
Dieser Beitrag widmet sich der Analyse von Berichten, die zwischen 1973 und 1980 durch die Residentur des Geheimdienstes der Tschechoslowakei in Santiago de Chile erstellt wurden.1 Da nach dem Sturz Salvador Allendes die diplomatischen Beziehungen zwischen den beiden Ländern abgebrochen worden waren, blieben die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Geheimdienstes einige der wenigen tschechoslowakischen Bürgerinnen und Bürger, die während der Militärregierung Pinochets in Chile operierten. Daher sind diese Dokumente, die derzeit im Archiv der Sicherheitsdienste der Tschechischen Republik (Archiv bezpečnostních složek, ABS) zugänglich sind, der Schlüssel zu einer kritischen Reflexion dieses bis heute wenig bekannten Abschnitts der bilateralen Beziehungen der beiden Staaten. Diese Studie beabsichtigt nicht nur, die tschechoslowakischen Interessen in Chile in jener spannungsreichen Zeit darzustellen, sondern zugleich einen erweiterten Blickwinkel zu ermöglichen. Die Berichte der tschechoslowakischen Agentinnen und Agenten sind zudem eine wertvolle Quelle bezüglich der Aktivitäten der Residentur der DDR, die während der Regierungszeit Pinochets unter den Geheimdiensten des Ostblocks in Chile eine führende Rolle einnahm.
1
Teile dieses Aufsatzes wurden bereits auf Spanisch und Englisch veröffentlicht (Zourek 2013 und 2014). Für den breiteren Kontext der Beziehungen zwischen der Tschechoslowakei und dem Cono Sur siehe Zourek (2014a).
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E INLEITUNG Während des Kalten Krieges waren die Beziehungen zwischen der Tschechoslowakei und Lateinamerika, ebenso wie mit anderen Teilen der westlichen Welt, ein Spiegel der Beziehungen der UdSSR mit dieser Region. Die Außenpolitik der lateinamerikanischen Staaten, die traditionell in Abhängigkeit zur Außenpolitik der USA standen, war im Untersuchungszeitraum meist durch eine hohe Instabilität geprägt. Das lag teils an den häufigen Regierungswechseln unterschiedlicher demokratischer Ausrichtung, zum Teil aber auch an den mehrfachen Brüchen der verfassungsmäßigen Ordnung durch Militärregimes. Die Tschechoslowakei zeichnete sich ihrerseits durch eine kohärentere und stabilere Außenpolitik in diesem Zeitraum aus, auch wenn sich nach der Niederschlagung des Prager Frühlings 1968 eine noch stärkere Unterordnung unter die Vorgaben der UdSSR feststellen lässt, sodass es schwierig scheint, von einer eigenständigen tschechoslowakischen Außenpolitik zu sprechen. Die diplomatischen Beziehungen zwischen der Tschechoslowakei und Chile wurden während des Kalten Krieges nur kurze Zeit aufrechterhalten, und zwar während der Legislaturperioden von Eduardo Frei und Salvador Allende (19651973). Einer der wichtigsten Impulse, die das Interesse der Gesellschaften Osteuropas an Lateinamerika weckte, war der Putsch in Chile, der mit dem Tod von Präsident Allende am 11. September 1973 einherging. Die außergewöhnliche Politisierung des Vorfalls hatte einerseits zur Folge, dass die tschechoslowakischen Bürgerinnen und Bürger Informationen in bisher ungekanntem Ausmaß über ein so weit entferntes Land erhielten. Andererseits sind die Beziehungen der beiden Staaten zur Zeit der Militärregierung Pinochets bis heute ein sehr wenig bekanntes Thema. Der Hauptgrund hierfür ist vor allen Dingen der Mangel an Archivquellen. Da die Beziehungen zwischen den beiden Ländern abgebrochen und die Botschaften aufgelöst wurden, liegt keine diplomatische Korrespondenz vor, die uns bei der Analyse jener Zeit helfen könnte. Darüber hinaus gab es auch keinen Dialog zwischen den jeweiligen politischen Vertretern, mit Ausnahme der Anführer der kommunistischen Parteien. Die aufschlussreichsten Quellen sind Berichte von Agentinnen und Agenten des tschechoslowakischen Geheimdienstes, die im Archiv der Sicherheitsdienste der Tschechischen Republik zugänglich sind. Die meisten tschechoslowakischen Residenturen wurden in Lateinamerika in den 1960er Jahren nach der kubanischen Revolution eingerichtet. Die Residentur in Santiago de Chile wurde 1961 auf Gesuch der UdSSR gegründet. Ihr Hauptziel war die »Beobachtung und die Unterbindung von Aktivitäten der USA mit-
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tels Kampagnen der Desinformation und Konfrontation.«2 Zudem konzentrierte sich die Residentur auch auf die Unterstützung der kubanischen Revolution, auf die Suche nach ›progressiven‹ Repräsentanten, die nationale Befreiungsbewegungen unterstützen könnten, sowie auf die Analyse ›schädlicher‹ Aktivitäten tschechoslowakischer Landsleute.3 Mit dem Sieg der Unidad Popular (Koalition linker Parteien Chiles) im Jahr 1970 vergrößerte sich auch die Bedeutung der tschechoslowakischen Residentur.4 Im September 1973, als die Regierung Allende gestürzt wurde und das politische Ambiente sich grundlegend veränderte, wurde die Residentur aufgelöst. Jedoch wurde sie 1975 auf Gesuch der DDR wieder eingerichtet. In den fünf darauffolgenden Jahren ihres Bestehens (1980 wurde sie erneut aufgelöst), waren ihre operativen Aktivitäten minimal. Dennoch schickten die tschechoslowakischen Agentinnen und Agenten zahlreiche Berichte nach Prag, die für die Interpretation der tschechoslowakisch-chilenischen Beziehungen jener Epoche eine Schlüsselrolle einnehmen. Mit Hilfe dieser Berichte will die vorliegende Studie einen neuen Blick auf die tschechoslowakischen Interessen in Chile nach dem Militärputsch werfen. Zudem können diese Informationen wegen der engen Zusammenarbeit des tschechoslowakischen Geheimdienstes mit der DDR auch für deutsche Leserinnen und Leser aufschlussreich sein.
D AS W ARTEN
AUF DEN
P UTSCH
Während der Regierungszeit Salvador Allendes (1970-1973), wurde Chile nach Kuba zum wichtigsten politischen (nicht wirtschaftlichen) Partner des Ostblocks
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»Návrh na zřízení rezidentury čs. rozvědky v Santiagu«, 10.10.1961, S. 2. Aus: Archiv Bezpečnostních Složek (ABS), I. správa SNB, 11380/000.
3
»Úkoly 2. odboru I. správy MV, vyplívající z jednání s představiteli sovětské ro-
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Die Arbeit der Residentur konzentrierte sich vor allem auf folgende Aufgaben: 1. Die
zvědky, konaného v Praze«, 15.7.1961, ABS, I. správa SNB, 11380/000. Beobachtung der Versuche der USA, die Regierung Allende zu stürzen und die Observierung der Aktivitäten der USA in jener Region. 2. Die Beobachtung der Entwicklung der Beziehungen Chiles mit anderen Ländern Lateinamerikas, insbesondere mit Brasilien, Bolivien und Paraguay. 3. Die Beobachtung der Versuche der VR China, den Einfluss der UdSSR und der sozialistischen Länder in Chile und im Rest Lateinamerikas zu schwächen und die Beobachtung der Annäherung zwischen China und den USA. 4. Ein aktives Arbeiten am Aufbau der Regierung der Unidad Popular. »Zpráva o situaci v Chile«, 21.9.1973, S. 9-10, ABS, I. správa SNB, 12543/000.
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in Lateinamerika. Zu jener Zeit war die Zusammenarbeit zwischen Prag und Santiago sehr eng, wenngleich die gegenseitige Interessenslage sich sehr komplex gestaltete und viele der geplanten Projekte nicht umgesetzt wurden. Öffentlich gab es während der drei Jahre der Allende-Regierung viel Beifall, Lob und zahlreiche öffentliche Feierlichkeiten. Zugleich waren die diplomatischen Analysen, die Regierungsberichte und die Berichte der Residentur, welche die chilenische Realität untersuchten, auf das Thema der Durchführbarkeit und Umkehrbarkeit dieses Prozesses des demokratischen Sozialismus gerichtet, ebenso wie auf die Möglichkeit seines abrupten Endes durch einen Militärputsch. Ihr gemeinsamer Nenner ist ihre Ungewissheit. Die Aussagen der Mitarbeiter der tschechoslowakischen Botschaft stimmen in dem Punkt überein, dass die Bedrohung durch einen Putsch bereits einige Wochen vor dem 11. September 1973 existierte, aber dass die Vertreterinnen und Vertreter der Unidad Popular dieser Gefahr nur wenig Aufmerksamkeit schenkten: »Am Abend des 10. September war bei dem Empfang, der anlässlich des bulgarischen Nationalfeiertags veranstaltet wurde, auch der Genosse Corvalán anwesend, der Generalsekretär des Zentralkomitees der KPCh. Er bestätigte gegenüber dem Botschafter der UdSSR und anderen Freunden, dass die Leitung der Partei, Präsident Allende und die Regierung von dem geplanten Putsch wussten. Genosse Corvalán und weitere Genossen der Unidad Popular versicherten, dass sie in der Lage seien, die Verschwörung erneut zu besiegen.«5
Auch die Leitung der Kommunistischen Partei Chiles (KPCh) selbst erkannte später an, dass sie den Informationen der ausländischen Geheimdienste über einen möglichen Militärputsch wenig Aufmerksamkeit gewidmet hatte.6 Zwei Mitarbeiter der tschechoslowakischen Residentur – František Vejvoda (Deckname: Regent), der Leiter der tschechoslowakischen Filiale der Firma TRACO, und František Čech (Deckname: Česmír),7 ein Geologe, der für das staatliche chilenische Unternehmen CORFO arbeitete – beschrieben die Umstände des Putsches in ihren Berichten, die sie nach der Rückkehr in ihr Heimatland Mitte
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»Záznam o přijetí pracovníků čs. ZÚ v Santiago de Chile v oddělení mezinárodní politiky ÚV KSČ«, 2.10.1973. Aus: Národní Archiv Česká Republika (NAČR), Archiv Komunistická strana Československa - Ústřední výbor (KSČ-ÚV), 02/1, f. 1261/0/6, 1971-1976, Bd. 94, Archivgruppe 91, Notiz 6.
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»Tiskový bulletin ministerstva zahraničních věcí Chile č. 181 z 5.9.1974«, S. 3, ABS,
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František Čech war in den Jahren 1970-1971 und 1974-1980 Dekan der Naturwissen-
I. správa SNB, 12543/011. schaftlichen Fakultät der Karlsuniversität Prag.
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1974 verfasst hatten. Beide stimmen darin überein, dass die Situation des Landes untragbar war, und dass die Mehrheit der Bevölkerung den Eingriff des Militärs begrüßte. Bezüglich der Angestellten der tschechoslowakischen Botschaft fügte Vejvoda hinzu, dass sie während des Militärputsches nicht angemessen auf die Situation vorbereitet gewesen waren: »Zudem muss man bedenken, dass die diplomatische Vertretung zu jenem Zeitpunkt nicht vollständig besetzt war. Beinahe die Hälfte der Mitglieder fehlte, den Botschafter selbst inbegriffen. […] Die Handelsabteilung, die mitten im Stadtzentrum lag, war bis zum 15./16. September nicht zugänglich, da das Stadtzentrum für Zivilisten geschlossen war. In jenen Tagen blieben einige Experten (Málek) teilweise isoliert und einige hielten sich in dieser kritischen Zeit außerhalb von Santiago auf (Zámečník, Šolc).«8
František Čech erwähnt, dass die Botschaft bereits am 10. September, einen Tag vor dem Putsch, eine Ausgangssperre für tschechoslowakische Bürgerinnen und Bürger verhängte, da ein Attentat auf den Handelsrat Jiří Chlapík9 ausgeübt worden war. Jemand hatte in seiner Wohnung einen Sprengsatz angebracht, von dem nur der Zünder explodierte, weswegen es keine Verletzten gab. Der chilenischen Polizei zufolge war Chlapík am Training der Mitglieder der linksrevolutionären Organisation Movimiento Independentista Revolucionario und Gruppen der kommunistischen Jugend beteiligt. In diesem Zusammenhang wurden u.a. mehrere Übergaben tschechoslowakischer Waffen an diese Gruppen erwähnt.10 Čech beschreibt die Situation nach dem Angriff auf den Präsidentenpalast folgendermaßen: »Um 15:00 Uhr wurde eine Ausgangssperre verhängt, die drei Tage andauern würde. Die Armee riegelte das Stadtzentrum ab. Es war möglich, es zu verlassen, aber nicht, zurückzukehren. Die Kämpfe im Zentrum beruhigten sich nach drei Tagen, wobei die Schießereien nur nachts stattfanden und die Kämpfe in den Industriebezirken mit Flugzeugen, Hubschraubern und schweren Waffen begannen. Morgens und nachmittags herrschte rela-
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»Záznam z instruktážní schůzky s ›REGENT‹, Situace v čs. kolonii po 11.9.1973«, 19.6.1974, S. 1, ABS, I. správa SNB, 12623/101. Der Arzt Jiří Zámečník (Experte der Internationalen Atomenergie-Organisation) befand sich zum Zeitpunkt des Putsches auf den Osterinseln im Urlaub.
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»Informace o Chile«, 4.6.1974, S. 2, ABS, I. správa SNB, 12623/101.
10 »Záznam z instruktážní schůzky s ›REGENT‹, Situace v čs. kolonii po 11.9.1973«, 19.6.1974, S. 7, ABS, I. správa SNB, 12623/101.
236 | M ICHAL Z OUREK tive Ruhe, aber nachts kam es mit der Ausgangssperre zu häufigen Schießereien und so blieb es bis zu meiner Abreise aus Chile (1. Mai 1974).«11
Vejvoda beschreibt die Gefühle der tschechoslowakischen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter unmittelbar nach dem Putsch als von Nervosität und Anspannung erfüllt, »denn nach der Ausweisung der diplomatische Repräsentanten von Kuba, Nordkorea und Nordvietnam wurde täglich mit dem Abbruch der diplomatischen Beziehungen seitens der Tschechoslowakei gerechnet.«12
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Am 21. September 1973, zehn Tage nach dem Putsch, brach die UdSSR die diplomatischen Beziehungen zu Chile ab. In den Tagen darauf folgten weitere Staaten des Ostblocks diesem Beispiel; die Tschechoslowakei tat diesen Schritt am 25. September. Von den sozialistischen Ländern Osteuropas brach nur Rumänien seine Beziehungen zu Chile nicht ab und verhandelte später beispielsweise über die Frage der politischen Gefangenen. Jugoslawien hielt die konsularischen Kontakte zu Chile aufrecht (es gab eine große Zahl von Migrantinnen und Migranten aus Kroatien). Auch das kommunistische China unterbrach seine Beziehungen zu Chile nicht (Ulianova 2000).13 Nach dem Abbruch der diplomatischen Beziehungen durch die Tschechoslowakei übernahm Indien deren Vertretung. Doch war die indische Botschaft, die auch die Angelegenheiten der UdSSR vertrat, nicht adäquat auf eine solche Situation vorbereitet und die Kommunikation mit ihr gestaltete sich für Prag kompliziert.14 Daher musste die Kommission, welche mit der Abwicklung tschechoslowakischen Eigentums in Chile betraut war (womit deren Mitglieder im Übrigen keinerlei Erfahrung hatten) anstelle der geplanten drei ganze sieben Monate im Land bleiben, und selbst dann blieben einige Angelegenheiten unge-
11 »Informace o Chile«, 4.6.1974, S. 2, ABS, I. správa SNB, 12623/101. 12 »Záznam z instruktážní schůzky s ›REGENT‹, Situace v čs. kolonii po 11.9.1973«, 19.6.1974, S. 2, ABS, I. správa SNB, 12623/101. 13 Für einen Vergleich der Politk der Ostblockländer gegenüber den Militärregierungen in Chile, Argentinien und Uruguay siehe Zourek (2013). 14 »Záznam z instruktážní schůzky s ›REGENT‹, Situace v čs. kolonii po 11.9.1973«, 19.6.1974, S. 2, ABS, I. správa SNB, 12623/101.
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löst.15 Auch František Čech erwähnte die Unzufriedenheit mit der Arbeit der indischen Botschaft in seinem Bericht: »Ich erachte die Botschaft Indiens nicht als die uns zuträglichste. Herr Sharman von der indischen Botschaft ist furchtbar, er interessiert sich nicht für seine Arbeit, er ist ein Bürokrat, er beherrscht das Spanische nicht.«16 Nach dem Abbruch der diplomatischen Beziehungen wurde mit der tschechoslowakischen Botschaft auch die Residentur aufgelöst, der zu jener Zeit offiziell drei Mitarbeiter angehörten. Nach dem Putsch verloren das diplomatische und geheimdienstliche Personal den regelmäßigen Kontakt zu seinen Informationsquellen, von denen sich die meisten im Untergrund oder im Exil befanden.17 Jegliche operative Aktivität war unmöglich geworden und die operativen Materialien, Technik und Waffen wurden zerstört.18 Andere tschechoslowakische Residenturen in Lateinamerika (Peru, Uruguay, Venezuela) konzentrierten sich auf die Analyse der chilenischen Emigration. Bald wurden die Residenturen in Argentinien und in Mexiko wieder eröffnet, wohin sich der ehemalige Resident (Chef der Residentur) Chiles begab.19 Zum Zeitpunkt des Staatsstreichs befanden sich in der tschechoslowakischen Botschaft in Chile neun Angestellte (fünf Diplomaten und vier Handels- und Verwaltungsbeamte), fünf Experten, ein Journalist und zwölf Familienangehörige.20 Dazu sollte man noch einige Stipendiatinnen bzw. Stipendiaten und Reisende hinzuzählen. Die Mehrheit verließ das Land in den darauffolgenden Ta-
15 Dabei handelte es sich z.B. um den Versand von Autos oder Ausstellungsgütern der Messe FISA; vgl. ebd., S. 8f. 16 »Informace o Chile«, 4.6.1974, S. 5, ABS, I. správa SNB, 12623/101. 17 Das Netz der Mitarbeiter der Residentur zählte insgesamt neun Personen. »Návrh na obnovení práce v Chile«, 4.6.1974, S. 1, ABS, I. správa SNB, 12623/101. 18 »Výpis ze šifry čís. 13 zaslané dne 24.9.1973 Telegramem na rezidenturu Santiago«, ABS, I. správa SNB, 12543/000. 19 »Podklady k úkolům u s. plk. Žemly dne 3.10.1973«, 15.10.1973, S. 5-7, ABS, I. správa SNB, 12543/000. 20 Einer der Experten wurde aufgrund eines Abkommens zwischen den beiden Regierungen über die technische Zusammenarbeit dorthin entsandt, ein weiterer aufgrund eines Abkommens zwischen der Universidad de Chile und der Karlsuniversität. Außerdem agierten in Chile drei Experten, die von der UNO entsandt worden waren (ein Geologe, ein Radiologe und ein Biologe). Siehe »Návrh na přerušení diplomatických styků mezi ČSSR a Chilskou republikou«, 24.9.1973, S. 2. Aus: Archiv Ministerstva zahraničních věcí (AMZV), Dokumentace teritoriálních odborů, Chile, Buch 14.
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gen.21 Neben drei Fachleuten, die bis zum Auslaufen ihrer Verträge im Land blieben, entschied die tschechoslowakische Regierung, fünf Mitarbeiter in Chile zu behalten.22 František Čech, der als Geologe der Korporation zur Förderung der Produktion (Corporación de Fomento de la Producción, CORFO) bis Mai 1974 im Land war, erinnerte sich folgendermaßen an jene Zeit: »Ab November 1973 konnte ich schon frei durch ganz Chile reisen. […] Mir ist nicht bewusst, ob sie mich direkt verfolgen ließen, aber sie durchsuchten mein Büro in der CORFO während meiner Abwesenheit mit dem Ziel, Waffen zu finden, wie sie sagten. Zweimal verhörte mich die Geheimpolizei. […] Der totale Mangel an Geologen war der Grund, dass meine Chefs damals den größten Aufwand betrieben, damit ich nicht wie die Mehrheit der Experten, die zu Zeiten Allendes Regierung eingestellt worden waren, aus Chile ausgewiesen würde. Sie schlugen mir vor, in Chile zu bleiben und nie mehr in die Tschechoslowakei zurückzukehren, es wurde sogar von einer Veränderung meines Passes gesprochen.«23
Außerdem fügt Čech hinzu, er habe lange Zeit nichts von den Menschenrechtsverletzungen gewusst: »Erst nach langer Zeit, nachdem ein Teil der Gefangenen freigelassen wurde, erfuhren wir von den Misshandlungen, dem Einsatz von Elektroschocks, usw. Kurz nach dem Putsch wurden die Menschen direkt an ihren Arbeitsplätzen festgenommen; etwas später, während der Ausgangssperre, wurden die Festnahmen nur noch nachts durchgeführt.« (Ebd.: 7)
Die Mehrheit der Tschechoslowakinnen und Tschechoslowaken in Chile begrüßte den Sturz Allendes. Ihre Haltung gegenüber der Regierung der Unidad Popu-
21 Ende Januar 1974 gingen die Handelsattachés der Botschaft, Emil Pecha und Vladimír Prokeš, und der Reporter des tschechoslowakischen Radios in Lateinamerika, Valentin Benčat, mit ihren Ehefrauen nach Peru. Enrique Martini, chilenischer Korrespondent der tschechoslowakischen Presseagentur ČTK, blieb bis Oktober 1975 im Land, als die chilenische Regierung ihm die Akkreditierung entzog. Der Militärattaché Jiří Havel ging am 28.9.1973 gemeinsam mit den Repräsentanten des diplomatischen Personals der UdSSR nach Moskau. Die weiteren Angestellten, Stipendiaten und Reisenden verließen Chile am 29.9.1973. »Záznam z instruktážní schůzky s ›REGENT‹, Situace v čs. kolonii po 11.9.1973«, 19.6.1974, S. 2, ABS, I. správa SNB, 12623/101. 22 Ebd. sowie »Informace o Chile«, 4.6.1974, S. 4, ABS, I. správa SNB, 12623/101. 23 »Informace o Chile«, 4.6.1974, S. 3-4, ABS, I. správa SNB, 12623/101.
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lar war ebenso wie die der Angehörigen der chilenischen Mittel- und Oberschicht generell sehr kritisch und viele von ihnen verließen das Land. Den wohl bekanntesten Fall stellt Milan Platovský dar, ein Unternehmer jüdischen Glaubens und Überlebender des Holocaust. Die Allende-Regierung enteignete sein Unternehmen und 1972 ging er nach Mexiko ins Exil. Seine Erfahrungen beschreibt er in dem Buch Sobre vivir. Memorias de un resiliente (Platovský 1997). Dennoch gab es unter den Tschechoslowakinnen und Tschechoslowaken, die das Exil wählten, auch einige, die den Putsch verurteilten. Hans Stein wanderte 1940 im Alter von 13 Jahren mit seiner Familie nach Chile aus, wo er in die kommunistische Partei eintrat. Er verspürte immer große Sympathien für die Tschechoslowakei. In den Jahren 1966-1968 studierte er am Konservatorium in Prag. Währenddessen wurde er zum Kollaborateur der tschechoslowakischen Spionageabwehr, indem er dabei half, Informationen über lateinamerikanische Diplomaten zu erlangen.24 Nach dem Putsch ging er ins Exil in die DDR, wo er bis 1980 blieb. Nach seiner Rückkehr nach Chile arbeitete er als Solist an der Nationaloper und als Dozent an der Universität Chile (Jiránek/Barteček 2013: 103-104). Auch andere Mitarbeitinnen und Mitarbeiter der tschechoslowakischen Institutionen, welche die chilenische Staatsangehörigkeit hatten und in ihrer Mehrheit Kommunisten waren, waren der Verfolgung ausgesetzt. Das schlimmste Schicksal erlitt Ernesto Traubmann Riegelhaupt, dessen Familie auf der Flucht vor dem Nationalsozialismus ebenfalls nach Chile emigriert war. In Chile trat er in den KPCh ein und arbeitete beim Chilenisch-Tschechoslowakischen Institut sowie bei der Tschechoslowakischen Presseagentur. Am 13. September 1973 wurde Traubmann, der damals Referent für Öffentlichkeitsarbeit der Nationalen Bergbaugesellschaft war, gemeinsam mit anderen Mitgliedern seiner Partei durch Carabineros (Mitglieder der Nationalpolizei) festgenommen. Sie wurden zur 7. Polizeiwache und von dort zum Verteidigungsministerium gebracht. Trotz aller Bemühungen seiner Familie blieb sein Aufenthaltsort unbekannt. Am 15. September wurde Traubmann im Alter von 49 Jahren während eines Verhörs ermordet.25
24 »Vyhodnocení archivního svazku č. 635778«, 26.2.1974, ABS, I. správa SNB, 12543/011. 25 »Informace o Chile«, 4.6.1974, S. 6, ABS, I. správa SNB, 12623/101.
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DER DDR UND DIE W IEDER ERÖFFNUNG DER TSCHECHOSLOWAKISCHEN R ESIDENTUR Die fünf Hauptzielgebiete des sowjetischen Geheimdienstes KGB in Lateinamerika waren 1974 Kuba, Argentinien, Peru, Brasilien und Mexiko. Chile verlor seine Bedeutung unter der Politik der ›harten Hand‹ General Pinochets (Andrew/Mitrochin 2008: 96). Damals fiel die Rolle des wichtigsten Geheimdienstes des Ostblocks in Chile der DDR zu. Der Grund für das Interesse der DDR an Chile lag unter anderem in der persönlichen Verbundenheit Erich Honeckers, dem damaligen Generalsekretär der SED. Seine Tochter Sonja war mit Leandro Yáñez verheiratet, einem Parteimitglied der KPCh, wodurch das Schicksal der verfolgten Chileninnen und Chilenen sowohl von strategischer als auch von emotionaler Bedeutung war. Obwohl Ostberlin am 22. Oktober 1973 die diplomatischen Beziehungen zu Chile abbrach und daher die zahlreichen Asylgesuche nicht direkt annehmen konnte, war Honecker dazu entschlossen, alles in seiner Macht stehende zu tun, um der chilenischen Opposition zu helfen (Wolf 1997: 350). Die DDR nahm Tausende von Chileninnen und Chilenen auf und stellte umfangreiche finanzielle und materielle Mittel zur Verfügung, um den wichtigsten Parteien, die sich Pinochet damals widersetzten, eine Unterstützerbasis zu sichern.26 In Ostberlin wurde die Zentrale der Sozialistischen Partei Chiles (Partido Socialista de Chile, PSCh) gegründet und von dort aus wurden auch die gegen die chilenische Junta gerichteten Radioprogramme gesendet. Um sich um die Probleme der Eingliederung der Tausenden von Flüchtlingen zu kümmern, wurde die Institution Antifaschistisches Chile (Chile Anti-facista, CHAF) gegründet, die quasi als Konsulat fungierte. Nach der Wiederherstellung der Demokratie in Chile erlangten in den 1990er Jahren viele der ehemaligen Exilierten hohe politische Posten (Witker 2007: 261-264). Um die Aktivitäten ihres Auslandsgeheimdienstes (der Hauptverwaltung Aufklärung der Stasi, HVA) zu legalisieren, beließ die DDR mit insgesamt 15 die höchste Zahl an Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern aller sozialistischen Länder in Chile. Die chilenischen Behörden behinderten ihre Aktivität nicht, sie hat-
26 Markus Wolf merkte an: »Honecker gefiel die Idee, dass die DDR jenen, die sie brauchten, humanitäre Hilfe anbot. Chile und anderen lateinamerikanischen Ländern, in denen die Linke von den Militärregierungen und der äußersten Rechten dezimiert wurde, zu helfen, war auch eine Haltung, die von der Jugend des Ostens geschätzt wurde. Es scheint nicht übertrieben zu betonen, dass diese Kampagnen der 70er Jahre die DDR stärkten, da sie meiner belagerten Nation eine Aura des Respekts zumaßen.« (Ebd.: 347).
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ten weder Probleme mit Visa noch mit der Bewegungsfreiheit im Land. Das gleiche Verhalten legte die Militärjunta auch gegenüber den Angestellten anderer sozialistischer Länder an den Tag, die in Chile verblieben waren. Nach dem Putsch nahm sich Finnland der Angelegenheiten der DDR in Chile an. Dank der Bestechung des finnischen Botschafters, beispielsweise durch die Schenkung eines Privatwagens, wurde der Import der meisten Gebrauchsgegenstände ermöglicht, die normalerweise nicht durch den Zoll kamen.27 Das Ziel der HVA war der Aufbau einer Verbindung zwischen Europa und den Kommunisten, die in Chile im Untergrund arbeiteten. Die Aktivitäten hatten damals nicht den Charakter der Spionage, es handelte sich viel mehr um eine Form internationaler Unterstützung.28 Es gilt zu berücksichtigen, dass die Behörden der DDR bevorzugte Beziehungen zu den Kommunistinnen und Kommunisten pflegten, obwohl sie den Weg der Sozialistinnen und Sozialisten eingeschlagen hatten, und mit der KPCh wurde auch Ostberlins Politik gegenüber der PSCh diskutiert. Die Güter, die in der DDR ankamen, wurden der Internationalen Abteilung der KPCh übergeben und anschließend an das Zentralkomitee der KPCh in Moskau geschickt.29 Zugleich baten die chilenischen Kommunistinnen und Kommunisten darum, dass die HVA Kampagnen gegen die chilenische Regierung initiiere, sowie dazu beizutrage, »den Prozess der Unterscheidung und Trennung zwischen Junta und Streitkräften zu beschleunigen, um zwischen Bourgeoisie und Mittelklasse Zwietracht zu säen« (ebd.: 4). Zur Umsetzung dieser Aufgaben kam es jedoch nicht mehr. Im Juli 1974 bat die HVA Prag um Hilfe beim Aufbau eines Ersatzkanals für den Fall der Ausweisung seiner Agentinnen und Agenten. Während Bulgarien
27 »Záznam o konzultaci s představiteli rozvědky NDR k akci ANDROMEDA«, 28.11.1974, S. 9, ABS, I. správa SNB, 12623/101-II. Ab Oktober 1977, als Finnland sein diplomatisches Personal aus Chile abzog, vertrat Rumänien die Interessen der DDR. Bei dieser Gelegenheit eruierte Luis Corvalán die Möglichkeit, Rumänien in die illegale Arbeit miteinzubeziehen, aber Nicolae Ceaușescu wies dies entschieden zurück. »Záznam o jednání s představiteli rozvědky NDR k akci ANDROMEDA dne 5.9.1977 v Praze ve vile na Zátorce«, 14.9.1977, S. 2, ABS, I. správa SNB, 12623/101-II. 28 In Anbetracht der möglichen Risiken wurden die Informationen vor allem über unpersönliche Wege übermittelt (tote Briefkästen). Das Treffen mit dem Informanten wurde alle zwei bis drei Wochen durchgeführt. »Plán práce rezidentury Santiago de Chile na rok 1975«, 2.1.1975, S. 8-9, ABS, I. správa SNB, 12623/000. 29 »Záznam o konzultaci s představiteli rozvědky NDR k akci ANDROMEDA z 9.10.1974«, 11.10.1974, S. 16 ABS, I. správa SNB, 12623/101-II.
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und Ungarn die Bitte abgewiesen hatten, akzeptierte die Tschechoslowakei sie.30 Die Kooperation mit den Rumänen und Jugoslawen, deren Gesandtschaften sich in Chile befanden, war sehr begrenzt.31 Um die Aktivität der tschechoslowakischen Agentinnen und Agenten zu legalisieren, war es möglich, die Firma TRACO zu nutzen,32 die als einziger tschechoslowakischer Stützpunkt in Chile verblieben war, oder die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des tschechoslowakischen Bundesministeriums für Außenhandel. Die Legalisierung über die Verwalter der tschechoslowakischen Besitztümer kam nicht in Frage, da sie Diplomatenpässe besaßen und als Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des tschechoslowakischen Außenministeriums ausgewiesen waren. Der tschechoslowakischen Regierung zufolge würden diese Faktoren als Zurücknahme der Entscheidung angesehen, die diplomatischen Beziehungen abzubrechen: »Dergestalt hätte auch Indien die Lage beurteilt, das dazu autorisiert war, die Angelegenheiten der Tschechoslowakei zu vertreten. Andererseits wäre ein Mitarbeiter des Außenministeriums stärker durch die chilenischen Sicherheitsbehörden kontrolliert worden als ein Geschäftsmann.«33 Aufgrund dessen wurde die Firma TRACO, die zwei Arbeitsplätze für tschechoslowakische Bürger bot, zur idealen Grundlage der Legalisierung des Geheimdienstes. Mit der künftigen Nutzung dieser Firma wurde schon im September 1973 gerechnet, als die Residentur aufgelöst wurde: »In Chile sind zwei tschechoslowakische Bürger als Angestellte der TRACO-Filiale geblieben und von dieser Situation aus können wir beginnen. Die Beziehungen zwischen Chile und der Tschechoslowakei werden fortgesetzt, wenn auch in reduziertem Maße, und
30 Die Repräsentanten der DDR begrüßten die Teilnahme der Tschechoslowakei an der »internationalen Unterstützung der KPCh im Kampf gegen die faschistische Diktatur, insbesondere in einer Situation, in der die Genossen aus Bulgarien und Ungarn nicht eingriffen.« Aus: »Záznam o jednání s představiteli rozvědky NDR«, 28.7.1975, S. 6, ABS, I. správa SNB, 12623/000. 31 »Záznam o jednání náčelníka rozvědky NDR s. gen. Horstem Jänickem«, 16.4.1977, S. 8, ABS, I. správa SNB, 12623/012. 32 1966 wurde mit dem Ziel, den Export tschechoslowakischer Maschinen zu erhöhen, das Unternehmen TRACO Ltd. in Chile gegründet. Offiziell präsentierte es sich als ein tschechoslowakisch-kanadisches Joint-Venture, doch der kanadische Partner war in Wirklichkeit eine tschechoslowakische Filiale mit Sitz in Kanada. TRACO wurde durch das Außenhandelsunternehmen Transakta geleitet. »Akce ANDROMEDA doklad k 11.7.1974«, S. 1, ABS, I. správa SNB, 12623/100. 33 »Obnovení práce čs. rozvědky v Chile - informace«, 18.6.1974, S. 2, ABS, I. správa SNB, 12623/101.
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so wird es möglich sein, die Personalzahl der Filiale zu erhöhen oder kleine Handelsabteilungen zu errichten, wie in den Jahren, in denen wir keine diplomatischen Beziehungen zu Chile hatten. Zu jener Zeit begannen wir, die Residentur unter den gleichen Bedingungen innerhalb der Handelsvertretung aufzubauen.«34
Obwohl es keine diplomatischen Beziehungen gab, zeigte die Militärregierung weiterhin Interesse an wirtschaftlichen Kontakten. Dementsprechend hatte TRACO keine schwerwiegenden Probleme mit den chilenischen Behörden. Nur im November 1974 kam es zu gewissen Komplikationen, als ein chilenischer Angestellter dieser Firma verhaftet wurde. Laut der Aussage von Luis Arriagada, einem ehemaligen Anwalt der tschechoslowakischen Botschaft und der Handelsabteilung, wurde dieser Angestellte mit Gewalt, einschließlich der Folter mit Stromschlägen, zu der Aussage gezwungen, es seien angeblich Waffen und ein Sender in der Firma in seinem Besitz gewesen. Sie boten ihm an, mit ihnen zu kooperieren, um an geheime Informationen aus der Firma zu kommen. Nach drei Tagen wurde er freigelassen.35 Später durchsuchte die chilenische Polizei sorgfältig das Lager der Firma. Die Leitung von TRACO hatte weniger Sorge, dass die Waffen gefunden würden, sondern »die vertrauliche Korrespondenz seit Beginn der Existenz der Firma, in welcher offensichtlicher Steuerbetrug sowie Devisenvergehen auftauchten« (ebd.). Diese Praktiken wurden während der Allende-Regierung angewandt, um das Kapital aus dem Land zu schaffen. Nach dem Putsch konnte nicht mehr von diesen Machenschaften profitiert werden, da die dafür nötigen Kanäle verschwanden. Dennoch blieben die fingierten Artikel in den Rechnungen stehen und eben dieser Steuerbetrug hätte als Vorwand für eine Gegenreaktion der chilenischen Seite dienen können.36 Aufgrund der Entscheidung, die Residentur wieder zu eröffnen, wurde Ende 1974 Stanislav Buřival (Deckname: Bosák) als zukünftiger Resident nach Chile geschickt. Er hatte 1967 bis 1971 den gleichen Posten in Caracas ausgeübt und war dort als Direktor der Handelsabteilung der tschechoslowakischen Botschaft legalisiert.37 Das zweite Mitglied der Residentur wurde Direktor des technischen
34 »Podklady k úkolům u s. plk. Žemly dne 3.10.1973«, 15.10.1973, S. 34, ABS, I. správa SNB, 12543/000. 35 »Záznam«, 13.12.1974, ABS, I. správa SNB, 12623/101-II. 36 »Akce Andromeda – současný stav, TRACO R. L.«, 18.9.1974, S. 1, ABS, I. správa SNB, 12623/101. 37 »Skončení přípravné práce části akce ANDROMEDA – vybudování rezidentury čs. rozvědky«, 4.11.1975, S. 2, ABS, I. správa SNB, 12623/000.
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Zentrums und der Dritte im Bunde war der Verwalter des Besitzes der ehemaligen Botschaft.38 Dank ihm konnte die Residentur von dem Recht auf Exterritorialität des Geländes und der Gebäude der ehemaligen Botschaft profitieren.39 Mit der Ankunft der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die damals die quantitativ größte Residentur Lateinamerikas bildeten, endete die Vorbereitungsphase der Operation, die den Decknamen ANDROMEDA erhielt.
D IE O PERATION ANDROMEDA UND DIE B ESCHREIBUNGEN DER S ITUATION IN C HILE Nach seiner Ankunft bewertete Stanislav Buřival die Umstände in Chile optimistisch. Beispielsweise beschreibt er in seinem Bericht vom November 1974 die Situation des Generalsekretärs des KPCh, Luis Corvalán, der mit einigen Ministern der Allende-Regierung auf der Dawson-Insel in der Magellan-Straße interniert war, als erträglich: »Er kann Radio hören, Zeitungen lesen und in der letzten Zeit hat er zugenommen.«40 Einige Monate später erwähnte Buřival sogar, dass Corvalán seinen Freunden aus der DDR zufolge Chile sofort verlassen haben könnte, wenn er es wirklich gewollt hätte. Auch das Niveau der chilenischen Geheimdienste war ihm zufolge niedrig. Die USA boten in diesem Fall nicht die erhoffte Unterstützung an und »die einzige Hilfe, die aus dem Ausland kam, war die aus Brasilien.«41 Zudem erwähnte Buřival die Reaktion eines Teils der chilenischen Gesellschaft bezüglich der Beendigung der diplomatischen Beziehungen mit der Tschechoslowakei: »Bezüglich der Unterbrechung der diplomatischen Beziehungen und der Abreise unserer Mitarbeiter aus dem Land dominiert die Meinung, dass diese Maßnahmen voreilig waren. In den Gesprächen merkt man vor allem, dass die Menschen, die in engerem Kontakt mit unseren Stellen standen (Unternehmer, Kulturbeauftragte etc.), sich persönlich angegriffen
38 »Správa čs. majetku v Santiagu de Chile«, 30.4.1975, ABS, I. správa SNB, 12623/000. 39 »Plán práce rezidentury Santiago de Chile na rok 1975«, 2.1.1975, S. 2, ABS, I. správa SNB, 12623/000. 40 »Záznam o jednání s představiteli rozvědky NDR v akci ANDROMEDA«, 28.11.1974, S. 4, ABS, I. správa SNB, 12623/101-II. 41 »Doplnění počtu pracovníků rezidentury – vízové problémy, Jednání v akci ANDROMEDA a záznamy soudruha Bosáka«, 8.4.1975, S. 4, ABS, I. správa SNB, 12623/000.
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fühlen, weil sie keine Antworten auf ihre Briefe erhalten, keine Visa ausgestellt bekommen, usw. Sie bringen deutlich zum Ausdruck, dass sie kein Teil der Junta sind. Unsere Erklärungen, dass wir gemäß internationaler Regeln agieren und es sich um einen Protest gegen die Regierung handelt, kosten viel Kraft und wir stoßen nicht immer auf Verständnis.«42
Im Rahmen der Operation ANDROMEDA wurden regelmäßig Beratungen zwischen den Auslandsgeheimdiensten der Tschechoslowakei und der DDR durchgeführt. Im Sommer 1975 wurde bei einem Treffen in Dresden entschieden, dass im Falle von Problemen der HVA, wie zum Beispiel der Auflösung der Residentur und der Ausweisung von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, die tschechoslowakische Residentur dazu in der Lage sei, ihre Aufgaben zu übernehmen (Übergabe von Radioempfängern, Dokumenten, etc.). Dennoch wurde der Kontakt mit den Vertreterinnen und Vertretern der KPCh weiterhin durch die Agentinnen und Agenten der DDR gesteuert, während die tschechoslowakische Residentur sich auf den Aufbau von toten Briefkästen, Kontrollwegen und Nachrichtenverbindungen konzentrierte, ebenso wie auf die Informationsaktivitäten, die aus legalen Quellen und aus eigener Observierung stammten.43 Ende 1975 wurden die Razzien gegen die KPCh intensiviert und viele Parteimitglieder kamen ins Gefängnis. Die beiden Beamten, welche die Verbindung zu den Mitarbeitern der HVA hielten, gingen in den Untergrund und die Kommunikation wurde unterbrochen. Außerdem wurden ihre Ehefrauen festgenommen und eine von ihnen wurde angeworben, um mit der chilenischen Geheimpolizei (Dirección de Inteligencia Nacional, DINA) zu kollaborieren. Da sie über die Kontakte ihres Ehemanns mit der HVA informiert wurde, wurde die tschechoslowakische Seite im Januar 1976 gebeten, die direkte Kommunikation mit der KPCh zu übernehmen. Die Verbindung mit Moskau sicherte weiterhin die DDR.44 In den folgenden Monaten verschärfte sich die Situation weiter. Im Mai wurden zwei Teams des inneren Führungszirkels der KPCh festgenommen. Unter ihnen befanden sich auch zwei Führungsmitglieder: Víctor Díaz, der Vizegeneralsekretär, und Mario Zamorano, Mitglied des Zentralkomitees. Diese Männer,
42 »Současná vnitropolitická a hospodářská situace v Chile«, 13.6.1975, S. 8, ABS, I. správa SNB, 12623/000. 43 »Záznam o jednání s představiteli rozvědky NDR«, 28.7.1975, S. 3, ABS, I. správa SNB, 12623/000. 44 »Záznam z jednání zástupců I. SFMV ČSSR a NDR k akci ANDROMEDA«, 17.2.1976, ABS, I. správa SNB, 12623/011.
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die einige Tage nach ihrer Festnahme ermordet wurden, hatten Informationen über Aktivitäten des tschechoslowakischen Geheimdienstes und kannten die wahre Identität ihrer Informantinnen und Informanten. Nachdem acht Asylsuchende in die ehemalige Botschaft Ungarns flohen, entschied sich die chilenische Regierung dazu, alle Verwalter von Besitztümern der sozialistischen Länder binnen 24 Stunden des Landes zu verweisen. Nur die Proteste des Direktors des diplomatischen Protokolls des chilenischen Außenministeriums, der mit den diplomatischen Auswirkungen einer solchen Entscheidung argumentierte, änderten den Beschluss der Regierung.45 Die Verwalter mussten das Land bis August jenes Jahres verlassen. Als Grund wurde angegeben, sie hätten keine unumgänglichen Pflichten zu erfüllen, arbeiteten gegen die chilenische Regierung und es handele sich nicht um eine gegenseitige Beziehung. Die Gebäude der ehemaligen Botschaften der sozialistischen Länder wurden unter Kontrolle gestellt und die Besucher wurden registriert.46 Nachdem der tschechoslowakische Verwalter Chile im August verlassen hatte, wurde die ehemalige Residenz des Botschafters an die finnische Gesandtschaft vermietet und die ehemalige Botschaft an das Unternehmen TRACO, das sie als Wohnung für zwei tschechoslowakische Mitarbeiter nutzte und als Lager für Musterstücke und Ersatzteile. Auf diese Weise verlor das Objekt das Recht auf Extraterritorialität. Zur Bezahlung der Nutzung des Objekts sicherte TRACO die Instandhaltung des Gebäudes. Die Gesandtschaft Indiens übernahm weiterhin den allgemeinen rechtlichen Schutz der tschechoslowakischen Besitztümer.47 Der ursprüngliche Ausweisungsbeschluss der chilenischen Regierung bezog sich auch auf die Verwalter aus der DDR und in jenem Fall hätte die tschechoslowakische Residentur deren Aufgaben übernommen.48 Im Rahmen der stufenweisen Integration in aktive Kampagnen begann die tschechoslowakische Resi-
45 O. Titel, 24.5.1976, ABS, I. správa SNB, 12623/011. 46 »Výpis ze zprávy ANDROMEDA 13 došlé kargem na FMZV přes ZÚ Indie dne 6. července 1976 - K situaci v Chile«, 7.7.1976, ABS, I. správa SNB, 12623/011. 47 »Převzetí budovy bývalého čs. ZÚ v Santiago de Chile«, 2.8.1976, ABS, I. správa SNB, 12623/011. 48 Wenn es dazu gekommen wäre, wären die Unterlagen nach Prag geschickt worden, von dort aus in die DDR und danach zu den Anführern der KPCh in Moskau. Über den gleichen Weg wären die Anweisungen nach Chile gelangt. Materialien mit höherem Gewicht wären von den Tschechoslowaken zur Botschaft der DDR in Argentinien oder Peru geschickt worden. So wäre es nicht notwendig gewesen, die Auslandsabteilung der KPCh über eine Veränderung zu informieren. »Chile – informace«, 14.4.1978, S. 3, ABS, I. správa SNB, 12623/013.
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dentur mit der Leistung technischer Unterstützung für die DDR bei der Herstellung von Fotografien für gefälschte Papiere. Im November 1974 besuchte Buřival die Residentur der DDR in Buenos Aires, wo er Fotografien und andere Materialien für die Papiere von zwei chilenischen Kommunisten im Untergrund erhielt. Des Weiteren brachte Buřival den Plan nach Santiago, wie diese Personen ins Ausland zu befördern seien.49 Dem Vorschlag der DDR, eine langfristige Aufenthaltserlaubnis für ihre Handelsvertreter sicherzustellen, wurde seitens der chilenischen Militärregierung zugestimmt. Allerdings mit der Bedingung, ihre eigene Wirtschaftsabteilung in Ostberlin zu errichten, die wahrscheinlich als Basis für die Geheimdienste dienen sollte. Für die Regierung Honecker, welche Tausenden politischer Flüchtlinge Asyl gewährte, war dieser Vorschlag nicht akzeptabel.50 Deshalb zog die DDR die Vermittlungsgespräche absichtlich in die Länge, damit die Visa ihrer Mitarbeiter in Chile bis Mai 1978 verlängert werden konnten, als die Situation im Land sich beruhigt hatte und sie Visa mit unbegrenzter Gültigkeit erhielten. Auf diese Weise wurde der Erhalt der Residentur der DDR in Chile erreicht, wofür sich auch der kurz zuvor erst entlassene Luis Corvalán während seines Besuchs in Ostberlin im Mai 1977 eingesetzt hatte, indem er argumentierte, es handele sich um die einzige sichere Verbindung zwischen Kommunistinnen und Kommunisten in Chile und in Europa (ebd.: 3). Die tschechoslowakische Residentur war damals nicht damit beauftragt, sich an diesen Verbindungen zu beteiligen. Das Beispiel der DDR zeigt deutlich, dass die Militärregierung Chiles sich vor allem bemühte, innere Bedrohungen zu eliminieren und dass die Politik gegenüber sozialistischen Ländern nicht mehr so strikt war, mit Ausnahme der UdSSR und vor allem gegenüber Kuba – Länder, die als Verbreiter feindlicher Ideologien betrachtet wurden. Andere Länder, die Tschechoslowakei eingeschlossen, wurden als treue Satellitenstaaten der UdSSR angesehen und die chilenische Regierung war weiterhin daran interessiert, wirtschaftliche Kontakte zu ihnen aufzubauen (ebd.: 6). Zu China etwa pflegte Chile immer engere Beziehungen. Auf der anderen Seite muss erwähnt werden, dass auf jede Verhaftung und jede Erschießung innerer ›Feinde‹ die öffentliche Zurschaustellung aufgefundener Waffen folgte. Es handelte sich beinahe ausschließlich um Waffen sowjetischer (Kalaschnikows) oder tschechoslowakischer Produktion (Skorpion-
49 »Zpráva o činnosti skupiny ANDROMEDA«, 9.6.1977, S. 4, ABS, I. správa SNB, 12623/012. 50 »Záznam o jednání náčelníka rozvědky NDR s. gen. Horstem Jänickem«, 16.4.1977, S. 1, ABS, I. správa SNB, 12623/012.
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Maschinenpistolen Vz.61 und Vz.50-Pistolen). In diesem Zusammenhang wurden die UdSSR und die Tschechoslowakei als Länder betrachtet, die mit Material (insbesondere mit Waffen) nicht nur in Chile sondern auch in anderen Ländern der Welt die ›subversiven Bewegungen‹ unterstützten.51
D IE SINKENDE B EDEUTUNG DER › CHILENISCHEN UND DIE A UFLÖSUNG DER R ESIDENTUR
F RAGE ‹
Aus den Geheimdienstberichten geht klar hervor, dass sich die Repräsentanten der DDR häufig über das Verhalten der chilenischen Kommunistinnen und Kommunisten beschwerten. Diese hätten keine Erfahrung mit der Arbeit im Untergrund, sodass es auf unteren Ebenen oft an Disziplin mangele und die Aktivität des Geheimdienstes großen Risiken ausgesetzt sei.52 Dementsprechend erwähnte die tschechoslowakische Residentur in ihrem Bericht, dass es der KPCh an Ordnung und Disziplin mangele: »Es wäre angemessen, Herrn Corvalán über den Generalsekretär des Zentralkomitees der KP der Tschechoslowakei, Gustáv Husák, mitzuteilen, dass die chilenischen Genossen konspirativ arbeiten sollen und dass sie nicht durch ihre unzureichende Organisation und Missachtung der Regeln der Arbeit im Untergrund die Verbindungen mit dem Ausland gefährden dürfen.«53
Außerdem missfiel Ostberlin die Haltung, welche die kommunistische Führung Chiles im Exil gegenüber der Arbeit in Chile an den Tag legte, sehr. Die Heterogenität der Unidad Popular war bereits während der Regierungszeit Allendes erkennbar und in der Zeit der Illegalität wurde sie noch deutlicher. Es handelte sich jedoch nicht nur um politische Widersprüche innerhalb des Exils. Die DDRFührung begann damit, die Rolle der Initiatorin und Organisatorin der Arbeit der KPCh auszuüben, da die Aktivität von deren Mitgliedern hierfür nicht ausreichte. Dies zeigte sich insbesondere an ihrem Unwillen, Parteimitglieder nach Chile zu entsenden, obwohl es nicht an überprüften und gesicherten Möglichkeiten dazu mangelte.54 Die Aufrechterhaltung der Aktivitäten der KPCh in Ostberlin
51 »Chile – vnitropolitická situace«, 18.5.1982, S. 3, ABS, I. SNB, 12623/014. 52 »Záznam o jednání s představiteli rozvědky NDR«, 28.7.1975, S. 4, ABS, I. GSIC, 12623/000. 53 »Akce ANDROMEDA«, 3.8.1977, S. 5, ABS, I. GSIC, 12623/012. 54 »Situace v akci ANDROMEDA«, 30.11.1978, ABS, I. GSIC, 12623/013.
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wurde für die DDR-Führung immer kostspieliger, zugleich veränderte sich die politische Situation in Chile. Daher verlor die DDR nach und nach das Interesse an dieser Art der Kooperation. Darüber hinaus nahm die Bedeutung des chilenischen Problems ohnehin ab. Die Aufmerksamkeit Moskaus verlagerte sich auf geopolitisch dringendere Angelegenheiten (Iran, Afghanistan) und auf prestigeträchtigere (wie die Olympischen Spiele in Moskau). Zugleich hatten die chilenischen Kommunistinnen und Kommunisten ab Ende der 1970er Jahre damit begonnen, ihre Arbeit auf Chile auszurichten und 1978 wurde die Kampagne ›Rückkehr‹ initiiert.55 Und so änderte die KPCh ihre Linie – teils unter Einfluss der sandinistischen Revolution in Nicaragua – und im September 1980 erklärte KPCh-Generalsekretär Luis Corvalán auf Radio Moskau, der Volksaufstand gegen die Gewaltherrschaft Pinochets sei legitim. Ab 1983 begann die paramilitärische Patriotische Front Manuel Rodríguez (Frente Patriótico Manuel Rodríguez) mit ihren Aktivitäten auf chilenischem Territorium, die Taktiken wie Entführungen und das Legen von Autobomben einsetzte. Ihre Basis bildeten Gruppen exilierter Chilenen, die vor allem in Kuba trainiert worden waren. Und so veränderte die KPCh ihre Strategie und forderte, die materielle Unterstützung nun auf den Kampf im Inneren des Landes auszurichten. Damals endete die Rolle des Geheimdiensts der DDR als einzigem Kommunikationskanal und seine Bedeutung nahm nach und nach ab. Nach einer erneuten Ankündigung des chilenischen Außenministeriums, dass Ostberlins Besitzverwalter das Land verlassen müssten, entsandte die DDR eine offizielle Handelsmission. In Santiago wurde ein gegenseitiges Abkommen über den Aufbau von Handelskammern unterzeichnet, das im Frühling 1980 in Kraft trat. Diesem Abkommen zufolge konnte die DDR in Chile ihre Handelsabteilung mit drei Mitarbeitern beibehalten und außerdem zwei Besitzverwalter als Mitarbeiter der rumänischen Botschaft.56 Unter diesen Umständen bedurfte Ostberlin nicht mehr der Hilfe durch die Tschechoslowakei.57 Auf der Grundlage des gegenseitigen Abkommens vom 28. Februar 1980 wurde die Operation ANDROMEDA, die fünf Jahre angedauert hatte, zum Ende jenes Jahres beendet.
55 »Zpráva o zasedání řídícího výboru KS Chile v Praze«, 30.1.1978, S. 5, NAČR, KSČÚV-02/1, 1261/0/7, 1976-1981, Bd. 64, Archivgruppe 68, Notiz 12. 56 »Akce ANDROMEDA«, Januar 1980, ABS, I. GSIC, 12623/014. 57 »Záznam o jednání s přáteli NDR k problematice ANDROMEDA«, 3. 3. 1980, S. 2, ABS, I. GSIC, 12623/014.
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Z USAMMENFASSUNG
UND
S CHLUSSFOLGERUNGEN
Die tschechoslowakische Residentur in Santiago de Chile wurde 1961 gegründet und nach dem Putsch Pinochets im September 1973 aufgelöst. Bereits im Jahr 1975 wurde sie auf Ersuchen der DDR wieder eingerichtet und bestand bis 1980. Während dieser fünf Jahre erarbeiteten die tschechoslowakischen Agenten zahlreiche Berichte, welche mit den Berichten bis 1973 bei der Analyse der tschechoslowakisch-chilenischen Beziehungen in jenen Jahren eine Schlüsselrolle einnehmen. Im Laufe der letzten Monate der Regierung Salvador Allendes wurde in diesen Berichten die Möglichkeit eines Militärputsches erörtert. Es mag überraschend erscheinen, dass die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der tschechoslowakischen Residentur in dem Punkt übereinstimmten, dass die chilenische Situation untragbar gewesen sei und dass die Mehrheit der Bevölkerung eine militärische Intervention begrüßen würde. Am 21. September, zehn Tage nach dem Staatsstreich, brach die UdSSR die diplomatischen Beziehungen zu Chile ab und in den darauffolgenden Tagen taten es ihr weitere Länder des Ostblocks gleich, mit Ausnahme von Rumänien. Prag beendete die diplomatischen Kontakte am 25. September und Indien übernahm die Vertretung der tschechoslowakischen Interessen in Chile. Zusammen mit der tschechoslowakischen Botschaft wurde auch die Residentur aufgelöst. Die Rolle des Haupt-Geheimdienstes des Ostblocks nahm die DDR ein, deren Residentur damals die einzige Verbindung zwischen den Kommunisten, die in Chile im Untergrund operierten, und der Leitung der Partei in Moskau sicherstellte. Im Juli 1974 bat die HVA Prag um Hilfe beim Aufbau eines Ersatzkanals für den Fall der Ausweisung ihrer Agenten. Der Bitte wurde stattgegeben und so startete die Operation ANDROMEDA. Im Rahmen dieser Operation wurde im darauffolgenden Jahr die tschechoslowakische Residentur in Santiago durch drei dort operierende Agenten wieder aufgebaut. Die chilenische Militärregierung konzentrierte sich auf die Eliminierung innerer Bedrohungen. Daher war ihre Politik gegenüber den sozialistischen Ländern nicht mehr so strikt (mit Ausnahme der UdSSR und vor allem Kubas). Das Pinochet-Regime zeigte sogar Interesse daran, den Handelsaustausch mit diesen Ländern zu intensivieren. Aufgrund dessen konnten die Agentinnen und Agenten der DDR in Chile bleiben und die tschechoslowakische Residentur wurde nie damit beauftragt, sich an der Verbindungsarbeit zu beteiligen. Mit dem Aufbau der Handelsabteilung der DDR in Chile im Jahr 1980 benötigte Ostberlin keine weitere Hilfe von der Tschechoslowakei, deren Residentur zum Ende jenes Jahres geschlossen wurde.
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Die Aktivitäten der Geheimdienste beleuchten ein besonderes und zugleich wenig bekanntes Kapitel der tschechoslowakischen Präsenz in Lateinamerika. Am Beispiel der Residentur in Chile in den Jahren der Militärregierung zeigt sich deutlich, dass der tschechoslowakische Geheimdienst sich nicht auf pragmatische Interessen beschränkte, sondern auch an der Unterstützung verfolgter Mitglieder der KPCh beteiligt war. Zwar verließen die Agentinnen und Agenten der DDR das Land nicht und die tschechoslowakische Seite kam daher nie über eine Ersatzrolle hinaus. Dennoch wäre es aus dieser Perspektive heraus unpräzise, zu behaupten, die tschechoslowakische Unterstützung für die chilenische Opposition sei nur durch Worte erfolgt, etwa in Form einer massiven Propaganda, zu der es nach dem Putsch Pinochets in den Ländern Osteuropas kam.
A RCHIVQUELLEN ABS – Archiv bezpečnostních složek (Archiv der Sicherheitsdienste), Prag I. správa SNB I. GSIC AMPO – Archiv Ministerstva průmyslu a obchodu (Archiv des Ministeriums für Industrie und Handel), Prag MZO AMZV – Archiv Ministerstva zahraničních věcí (Archiv des Ministeriums für auswärtige Angelegenheiten), Prag Dokumentace teritorálních odborů (Dokumentation der territorialen Departments) NAČR – Národní Archiv Česká Republika (Nationalarchiv der Tschechischen Republik), Prag KSČ-ÚV: Archiv Komunistická strana Československa - Ústřední výbor (Archiv des Zentralkomitees der KSČ) KSČ-ÚV-02/1, f. 1261/0/6, 1971-1976 KSČ-ÚV-02/1, f. 1261/0/7, 1976-1981
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Die Tschechoslowakei und Brasilien im Kalten Krieg Diplomatie, Wirtschaft, Geheimdienste und Guerillas1 M ATYÁŠ P ELANT
1945-1948: V OM V ERBÜNDETEN ZUM G EGNER ? Brasilien erkannte die Tschechoslowakei am 28. Dezember 1918 als eigenständigen Staat an. Die diplomatischen Vertretungen in Rio de Janeiro und Prag nahmen ihre Arbeit im Juni 1920 auf. Seit dieser Zeit unterhielt die Tschechoslowakei Beziehungen zu dem größten der lateinamerikanischen Länder, die nur drei Jahre lang unterbrochen waren, und zwar von März 1939 bis September 1942. Bis zum Beginn des Zweiten Weltkrieges waren sowohl die politischen als auch die ökonomischen Beziehungen der beiden Staaten von Stabilität geprägt und viele traditionsreiche tschechoslowakische Firmen waren bereits in der Vorkriegszeit erfolgreich in Brasilien präsent, wie etwa Jawa, Baťa oder Škoda Plzeň. Im Jahr 1937 eröffnete Škoda Plzeň ein Büro sowie Omnipol Brasileira eine Handelsniederlassung in Rio de Janeiro. Tschechoslowakische Waffen oder Maschinen für die Landwirtschaft waren auch in Brasilien bekannt. Im Zuge des Zweiten Weltkrieges trat Brasilien auf der Seite der Alliierten in den Krieg ein und erneuerte die diplomatischen Beziehungen zur tschechoslowakischen Exilregierung im September 1942, die sich in London konstituiert hatte. Im Jahr 1944 wurde die Stadt Santo Antônio do Capivari im Bundesstaat Rio de Janeiro in Lidice umbenannt, um an den zweiten Jahrestag der Zerstörung und des Massakers von Lidice (1942) zu erinnern. Die Beziehungen zwischen der Tschechoslowakei und Brasilien nach dem Zweiten Weltkrieg begannen sehr
1
Teile dieses Aufsatzes wurden bereits auf Englisch veröffentlicht (Pelant 2013).
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gut; ohne Verzögerung wurde bereits 1946 ein neuer Handels- und Kooperationsvertrag unterzeichnet. Aber es dauerte nicht lange, bis die ersten Schwierigkeiten auftraten, die mit dem Beginn des Kalten Krieges verknüpft waren. Die Beziehungen wurden durch die tschechoslowakischen Standpunkte bei der Pariser Friedenskonferenz im Jahr 1946 auf eine harte Probe gestellt, da die Tschechoslowakei die Marshallplan-Hilfe verweigerte, die Illegalität der Kommunistischen Partei in Brasilien anprangerte und den Abbruch der diplomatischen Beziehungen zwischen Brasilien und der Sowjetunion im Jahr 1947 kritisierte. Das Verhalten der Tschechoslowakei auf der Konferenz enttäuschte bis zu einem gewissen Grad das brasilianische Außenministerium (Itamaraty)2, obwohl der brasilianische Außenminister Raul Fernandes offen seine Sympathien für Edvard Beneš, den Präsidenten der Tschechoslowakei, zeigte, den er zur Zeit der ›Völkerbund-Ära‹ persönlich in Genf kennengelernt hatte.3 Laut Fernandes reagierte die tschechoslowakische Delegation auf der Friedenskonferenz nicht auf den brasilianischen Vorschlag, gemeinsam mit Kanada eine Vermittlerrolle einzunehmen, »während sich Kanada [von Fernandes’ Vorschlag, M. P.] geehrt zeigte« (ebd.). Die Tatsache, dass sich die Tschechoslowakei auf dieser Konferenz den Entscheidungen der Sowjetunion anschloss, führte dazu, dass die Tschechoslowakei als ein Satellit Moskaus betrachtet wurde. Aber es war nicht nur die Pariser Friedenskonferenz, die für ›Stirnrunzeln‹ in Brasilien sorgte. Als Reaktion auf die Reise von tschechoslowakischen Politikern nach Moskau und die darauffolgende Ablehnung der Marshallplan-Hilfe im Jahr 1947 warnte die tschechoslowakische Botschaft in Brasilien Prag, dass »unsere Expansion in Handels- und Kulturangelegenheiten von den Entwicklungen der Weltpolitik gebremst wird, die uns in die entgegengesetzte Richtung der Koalition drängt, zu der Brasilien angehört.«4 Um diese schwierige politische Situation zu lösen, schlugen die tschechoslowakischen Diplomatinnen und Diplomaten vor, eine vernünftige Handelspolitik zu
2
Itamaraty ist der Spitzname des brasilianischen Außenministeriums. Es wurde nach dem vorherigen Außenministerium in der ehemaligen Hauptstadt Rio de Janeiro benannt, welches ebenfalls Itamaraty genannt wurde. Der Name wird vielfach im Alltagsgebrauch, aber auch in den Medien, in wissenschaftlichen Publikationen sowie auch im Ausland verwendet, wenn auf das brasilianische Außenministerium verwiesen wird.
3
»Audience u ministra«, Archiv Ministerstva zahraničních věcí České republiky
4
»Periodická zpráva leden-červenec 1948, IV.: Věci československé«, AMZV (1945-
(AMZV) (1945-1971), f. Zprávy ZÚ, Rio de Janeiro, Zpráva č. 16/1947. 1971), f. Zprávy ZÚ, Rio de Janeiro.
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forcieren, die eine Erhöhung der tschechoslowakischen Exporte vorsah, die Brasilien benötigte. Dies sollte auch in den darauffolgenden Jahren eine Konstante in den Beziehungen zwischen der Tschechoslowakei und Brasilien darstellen.
1945-1955: D ISTANZIERUNG
UND
A NNÄHERUNG
Die Position der Tschechoslowakei in Brasilien wurde in den Jahren von 1948 bis 1951 immer problematischer. Die brasilianischen Medien starteten Kampagnen gegen die sozialistischen Länder und der Kongress gab dem Druck der USA nach, die diplomatischen Beziehungen zur Tschechoslowakei und auch zu Polen einzustellen. Der tschechoslowakischen diplomatischen Gesandtschaft wurden erhebliche Hindernisse bei ihrer täglichen Arbeit in den Weg gelegt, wie zum Beispiel bei der Ausstellung von Einreisevisa für Brasilien oder (mehrfach) bei der Aufbewahrung von Gepäckstücken der Diplomatinnen und Diplomaten. Die Tschechoslowakei wurde von Brasilien als »ein Verbündeter aus dem letzten Krieg angesehen, der sich zu einem potentiellen Gegner im nächsten Krieg entwickelt hatte« (ebd.). Zur gleichen Zeit aber wiesen die tschechoslowakischen Diplomaten darauf hin, dass Brasilien an den Industriegütern der Tschechoslowakei interessiert sei – vor allem an Schuh- und Textilmaschinen und an Maschinen für den Energiesektor – und dass Brasilien ein wichtiger Rohstofflieferant für die tschechoslowakische Industrie sei (ebd.), vor allem von Eisenerz und Kaffee. Die Tschechoslowakei war für Brasilien im Falle von Absatzschwierigkeiten bei ihren traditionellen Partnern ein alternativer Markt und eine wichtige Quelle im Technologietransfer, um die Industrialisierung Brasiliens voranzutreiben. Ein Beweis dafür ist, dass die brasilianischen ›Attacken‹ gegen die Tschechoslowakei bis Ende 1951 abnahmen, vor allem wegen der wirtschaftlichen Probleme und des Drucks, den Kaffee an neuen Märkten absetzten zu müssen. Der Tod des ersten tschechoslowakischen Präsidenten Klement Gottwald am 13. April 1953 war von symbolischer Bedeutung für die gegenseitigen Beziehungen, wobei die brasilianische Regierung gemäß des Protokolls reagierte, wie beim Tod des britischen Königs George VI. Die Schlussfolgerung der tschechoslowakischen Diplomatie hieraus war, dass Brasilien die gegenseitigen Beziehungen weiterführen wollte, trotz der Aktivitäten von brasilianischen Kommunistinnen und Kommunisten in der Tschechoslowakei. So wurde im Jahr 1954 ein neues Handelsabkommen unterzeichnet.
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Die Tschechoslowakei hatte seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges nach und nach ihre Zusammenarbeit mit der Brasilianischen Kommunistischen Partei (Partido Comunista Brasileiro, PCB) verstärkt und das tschechoslowakische diplomatische Korps traf sich regelmäßig mit deren ›legendärem‹ Anführer Luís Carlos Prestes. Am 11. Mai 1948, drei Monate nach dem Staatsstreich in Prag, stand die Situation des brasilianischen Genossen und Schriftstellers Jorge Amado auf der Tagesordnung des Präsidiums der Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei (KPČ). In den Jahren von 1950 bis 1952 lebte Amado mit seiner Familie in Dobříš in der Nähe von Prag. Laut der Memoiren seiner Frau Zélia Gattai war das Paar mit den politischen Geschehnissen in der Tschechoslowakei in den 1950er Jahren konfrontiert. Besonders im Zuge des Slánský-Prozesses, während dessen das kommunistische Regime Außenminister Vladimír Clementis, seinen Stellvertreter Artur London und den Leiter der internationalen Abteilung der KPČ, Bedřich Geminder, zum Tode verurteilte. Gattai schrieb, dass Amado als Mitglied der KPČ der Parteidisziplin zwar gehorsam folgte, der Prozess um Slánský ihn aber so schockierte, dass er als Konsequenz daraus aus der Partei austrat (Gattai 2011: 137-138). Die Jahre nach dem Staatsstreich im Februar 1948 gestalteten sich also schwierig für die Tschechoslowakei. Dessen ungeachtet wurden die Handelsbeziehungen zu Brasilien verbessert und der tschechoslowakische Auslandsgeheimdienst begann seine Aktivitäten in Brasilien zu verstärken.
1955-1962: D IE Ä RA J USCELINO K UBITSCHEK Im Herbst 1955, unmittelbar nach der Wahl von Juscelino Kubitschek zum neuen Präsidenten Brasiliens, informierten die tschechoslowakischen Diplomatinnen und Diplomaten Prag darüber. Sie betonten, dass seine Ernennung zum Präsidenten nicht nur Perspektiven zur Verbesserung der gegenseitigen Handelsbeziehungen biete, sondern sich auch neue Wege in der politischen und kulturellen Zusammenarbeit ergeben würden. Die Tschechoslowakei wollte an Kubitscheks Entwicklungsprojekten für Brasilien teilhaben und bis zum Ende seiner Amtszeit gelang es, die Handelskooperationen zu verstärken. In den Jahren 1955 bis 1956 erreichte das gegenseitige Handelsvolumen einen Rekord von etwa 42 Mio. USDollar, der erst in den siebziger Jahren gebrochen wurde. Die Tschechoslowakei importierte in dieser Zeit vor allem Eisenerz, Kaffee, Kakao, Leder sowie Ölsamen und exportierte Maschinen, Malz, Konsumartikel, Hopfen und Chemikalien. Hingegen gestalteten sich die tschechoslowakischen Lieferungen großer Industriegüter, wie zum Beispiel Maschinen, noch bescheiden.
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Im Jahr 1959 besuchten Kubitscheks Frau Sarah und seine Töchter die Tschechoslowakei. Im darauffolgenden Jahr wurde ein neues Handelsabkommen unterzeichnet und das Konsulat in São Paulo nach 21 Jahren wiedereröffnet; im Oktober 1960 wurden die brasilianischen Vertretungen in den Status von Botschaften erhoben und schließlich besuchte Vizepräsident João Goulart im Dezember 1960 die Tschechoslowakei. Die tschechoslowakische Botschaft betonte, dass Kubitschek immer wieder auf seine tschechische Herkunft (sein Großvater mütterlicherseits wurde in Südböhmen geboren) hinwies und es ist offensichtlich, dass die Tschechoslowakei zusehends einen deutlich besseren Zugang zum brasilianischen Präsidentenpalast erlangte. Aber es muss auch betont werden, dass die Außenpolitik Kubitscheks stark auf die USA ausgerichtet war. Kubitschek betrachtete die USA als einen wichtigen Partner in der Entwicklung Brasiliens und er selbst betonte auch seinen zweiten Nachnamen D’Oliveira, ein typisch portugiesischer Name (der seines Vaters), um die luso-brasilianische Partnerschaft zu unterstützen. Dies geschah, um zusätzlich die Interessen Portugals in Afrika zu festigen (D’Avila 2010: 27). Viel wichtiger für Prag war Kubitscheks Vizepräsident und späterer Präsident João Goulart, der die Tschechoslowakei bereits im Jahr 1956 auf Einladung der tschechoslowakischen Regierung besucht hatte. Ohne jeden Zweifel war in der Zeit von 1945 bis 1989 Goulart der brasilianische Politiker mit dem größten Interesse an der Tschechoslowakei. Laut den Aufzeichnungen in den Archiven war er in seinen Funktionen als Vizepräsident und Präsident immer über die bilateralen Beziehungen informiert und konsultierte stets die tschechoslowakischen Diplomatinnen und Diplomaten. Im Februar 1959 bereitete das tschechoslowakische Außenministerium ein umfassenderes politisches Konzept für Lateinamerika vor. Gemäß diesem Dokument war Brasilien das lateinamerikanische Land, mit dem die Tschechoslowakei die meisten Beziehungen entwickelt hatte. Die Analyse des Außenministeriums wies darauf hin, dass aufgrund des wachsenden Nationalismus in Brasilien, vor allem in der Armee, der Fokus auf das Militär gelegt werden sollte. Die Strategie befürwortete auch den gezielten Angriff auf die nationale Bourgeoisie und die Ablehnung supranationaler Monopole.5 Die offene Haltung Brasiliens gegenüber dem Ostblock ist als pragmatisch zu charakterisieren und wurde teilweise von der Angst von Integrationsprozessen in Westeuropa verursacht. Gefahren für Brasilien stellten der Rückgang des Ka-
5
»Návrh opatření k rozvinutí čs. iniciativy v otázce uplatňování zásad mírového soužití mezi státy s rozdílným společenským zřízením v relacích s Latinskou Amerikou«, AMZV (1953- 1989), f. Porady kolegia, 16.4.1959, S. 233.
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pitalzuflusses und ausländische Investitionen in Afrika dar, da jene Region mit Brasilien im Wettbewerb um den Absatz tropischer Agrarprodukte stand. Der tschechoslowakische Geheimdienst enthüllte einige geheime Informationen über Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der CIA, die im brasilianischen Diplomatenkorps arbeiteten. Der tschechoslowakische Agent ›Willy‹ arbeitete in der Chiffren-Abteilung des Itamaraty. Laut Willys Berichten arbeitete der brasilianische Botschafter in Kuba und spätere Außenminister Vasco Leitão da Cunha für die CIA. Cunha erhielt seine Anweisungen von der US-Botschaft in Rio de Janeiro über die politische Abteilung von Itamaraty. Diese Informationen wurden ohne Verzögerung durch den tschechoslowakischen Geheimdienst der kubanischen Führung vorgelegt und der tschechoslowakische Delegierte in Havanna traf mit Fidel Castro am 9. November 1960 um Mitternacht zusammen. Der Attaché der kubanischen Botschaft in Prag stand auch mit Cunha in Kontakt und wurde von Willy enttarnt. Cunha hatte den Attaché selbst davor gewarnt, nach Kuba zurückzukehren.6 Manche Ergebnisse des tschechoslowakischen Gemeindiensts waren vielleicht nicht so relevant wie etwa jene in Bezug auf Goularts Besuch in Prag im Dezember 1960. Der Geheimdienst stellte z.B. fest, dass dem Vizepräsidenten »unser Pflaumenschnaps sehr gut schmeckte, den er ziemlich oft auf sein Hotelzimmer bestellte.«7 Weitaus interessanter sind hingegen die Aufzeichnungen des Präsidiums der KPČ. In diesen heißt es, dass auf besonderen Wunsch von Goulart ein zusätzliches Treffen zwischen ihm und dem Premierminister Viliam Široký ohne Anwesenheit von Vertreterinnen und Vertretern des Itamaraty stattfand. Goulart wollte einige Fragen ausdrücklich nicht vor den Mitgliedern des brasilianischen Außenministeriums diskutieren, das er als »reaktionäre Institution« betrachtete.8 In einem privaten Gespräch mit Široký betonte Goulart, dass Brasilien die Unterstützung der sozialistischen Länder benötigte und die Tschechoslowakei als Brücke zwischen Brasilien und Moskau fungieren könnte (ebd.).
6
»Informace ministerstva vnitra«, Národní Archiv Česká Republika, Archiv Komunistická strana Československa (NAČR/KSČ-ÚV), 1960-1961, f. 1261/044/II. NAČR/ KSČ-ÚV, ka. 74.
7
»Báze k objektu vláda/ prezidentská kancelář/ Brazílie, Záznam o pobytu brazilské vládní delegace v ČSSR«, Archív bezpečnostních složek (ABS), f. I. S – SNB, 06.12.1960, 10014/11.
8
»Zpráva o pobytu viceprezidenta Brazílie J. B. M. Goularta v ČSSR ve dnech 2.5.12.1960 – program pobytu – setkání se Z. Fierlingerem, V. Širokým, F. Zupkou, Krajčírem, A. Novotným«, NAČR/KSČ-ÚV, f. 1261/044/II, n. 100, cover 18, 1960.
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1961-1964: U NABHÄNGIGE A USSENPOLITIK – ENGE P ARTNERSCHAFTEN ? Die so genannte ›Unabhängige Außenpolitik‹ Brasiliens (Política Externa Independente) brachte eine radikale Änderung mit sich, die Einfluss auf die Beziehungen zu allen sozialistischen Ländern hatte. Neben einigen ideologischen Begründungen gab es auch pragmatische Motive wie den Wunsch Brasiliens, neue Märkte zu erschließen (Garcia 2008: 501). Die brasilianische Regierung verkündete hierbei, dass sie 40% des gesamten brasilianischen Außenhandels mit dem Ostblock abfertigen wolle. Der neue Präsident Jânio Quadros nahm Beziehungen zu Ungarn, Rumänien, Bulgarien und China auf, erneuerte im November 1961 die diplomatischen Beziehungen zur Sowjetunion, unterstützte Kuba und organisierte die so genannte ›Dantas-Mission‹ nach Osteuropa (benannt nach dem Sondergesandten von Präsident Quadros, Botschafter João Dantas). Wenn wir auf die bilateralen Beziehungen zwischen der Tschechoslowakei und Brasilien in dieser Zeit blicken, so waren diese sehr intensiv. Im Februar 1961 besuchte eine von Vize-Außenminister Jiří Hájek angeführte Delegation Brasilien, was seine bis dahin dritte Reise in jenes Land in der Zeit von 1959 bis 1961 darstellte. Im Mai 1961 besuchte die Dantas-Mission Prag und unterzeichnete Verträge zur wirtschaftlichen, wissenschaftlichen und technologischen Zusammenarbeit. Im März 1962 besuchte Bildungsminister František Kahuda Brasilien und unterzeichnete ein Abkommen über die kulturelle Zusammenarbeit (welches aufgrund des Staatsstreichs von 1964 jedoch nie in Kraft trat) und im August 1963 wurde das tschechoslowakische Konsulat in Recife eröffnet. Schließlich wurde im Januar 1964 ein Abkommen über wissenschaftliche Zusammenarbeit unterzeichnet, das aus den gleichen Gründen wie das Kulturabkommen ebenfalls nie in Kraft trat. Am 14. März 1961 João Dantas den tschechoslowakischen Botschafter Jaroslav Kuchválek und gab diesem offiziell bekannt, dass Brasilien von der Tschechoslowakei Industrieanlagen in Höhe von 100 Millionen US-Dollar benötigte (im Rahmen eines Zwölfjahreskredits), was die gültigen Handelsabkommen überstieg. Dantas’ Osteuropa-Mission führte ihn darüber hinaus nach Bulgarien, Jugoslawien, Rumänien, Ungarn, Polen und Albanien. Anfang Juni 1961 kehrte er nach Brasilien zurück. Der tschechoslowakische Außenminister Václav David und der Minister für Außenhandel František Krajčír informierten am 27. April 1961 das Präsidium der KPČ über die Initiative Dantas’ und nahmen eine eher vorsichtige Haltung ein. Es gab Spekulationen, dass dies ein Manöver sein könnte, um die »USA zu
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erschrecken und sie davon überzeugen, Brasilien ein Darlehen zu gewähren.«9 Es bestand auch die Gefahr, dass die hohen Kreditforderungen Brasiliens und die damit verbundene Verschuldung der sozialistischen Länder als Beweis dafür gelten würden, dass diese Länder nicht in der Lage seien, ihren Verpflichtungen nachzukommen (ebd.). Zwischen dem 15. und dem 19. Mai 1961 besuchte die Dantas-Mission Prag und es wurden zwei Verträge unterzeichnet; einer über technologische und wissenschaftliche Zusammenarbeit (Finanzierung von gemeinsamen Forschungen, Kreditvergabe für technologische Kooperationen) und ein weiterer zur wirtschaftlichen Zusammenarbeit. In letzterem verpflichteten sich beide Seiten, dass das Gesamthandelsvolumen in den Jahren 1961 bis 1965 500 Mio. US-Dollar erreichen sollte. Tatsächlich erreichte es 144 Mio. US-Dollar. Besonderes Augenmerk wurde auch hier auf tschechoslowakische Exporte von Industriegütern gelegt. Zu diesem Zweck sollte regelmäßig ein gemeinsamer Ausschuss der beiden Regierungen tagen, wobei jedoch bis Februar 1964 kein gemeinsames Treffen stattfand. Der Plan legte außerdem fest, dass die Tschechoslowakei Brasilien bis Ende 1966 mit Industriegütern in Höhe von 60 Mio. US-Dollar versorgen sollte. Letztendlich waren es etwa 25 bis 30 Mio. US-Dollar, wenn wir die Tatsache beachten, dass diese Waren etwa 40% des Gesamtvolumens der tschechoslowakischen Exporte nach Brasilien ausmachten. Zusätzlich kamen noch Ausrüstungsteile für Dampf- und Wasserkraftwerke, Maschinen für die Textil-, Schuhund Lederindustrie und Getreidemühlen hinzu. Laut eines offiziellen Dokuments des Itamaraty, welches nach der Mission erstellt wurde, belief sich der Gesamtbetrag der Aufträge auf 5 Mrd. US-Dollar. Das Dokument betont, dass dies der Weg sei, um Brasilien den Absatz ›traditioneller‹ Rohstoffe wie Kaffee, Baumwolle und Kakao zu garantieren, im Austausch gegen Kohle, Treibstoffe, Chemikalien, landwirtschaftliche Maschinen, Zink und Blei.10 Trotz all dieser Bemühungen schrumpfte das Handelsvolumen zwischen der Tschechoslowakei und Brasilien. Auf der einen Seite gab es einen Konflikt zwischen dem außenpolitischen Diskurs, der von den Präsidenten Quadros und Goulart geführt wurde, andererseits eine Zurückhaltung eines Teils der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Itamaraty und der Sicherheitskräfte wegen der Nähe zu den sozialistischen Ländern. Anhand der Akten des tschechoslowakischen Geheimdienstes können wir erkennen, dass die antikommunistische Stimmung in
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»Příprava a výsledky návštěvy brazilské hospodářské delegace (rozšíření výměny zboží, čs. investiční úvěry, vědecko-technická spolupráce)«, NAČR/KSČ-ÚV f. 1261/0/11 KSČ-ÚV-AN II, ka 74, i. č. 98, ob. 33, 27.4.1961.
10 Ohne Autorin/Autor (1961), S. 115-116.
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den militärischen Kreisen stieg. Im Kontext der Política Externa Independente erscheint es interessant, dass das Itamaraty auch nicht bereit war, so genannte »progressive Kader«11 einzustellen. In der ersten Beurteilung der Dantas-Mission machte die tschechoslowakische Botschaft darauf aufmerksam, dass Präsident Quadros in der Umsetzung der Ergebnisse der Mission sehr passiv agierte. Die tschechoslowakischen Diplomatinnen und Diplomaten berichteten außerdem, dass einflussreiche Personen der Wirtschaft in São Paulo der Regierung gegenüber skeptisch seien. Dantas selbst »glaubte jedoch an seine Verträge«12 und bemühte sich, diese umzusetzen. Es scheint so, dass ein Teil der Verwaltung zu naiv gewesen war, da angenommen wurde, dass Handelsbeziehungen einfach durch die Unterzeichnung von nicht-bindenden Vereinbarungen geändert werden könnten, aber es gab eine starke Abneigung der anderen Seite, die Ergebnisse der Dantas-Mission zu erfüllen. Im Jahr 1963 beschuldigte Dantas bestimmte Kreise des Militärs des Boykotts (ebd.). Gegen Ende jener Ära der neuen brasilianischen Außenpolitik, als Luís Carlos Prestes den tschechoslowakischen Präsidenten Antonín Novotný traf, beklagte sich dieser, dass die Dantas-Mission buchstäblich nichts gebracht habe. Laut Prestes hatte die Mission einen demagogischen Charakter und die Ministerien sabotierten Goularts Anweisungen.13 Im Jahr 1962 wurde durch das Dekret Nr. 1880 die permanente interministerielle Gruppe für die Koordination des Handels mit den sozialistischen Ländern Osteuropas (Grupo de Coordenação de Comércio com os Países Socialistas da Europa Oriental, COLESTE) gegründet. Diese Behörde gewann später zur Bewahrung des Erbes der Política Externa Independente an Bedeutung und spielte eine zentrale Rolle in den Beziehungen zwischen Brasilien und den sozialistischen Ländern Ende der 1960er und Anfang der 1970er Jahre (Cevo/Clodoaldo 2008: 414). Die neue Strategie der tschechoslowakischen Diplomatie gegenüber Lateinamerika konzentrierte sich nun auf die ideologische Arbeit. Die Erneuerung der Beziehungen zwischen Brasilien und der UdSSR wurde als Sieg zwischen der »brasilianischen antinationalen Bourgeoisie, die den Großgrundbesitzern nahe
11 »Policie a zpravodajská služba Brazílie«, ABS (1961-1966), f. I. S – SNB, 1016/11, 11.4.1961. »Nový velitel vojenské tajné služby«, ABS (1961-1966), f. I. S – SNB, 1016/11, 11.4.1961. 12 »Telegramy, šifry, depeše ZÚ, Obchodní dohody Brazílie se socialistickými zeměmi KSČ-ÚV-AN II«, NAČR/KSČ-ÚV, f. 1261/0/11, , ka. 74, i. č. 97, ob. 43, 3.6.1963. 13 »Depeše a šifry, ZÚ«, KSČ-ÚV-AN II, f. 1261/0/11, ka. 74, inv. č. 99, 23.1.1962.
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stand, und starken Gruppen der nationalen Bourgeoisie« interpretiert.14 Aber die Befürchtungen, dass dieser Sieg nicht von langer Dauer sein würde, nahmen zu. Im Oktober 1963 trafen sich tschechoslowakische und sowjetische Diplomatinnen und Diplomaten in Moskau, um über Lateinamerika zu sprechen. Die UdSSR setzte große Hoffnungen in das Potenzial Brasiliens, da der sowjetische Einfluss in der Region wachsen sollte. Allerdings war Moskau über die Situation in Brasilien, wo es zu einem möglichen »Sieg der reaktionären Kräfte«15 kommen könnte, gewarnt worden. Laut der sowjetischen Diplomatinnen und Diplomaten nahm die Tschechoslowakei hierbei eine entscheidende Rolle ein, da man in Prag weit mehr Erfahrung hinsichtlich Brasiliens aufweisen konnte als in Moskau. Die Doktrin der Política Externa Independente hatte jedoch ihre politischen und institutionellen Grenzen und durch den Regimewechsels in Brasilien war es mehr eine Episode, die keine großen Auswirkungen auf die Beziehungen zwischen Prag und Brasília hatte.
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UNSICHERE
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Der Regimewechsel in Brasilien verlief äußerst schnell und der Putsch am 31. März 1964 hatte auch unmittelbare Folgen für die Tschechoslowakei. Der Korrespondent der tschechoslowakischen Presseagentur und tschechoslowakische Diplomat Kvita (Deckname: Peterka), zugleich ein Geheimdienstoffizier, wurden des Landes verwiesen. Außerdem kam es zu Schüssen auf das tschechoslowakische Konsulat in São Paulo. Auch das Itamaraty war der Tschechoslowakei gegenüber zusehends misstrauischer und so wurden alle kulturellen und wissenschaftlichen Kooperationen bis in die Mitte der 1980er Jahre auf Eis gelegt. Das außenpolitische Konzept der neuen Regierung wurde »Kurskorrektur« (correção dos rumos) genannt (Servo/Bueno 2008: 368-369). Die ehemals ›neutrale Tendenz‹ im Kalten Krieg wurde aufgegeben, die Wirtschaft öffnete sich stärker dem ausländischem Kapital des Westens und folgte eindeutig der Linie der US-amerikanischen Außenpolitik. Am 13. Mai 1964 stellte Brasilien die diplomatischen Beziehungen zu Kuba ein, dessen Interessen in Brasilien bis 1986
14 »Koncepce čs. zahraniční politiky vůči zemím Latinské Ameriky (kromě Kuby)«, AMZV (1953-1989), f. Porady kolegia, kniha č. 366, 17.9.1962. 15 »Zpráva o průběhu a výsledcích konzultací o koncepci československé zahraniční politiky vůči zemím Latinské Ameriky mezi delegacemi ČSSR a SSSR konaných ve dnech 4.-6. října na ministerstvu zahraničních věcí SSSR v Moskvě«, AMZV (19531989), f. Porady kolegia, kniha č. 415, 31.10.1963, S. 17.
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von der tschechoslowakischen Botschaft vertreten wurden. Die tschechoslowakische Regierung zögerte jedoch nicht, die neue brasilianische Regierung anzuerkennen. Die Botschaft in Rio de Janeiro erhielt die Anweisung, den neuen Präsidenten anzuerkennen und die Verbalnote des Itamaraty zu bestätigen, die über die Veränderung informierte. Demnach galt es, »angesichts der Verfassungsmäßigkeit des Regimewechsels keine Proteste bei internationalen oder nichtstaatlichen Organisationen zu unternehmen.«16 Im Mai 1964 kam es zu Unterredungen zwischen dem Leiter der lateinamerikanischen Abteilung im tschechoslowakischen Außenministerium und dem Itamaraty, die zufriedenstellend verliefen. Laut Ježek schätzte das Itamaraty die Geduld der Tschechoslowakei hinsichtlich der Provokationen der Sicherheitskräfte und der Kampagnen der Medien. Minister Leitão da Cunha unterstützte die Ergebnisse des gemeinsamen Ausschusses vom Januar 1964 und versprach, dass es keine Hindernisse von brasilianischer Seite geben werde. Auch hier war der pragmatische Ansatz essentiell, da er von den beiderseitigen wirtschaftlichen Interessen angetrieben wurde.17 Das Gespräch des tschechoslowakischen Konsuls Hádek mit General Aurélio de Lira Tavares, dem Kommandeur der 4. Armee in Recife, veranschaulicht die pragmatische Haltung eines Teils der brasilianischen Armee und der politischen Elite der Tschechoslowakei. Der General zeigte dem Konsul sein Zigarettenetui, das ein Bild von der Prager Burg enthielt. Auf Hádeks Frage, ob er keine Angst habe, »ein Objekt mit einem Bild der Amtssitzes des Präsidenten einer roten Regierung in der Tasche zu haben«18, antwortete Tavares: »Wir haben nichts gegen die Tschechoslowakei, importieren sie nur nicht ihre Ideologie« (ebd.). Die brasilianisch-tschechoslowakischen Beziehungen fokussierten sich demzufolge mehr auf Handelsangelegenheiten und weniger auf ideologische Fragen. Dies wurde sozusagen die ›goldene Regel‹ für die gegenseitigen Beziehungen, aber wie sich später zeigen sollte, konnte die Tschechoslowakei ihren internationalen Verpflichtungen im Rahmen des Kalten Krieges nicht vollständig entkommen. Im Jahr 1965 kam es zur zweiten Sitzung des gemeinsamen Ausschusses über Handelskooperationen und die brasilianische Regierung bestätigte aus-
16 »Běžná politická korespondence«, AMZV (1960-1964), f. TO-T Brazílie, kr. 1, 343/111, 1964, S. 6. 17 »Zpráva o cestě vedoucího 6. t.o. s. Ježka do zemí Latinské Ameriky«, AMZV (19531989), f. Porady kolegia, kniha č. 439, 16.7.1964, 18 »Bezpečnost ZÚ v Rio de Janeiro, podsvazek Ferdinand Hádek, Ferdinand Hádek, bývalý konzul v Recife, záznam z vytěžení«, ABS, f. I. S – SNB, 10784/19, 17.2.1966.
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drücklich ihr Interesse an gegenseitigen Handelsbeziehungen. Die Tschechoslowakei lieferte im darauffolgenden Jahr Industriegüter, beispielsweise jeweils drei Turbinen (48,7 bzw. 45 Megawatt Leistung) für die Wasserkraftwerke Bariri und Ibitinga (beide im Bundesstaat São Paulo) sowie zwei (55 Megawatt Leistung) für Cachoeira Dourada (Bundesstaat Goiás) und schließlich drei (8 Megawatt Leistung) für das geothermische Kraftwerk in Porto Alegre, welches sich noch in der Konstruktionsphase befand. Es wurde ferner mit tschechoslowakischer Hilfe ein Zementwerk in Pará errichtet, das eine Kapazität von 500 Tonnen pro Tag erreichte, wobei der Vertrag eine Verdoppelung dieser Kapazität vorsah. Auch wurden einige Industriefertigwaren für die Holzindustrie in die AmazonasStaaten geschickt sowie an Schuhfabriken im Bundesstaat Bahía. Die Situation war für die tschechoslowakische Regierung jedoch ambivalent. Auf der einen Seite gab es ein großes Interesse am Verkauf tschechoslowakischer Industriegüter nach Brasilien, was eine gewisse Zusammenarbeit mit dem brasilianischen Staat erforderlich machte. Brasilien war ein wichtiger Eisenerzlieferant für die tschechoslowakische Industrie und somit mussten die diplomatischen Beziehungen in gewisser Weise aufrechterhalten bleiben. Auf der anderen Seite war die Militärregierung ein klarer Feind des kommunistischen Regimes in Prag. Dies zeigt sich besonders anhand der Hauptaufgaben des tschechoslowakischen Geheimdiensts in Brasilien (Stand im Mai 1966). Der Geheimdienst verfolgte demnach folgende Ziele in Brasilien: •
• •
Die Aktivitäten der Opposition überwachen und aktiv »progressive Gruppen« unterstützen, um letztlich die Regierung zu stürzen und einen Sieg der »UltraReaktion« zu vermeiden. Die Wahrscheinlichkeit weiterer »rechter Umstürze« einzuschätzen und daraus folgende Entwicklungen zu überwachen. Eine anti-amerikanische Stimmung innerhalb Brasiliens zu provozieren und »neutrale Tendenzen« in der »nationalen Bourgeoisie« zu unterstützen.19
Der Geheimdienst wollte vor allem Kontakt zu den Oppositionsgruppen herstellen, die sich um den früheren Präsidenten Goulart gebildet hatten und nach Uruguay geflohen waren.20 Man ging nicht davon aus, dass sich unter den gegebenen Umständen die bilateralen Beziehungen zwischen der Tschechoslowakei und Brasilien verbessern könnten; es wurde jedoch angenommen, dass sich das Han-
19 Alle Zitate aus »Latinská Amerika, Koncepce práce čs. rozvědky v Latinské Americe, květen 1966, Brazílie«, ABS (1966), f. I. S – SNB, 12387/000. 20 Ebd., Uruguai, S. 31.
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delsvolumen vergrößern könnte. Der Geheimdienst versuchte, seine Aktivitäten möglichst unauffällig zu gestalten, um den gegenseitigen Beziehungen nicht zu schaden oder gar einen Bruch herbeizuführen.21 Die brasilianische Spionageabwehr (Secretariado-Geral do Conselho de Segurança Nacional, SG/CSN) betrachtete den tschechoslowakischen Geheimdienst als den zweitwichtigsten in Brasilien nach dem sowjetischen. Laut der SG/CSN konnte der tschechoslowakische Geheimdienst dort tätig werden, wo es den Sowjets nicht möglich war und diese erhielten von ihren tschechoslowakischen Kolleginnen und Kollegen die erforderlichen Informationen. Die tschechoslowakische Botschaft wurde von den brasilianischen Sicherheitskräften als sehr gut organisiertes Spionagezentrum betrachtet, das die kommunistische Subversion unterstützte und zuverlässige Kollaborateurinnen und Kollaborateure unter Journalistinnen und Journalisten, Studierenden, im brasilianischen Kongress oder in den Gewerkschaften besaß.22 Als die brasilianischen Behörden die Aktionen einer der ersten Guerillas untersuchten, die 1967 gegen die Regierung in Caparaó kämpfte, entdeckten sie, dass die tschechoslowakische Regierung an diesen Aktivitäten beteiligt war. Die Tschechoslowakei nahm brasilianische Emigrantinnen und Emigranten auf, die in Kuba ausgebildet worden waren und nach Prag gelangten, wo sie mit falschen Dokumenten und finanzieller Unterstützung versorgt wurden, um schließlich wieder nach Brasilien zurückzukehren. Diese Aktivitäten waren Teil einer gemeinsamen Operation der tschechoslowakischen und der kubanischen Regierung, die unter dem Decknamen ›Operation MANUEL‹ ablief (Tomek 2002: 329-336). Am 27. September 1967 berief das Itamaraty den tschechoslowakischen Botschafter ein, übermittelte ihm eine geheime mündliche Note, die diese Aktivitäten zur Sprache brachte und betonte: »Sie können all dies leugnen, aber wir haben die Beweise.«23 Die tschechoslowakische Regierung wies Botschafter Kocman an, nicht auf die von der brasilianischen Seite geforderte Antwort einzugehen, sie aber mündlich darüber zu informieren, dass die tschechoslowakische Regierung weder jede Person, die in die Tschechoslowakei ein- und wieder ausreiste, noch deren Absichten überprüfen könne. Der tschechoslowakische Botschafter betonte beim Itamaraty, dass es im Interesse seines Landes liege, die guten Beziehungen fortzusetzen (ebd.).
21 Ebd., Brazílie, S. 18-22. 22 »Všeobecné poznatky k brazilským speciálním službám, Poznatky o čs. špionážní službě, které má k dispozici CSN«, ABS, f. I. S – SNB, 12395/000, 4.1.1966. 23 »Vztah brazilských politických kruhů k vývoji v ČSSR«, AMZV (1945-1971), f. Zprávy ZÚ, Rio de Janeiro, 343/118, 089/68/Koc, 31.5.1968.
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Die Bestände des tschechoslowakischen Staatssicherheitsarchivs ABS bestätigen, dass die Unterstützung der Guerilla in Caparaó ein Teil der Operation MANUEL war. Der tschechoslowakische Geheimdienstoffizier Svatoň meinte, dass er persönlich keine Zweifel daran hege, dass die brasilianische Seite absolut überzeugende Beweise in den Händen hielt (Tomek 2002). Die PCB warnte die Botschaft, dass einige Angehörige des tschechoslowakischen Diplomatenkorps ausgeliefert werden könnten, was aber letztlich nicht der Fall war. Prag verordnete seinen Diplomatinnen und Diplomaten, die Reisen in das Innere Brasiliens für einige Zeit einzuschränken. Einige detaillierte Informationen über die Aktivitäten der Operation MANUEL gelangten sehr wahrscheinlich durch den brasilianischen Agenten in Prag, Mauro Santanaya, nach Brasilien, der in der portugiesischen Sprachabteilung von Radio Prag tätig war.24 Ohne Zweifel wurde die Position der Tschechoslowakei in Brasilien durch diese Verstrickungen komplizierter und brachte die gegenseitigen Beziehungen in Gefahr. Offensichtlich gab es keine Möglichkeit, die Teilnahme an der Unterstützung des nationalen Befreiungskampfes zu vermeiden. Tomek zitiert einen Bericht des Leiters des Abteilung I, Oberst Josef Houska, vom 17. September 1967: »Unsere Beteiligung an der Operation MANUEL ist Teil der Unterstützung der nationalen Befreiungsbewegung und sie wird nach den Beschlüssen des 13. Parteitags der tschechoslowakischen kommunistischen Partei ausgeführt. Wir müssen außerdem berücksichtigen, dass unsere eventuelle Weigerung, unseren kubanischen Freunden zu helfen, eine negative Auswirkung auf sie haben und das Problem nicht lösen würde. Unsere relativ qualifizierte Hilfe würde von unseren weniger qualifizierten kubanischen Freunden durchgeführt werden und außerdem würden wir die Kontrolle über die Operation verlieren.« (Zit. aus Tomek 2002: 334)
Der Prager Frühling brachte etwas Entspannung in die tschechoslowakischbrasilianischen Beziehungen mit sich. Trotz des Verbots aus Prag organisierte der tschechoslowakische Botschafter Kocman eine Pressekonferenz in Brasilien, in der er über die politische Entwicklung in der Tschechoslowakei informierte. Das Außenministerium in Prag gab dafür keine Zustimmung, denn »Veränderungen, die zur Demokratisierung in der Tschechoslowakei führen, würden keine Änderungen in der Außenpolitik mit sich bringen.«25
24 »Rozpracování typa ve spolupráci s čs. kontrarozvědkou (Mauro Santanaya), Sdělení Svatoně pro s. Horu«, ABS (1967), f. I. S – SNB, 11778/321. 25 »Vztah brazilských politických kruhů k vývoji v ČSSR«, AMZV (1945-1971), f. Zprávy ZÚ, Rio de Janeiro, 343/118, 089/68/Koc, 31.5.1968,
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Kocman informierte Prag, dass Brasilien den Prager Frühling sehr genau beobachte, zum Beispiel hinsichtlich einer möglichen Koexistenz von politischen und wirtschaftlichen Reformen in einem kommunistischen Regime. Neue Fragen tauchten auf, wie jene, ob ein Land im Ostblock unterschiedliche Auffassungen von Politik haben könne. Der Botschafter Kocman reagierte hierbei vollkommen im Geiste des Prager Frühlings: Die »Dynamiken der Innenpolitik verschaffen uns die große Möglichkeit, die tschechoslowakische Außenpolitik durchzuführen und die Autorität der Botschaft zu stärken« (ebd.). Kocman bat Prag, ihm Informationen betreffs der Reformen und Auszüge aus den Reden zu senden, um diese bei seinen brasilianischen Partnern verwenden zu können. Dazu kam es jedoch nicht: Der Einmarsch sowjetischer Truppen in der Tschechoslowakei im August 1968 wurde vom UN-Sicherheitsrat verurteilt, dem damals der brasilianische Diplomat João Augusto de Araújo Castro vorstand (Abreu/Lamarão 2007: 82). Die tschechoslowakische Botschaft in Brasilien berichtete nach Prag, dass die Angriffe gegen die Tschechoslowakei seit Ende Januar 1968 weniger geworden waren, was ein deutlicher Versuch war, die so genannte Demokratisierung zu unterstützen. Laut der Botschaft war es »nur eine falsche Interpretation der Absichten der tschechoslowakischen kommunistischen Partei.«26 Wenig überraschend war die Zurückhaltung Brasiliens gegenüber seinem mitteleuropäischen Partner nach August 1968; die brasilianischen Medien wiesen immer häufiger auf subversiven Aktivitäten der Tschechoslowakei gegen brasilianische Regierung hin sowie auf der Achse Prag-Havanna-Brasilien. Die Beziehungen gestalteten sich in der Folge komplexer und das Itamaraty versuchte, die tschechoslowakischen Aktivitäten in den Jahren 1969-1970 einzuschränken. So gab die brasilianische Regierung ihre Erlaubnis, die Geschäftsaktivitäten der Außenstelle der Tschechoslowakischen Handelsbank (Československá obchodní banka) in Rio de Janeiro einzusehen und der tschechoslowakischen Fluggesellschaft Československé aerolinie wurde die Erlaubnis entzogen, eine Vertretung in Sao Paulo zu eröffnen. Auch die Teilnahme an Handelsmessen und kulturellen Veranstaltungen wurde nicht mehr genehmigt und das brasilianische Außenministerium lehnte eine Teilnahme zur Feier des 50. Jahrestages der Eröffnung der diplomatischen Vertretungen ab. Die tschechoslowakische Position in Brasilien verbesserte sich auch nicht, als José Duarte, ein Mitglied der parlamentarischen Opposition, im August 1969 festgenommen wurde und gestand, dass er in Prag einen falschen brasilianischen
26 »Charakteristika zjevných prvků antikomunismu ve vnitřní a zahraniční politice, hlavní argumetny, jimiž je operováno proti ZST«, AMZV (1945-1971), f. Zprávy ZÚ, Rio de Janeiro, 21.1.1970.
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Pass durch kubanische Diplomatinnen bzw. Diplomaten und tschechoslowakische Vermittlerinnen bzw. Vermittler erhalten hatte. Ende Oktober 1969 berichtete die tschechoslowakische Spionageabwehr über ein Gespräch mit Mauro Santanaya, der behauptete, Brasilien sei darüber im Bilde, dass sich zu diesem Zeitpunkt etwa 20 Brasilianer in Prag aufhielten, die in Kuba ausgebildet worden waren und von Madrid aus nach Brasilien geschickt werden sollten. Santanaya fügte hinzu, dass er persönlich nicht gegen das war, was gerade passierte, aber er meinte, dass es auf eine klügere Weise getan werden sollte, so dass diese Abläufe nicht so leicht entdeckt werden könnten. Seiner Meinung nach sollte die tschechoslowakische Regierung berücksichtigen, dass es Gruppen in der brasilianischen Armee gab, die versuchten, die Demokratisierung voranzutreiben und dass die Aktivitäten von Terrorgruppen deren Bemühungen behindern könnten.27 Am 12. September 1970 um 21:35 Uhr explodierte eine Bombe neben dem Haupteingang der tschechoslowakischen Botschaft in Rio de Janeiro (bereits im Herbst 1969 war eine Bombe vor der tschechoslowakischen Botschaft gefunden worden) und rechtsradikale Bewegungen wurden verdächtig, den Angriff durchgeführt zu haben. Aber das Attentat stellte den letzten bedeutenden Vorfall dar, der die Beziehungen zwischen Brasilien und der Tschechoslowakei betraf. Im April 1971 zog die tschechoslowakische Botschaft nach Brasília um und im September 1971 wurde die tschechoslowakische Residentur geschlossen. In den Jahren 1972 und 1973 stand Brasilien dem sozialistischen Block nicht ablehnend gegenüber. Basierend auf den Besuchen des brasilianischen Energieministers Dias Leite und des Außenhandelsminister der Tschechoslowakei Barčák wurden Verhandlungen eingeleitet, bei denen es um den Handel mit brasilianischem Eisenerz zur Anfertigung tschechoslowakischer Ersatzteile für die Kraftwerke ging. Laut des tschechoslowakischen Botschafters in Brasilien wurde der Besuch von Dias Leite direkt durch den brasilianischen Präsidenten genehmigt und Brasilien hatte ein großes Interesse am Abschluss dieses Vertrags. Die Verhandlungen konzentrierten sich einerseits auf Geothermalkraftwerke und andererseits auf den Ankauf von Eisenerzen. Wichtige Partner Brasiliens in den sozialistischen Ländern waren die UdSSR und die Tschechoslowakei, welches das einzige Land im Ostblock war, das wesentlich zu einer raschen Entwicklung der brasilianischen Industrie beigetragen hat. Im Oktober 1973 traf sich nach sechs Jahren erneut der gemeinsame Ausschuss für Handelskooperation (COLESTE) und Mitte des Jahres 1973 wurde die Außenstelle Škoda do Brasil
27 »Rozpracování typa ve spolupráci s čs. kontrarozvědkou (Mauro Santanaya), Akce Lisabon – dožádání«, ABS, f. I. S – SNB, 11778/321, 30.10.1969.
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wiedereröffnet, die sich ausschließlich auf den Bau von Kraftwerken konzentrierte. Die Ernennung des prominenten brasilianischen Diplomaten José Sete Camara zum Botschafter in Prag im Oktober 1972 wurde auch als ein positives Zeichen gewertet. Sete Camara wurde als einer der fähigsten Repräsentanten des brasilianischen diplomatischen Korps angesehen. Er forderte eine engere wirtschaftliche Zusammenarbeit und versuchte jedweden politischen Meinungsaustausch zu vermeiden. Es heißt, er habe wesentlich zur Verbesserung der allgemeinen Einreisebestimmungen beider Länder beigetragen.
1974-1989: E INE Z EIT
OHNE I DEOLOGIE ?
Die Doktrin des ›verantwortlichen Pragmatismus‹ des brasilianischen Präsidenten Ernesto Geisel führte die langsame Öffnung des Außenhandels gegenüber dem Ostblock fort. Es kam jedoch zu einer radikalen Änderung der Einstellung des Itamaraty gegenüber den sozialistischen Ländern. Dies zeigte sich zum Beispiel an dessen Reaktion auf die antikommunistischen Aktivitäten von José Bonifácio, einem Mitglied der damaligen brasilianischen Regierung. Das Itamaraty kritisierte dessen Aktivitäten in einem Artikel der Tageszeitung Estado de São Paulo, demnach solche Angriffe sinnlos seien und den brasilianischen Kontakten im sozialistischen Block schadeten. Das Hauptargument war, dass Brasilien weder politische noch kulturelle Beziehungen mit dem Ostblock unterhielt, sondern lediglich Handelsbeziehungen pflegte. Der Artikel beschrieb des Weiteren, dass diese Märkte entscheidend für Brasilien waren und betonte, der Handel solle nicht der Ideologie untergeordnet werden. Solche gegen die sozialistischen Länder gerichteten Kampagnen würden der Diplomatie schaden und dazu dienen, nutzlos eine »Hexenjagd«28 zu betreiben. Zu dieser Zeit baute die Tschechoslowakei das dritte Wasserkraftwerk im Bundesstaat São Paulo (Promissão) und lieferte außerdem noch Webereien bis Pernambuco, Maschinen für die Holzindustrie in den Amazonas und dreißig Weizenmühlen nach Minas Gerais. Die brasilianischen Exporte in die Tschechoslowakei wuchsen sehr schnell an, vor allem dank des Verkaufs von Kaffee, Futter für Tiere und Eisenerz. Der tschechoslowakische Außenhandelsminister Barčák kommentierte die Situation wie folgt: »Dank der positiven und ruhigen Haltung der brasilianischen Behörden wurden die notwendigen Voraussetzungen für die Entwicklung der gegenseitigen Handelsbeziehungen
28 NAČR/FMZO, Brazílie, kar. 14, 14.1.1977.
270 | M ATYÁŠ P ELANT trotz einiger ideologischer und politischer Unterschiede erfüllt und die Diskriminierungstendenzen der Vergangenheit überwunden.«29
Diese Aussage kann auch anhand konkreter Zahlen veranschaulicht werden. Die folgenden Tabellen 1 und 2 zeigen uns den steilen Anstieg des gegenseitigen Handelsvolumens in den Jahren 1974 bis 1988: Tabelle 1: Tschechische Im- und Exporte (in Mio. US-Dollar) 1974-197930 1974
1975
1976
1977
1978
1979
Importe
31,3
46,6
29,7
69,2
42,4
21,7
Exporte
21,7
23,6
102,8
127
131,4
139,2
Tabelle 2: Tschechische Im- und Exporte (in Mio. US-Dollar), 1980-198831 1980
1981
1983
1984
1985
1986
1987
1988
Importe
26,5
33,3
16,5
12,6
33,2
45,1
25,7
28,9
Exporte
163,1
221
104,1
70
68,9
34,5
65,2
74,9
Der Lagebericht über die tschechoslowakischen Aktivitäten in Lateinamerika, der dem tschechoslowakischen Außenminister im September 1981 vorgelegt wurde, wies darauf hin, dass Brasilien nicht mehr als ein bloßer regionaler und zugleich globaler Akteur der US-Außenpolitik zu betrachten sei, sondern mit Abstand der wichtigste Handelspartner der Tschechoslowakei in der Region war.32 Sieht man sich jedoch die Prioritäten genauer an, so stand Brasilien zusammen mit Mexiko, Argentinien und Venezuela ›nur‹ an fünfter Stelle hinter den wichtigen Staaten Kuba, Nicaragua, Grenada und der allgemeinen Unter-
29 NAČR/FMZO, kar. 16, 1975. 30 NAČR/FMZO (NEZPRAC), Brazílie, kar. 8-17. 31 Ebd. Die Zahlen für das Jahr 1982 ließen sich nicht feststellen. 32 »Informace o významu Latinské Ameriky se zvláštním zřetelem na národněosvobozenecké hnutí ve Střední Americe a karibské oblasti, dopadu politiky USA vůči zemím LA po nástupu Reagana a zahraničně-politická aktivita ČSSR v Latinské Americe«, AMZV (1953-1989), f. Porady kolegia, kniha č. 801, 1.9.1981.
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stützung für die nationalen Befreiungsbewegungen und revolutionäre Gruppierungen (ebd.). Politisch schien sich das tschechoslowakische Außenministerium ein wenig zurückzuziehen, wenn es um den Aufbau der politischen Beziehungen zu Brasilien ging. Mehr Raum nahm nun das Ministerium für den Außenhandel ein. Dies kann dadurch veranschaulicht werden, dass von den 33 tschechoslowakischen Bürgerinnen und Bürgern, die im Jahr 1983 nach Brasilien geschickt wurden, sechs für das Außenministerium arbeiteten, während der Rest in Handelsbereichen tätig waren. Elf arbeiteten im Ministerium für Außenhandel, zehn in staatlichen Handelsunternehmen und sechs bei tschechoslowakischen Konzernen, die in Brasilien Niederlassungen unterhielten (zum Beispiel bei Omnipol Brasileira und Škoda Brasileira). Im Jahr 1983 schlug der tschechoslowakische Geheimdienst vor, den ›Standort‹ Brasilien erneut zu aktivieren.33 Der Ausgangspunkt war ein etwas anderer als in den Sechziger und Siebziger Jahren. Laut der Analyse des Geheimdienstes war Brasilien in erster Linie nicht als Feind zu betrachten, sondern sollte als eine Operationsbasis für den tschechoslowakischen Geheimdienst im Kampf gegen die USA dienen. Die Studie Brasilien als Operationsgebiet für den tschechoslowakischen Geheimdienst betonte, dass das Land an wirtschaftlicher, politischer und sicherheitspolitischer Bedeutung gewann, was Auswirkungen auf den strategischen Bereich des Südatlantiks hatte (ebd.: 21). Die Tschechoslowakei wollte von der Tatsache profitieren, dass die Position der USA in Brasilien schwächer wurde und Brasilien wollte nicht mehr als lokale Polizei der USA agieren, um damit nicht automatisch in Konflikt mit dem Ostblock zu geraten. Der Bericht fügte hinzu, dass Brasilien günstige Bedingungen für eine Erweiterung des tschechoslowakischen Einflusses bot: »Die Zeit, in der die großen multinationalen Unternehmen eine Vormachtstellung auf den südamerikanischen Märkten hatten, ist vorbei« (ebd.). Im Juni 1984 besuchte mit Bohuslav Chňoupek schließlich zum ersten Mal ein tschechoslowakischer Außenminister Brasilien. Mit dem Ende der Militärdiktatur in Brasilien im Jahr 1985 wurden die Beziehungen nochmals intensiviert, auch wenn diese immer noch weitgehend auf den Handel konzentriert blieben. In den Jahren 1985 und 1986 besuchten die tschechoslowakischen Minister für Außenhandel, Energie, Industrie und Finanzen Brasilien. Das Hauptziel war es, die gegenseitigen Handelsbeziehungen noch weiter auszubauen und man konzentrierte sich vor allem auf Projekte in der Metallverarbeitung. Im Juli 1985 wurde ein Abkommen zur wissenschaftlichen Zu-
33 »Brazílie jako operační prostor čs. rozvědky – studie«, ABS, f. I. S – SNB, 25.11.1983.
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sammenarbeit unterzeichnet und Verhandlungen über ein Kulturabkommen wurden aufgenommen. Im Mai 1987 besuchte Ministerpräsident Lubomír Strougal Brasilien, im Zuge dessen ein neuer Vertrag zur Wirtschaftskooperation unterzeichnet wurde, der bis zum Jahr 2000 die Hauptlinien der wirtschaftlichen Zusammenarbeit vorgab. Beide Seiten verpflichteten sich dazu, dass das Handelsvolumen bis zum Jahr 2000 eine Mrd. US-Dollar erreichen sollte. Nach den Ereignissen im Jahr 1985 war die PCB zwar immer noch nicht legalisiert worden; die kommunistischen Anführer (einschließlich Prestes) konnten aber aus dem Exil zurückkehren (eine Amnestie war bereits 1979 erlassen worden). Die KPČ brachte zum Ausdruck, dass die Spaltung der PCB und ihr schwacher Einfluss als ein »Mangel an Erfahrung und revolutionärem Mut«34 der neuen Führung unter Giocondo Dias zu deuten seien. Nur wenige Monate nach dem Besuch des brasilianischen Außenministers in Prag im April 1989, bei dem er Kulturabkommen unterzeichnete, begann auch die Demokratisierung des kommunistischen Regimes in der Tschechoslowakei und im Dezember 1989 musste der tschechoslowakische Botschafter in Brasília nach der richtigen Antwort auf die Frage suchen, wer nun Václav Havel sei.
Z USAMMENFASSUNG
UND
S CHLUSSFOLGERUNGEN
Die Beziehungen zwischen Brasilien und der Tschechoslowakei gestalteten sich nicht immer einfach, auch aufgrund der Tatsache, dass sie zwei unterschiedlichen Blöcken angehörten. Praktisch über den gesamten Zeitraum des Kalten Krieges hinweg nahm Brasilien eine Schlüsselposition in den tschechoslowakischen Strategien für Lateinamerika ein – sei es im Außenministerium, im Ministerium für Außenhandel, der KPČ selbst oder innerhalb des tschechoslowakischen Geheimdienstes. Wir können jedoch feststellen, dass jede dieser Institutionen unterschiedliche Ziele hatte und die Beziehungen von mehreren Schwerpunkten gekennzeichnet waren: Der Handel stand ohne jeden Zweifel im Zentrum der tschechoslowakisch-brasilianischen Beziehungen. Die Tschechoslowakei verkaufte ihre Industrieprodukte am brasilianischen Markt und Brasilien war ein wichtiger Rohstofflieferant, z.B. für Eisenerz, Kaffee und andere Agrarprodukte. Wir können auch eine gewisse Diskrepanz in der tschechoslowakischen Außenpolitik feststellen.
34 »Současná situace v Latinské Americe a v komunistickém a dělnickém hnutí v této oblasti«, NAČR, f. 1261/0/8, KSČ- ÚV- 02/1, 1981-1986, sv. P153/80.
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Auf der einen Seite wollte die Tschechoslowakei die starken bilateralen Beziehungen aufrechterhalten und versuchte, seine ihre Stellung in diesem größten lateinamerikanischen Land zu verstärken, was auch zu einem gewissen Grad durch die Eröffnung der Botschaft und der beiden Konsulate gelang. Die stabilen diplomatischen Beziehungen waren sozusagen die Conditio sine qua non für den Handelsaustausch. Auf der anderen Seite hatte die Tschechoslowakei Ziele der sowjetischen Außenpolitik in Brasilien zu erfüllen, welche teils komplexe Auswirkungen mit sich brachten. So teilte Brasilien nicht dieselben Interessen wie die Sowjetunion und nicht einmal zur Zeit der so genannten ›Unabhängigen Außenpolitik‹: In dieser Phase gestaltete sich der Diskurs gegenüber dem Ostblock offener, in Praxis wurde jedoch immer noch vorsichtig agiert. Die enge Beziehung der KPČ zu brasilianischen Kommunistinnen und Kommunisten und deren Aktivitäten (Geheimdienst, direkte Aktionen gegen die brasilianische Regierung, die Unterstützung der Opposition während der Militärdiktatur) sowie deren Rolle als ›Bindeglied‹ zu Moskau waren ein explosives Gemisch. Es überrascht, dass dies nicht zu größeren diplomatischen Auseinandersetzungen führte, wie etwa zur Ausweisung des diplomatischen Korps oder gar zur Aufkündigung der diplomatischen Beziehungen.35 Dies kann jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass die tschechoslowakische Diplomatie ihre Fähigkeiten unter Beweis stellen musste, wenn sie zwischen Handelskooperationen und der Unterstützung für Oppositionsgruppen einen Ausgleich zu finden suchte. Offensichtlich ist allerdings, dass der Ball auf der brasilianischen Seite des Feldes lag. Es erweckt den Anschein, dass die Beziehungen, die auf den vor dem Zweiten Weltkrieg geknüpften diplomatischen und ökonomischen Verbindungen basierten, vor dem Scheitern gerettet werden konnten – später offenbar durch die Tatsache, dass Brasilien von den Handelsbeziehungen mit der Tschechoslowakei profitierte. Für die brasilianische Seite repräsentierte die Tschechoslowakei einen alternativen Markt für ihre Exportgüter und ermöglichte den Zugang zu Technologien, die für die Entwicklung der brasilianischen Industrie benötigt wurden (Ausrüstungsteile für Textil-, Schuh- und Zementfabriken sowie für Stromkraftwerke). Angesichts der Tatsache, dass der bilaterale Spielraum für die wirtschaftliche Zusammenarbeit sich konstant veränderte, war es in anderen Bereichen zu sehr bescheidenen oder gar keinen Kooperationen gekommen. Natürlich sind hier die Grenzen dieser Studie zu erkennen. Daher gilt es, das große Feld kultureller und wissenschaftlicher Kontakte zu erforschen, die trotz ideologischer und politischer Hindernisse zustande kamen.
35 Wie dies nach 1973 in Chile der Fall war; s. den Beitrag von Zourek in diesem Band.
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A RCHIVQUELLEN ABS – Archív bezpečnostních složek (Staatssicherheitsarchiv), Prag I. S – SNB (Abteilung I) AMZV – Archiv Ministerstva zahraničních věcí České republiky (Archiv des Tschechischen Außenministeriums), Prag Porady kolegia TO-T Brazílie Zprávy ZÚ NAČR – Národní Archiv Česká Republika (Nationalarchiv der Tschechischen Republik), Prag KSČ-ÚV: Archiv Komunistická strana Československa – Ústřední výbor (Archiv des Zentralkomitees der KP der Tschechoslowakei) FMZO: Federálního ministerstva zahraničního obchodu (Archiv des Außenhandelsministeriums)
L ITERATUR Abreu, Alzira Alves De/Lamarão, Sérgio (Hg.) (2007): Personalidades da política externa brasileira, Brasília: FUNAG. D’Avila, Jerry (2010): Hotel trópico. Brazil and the challenge of African decolonization 1950-1980, Duke: Duke University Press. Cervo, Amado Luiz/Bueno, Clodoaldo (2008): História da política exterior do Brasil, Brasília: Editora UNB. Garcia, Eugênio Vargas (Hg.) (2008): Diplomacia brasileira e política externa. Documentos históricos (1493-2008), Rio de Janeiro: Contraponto. Gattai, Zélia (2011): Zimní zahrada, Praha: Jiří Hladký. Ohne Autorin/Autor (1961): »Missão especial ao leste europeu«, in: Revista Brasileira da Política internacional 4:15, S. 115-116. Pelant, Matyáš (2013): »Czechoslovakia and Brazil 1945-1989. Diplomats, businessmen, spies and guerrilheiros«, in: Central European Journal of International & Security Studies 7:3, S. 96-117. Tomek, Prokop (2002): »Akce Manuel«, in: Securitas Imperii 9. Sborník k problematice zahraničních vztahů čs. komunistického režimu, Praha: ÚDV, S. 329-336.
Von Ottakring nach Cuatro Esquinas Beziehungen und Kooperationen zwischen Nicaragua und Österreich von 1979 bis 1990 L AURIN B LECHA
Die nicaraguanische Revolution im Jahr 1979 beendete nicht nur die Diktatur der Somoza-Familie, die seit den späten 1930er Jahren das zentralamerikanische Land beherrschte. Der Befreiungskampf der nicaraguanischen Bevölkerung, der seinen symbolischen und erinnerungskulturellen Höhepunkt im Einzug der Sandinistischen Nationalen Befreiungsfront (Frente Sandinista de Liberación Nacional, FSLN) in die Hauptstadt Managua am 19. Juli 1979 fand, wurde zusätzlich als Wendepunkt für den gesamten lateinamerikanischen Raum empfunden. Wie Martina Kaller und David Mayer feststellen, bündelte die Revolution in Nicaragua »ähnlich wie die Kubanische Revolution und die Unidad-Popular-Regierung in Chile […] die Hoffnungen von Millionen von AktivistInnen. Regional fungierte sie sogar als Leitrevolution« (Kaller/Mayer 2012). Auch in Österreich wurden die Entwicklungen in Nicaragua seit dem Ende der 1970er Jahre verstärkt verfolgt und im Laufe der 1980er Jahre avancierte die zentralamerikanische Region und hier speziell Nicaragua schließlich zu einem der zentralen Aktionsfelder der österreichischen Außenpolitik, der staatlichen ›Entwicklungshilfe‹ sowie der ›Entwicklungszusammenarbeit‹ (EZA).1 Dahin-
1
Begriffe und Konzepte wie ›Entwicklungshilfe«, ›Entwicklungspolitik‹, ›Entwicklungszusammenarbeit‹ oder allgemein ›Entwicklung‹ werden in diesem Aufsatz aus ihrem historischen Kontext heraus verstanden, verwendet und zitiert, da sie zu jener Zeit gebräuchlich waren. In den Sozial- und Geisteswissenschaften herrscht heute (weitgehend) Einigkeit über die Problematik jener Begriffe und Konzepte, die sich der Autor bewusst ist. Für einen kurzen (rezenten) Überblick zur Geschichte der EZA siehe Eckert (2015). Zu den Beziehungen Österreichs mit den Regionen und Akteuren
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gehend stellt der österreichische Kultur- und Sozialanthropologe Georg Grünberg fest, dass »Zentralamerika, d.h. eigentlich nur die Länder Nikaragua, Guatemala und El Salvador, […] seit Beginn der 1980er Jahre die einzige Region Lateinamerikas [ist, L. B.], in der nennenswerte bilaterale Entwicklungszusammenarbeit durch Österreich geleistet wird« (Grünberg 2006: 271). Gleichzeitig zu den staatlichen Initiativen und Politiken mobilisierte sich eine entwicklungspolitisch interessierte Öffentlichkeit, die mit den Projekten und Zielen der FSLN sympathisierte und sich mit dem nicaraguanischen Volk solidarisierte. Die Solidaritätsbewegung mit der nicaraguanischen Bevölkerung, die sich auch in anderen Staaten formierte, manifestierte sich anhand der Gründung von Solidaritäts- und Aktionsgruppen, der Schaffung von Städtepartnerschaften, der Entsendung von drei Arbeitsbrigaden und auch in individueller Anteilnahme und Unterstützung.2 So spendete etwa ein pensioniertes Ehepaar aus dem 16. Wiener Gemeindebezirk Ottakring 50.000 Schilling (ca. 3600 Euro) für den Bau einer Schule in Cuatro Esquinas, ein Ort in der Región Autónoma del Atlántico Sur im Osten Nicaraguas.3 Der vorliegende Artikel verfolgt zweierlei Ziele: Erstens synthetisiert er das österreichische Engagement im revolutionären Nicaragua von 1979 bis 1990 anhand der österreichischen Außenpolitik, der staatlichen EZA, zivilgesellschaftlicher Initiativen sowie der Solidaritätsbewegung mit Nicaragua. Hier kann auf bereits erfolgte Forschungen zurückgegriffen werden, wenngleich die österreichische EZA und die Solidaritätsbewegung in den letzten Jahren vermehrt untersucht wurden.4 Allerdings ist jenen Studien gemein, dass sie sowohl die gesellschaftlichen Transformationsprozesse Österreichs, die sich seit den 1970er Jahren ereigneten, als auch die sich verändernden internationalen Rahmenbedingun-
des ›Globalen Südens‹ sowie der österreichischen EZA nach 1945 siehe Hödl (2004). Für eine, wie ich finde, immer noch oder besser gesagt wieder aktuelle Diskussion und Kritik zu Konzepten wie ›Entwicklung‹ oder ›Entwicklungshilfe‹, siehe Esteva/Brunner (1995). 2
Die Zeitschrift Naveg@mérica, die von der Spanischen Amerikanistenvereinigung (Asociación Española de Americanistas) in Kooperation mit der Universidad de Murcia herausgegeben wird, widmet sich in einer im Herbst 2016 erscheinenden Ausgabe der transnationalen Solidaritätsbewegungen mit den Staaten Zentralamerikas und deren unterschiedlichen Akteuren.
3
Vgl. Kirchhoff, Brigitte: »AZ-Leser gibt Erspartes für Österreichschule«, in: Arbeiter-
4
Siehe etwa Kanamüller (1992); Ostermann (2003); Franz (2006); Stoff (2007); Humer
Zeitung, 25.10.1979, S. 3. (2013); Rybak (2015).
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gen im globalen Kalten Krieg in den 1980er Jahren nur marginal in ihre Analyse miteinbeziehen. Die 1980er Jahre werden allgemein als letzte Hochphase des Kalten Krieges bezeichnet (Stöver 2011: 410-436) und nicht umsonst bezeichnet der US-amerikanische Historiker Hal Brands die Revolution in Nicaragua als »Ausgangspunkt für die intensivste Phase des Kalten Krieges in Lateinamerika« (Brands 2010: 188), womit sich eine globalhistorische Perspektive auf die Beziehungen und Kooperationen zwischen Nicaragua und Österreich anbietet. Der Artikel berücksichtig dementsprechend (zweitens), soweit dies in dem vorgegebenen Rahmen möglich ist, globale Prozesse und Ereignisse in die Betrachtungen miteinzubeziehen (vgl. Graf/Meisinger 2016) und vor allem Österreichs Stellung ›zwischen den Blöcken‹ (vgl. Rauchensteiner 2010).
A NFÄNGE DES ÖSTERREICHISCHEN E NGAGEMENTS IN N ICARAGUA (1978-1983) Zwischen Nicaragua und Österreich gab es bis zur Revolution kaum bilaterale Beziehungen. Erst ›Ereignisse‹ wie die Ermordung von Pedro Joaquín Chamorro, dem Herausgeber der einzig zugelassenen oppositionellen Zeitung La Prensa und Vorsitzender der liberal-konservativen Oppositionspartei Demokratische Befreiungsunion (Unión Democrática de Liberación, UDEL) oder die Besetzung des Nationalpalastes durch eine kleine Gruppe von FSLN-Kämpferinnen und -kämpfern im Jahr 1978 erregten die internationale Aufmerksamkeit und wurden auch in den österreichischen Printmedien wahrgenommen, wenngleich auch auf sehr unterschiedliche Weise.5 Da der Terror und die Repressionen des Somoza-Regimes gegen die nicaraguanische Bevölkerung im Laufe des Jahres 1978 immer mehr zunahmen, geriet
5
Zur Ermordung Chamorros siehe etwa »Nicaragua: Publizist erschossen«, in: Arbeiter-Zeitung, 12.01.1978, S. 4. Die FSLN wurde meist als ›linke‹ oder ›marxistische Terrorgruppe‹ und ihre Mitglieder kollektiv als ›Terroristen‹ bezeichnet. Siehe dazu etwa: »Parlament Nicaraguas in der Gewalt von Terroristen«, in: Die Presse, 23.08.1978, S. 1. »Großangelegter Coup linker Terroristen in Nikaragua. Nationalpalast gestürmt-Minister und Abgeordnete als Geiseln«, in: Wiener Zeitung, 24.08.1978, S. 1. »20 Männer halten Regierung als Geisel. Überfall auf Regierungssitz in Nicaragua«, in: Kurier, 24.08.1978, S. 1. »Die größte Terroraktion aller Zeiten«, in: Neue Kronen Zeitung, 24.08.1978, S. 3. Allemann, Fritz René: »Schlag der ›Sandinistas‹«, in: Salzburger Nachrichten, 24.08.1978, S. 2. AP-Laser: »Nicaragua: Mehr als 500 Geiseln bedroht«, in: Kleine Zeitung, 24.08.1978, S. 2.
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das Regime auch international zunehmend unter Druck, vor allem nachdem der damalige US-Präsident Jimmy Carter signalisiert hatte, das Regime nicht weiter zu unterstützen und von einer direkten militärischen Intervention in Nicaragua abgesehen wurde (Westad 2005: 341). Angesichts des Terrors durch das Regime und des Krieges flohen Tausende Nicaraguanerinnen und Nicaraguaner in die umliegenden Nachbarländer Costa Rica, Honduras und El Salvador. In diesem Kontext bat auch der damalige Vizepräsident Costa Ricas, Rodrigo Altmann Ortiz, den österreichischen Bundeskanzler Bruno Kreisky von der Sozialistischen Partei Österreichs (SPÖ)6 in einem Schreiben, die Formalitäten bei der Einreise für Nicaraguanerinnen und Nicaraguaner nach Österreich zu erleichtern, da Costa Rica dem enormen Flüchtlingsstrom nicht mehr gewachsen sei.7 Im Oktober 1978 schickte die österreichische Arbeitsgemeinschaft Kritische Medizin eine Gruppe von österreichischen Ärztinnen und Ärzten nach Costa Rica und Honduras, um Informationen über die Versorgung und Unterbringung der Flüchtlinge zu sammeln. Unterstützt wurde diese ›Fact-finding Mission‹ von Kreisky. Die Arbeitsgemeinschaft hatte sich im Rahmen einer verstärkten Diskussion über die Mitschuld österreichischer Ärztinnen und Ärzte sowie medizinischen Personals zur Zeit des Nationalsozialismus formiert und verfolgte gleichzeitig auch globale humanitäre Krisen mit erhöhter Aufmerksamkeit (Hubensdorf 2002: 239-240). Die österreichischen Ärztinnen und Ärzte baten Kreisky in ihrem Abschlussbericht Ende Oktober 1978, der über die katastrophalen Zustände in den Flüchtlingslagern informierte, »um Internationalisierung des Problems«8, da dies »von den Betroffenen selbst sowie von den intellektuellen Führern der Befreiungsbewegung« (ebd.), also der FSLN, erbeten werde. Auf der Grundlage des Berichts schrieb Kreisky noch im November 1978 an den damaligen Vizepräsidenten der USA, Walter Mondale. In diesem Brief äußerte sich Kreisky besorgt darüber,
6
Im Jahr 1991 wurde die SPÖ in Sozialdemokratische Partei Österreichs umbenannt.
7
Vgl. Schreiben vom Ersten Vizepräsidenten von Costa Rica, Dr. Rodrigo Altman Ortiz, an Kreisky (04.10.1978), Stiftung Bruno Kreisky Archiv (SBKA), Bruno Kreisky Archiv, Bestand VII.1. Außenpolitik, Länderboxen Nicaragua, Box 1. Ich möchte mich an dieser Stelle bei Maria Steiner vom Bruno Kreisky Archiv (Wien) für Ihre Hilfe bei der Recherche bedanken.
8
Bericht von Dr. Werner Vogt, Dr. Judith Blecha und Dr. Claudio Weber (Wien 31.10.1978), SBKA, Bruno Kreisky Archiv, Bestand VII.1. Außenpolitik, Länderboxen Nicaragua, Box 1.
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dass den nicaraguanischen Flüchtlingen nicht mehr als drei Monate Asyl in Honduras gewährt werde und bat Mondale, sich entweder bei der Regierung von Honduras für eine Verlängerung des Asylaufenthaltes einzusetzen oder andere lateinamerikanische Staaten zu finden, die die Flüchtlinge aufnehmen könnten.9 Im Zuge der sich verschlimmernden Lage der Zivilbevölkerung in Nicaragua und dem Bericht der Arbeitsgemeinschaft gründete sich am 20. November 1978 das Österreichische Solidaritätskomitee mit Nicaragua (ÖSKN). Dem Präsidium gehörten neben Kreisky zusätzlich Leopold Ungar von der Caritas Österreich und Alfred Stoer vom Österreichischen Gewerkschaftsbund an. In der ersten Sitzung gab Kreisky die konzeptionelle Linie für die Zusammenarbeit zwischen der österreichischen Bundesregierung und Nicaragua bekannt. Er wies darauf hin, dass »sich die Österreichische Bundesregierung nur an humanitären Aktionen beteiligen könne, nicht an politischen.«10 Kreiskys Vorsicht ist damit zu erklären, dass die Bundesregierung die Beziehungen zu den USA nicht gefährden wollten, also offensive politische Stellungnahmen eher vermieden wurden (Kanamüller 1992: 98). Diese pragmatische Haltung gegenüber den Ländern des ›Globalen Südens‹ stellt eine Konstante in der österreichischen Außenpolitik der Nachkriegszeit dar. Zwar wurde die im Staatsvertrag (Mai 1955) deklarierte immerwährende Neutralität Österreichs in der Praxis als ›aktive Neutralitätspolitik‹ umgesetzt, was bedeutete, dass einerseits durch die Arbeit in internationalen Organisationen die so genannten Entwicklungsländer in den Blick Österreichs kamen und sich damit für Österreich Gelegenheiten ergaben, »eigene Interessen im multilateralen Rahmen durchzusetzen sowie zugleich die eigene Position innerhalb des Staatensystems […] zu stärken und abzusichern« wie der österreichische Historiker Gerald Hödl feststellt (Hödl 2004: 69). Andererseits agierte Wien traditionell mit einer gewissen Westorientierung, einer generellen antikommunistischen Haltung und einer solidarischen Einstellung gegenüber anderen europäischen Staaten (Hödl 2004: 9). Dies zeigt sich z.B. anhand des Kolonialismus: Diesen lehnte man zwar grundsätzlich ab und unterstrich die nicht-koloniale Vergangenheit Österreichs,11 kon-
9
Vgl. Brief von Kreisky an Mondale (20.11.1978), SBKA, Bruno Kreisky Archiv, Bestand VII.1. Außenpolitik, Länderboxen Nicaragua, Box 1, S. 1-2.
10 Protokoll der konstituierenden Sitzung des ›Solidaritätskomitees für Nicaragua‹ am 20.11.1978, SBKA, Bruno Kreisky Archiv, Bestand VII.1. Außenpolitik, Länderboxen Nicaragua, Box 1. 11 Peter Jankowitsch, Vertreter Österreichs bei den Vereinten Nationen (1973-1978) und österreichischer Außenminister (1986-1987), meinte hinsichtlich der österreichischen Entwicklungspolitik, dass diese »unbelastet von einer eigenen kolonialen Vergangen-
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krete politische Stellungnahmen oder Handlungen gegen kolonialistische Politiken europäischer Staaten aber waren rar oder inexistent, wie im Falle des Algerienkrieges oder der Kolonialpolitik Portugals in Westafrika (Hödl 2004: 72-80). Die aktive Neutralitätspolitik beinhaltete hinsichtlich Nicaraguas etwa, dass bekannte Persönlichkeiten des zentralamerikanischen Landes Österreich besuchten, was vor allem im Kontext der internationalen Legitimierung der neuen Regierung in Managua stand.12 Als Beispiel können hier etwa die Besuche von Ernesto Cardenal genannt werden. Der bekannte Schriftsteller und Befreiungstheologe sowie von 1979 bis 1987 Kultusminister war mehrere Male in Österreich zu Gast, meist im Rahmen von Kulturveranstaltungen.13 Das Feld der Kulturpolitik erwies sich generell als eines der langlebigsten Aktionsfelder österreichischnicaraguanischer Zusammenarbeit. Dies zeigt sich etwa am Beispiel des Kulturzentrums Casa de los Tres Mundos (Haus der drei Welten) in Granada, welches von Cardenal und dem Schauspieler Dietmar Schönherr 1987 ins Leben gerufen wurde und bis heute in der interkulturellen Zusammenarbeit tätig ist. Auch die über ihre Landesgrenzen bekannte feministische Schriftstellerin Gioconda Belli besuchte Österreich mehrmals – zuletzt im März 2016 (Stand April 2016) – was für die Kontinuität in der (inter)kulturellen Zusammenarbeit der beiden Länder spricht.14 Nach dem Sieg über das Somoza-Regime konnte nun auch die Entwicklungshilfe Österreichs anlaufen. Im Mittelpunkt standen vor allem die finanzielle und materielle Unterstützung von Infrastrukturprojekten sowie der Aufbau eines Gesundheits- und Sozialwesens. Die Bundesregierung stellte dabei stets Finanzmit-
heit auf der Basis eigener Grundwerte und Prinzipien formuliert werden [konnte, L. B.], unter denen das Selbstbestimmungsrecht der Völker, aber auch die allgemeine Achtung von Menschenrechten und Grundfreiheiten einen dominierenden Platz einnahmen« (Jankowitsch 2002: 865). 12 Auch die Reise des österreichischen Außenministers Willibald Pahr nach Nicaragua im Jahr 1980 ist im Kontext der internationalen Legitimierung der neuen Regierung Nicaraguas zu betrachten. Dies war der erste Besuch eines Mitgliedes einer ›westlichen‹ Regierung im revolutionären Nicaragua (Hödl 2004: 110). 13 Siehe Kirchhoff, Brigitte: »Musik und Bücher als neue Waffen«, in: Arbeiter-Zeitung, 02.12.1979, S. 3. 14 Siehe das Blog von Gioconda Belli: http://www.giocondabelli.org/mi-gira-poralemania-y-austria/ (5.4.2016).
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tel für zivilgesellschaftliche Organisationen zur Verfügung.15 Ein Projekt bildete zum Beispiel das Spital La Esperanza (Die Hoffnung), in der bereits erwähnten Región Autónoma del Atlántico Sur. Für das Spital wurden jährlich Spendengelder gesammelt, die von der Bundesregierung bis zum Jahr 1982 in der so genannten ›Spendenverdoppelungsaktion‹ verdoppelt wurden. Weitere Projekte betrafen Materialbeschaffungen (teils durch Spenden der österreichischen Bevölkerung) für Schulen, Büchereien, für die Nationale Alphabetisierungskampagne (Cruzada Nacional de Alfabetización), die von April bis August 1980 als erstes Projekt der Revolution durchgeführt wurde sowie für die Unterstützung beim Aufbau der Wasser- und Stromversorgung. Diese Maßnahmen sind alle im Kontext des Wiederaufbaus Nicaraguas ab Juli 1979 zu sehen und waren sozusagen ›Sofortmaßnahmen‹, um die akute Not zu bekämpfen. In einigen der genannten Projekte blieb Österreich während der gesamten 1980er Jahre weiter involviert, wie etwa im Spital La Esperanza (Franz 2006: 244). Das ÖSKN war in die meisten dieser Projekte eingebunden und konzipierte auch eigene Projekte. Viele Akteurinnen und Akteure im Umfeld des ÖSKN hatten bereits entsprechende Erfahrungen gesammelt, etwa in der Chile-Solidarität, der Friedens-, Frauen-, Anti-Atomkraft- oder der mit neuen Impulsen erstarkenden Ökologiebewegung. Zudem waren viele von ihnen durch die Studentenproteste in den 1960er und 1970 sowie durch ›Schlüsselereignisse‹ wie das Jahr 1968 oder die Proteste gegen den Vietnamkrieg politisch sozialisiert worden (Molden 2016: 164). Besonders die Solidarität mit Chile ist als wichtige Vorstufe späterer Initiativen in Nicaragua zu betrachten. Der Putsch gegen Salvador Allende am 11. September 1973 löste große internationale Bestürzung aus, was in Österreich zur Gründung der Chile-Solidaritätsfront im Juli 1974 führte.16 Warum die Solidarität mit Nicaragua besonders am Anfang der Revolution so stark war, erklären Werner Balsen und Karl Rössel damit, dass das SomozaRegime durch den Terror gegen die Zivilbevölkerung jegliche Legitimation verloren hatte und sich somit vereinfacht gesprochen ›Gut‹ (FSLN) und ›Böse‹ (Somoza) gegenüberstanden. Anders als in Chile formierte sich in der Endphase der Revolution eine breite, über ideologische Grenzen hinausgehende Koalition, die Sympathien bei unterschiedlichen Menschen weckte (Balsen/Rössel 1986: 404). Obwohl Balsen und Rössel die Stimmung für Westdeutschland beschreiben, lässt sich dies auch in Österreich feststellen. Margit Franz charakterisierte
15 Darunter waren unter anderem das Wiener Institut für internationalen Dialog und Zusammenarbeit, der Österreichische Entwicklungsdienst und die Österreichische Volkshilfe. 16 Zur Solidarität mit Chile siehe Berger (2006) und Wurm (2008).
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die Solidaritätsbewegung mit Nicaragua in Österreich treffend als eine »breite soziale Bewegung, die von politisch, religiös oder humanitär motivierten Minderheiten bestimmt wurde« (Franz 2006: 253). Die Solidarität mit Chile hingegen zeigte sich als ideologisch weitaus zersplitterter, wie auch die Opposition in Chile selbst (Berger 2006: 228). Andererseits muss auch erwähnt werden, dass die Solidaritätsbewegung in Österreich nicht als gesamtgesellschaftliches Phänomen betrachtet werden kann. Zwar kann anhand der Medienberichterstattung, zahlreicher parlamentarischer Debatten im Nationalrat sowie der Spendenaktionen (vor allem Anfang der 1980er Jahre) davon ausgegangen werden, dass Nicaragua mehr als ein Tagesthema war. Die so genannte ›Dritte Welt‹ mit ihren komplexen Problematiken (europäischer Kolonialismus, Neo-Kolonialismus, Imperialismus) sowie der von Kreisky forcierte ›Nord-Süd-Dialog‹ war jedoch wenig bis gar nicht im Bewusstsein der österreichischen Bevölkerung vorhanden (Gehler 2005: 428-447). Wie der Historiker Oliver Rathkolb treffend formuliert, muss auch festgestellt werden, dass etwa die ›Spendenfreudigkeit‹ der Österreicherinnen und Österreicher »nicht wirklich mit einem echten Solidaritätsgefühl zusammen[hängt], sondern […] das Ergebnis traditioneller katholischer ›Armenfürsorge‹, perfekt angesprochen durch Organisationen wie Caritas, Rotes Kreuz« (Rathkolb 2005: 44), darstellt. In diese Richtung argumentiert auch der Historiker Berthold Molden: Er sieht keinen direkten Zusammenhang zwischen einem in Österreich etablierten Diskurs als ›Opfer‹ ausländischer Mächte, zuerst im Zuge des Ende des Ersten Weltkrieges und dem Schrumpfen Österreichs auf einen ›Rumpfstaat‹ sowie nach 1945 ›als erstes Opfer‹ Nazideutschlands (›Opferdoktrin‹), und einer daraus möglichen abgeleiteten Solidarität für die Länder und Menschen des ›Globalen Südens‹ (Molden 2015). Wie bereits erwähnt kam es nicht nur in Österreich zu einer NicaraguaSolidaritätsbewegung, sondern auch in anderen Staaten. Einen wichtigen Moment bildete hierbei ab 1981 konterrevolutionäre Truppenverbände, meist als ›Contras‹ bezeichnet, wenngleich es sich um keine homogene Gruppierung handelte, sondern vielmehr einer heterogenen Ansammlung von ehemaligen Mitgliedern der Nationalgarde Somozas, ausländischen Söldnern, Angehörigen unterschiedlicher indigener Bevölkerungsgruppen sowie auch von Persönlichkeiten, die von der FSLN und ihrer Politik enttäuscht waren. Was sie alle vereinte, war die Ablehnung der Politiken der FSLN. Die Solidaritätsbewegungen weltweit verfolgten mit großer Sorge das Erstarken der Contras, die von den USA und verschiedenen Organisationen finanziell und logistisch unterstützt wurden (Tijerino 2012: 321-330).
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Der US-amerikanische Historiker Roger Peace beschreibt in einer Studie über die Anti-Contra-Kampagne in den USA drei Phasen, die auch für eine transnationale Perspektive auf die Solidaritätsbewegungen nützlich erscheint: In einer ersten Phase, die bereits vor dem Sturz des Somoza-Regimes begann, nutzten international bekannte nicaraguanische Persönlichkeiten ihr bereits etabliertes Netz an Beziehungen, v.a. in den USA, Europa und Lateinamerika, und schufen somit eine Basis für zukünftige Kooperationen. Zu erwähnen ist auch hier die Tatsache, dass sie als eine Art ›Botschafterinnen und Botschafter‹ eines anderen Nicaragua auftraten und ›die Geschichte der Sandinistinnen und Sandinisten‹ bzw. eines ›anderen Nicaragua‹ im Ausland erzählten. Zahlreiche Publikationen in der Presse17 sowie in Monographien von Solidaritätsgruppen und -bewegungen sind Beispiele dafür, da sie oft Interviews von zentralen Persönlichkeiten der FSLN (z.B. von Ernesto Cardenal) sowie deren Geschichtsdarstellungen enthalten.18 Die zweite Phase war die postrevolutionäre Zeit, welche bis zur Hochphase des Contra-Krieges (ab ca. 1983) dauerte. In dieser Phase wurden die Beziehungen zu den internationalen Partner institutionalisiert, wobei dem nicaraguanischen Außenministerium unter Miguel d’Escoto Brockman und der Abteilung für internationale Beziehungen (Dirección de Relaciones Internacionales) der FSLN führende Rollen zukamen. In einer dritten Phase schließlich ging es laut Peace vor allem darum, die internationale Solidaritätsbewegung auch als eine Art ›Schutzschild‹ gegen die aggressive Außenpolitik Reagans und der Vermutung einer militärischen Invasion von US-Truppen in Nicaragua zu nutzen (Peace 2012: 153-158). Dies ist nicht als ›menschliches Schutzschild‹ zu verstehen, sondern vielmehr sollten internationale Beobachterinnen und Beobachter, wie z.B. Delegationen der Sozialistischen Internationalen (SI)19 oder auch die Auslandseinsätze von so genannten ›Entwicklungshelferinnen und Entwicklungshelfern‹, die Kampfhandlungen zumindest vermindern sowie international die Aufmerksamkeit auf Nicaragua lenken.
17 Siehe etwa die Reportage über Ernesto Cardenal in der Arbeiter-Zeitung anlässlich dessen Reise nach Madrid: AZ-Redaktion/Weißbier, Erich: »Der mahnende Ruf des Mystikers«, in: Arbeiter-Zeitung, 07.11.1978, S. 4. Siehe auch Edén Pastoras Europareise in Kirchhoff, Birgit: »Nicaraguas Kampf um Bildung«, in: Arbeiter-Zeitung, 16.11.1979, S. 5. 18 Siehe Informationsbüro Nicaragua (1979) oder Wallraff (1983). 19 Die SI erhielt besonders durch Willi Brandt international wieder mehr Aufmerksamkeit, der 1976 zu deren Präsidenten gewählt wurde.
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Eine wichtige Agenda der Solidaritätsbewegung mit Nicaragua in Österreich war schon sehr bald der Versuch einer alternativen Berichterstattung, abseits des Sensationsjournalismus und traditioneller Medien. Nach dem Sturz des SomozaRegimes und der Machübernahme der Regierungsjunta (Junta de Gobierno de Reconstrución Nacional) wird im Zeitungsspiegel deutlich, wie die österreichischen Medien symbolische Bilder wie die eines neuen Kuba oder Vietnam in Zentralamerika konstruierten20 und somit der politische Diskurs, je nach ideologischer Prägung des Printmediums, auf dem »Koordinatensystem Ost-West«21 verlief. Allgemein lässt sich feststellen, dass die Arbeiter-Zeitung (Zentralorgan der SPÖ) und die Wiener Zeitung (Eigentum der Republik Österreich) meistens positiv, wenn auch teilweise mit kritischen Anmerkungen von der Politik der FSLN berichteten. Die Volksstimme, das Zentralorgan der Kommunistischen Partei Österreichs (KPÖ), schrieb fast ausschließlich positiv über die Politiken der FSLN. Die Kleine Zeitung, Die Presse, die Neue Kronen Zeitung oder die Salzburger Nachrichten zeichneten generell ein negatives Bild von der Politik der FSLN (Franz 2006: 246-247). Die Konstruktion stereotyper Bilder über die so genannte ›Dritte Welt‹ (politische Instabilität, Chaos, Terror, marxistischeleninistische Staatsstreiche, etc.) war fast allen Zeitungen gemein. Des Weiteren waren fast alle österreichischen Printmedien von einigen wenigen globalen Nachrichtenagenturen abhängig, wie zum Beispiel von Agence France Press, Associated Press, der Deutschen Presse-Agentur, Reuters oder United Press International, wobei Falschmeldungen oftmals kopiert wurden und keine eigenständigen Recherchen erfolgten.22 Der Mangel an österreichischen Auslandskorrespondentinnen und -korrespondenten in Lateinamerika und anderen Regionen des ›Globalen Südens‹ spielt hier eine wesentliche Rolle (Luger 1998). Um diese und weiter Defizite zu beseitigen, wurden im Jahr 1979 die Zeitschrift Entwicklungspolitische Nachrichten gegründet, die sich als »Gegengewicht zur oberflächlichen und verzerrenden Medienberichterstattung« (Stoff 2007: 46) in Österreich gegenüber den Ländern des ›Globalen Südens‹ verstan-
20 Siehe etwa Albert, John: »Die USA bieten Nicaragua ihre Hilfe an«, in: Salzburger Nachrichten, 19.07.1979, S. 3; Wlczek, Hermann: »Vor dem Umsturz«, in: Wiener Zeitung, 15.07.1979, S. 3; Nenning, Günther: »Eins, zwei, viele Kubas«, in: Profil, 02.07.1979, S. 10-11. 21 Zur Medienlandschaft Österreichs in der Nachkriegszeit siehe Molden (2010). 22 So wurde Violeta Barrios de Chamorro von der Neuen Kronen Zeitung als »führendes Mitglied der linksgerichteten sandinistischen Befreiungsfront« bezeichnet, obwohl sie der konservativ-liberalen UDEL angehörte. Siehe »Frau stürzt Diktator«, in: Neue Kronen Zeitung, 20.09.1979, S. 1.
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den.23 Alexander Stoff kommt in seiner Diplomarbeit zu den Diskursen über Nicaragua in der entwicklungspolitischen Presse in Österreich jedoch auch zu dem Ergebnis, dass die Texte strukturell »häufig als Verteidigungsschriften für die sandinistische Revolution« (Stoff 2007: 100) zu betrachten sind: »Es werden Maßnahmen der FSLN in ihren politischen Zusammenhang gestellt und legitimiert. Das bedeutet, dass der Contra-Krieg und die US-Außenpolitik der ReaganAdministration den Rahmen für die Betrachtungen ergeben. Kritik an der FSLN wird ebenfalls in diesem Raster beleuchtet, d.h. die Kritik, die diese Zusammenhänge nicht miteinbezieht, wird hinterfragt.« (Ebd.)
Die angesprochene Amtsübernahme des Weißen Hauses durch den Republikaner Ronald Reagan im Januar 1981 bedeutete reale Verschärfungen der Dynamiken des Kalten Krieges und dies besonders für Zentralamerika. So meinte Reagan etwa: »Ich glaube wirklich, dass die Geschichte dieses Landes mich dazu zwingt, zu glauben, dass eine Untätigkeit in Zentralamerika bedeutet, der ersten kommunistischen Bastion auf dem nordamerikanischen Kontinent grünes Licht zu geben, um überall in dieser freien und zunehmend demokratischen Hemisphäre ihr Gift zu versprühen.« (Reagan 1985)
Das Hauptargument für ein militärisches Eingreifen der USA war, dass Nicaragua Guerilla-Gruppierungen in El Salvador, Honduras und Guatemala unterstützte und reaktionäre Kreise in Washington davon überzeugt waren, die FSLN wolle die Revolution ›exportieren‹, ähnlich wie Kuba dies in den 1960er Jahren versucht hatte, was aber stets von Managua abgelehnt wurde (Dietrich 1986: 242). Auch in Österreich kam es zu neuen Herausforderungen. So meint Oliver Rathkolb, dass »sich die Verschärfung des internationalen Klimas unter Reagan, […] in Europa unterstützt von Margaret Thatcher, direkt auf die Manövrierfähigkeit österreichischer Außen- und Neutralitätspolitik auswirkte« (Rathkolb 2006: 73-74). Im Kontext der im Herbst 1981 bevorstehenden Gipfelkonferenz in Cancún (Mexiko), für die nach langen bilateralen Verhandlungen Mexiko und Österreich als Organisatoren festlegt wurden (Jankowitsch 2002: 876), lud die nicaraguanische Regierung Kreisky zu einem Staatsbesuch ein. An beiden genannten Treffen konnte er krankheitsbedingt nicht teilnehmen, jedoch zeigen die
23 Die Zeitschrift erschien von 1979 bis 1990 und existiert in heutiger Form als Südwind-Magazin weiter.
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Aufzeichnungen, die für die Konferenz angefertigt wurden, wie sich die außenpolitischen Rahmenbedingungen und vor allem die Beziehungen zu den USA verändert hatten. Diese hatten bereits die Wirtschaftshilfe zu Nicaragua eingestellt und deren Wiederaufnahme wurde – wie die Aufzeichnungen preisgeben – »von der Einstellung der Unterstützung der Opposition [gemeint ist die Nationale Befreiungsfront Frente Farabundo Martí para la Liberación Nacional, L. B.] in El Salvador abhängig gemacht.«24 Im Hinblick auf einen Abbau der Spannungen, auch bezüglich Zentralamerikas, legte die österreichische Sozialdemokratie große Hoffnungen auf die Gipfelkonferenz. Dies sollte vor allem durch die Präsenz führender Staats- und Regierungschefs erreicht werden, um hier Räume für einen internationalen Dialog zu eröffnen. Auf der Liste der Staats- und Regierungschefs, die sich in Cancún versammelten, fehlten jedoch Leonid Breschnew und andere Regierungschefs des sozialistischen Blocks. Breschnew erklärte seine Abwesenheit damit, dass der Nord-Süd-Konflikt primär ein Problem des kapitalistischen Westens darstelle, da der Westen erst die Ungleichheiten in der Welt geschaffen habe. Schließlich brachte der Gipfel auch keine konkreten Ergebnisse, da man über Lippenbekenntnisse nicht hinauskam (Jankowitsch 2002: 876). In den Jahren 1980/81 kam es zwar zu einem gewissen Stillstand der Aktivitäten des ÖSKN, da die Konflikte in El Salvador die öffentliche Aufmerksamkeit auf sich zogen. Allerdings blieb die Solidaritätsbewegung für Nicaragua in den 1980er Jahren aufrecht und intensivierte sich sogar. Dies ist auch einer der wichtigsten Unterschiede im Gegensatz zur österreichischen Solidaritätsbewegung mit Chile (Franz 2006: 248-249).
S TAGNATION , N EUBEGINN UND N ICARAGUA ALS S CHWERPUNKTLAND DER ÖSTERREICHISCHEN EZA (1983-1990) Die Jahre 1982 und 1983 brachten sowohl für Nicaragua als auch für Österreich einige Umstellungen: In Nicaragua stabilisierte sich einerseits das politische System, andererseits formierten sich, wie schon erwähnt, Widerstand gegen die Politik der FSLN in Form der Contras.
24 »Punktationen für eine Tischrede des Herrn Bundeskanzlers«, SBKA, Bruno Kreisky Archiv, Bestand VII.1. Außenpolitik, Länderboxen Nicaragua, Box 2, Mappe »Offizieller Besuch des Herrn Bundeskanzlers in Nikaragua, Oktober 1981«.
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Auch hatten weitere Akteurinnen und Akteure den Konflikt um und in Nicaragua mit ihrer direkten Einflussnahme verschärft und internationalisiert. Abseits der großen Akteure wie den USA oder der Sowjetunion zeigt etwa das Engagement Argentiniens sehr gut die sich überlagernden Konflikte, auch zwischen den Ländern Lateinamerikas. Argentinien, das seit 1976 unter der Herrschaft einer Militärdiktatur stand, startete eine Counterinsurgency-Kampagne in Nicaragua und entsandte militärisches Personal, das bei der Organisation der Contras und beim Sturz der Regierung in Managua helfen sollte. Die Militärs in Buenos Aires betrachteten Zentralamerika als Zufluchtsort für die aus dem eigenen Land vertriebenen und ins Exil gezwungenen Guerillas, wie die Montoneros (Movimiento Peronista Montonero) oder die Revolutionsarmee des Volkes (Ejército Revolucionario del Pueblo). In der Argumentationsstrategie der Militärs musste der Kampf gegen so genannte ›Subversive‹, also vor allem linke Gruppierungen sowie generell gegen jene, die sich gegen die Militärdiktatur stellten, auf der internationalen Ebene weitergeführt werden. Ariel Armony sieht diese Kampagne als Teil eines »transnationalen ideologischen Netzwerks, das dazu dient, einen als vielfältig angesehenen internationalen Feind zu zerstören, der die westliche Gesellschaft bedrohte« (Armony 2008: 134-135). Auch die US-Invasion in Grenada im Oktober 1983 zeigte die globale Dimension der CounterinsurgencyStrategie auf (Westad 2005: 345). Zur selben Zeit ging in Österreich die ›Ära‹ Kreisky zu Ende. Die SPÖ verlor bei den Nationalratswahlen 1983 ihre absolute Mehrheit und musste nach siebzehn Jahren Alleinregierung einen Koalitionspartner suchen. Die SPÖ entschied sich für die ›Kleine Koalition‹ mit der rechtspopulistischen Freiheitlichen Partei Österreichs (FPÖ), die in den Worten des österreichischen Politikwissenschaftlers Anton Pelinka »das kleinste von drei Übeln« (Pelinka 1993: 13) erschien, im Vergleich mit einer Großen Koalition (mit der Österreichischen Volkspartei, ÖVP) oder der Rolle als Oppositionspartei. Dies lag auch daran, dass Kreisky die FPÖ seit den 1970er Jahren als einen zukünftigen Koalitionspartner in Erwägung zog, um im Falle eines Verlusts der absoluten Mehrheit eine sozial-liberale Koalition zu bilden, ähnlich der Koalition zwischen der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands und der Freien Demokratischen Partei in der damaligen BRD, um somit nicht mit der ÖVP koalieren zu müssen (Pelinka 1993: 15-21).25
25 Dieses ›Experiment‹ war in der SPÖ parteiintern sehr umstritten, da die FPÖ »noch immer als alte ›Nazi-Partei‹« (Rathkolb 2005: 197) galt, was laut Oliver Rathkolb letztlich zum Scheitern der Koalition führte.
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Innenpolitisch war die Zeit unter Fred Sinowatz, Kreiskys Nachfolger im Bundeskanzleramt, von der Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit und der Rolle Österreichs an den Verbrechen im Kontext des Zweiten Weltkrieges gekennzeichnet, die 1986 in der sogenannten ›Waldheim-Debatte‹ ihren Höhepunkt fand. Auch innenpolitische Skandale wie die Spekulationsaffäre rund um eine Tochterfirma der damals noch verstaatlichen VÖEST-Alpine oder der Noricum-Skandal, indem es um verbotene Waffengeschäfte ging, beanspruchten nun vermehrt die öffentliche Aufmerksamkeit. Umwelt- und demokratiepolitisch war die SPÖ noch stark vom »Wiederaufbau- und Wachstumsperzeptionen der Nachkriegszeit geprägt« (Rathkolb 2005: 202), sodass viele – vor allem junge – Wählerinnen und Wähler seit dem Ende der 1980er Jahre sich in lokalen Bürgerinitiativen und Grünen Listen zu engagieren und formieren begannen. Ein verstärktes Bewusstsein für Nachhaltigkeit, Ökologie und eine neu formulierte Kritik am Kapitalismus, welche im Zusammenhang mit der zweiten Ölpreiskrise (1979) gesehen werden muss und die Grenzen des Wachstums für die Menschen auch im Alltag deutlich spürbar machte, waren Kennzeichen jener Periode.26 Als ›Geburtsstunde‹ der Grünenbewegung in Österreich ist die Volksabstimmung im Jahr 1978 zu nennen, bei der es um die Inbetriebnahme des Atomkraftwerks Zwentendorf ging. Die Abstimmung verlief für die Atomkraftgegnerinnen und -gegner erfolgreich, was in das so genannte Atomsperrgesetz mündete, also dem Verbot der Nutzung der Kernspaltung zur Energieversorgung in Österreich (Vocelka 2002: 345-346). Auch die Besetzung der Hainburger Au (Flusslandschaft nahe Wiens) zum Jahreswechsel 1984/85 konnte letztlich von den neuen sozialen Bewegungen als Erfolg verbucht werden, da das geplante und von der Regierung forcierte Flusskraftwerk nicht verwirklicht wurde. Hinsichtlich Nicaraguas führte die Bundesregierung unter Sinowatz die begonnen Beziehungen weiter und unterstützte die FSLN-Regierung – allerdings stets unter der Prämisse, sich den USA und ihrer geopolitischen Strategie unterordnen zu müssen (Hödl 2004: 113), was zu diplomatischen Verstimmungen zwischen den beiden Ländern führte. Generell ist ab dem Jahr 1984 festzustellen, dass die Bundesregierung ihr Interesse an Nicaragua langsam zu verlieren begann (Kanamüller 1992: 106). Dies ist auch darauf zurückzuführen, dass innerhalb der SPÖ der linke Flügel im Laufe der 1980er Jahre stetig an Einfluss verlor (Franz 2006: 243), was sich bereits Ende der 1970er Jahre unter Kreisky abzeichnete, der die SPÖ nicht zu einer »›linken Volkspartei‹« (Rathkolb 2005: 193) transformieren wollte. Dies hatte zur Folge, dass sich die SPÖ zu keinen klaren politi-
26 Lutz Raphael (2015) bezeichnet die 1980er auch als ›Jahre nach dem Boom‹.
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schen Statements für die FSLN hinreißen ließ und »ihre Haltung wiederholt als ›kritische Solidarität‹ definierte« (Hödl 2004: 111; 258). Im Gegensatz dazu betrachteten viele Aktivistinnen und Aktivisten die Entwicklungen in Nicaragua in einem stärker politischen als humanitären Licht und forderten mehr Engagement und Stellungnahmen von Seiten der österreichischen Politik. Andererseits sorgten die Konflikte zwischen der FSLN und den indigenen Gemeinschaften an der Atlantikküste auch für Konflikte innerhalb der Bewegung. Im Kontext dieser und anderer Diskussionen zogen sich die meisten Mitglieder der Arbeitsgemeinschaft Kritische Medizin schrittweise aus dem ÖSKN zurück.27 Aber auch gerade wegen der sich verschlimmernden Situation – bedingt durch die Kämpfe zwischen der FSLN-Regierung und den Contras – kam es zu neuen Impulsen in der Solidaritätsarbeit. Im Jahr 1983 wurde auf Initiative von noch-Bundeskanzler Kreisky, Wissenschaftsminister Heinz Fischer, Innenminister Karl Blecha und Außenminister Erwin Lanc (alle SPÖ) das Österreichische Hilfskomitee für Nicaragua gegründet. Dieses neue Bündnis, in dem sich Personen aus Politik, Wissenschaft, Kultur und der katholischen Kirche zusammenfanden, sollte der Nicaragua-Solidarität neuen Auftrieb zu geben. In einem Flugzettel des Hilfskomitees wird betont, dass es sich um ein »politisches«28, jedoch um »kein parteipolitisches« (ebd.) Projekt handle, »denn die Namen der Unterzeichneten werden Sie davon überzeugen, daß wir jenseits weltanschaulicher und religiöser Grenzen agieren« (ebd.). Im Jahr 1984 übernahm die damalige Staatssekretärin Johanna Dohnal »im Auftrag von Bundeskanzler Sinowatz die Federführung im Komitee.«29 Dohnal stach durch ihr Engagement in der Friedens-, Frauen- und Entwicklungspolitik in der SPÖ hervor und war eine zentrale Akteurin der Zusammenarbeit Österreichs mit Nicaragua in den nächsten Jahren. Die staatliche EZA Österreichs hatte sich seit Anfang der 1980er Jahre zusehends professionalisiert und war vielschichtiger geworden. Oberstes Ziel der österreichischen Entwicklungshilfe war es, den Menschen Zugang zu den Grund-
27 Vgl. Kanamüller (2992: 94-97). Eine ähnliche Krise der Nicaragua-Solidarität lässt sich für die damalige BRD feststellen (Balsen/Rössel 1986: 415-419). 28 Unter anderem gehörten dem Komitee folgende Personen an: Annemarie Aufreiter, Karl Blecha, Helmut Braun, Herwig Büchele, Heinz Fischer, Gertrude FröhlichSandner, Fritz Hofmann, Rosa Jochmann, Käthe Kratz, Bruno Kreisky, Erwin Lanc, Gisela Moser, Anton Pelinka, Josef Reschen, Alfred Stingl, Alfred Stroer, Peter Turrini, Leopold Ungar und Erika Weinzierl. Siehe »Hilfskomitee für Nicaragua«, SBKA, Johanna Dohnal Archiv, Bestand XXI. Entwicklungspolitik, Box 1. 29 »Protokoll der Sitzung der Arbeitsgemeinschaft Österreich-Dritte Welt«, 26.1.84, SBKA, Johanna Dohnal Archiv, Bestand XXI. Entwicklungspolitik, Box 1.
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bedürfnissen wie Wasser und Nahrung zu ermöglichen und dauerhaft zu sichern. Aber auch neue Agenden wie der Umweltschutz und die Stärkung der Rechte der Frauen wurden zu Leitlinien der österreichischen Entwicklungspolitik. Programmatisch lag der Schwerpunkt auf landwirtschaftlichen Projekten sowie im Bereich der Bildung (Hödl 2004: 247-255). Die Solidaritätsbewegung wurde Mitte der 1980er Jahre auch um eine Facette reicher: Insgesamt drei Arbeits-/Erntebrigaden mit österreichischen Aktivistinnen und Aktivisten reisten nach Nicaragua, um in verschiedenen Projekten mitzuwirken. Es zeigt sich, dass dies zeitlich – wie bereits bei Roger Peace angesprochen – mit dem Gedanken einherging, die transnationale Solidaritätsbewegung als ›Schutzschild‹ gegen die Aggressionen der Reagan-Administration zu nutzen. Wie bereits erwähnt sind die Brigaden nicht als menschliche Schutzschilder zu verstehen, da diese bewusst nicht in Gebiete geschickt wurden, wo es zu schweren Kämpfen zwischen dem sandinistischen Heer und Contra-Truppen kam. Vielmehr sollte die Präsenz westeuropäischer und US-amerikanischer Nicaragua-Aktivistinnen und -Aktivisten ein direktes militärisches Eingreifen der USA erschweren bzw. verhindern. So berichtete etwa der nicaraguanische Botschafter in Österreich im Dezember 1983 Staatssekretärin Dohnal über die angespannte Lage im Land sowie über die Befürchtung einer bevorstehenden Intervention durch die USA und bat sie, dass »befreundete Länder«30 Einfluss auf die USA ausüben sollten. Die erste Brigade, benannt nach dem bedeutenden politischen österreichischen Schriftsteller Jura Soyfer, der im KZ-Buchenwald ums Leben kam, machte sich im Januar 1984 auf den Weg nach Nicaragua. Im Februar 1984 folgte die Brigade Februar 1934, deren Name eine Referenz an den österreichischen Bürgerkrieg (12. bis 15. Februar 1934) war.31 Die dritte Brigade, Anton Dobritzhofer-Spanien 1936, war nach einem österreichischen Internationalisten im Spanischen Bürgerkrieg benannt und kam im März 1985 nach Nicaragua. Die Brigaden signalisierten nicht nur die Kontinuität der Solidaritätsbewegung, sondern zeigten, dass nun auch nicht nur mehr die humanitären Aspekte im Vordergrund standen, sondern, dass die »Arbeitsbrigaden auch die politische Funktion [haben,
30 Vgl. die »Gesprächsnotiz zwischen Botschafter Dr. Mejia-Solis, Dr. Novotny und Dohnal«, 06.12.1983, SBKA, Johanna Dohnal Archiv, Bestand XXI. Entwicklungspolitik, Box 2. 31 In dem österreichischen Dokumentarfilm EINMAL MEHR ALS NUR REDEN der Regisseurin Anna Katharina Wohlgenannt aus dem Jahr 2010 berichten ehemalige Mitglieder der Brigade Februar 34 über ihre Erlebnisse in Nicaragua.
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L. B.], auf unbewaffnete Weise die Revolution vor Angriffen von außen zu schützen«32, wie dies die Entwicklungspolitischen Nachrichten deutlich auf den Punkt brachten. Die Brigaden Jura Soyfer und Februar 1934 waren im Süden Nicaraguas aktiv, während die Brigade Anton Dobritzhofer-Spanien 1936, die von der österreichisch-kubanischen Gesellschaft organisiert wurde, im Westen des Landes stationiert war. Die konkrete Arbeit der Brigadistinnen und Brigadisten umfasste die Mithilfe beim Bau von Gemeindezentren, an einem Ölpalmenprojekt zur Speiseölproduktion am Río San Juan (Grenzfluss zwischen Nicaragua und Costa Rica), beim Hausbau und bei der Baumwoll- und Kaffeeernte. Als eine direkte Auswirkung der Präsenz und der Arbeit der Brigaden vor Ort können die Etablierung von Städtepartnerschaften zwischen Nicaragua und Österreich genannt werden, die bis heute bestehen und die häufigste Form kommunaler EZA darstellen. Ziel dieser Kooperationen war und ist es, dass »sich BürgerInnen beider Städte beteiligen und so ein kultureller und persönlicher Austausch stattfindet« (Humer 2013: 54). Städtepartnerschaften existieren bis heute zwischen Ansfelden und Condega, Wels und Chichigalpa, Linz und San Carlos, Rohrbach und Bonanza sowie Salzburg und León. Die konkrete Arbeit der Städtepartnerschaften besteht in der Projektarbeit mit ihren Partnerstädten. Dabei stehen die Bereiche Bildung, Infrastruktur und Gesundheit im Vordergrund sowie die Öffentlichkeitsarbeit und die Einbeziehung der Bevölkerung in den Gemeinden in die einzelnen Projekte (Humer (2013: 56). Alexandra Humer, die zur Städtepartnerschaft WelsChichigalpa eine Studie verfasst hat, sieht den Beitrag der kommunalen EZA darin, dass sie zwar quantitativ gesehen nicht hervorstechen kann, jedoch die Kooperationen durch persönliche Beziehungen und Kontakte über längere Zeit aufrecht bleiben und somit eine gewisse Kontinuität in der EZA gegeben ist (Humer 2013: 120). Nachdem sich die ökonomische und politische Situation in Nicaragua im Zuge der Konflikte auf zentralamerikanischer Ebene und dem ab dem 1. Mai 1985 geltenden Handelsembargo der USA verschlechterte, reiste eine nicaraguanische Delegation unter der Führung von Präsident Daniel Ortega und Vizepräsident Sergio Ramírez in mehrere europäische Länder und in die Sowjetunion. Im Vordergrund stand die finanzielle Unterstützung Nicaraguas, aber auch die internationale Legitimation der FSLN (Sanahuja 1994: 27-28). Im März 1985 informierte Staatssekretärin Johanna Dohnal Bundeskanzler Sinowatz über diese Reise und erwähnte den Wunsch von Vizepräsident Ramí-
32 »Nicaragua. Solidarität, Projekte«, in: Entwicklungspolitische Nachrichten, S. 3.
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rez, nach Österreich eingeladen zu werden. Des Weiteren schrieb sie: »Du kennst meine nicht allzu große Freude, auf Auslandsreise gehen zu müssen, im Interesse Nicaraguas wäre aber ein Besuch von österreichischer Seite, auf Regierungsebene, sicherlich angebracht.«33 Schließlich besuchte die Delegation Ende Mai 1985 Österreich. Ramírez traf mit Sinowatz zusammen und Nicaragua wurde ein Kredit von 72 Millionen Schilling (was mehr als fünf Millionen Euro entspricht) gewährt. Sinowatz betonte zwar seine Hoffnung auf eine »demokratische, pluralistische und blockfreie Weiterentwicklung in Nicaragua«34, ein konkretes politisches Statement blieb jedoch aus. Nichtsdestoweniger entwickelten sich Zentralamerika und speziell der »Streitfall« (Hödl 2004: 259) Nicaragua zu Projektionsflächen der beiden großen Parteien SPÖ und der ÖVP und ihrer jeweiligen Ideologien. Dies ging einher mit einer seit den späten 1970er Jahren wachsenden Kritik der ÖVP an dem außenpolitischen Kurs der Alleinregierung unter Kreisky. Ihm wurde vorgeworfen, durch seine Haltung in der Nahost-Politik (Einladung und Besuch von Jassir Arafat im Bundeskanzleramt in Wien 1979) das Verhältnis zu den westlichen Partnern, v.a. zu den USA, zu beschädigen. Auch die Wahl Kubas als nichtständiges Mitglied im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen, bei der sich Österreich hinter Kuba stellte, sowie der Staatsbesuch des libyschen Revolutionsführers Muammar al-Gaddafi im Jahr 1981 in Wien wurden, von der Presse unterstützt, als antiamerikanische Grundhaltung der Außenpolitik Kreiskys interpretiert (Stifter 2006: 257-270). Die Auseinandersetzungen betrafen meist die Frage, wer nun Entwicklungshilfe erhalten sollte und wer nicht. Während die ÖVP der SPÖ vorwarf, dass sie mit der FSLN kooperiere, die Nicaragua langsam in ein ›marxistisch-leninistisches‹ Regime verwandele, die Opposition unterdrücke und die Guerilla in El Salvador unterstütze, konterte die SPÖ, dass die ÖVP die konservative Regierung von José Napoleón Duarte in El Salvador befürworte, der Menschenrechtsverletzungen vorgeworfen wurden (Hödl 2004: 110-112). Hatte die SPÖ bisher die EZA und die Außenpolitik zum sandinistischen Nicaragua und Zentralamerika dominiert, trat nun auch die ÖVP vermehrt in Erscheinung, die sich zuvor durch eine diskursive Kritik und Ablehnung der FSLN hervorgetan hatte. Die ÖVP unter ihrem neuen Bundesparteiobmann Alois Mock suchte nach internationalen Verbündeten und Netzwerke, die u.a. mittels der Internationalen Demokratischen Union (IDU) stattfanden, deren erster Vorsitzen-
33 Brief Dohnal an Sinowatz, SBKA, Johanna Dohnal Archiv, Bestand XXI. Entwicklungspolitik, Box 4, S. 1-2. 34 »Vizepräsident Ramirez Gast des Bundeskanzlers: ›Nicaragua ist für den Dialog offen‹«, in: Arbeiter-Zeitung, 24.05.1985, S. 1.
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der Mock war. Die IDU pflegte enge Verbindungen mit der ChristlichDemokratische-Union Deutschlands (CDU), ihrer ›Schwesterpartei‹, der Christlich-Sozialen Union in Bayern sowie der Konrad-Adenauer-Stiftung. Es wurde versucht, die internationale Politik der IDU mit diesen und weiteren wichtigen konservativen Partnerparteien (etwa aus Großbritannien) zu koordinieren und abzustimmen. Vor allem wenn es um den ›heißen Boden‹ Lateinamerika ging, sprach sich Mock mit Bonn ab. In einem an Mock gerichteten Brief meinte der Präsident der Konrad-Adenauer-Stiftung, Bruno Heck, dass die »weitere Konsolidierung der IDU Vorrang vor einer Expansion«35 habe. Des Weiteren »[…] macht der CDU die Frage einer möglichen Ausdehnung der IDU nach Lateinamerika besonders zu schaffen. Die CDU – und die Konrad-Adenauer-Stiftung – haben in jahrelanger Arbeit ein dichtes Netz von bilateralen Beziehungen zu christlich-demokratischen Parteien in diesem Kontinent aufgebaut. […] Wir haben ein elementares Interesse an der Erhaltung dieser Bindungen, die durch eine offensive Politik der IDU in Lateinamerika erheblich strapaziert würden.« (Ebd.: 2)
Der Spielraum, der Mock durch die IDU gegeben war, war somit begrenzt, auch auf seiner damals bevorstehenden Reise nach Zentralamerika. Diese Reise fand Anfang des Jahres 1984 statt und (wie einst die Kritische Medizin) man begab sich auf eine ›Fact-finding Mission‹ nach Lateinamerika. Mock besuchte hierbei Panama, Kolumbien, Nicaragua, El Salvador und die USA.36 Erhard Busek, Mitglied der ÖVP und damaliger Vizebürgermeister von Wien, flog mit einer Solidaritätsgruppe der christlichen Gewerkschaft nach Costa Rica, Nicaragua, El Salvador, Honduras und Guatemala.37 Bei ihrer Rückkehr am Flughafen Schwechat war der Medienandrang groß, da nicht nur Mock und Busek am selben Tag zurückkamen, sondern auch die Brigade Jura Soyfer.38 In den nächsten Tagen polemisierten beide Seiten heftig gegeneinander: Die ÖVP und die ihr nahe stehenden Medien warfen den Brigadistinnen und Brigadisten »linksromantische«39
35 »Brief von Bruno Heck an Alois Mock, 28.8.1984«, KvVI (Karl von VogelsangInstitut), Mappe: IDU (Anfänge), S. 1. 36 »USA könnten in Nicaragua eingreifen«, in: Salzburger Nachrichten, 9.2.1984, S. 2. 37 Vgl. »Mock und Busek in Lateinamerika. Diskussion um Nikaragua-Hilfsprojekte«, in: Die Presse, 09.02.1984, S. 2. 38 Vgl. »Nicaragua: Mock sah’s amerikanisch«, Arbeiter-Zeitung, 09.02.1984, S. 2. 39 Vorhofer, Kurt: »Was Alois Mock nach Hause bringt«, in: Kleine Zeitung, 09.02.1984, S. 4.
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Verklärung und der SPÖ »linkslinke Außenpolitik«40 vor. Busek meinte nach seiner Rückkehr, dass »für die Linken in der SPÖ die Außenpolitik ein Ersatz für die zu wenig radikale Innenpolitik [sei, L. B.]«.41 Konkret zu Nicaragua äußerte er sich zwiespältig. Einerseits betonte er, dass die Solidarität mit dem nicaraguanischen Volk und die Entwicklungshilfe notwendig seien.42 Andererseits meinte er, dass »der Sprachduktus [der FSLN, L. B.] dem gefährlich nahe [kommt, L. B.], was wir aus dem Nationalsozialismus kennen.«43 Mock bekräftigte seine Unterstützung des Präsidentschaftskandidaten José Napoleón Duarte in El Salvador von der Christdemokratischen Partei (Partido Demócrata Cristiano) und zeigte Verständnis für die Sicherheitsbedenken der USA gegenüber den autoritären Tendenzen in Nicaragua.44 Der Gegenstoß ließ nicht lange auf sich warten. Der Chefredakteur der Arbeiter-Zeitung, Manfred Scheuch, schrieb, dass »auch Christdemokraten […] eines Tages entdecken [könnten, L. B.], was beispielsweise die Kirche hüben und drüben schon lange weiß: Daß die ausgebeuteten Völker dieser Region vor allem unsere Solidarität brauchen. Wie sie beispielsweise die jungen Brigadisten praktizieren.«45 Die Reise von Mock und Busek zeigt, dass die ÖVP in der Außenpolitik gegenüber der SPÖ aufzuholen versuchte und verstärkt in diesen Themenbereich investierte. Ein Kommentar zu Mocks Reise nach Lateinamerika verdeutlicht dies: »Der Obmann der ÖVP bewegt sich auf der Bühne der Weltpolitik auf die natürlichste Weise. […] So verwaschen sich Mock oft bei innenpolitischen Themen ausdrückt, so klar sind seine Aussagen zu Grundsatzfragen des Ost-West-Verhältnisses. Er ist ein ›Westler‹, aber das heißt nicht naiver Pro-Amerikanismus und Missachtung der Interessen des neutralen Österreichs. Das heißt vielmehr: Bekenntnis zu jener Weltordnung, die wir mit den USA und den anderen westlichen Demokratien gemeinsam haben. In einer Zeit, in der sich modischer Anti-Amerikanismus vermischt mit Tendenzen einer linksromantischen
40 Sauberer, Willi: »Offen gesagt. Hilfe für Nicaragua«, in: Salzburger Volkszeitung, 23.02.1984, S. 2. 41 »Mock und Busek in Lateinamerika. Diskussion um Nikaragua-Hilfsprojekte«, in: Die Presse, 09.02.1984, S. 2. 42 Vgl. »Gewisse US-Maßnahmen möglich«, in: Wiener Zeitung, 09.02.1984, S. 2. 43 »Momentaufnahmen von einer Mittelamerikareise«, in: Wiener Zeitung, 17.02.1984, S. 2. 44 Vgl. »Gewisse US-Maßnahmen möglich«, in: Wiener Zeitung, 09.02.1984, S. 2. 45 Scheuch, Manfred: »Man spricht davon. Reisen bildet«, in: Arbeiter-Zeitung, 09.02.1984, S. 1.
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Gesellschaftsveränderung auch hierzulande ausgebreitet hat, ist es besonders wichtig, daß die Wortführer der großen Parteien festen Kurs halten und dies auch öffentlich vertreten.«46
Nachdem Alois Mock 1987 das Außenministerium übernahm, kam es zu keinem Rückgang der Gelder für die EZA hinsichtlich Nicaraguas, ganz zur Überraschung und Erleichterung vieler Nicaragua-Aktivistinnen und -Aktivisten. Gerald Hödl führt dies auf folgende Punkte zurück: 1. Die sowjetische Außenpolitik unter Michail Gorbatschow, die eine Phase globaler Entspannung einleitete. 2. Die Friedensinitiativen in Zentralamerika und 3. der Druck der SPÖ auf die ÖVP, die Hilfe für Nicaragua nicht einzustellen.47 Hintergrund dessen war, dass sich die ÖVP Guatemala als Schwerpunktland sicherte und die SPÖ dafür in Nicaragua weitermachen durfte. Aber auch die Solidaritätsbewegung selbst hatte ihren Anteil daran, dass jenes kleine zentralamerikanische Land zu einem festen Bestandteil der österreichischen Außenpolitik geworden war.48
Z USAMMENFASSUNG
UND
S CHLUSSFOLGERUNGEN
War Nicaragua am Ende der 1970er noch weitgehend außerhalb der Wahrnehmungen Österreichs, so wurde das kleine zentralamerikanische Land und dessen Bevölkerung zu einem zentralen Punkt der Außenpolitik sowie internationaler Zusammenarbeit eines Kleinstaats in Europas vermeintlicher Mitte bzw. seiner Position zwischen den Blöcken. Bruno Kreisky legte in den ersten Jahren von Nicaraguas Revolution wichtige Grundlagen für die über jahrzehntelang andauernde Zusammenarbeit, auf die seine politischen Nachfolgerinnen und Nachfolger aufbauen konnten. Als neutraler Staat war sich Österreich seiner Rolle sehr wohl bewusst, dass vor allem die internationale Anerkennung Nicaraguas erreicht werden konnte, indem man, wenn auch vorsichtig, die politische Legitimität der FSLN offiziell anerkannte.
46 Vorhofer, Kurt: »Was Alois Mock nach Hause bringt«, in: Kleine Zeitung, 09.02.1984, S. 4. 47 Als eine Art ›Gegenleistung‹ der SPÖ wurde neben Nicaragua nun auch Costa Rica verstärkt gefördert (Hödl 2004: 258-263). 48 Johanna Dohnal sprach auf einer Sitzung des Hilfskomitees im Jahr 1986 den Symbolcharakter Nicaragua für die gesamte Region an. Vgl. Protokoll über die Sitzung des Hilfskomitees für Nicaragua am 10.04.1986, SBKA, Johanna Dohnal Archiv, Bestand XXI. Entwicklungspolitik, Box 6, S. 2.
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Wie Georg Grünberg feststellt, war »die projektorientierte Kooperation zwischen staatlichen Institutionen und lokalen NGO’s« (Grünberg 2006: 271) ein Kennzeichen der EZA Österreichs gegenüber Nicaragua, bei welcher der Solidaritätsbewegung ein wichtige Rolle zukam. Eine im Kontext der späten 1960er Jahre politisch sozialisierte und entwicklungspolitisch interessierte Öffentlichkeit, die sich unter anderem aus Studierenden, Gewerkschaftsmitgliedern sowie Gruppen der katholischen Kirche zusammensetzte, bildete die Basis dieser Solidaritätsbewegung. Nichtsdestoweniger lag der Fokus der österreichischen Bundesregierungen nach der Ära Kreisky verstärkt auf der Frage bezüglich der ökonomischen und politischen Integration Österreichs in die Europäische Union und weniger auf der Rolle Österreichs in der Welt (Rathkolb 2006: 79-82). Dieses langsame, aber dennoch stetige Abflauen staatlicher Initiativen in und des Interesses an Nicaragua führte einerseits zu einer kritischen Auseinandersetzung mit der offiziellen EZA und andererseits zur Herausbildung neuer Konzepte in der Zusammenarbeit mit den Ländern des ›Globalen Südens‹. Diese Zusammenarbeit wurde nun vermehrt von einzelnen Akteurinnen und Akteuren sowie Bewegungen getragen, die versuchten, unabhängig von traditionellen Parteien oder parteinahen Institutionen neue Aktionsräume und Kooperationsformen zu schaffen. Dies hatte zur Folge, dass sich die österreichische EZA Ende der 1980er Jahre durch ihre Heterogenität der Kooperationen mit Nicaragua auszeichnete. Bei den Wahlen im Februar 1990 verlor die FSLN gegen das konservative Oppositionsbündnis Unión Nacional Opositora (UNO) und deren Kandidatin Violetta Barrios de Chamorro. Unter ›Doña Violettas‹ Regierungszeit (1990-1997) begann die so genannte transición (Transition) in Nicaragua, die in den folgenden Jahren (erneut) tiefgreifende Veränderungen im angestammten politischen und sozioökonomischen Gefüge des Landes mit sich brachte. So war das ökonomische Programm der Regierung Chamorros von Anfang an mit einer radikalen neoliberalen Wende verknüpft. Die Maßnahmen umfassten u.a. Privatisierungen vormals staatlicher Betriebe sowie die Kontrolle der Fiskal- und Haushaltspolitik Nicaraguas durch den Internationalen Währungsfonds und die Weltbank. Die staatliche Subventionierung von Grundnahrungsmittelpreisen wurde reduziert, die Vergabe an Kredite für Personen aus dem bäuerlichen Milieu sank um drastische 80%. Das Konzept einer gemischten Ökonomie der sandinistischen Regierungszeit wurde zugunsten einer neoliberalen Marktwirtschaft umstrukturiert. Auch sandinistische Massenorganisationen, die sich zur Zeit der Revolution gebildet hatten, wurden schrittweise entmachtet und verschwanden langsam (Tijerino 2012: 339-343).
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Die FSLN war an ihrer Wahlniederlage von 1990 nicht unbeteiligt gewesen. Vor allem die Korruption sandinistischer Funktionärinnen und Funktionäre, welche Teil der neuen politische Führungselite waren, ihre Machtstellung aber zugleich zur persönlichen Bereicherung missbrauchten, kostete die FSLN in den Augen der Bevölkerung ihre Glaubwürdigkeit. Die so genannte piñata, also die Aneignung verstaatlichten Landes durch Mitglieder der FSLN und dessen Umwandlung in Privatbesitz, gilt bis heute als Symbol für diesen Machtmissbrauch. Die von Chamorro versprochene reconciliación (Aussöhnung) nach den Konflikten der 1980er Jahre gestaltete sich schwierig: Die rupturistas, der rechte Flügel der UNO, drängten auf einen Bruch mit der FSLN, während die Fraktion um Chamorro (consensuales) die Zusammenarbeit mit der FSLN suchte. Ihr war bewusst, dass die FSLN – auch wenn sie die Wahlen verloren hatte –immer noch eine große soziale Basis hinter sich wusste, die sie (etwa in den Gewerkschaften) mobilisieren konnte. Somit war Chamorro von Anfang an nicht nur Anfeindungen von außen ausgesetzt, also von Seiten der FSLN und ihrer Befürworterinnen und Befürworter, sondern auch von innen (González Marrero 1996: 93-95). Nach 1990 gab es kaum noch ein öffentliches Interesse an Nicaragua und Zentralamerika, wie dies in den 1980er Jahren noch der Fall gewesen war. Laut Gerald Hödl ist dies darauf zurückzuführen, dass die »Reorganisation der vom Bürgerkrieg zerrütteten Gesellschaften in Guatemala, El Salvador und Nicaragua nicht mit jenem Skandal zu messen [sind], den die sandinistische Revolution bedeutet hatte« (Hödl 2004: 112-113). Nicaragua verschwand jedoch nicht komplett aus dem Blickfeld: Die Solidaritätsbewegung verringerte zwar ihre Aktivitäten ab 1990; Kontakte und aufgebaute Kooperationen blieben aber bestehen, wie sich anhand der Städtepartnerschaften zeigt. Auch war Nicaragua 1992 bis 2013 eines der Schwerpunktländer der österreichischen EZA. Warum Nicaragua ausgewählt wurde, ist u.a. auf die bereits vorhandenen Strukturen und Kontakte zurückzuführen, die eine weitere Arbeit erleichterten (Ostermann 2003: 48). Allerdings gestaltete sich auch das Verhältnis der österreichischen EZA zu den nicaraguanischen Partnerinnen und Partnern in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre bereits problematisch: Von nicaraguanischer Seite her wurden zunehmend eher Gelder als direkte Personeneinsätze angenommen (Grünberg 2006) und die FSLN verfiel als traditioneller Partner in Nicaragua zusehends in eine Art ›Revolutionsnostalgie‹. Als Anspielung auf den ›Nationalhelden‹ Augusto César Sandino, der in den 1930er Jahren die US-Marines aus dem Land vertrieben hatte und von dem die FSLN nicht nur ihren Namen herleitete, sondern sich auch historisch als dessen Nachfolgerin sah und legitimierte, meinte der österreichische Nicaraguaexperte Wolfgang Dietrich treffend:
298 | L AURIN B LECHA »Sandino 1979 mochte von den Zwergen erzählen, die aus den segovianischen Bergen gekommen waren um ihre Geschichte riesenhaft neu zu schreiben, indem sie den Diktator verjagten. Sandino 1994 erzählt von verkrusteten Strukturen in den FSLN-Vorfeldorganisationen, die unter dem Titel ›Regieren von unten‹ auf zentralistische Art internationale Hilfsgelder verwalten.« (Dietrich 1994: 143)
A RCHIVQUELLEN KvVI – Karl von Vogelsang-Institut, Vienna. SBKA – Stiftung Bruno Kreisky Archiv, Wien Bruno Kreisky Archiv: Bestand VII.1. Johanna Dohnal Archiv: Bestand XXI.
Z EITUNGEN
UND
Z EITSCHRIFTEN
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Der Kalte Krieg auf Film Propaganda im Dienste tschechoslowakischer Aktivitäten in Lateinamerika K ATEŘINA B ŘEZINOVÁ
Als sich die Rivalität zwischen der UdSSR und den USA in den 1950er Jahren im Kontext des Kalten Krieges auch in Lateinamerika fortzusetzen begann, befand sich die Tschechoslowakei in der entscheidenden Position, in der Region eine Brücke für die strategischen außenpolitischen Interessen des Ostblocks zu schlagen. Als einziges kommunistisches Land mit einem bestehenden Netzwerk an Botschaften in ganz Lateinamerika sowie etablierten wirtschaftlichen und militärischen Kooperationen seit der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts war die Tschechoslowakei gut positioniert, um aktiv mit reformorientierten und linksgerichteten Regierungen der westlichen Hemisphäre zu kooperieren, wie zum Beispiel mit Guatemala unter Jacobo Árbenz, mit Chile unter Salvador Allende, mit Peru unter Juan Velasco Alvarado, mit Nicaragua unter Daniel Ortega und vor allem mit Kuba unter Fidel Castro. Das Ergebnis dieser Konstellation war, dass sich das politische, wirtschaftliche und kulturelle Engagement der Tschechoslowakei in Lateinamerika während des Kalten Krieges maßgeblich erweiterte. Ungeachtet dessen, dass die Außenpolitik nach einem ›Top-down-Prinzip‹ definiert war beziehungsweise von den sowjetischen und tschechoslowakischen Behörden festgelegt wurde, ergab sich bald die Notwendigkeit, die neuen außenpolitischen Ziele vor der Öffentlichkeit zu rechtfertigen. Hierfür kam eine breite Palette von Propagandamechanismen zu Einsatz.1
1
Dabei handelte es sich meist um Printmedien, so genannte ›Expertenliteratur‹ sowie Dokumentarfilme. Zur Analyse der Propaganda in den Printmedien und in der Expertenliteratur in Bezug auf Kuba (Bortlová 2011: 154-165). Der tschechoslowakischen
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Die Dokumentarfilme werden in dieser Arbeit als Spiegelbild der Vorstellungen des tschechoslowakisch kommunistischen Regimes und seiner Rolle in Staaten Lateinamerikas herangezogen und nicht als eine Abfolge von ›realen‹ Ereignissen. Im Sinne von Marc Ferro sind sie als historisches Phänomen konzipiert, wobei eine parallele Geschichte erzählt wird (Ferro 1988). Der vorliegende Text stellt demzufolge einen Beitrag zu einem besseren Verständnis der außenpolitischen Ambitionen der kommunistischen Tschechoslowakei in Lateinamerika in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts dar. Dies soll dazu beitragen, die komplexen politischen, ideologischen und wirtschaftlichen Gründe darzulegen, welche die Tschechoslowakei dazu veranlassten, in den verschiedenen lateinamerikanischen Ländern als einflussreicher außenpolitischer Akteur aufzutreten.
E INLEITUNG Die Ursprünge der tschechoslowakischen Präsenz in Lateinamerika reichen bis in das erste Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts zurück. Der neu geschaffene und unabhängige Staat errichtete ein umfangreiches Netzwerk von Botschaften und Konsulaten in der westlichen Hemisphäre, um tschechoslowakische Handelsinteressen in der Region zu unterstützen und neue Absatzmärkte für die aufstrebende Rüstungsindustrie zu erschließen. Der gegenseitige Handelsaustausch und die diplomatische Zusammenarbeit wurden zwar durch den Zweiten Weltkrieg kurzzeitig unterbrochen, legten aber den Grundstein für die einzigartige Position der Tschechoslowakei innerhalb der sozialistischen Blockstaaten, die selbst nur begrenzte Präsenz in der Region aufweisen konnten. Diese Besonderheit wurde gegen Ende der 1950er Jahre relevant. So war es der UdSSR erst durch die Hilfe der Tschechoslowakei möglich, erste indirekte Kontakte mit Fidel Castros bewaffneter Bewegung im Jahr 1958 herzustellen (Bortlová 2011: 34). Erst nachdem Castro und seine Truppen im Januar 1959 die Macht in Kuba übernahmen, erkannte die UdSSR die Gelegenheit, in der westlichen Hemisphäre aktiv zu werden. Die Tschechoslowakei war der erste sozialistische Staat, der eine Botschaft und eine Residentur in Kuba eröffnete. In den frühen 1960er Jahren waren die Erwartungen daher sehr hoch: Die Tschechoslowakei sollte entweder als ›Eisbrecher‹ für das sozialistische Lager in Lateinamerika agieren oder als Brücke zwischen den beiden Regionen dienen.
Dokumentarfilmproduktion bezüglich Lateinamerikas wurde bisher nur geringfügig Beachtung geschenkt (Kázecký 2004).
D ER K ALTE K RIEG AUF F ILM
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Dieser Beitrag stellt zuerst die tschechische Dokumentarfilmproduktion in Bezug auf Lateinamerika zwischen 1948 und 1989 dar.2 Ziel ist es, Ergebnisse der Grundlagenforschung der tschechischen Filmarchive in einen größeren politischen, kulturellen und außenpolitischen Kontext zu stellen. Zweitens werden die Dokumentarfilme mittels einer semiotischen Analyse betrachtet.3
T SCHECHISCHE D OKUMENTARFILME ÜBER L ATEINAMERIKA (1948-1989): VOM › SCHARFEN ‹ ZUM › NEUEN ‹ K URS (1948-1959) Die ersten Dokumentarfilme über Lateinamerika nach dem kommunistischen Umsturz von 1948 waren fast ausschließlich Werke von Jiří Hanzelka und Miroslav Zikmund. Beide waren Hobbyfilmer, die ihre Reisen durch Afrika und Amerika mit ihrem futuristisch anmutenden Auto, einem Tatra T87, mit der Kamera festhielten. Obwohl ihre Filme zwar kurz vor dem kommunistischen Putsch konzipiert wurden, mussten sie den ideologischen Vorgaben folgen, denen alle Kulturproduktionen in den frühen 1950er Jahren unterworfen waren. Diese Richtlinien des ›scharfen Kurses‹ der Kulturpolitik wurden von der kommunistischen Regierung im Jahr 1948 verfasst und stellten die Filmproduktion in den Dienst des ersten Fünfjahresplanes (1949 bis 1953).4 Alle Informationen unterlagen der Kontrolle der Behörden und wurden durch eine spezielle Zensurbehörde überprüft, dem Rat für Presseüberwachung (Hlavní správa tiskového dohledu).5 Die Qualität der Filme wurde nach ›erzieherischen‹ Qualitäten beurteilt. ›Lockere‹ Unterhaltungsfilme wurden gemieden, da »realitätsferne Unterhaltung von denen gesucht wird, die nicht mit der Zeit gehen« (Skopal 2012: 327). Während die Kinoprogramme früher einen konstanten Anteil an Hollywoodproduktionen aufwiesen, wurde dies nach 1948 drastisch einge-
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Aufgrund der begrenzten Anzahl von Dokumentarfilmen aus der Slowakei konzentriert sich dieser Text auf die tschechische Dokumentarfilmproduktion.
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Teile dieses Beitrags sind bereits auf Englisch erschienen (Březinová 2013). Es wäre jedoch ein Fehler die Propaganda als Novum zu betrachten, welches erst nach dem kommunistischen Putsch von 1948 auftauchte. In der Forschung deutet Vieles auf bereits bestehende Kontinuitäten vor 1948 hin (Česálková 2012: 460).
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Institutionell stand die Filmindustrie unter dem Einfluss des Informationsministeriums und der ›Kulturpropaganda‹-Abteilung des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei. Letztere fiel im Jahr 1956 unter die Zuständigkeit des Ministeriums für Bildung und Kultur (Knapík 2006: 87-89, 279).
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schränkt, zugunsten der im Inland produzierten Filme oder solcher aus verbündeten sozialistischen Ländern. Das Ergebnis war, dass die Zahl der Kinobesucherinnen und -besucher in der Tschechoslowakei im Jahr 1950 einen historischen Tiefstand erreichte. Die Reise von Buenos Aires nach Mexiko-Stadt, die Hanzelka und Zikmund zwischen 1948 und 1950 unternahmen, wurde sofort in eine Reihe unterschiedlicher Dokumentarfilme verarbeitet, die unter der Regie von Jaroslav Novotný gedreht wurden. Unter jenen Filmen sind folgende zu erwähnen: OSTROVY MILIONŮ PTÁKŮ (Inseln der Millionen Vögel) aus dem Jahr 1952, der auf den ChinchaInseln (Peru) gedreht wurde und den Guano-Abbau in Chile betrachtet. Der Film LOVCI LEBEK (Kopfjäger, 1953), der von der indigenen Bevölkerungsgruppe der Shuar aus Ecuador handelt. BÝČÍ ZÁPASY (Stierkämpfe, 1955), der Mexiko und Peru zum Thema hat, sowie zwei Filme, die auch die kommerziellen Aktivitäten der Tschechoslowakei in der Region thematisierten: der Film ČESKOSLOVENSKÉ MOTOCYKLY V GUATEMALE (Tschechoslowakische Motorräder in Guatemala, 1952) schildert den Handelsaustausch zwischen den beiden Ländern in den 1950er Jahren. Nebenbei erwähnt waren es ironischerweise die tschechoslowakischen Waffenlieferungen nach Guatemala, die den Sturz der Regierung von Jacobo Árbenz im Jahr 1954 verursacht haben (Opatrný: 2013).6 Der Film STAVBA LIHOVARU V ARGENTINĚ (Bau der Brennereien in Argentinien, 1952) stellt eine Verherrlichung der technologischen Kapazitäten der Tschechoslowakei dar und zeigt den damals weltweit größten Bau einer Destillieranlage, der von tschechoslowakischen Expertinnen und Experten betreut wurde. Viele Teile der genannten Dokumentarfilme von Hanzelka und Zikmund wurden auch für den Spielfilm Z ARGENTINY DO MEXIKA (Von Argentinien nach Mexiko, 1953) verwendet. Hanzelka und Zikmund wurden bald die ›offiziellen‹ Künstler des neuen Regimes7 und wie aktuelle Studien zeigen, zogen ihre Filme ein Millionenpublikum an. Sie stillten die Sehnsüchte der tschechoslowakischen Öffentlichkeit nach optisch ansprechender Unterhaltung, bei der die politischen und pädagogischen Inhalte leicht ignoriert werden konnten. Darüber hinaus boten ihre Filme dem Publikum die Möglichkeit, imaginäre Reisen an exotische Orte zu unternehmen, die zu dieser Zeit der Mehrheit der tschechoslowakischen Bevölkerung nicht erlaubt
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Vgl. auch den Beitrag von Lukáš Perutka in diesem Band.
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Dieses Bild verstärkte sich dadurch, dass einige ihrer Projekte auf dem beschlagnahmten Schloss Dobříš fertiggestellt wurden, wo der offizielle Schriftstellerverband seinen Sitz hatte. Hier machten Hanzelka und Zikmund Bekanntschaft mit linken Persönlichkeiten, die politisches Exil in der Tschechoslowakei gefunden hatten, wie zum Beispiel mit dem brasilianischen Schriftsteller Jorge Amado und seiner Frau Zélia Gattai.
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waren (Skopal 2012: 340-343). Die Popularität des Duos überschattete bald die Vorkriegsgeneration tschechischer Filmemacherinnen und Filmemachern, die zwar ein Interesse an Lateinamerika hegten, jedoch nicht die ideologischen Anforderungen der Zeit erfüllten. Darunter fallen zum Beispiel František Alexandr Elstner, ein Förderer von Škoda und dem Flugzeughersteller Aero, der in den 1930er Jahren in Mexiko, Argentinien und Uruguay drehte. Auch der bekannte Komponist, Abenteurer und Filmemacher Eduard Ingriš, der nach dem kommunistischen Putsch im Jahr 1948 ins Exil nach Peru ging, sowie Vladimír Kozák, ein tschechischer Auswanderer in Brasilien, dessen Werk mit fast 600 Dokumentarfilmen bis heute weitgehend unerforscht ist (Kázecký 2004: 175-179).
L ATEINAMERIKA
AM
S CHEIDEWEG (1959-1968)
Die tschechoslowakische Propaganda in Bezug auf Lateinamerika veränderte sich grundlegend nach dem Sieg der barbudos (Guerillakämpfer und -kämpferinnen Fidel Castros) im Jahr 1959. Die kubanische Revolution durchbrach die im Gefolge der Monroe-Doktrin etablierte US-Hegemonie über Lateinamerika und polarisierte alte Debatten über soziale Ungerechtigkeiten in der Region. Wie Tulio Halperín Donghi diesbezüglich anmerkt: »[D]ie kubanische Revolution [kam, K. B.] aus der Perspektive derjenigen außerhalb Lateinamerikas, welche die sozialistischen Transformationen ermutigen wollten, […] zu einem günstigen Zeitpunkt und zu einem gefährlichen Moment für die internationalen Meister des Kapitalismus. Wenn Politiker in Moskau und Washington D.C. von ›Lateinamerika am Scheideweg‹ sprachen, beschrieben beide diese Realität und zeigten ihre eigene Einstellung, die Entwicklungen in der Region zu beeinflussen.« (Halperín Donghi 1993: 293)
Die Erwartungen an die Tschechoslowakei waren in den 1960er Jahren daher sehr hoch. Das Land sollte zu einem ›Eisbrecher‹ des sozialistischen Lagers in Lateinamerika werden (Bortlová 2011: 53) und mittels Kubas sollte der Rest Lateinamerikas durchdrungen werden. Aufbauend auf die bereits bestehende wirtschaftliche Zusammenarbeit verschwendete die Tschechoslowakei keine Zeit und Kuba wurde zum drittwichtigsten Handelspartner. Das Außenministerium startete zwei wichtige Missionen nach Lateinamerika, die zum Ziel hatten, einen positiven Eindruck der Tschechoslowakei zu hinterlassen, noch bevor die Länder jener Region in den Brennpunkt von Revolutionen kamen. Im Jahr 1960 reiste eine Delegation nach Uruguay, Brasilien, Peru, Kolumbien und Venezuela und 1961 erneut eine nach Brasilien und zusätzlich nach Mexiko, Ecuador, Chile und
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Bolivien (Bortlová 2011: 53). Diese politischen Missionen zeigen deutlich Prags neue außenpolitische Strategie in Bezug auf Lateinamerika, die im Jahr 1960 genehmigt und durch die Propaganda bekräftigt wurde. Neben den Printmedien kam es in den 1960er Jahren zu einem Boom der professionellen Dokumentarfilmproduktion über Lateinamerika. Der unter staatlicher Aufsicht geführte Betrieb Krátký film nahm hierbei eine sehr wichtige Rolle ein. Außerdem lässt sich innerhalb der Tschechoslowakei eine Verschiebung des Diskurses über die Region feststellen. Demnach kam in den 1960er Jahren zwei Ländern mehr Bedeutung als allen anderen zu: dem ›Neuling‹ Kuba und Brasilien als traditionellem Handelspartner der Tschechoslowakei.8 Kuba wurde zum wichtigsten Bezugspunkt der tschechoslowakischen Dokumentarfilmproduktion in den frühen 1960er Jahren, vor allem nachdem Castro im April 1961 erklärte, dass sich Kuba zu einem sozialistischen Land entwickeln sollte. Der erste Dokumentarfilm über Kuba mit dem Titel HAVANA (Havanna) aus dem Jahr 1961 stammte von Bruno Šefranka und wurde kurz nach der gescheiterten und von den USA gesponserten Invasion in der Schweinebucht (Playa Girón) im April jenes Jahres in einer angespannten Atmosphäre gedreht. Šefrankas Film zeigt einige der gefangenen Exilkubaner, die auf ihren Prozess warten. Diese werden nur flüchtig im Film dargestellt, so als ob sie die Vergangenheit Kubas symbolisierten, während anschließend Bauarbeiten von sozialen Wohnsiedlungen in Havanna gezeigt werden, welche die Zukunft Kubas versinnbildlichen sollen. Die hektischen Einkaufsstraßen im Zentrum Havannas sind hierbei offenbar noch nicht von den Mängeln betroffen, welche die Verstaatlichungen von Betrieben und des Einzelhandels bewirkten. Der Film ist ein inspirierendes Stück Propaganda, sowohl durch das, was gezeigt wird, als auch durch das, was unerwähnt bleibt, vor allem hinsichtlich der zentralen Rolle der tschechoslowakischen Waffen bei dem Sieg Kubas in der Schweinebucht.9 Im Anschluss an die diplomatischen Verstimmungen zwischen Kuba und den USA im Jahr 1961 verstärkten sich die Beziehungen zwischen Kuba und der Tschechoslowakei, in dessen Kontext die tschechoslowakische Botschaft in Washington zu Kubas offizieller Vertretung in den USA wurde.
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Siehe den Beitrag von Matyáš Pelant in diesem Band.
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Zu den Waffenlieferungen der Tschechoslowakei nach Kuba siehe den Beitrag von Albert Manke in diesem Band.
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Gemäß der politisch motivierten Zusammenarbeit auf kultureller Ebene entstanden weitere Dokumentarfilme über Kuba.10 Sie zeigten das Land als Modell des tropischen Sozialismus oder als ein neues touristisches Ziel für organisierte Reisen aus der Tschechoslowakei. Diese Thematiken greifen zum Beispiel die Filme OSTROV SLUNCE (Sonneninsel, 1964) von Jiří Papoušek oder HAVANAPRAHA (Havanna-Prag, 1962/63) von Růžička anschaulich auf. In Brasilien, einem der traditionellen Handelspartner der Tschechoslowakei in Lateinamerika, kam es in den frühen 1960er zu zahlreichen inneren Konflikten, die zum Teil durch die kubanische Revolution inspiriert worden waren. Neben der komplexen innenpolitischen Situation und der gesellschaftlichen Polarisierung betonte der noch amtierende Präsident Jânio Quadros Brasiliens Recht auf eine unabhängige Außenpolitik. Sein Nachfolger João Goulart (1961-1964) führte die begonnen Reformpolitik fort, in dem er das Wahlrecht ausweitete, Bauerngewerkschaften legalisierte und ein Programm zur Landverteilung verabschiedete. Mitten in dieser Reformperiode begannen nun die tschechoslowakischen Dokumentarfilmer11, ihren Fokus auf Brasilien zu legen. So drehte etwa der Regisseur Jaroslav Šikl einen Film über Brasiliens neue Hauptstadt (DVĚ MĚSTA; Zwei Städte, 1964). Der Film verglich das alte, aristokratische und legere Rio de Janeiro mit der ›Hauptstadt der Architekten‹, Brasília. Mit dem Bau wurde 1956 unter Präsident Juscelino Kubitschek begonnen, dessen tschechische Abstammung in dem Film überaschenderweise unerwähnt blieb. Die letzten Zeilen des Films lassen wenig Zweifel aufkommen, wo die Sympathien des Filmemachers lagen: Brasília sollte eine »Stadt [werden, K. B.], nicht von Christus, sondern durch die Menschen gesegnet«. Dies war eine Anspielung auf die ChristusStatue, die sich über Rio de Janeiro erhebt. Vom selben Regisseur und im Zuge der gleichen Reise entstand ein Essayfilm über den Amazonas mit dem Titel LIDÉ OD VELKÉ ŘEKY (Menschen an den Ufern des Großen Flusses, 1964), der das ›Leben der einfachen Menschen‹ im Regenwald zeigt. Auch nach der Machtübernahme der Militärs im März 1964 blieb Brasilien wichtigster Handelspartner der Tschechoslowakei in der Region. So wurde das Wasserkraftwerk in Bariri auf dem Fluss Tieté im Bundesstaat São Paulo mit
10 Tschechoslowakische Kredite und Know-how waren maßgeblich an der Konstruktion der kubanischen Filmlaboratorien sowie des Kubanischen Filminstituts (Instituto Cubano del Arte e Industria Cinematográficos, ICAIC) beteiligt (Bortlová 2011: 91). 11 Da in dieser Arbeit nur männliche Dokumentarfilmer betrachtet wurden, wird die weibliche Form weggelassen.
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Hilfe tschechoslowakischer Expertise gebaut sowie ein Staudamm zur Stromversorgung Brasílias (KILOWATTY Z TIETÉ, Kilowatt von Tieté, 1972).12 Die diplomatischen Beziehungen verbesserten sich ebenfalls und die tschechoslowakische Botschaft in Brasília erweiterte ihren Geschäftsbereich. Da die offizielle diplomatische Vertretung Kubas Brasilien nach dem Militärputsch verlassen musste, übernahm die Tschechoslowakei von nun an deren Aufgaben. Die Produktion von Dokumentarfilmen über Brasilien wurde in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre fortgesetzt, nun aber mit einem betont unpolitischen Charakter, wobei die repressiven Maßnahmen der brasilianischen Militärregierung unerwähnt bleiben. Der Film HRST KAMÍNKŮ Z BRAZÍLIE (Eine Handvoll Steine aus Brasilien, 1966) von Rudolf Krejčík etwa ist eine Art visuelle Collage von Schnappschüssen im Urlaubsstil von Rio de Janeiro, São Paulo und den Wasserfällen von Iguaçu. Der Film BUTANTAN aus dem Jahr 1966 zeigt das weltweit bekannte biomedizinische Forschungszentrum in São Paulo.
P ROPAGANDA VIS - À - VIS NEUER F REUNDE … UND F EINDE IN DEN 1970 ER J AHREN Die tschechoslowakische Dokumentarfilmproduktion über Lateinamerika in den 1970er Jahren spiegelt die innenpolitischen Veränderungen der Tschechoslowakei nach 1968 und die neuen außenpolitischen Rahmenbedingungen in Lateinamerika wider. Dies trifft insbesondere auf Salvador Allendes Chile (1970-1973) sowie auf die Militärregierung des reformorientierten Juan Velasco Alvarado (1968-1975) in Peru zu. Ironischerweise und zum Leidwesen vieler Sympathisantinnen und Sympathisanten Kubas in der Tschechoslowakei war Castro einer der ersten Staatsmänner, die 1968 öffentlich die Invasion der Tschechoslowakei durch Truppen des Warschauer Paktes rechtfertigten. Prags Außenpolitik gegenüber den lateinamerikanischen Partnern wurde zusehends von Moskau aus bestimmt und die Wiederherstellung einer orthodoxen kommunistischen Parteilinie beeinträchtigte genau jene tschechoslowakischen Dokumentarfilmer, die sich, wie Zikmund, in den Reformbewegungen des Prager Frühlings engagiert hatten. In Zikmunds Fall hatte sein politisches Auftreten Konsequenzen, da er seinen Beruf in den nächsten Jahren nur mehr unter Schwierigkeiten ausüben konnte, obwohl er zu den Ikonen des tschechoslowakischen Dokumentarfilms der vorangegangenen Jahrzehnte gehört hatte.
12 Gefilmt nach dem Abschluss der Bauarbeiten von Bariri.
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Während die Propaganda auf die politische Bedeutung der linken Bewegungen in Lateinamerika beharrte, zeigt sich, dass in den 1970er Jahren neben der Ideologie insbesondere die Wirtschaft zur Grundlage der gegenseitigen Beziehungen wurde, da Lateinamerika einen zentralen Absatzmarkt für tschechoslowakische Maschinen und andere Industrieprodukte darstellte. Diese pragmatische Haltung beeinflusste wiederum die Logik der nationalen Propaganda, was sich am Beispiel Argentiniens, dem drittwichtigsten Handelspartner der Tschechoslowakei nach Kuba und Brasilien, zeigen lässt. Die gewalttätigen Aktionen und Praktiken der argentinischen Militärjunta blieben auffallend unerwähnt, während das chilenische Militärregime ständig durch die tschechoslowakische Propaganda angegriffen wurde (Opatrný 2013). Nachdem Salvador Allende zum chilenischen Präsidenten gewählt worden war und mit der Restrukturierung der Gesellschaft nach sozialistischen Grundsätzen begonnen hatte, wurde Chile nach Kuba sehr bald der wichtigste politische Partner des sozialistischen Lagers in Lateinamerika (Zourek 2013). Dies bedeutete eine wesentliche Veränderung, da Chile zwischen 1947 und 1965 keine diplomatischen Beziehungen zur Tschechoslowakei unterhalten hatte. Kurz nachdem Allende sein Amt antrat, reiste Šikl nach Chile, um einen Dokumentarfilm zu drehen, den er VIVA CHILE (1971) nannte. Es ist ein Film ohne Kommentare und eine visuelle Collage des Landes und seiner ›Völker‹. Die Versuche, eine Landreform in Chile durchzuführen, waren das Hauptthema des Films MAJITELÉ (Eigentümer) von Miroslav Hladký aus dem Jahr 1973. Offenbar wurde der Film kurz vor dem Militärputsch Augusto Pinochets beendet und die Bilder des Verstorbenen Allende wahrscheinlich erst später aufgenommen. Der Film PŘEDEHRA (Ouvertüre, 1973) von Hladký hebt die Zusammenarbeit der Tschechoslowakei mit Allendes Chile ausdrucksvoll hervor. Nach dem 11. September 1973 war es den tschechoslowakischen Dokumentarfilmern nicht mehr möglich, in Chile zu drehen, vor allem nachdem die diplomatischen Beziehungen zwischen Prag und Santiago de Chile aus Protest gegen den Staatsstreich unterbrochen worden waren. Die Wirtschaftspolitik Prags hinsichtlich Chiles war dagegen von pragmatischerer Natur und der Handel zwischen den beiden Staaten wurde auch nach dem Putsch fortgesetzt. In Peru wurde in den frühen 1970er Jahren unter der Leitung der reformorientierten Militärregierung von Juan Velasco Alvarado eine soziale Revolution ›von oben‹ durchgeführt. Eine Agrarreform wurde neben einigen anderen Umverteilungsmaßnahmen angekündigt und der Staat erweiterte seinen Einfluss auf strategische Bereiche in der Wirtschaft, wie zum Beispiel auf die Erdölindustrie und
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die Fischerei. Tschechoslowakische Firmen stellten ihre Expertise bei großen Kraftwerksprojekten zu Verfügung, wie zum Beispiel am Río Mantaro und später auch in Pucallpa und an der Laguna Yarina. Die Propagandamaschinerie ließ auch hier nicht lange auf sich warten. Es gilt aber zu erwähnen, dass Peru in den 1970er Jahren für die meisten Tschechoslowakinnen und Tschechoslowaken ein weit entferntes Land blieb. Eine Ausnahme bildete die alpine Tragödie einer tschechoslowakischen Kletterexpedition, bei der, ausgelöst durch ein Erdbeben, in den peruanischen Anden im Jahr 1970 alle Teilnehmer und Teilnehmerinnen der Expedition ums Leben kamen. Mehrere Filme über Peru wurden unter der Leitung von Šikl produziert. Diese umfassten den Unterrichtsfilm PERU und LIDÉ BLÍZKO NEBE (Menschen nahe der Götter, beide aus dem Jahr 1975), wobei Letzterer die sozialen Veränderungen des Volksliedes El cóndor pasa in einem filmischen Essay (mit dem gleichen Titel) über das harte Leben der indigenen Völker rund um den Titicacasee zu erklären versuchte. Der vielleicht vollkommenste Film von Šikl ist ČEKÁNÍ NA LOĎ (Warten auf das Boot) aus dem Jahr 1976, der die Gesundheitskampagnen der peruanischen Regierung im Amazonas-Gebiet zeigt. Es sind Aufnahmen von Ärztinnen und Ärzten, die auf vom Militär zur Verfügung gestellten Booten Impfstoffe sowie medizinisches Material in den Dschungel und in abgelegene Dörfer transportieren (ČEKÁNÍ NA LOĎ sowie LIDÉ OD VELKÉ ŘEKY). Die tschechoslowakischen Dokumentarfilme widmeten sich in den 1970er Jahren auch Mexiko, das während der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Handelsbeziehungen sowie die vielfältigen politischen und kulturellen Kooperationen zur Tschechoslowakei aufrechterhalten hatte. Mexiko war der tschechoslowakischen Öffentlichkeit vor allem durch die Olympischen Spiele im Jahr 1968 in Mexiko-Stadt bekannt, die im Zuge wachsender innerer Spannungen und Proteste gegen die mexikanische Regierung abgehalten worden waren.13 Allerdings vermieden die tschechoslowakischen Regisseure jede Art von politischer Berichterstattung und konzentrierten sich auf die Darstellung der Traditionen und der Geschichte des Landes. Zu nennen ist etwa der Film ODSOUZENCI PRO NIKÉ (Sträflinge für Nike, 1970) von Šikl, der über die Misserfolge des tschechoslowakischen Teams bei der Fußball-Weltmeisterschaft in Mexiko berichtet oder Jan Špátas’ VELIKONOCE V MEXIKU (Ostern in Mexiko, 1971), der mexikanische Traditionen und Freizeitaktivitäten zeigt.
13 Ein soziales und kulturelles Bewusstsein über Mexiko wurde von einigen mexikanischen Spielfilmen transportiert, die in den tschechoslowakischen Kinos in den 1950er und 1960er Jahren gezeigt wurden, wie etwa der Film PUEBLERINA (1949).
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Im Jahr 1973 folgte der Film CIUDAD DE MÉXICO – DEN NEZÁVISLOSTI (Mexiko-Stadt – Der Unabhängigkeitstag) vom Regisseur Jiří Svoboda. Vladimír Skalskýs Filme MEXIKO (1977), ZEMĚ POD POPOKATEPETLEM (Land unter Popocatepetl, 1978) und MEXIKO (1978/1980, Regie zusammen mit Vrabec) sind auf ihre Art als Lehrfilme gedacht, da sie historische und geographische Kuriositäten Mexikos in den Mittelpunkt stellen. Kontroverse Themen, wie das Massaker an Studierenden auf dem Tlatelolco-Platz in Mexiko-Stadt im Jahr 1968 oder die beginnenden Aufstände in ländlichen Gebieten gegen die regierende Partei der Institutionellen Revolution (Partido Revolucionario Institucional), wurden von den tschechoslowakischen Dokumentarfilmern nicht thematisiert. In den 1970er Jahren boten zusätzlich die beiden öffentlich-rechtlichen Fernsehkanäle der Propaganda eine Plattform und auch das tschechoslowakische Fernsehen begann in jenem Jahrzehnt, Dokumentarfilme in Auftrag zu geben. Zwei Filme unter der Regie von Petr Polák sind Zeugnisse dieses neuen Phänomens. Zu nennen sind hier EXPEDICE COTOPAXI 72 (Expedition Cotopaxi 72) aus dem Jahr 1973, der die tschechoslowakisch-polnische Vulkanforschung zum Thema hat und ZA KOFÁNY, BAREVNÝMI INDIÁNY V PRALESÍCH RÍO NAPO (Besuch in Cofan, bunte Indigene Völker vom Río Napo) aus dem Jahr 1973, der die ethnographische Arbeit der gleichen Expedition im östlichen Teil des ecuadorianischen Regenwaldes dokumentiert. Zur Liste der Dokumentarfilme der 1970er Jahre über Lateinamerika gehören auch jene über Kuba, die ein außergewöhnlich hohes Maß an Aufmerksamkeit durch die tschechoslowakische Propaganda genossen, was nur dadurch erklärt werden kann, dass Kuba das einzige sozialistische Land in der westlichen Hemisphäre war.
D IE LETZTE D EKADE
DES
K ALTEN K RIEGES : N ICARAGUA
Das letzte Jahrzehnt des Kalten Krieges begann mit den Ereignissen in Nicaragua, wo im Jahr 1979 die jahrzehntelange Herrschaft der Somoza-Familie beendet wurde. Die sandinistische Regierung startete umfassende Landreformen sowie Alphabetisierungs- und Gesundheitskampagnen. Diese Entwicklungen wurden von der UdSSR, Kuba und den osteuropäischen Ländern als der lang ersehnte Erfolg des kubanischen Modells in der Region wahrgenommen und hatten zur Folge, dass die nicaraguanische Regierung unter Daniel Ortega finanziell unterstützt wurde. Die wirtschaftliche und technologische Hilfe der Tschechoslowakei orientierte sich an der breiten internationalen Hilfe für Nicaragua. Es lässt sich aber auch eine enge Zusammenarbeit zwischen den beiden Geheimdiensten fest-
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stellen. Zur gleichen Zeit war Nicaragua in der Lage, eine internationale Solidaritätsbewegung zu mobilisieren, die über die Ost-West-Teilung hinausging und Freiwillige aus aller Welt nach Nicaragua brachte, die bei der Kaffee- und Baumwollernte halfen.14 Die tschechoslowakische Propaganda stellte Nicaragua als ein Land dar, das sich im Befreiungsprozess von einer jahrzehntelangen korrupten und blutigen Diktatur befand, die von den USA unterstützt wurde, und das ein dringendes Bedürfnis nach ›brüderlicher‹ Hilfe und Zusammenarbeit besaß. Der Regisseur Vítězslav Bojanovský drehte im Jahr 1986 insgesamt drei Filme über Nicaragua: RAMA-KAY ist ein ethnographischer Dokumentarfilm über die Bewohner der Karibikinsel Rama Key. VULKÁN (Vulkan) zeigt die politischen und sozialen Veränderungen in Nicaragua aus der Sicht der kommunistischen Propaganda und NICARAGUA (ČFT 30/86) ist ein Beitrag, der für die tschechoslowakische Wochenschau (Československý filmový týdeník, ČFT) gedreht wurde, um die Öffentlichkeit über die politischen Entwicklung in Nicaragua zu informieren. Am Ende des Kalten Krieges unterhielt die Tschechoslowakei zu allen Ländern Lateinamerikas (mit der Ausnahme von Chile, Belize und einigen Inselstaaten der Karibik) diplomatische Beziehungen (Opatrný 2013). Im Jahr 1988 wurde von der kommunistischen Regierung der letzte strategische Plan zur gemeinsamen Zusammenarbeit zwischen der Tschechoslowakei und den Ländern Lateinamerikas ausgearbeitet, wobei Kuba und Nicaragua Sonderstellungen einnahmen. Argentinien, Brasilien, Uruguay und Mexiko wurden als traditionelle und stabile Partner der Tschechoslowakei bezeichnet. Obwohl weder Venezuela noch Ecuador zu den wichtigsten Verbündeten gehörten, stellte vor allem Venezuela einen wichtigen Absatzmarkt für die tschechoslowakischen Industrieprodukte dar. In den Filmen über Venezuela und Ecuador wurden vermehrt die Natur und deren Besonderheiten in den Fokus genommen. Zum Beispiel in Lubomír Jakeš’ MEZI CARACASEM A CANAIMOU (Zwischen Caracas und Canaima, 1986) und in OSTROV MARGARITA (Isla Margarita, 1986). Zu nennen sind in diesem Kontext noch Václav Dvořáks EKVÁDORSKÉ DĚTI (Kinder von Ecuador, 1982), QUITO, MĚSTO NA SOPCE (Quito, die Stadt auf dem Vulkan, 1983) und ŽELVÍ OSTROVY (Die Schildkröteninseln, 1983).
14 Siehe den Beitrag von Laurin Blecha in diesem Band.
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F ILMPROPAGANDA
ALS S PIEGEL DER DES KOMMUNISTISCHEN R EGIMES
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V ORSTELLUNGEN
In den tschechoslowakischen Dokumentarfilmen über Lateinamerika, die zwischen 1948 und 1989 produziert wurden, lassen sich mehrere Leitmotive und wiederkehrende Thematiken feststellten. Da die Filmindustrie streng vom Staat kontrolliert wurde, können die wiederkehrenden Leitmotive als diejenigen analysiert werden, die für die kommunistischen Behörden am geeignetsten erschienen. In diesem Zusammenhang wurde einerseits ein wünschenswertes Bild eines bestimmten lateinamerikanischen Landes konstruiert und ein für die Propaganda geeigneter Diskurs hergestellt. Dies sollte andererseits dazu dienen, die Unterstützung für bereits bestehende tschechoslowakische Kooperationen und Projekte in den einzelnen Ländern weiter auszubauen.15 Das war dort besonders wichtig, wo die ideologische Partnerschaft mehr bedeutete als mögliche wirtschaftliche Verluste auf Seiten der Tschechoslowakei, wie etwa im Fall Kubas und später Nicaraguas. Die Dokumentarfilme werden dementsprechend als Spiegel der Vorstellungen des tschechoslowakischen und des sowjetischen Regimes behandelt, was deren wahrgenommene Rolle und Aufgabe in Lateinamerika betrifft. Anstatt sie als Abfolge ›realer‹ Ereignisse zu verstehen, werden sie als kultureller Text gelesen und wie Baker meint: »Da Bilder, Klänge, Objekte und Praktiken Zeichensysteme sind, die den gleichen Mechanismus bezeichnen wie Sprache, dürfen wir uns als kulturelle Texte auf sie beziehen« (Baker 2000: 11). Die Leitmotive der Filme werden mit Hilfe der semiotischen Analyse erkennbar gemacht und analysiert, wie dies von Roland Barthes, Clifford Geertz und Yuri Lotman vorgeschlagen wurde.16 Dementsprechend ist die Propaganda im Film nicht nur in der Lage, die Realität abzubilden, sondern – und dies ist entscheidende – sie auch zu manipulieren. Gemäß Marc Ferro können wir dies daher als ein historisches Phänomen betrachten, die zugleich aber eine parallele Geschichte erzählt. Die Leitmotive können wie folgt charakterisiert werden: Erstens: die negative Rolle der USA in Lateinamerika. Hierbei werden die USA und ihre wirtschaftlichen, ideologischen und außenpolitischen Interessen in der Region in den tschechoslowakischen Dokumentarfilmen scharf kritisiert. Der Propagandalogik des Kalten Krieges folgend werden die USA stets mit Gewalt, ihrer Vormachtstellung und dem Mangel an Legalität in Verbindung gebracht. So äußerten Hanzelka und Zikmund in den frühen 1950er Jahren ihre Empörung
15 Für einen Vergleich siehe die Analyse der Propaganda in Bezug zu Kuba (1959-62) in Bortlová (2011: 154-165). 16 Barthes (1967); Barthes (1972); Geertz (1997); Lotman (2001).
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darüber, dass sie Straßen, die sich im Privatbesitz der United Fruit Company befanden, nicht benutzen konnten und betonten, dass dies verfassungswidrig sei: »In den Bananenrepubliken Zentralamerikas wiegt ein Wort des Direktors dieses Unternehmens mehr als die Verfassung« (Z ARGENTINY DO MEXIKA). Jede Form von Antiamerikanismus wurde daher unterstützt. Als die peruanische Regierung unter Juan Velasco Alvarado versuchte, die Abhängigkeit Perus von den USA zu durchbrechen, wurde dies von der tschechoslowakischen Propaganda aufgegriffen und die peruanische Militärregierung positiv in Szene gesetzt (EL CONDOR PASA, Der Condor zieht vorüber). Auch die gescheiterte Invasion in der Schweinbucht auf Kuba bot reichlich Material für die Propaganda. Die Audiokommentare im Film HAVANA, wie »Kuba hat Feinde mit Sprengstoff made in USA [sic]« (HAVANA) werden visuell mit Bildern von Haifischen begleitet. Einige der von den USA ausgebildeten Exilkubaner »wollten ihren Weg zurück in die verstaatlichte Zementmühle schießen, die im Besitz ihres Vaters gewesen war« (ebd.). In diesem Film heißt es, dass die US-Blockade gegen Kuba ein Mittel darstellt, um die Nahrungsmittelknappheit auf der Insel der Freiheit zu forcieren, was aber nicht geschehen sollte, da die »neue Landwirtschaft die Monokultur überwinde und nun alles produziere« (ebd.). Bemerkenswert ist, dass gleichzeitig Kommentare und Anmerkungen zur Kubakrise von den Filmemachern vollständig weggelassen wurden. Dies stellt einen bemerkenswerten Kontrast im Vergleich zur Präsenz der Kubakrise in den Printmedien dar (Špaňár 1996: 57-81; Bortlová 2011: 165). Zweitens werden die spanische Eroberung Lateinamerikas und vor allem das kulturelle Erbe des Katholizismus in negativen, rückwärtsgewandten und manipulativen Begriffen dargestellt, was die antireligiöse Haltung des kommunistischen Regimes in der Tschechoslowakei zum Ausdruck bringt. Die Spanier werden als Repräsentanten eines grausamen Kolonialsystems dargestellt: »[...] grausame Tötungen durch jene, die dem weißen Indianergott ähnelten« (EL CONDOR PASA), jene, die sich selbst auf Kosten der Eroberten bereicherten. »Peruanisches Gold bezahlte den Bau von Madrid, die Kriegsflotte und London« (ebd.), während indigene Jugendliche in den Minen ausgebeutet wurden. Francisco Pizarro wird als ›unkultivierter Wilder‹ dargestellt, als Repräsentant »europäischer, spanischer Eroberer, die mit ihren eigenen Händen […] Kulturen und Nationen erwürgten« (Z ARGENTINY DO MEXIKA). Die Kirche wird durch »ihre Königlichen Hoheiten« (ebd.) symbolhaft dargestellt, die die Bevölkerung steuerten. Die kommunistische Propaganda im 20. Jahrhundert gibt hier die so genannte ›Schwarze Legende‹ (leyenda negra) wieder, die bereits Jahrhunderte zuvor in
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der elisabethanischen Zeit benutzt wurde.17 Die Religion wird so dargestellt, als ob sie ihre exklusive Position in der Bevölkerung nach und nach zu verlieren schiene, obwohl es in Nicaragua »immer noch einen deutlichen Lärm vom Altar gibt« (VULKÁN). Das Gleiche gilt für Brasilien. Die neue Hauptstadt wird als »Stadt, die nicht von Jesus Christus, sondern von einem Mann gesegnet ist« (DVĔ MĔSTA) bezeichnet, was eine Referenz auf die Christus-Statue über der ehemaligen Hauptstadt Rio de Janeiro ist. Im zukunftsorientierten und modernen Brasília wurde die Kathedrale von Architekten erbaut, die sich vom Marxismus inspirieren ließen. Drittens werden der indigenen Vergangenheit und Gegenwart große Aufmerksamkeit seitens der tschechoslowakischen Filmemacher zuteil. Beginnend mit Hanzelkas und Zikmunds Schilderung der Shuar in den frühen 1950er Jahren bis hin zu den ethnographischen Bilder über die Cofan (beide in Ecuador) zwanzig Jahre später werden die Indigenen Lateinamerikas zwar sympathisch dargestellt, letztlich aber als exotische Relikte der Vergangenheit. Die Fortschritte der Zivilisation erreichen sie dennoch, was unter anderem durch das Militärboot symbolisiert wird, das in den peruanischen Dschungel eindringt und medizinisches Personal und Impfstoffe zu den Indigenen transportiert (ČEKÁNÍ NA LOĎ sowie LIDÉ OD VELKÉ ŘEKY). Die tote und verstummte mexikanische Geschichte scheint eine Zukunft zu besitzen, obwohl sie »in den Blutströmen ertränkt wurde, die von den Waffen der spanischen Eroberer herabtrieften« (Z ARGENTINY DO MEXIKA). Eine optimistische und multi-ethnische mexikanische Jugend, die »Erben der Gewinner und Verlierer« (ebd.), wird beim Erklimmen einer Pyramide gezeigt: »Kleine Indianer neben weißen Jungen und Mestizen« (ebd.). Die Ramas, eine indigene Bevölkerungsgruppe Nicaraguas, können dank des Sieges der Sandinistinnen und Sandinsten »zum ersten Mal seit dem unmenschlichen Somoza-Regime so leben, wie sie es wünschen« (RAMA-KAY). In PERU 87 [NAŠE STOPY V PERU] (Peru 87 [Unsere Spuren in Peru]) werden die Indigenen des peruanischen Hochlandes mit Bildern des Kraftwerkbaus am Río Mantaro in Kontrast gesetzt und der Film suggeriert damit, dass der Fortschritt nicht aufzuhalten sei. In der ansonsten positiven Darstellung der Indigenen finden sich auch kritische Bemerkungen, besonders im Hinblick auf Glaubensvorstellungen. Ähnlich wie die Angriffe gegen den Katholizismus erklären Hanzelka und Zikmund, diskursiv betrachtet, die Tradition der Schrumpfköpfe bei den Shuar als Folge der Manipulation durch ihren geistigen Anführer: »Sie werden von ihren Schamanen manipuliert. Sie, die unbestrittenen Herren der Shuar, sind die wahren Urheber der Morde, bis heute« (Z ARGENTINY DO MEXIKA).
17 Zur Schwarzen Legende siehe auch den Beitrag von Markéta Křížová in diesem Band.
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Viertens wird in den Filmen besonders hervorgehoben, dass das zeitgenössische Lateinamerika eine Region mit scharfen sozialen Ungleichheiten sei, die von gerechteren Regierungen beseitigt werden könne. Der Mangel einer allgemeinen Gesundheitsversorgung in den späten 1940er Jahren, von der Hanzelka und Zikmund anhand eines Besuches in einer Lepra-Kolonie in Paraguay berichten, bestimmte sehr früh die offizielle Perspektive der Tschechoslowakei auf Lateinamerika: »Sie können sich ihr eigenes Leben nicht kaufen und somit warten sie auf den Tod. Wir dürfen nicht vergessen, dass die kultivierten Nationen [...] die Pflicht haben, den Menschen von Santa Isabel wieder das Leben zurückzugeben« (ebd.). Die meisten Dokumentarfilme zeigen die Armut in den lateinamerikanischen urbanen Stadtvierteln oder auf dem Land, im Kontrast zu den luxuriösen Bauten. Gezeigt werden zum Beispiel die Favelas von Rio de Janeiro und der Stadtrand von São Paulo, wo die Arbeiterklasse wohnt, denen es an Wasser und Strom mangelt, während die Dachterrassen der Hochhäuser mit Schwimmbecken protzen (Z ARGENTINY DO MEXIKA, PERU 87, PŘEDEHRA und ECUADOR, ZEMĚ NA ROVNÍKU). Es gibt aber Ausnahmen hinsichtlich jener Armuts- und Ungerechtigkeitsmotive: Zu Kuba wird der Bau sozialistischer Wohnsiedlungen gezeigt (HAVANA), im modernen Brasília sind »Schwimmbäder eine Tatsache» (DVĚ MĚSTA) und in Allendes Chile und Velasco Alvarados Peru werden für Arbeiterinnen und Arbeiter moderne Wohnungen gebaut (VIVA CHILE und EL CONDOR PASA). Die Landreformen versprachen die Einführung fairer Bedingungen in der Landschaft (PŘEDEHRA); gleichzeitig wird der Analphabetismus nach dem Sieg der Sandinistinnen und Sandinisten in Nicaragua bekämpft, was unter dem Motto »die Revolution brachte den Kindern das Lesen und Schreiben bei« (RAMA-KAY) einen »Schritt in Richtung einer besseren Gesellschaft« bedeutete (ebd.). Während die positive Darstellung von Kuba und Allendes Chile weniger überraschend erscheint, ist es interessant, dass das Militärregime in Peru in der tschechoslowakischen Propaganda positiv dargestellt wird. Es scheint so, als ob eine Linie zwischen den ›guten‹ und ›schlechten‹ Militärregimen in Lateinamerika gezogen wird. »Soldaten, die einen Eid auf die Revolution schwören« (EL CONDOR PASA) werden als Modernisierer des Landes gesehen, als »Vorboten der neuen Ära« (ebd.), die zum ersten Mal in der Geschichte mit Ärztinnen und Ärzten sowie Impfstoffen den Amazonas an Bord eines Militärboots durchdringen. Diese Revolutionäre sind positive Heldinnen und Helden, die »der mythische Kondor sein [wollen, L. B.], der die peruanische Revolution bewacht« (ebd.). Sie stellen das Gegenteil der negativen Figuren der Geschichte dar, also der spanischen und kreolischen Soldaten, die Lateinamerika jahrhundertelang kontrolliert hatten.
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Schließlich werden Lateinamerikas »bessere Gesellschaften der Zukunft« (DVĚ MĚSTA) von der tschechoslowakischen Filmpropaganda als ethnische Demokratien (racial democracies) gezeigt. Einige der Filme bestreiten sogar ausdrücklich die Existenz rassistisch oder ethnisch inspirierter Ungleichheiten (Z ARGENTINY DO MEXIKA oder DVĚ MĚSTA). Wie Šikl über Brasilien behauptet: »Es gibt hier keine Bedenken hinsichtlich der Rassen. Du triffst Indianer, Schwarze und Weiße« (ebd.). Das fünfte Thema ist die tschechoslowakische Zusammenarbeit mit den lateinamerikanischen Ländern. Die Dokumentarfilme zeigen unterschiedliche Arten von Kooperationen mit der Region, z.B. geologische Forschungen (ČESKOSLOVENŠTÍ GEOLOGOVÉ NA KUBĚ, Tschechoslowakische Geologen in Kuba; EXPEDICE COTOPAXI 72 und EXPEDICE ECUADOR, Expedition Ecuador), Kraftwerksprojekte (PERUÁNSKÉ POSTŘEHY, Peruanische Beobachtungen; KILOWATTY Z TIETÉ), den Bau von Industrieanlagen (STAVBA LIHOVARU V ARGENTINĚ), bis hin zum Export von Maschinen und Industriegütern (ČESKOSLOVENSKÉ MOTOCYKLY V GUATEMALE und PERU 87). Die technologischen Fortschritte der Tschechoslowakei werden hierbei mit überschwänglichen Begriffen ausgeschmückt und als Repräsentation der Moderne und der Zivilisation präsentiert. Das Bild der Industriemacht wird von der tschechoslowakischen Propaganda in diesen vier Jahrzehnten konsequent verstärkt. So reisen die ›Ingenieure‹ Hanzelka und Zikmund mit ihrem Tatra durch Lateinamerika; später sieht man tschechoslowakische Ingenieure beim Aufbau von Kraftwerken sowie bei der Überwindung natürlicher Hindernisse, mit Hilfe der modernsten Technologien. »Bariri war nicht das Ende. Es war der Beginn der Invasion von tschechischen Turbinen nach Brasilien« (KILOWATTY Z TIETÉ). Ein Aspekt der tschechoslowakischen Zusammenarbeit mit der Region wurde stets in der Filmpropaganda vermieden: die tschechoslowakischen Waffenlieferungen nach Lateinamerika. Neben der technologischen Zusammenarbeit dokumentieren einige der Filme auch die diplomatischen und kulturellen Beziehungen, wie zum Beispiel die Weltjugendspiele 1978 in Havanna (MLÁDÍ SVĚTA V HAVANĚ, Die Jugend der Welt in Havanna) einen Besuch einer tschechoslowakischen Delegation in mehreren Ländern Lateinamerikas (POD JIHOAMERICKÝM NEBEM, Unter dem südamerikanischen Himmel, 1976) und die Tour des Musikensembles der tschechoslowakischen Streitkräfte nach Kuba (HAVANA-PRAHA). Sechstens wird die imaginäre Reise an exotische Orte thematisiert. Die Ergebnisse aus der Archivforschung zeigen, dass ein großer Teil der tschechoslowakischen Dokumentarfilme über Lateinamerika den Fokus auf die Natur und auf die kulturellen Schönheiten Lateinamerikas und seiner Menschen legte. Dies geschah trotz der offiziellen Ablehnung von Unterhaltungsfilmen in der Kultur-
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politik, die besonders in den ersten Jahrzehnten der kommunistischen Herrschaft sehr ausgeprägt war. Manche Filme bieten gewissermaßen eine visuelle Tour zu den wichtigsten Sehenswürdigkeiten und Festtagen an (VELIKONOCE V MEXIKU; Z ARGENTINY DO MEXIKA, HRST KAMÍNKŮ Z BRAZÍLIE; PO STOPÁCH STARÝCH MAYŮ, Auf der Spur der alten Maya, 1973; QUITO, MĚSTO NA SOPCE, BÝČÍ ZÁPASY oder CESTA ZA ZTRACENÝM MĚSTEM, Auf der Suche einer verlorenen Stadt, 1982). Auch die lateinamerikanische Flora und Fauna wird bewundert (OSTROVY MILIONŮ PTÁKŮ und ŽELVÍ OSTROVY) und vor allem der einzigartige Lebensraum des Amazonas (LIDÉ OD VELKÉ ŘEKY, Z ARGENTINY DO MEXIKA, LOVCI LEBEK und ZA KOFÁNY, BAREVNÝMI INDIÁNY V PRALESÍCH RÍO NAPO). Obwohl diese als ›Lehrfilme‹ konzipiert waren und immer auch einige Aspekte der kommunistischen Ideologie enthielten, erfüllten jene Filme auch den Zweck, optisch ansprechende Unterhaltung für das tschechoslowakische Publikum zu bieten, dem das Reisen jenseits der sozialistischen Länder verboten war. Schließlich ist es (siebtens) wichtig, jene Themen zu nennen, die durch ihre Abwesenheit auffallen. Der erste Aspekt, der von der Propaganda nicht erwähnt wurde, waren die tschechoslowakischen Waffenlieferungen nach Lateinamerika. Zweitens lassen sich auch keine Bemerkungen hinsichtlich der Kubakrise im Jahr 1962 feststellen. Drittens ist der selektive Charakter der Propaganda aus der Tatsache ersichtlich, dass kein Wort über das brutale Militärregime in Argentinien fiel, da Argentinien ein wichtiger Handelspartner war. In den 1970er oder 1980er Jahren wurde kein einziger Dokumentarfilm über Argentinien produziert. Eine ähnliche Strategie verfolgte man auch im Bezug zum wichtigsten Handelspartner Brasilien, wo ab 1964 eine repressive Militärregierung regierte. Dieses bewusste Schweigen stand im krassen Gegensatz zu der äußerst kritischen Darstellung des Pinochet Regimes in Chile.18 Zu den weiteren verschwiegenen Themen gehörten auch die tschechoslowakischen Auswanderinnen und Auswanderer, die nach Lateinamerika ins Exil gingen. Diese werden in den Filmen ignoriert, mit der einzigen Ausnahme von Hanzelkas und Zikmunds Schilderungen aus den frühen 1950er Jahren (Z ARGENTINY DO MEXIKA).
18 General Augusto Pinochet wurde von der kommunistischen Propaganda als Inbegriff der Grausamkeiten der lateinamerikanischen Militärdiktaturen dargestellt (Opatrný 2013; Zourek 2013).
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Die traditionelle Geschichtsschreibung beschreibt die Ereignisse des Kalten Krieges in Lateinamerika als direktes Resultat der Rivalitäten zwischen den USA und der Sowjetunion. Jedoch zeigt die Auseinandersetzung mit neu erschlossenem Archivmaterial, dass es auch eines Perspektivenwechsels bedarf, besonders hinsichtlich vermeintlich ›kleiner‹ Akteure wie der Tschechoslowakei. Dies könnte dazu beitragen, die Geschichte des Kalten Krieges in Lateinamerika facettenreicher darzustellen. Die tschechoslowakischen Dokumentarfilme zwischen 1948 und 1989 geben die imaginäre Selbstdarstellung der Tschechoslowakei in ihrer politischen und wirtschaftlichen Rolle in Lateinamerika zur Zeit des Kalten Krieges wieder. Sie dienten der Propaganda, um die außenpolitischen Ziele des kommunistischen Regimes in der Öffentlichkeit zu legitimieren. Dies wurde dadurch erreicht, dass ein passender Diskurs hergestellt wurde, der die gesellschaftlichen und politischen Entwicklungen in Lateinamerika hervorhob und gleichzeitig die besondere Rolle der Tschechoslowakei in diesen Prozessen betonte. Die Analyse zeigt, dass die untersuchten Dokumentarfilme eine Reihe wiederkehrender Motive verwendeten, die die Wirklichkeit manipulierten, indem Fakten entweder erwähnt oder wegelassen wurden. In Marc Ferros Worten ausgedrückt schufen sie eine Parallelgeschichte über die Mission der Tschechoslowakei in Lateinamerika zur Zeit des Kalten Krieges. Zwischen 1948 und 1958 wurde Lateinamerika in den tschechoslowakischen Dokumentarfilmen als exotischer Ort dargestellt, der unter der ökonomischen und ideologischen Vorherrschaft der USA zu leiden hatte. Obwohl Hanzelkas und Zikmunds Dokumentarfilme in ähnlicher Weise wie Roadmovies konzipiert waren, zeigen die Kommentare in den Filmen die Logik des Kalten Krieges und standen im engen Kontext mit der Radikalisierung des politischen Diskurses in der Tschechoslowakei nach 1948. Die Machtübernahme Fidel Castros und der Aufschwung der professionellen Dokumentarfilmproduktion über Lateinamerika verliefen parallel zur steigenden Bedeutung Kubas für den Ostblock sowie der neuen Rolle der Tschechoslowakei als ›Eisbrecher‹ des sozialistischen Lagers in Lateinamerika. Diese Forschungsarbeit belegt somit die Verbindung zwischen außenpolitischen Maßnahmen und der Dokumentarfilmproduktion. Neben Kuba konzentrierte sich die Propaganda in den Dokumentarfilmen auf andere wichtige Verbündete in der Region; in den frühen 1970er Jahren in erster Linie auf Brasilien, Mexiko, Chile sowie Peru und in den letzten zehn Jahren der kommunistischen Herrschaft auch auf Nicaragua. Die semiotische Analyse dieser Filme zeigt die Pragmatik der tschechoslowakischen Propaganda, wie z.B. die spezielle Darstellung der Militärregimes in Südamerika veranschaulicht.
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Abschließend ist zu sagen, dass die tschechoslowakischen Dokumentarfilme über Lateinamerika in der kommunistischen Tschechoslowakei zwischen 1948 und 1989 eine doppelte Funktion einnahmen. Einerseits indoktrinierten sie das Publikum gemäß der offiziellen kultur- und außenpolitischen Linie. Andererseits aber boten sie auch eine für die Öffentlichkeit optisch ansprechende Unterhaltung und die zumindest imaginäre Möglichkeit, fast überallhin reisen zu können. Was der laute propagandistische Jubel über die ›Invasion‹ tschechoslowakischer Turbinen in Lateinamerika jedoch häufig verschleiert, waren die ideologischen und militärischen Kooperationen mit Lateinamerika.
A RCHIVQUELLEN AZMV – Archiv Ministerstva zahraničních věcí České republiky (Archiv des Tschechischen Außenministeriums), Prag APF – Archiv a programové fondy Česká televize (Tschechisches Fernseharchiv), Prag KFP – Krátký film Praha, a.s. (Kurzfilmarchiv), Prag NFA – Národní filmový archiv (Nationales Filmarchiv), Prag
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F ILMVERZEICHNIS BUTANTAN (1966) (ČSR, R: Rudolf Krejčík) BÝCÍ ZÁPASY (1955) (ČSR, R: Jaroslav Novotný) ČEKÁNÍ NA LOĎ (1976) (ČSR, R: Jaroslav Šikl) ČESKOSLOVENSKÉ MOTOCYKLY V GUATEMALE (1952) (ČSR, R: Jaroslav Novotný) ČESKOSLOVENŠTÍ GEOLOGOVÉ NA KUBĚ (1976) (ČSR, R: Jan Jelínek) CESTA ZA ZTRACENÝM MĚSTEM (1982) (ČSR, R: Jaromír Král) CIUDAD DE MÉXICO – DEN NEZÁVISLOSTI (1973) (ČSR, R: Jiří Svoboda) DVĔ MĔSTA (1964) (ČSR, R: Jaroslav Šikl) ECUADOR, ZEMĚ NA ROVNÍKU (ECUADOR) (1973) (ČSR, R: Petr Polák) EKVÁDORSKÉ DĔTI (1982) (ČSR, R: Václav Dvořák) EL CONDOR PASA (1975) (ČSR, R: Jaroslav Šikl)
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EXPEDICE COTOPAXI 72 (1973) (ČSR, R: Petr Polák) EXPEDICE ECUADOR (1982) (ČSR, R: Václav Dvořák) HAVANA (1961) (ČSR, R: Bruno Šefranka) HAVANA-PRAHA (1962/63) (ČSR, R: Jiří Růžička) HRST KAMÍNKŮ Z BRAZÍLIE (1966) (ČSR, R: Rudolf Krejčík) KILOWATTY Z TIETÉ (1972) (R: ČSR, František Arlet; echter Name: Bohumil Pavlinec) LIDÉ BLÍZKO NEBE (1975) (ČSR, R: Jaroslav Šikl) LIDÉ OD VELKÉ ŘEKY (1964) (ČSR, R: Jaroslav Šikl) LOVCI LEBEK (1953) (ČSR, R: Jaroslav Novotný) MAJTELÉ (1973) (ČSR, R: Miroslav Hladký) MEXIKO (1977) (ČSR, R: Vladimír Skalský) MEXIKO (1978/1980) (ČSR, R: Vladimír Skalský) MEZI CARACASEM A CANAIMOU (1986) (ČSR, R: Lubomír Jakeš) MLÁDÍ SVĚTA V HAVANĚ (1978) (ČSR, R: Alexandr Petrželka) NICARAGUE (ČFT 30/86) (1986) (ČSR, R: Vítězslav Bojanovský) ODSOUZENCI PRO NIKÉ (1970) (ČSR, R: Jaroslav Šikl) OSTROV MARGARITA (1986) ČSR, R: Lubomír Jakeš) OSTROVY MILIONŮ PTÁKŮ (1952) (ČSR, R: Jaroslav Novotný) OSTROV SLUNCE (1964) (ČSR, R: Jiří Papoušek) PERU (1975) (ČSR, R: Jaroslav Šikl) PERU 87 [NAŠE STOPY V PERU] (1987) (ČSR, R: Josef Tůma) PERUÁNSKÉ POSTŘEHY (1976) (ČSR, o. R.) PO STOPÁCH STARÝCH MAYŮ (1973) (ČSR, R: Jaroslav Šikl) POD JIHOAMERICKÝM NEBEM (1976) (ČSR, o. R.) PŘEDEHRA (1973) (ČSR, R: Miroslav Hladký) PUEBLERINA (1949) (MEX, R: Emilio Fernández) QUITO, MĔSTO NA SOPCE (1983) (ČSR, R: Václav Dvořák) RAMA-KAY (1986) (ČSR, R: Vítězslav Bojanovský) STAVBA LIHOVARU V ARGENTINĚ (1952) (ČSR, R: Jaroslav Novotný) VELIKONOCE V MEXIKU (1971) (ČSR, R: Jan Špátas) VIVA CHILE (1971) (ČSR, R: Jaroslav Šikl) VULKÁN (1986) (ČSR, R: Vítězslav Bojanovský) Z ARGENTINY DO MEXIKA (1953) (ČSR, R: Jaroslav Novotný) ZA KOFÁNY, BAREVNÝMI INDIÁNY V PRALESÍCH RÍO NAPO (1973) (ČSR, R: Petr Polák) ŽELVÍ OSTROVY (1983) (ČSR, R: Václav Dvořák) ZEMĔ POD POPOKATEPETLEM (1978) (ČSR, R: Vladimír Skalský)
Schlussbetrachtungen A LBERT M ANKE , K ATEŘINA B ŘEZINOVÁ UND H OLGER M. M EDING
Der große direkte Schlagabtausch der Supermächte im Kalten Krieg – zumeist angstvoll befürchtet, zuweilen aber auch sehnlichst erhofft – hat nicht stattgefunden. Die Realpolitik hielt den periodisch hochkochenden Konfrontationskräften stand oder leitete sie in die Peripherie ab. Gleichwohl fanden so abseits der waffenstarrenden Militärblöcke durchaus erschütternde Auseinandersetzungen statt, zwischen den Staaten wie innerhalb der Staaten und ihrer Gesellschaften. Lateinamerika ist ein Beispiel für diese inneren Zerreißproben, die in ihren Verläufen und Auswirkungen zu einem Trauma ganzer Generationen wurden. Das Ende dieses Kalten Krieges vor gut einem Vierteljahrhundert mag daher zu Recht als eine Zäsur weltgeschichtlichen Ausmaßes begriffen werden. Dieser Einschnitt bietet die Chance für eine umfassende Neubewertung. Wie Bernd Greiner in seinem Vorwort bereits anregte, gilt es, Ereignisse, Prozesse und Strukturen der Zeitphase zwischen 1945 und 1991 neu zu vermessen. Historikerinnen und Historiker haben früh begonnen, diese Chance zu nutzen. Zwei Umstände kamen ihnen dabei zugute: zum einen beeinflusste der Wandel der politischen Globallage auch die Wissenschaft und die festgefahrenen, vielfach ideologisch motivierten Sichtweisen wichen ergebnisoffenen pragmatischen Ansätzen. Dadurch wandelte sich auch der Ton der Debatte: Man argumentierte nicht mehr von den Höhen einer unilateralen moralischen Überlegenheit herab, die sich teils noch bis in die Schriften von John L. Gaddis fortsetzt. Zum anderen brachte das Ende des Kalten Krieges auch für die Forschung eine Friedensdividende: Archive, die lange als unzugänglich galten, wurden geöffnet und Zeitzeuginnen wie Zeitzeugen konnten freier sprechen als je zuvor. Besonders zu den kleineren Staaten Osteuropas und Lateinamerikas sind dabei zwei aufschlussreiche Quellengattung hinzugetreten: Geheimdienstberichte und interne Dokumente von Regierungen und deren Parteien. Der Zusammen-
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bruch der kommunistisch ausgerichteten Staaten Osteuropas sowie das Ende rechtsgerichteter Diktaturen Lateinamerikas und ihrer jeweiligen machtvollen Sicherheitsapparate führten auch dazu, dass in vielen Fällen nachrichtendienstliche und geheimpolizeiliche Bestände offengelegt wurden. Obgleich im Vorfeld Unterlagen vernichtet wurden und die Freigabe zuweilen auch keinen absoluten Charakter besaß, erhielten Historikerinnen und Historiker nun Einblicke in sensible Vorgänge, die im Falle der ›alten‹ westlichen Demokratien weiterhin gar nicht oder nur sehr eingeschränkt möglich sind. In Osteuropa ist der Zugang zu ehemals verschlossenen Archiven meist Teil einer revisionistischen Vergangenheitsaufarbeitung, welche nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion von den neuen, meist antikommunistisch eingestellten Regierungen, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aktiv betrieben wird.1 Diese begrüßenswerte Transparenz bringt allerdings in ihrer unilateralen Form eine voreingenommene Sichtweise mit sich, was in der Wissenschaft auf die Beziehungen der kommunistischen Länder zu Lateinamerika projiziert wird: Während der Einfluss des Kommunismus auf Lateinamerika im Kalten Krieg generell als negativ beurteilt wird, gilt dies für den hegemonialen Einfluss der USA in jener Weltregion nur begrenzt – obgleich es in der westeuropäischen und lateinamerikanischen Lateinamerikaforschung als etabliert gilt, dass er einer demokratischen und eigenständigen Entwicklung zahlreicher lateinamerikanischer Staaten und Gesellschaften entgegenwirkte. In Lateinamerika, wo die Ära der Militärdiktaturen meist schon in den 1980er Jahren endete, hat das stete Drängen von Öffentlichkeit, Justiz und Wissenschaft in der Folge zu Freigabeimpulsen von Dokumenten geführt, besonders spektakulär im Falle der ›Operation Condor‹. Dieses Netzwerk südamerikanischer Geheimdienste und Repressionsapparate konnte in seinen wesentlichen Strukturen aufgedeckt werden und wurde 2016 von einem argentinischen Gericht als suprastaatliche kriminelle Organisation eingestuft und abgeurteilt. Gerade im Cono Sur war es – ähnlich wie in der BRD ab den 1970er Jahren (Manke 2014) – primär die Mobilisierung in der Zivilgesellschaft, welche (teils) zur Aufhebung von Amnestiegesetzen, zu einem kritischen Umgang mit der eigenen Geschichte und zu gerichtlichen Untersuchungen gegen Täterinnen und Täter der damaligen Militärregimes führten. Doch die ideologischen Paradigmen des Kal-
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Eine der reflektierteren Publikationen ergab sich aus der Zusammenarbeit von Kamer und Smetana (2013). Im Falle der ehemaligen Sowjetunion war die zeitweilige Öffnung der Archive eher durch den Willen zu mehr Transparenz bedingt, den einige Mitgliedstaaten der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (darunter am prominentesten Russland) teilten.
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ten Krieges (hier v.a. der Antikommunismus) sind im Gegensatz zur Entwicklung in Osteuropa in vielen Ländern Lateinamerikas nur in begrenztem Maße infrage gestellt worden. Ein Grund hierfür ist sicherlich, dass die USA sich als Siegermacht des Kalten Krieges verstehen und ihre grundsätzliche hegemoniale Rolle in Lateinamerika in jenem Zeitraum insgesamt positiv interpretieren (was kritische US-amerikanische Beobachter wie Noam Chomsky (1999) anprangern). Ein weiterer Grund ist die Fortdauer gesellschaftlicher Strukturen, die sich aufgrund des meist sanften Endes der Diktaturen nur langsam verändern. Kontrastierende Perspektiven aus Forschungstraditionen Ost-, Zentral- und Westeuropas sowie Lateinamerikas wurden im vorliegenden Sammelband bewusst zusammengebracht, um der Bandbreite der Lateinamerikaforschung gerecht zu werden und so einen Beitrag zur Erforschung des Kalten Krieges zu leisten. Wie oben skizziert, ging einerseits die Abwendung von der kommunistischen Ideologie in vielen Kleinstaaten Osteuropa häufig mit einer Hinwendung zu den USA und ›westlichen Werten‹ einher, was sich sowohl auf die Forschung als auch auf die postkommunistische Außenpolitik auswirkte und weiterhin auswirkt. Andererseits haben der Zusammenbruch der Sowjetunion und die Öffnung von Archiven in der teils ›linksromantisch‹ geprägten Geschichtsschreibung in Westeuropa und den USA zu Lateinamerika zu einem gewissen Umdenken geführt, das auch dem Dialog zwischen ost- und westeuropäischen Lateinamerikanistinnen und Lateinamerikanisten zu verdanken ist. Die durch neue Archivforschung offengelegte, meist von Pragmatik und strategischen Interessen getragene Politik der Sowjetunion verlor so in vielerlei Hinsicht ihren Nimbus, etwa als idealisierte Unterstützerin revolutionärer Bewegungen in Lateinamerika. Die Autorinnen und Autoren dieses Sammelbandes verorten sich in dieser – durchaus nicht nur von Konsens gekennzeichneten – Diskussion. Kleinstaaten und sekundäre Akteure im Kalten Krieg standen in Europa wie Lateinamerika unter der Dominanz ihres jeweiligen Hegemons und hatten begrenzte Handlungsspielräume. Die Aufarbeitung dieser Geschichten kann nur unter Berücksichtigung der jeweiligen hegemonialen Abhängigkeit erfolgen, sollte aber eben auch den Blick auf die Beziehungen zwischen diesen Kleinstaaten und sekundären Akteuren lenken. Dadurch kommen andere Ebenen und neue Einblicke zum Vorschein, die eher den Charakter von Kooperationen als jenen von Konflikten haben. Diese Kooperationen werden auch in den Begriffen versinnbildlicht, welche die Autorinnen und Autoren dieses Bandes verwenden: Gerade bei blockübergreifenden Verbindungen wird eine ›Brücke‹ (Březinová, Manke, Opatrný, Pelant) von Osteuropa nach Lateinamerika geschlagen; die Tschechoslowakei fungierte im Kalten Krieg in dieser Region gar als ›Eisbrecher‹ (Březinová).
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Von den Gesellschaftswissenschaften ist die Entwicklung der lateinamerikanischen Staaten intensiv begleitet worden, doch erst seit wenigen Jahren entstehen Gesamtschauen zum Kalten Krieg, die distanziert und informiert genug sind, um diese Zeitphase als spezifische Epoche verständlich zu machen. Wie in der Einleitung bereits erwähnt, ist ein großer Teil der jüngeren Werke auf die Gewalterfahrungen fokussiert, die zahlreiche Lateinamerikanerinnen und Lateinamerikaner erleiden mussten. Militärdiktaturen, Terrorismus, Guerillabewegungen sind die zentralen Themenbereiche, welche Forschung, Zivilgesellschaft, vielfach auch Politik und Justiz im Rahmen der dortigen Demokratisierungsprozesse umfänglich aufgearbeitet sehen wollen. Damit wird ein wichtiger Beitrag zur Geschichte der Erinnerungskulturen, der Geschichtspolitik, der Geschichte der aktiven Diktaturaufarbeitung und auch der public history geleistet.2 Ein zentrales Feld der historischen Neubewertung sind die Staatenbeziehungen, denen sich auch der vorliegende Sammelband widmet. Die scheinbar festgezurrten Allianzgefüge und Bündnistexturen des Kalten Krieges werden aufgeschnürt und ihres Narrativs entkleidet. Dabei tritt Überraschendes zu Tage. Zwar blieben die kleineren Staaten in Ost und West den Imperativen der jeweiligen Hegemonialmacht untergeordnet; diese infrage zu stellen, konnte – wie im Falle Guatemalas (1954), Ungarns (1956), Kubas (1959-62), der Tschechoslowakei (1968) oder Chiles (1973) – schwerwiegende Konsequenzen haben. Doch im geschützten Areal der Blockzugehörigkeit und sogar über Blockgrenzen hinweg ließ sich durchaus eine eigenständige Politik betreiben. Und hier zeigt es sich, dass die jeweilige Außenpolitik oftmals viel stärker als angenommen von traditionellen nationalen Interessen durchzogen war und pragmatischen Gesichtspunkten folgte (selbst im Zusammenspiel von zivilgesellschaftlichen und staatlichen Akteuren, wie der Beitrag von Blecha betont). Selbstdarstellung, Repräsentanz, das Streben nach wirtschaftlichen Vorteilen oder bilateralen Kultur- und Wissenschaftskontakten überlagerten nicht selten die weltanschaulichen Gegensätze. Die Länderfallstudien von Cushion, Bortlová-Vondráková und Lafuente sprechen hinsichtlich der wirtschaftlichen Interessen diesbezüglich eine deutliche Sprache; die Beiträge von Křížová und Patti mit Blick auf Wissenschaftsgeschichte und Wissenschaftstransfers; der Beitrag von Pelant betont die Verflechtungen zwischen politischen, wirtschaftlichen und strategischen Interessen über den gesamten Zeitraum. In den Beiträgen von Perutka
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Elizabeth Jelin spricht von der aktiven Erinnerungsarbeit, wodurch die Menschen zu aktiven Mitgestalterinnen und Mitgestaltern der demokratischen Ordnungen in Lateinamerika werden, die auf der Durchsetzung von Rechtsstaatlichkeit, Gerechtigkeit und ›Wahrheit‹ beruhen (2012: 47-48). Vgl. hierzu auch Mayer/Molden 2009.
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und Manke wird zudem deutlich, dass die Dimension der Temporalität Gewicht erhält: Kuba und die Tschechoslowakei lernten aus dem Fiasko in Guatemala, dass eine militärische Kooperation entschiedener und ›professioneller‹ gestaltet werden musste, um letztlich erfolgreich zu sein.3 Etablierte Strukturen erleichterten den Zugang. So besaßen die jungen Staaten Ostmitteleuropas, insbesondere die Tschechoslowakei (wie Opatrný und Perutka aufzeigen), seit der Zwischenkriegszeit diplomatische Vertretungen in Lateinamerika und vermochten mit Beginn des Kalten Krieges auf Erfahrungen, Beziehungen und Reputation zurückzugreifen. Neben wirtschaftlichem Austausch konnte man mit diesem Instrumentarium aktiv Kulturpolitik betreiben und das Ansehen des eigenen Landes heben, wie der Beitrag von Březinová zeigt. Deutlich schwerer hatte es hingegen die DDR. Ganz im Schatten der Bundesrepublik, die ihrerseits ein wirtschaftliches und kulturelles Ausgreifen des zweiten deutschen Staates in der westlichen Hemisphäre hintertrieb, waren die Bemühungen oft wenig erfolgreich; bis in die siebziger Jahre wurde zumeist die politische Anerkennung verweigert, was (wie sich dem Beitrag Lafuentes entnehmen lässt) über Jahre hinweg durch die (mehr oder minder strenge) Anwendung der Hallstein-Doktrin seitens der BRD bedingt war. Nur in kleinen Schritten, bei vielen zwischenzeitlichen Enttäuschungen, konnte man den Status verbessern.
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Die Beachtung dieser Temporalität ist ein zentrales Merkmale der historischen Forschung, auch zum Kalten Krieg: Man kann die Ereignisse zwischen 1945 und 1991 weder einzeln aus ihrem Zusammenhang gelöst noch als ein großes Ganzes betrachten, sondern sollte sich (wie Opatrný es hier für die Tschechoslowakei durchspielt) in jeder Dekade die jeweilige Vorgeschichte, den nationalen und inter- wie transnationalen Kontext vor Augen führen und sie darin verorten. Mehrere Ereignisse hatten zweifellos überregionale, ja teils globale Auswirkungen: Ohne die kubanische Revolution etwa – einem nationalen und (unter Berücksichtigung der USA) bald binationalen Konflikt, der durch die Hilfe der UdSSR transkontinentale Bedeutung erlangte – wäre die Ausdehnung des sowjetischen (und damit einhergehend des tschechoslowakischen) Einflusses in Lateinamerika nicht in dieser Form denkbar gewesen. Zugleich rief diese Infragestellung der hemisphärischen Hegemonie die USA auf den Plan, die ihre bereits anfangs des 20. Jahrhunderts praktizierte imperiale Politik in Lateinamerika nun unter anderen Vorzeichen neu auflegten. Ohne die Niederschlagung des Prager Frühlings und die damit gescheiterten Hoffnungen insbesondere in kleineren Staaten Osteuropas wiederum sind die anschließenden Entwicklungen im sozialistischen Lager nicht zu verstehen, wie die Beiträge von Opatrný, Březinová, BortlováVondráková, Zourek und Pelant für die Tschechoslowakei zeigen.
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Alle Beiträge dieses Sammelbandes, in denen Fallbeispiele untersucht werden, stehen auf einer breiten Grundlage empirischer Quellenforschung. Es geht darin primär um die bilaterale Beziehung zwischen zwei Staaten, die in der internationalen Machthierarchie als vergleichsweise klein oder von mittlerer Größe bzw. Bedeutung bezeichnet werden können und von denen einer in Europa und einer in Lateinamerika liegt. Die Beziehung eines Landes zu seinem jeweiligen Hegemon hatte maßgeblich Einfluss auf dessen Gestaltungs- und Handlungsspielraum hinsichtlich seiner Beziehungen zu anderen Ländern.4 Angesichts der ideologischen Differenzen zwischen den Blöcken, die ein grundsätzliches Merkmal des Kalten Krieges waren, unterlagen die bilateralen Beziehungen zwischen Kleinstaaten und sekundären Akteuren einem höheren Maß an hegemonialer Kontrolle, wenn sie über die ideologischen Grenzen dieser Lager hinweg geknüpft wurden oder gar von strategischem Interesse waren. Dennoch lässt sich den Beiträgen entnehmen, dass den Kleinstaaten und sekundären Akteuren gegenüber ihrem Hegemon ein nicht unerhebliches Maß an Autonomie blieb, dessen Umfang und Qualität von unterschiedlichen Faktoren abhing – nicht zuletzt von der Fähigkeit lokaler Eliten, eigene Interessen durchzusetzen.5 Dies gilt übrigens auch für die Einschränkungen, welche kooperationswillige Partner innerhalb eines ideologischen Blocks durch den Hegemon hinnehmen mussten, wie es
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Die Positionierungen kleinerer und mittlerer Akteure zu den beiden ideologischen Lagern und ihre Beziehungen zu den Supermächten bieten Einblicke in die regionale und globale Reichweite des Kalten Krieges. Wie McMahon in Bezug auf die Verortung von Staaten des ›Globalen Südens‹ deutlich macht, lag die Entscheidung für oder gegen eine Hinwendung zu einem der Blöcke meist in den nationalen Interessen eines Landes begründet und brachte diese Staaten nicht selten in eine schwierige Lage, die ihre Souveränität empfindlich einschränkte. Denn diese hatten es (nicht nur in den neuen dekolonialisierten Staaten Afrikas und Asiens) schwer, eine souveräne, eigenständige Politik und Entwicklung anzustreben. Der Druck, sich zwischen dem einen oder dem anderen Hegemon zu entscheiden, führte 1955 zur antikolonial ausgerichteten Konferenz asiatischer und afrikanischer Staaten im indonesischen Bandung. Auf Initiative nationalistisch-independentistischer Staatenlenker wie Sukarno in Indonesien, Nehru in Indien, Nasser in Ägypten, Nkrumah in Ghana oder Tito in Jugoslawien entwickelte sich aus dieser Dynamik heraus die Bewegung der Blockfreien Staaten, die im September 1961 in Belgrad gegründet wurde (McMahon 2013: 5-6, 8-9). Kuba, das Castro nur wenige Monate zuvor für sozialistisch erklärt hatte (Manke 2011), nahm an dieser Gründerkonferenz als einziges lateinamerikanisches Land teil.
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Zum Thema der möglichen Autonomie am Beispiel einiger Länder Lateinamerikas und der USA vgl. Long (2015: 15-16).
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etwa Patti am Beispiel Brasiliens demonstriert. Andere tun sich mit einer eindeutigen Zuordnung zu den Blöcken schwer, wie etwa die Suche Argentiniens nach einem ›Dritten Weg‹ und Kubas Reaktion nach der Kubakrise verdeutlichen. Weiterhin zeigen die Beiträge dieses Sammelbands, dass politische, wirtschaftliche, militärische und soziokulturelle Austauschbeziehungen zwischen Lateinamerika und Zentraleuropa sowohl wechselseitige Dynamiken mit sich brachten als auch erheblichen Einfluss auf die inneren Entwicklungen der einzelnen Länder hatten.6 Der Kalte Krieg, als globaler Referenzrahmen verstanden, beeinflusste aber nicht nur innerstaatliche Prozesse im ›Globalen Süden‹, sondern auch das dynamische Wechselverhältnis zum ›Globalen Norden‹ und die Selbst- wie Fremdbildnisse der beteiligten Akteure. Mehrere der von Březinová besprochenen Dokumentarfilme etwa lassen ein euro- und ethnozentrisches Überlegenheitsgefühl der tschechoslowakischen Betrachter Lateinamerikas zum Ausdruck kommen, der ›Zweiten‹ gegenüber der ›Dritten‹ Welt.7 Dieses Gefühl manifestierte sich im Stolz auf den eigenen technologischen Fortschritt sowie im Belächeln ethnisch als andersartig und exotisch wahrgenommener Menschen. Gorsuch bringt die ethnozentrisch motivierte Definition des ›Anderen‹ folgendermaßen auf den Punkt: »›Rasse‹ [Anführungszeichen A. M.] war natürlich über lange Zeit hinweg Teil der Exotisierung, Erotisierung und Disziplinierung der Dritten Welt durch die Erste Welt, aber auch, wie sich herausstellt, der Dritten Welt durch die Zweite« (2015: 519). Ein ähnlich paternalistischer Reflex ließ sich auch bei sozialistischen Politikereliten des ›Ostblocks‹ beobachten, welche die jungen Revolutionärinnen und Revolutionäre in Lateinamerika (vor allem in Kuba) als infantil und unbeherrscht betrachteten, zugleich aber ihren bereits eingerosteten revolutionären Elan wiederentdeckten. Die offene Zurschaustellung der Begeisterung für das revolutionäre Kuba erlaubte es den angestaubten politischen Eliten im osteuropäischen sozialistischen Lager zudem, etwas von ihrer verlorenen Legitimität zurückzugewinnen (vgl. hierzu auch Gorsuch 2015). Neben dem bekannten Foto der Umarmung Castros durch Chruschtschow am Rande der Vollversammlung der Vereinten Nationen im September 1960 verdeutlichen auch weniger spektakuläre Aufnahmen wie das Foto Ernesto Che Guevaras vom Oktober 1960 in Brno (Brünn) auf dem Umschlag dieses Sammelbands diesen Zweck. Der 32-
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Damit können wir der Aussage Westads beipflichten, der feststellt, dass »die wichtigsten Aspekte des Kalten Krieges weder militärisch noch strategisch noch eurozentrisch waren, sondern mit der politischen und sozialen Entwicklung in der Dritten Welt in Verbindung standen« (Westad 2005: 396).
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Zum Verhältnis zwischen ›Zweiter‹ und ›Dritter‹ Welt vgl. Engerman (2011).
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Jährige war zum Ankauf von Traktoren, Maschinen und Waffen in die Tschechoslowakei gereist und sticht (neben der einzigen jungen Frau) als junger, erfolgreicher Revolutionär in Militärstiefeln sichtlich aus der Gruppe versammelter Anzugträger hervor. Das hier symbolisierte Gefälle zwischen dem technischen Fortschritt des europäischen sozialistischen Lagers und der ›Dritten Welt‹ bildete jedoch nicht die Realität ab: Kuba war zuvor höhere US-amerikanische Industriestandards gewöhnt, was zu häufigen Klagen über die mangelnde Qualität der aus der Tschechoslowakei gelieferten Güter führte (siehe den Beitrag von Bortlová-Vondráková). Die neuen Zugänge der Historiografie knüpfen an ältere Interpretationsansätze an, welche schon früher die Entscheidungs- und Handlungsspielräume kleinerer Staaten ausgelotet und ihr Potenzial bei aller Zähigkeit der Entwicklung erkannt haben (wie etwa der Beitrag von Belfer aus politikwissenschaftlicher Perspektive zeigt). Die Fokussierung auf die weniger machtvollen Staaten und Regierungen hebt vor allem einen Umstand in den Mittelpunkt der Betrachtung, der bereits vielen zeitgenössischen Beobachtern bewusst war: dass nämlich in den weltumspannenden Ost-West-Konflikt die Problematik der (globalen) Nord-SüdDiskrepanzen elementar eingewoben war. Deren existenzielle Bedeutung für die Gegenwart von Weltgesellschaft und internationalem Staatensystem kann inzwischen kaum überschätzt werden. Es kann also geschlossen werden, dass im Rahmen der fortschreitenden Vernetzung und Globalisierung der Forschung zum Kalten Krieg der Blick auf Länder und Regionen des ›Globalen Südens‹ und ihre Vernetzung mit dem ›Globalen Norden‹ immer entscheidender werden. Erstens lassen sich diese nicht mehr nur als passiv agierende Rezipienten von Großmachtpolitiken so genannter ›Zentren‹ betrachten, sondern als eigenständige und aktive Akteure, deren Beziehungen zu den Supermächten vielfach mehr pragmatischen als rein ideologischen Überlegungen folgten.8 Zweitens werden die großen, oft im bipolaren Blockdenken verfangenen Meistererzählungen durch eine multipolare, transnationale und teils dezentrale Betrachtung der komplexen Verhältnisse des Kalten Krieges erweitert und teils infrage gestellt. Dies trägt schließlich dem Rechnung, dass die Cold War Studies sich nicht nur als Feld der Geschichte Internationaler Beziehungen präsentieren. Transdisziplinäre Ansätze und Überschneidungen, etwa mit den Kulturwissenschaften, werden immer wichtiger, um den Konflikt-Zeit-Raum des globalen Kalten Krieges neu zu erforschen und zu interpretieren. Die ge-
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Der Wettstreit konkurrierender sozialer Ordnungen, wie Skidmore (1997) ihn benennt, tritt damit in den Hintergrund.
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wonnenen Erkenntnisse liefern zwar kein kohärentes Bild, was nicht verwunderlich ist. Je nach Archivbeständen, Perspektiven und Analysemethoden werden Interessen, Interaktionen und Handlungsspielräume der Staaten unterschiedlich erfasst und bewertet. Aber gerade in ihrer Vielseitigkeit leisten die hier vorgestellten Studien einen wichtigen Beitrag zur Geschichte der ›multiple modernities‹ (Eisenstadt 2000; Ortiz 2000) in der Zeit des Kalten Krieges.
L ITERATUR Chomsky, Noam (1999): Latin America. From colonization to globalization, Melbourne [u.a.]: Ocean Press. Eisenstadt, Shmuel N. (2000): Die Vielfalt der Moderne, Weilerswist: Velbrueck. Engerman, David C. (2011): »The Second World’s Third World«, in: Kritika: Explorations in Russian and Eurasian History 12:1, S. 183-211. Gorsuch, Anne E. (2015): »›Cuba, my love‹. The romance of revolutionary Cuba in the Soviet sixties«, in: American Historical Review 120:2, S. 497-526. Jelin, Elizabeth (2012): Los trabajos de la memoria, Lima: IEP, 2. Auflage. Kramer, Mark/Smetana, Vít (Hg.) (2013): Imposing, maintaining, and tearing open the Iron Curtain. The Cold War and East-Central Europe, 1945-1989, Lanham [u.a.]: Lexington Books. Long, Tom (2015): Latin America confronts the United States. Asymmetry and influence, New York: Cambridge University Press. Manke, Albert (2014): »El nacionalsocialismo en Colonia hasta 1945 y la recuperación de la memoria histórica hasta la actualidad«, in: Regalado Pinedo, Aristarco (Hg.), Violencias y miedos. Una reflexión desde la historia, el cine y las migraciones contemporáneas, Guadalajara: Universidad de Guadalajara, Centro Universitario de Los Lagos, S. 101-142. — (2011): »Kuba wird ›sozialistischer Staat‹: Setzt mich auf die Liste...«, in: Damals 43 (5/2011), S. 10-13. Mayer, David/Molden, Berthold (Hg.) (2009): Vielstimmige Vergangenheiten. Geschichtspolitik in Lateinamerika, Wien/Berlin: Lit. McMahon, Robert J. (Hg.) (2013): The Cold War in the Third World, Oxford [u.a.]: Oxford University Press. Ortiz, Renato (2000): »From incomplete modernity to world modernity«, in: Daedalus 129:1, Multiple Modernities (Winter, 2000), S. 249-260. Skidmore, David (1997): »Rethinking realist interpretations of the Cold War. Balance of power of competing social orders?«, in: Skidmore, David (Hg.),
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Contested social orders and international politics, Nashville/London: Vanderbilt University Press, S. 165-186. Westad, Odd A. (2005): The global Cold War. Third World interventions and the making of our times, Cambridge [u.a.]: Cambridge University Press.
Autorinnen und Autoren
Mitchell Belfer ist Leiter des Institutes für Internationale Beziehungen und Europastudien an der Metropolitan University Prague sowie Herausgeber des Central European Journal of International and Security Studies. E-Mail: [email protected] Laurin Blecha ist Doktorand am Institut für Geschichte der Universität Wien. In seiner Doktorarbeit beschäftigt er sich mit Geschichtsinterpretationen zur Zeit der FSLN-Regierung in Nicaragua (1979-1990). Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen u.a. die Geschichte Lateinamerikas im 19. und 20. Jahrhundert, Geschichtspolitik und Erinnerungskulturen, die Geschichte des Kalten Krieges sowie die Österreichische Zeitgeschichte nach 1945. E-Mail: [email protected] Hana Bortlová-Vondráková hat an der Karlsuniversität Prag zu den Beziehungen zwischen der Tschechoslowakei und Kuba in den Jahren 1959-1962 promoviert. Derzeit ist sie Mitarbeiterin am Institut für Zeitgeschichte der Akademie der Wissenschaften der Tschechischen Republik. Kontaktadresse: ÚSD AV ČR, Vlašská 9, 118 40 Praha 1, Tschechische Republik. E-Mail: [email protected] Kateřina Březinová ist Professorin für Iberoamerikanische Studien und Direktorin des Zentrums für Ibero-Amerikanische Studien an der Metropolitan University Prague. Sie hat zur Ikonografie und politischen Identitäten von Chicanos in den USA promoviert und untersucht derzeit transkulturelle Verflechtungen sowie Phänomene der Mestizisierung und Globalisierung in der zeitgenössischen Kunst und Geschichte. E-Mail: [email protected] Steve Cushion ist pensionierter Hochschuldozent, der in East London lebt. Vor seiner Tätigkeit an der London Metropolitan University arbeitete er zwanzig Jah-
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re als Busfahrer in London und war aktiv in der Gewerkschaftsbewegung tätig. Derzeit ist er Vorstandsmitglied der Caribbean Labour Solidarity, des Committee of the Socialist History Society und des Committee of the Society for Caribbean Studies. Im Jahr 2016 erschien von ihm A hidden history of the Cuban revolution bei Monthly Review Press. E-Mail: [email protected] Bernd Greiner, Historiker und Politologe, ist seit 1989 am Hamburger Institut für Sozialforschung tätig. Seine Arbeitsschwerpunkte sind die US-amerikanische Geschichte des 20. Jahrhunderts unter besonderer Berücksichtigung des Kalten Krieges, die Theorie der Gewalt und internationaler Beziehungen an der Schnittstelle zwischen Militär und Zivilgesellschaft sowie das deutsch-amerikanische Verhältnis. Seit März 2015 ist er Leiter des Berliner Kolleg Kalter Krieg/Berlin Center for Cold War Studies. E-Mail: [email protected] Markéta Křížová ist Dozentin am Zentrum für Iberoamerikanische Studien der Karls-Universität Prag. Zu ihren Forschungsschwerpunkten zählen u.a. die Kolonialgeschichte der Amerikas, Transformationsprozesse präkolumbianischer Kulturen während der Kolonialzeit sowie die Geschichte der christlichen Missionierung in Lateinamerika. Darüber hinaus hat sie zur Geschichte der Forschung zu den Amerikas in Europa im 19. und 20. Jahrhundert gearbeitet. E-Mail: [email protected] Víctor M. Lafuente ist Doktorand an der a.r.t.e.s. Graduiertenschule der Philosophischen Fakultät der Universität zu Köln und Stipendiat der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur. Seine Dissertation widmet sich den Beziehungen zwischen der SBZ/DDR und Argentinien von 1945 bis 1990, mit Schwerpunkt auf den Jahren 1945-1976 und 1983-1990. Zu seinen Forschungsgebieten zählen die Geschichte der deutsch-argentinischen Beziehungen im 20. Jahrhundert, die Geschichte des Kalten Krieges in Lateinamerika und die Kommunismusforschung aus geopolitischer Perspektive. E-Mail: [email protected] Albert Manke ist Mitarbeiter an der Abteilung für Iberische und Lateinamerikanische Geschichte der Universität zu Köln und forscht zudem seit 2015 als Principal Investigator am dortigen Global South Studies Center. In seiner Promotion beschäftigte er sich mit der Widerstands- und Sozialgeschichte Kubas mit Schwerpunkt auf den Beziehungen zu den USA im Kalten Krieg. 2013-2015 leitete er als Co-Direktor das interdisziplinäre Exzellenprojekt University of Co-
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logne Forum ›Ethnicity as a Political Resource: Perspectives from Africa, Latin America, Asia, and Europe‹. E-Mail: [email protected] Holger M. Meding ist Professor für Iberische und Lateinamerikanische Geschichte an der Universität zu Köln. Promoviert mit einer Dissertation zur umstrittenen deutschen Einwanderung in Argentinien nach dem Zweiten Weltkrieg, befasste er sich in seiner Habilitationsschrift mit der Bildung von Staat und Nation in Panama. Zurzeit arbeitet er im Rahmen der Unabhängigen Historikerkommission zur Erforschung der Geschichte des Bundesnachrichtendienstes über die Aktivitäten des deutschen Geheimdienstes in Lateinamerika. E-Mail: [email protected] Josef Opatrný ist Direktor des Zentrums für Iberoamerikanische Studien an der Karls-Universität Prag. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen u.a. die Geschichte Mexikos und Kubas im 19. Jahrhundert, US-amerikanische Politiken in Lateinamerika sowie die tschechische Emigration in die Amerikas. E-Mail: [email protected] Carlo Patti ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter (Assistant Professor) für Internationale Beziehungen an der Universidade Federal de Goiás (Brasilien). Er promovierte 2012 an der Universität Florenz im Fach Geschichte Internationaler Beziehungen. Seine Schriften umfassen die Monographie O programa nuclear brasileiro: Uma história oral (Fundação Getulio Vargas, 2014) und zahlreiche Aufsätze zum brasilianischen Nuklearprogramm. Seit 2015 ist Carlo Patti Newton Advanced Fellow an der British Academy. E-Mail: [email protected] Matyáš Pelant absolvierte einen Bachelor in Area Studies sowie einen Master in Portugiesisch an der Karls-Universität Prag. Von 2009 bis 2011 war er als Nachwuchsexperte und Berater der politischen Abteilung einer EU-Delegation in Brasilien tätig. Zurzeit ist der Doktorand am Zentrum für Iberoamerikanische Studien der Karls-Universität Prag. E-Mail: [email protected] Lukáš Perutka nahm erfolgreich am Promotionsstudienprogramm für Iberoamerikanische Studien an der Karlsuniversität in Prag teil. Im Jahr 2014 erschien seine Dissertation über die Beziehungen zwischen der Tschechoslowakei, Guatemala und Mexiko während der guatemaltekischen Revolution. Zurzeit lehrt er Geschichte und Zeitgeschichte Lateinamerikas an der Technischen Universität in Monterrey (Mexiko). Von Mai bis Juli 2016 hat er an der UC Berkeley gelernt. E-Mail: [email protected]
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Michal Zourek ist Fachassistent an der Hochschule für Technik und Wirtschaft in České Budějovice. Zugleich ist er derzeit als Postdoktorand am Ravignani-Institut der Universität Buenos Aires in der Gruppe für Historische Kriegsforschung tätig. Dort beschäftigt er sich mit verschiedenen Aspekten der Beziehungen zwischen Osteuropa und Lateinamerika, insbesondere im Zeitraum des Kalten Krieges. E-Mail: [email protected]
Global Studies Gilberto Rescher Doing Democracy in indigenen Gemeinschaften Politischer Wandel in Zentralmexiko zwischen Transnationalität und Lokalität April 2017, ca. 300 Seiten, kart., ca. 39,99 €, ISBN 978-3-8376-3070-1
Daniela Mehler Serbische Vergangenheitsaufarbeitung Normwandel und Deutungskämpfe im Umgang mit Kriegsverbrechen, 1991-2012 2015, 370 Seiten, kart., 39,99 €, ISBN 978-3-8376-2850-0
Ralph Buchenhorst (Hg.) Von Fremdheit lernen Zum produktiven Umgang mit Erfahrungen des Fremden im Kontext der Globalisierung 2015, 306 Seiten, kart., 34,99 €, ISBN 978-3-8376-2656-8
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
Global Studies Mona Nikolic Identität in der Küche Kulturelle Globalisierung und regionale Traditionen in Costa Rica 2015, 374 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 49,99 €, ISBN 978-3-8376-2979-8
Ulrike Capdepón Vom Fall Pinochet zu den Verschwundenen des Spanischen Bürgerkrieges Die Auseinandersetzung mit Diktatur und Menschenrechtsverletzungen in Spanien und Chile 2015, 376 Seiten, kart., 34,99 €, ISBN 978-3-8376-2347-5
Georg Glasze Politische Räume Die diskursive Konstitution eines »geokulturellen Raums« – die Frankophonie 2013, 272 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1232-5
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