Lateinamerika Und Europa Im Dialog. Menschenrechte - Wirtschaftliche Verflechtung - Menschenbild, Minderheiten, Medien - Politische Beziehungen: ... der Westfalischen) (German Edition) 3428066642, 9783428066643


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German Pages 332 [333] Year 1989

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Lateinamerika Und Europa Im Dialog. Menschenrechte - Wirtschaftliche Verflechtung - Menschenbild, Minderheiten, Medien - Politische Beziehungen: ... der Westfalischen) (German Edition)
 3428066642, 9783428066643

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Schriftenreihe des Lateinamerika-Zentrums der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster Band 1

28. September bis 3. Oktober 1987

Kongreß der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster in Verbindung mit der Staatskanzlei des Landes Nordrhein-Westfalen, der Arbeitsgemeinschaft Deutsche Lateinamerikaforschung (ADLAF) und des Europäischen Rates für Sozialforschung über Lateinamerika (CEISAL)

herausgegeben vom Rektor der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster Univ.-Prof. Dr. iur. Hans-Uwe Erichsen Redaktion: Univ.-Prof. Dr. sc. pol. Achim Schrader

Lateinamerika und Europa im Dialog Menschenrechte - Wirtschaftliche Verflechtung - Menschenbild, Minderheiten, Medien - Politische Beziehungen Öffentliche Vorträge und Berichte aus den Wissenschaftlichen Werkstätten des Lateinamerika-Kongresses 1987 der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster

herausgegeben von

Prof. Dr. Hans-Uwe Erichsen

Duncker & Humblot . Berlin

CIP-Titelaufnahme der Deutschen Bibliothek Lateinamerika und Europa im Dialog: Menschenrechte wirtschaftliche Verflechtung - Menschenbild, Minderheiten, Medien - politische Beziehungen; öffentliche Vorträge und Berichte aus den wissenschaftlichen Werkstätten des Lateinamerika-Kongresses 1987 der Westfälischen WilhelmsUniversität Münster; [28. September bis 3. Oktober 1987; Kongress der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster in Verbindung mit der Staatskanzlei des Landes NordrheinWestfalen, der Arbeitsgemeinschaft Deutsche Lateinamerikaforschung (ADLAF) und des Europäischen Rates für Sozialforschung über Lateinamerika (EISAL)] I hrsg. von Hans-Uwe Erichsen. - Berlin: Duncker u. Humblot, 1989 (Schriftenreihe des Lateinamerika-Zentrums der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster; Bd. 1) ISBN 3-428-06664-2 NE: Erichsen, Hans-Uwe [Hrsg.]; Lateinamerika-Kongress (1987, Münster, Westfalen); Universität (Münster, Westfalen); Lateinamerika-Zentrum (Münster, Westfalen): Schriftenreihe des Lateinamerika-Zentrums ...

NIe Rechte vorbehalten

© 1989 Duncker & Humblot GmbH, Berlin 41

Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin 61 Printed in Germany ISSN 0936-2746 ISBN 3-428-06664-2

Inhaltsverzeichnis 1 Hans-Uwe Erichsen: Einführung

9

2 Achim Schrader: Einleitung

13

I Menschenrechte in Lateinamerika. und Europa

17

3 Kardinal Paulo Evaristo Arns: Kirche und Menschenrechte in Lateinamerika

4 Leonardo Boff: Europäische Freiheitstraditionen und lateinamerikanisches Befreiungsdenken

5 Martin Kriele: Freiheit und "Befreiung". Gibt es eine Rangordnung der Menschenrechte?

19 29 53

6 Ottfried Höffe: Pflichten und Rechte der Menschen ein elementarer Tausch

81

7 Reinhard Brandt: Zur philosophischen Begründung der Menschenrechte

97

8 Roberto J. Vernengo: Verfassungsstaat in Europa und Lateinamerika

11 Wirtschaftliche Verflechtung von Lateinamerika. und Europa

109

117

9 Eduardo de Souza Ferreira: Jüngste Entwicklungen in der

Verschuldungskrise und Wege zur Lösung der Verschuldungsfrage

10 Ludwig Trippen: Ursachen und Entwicklung der gegenwärtigen Verschuldungskrise in Lateinamerika

119 127

Inhaltsverzeichnis

6

11 Cesar Maldonado: Selbsthilfe und ländliche Entwicklung in Lateinamerika

137

12 Dieter W. Benecke: Genossenschaften - Schule der Demokratie in Lateinamerika?

169

13 Gerhard Sandner: Ökologie in Lateinamerika

183

III Lateinamerika und Europa: Menschenbild, Minderheiten, Medien

201

14 Jtilio Teran-Dutari: Das Selbstverständnis des lateinamerikanischen Menschen gegenüber dem Europäer

203

15 David Bankier: Deutsch-jüdische Symbiose bis 1933, argentinisch-jüdische Symbiose bis 1950

213

16 Desiderio Blanco: Das Bild Europas in den Kommunikationsmedien Perus

225

17 Walter Haubricn: Das Bild Lateinamerikas in europäischen Medien

243

IV Politische Beziehungen zwischen Lateinamerika und Europa

253

18 Klaus Dieter Leister: Europa und Lateinamerika - Perspektiven für eine gemeinsame Entwicklung

255

19 Jürgen W. Möllemann: Kooperation im Bereich Bildung und Wissenschaft mit Ländern Lateinamerikas: Das Beispiel Brasilien

259

20 Victor Godoy: Zusammenarbeit der Universitäten Europas und Lateinamerikas

267

21

Kolloquium: Bilanz und Zukunft . / """./ 3

4

Wertungsstufen

5 weniger wichtig

Abb. 7: We~tungsprofile zu Umweltproblemen in Lateinamerika. 1: Mexiko Stadt, 2: Guadalajara, 3: Managua, 4: Medelln, 5: Lima, 6: La Paz, 7: Mittelwerte (aus W.Mikus, 1987).

Ökologie

193

und regionale Heraushebung spezifischer Schutzgebiete gelegt, so wie agrare Neulandkolonisation in starkem Maße Ersatz für Strukturreformen in bereits besiedelten Räumen war und ist. Protecci6n dei medio ambiente verknüpft sich dabei mit preservaci6n de los recursos und mit der Schaffung von Sondergebieten wie Nationalparks und ökologischen Reservaten. Dabei gibt es in Panama aktive Gruppen, die mit Studien und Aktionen auf die laufenden Prozesse der Zerstörung und ihre Folgen für die Menschen hinweisen. In WestPanama vollzieht sich, ganz unter dem Druck fremder ökonomischer Interessen, eine konzertierte Aktion irreversibler Zerstörung, gegen alle Warnungen und Proteste, als Symbol für das Gewicht von Prioritätensetzungen. Im Entwicklungsplan erscheint die feuchte, stark zerschnittene karibische Flanke des westlichen Panama fast einheitlich als Wald- und Naturschutzgebiet, in dem die Rückzugsgebiete der Guaym und anderer Indianergruppen ebenso fehlen wie die rasch fortschreitenden Zerstörungs- und Verdrängungsprozesse im Gefolge von Straßenbau, massiver Zuwanderung und Anlage von Wasserkraftwerken (Abbildung 8 a). Ein realistisches Bild der bestehenden und geforderten Indianerreservate und der ökologischen Schutzgebiete (Abbildung 8 b) und die Darstellung der laufenden und vorhersehbaren Entwicklungen (Abbildung 8 c) zeigt, wie massiv die Eingriffe in diesem Raum sind. Das von der Hauptstadt aus extrem peripher erscheinende Gebiet ist längst einer "transisthmischen" Transportfunktion und einer "Erschließung" preisgegeben, die auf das "Inwertsetzen" (puesta en valor, colonizaci6n, integraci6n) ohne jede Rücksicht auf die indianischen Siedelräume und die sensiblen ökologischen Zusammenhänge ausgerichtet sind. Dieses Beispiel kann in vielen Richtungen ausgewertet werden. Ich möchte hier nur auf drei Ansätze eingehen. Erstens: Der hier sichtbar werdende Zusammenhang zwischen ökologischen Zerstörungen und dem Einbruch in die Existenzräume autochthoner Kulturen verschärft sich in vielen Gebieten. Es sind überwiegend die sogenannten peripheren Räume und die Grenzgebiete, in denen sich die Konflikte auf staatlicher Ebene und die vom ökonomischen Entwicklungsmodell mitgetragenen fernen ökonomischen Interessen überlagern. In Zentralamerika gilt das für weite Gebiete Belizes und den Norden Guatemalas ebenso wie für die Mosquitia, das nördliche Tiefland Costa Ricas und die Grenzgebiete an beiden Enden Panamas. Die Folge ist eine Bedrängung und Bedrohung der Nationen durch die Staaten (Abbildung 9). Das ist auch ökologisch folgenschwer, weil es sich überwiegend um ökologisch sensible Räume mit zum Teil sehr alten An- und Einpassungen der regionalen Siedlungs- und Landnutzungsformen in den natürlichen Lebenszusammenhang handelt. Zweitens: Das Beispiel zeigt, daß die Schaffung von Reservaten nicht ausreicht und noch nicht einmal in den nicht entsprechenden Gebieten Schutz bietet, wenn stärkere Interessen einbrechen. Dennoch ist festzuhalten, daß in einigen Ländern beachtliche Erfolge erzielt wurden. In Costa Rica wurden zwischen 1970 und 1980 19 Naturparks und biologische Reservate mit einer Gesamtfläche von 200.000 Hektar (4% der Landfläche) geschaffen und durch entsprechende Gesetzgebung, Institutionen und· Erziehungsarbeit vergleichs-

194

_ . _.- Slaalsgrenie - - Carretera Inleramerlcana

~ ~~Ii~~ea~~:::n ~ Andere Waidgebiete ~ Wlederaufforslung

Sandner

• • •••• Straßenaus-fneubau

_ . _ .- Staatsgrenze

@ @j

Endpunkt,Erdot-Plpellne

- - Carretera Interamericana

Wasserkraft ..... erke

~ Nationalpark bestehend

~

Kupler- Bergbau

[8J

Kuplerverarbellung

~ Nat ionalpark gep lant

f..-..---..1Ökologische Schutzzone iIIIllIII lnd,anerreservat bes tehend

[[[[I] Indianerreservat gefordert

[==:J Agrarnutlung

Bestehend "

= = Erdol - Plpellne @ Erdol-Hafen

+

-

-

~

Geplant : Methanol-Pipeline

(i)

Kohlevergasung

Neue Straße

~

Kupfer- ßergbau

Elnwanderungl Verdrangung

[KJ

Kupfer -K onzentration

~

Kupferverarbeitung

Erdol-Bohrungen

9

Wasserkraftwerke

Abb. 8: Junge Wandlungen im westlichen Panama. a: Entwicklungsplan 1980-90, b: ökoiogie- und Indianerreservate 1985, c: Neue Entwicklungen 1980-85.

Ökologie

195

Staaten

M Mexico

B Belice G Guatemala ES EI Salvador H

Honduras

CR Costa Rica N Nicaragua P Panama C Colombia 200 km

'--_~--'!

~Maya

[IJJ Pipil ~

Wan Tasbaia

I:±:±:±J (Miskito)

~Sumo



§

Rama Creole

~

m

Guaymi San Blas Kuna

[]J] sonstige

Abb. 9: Staaten und Nationen in Zentralamerika (nach einem Entwurf von B. Nietschmann, 1986).

196

Sandner

weise gut abgesichert. Das bleibt beachtlich, auch wenn man die jährliche Waldvernichtung von über 50.000 Hektar dagegensteIlt. Nur bedeutet dieses Abstecken von Reservaten und Nationalparks für ökologische Schutzzwecke, ebenso wie auch bei ethnokulturellen Strukturen mit Reservatcharakter, keine grundsätzliche Umstellung, keinen Schutz gegen die von außen hereindringenden Umwertungen und Einßüsse. Es trägt Züge von Ersatzhandlungen und Alibi, solange das übergeordnete Entwicklungsmodell die Lösung der eingebauten Zielkonßikte von ober her vorgibt. Der Nutzen dieser Nationalpark-Entwicklung liegt besonders auf zwei Ebenen: Im Erhalt von bioökologischen Strukturen im echten Sinne eines Reservats als Aufbewahrung und in der erzieherischen Wirkung, die sich in Costa Rica in einer wachsenden Zahl von Besuchern bis hin zu Schulklassen und in der gelenkten Hinführung zu einem Verständnis komplexer ökologischer Zusammmenhänge äußert. Mich haben große Holztafein am Eingang einiger Nationalparks in Costa Rica beeindruckt, auf denen stand: "Dieser Park gehört den Menschen von Costa Rica; viele sind schon gestorben, einige leben jetzt, aber die meisten werden erst geboren werden" . Ich sehe in dieser Einbeziehung der Dimension Zeit und ihrer Verknüpfung mit Verantwortlichkeit Ansätze zur Hoffnung. Zusätzlich zu erwähnen wäre die im Juli 1987 erfolgte Gründung einer ersten Ökologischen Hochschule in Kolumbien, die der Schulung von Führungskräften aus Politik und Wirtschaft in Umweltfragen dient. Als dritte Erweiterung des Beispiels möchte ich auf den Zusammenhang zwischen Ökologieproblematik und Landnutzung hinweisen. Es gibt eine Gedankenkette, die die sogenannte Bevölkerungsexplosion und die Ernährungs- und Versorgungsprobleme in Lateinamerika mit der Notwendigkeit zur Erschließung neuen Agrarlandes durch Rodung verknüpft. In extremer Verkürzung könnte das zu der Alternative führen: Hunger oder Wälder, was in dieser Form natürlich absurd ist, und zwar aus folgenden Gründen: 1. Ein erheblicher Teil der Waldvernichtung erfolgt zugunsten einer extensiven Weidewirtschaft, die geringe Erträge und wenig Arbeitsplätze liefert. Ein weiterer Anteil der Neulandgewinnung dient allenfalls für wenige Jahre dem Anbau von Grundnahrungsmitteln, wobei mangelhafte Verkehrserschließung und Marktferne den Absatz und Einsatz der Produktion erschweren oder ganz verhindern. 2. Im Rahmen der "Grünen Revolution" sind durch agrochemische Maßnahmen und neue Hochertragszüchtungen die Erträge auf bisher genutzten Flächen in relativ günstiger Verkehrs- und Marktlage so gesteigert worden, daß von daher eher eine Überproduktion als ein Defizit droht. Bei Weizen waren 1983 in Argentinien und Mexiko bereits 95% Hochertragszüchtungen, bei Reis in Mexiko, Peru und Kolumbien 75 bis 90%. Die Probleme des Agrarsektors und damit des Agrarraumes liegen nicht erst im Rahmen dieser Modernisierung - viel weniger an fehlenden oder zu geringen Anbauflächen, als an den Besitz- und Landnutzungsstrukturen und an den für die Masse der Agrarbefölkerung gravierenden Schwächen in Preisbildung, Marktzugang und Existenzsicherung.

Ökologie

197

3. Die agrartechnische Modernisierung mit ihrer Verbindung von Ertragssteigerung, steigendem Kapitaleinsatz und verringertem Personaleinsatz erfolgt überwiegend zugunsten einer staatlich geforderten Exportorientierung, bei der Nachfrage und Preisgestaltung auf dem Weltmarkt unmittelbar durchschlagen. Am Beispiel der Expansion von Sojaanbau im südlichen Brasilien wurde bereits veranschaulicht, daß die Ausdehnung dieser Form von Landwirtschaft vielfach Verdrängungscharakter hat und einen Druck auf die natürlichen Ressourcen ausübt, ganz unabhängig von den Langzeitfolgen des verstärkten Einsatzes von Pestiziden, Herbiziden, Fungiziden und Düngemitteln. 4. Nicht nur in der Agrarproduktion für den Export, sondern auch in der Versorgung der Binnenmärkte mit Grundnahrungsmitteln erfolgt eine Gewichtsverschiebung auf Kosten der bäuerlichen Wirtschaft. Der bäuerliche Sektor stellt einen vielfach unterschätzten Anteil an der Exportproduktion, aber auch an der Erzeugung von Grundnahrungsmitteln dar. Der Prozeß der descampesinizacion umfaßt mehrere Komponenten: Verdrängung vom Markt und Anderes durch eine Preisgestaltung, die kommerzialisierte Betriebe und größere Unternehmen bevorteilt; Verdrängung von der Fläche, insbesondere zugunsten der modernisierten kommerziellen Landwirtschaft, besonders stark in relativ günstig ausgestatteten und gelegenen Agrargebieten; Rückgang der besitz- und nutzungsrechtlichen Zwischenformen wie l\utzrecht und Pacht, zugleich Rückgang des Einsatzes menschlicher Arbeitskraft; wachsender Druck auf die Fläche; gleichzeitige, aber räumlich getrennte Intensivierung, Minifundisierung und Flächenexpansion, dadurch insgesamt verstärkte räumliche Differenzierung und auch Untergliederung des bäuerlichen Sektors. 5. Die Descampesinizacion hat erhebliche ökologische Konsequenzen, weil die bäuerliche Landwirtschaft immer auch ein Element der Bodenpflege, der Einpassung in den Naturraum enthält. Das Wesen dieser Anpassung lag traditionell darin, langfristige Nutzung bei vergleichsweise hohen lokalen und regionalen Bevölkerungsdichten zu ermöglichen. Das gilt nicht nur für die alt-amerikanischen Landnutzungsformen, über deren Ausdehung und ökologische Bedeutung ständig neue Einsichten hinzukommen, etwa die vielen Varianten des Terrassenanbaus (andenes), Wölbund Beetäcker in Feuchtgebieten und schwimmende Gärten (chinampas) in Mexiko, am Titicacasee, im nördlichen Kolumbien und Bolivien, Bewässerungssysteme einschließlich unterirdischer Kanäle und" versunkene Felder" mit Regelung des Mikroklimas oder kombinierter WaldAnbauwirtschaft und die vielen Formen des Gartenanbaus. Es mag einseitig erscheinen, so stark auf die flächenhaften Probleme und damit den Agrarraum einzugehen. Es gibt dramatische Berichte darüber, wie stark die Belastungen und Schäden heute schon in den Großstadtballungen sind, nicht nur in der Luftverschmutzung, die optisch sichtbar auf der Zunge

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und in der Lunge spürbar wird, auch in der Wasserversorgung und im gesamten Komplex der Entsorgung. Dies verdiente ebenso eine ausführliche Behandlung wie der Bergbau und die Industrie mit ihren punktuellen Standorten, aber mit flächenhaften Nah- und Fernwirkungen. Statt dessen soll nur auf einen weiteren, sehr oft ausgeklammerten Bereich hingewiesen werden: Die maritime Komponente der Problematik. Ein Langzeitbeobachter aus einer Weltraumstation würde durch entsprechende Filter leicht erkennen können, daß entlang der Küsten eine immer dichter werdende Brühe von Umweltgiften, Schwebmaterial aus den Flüssen und Unrat hin- und herschwappt wie ein breiter Spülsaum. Auch in der Karibischen See werden die Folgen immer deutlicher sichtbar: Das Seegebiet um das Taucherparadies Cayman Islands gehört zu den am stärksten durch Öl und Chemikalien belasteten Merresgebieten des Kontinents. Für Barbados liegen Studien vor, die die ständig rascher werdende Abtragung von Sandstränden mit der Vernichtung von Korallenriffen in Verbindung bringen, die wiederum durch Hotelabwässer und Einleitung von Schwebstoffen ausgelöst wird. In manchen Tourismusgebieten, zum Beispiel in der nördlichen Dominikanisehen Republik, läuft der Bau neuer Hotelketten und Marinas zeitgleich mit einer Strandzerstörung, die durch Erschließungsarbeiten und Durchstich von schützenden Riffen ausgelöst wurde. Die seit wenigen Jahren laufende Aufteilung der gesamten Karibischen See in nationale "Exklusive Wirtschaftszonen" im Rahmen des neuen Internationalen Seerechts schließt zwar die Verpflichtung zum Schutz der natürlichen Ressourcen ein, es gibt aber bisher kein entsprechend entwickeltes Bewußtsein und noch weniger eine internationale Kooperation, in diesem Fall eine karibische, die diese neue Verantwortlichkeit umsetzt. Wir sind dabei wieder bei dem Kernproblem angelangt. Verantwortlichkeit und Bewußtsein sind immer mehrstufig zu sehen auf nationaler, regionaler und lokaler Ebene. Die Probleme liegen in der politischen und funktionalen Koppelung dieser Ebenen und in einer Lösung von Zielkonflikten, die ganz wesentlich davon abhängt, ob man die Probleme und ihre Lösung kürzer- oder längerfristig sieht. Der Konflikt ist also dreiseitig: In "sektoraler" Hinsicht geht es um den Zielkonflikt zwischen einseitiger beziehungsweise vorrangiger Betonung, etwa der "ökonomischen Zwänge" und der vollen Integration und Verknüpfung ökonomischer, sozialer, kultureller und ökologischer Aspekte. In "hierachiseher" Hinsicht liegen die Zielkonflikte im Verhältnis der lokalen, regionalen und nationalen Ebene und damit letztlich bei der Delegation von Verantwortlichkeit und Mitentscheidung, also Macht. In der "zeitlichen" Dimension liegt die Entscheidung zwischen der Berücksichtigung kurzfristig konjunktureller Einflüsse oder der langfristigen Sicherung von Existenz in sozialer und humaner Verantwortlichkeit. Was bedeutet in diesem Zusammenhang das Leitthema dieses Kongresses "Lateinamerika und Europa im Dialog" ? Ich möchte dazu von einem Beispiel ausgehen. In Costa Rica entstand 1984 die erste ökologische Partei Lateinamerikas. Unter seinem Gründer, des Geographen Alexander Bonilla, hat der Partido Ecol6gico Costarricense (PEC) über den Einsatz der Medien bereits

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199

Aufmerksamkeit, teilweise sogar Programmkorrekturen bei den großen Parteien bewirkt. Der Versuch, mit "den Grünen" in unserem Land in Kontakt und Meinungsaustausch zu treten, scheiterte, weil keine Antwort auf Schreiben kam. Hier wie bei der so wichtigen Arbeit von Basisgruppen, die sich "von innen heraus" und vor Ort immer auch für Bewußtmachung engagieren, ist Solidarität sehr leicht zu enttäuschen. "Dialog" bedeutet auch im Blick auf die ökologische Problematik, das Übersetzungsproblem zur Kenntnis zu nehmen, das nicht nur in den Worten, sondern auch in den dahinter stehenden Konzeptionen, Wertungen und Traditionen liegt. So wie campesino nicht einfach "Bauer" und "Natur" (noch dazu mit den spezifischen deutschen Denktraditionen) nicht einfach naturaleza ist, sind in der Ökologiediskussion viele Begriffe und Konzepte belastet durch Vorverständnis jenseits der linguistischen Ebene. Dabei wirkt sich nicht nur der Bewußtseinsstand und die Diskussion im politischen Raum aus, sondern auch der kulturspezifische Umgang mit Konzepten. Wir haben bisher dieses Übersetzungsproblem wohl zu wenig beachtet, das sich - einmal ganz abgesehen von den Schwierigkeiten, selbst unter "unseren" Lateinamerikaforschern zu einem echten Dialog zwischen Natur- und Sozialwissenschaften in der Ökologiethematik zu kommen - ständig mit einem zweiten Übersetzungsproblem verzahnt. Es ist das Übersetzen aus der Sprache wissenschaftlicher Konzepte und Einsichten in die Sprache des HandeIns, der unmittelbaren Wirkung, die immer gebrochen ist an der hierarchischen Stufung "von oben", aus der Ebene von Staat und Politik, bis "nach unten", in die Ebene von Lebensraum, von Dorf und Stadtteil hinein. Der "Dialog" zwischen Wissenschaftlern, Intellektuellen und Politikern bleibt solange unverbindlich und vielleicht unerheblich, wie er nicht diese Übersetzungsprobleme, besonders in der "vertikalen" Verpflechtung und Umsetzung, bis auf die Ebene des kleinräumigen, realen Geschehens hinein löst. Damit hängt ein noch grundsätzlicheres Problem unserer Auseinandersetzung mit "Ökologie in Lateinamerika" zusammen. Es ist leicht gesagt, daß wir uns auf die Betroffenen, die Menschen ausrichten wollen und die Bestandsaufnahme, auch bei den bio- und geo-ökologischen "harten Fakten", in die Zielfrage nach der Bedeutung rür den/die Menschen münden lassen. Aber auch hier müssen wir mit einem Widerspruch leben: Dem, daß unsere Sprache, unser Denken und unsere Einsichten als Wissenschaftler zwar noch so stark von einer humanistischen Sicht her auf den Menschen als Betroffenen, den real existierenden Menschen zielen mag, mit einem noch so starken sozialen und moralischen Engagement, daß wir aber eingebunden bleiben in eine letztlich doch abgehobene Schicht oder Gruppe, innerhalb derer wir kommunizieren. Ich halte es für keine bequeme Resignation und auch keine Entlassung aus der Verantwortlichkeit, sich angesichts dieser Situation auf das Mögliche zu konzentrieren: Beizutragen zu vertiefter und differenzierter Einsicht, zur Veranschaulichung, besonders zu einer Bewußtmachung, die Widersprüche nicht ausklammert, die vor allem die Menschen und die kleinräumigen Ebenen nicht ausklammert, um die es letztlich geht.

200

Sandner

Literaturauswahl Altenburg, T. und Oßenbrügge, J.: Komponenten einer ökologisch orientierten Regionalentwicklung für Lateinamerika. In: H. Heske (Hrsg.). Ernte-Dank? Landwirtschaft zwischen Agrobusiness, Gentechnik und traditionellem Landbau. Ohozid 3, 1987, S. 185-203. Ellenberg, L.: Die ökologische Problematik in Costa Rica. In: G. Kohlhepp und A. Schrader (Hrsg.): Ökologische Probleme in Lateinamerika. Tübingen 1987, S. 39-50. Kohlhepp, G. und Schrader, A. (Hrsg.): Ökologische Probleme in Lateinamerika. Wissenschaftliche Tagung Tübingen 1986. Tübinger Geographische Studien 96, Tübingen 1987. Lücker, R.: Räumlicher Strukturwandel in einer peripheren Region durch weltmarktorientierte Agrarpolitik. Das Beispiel Alto Uruguai (Südbrasilien). In: Geographische Zeitschrift 74, 1986, S. 168-176. Mann, G.: Die Ökosysteme Südamerikas. In: E. J. Fittkau et al. (Hrsg.): Biography and Ecology in South America, Vol. 1, Den Haag 1968, S. 171-229. Mansilla, H. C. F.: Nationale Identität, gesellschaftliche Wahrnehmung natürlicher Ressourcen und ökologische Probleme in Bolivien. Beiträge zur Soziologie und Sozialkunde Lateinamerikas 34, München 1984. Mikus, W.: Aktuelle Tendenzen in der Bewertung von Entwicklungs- und Umwelt problemen. Zwischenergebnisse mit Beispielen zu Befragungsprofilen in einzelnen Instituten Lateinamerikas. In: G. Kohlhepp und A. Schrader (Hrsg.): Ökologische Probleme in Lateinamerika. Tübingen 1987, S. 253 - 265. Sandner, G.: Begriff und Stellenwert des Medio Ambiente in der nationalen und übernationalen Entwicklungsplanung in Lateinamerika. In: G. Kohlhepp u. A. Schrader (Hrsg.): Ökologische Probleme in Lateinamerika. Tübingen 1987, S. 7-18. Schrader, A. und Schlütl:r, H.: Ökologie-Diskussion in Lateinamerika. Anuario 2, Münsteraner Schriften zur Lateinamerika -Forschung, 1986.

Lateinamerika und Europa: Menschenbild, Minderheiten, Medien

Das Selbstverstä.ndnis des lateinamerikanischen Menschen gegenüber dem Europäer Jlilio Teran-DutarP

Wie wir lateinamerikanischen Menschen uns im Verhältnis zu den Europäern verstehen, kann man - ohne systematische Absicht - nach drei geschichtlichen Etappen unterscheiden: Erstens, die Zeit der betonten europäischen Zugehörigkeit während gut dreier Jahrhunderte amerikanischen Reifens. Dann die Etappe eines kritischen Abstandnehmens von Europa seit Beginn des 19. zumindest bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts. Schließlich die gegenwärtige Besinnung auf eine ausgewogenere Bestimmung unseres Selbstseins im Angesicht der ganzen Welt und besonders der Europäer. Im folgenden werden die Abschnitte amerikanischer Geistesgeschichte unter dem Blickwinkel des Politischen, des Religiösen und des Kulturellen überhaupt kurz behandelt. Im Vordergrund steht hier Spanischamerika, wenn auch im portugiesischen Teil des Halbkontinents ähnliche Vorgänge, vielleicht anders artikuliert, festzustellen wären.

I

Die Haltung einer europäischen Zugehörigkeit der Gründer

Vom 16. bis zum 18. Jahrhundert ist das erwachte Selbstbewußtsein des Amerikaners stolz nach Europa orientiert, allerdings mit Nachdruck auf die eigene Neuartigkeit: Diesseits des Atlantiks liegt die Neue Welt, als NeuEuropa verstanden. Politisch wußte sich keine der überall entstehenden und wirtschaftlich blühenden Ansiedlungen einer "Kolonie" im modernen Sinne des Wortes zugehörig. Die ersten Einwanderer konnten als abenteuerlustige Fahrer oder Iprofessor für Philosopie und Rektor der Päpstlich-Katholischen Universität von Ecuador.

204

Teran-Dutari

vom Glück begünstigte Krieger nie frei auftreten. Sie verstanden sich eher als von der Krone gesandte oder zugelassene Teilnehmer an einem gewaltigen, abwechslungsvollen Unternehmen, dessen bewußtes Ziel (ob berechtigt oder nicht, bleibe dahingestellt) das Einpßanzen der in Europa geltenden Rechtsordnung und der von Gott beglaubigten Christenheit war. Auf diese Weise sollten die neu entdeckten Völker niCht eigentlich von Europa "erobert", sondern darin eingegliedert werden. Die Nachfahren dieser Gründer haben sich dann in unglaublich zunehmendem Maße mit der einheimischen Bevölkerung biologisch und gesellschaftlich vermischt und sich so - bei all ihren zugestandenen Sünden gegen Gott und die Mitmenschen - als Verwirklicher jenes edlen zivilisierenden Ideals betrachtet. Im Ausgleich zwischen stolzer Selbstständigkeit der neuen Länder und unbestrittener Zusammengehörigkeit in einem weltweiten Reich entwikkelten sich das Kommunalwesen und die Provinzialregierungen bis zur Bildung von großen, in der iberischen und indianischen Tradition verwurzelten Königtümer. Übrigens hießen sie in bezeichnender Weise Neu-Spanien (Mexiko) oder Neu-Granada (Kolumbien). Zahlreiche ähnliche Wortbildungen bestimmen heute noch Geographie und Bewußtsein quer durch ganz Lateinamerika. Bald machten sich zwar Spannungen zwischen Europäern und Amerikanern bemerkbar, die im Grunde jedoch nichts anderes waren als typische Streitigkeiten unter Mitbürgern verschiedenen Ursprungs innerhalb des gemeinsamen Welt- und Selbstverständnisses. Nährboden für ein solches Einheitsbewußtsein war die religiöse Grundeinstellung des Lebens. Darin konnten Europäer und Indianer ohne weiteres zusammenkommen. Auf der christlichen Seite war diejenige Glaubensüberzeugung ausschlaggebend, die seinerzeit das europäische Mittelalter ermöglicht hatte: Durch die Taufe, auf welche die ausgebreitete Evangelisierung der Missionare jahrhundertelang unermüdlich baute, werden im Schoße der Weltkirche die fremden Rassen und Kulturen in die höchste Würde und Gemeinschaft des von Christus erlösten Kindergottes aufgenommen; folglich auch in nahe Verwandtschaft zu den älteren christlichen Völkern gebracht. In diesem Sinne konnten alle kirchlichen Institutionen seit dem ersten Anfang mit eigener Jurisdiktion und Hierarchie durch das königliche Patronat errichtet werden. Ordensmänner und Bischöfe, Ordensfrauen, einßußreiche Klöster und bahnbrechende indianische Reduktionen, sie alle haben glorreichen Leistungen der alten Christenheit nachgeeifert, ja sogar sie zu übertreffen gemeint, insofern hier die Einheit des christlichen Volkes trotz überlebender Reste heidnischer Kulte nicht durch Schisma und Häresie gebrochen war. Nicht anders verhielt sich die Sache in den verschiedenen kulturellen Bereichen. Hier herrschte der Wille zur Wiederholung einer europäischen Welt; manchmal auch der Konsens, dies erreicht zu haben. Sehr früh entstanden Universitäten nach dem Muster Salamancas beziehungsweise der römischen Gregoriana. An diesen wurden neben den in Europa gepßegten Disziplinen auch die einheimischen Sprachen gelehrt und erforscht. Die Kollegien der

Selbstverständnis des lateinamerikanischen Menschen

205

Jesuiten haben den zeitgemäßen Unterricht mit entsprechender Lebensweise unter den Weißen (lies "Mischlingen") und zugleich Indianern weit verbreitet. Ähnliches hat das Missionswerk anderer kirchlicher Gemeinschaften in bezug auf Zivilisation und Humanisierung - selbst inmitten unverzeihlicher Mißverhältnisse von seiten nicht weniger Encomenderos - überall betrieben. Konnte sich infolgedessen das gesamte soziale Dasein von Sitten und Bräuchen, von Vorstellungen, Werten, Leitbildern europäischer Seinsweise prägen und gestalten lassen, so wurde dabei das autochthone Kulturgut nicht barbarisch zerstört, geschweige denn - wie unweit dieser Gegenden - restlos ausgerottet, aber auch nicht zu bloßem Folklore abgewertet, sondern in eben dasselbe Grundverhalten und -verstehen zu einem beachtlichen Teil integriert.

11

Kritisches Abstandnehmen von Europa

Die beschriebene Bewußtseinslage hat sich in Lateinamerika allmählich, aber spürbar geändert. Es ist in neueren Zeiten sogar in breiten Kreisen zu einem entgegengesetzten Selbstverständnis anti-europäischen Stils gekommen. Dazu haben geschichtliche Entwicklungen erheblich beigetragen, die wir in Hinblick auf die drei hier gewählten Gesichtspunkte unter die bekannten drei Revolutionen subsumieren möchten: Es geht um die politische Revolution der Vnabhängigkeitskriege; um die ideologische, ins Religiöse umschlagende Revolution des Liberalismus und Positivismus; und um die letzte kultursoziologische Umwälzung mit ihrem neuen - vornehmlich marxistischen - Gesellschaftsentwurf. Durch politisch-militärische Aufstände wurde im spanischen Hoheitsgebiet am Anfang des vorherigen Jahrhunderts eine lateinamerikanische Führung unter dem Vorwand eingesetzt, gegen die Usurpatoren der Krone zu protestieren, in Wahrheit aber, um die unerträgliche Fernsteuerung abzuschaffen. Dabei sind zwar andere, zum Beispiel wirtschaftliche Abhängigkeitsverhältnisse aufgekommen; die kulturelle Verbundenheit mit Europa blieb jedoch unangetastet. Diese hat aber bald um die Jahrhundertwende durch den politischen Vormarsch des radikalen Liberalismus einen schweren Riß erlitten, der sich im religiösen Bewußtsein besonders auswirkte und die Wurzeln des nationalen Ethos verletzte, vor allem dort, wo emanzipatorische Humanideale zusammen mit positivistischen Denkweisen das vermeintlich rückständige Erbgut des iberischen Katholizismus in dessen universeller Formungsfunktion zu ersetzen versuchten. Zugleich wächst in dieser Periode die Verlockung des mächtigen Nachbarn in Nordamerika. Während von ihm unserer territorial~n Integrität und nationalen Eigenart durch schmerzliches Eingreifen massiver Schaden zugefügt

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wurde, liebäugelten unsere Politiker mit dem Wunschbild eines gegen Europa gerichteten Panamerikanismus. Seit den ersten Abschnitten des jetzigen Jahrhunderts bahnt sich nun in Lateinamerika eine tiefgreifende sozialistische Revolution ihren Weg. Als solche hat sie nur an wenigen Orten (etwa in Mexiko) politische Verwandlungskraft gezeigt und erst in jüngster Zeit die Sonderfalle von Kuba und Nikaragua mit kämpferisch marxistischer Wut hervorgebracht. Indessen verstärkte dieser neue Geist die schon vorhandenen Tendenzen einer Suche nach der - wie es hieß - lange Zeit verdrängten Eigentlichkeit des unterscheidenden Lateinamerikanischen. Hier sind bedeutende Erscheinungen zu verzeichnen, welche jedoch nicht selten chauvinistisch anmuten, wie der weit ausholende Indigenismus, die Wiederentdeckung von Brauchtum und Tradition, das gefeierte Neue in der Literatur und in der Kunst überhaupt; kurz, das Geltendmachen des Autochthonen gegenüber aufgezwungenen abendländischen Modellen. All diese Zeitströmmungen kommen spätestens in den sechziger Jahren dieses Jahrhunderts derart zusammen, daß die herkömmliche Formel einer abendländischen christlichen Zivilisation als Bezugsrahmen des eigenen Menschenbildes überall in Frage gestellt und nicht selten gänzlich verworfen wird. Die hegelsch-marxistisch inspirierte Redeweise von der Entfremdung tritt an die Öffentlichkeit, das Schema von Unterdrückung und Befreiung ist durch sozialen Konventionalismus zu einer Selbstverständlichkeit geworden. Neue Formeln zur Bestimmung des eigenen Ortes in der Welt und Geschichte bürgern sich ein: Statt "Zivilisation", wobei das Ergebnis imperialistischer Mächte mitzuklingen scheint, bevorzugt man solche Ausdrücke wie junge, arme und unterjochte Völker, die sowohl wirtschaftlich als auch kulturell beraubt, ausgeplündert, marginalisiert worden wären und nunmehr einem vielseitigen Elend anheimfallen würden. Anstatt des Interesses für das Westliche, womit das Abendland als Höchstbegriff einer verheerenden Geist- und Machtentwicklung gemeint sei, fing man plötzlich an, von Zugehörigkeit zu einer "Dritten Welt" zu reden, welche zwischen den Weltmächten USA und UdSSR, zwischen überreichem Norden und ausgehungertem Süden läge. Statt vom Christlichen als Bezeichnung werthaften Bodens unserer ganzen Kultur zu sprechen, spricht man vom gesunden Pluralismus, der die konstantinisch, germanisch, iberisch verkrustete Christenheit der Hierarchie, des Dogmas und der hemmenden Angstgefühle abgelöst hätte, und sonst den befreienden Absichten einer nachkonziliar erneuerten Kirche nur noch die bescheidene funktion der Motivierung und Mitarbeit an den sozialen Kämpfen zuzuerkennen bereit wäre. Dies richtet sich alles vornehmlich gegen die Westeuropäer und ihre Erben in Nordamerika. Einer systematischen Beeinflussung zufolge sieht man oft in diesen Menschen unsere Aggressoren, Eroberer und Unterdrücker. Ihnen rechnet man gewisse Mitläufer und Nachahmer in unserer Mitte zu: Verschlafene Romantiker, die auf die Metropolen Madrid und Lissabon geblickt oder auf die alten Welt zentren Paris, London und Berlin gehorcht hätten und sich danach immer noch zu sehnen scheinen; eifrige Kirchgänger, die

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mit Unterstützung mitteleuropäischer Würdenträger den römischen Machtansprüchen nachkämen; Oberschichten der Bevölkerung (meist Neureiche), die aus eigennützigen Interessen heraus ein gewisses traditionelles Band nicht zu zerschneiden wagten; konservative Intellektuelle, die sich zur Beruhigung sozialer Widersprüche und zur Befestigung ungerechter Vormachtstellungen dem ideologischen Wahn einer Philosophie oder gar Theologie von Seins-, Gott- und Personprinzipien verschrieben hätten. Manches Mal droht uns der Alptraum zu überfallen, wir wären am besten als die Außenseiter der christlich-abendländischen Geistesgeschichte identifiziert. Sollte demnach nicht unsere ursprüngliche biologische Verbundenheit mit den natürlichen Völkern Afrikas und Ozeaniens wieder erwachen? Liegt nicht die uralte Weisheit Asiens unserem indianischen Traditionsreichtum näher als der europäische, ohnehin schon in Krisen geratene Geistesdrang der Naturbeherrschung mit seinen zerstörerischen Folgen für Mensch und Kosmos? Auf der anderen Seite kann man nicht umhin zu fragen: Besteht bei diesem veränderten Selbstverständnis nicht die gleiche merkwürdige Abhängigkeit von Europa? Politisch zunächst: Wie die Rebellionskriege im vorigen Jahrhundert zum großen Teil Ausflüsse französischer Ideale beziehungsweise englischer Interessen waren, verrät nicht der jetzige Widerstand einer unterdrückten Peripherie gegen" westliche" Machtzentren die geheime Neigung, diese einmal kopieren und womöglich übertreffen zu können? . Im Religiösen geht der Verdacht um, daß das popularisierte neue Kirchenobjekt einer selbst abgegrenzten Mitwirkung an einer (vielleicht erträumten) pluralistischen Gesellschaft den säkularistischen, zwielichtigen Tendenzen eines westeuropäischen Christentums entstamme, in ähnlicher Weise wie die lateinamerikanische Theologie der Befreiung ihre rationellen Quellen und systematische Ausarbeitung bei Vor- und Nachdenkern französischer und deutscher Wissenschaft gefunden haben könnte. Was die BegrifBichkeit im allgemein kulturellen Selbstverständnis betrifft, ist das Schicksal mancher Worte lehrreich. Zunächst war in der Wirtschaft und dann in vielen Kulturbereichen von "Unterentwicklung" die Rede; dieser Ausdruck war aber mit der Vorstellung einer maßgebenden Überlegenheit des Fremden beladen und wurde als solcher später weitgehend verworfen, wenn er bei offiziellen Auffassungen auch immer noch wirksam bleibt. Heute ist die Sprache der Unterdrückung geläufig; sie verschleiert nur schwer die in der deutschen Philosophie verankerte Dialektik von Herr und Knecht und bestätigt die ausschlaggebende Rolle des ersteren, wenigstens solange das negative Moment des letzteren nicht eigens gedacht wird. Wo bleibt aber bei dieser pauschalen Entgegensetzung das Eigene Lateinamerikas?

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N eues Selbstverständnis aus der Begegnung mit dem Anderen

Die letzten Erwägungen stellen die Aufgabe, ein Selbstverständnis des Lateinamerikaners anders als auf einem dialektischen Gegensatz zum Europäer zu begründen. 2 Von System- und Geschichtsentwürfen absehend, berücksichtigen wir hier manche vorhandene Ansätze eines empirischen Zugangs zur gestellten Aufgabe. Um dies mit der allgemein kulturellen Bestimmung zu beginnen, bevorzugen wir den lange Zeit verwendeten Begriff einer mestizaje, die nicht nur die sich in allen Schattierungen ereignende Mischung der Rassen bedeutet, sondern - darin gründend, aber darüber hinausreichend - auch die fruchtbare Begegnung von Kulturen und die so geborenen kräftigen Kulturkeime meint. Daß hier in Lateinamerika ein geschichtliches Novum nicht ohne Konßikt geworden ist und mit eigener Wucht weiterwächst, haben die Denker der zweiten oben beschriebenen Etappe gegen manche Übertreibungen und teuer gewordene Sehnsüchte der ersten Etappe zur Genüge bewiesen. Daß aber das Neue nicht einfach in einer negativen Ausßucht und vernichtenden Abrechnung mit europäischer Vergangenheit bestehen müsse, sondern höchst positive Inhalte von seinen Ursprüngen herleite, dies leuchtet uns gegen das Schwärmertum der zweiten Etappe unter sachlicherer Bewertung der ersten immer mehr ein . .Die öffentliche Reßexion der katholischen Kirche Lateinamerikas hat diese Denkweise nicht nur auf die religiöse Problematik angewendet; sie hat vielmehr ihr eigenes Selbstverständnis gewiß unter dem Glaubenslicht - wie sie sagt - an der Wurzel und im Herzen dieser "Mestizen"- Kultur angesiedelt. Die Dokumente von Puebla sprechen von einem "katholischen Substrat" der Kultur unserer Völker, das sich durch die mächtige Begegnung von Rassen, Weltanschauungen und politischen Interessen hindurch zwar mit vielen Schattenseiten dramatisch behauptet hätte und dennoch vermöchte, ein neues geschichtliches Kulturdasein zu erzeugen und dann zu ansehnlicher Reife zu bringen. Dieses Kulturdasein entstammt also dem iberisch enkulturierten christlichen Glauben; es trägt unverkennbare Züge der indianischen Religiosität und Seinsweise; schlägt sich in einer Volksweisheit nieder, deren kräftiger Kern humaner Werte und gesunder Einstellungen der Natur und dem Kosmos gegenüber die Fähigkeit besitzt, ein Selbstbewußtsein des Lateinamerikaners in Achtung und Offenheit für den Fremden zu bewahren beziehungsweise wie2Sosehr bei uns das Denken der hegeischen und marJcschen Dialektik das Feld zu beherrschen und den Kampf gegen Positivismus und Pragmatismus anzuruhren scheint, so ist trotzdem ein Rückgriff auf den fruchtbaren Analogiegedanken der Griechen und der Scholastiker durchaus am Platz. Die sich hier auch rur unsere Frage eröffnenden Aussichten können wir an diesem Ort nicht weiter besprechen. Auf dieselben haben in einem ähnlichen Zusammenhang schon andere Denker hingewiesen: In Europa vor allem der alte Denkmeister, dem ich das Wertvollste meines intellektuellen Schaffens schuldig bin, Erich Przwara, und dann in letzter Zeit Heinrich Beckj in Lateinamerika einige Kollegen, unter denen ich Juan Carlos Scannone an erster Stelle nennen möchte.

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der zu erwecken. Aus diesem Selbstbewußtsein heraus sollten wir uns - so fahrt die kirchliche Rede fort - zwei gleich dringende Aufgaben stellen: Nach innen der Sicherung der eigenen Lebensmächtigkeit angesichts der beängstigenden Probleme von ungerechter Armut, Gewalttätigkeit, scheinbar kaum zu beherrschendem Bevölkerungszuwachs mitten in der härtesten wirtschaftlichen Krise; nach außen aber (was heutzutage in eines geht) der Leistung eines eigenen Beitrags zum Ringen der Menschheit um den Weltfrieden und die größere Annäherung und Zusammenarbeit von Völkern verschiedener Traditionen. Nun, dies alles kann und muß heute als christliche Sendung - weit von jedem Klerikalismus oder kirchlicher Anmaßung entfernt - verkündet werden. Aber auch die politische Tragweite solcher Positionen ist ersichtlich. Rund um Lateinamerika wird neuerdings von der Notwendigkeit geredet, unsere kulturelle Völkereinheit auch in der politischen Sphäre gelten zu lassen und sie auf die Förderung des gegenseitig bereichernden Dialogs mit der Völkergemeinschaft der ganzen Welt auszurichten. Näher betrachtet, erscheint jetzt diese soziale Einheit Lateinamerikas in ihrer rassischen und kulturellen Zusammensetzung viel differenzierter, obschon in Hinblick auf politisches Zusammenleben nicht unproblematisch. Hervorstechend ist das wach gewordene Selbstbewußtsein mehr oder weniger rein gebliebener Gruppierungen der Ureinwohner in Ländern mit starkem indianischen Schlag. Auch folgendes Faktum hat die soziale Landschaft verändert: Auf dem ursprünglichen indianisch-iberisch konstituierten Bevölkerungsboden, dem die wichtigen afrikanischen Anteile im Laufe der Zeit beigemischt wurden, haben sich in den letzten rund hundert Jahren erhebliche Zuwanderungen von nicht iberischen Europäern und semitischen (sowohl arabischen als auch hebräischen) Gruppen zusammen mit Chinesen, Japanern und anderen Ostasiaten friedlich niedergelassen und sich der einheimischen Kultur größtenteils assimiliert. So ist die internationale Präsenz und Kontaktmöglichkeit unserer Völker erhöht und zugleich die Hoffnung verstärkt worden, an der weltweiten Diskussion und Behandlung der Menschheitsprobleme mit einem positiven Beitrag teilnehmen zu können. Beim Ausbleiben einer universell verpflichtenden Weltorganisation, von der höchstens auf die zwischenstaatlichen Beziehungen die Rechtswege moderner Demokratie übertragen würden, bildet sich bei unseren ernsteren Politikern ein Konsens darüber, es müsse in solchem Dialog eine Lösung für drükkende Fragen gefunden werden, ",oie Außenverschuldung, Weltmarktverhältnisse, Terrorismus, Drogenverkehr , Militäreingriffe und so weiter. Dazu hilft nicht nur die Bereitschaft, beiderseitige Zugeständnisse zu machen oder Leistungen wissenschaftlicher und technischer Art auszutauschen, sondern auch und noch mehr in eine echte Verbundenheit von geschichtlichen Werterfahrungen juristischer, ethischer und anthropologischer Natur eintreten zu wollen. Wir Lateinamerikaner glauben, daß hier der schöpferischen Beziehungsiähigkeit unserer Menschen mit ihrer vielfachen Verwurzelung in Raum und Zeit, aber auch unter Bedrohung wachsenden IdentitätsverlUoStes, eine komplexe Aufgabe, ja eine kolossale Herausforderung begegnet.

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Ein anderes Verhältnis zum Europäer steckt in diesem Umdenken des Lateinamerikaners. Das europäische Moment unserer Kultur wird als eine Grundbegebenheit wiedererkannt. Nichts könnte an der Tatsache geändert werden, daß sich die gemischte Seele eines ganzen Kontinents in romanischen Sprachen äußert, vom Abendland ererbte Denk- und Handlungsmodelle zum Abstecken des eigenen Lebenshorizonts benutzt, mit Europa die Grundeinstellungen und -maßstäbe der Menschlichkeit und der Sorge für die Welt innig teilt und dabei typischen Erwartungen oder Enttäuschungen, Überheblichkeiten, Schuldkomplexen - genauso wie jenseits des Atlantiks - ausgesetzt bleibt. Mit einem wichtigen Symbol ist Europa von unserer kulturellen Situation her als Vater anzusprechen, obwohl wir da lieber "Mutterland" (madre patria) sagen. Das indianisch Autochthone bildet den mütterlichen Schoß. In die zeugende Begegnung dieser beiden betten sich alle weiteren Einflüsse anderer Völker ein. Aber die davon sich ableitenden Beziehungen zum Vater können nicht infantil oder pubertär aufgefaßt werden. Wir möchten sie aus der Reife eines beiderseits mündigen Verhaltens her verstehen. Ein intensiver Austausch mit Europa erscheint uns unaufhaltsam. Nur muß er unter Rücksicht auf die Geschichte in Anerkennung und Vermeidung der begangenen Fehler geschehen. Mögen noch mißlungene Kontakte, Reibungen und Konflikte auftauchen; sie können und sollen von einem aufgeklärten Wissen um den je eigenen Werdegang und Zukunftsauftrag überwunden werden. Nicht wesentlich anders stellt sich das Verhältnis auf der Ebene der für uns so wichtigen religiösen und kirchlichen Phänomene. Abgesehen von der bleibenden Bedeutung der Weltkollegialität der Bischöfe und des römischen Primats für unseren Katholizismus (was heute ein neues Interesse an den Völkern Osteuropas impliziert), werden bessere Beziehungen zum europäischen Christentum erwünscht. Soll die amtliche Aufforderung Recht behalten, so muß unser konservativer Volkskatholizismus in eine mündige, kulturträchtige Glaubensgemeinschaft mit tätiger Vorliebe für die Armen übergehen. Dies geht nicht, ohne zwei Erfordernisse bezüglich Europas zu erfüllen, die kaum von selbst zusammenpassen: Einmal, uns den richtungsgebenden Entwicklungen in Exegese, Liturgie und Pastoral anzuschließen; zum Zweiten aber, manchen für uns gefährlichen, säkularistischen Tendenzen eben dieses europäischen Katholizismus zu widerstehen. Darüber hinaus wird nicht selten, sogar von höchster Stelle, verlautbart, die Stunde Lateinamerikas zum Dienst an der Weltkirche habe geschlagen. Gemeint wird nicht nur die Missionsarbeit unter den nicht christlichen Völkern. Auch die europäischen Christen sollen von der jungen Berufungskraft und ungeahnter Praxisnähe unserer Kirchen neue Impulse erhalten. Überhaupt betonen wir abschließend, daß auf allen Gebieten die Lateinamerikaner als redliche Partner vor die Partner aller Weltrichtungen treten möchten. Diese Partnerschaft betrifft aber an erster Stelle die europäischen Völker, mit denen uns die Geschichte verbindet, und natürlich auch die von Europa geprägten Völker Nordamerikas. Letztere sind jedoch für uns keine unumgängliche Brücke zum Abendland.

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In Europa können wir uns zu Hause fühlen. Damit hängt auf lange Sicht unser Schicksal zusammen, weit mehr als mit Asien,oder Afrika. Lateinamerikanische Volksweisheit hegt sogar die unwissenschaftliche Ahnung, wir wären gerufen, eine Vermittlung zwischen dem Abendland und der afro-asiatischen Welt darzustellen. Zwar könnte der Weg von Europa aus bis dahin allzu lang und gar entmutigend scheinen. Doch von uns her, im Lichte eines verantwortlichen Selbstverständnisses, sehen die Dinge - bei aller Problemfülle - zuweilen hoffnungsvoller aus.

Deutsch-jüdische Symbiose bis 1933, argentinisch-jüdische Symbiose bis 1950 David Bankier!

Wir werden uns heute mit einem Phänomen beschäftigen, das sich in der Diaspora, wo Juden leben, in vielfaltiger Weise wiederholt: Nämlich der Versuch, eine Symbiose zwischen Judentum und der Kultur der Umwelt zu schaffen als ein Mittel, sich darin zu assimilieren oder sich-anzunähern, um die Nationalität der betreffenden Nation anzunehmen. Wir konzentrieren uns hier auf zwei Fälle, nämlich Deutschland und Argentinien. Lassen Sie mich zunächst einen Blick auf den sozio-psychologischen Kontext einiger Personen werfen, die die deutsch-jüdische Symbiose schaffen wollten. Es handelt sich dabei um einen Kreis junger jüdischer Studenten in Berlin, welche im Jalue 1819 den "Verein für Kultur und Wissenschaft des Judentums" ins Leben riefen. Wenn wir die Protokolle der Zusammenkünfte dieses Kreises betrachten, lassen sich zwei Zeitabschnitte erkennen: Einmal vor 1819 und dann nach 1819. Was interessierte diese jungen Leute vor 1819? "Studien über das Alte Rom", "Über die zukünftige universelle Sprache Europas", "Über das Glück, "Der Anfang der europäischen Dichtung", "Die italienische Tragödie", "Macbeth" und so weiter. Jedoch nach 1819 änderte sich dies und man fing an, sich mit Themen zu beschäftigen wie: "Die Wiederaufnahme der Juden in England" , "Die Gesetzgebung der Juden im alten Rom", "Politische Geschichte der Juden im Westen", "Die Vokale in der hebräischen Sprache". Es ist eindeutig, daß während vor 1819 die Themen dem europäischen Kulturkreis entnommen wurden, nun eine Rückkehr zur jüdischen Vergangenheit stattfand, und zwar um die jüdische Identität neu zu definieren. Was war der Grund für diese Änderung? Nach der Niederlage Napoleons wuchs die Judenfeindschaft in den deutschen Staaten, die manchmal auch von Liberalen unterstützt wurde. Die anti-jüdischen Ressentiments fanden ihren Ausdruck in den Hep-Hep-Unruhen von 1819. Diesem Antisemitismus wollten diese jüdischen Studenten mit einer Anti-Diffamierungs-Kampagne begegnen. Als geeignetes Mittel dazu schien ihnen die neue historische Methode, welche als Waffe dienen sollte, um diejenigen zu bekämpfen, die das Judentum Iprofessor für Zeitgenössisches Judentum an der Hebräischen Universität, Jerusalem.

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besudelten. Hier stellt sich nun die Frage, warum aus diesem Kreis junger jüdischer Studenten keine jüdische Nationalbewegung hervorging, wie dies in anderen Fällen geschah. Daß dies nicht zu einer Definition des Judentums im Sinne moderner Nationalbewegungen führte, die zu dieser Zeit ihre Ideologie unter dem Einfluß des Romantizismus entwickelten, geschah einfach deswegen nicht, da die Definition einer jüdischen Nationalität mit politischen und sozialen Folgen den Zielen der Emanzipation widersprochen hätte, welche die modernen europäischen Staaten und vor allem Preußen und andere deutsche Staaten sich gesetzt hatten. Was waren nun die Ziele des "Vereins für Kultur und Wissenschaft des Judentums"? Seine Mitglieder waren davon überzeugt, daß jede historische Forschung, die nicht auch das Judentum berücksichtigte, unvollständig war. Sie behaupteten, daß das Judentum nicht das Ergebnis von archeologischem Interesse sein sollte, sondern ein geistiges Prinzip, welches die Weltgeschichte in einer sinnvollen Art und Weise gestalten sollte. Deswegen sollte die Wissenschaft sich für das Judentum als einer lebendigen Komponente des Weltgeistes interessieren. Historische Untersuchungen würden auch zu den Anstrengungen der Juden beitragen, in die Gesellschaft aufgenommen zu werden und volle Gleichberechtigung zu erhalten. Sie glaubten, daß eine solche Analyse zeige, daß das Judentum sich nicht auf die alte Welt der Bibel und des Talmuds reduziere. Es würde beweisen, daß die Juden einen aktiven Anteil an der Geschichte hatten. Nur diejenige Wissenschaft, die auf der Suche nach der Wahrheit sei, würde den lebendigen und immerwährenden Beitrag des Judentums zur geistigen Entwicklung der Menschheit herausfinden und würde Zeugnis ablegen von der Fähigkeit der Juden, an der neuen Welt des 19. Jahrhunderts teilzuhaben. Durch die Wissenschaft würden beide - Juden wie Nicht-Juden - sich von ihrer gegenseitigen Entfremdung emanzipieren. Der "Verein für Kultur und Wissenschaft des Judentums" wollte die Nation, unter der die Juden lebten, dazu bringen, Achtung vor der Herkunft der Juden zu haben. Dies sollte den Zweck haben, die Juden in die sie umgebende Gesellschaft einzuführen und ihnen so den Weg zu ebnen, in der Kultur der Umwelt aufzugehen - wie der Vorsitzende des Vereins Eduard Gans es nannte: "aufgehen, nicht untergehen". Diese Annäherung muß sicherlich im hegelianischen Kontext des "Volksgeistes" gesehen werden - eine Vorstellung, die zu dieser Zeit dominierte. Nach Hegel zieht der Volksgeist eine Entwicklungslinie des Weltgeistes durch verschiedene Kulturen und gibt dadurch der Geschichte eine sinnvolle Einheit in der Entwicklung. Jedoch noch wichtiger als Hegels Ideen war der Einfluß des neuen historischen Denkens auf diese Studenten, das heißt die Entwicklung eines kritischen historischen Bewußtseins. Dieses revolutionierte - wie Ernst Troeltsch feststellte - das Bewußtsein des modernen Menschen und ebenso das Denken dieser jungen Juden. Sie vertraten die Ansicht, daß kulturelle und gesellschaftliche Wirklichkeit allein in historischen Begriffen erklärt werden könne und daß durch den historischen Gesichtspunkt die Vielfalt und Pluralität der menschlichen, kulturellen und sozialeu unterschiede entdeckt

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werde. Mehr noch lernten sie von dem führenden deutschen ffistoriker, daß es Aufgabe des Historikers sei, die Fakten darzustellen, das heißt mit den Worten Leopold von Rankes "Geschichte schreiben wie es eigentlich gewesen". Auf diese Weise würde die Geschichtsschreibung ein lebendiger Beitrag zur Aufklärung werden und die Menschen von ihren Vorurteilen befreien. Diese Ansicht führte zum Glauben, daß eine genaue Information von Vorurteilen befreie. Um nun die Fakten vom Mythos zu trennen, sollte die historische Forschung peinlich genau, wissenschaftlich, objektiv und von Subjektivität frei sein. Eine wissenschaftliche Korrektur der Informationen über das Judentum - so behaupteten diese jungen Juden - würde alle noch bestehenden Vorurteile gegen das Judentum aufheben. Durch die Wissenschaft, die als der tiefste Ausdruck des objektiven Weltgeistes gesehen wird, nahmen Juden an dem Weltgeist Anteil. In der Wissenschaft des Judentums, welche sich auf die Bedeutung des Judentums konzentriert, und zwar im Zusammenhang mit der intellektuellen und geistigen Geschichte der Menschheit, würden die Juden den Weg zur Integration in die deutsche und europäische Kultur finden. Wissenschaft wäre Autorität, die die Integration garantiert, und die Wissenschaft des Judentums im speziellen würde den einzelnen Beitrag des Judentums zum Weltgeist aufdecken. Der durch die Wissenschaft offenbarte Geist des Judentums wird Teil des Selbstbewußtseins der europäischen Kultur. Mehr noch, die korrigierten Fakten würden den in der deutschen Kultur assimilierten Juden ihren Selbstwert und ihre Ehre zurückbringen, welche Schaden gelitten hatten durch die falschen Informationen über Judentum und Juden. Alle diese intellektuellen Pirouetten dienten dazu, die Zugehörigkeit der Juden zur europäischen Kultur und Gesellschaft zu rechtfertigen. Die Wissenschaft des Judentums sollte den Weg zur Integration und achtungsvollen Assimilation der Juden ebnen und die politische Emanzipation erreichen. Das Unterstreichen der universellen Bedeutung des Judentums wurde zu einem dogmatischen Prinzip in dem Versuch, die jüdische Vergangenheit zu betrachten, um das Recht auf Existenz in der Gegenwart zu betonen. Um dieses zu erreichen, hatte das Judentum in Begriffen einer universellen Geschichte erklärt zu werden, als ein Phänomen von universeller Bedeutung. Dies hatte das Auflösen des Judentums zur Folge, nicht aber sein Verschwinden. Diesen Ansichten folgend, drückten später Gabriel Riesser, Moritz Lazarus, Harry Breslau, Hermann Cohen und Ludwig Bamberger, um nur einige zu nennen, die Position aus, die eine Grundkomponente in der Weltanschauung der deutschen Juden wurde, als sie die volle Authentizität der deutschen Nationalität der deutschen Juden beweisen wollten: Wir können und wollen nichts anderes als Deutsche sein, nicht nur durch unsere Sprache, sondern auch weil wir in diesem Land leben, ihm dienen und seine Gesetze beachten. Die Deutsche Aufklärung ist unsere Grundlage und die deutsche Kunst inspiriert uns. Dies ist unser Vaterland, hier sind die Gräber unserer Väter. Nun möchte ich zum argentinischen "Fall" übergehen. Die argentinischen Juden hatten eine doppelte Sehnsucht: Nämlich sich im Land zu integrieren

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und gleichzeitig ihre jüdische Identität zu bewahren; Gleichheit zu erhalten ohne die Individualität aufgeben zu müssen. Theoretisch beruhte dieses Bestreben auf dem universellen Prinzip der Aufklärung und wurde durch die argentinische Verfassung garantiert. In der geschichtlichen Wirklichkeit jedoch, welche bestimmt wurde durch die politischen Strömungen und intellektuellen Tendenzen der Zeit, wurden Integration und Festhalten sowie Bewahren einer eigenen Identität als miteinander unvereinbar und nicht wünschenswert angesehen. Dieser Gegensatz erhält mehr Bedeutung, wenn wir uns daran erinnern, daß die argentinischen Liberalen, einschließlich erklärte Gegner des Antisemitismus, mit diesen Zielen der argentinischen Juden nicht übereinstimmten, da sie für kulturelle und nationale Gleichheit plädierten. Für viele Juden blieb die Zuneigung zu einem ideellen, geistigen Nationalismus der einzige Bestandteil ihrer jüdischen Identität. Für die argentinische Umwelt waren die jüdischen Sehl!süchte Ärgernis erregend, unsinnig, widernatürlich und lächerlich. Alle Anstrengungen der Juden hatten keine Wirkung und zu keiner Zeit gelang es ihnen, die Barriere des Mißtrauens und der Böswilligkeit zwischen ihnen und der dominierenden Mehrheit niederzureißen. Die Juden bewegten sich meistens in jüdischen Kreisen und glaubten ernsthaft daran, daß ihre Existenz als Separatgruppe innerhalb der Gesellschaft ihre Berechtigung durch die universellen Prinzipien eines Rechtsstaates hätte, welcher individuelle Rechte garantierte und einen klaren Trennungsstrich zwischen der politischen Sphäre und derjenigen des Glaubens zog. Im Gegensatz zu den Erwartungen wurde die Religion jedoch nicht zu einer Privatangelegenheit, begrenzt in der Sphäre des einzelnen, sondern der Katholizismus setzte sich in den Gedanken und dem Benehmen des kulturellen, politischen und gesellschaftlichen Lebens durch. Parteien, soziale und kulturelle Organisationen definierten sich ausschließlich als katholisch. Deswegen bildeten die Juden ein anti-christliches - daher unzuverlässiges - Element und wurden verantwortlich gemacht für die Zersetzung und den Zusammenbruch der traditionellen, gesellschaftlichen und kulturellen Werte des Lebens. In diesem historischen Zusammenhang finden wir verschiedene Integrationsprojekte jüdischer Intellektueller, die eine jüdisch-argentinische Symbiose schaffen wollten. Alberto Gerchunoff, einer der frühen Verfechter dieser Symbiose, verstand, daß die Juden sich nicht mit der indianischen Tradition identifizieren konnten, und er versuchte wenigstens eine Verbindung zu schaffen zwischen seiner jüdischen Herkunft und dem neuen Land in seiner Schrift Gauchos Judios (jüdische Gauchos), erschienen im Jahre 1910, gedacht als ein jüdischer Beitrag zur 100-Jahrfeier der Unabhängigkeit Argentiniens. In dieser Schrift werden biblische Gestalten mit der lokalen Vorstellung der Gauchos vermengt - ein seltsamer Versuch, beide Kulturen zu vermischen. Argentinien wird in diesem Buch, wie auch in seinem anderen unbeendeten Roman "Das Land Zions" zu dem gelobten Land. Hispanophilie und die Nachahmung der Sprache von Cervantes wird absichtlich von Gerchunoff als literarischer Stil verwendet - wie auch von Carlos Grunberg in seinen Gedichten, der archaische Sprache als Mittel benutzt, um die argentinische Nationalität

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zu legitimieren, und zwar in dem Sinne, als wären die Juden die Ttäger der ursprünglichen spanischen Sprache. Ähnlich sind die Versuche von Antonio Portnoy, die semitische Mentalität in der spanischen Sprache zu zeigen. Betrachten wir nun einen dieser Versuche der Integration genauer: Das Projekt einer sozio-kulturellen Integration in die argentinische Gesellschaft, welches von dem Zirkel um die Zeitschrift Judaica in den Jahren 1933 bis 1947 unternommen wurde. Diese Zeitschrift bildete einen wichtigen Sozialisationsfaktor für die jüdische Jugend wegen ihrer Bemühungen, ein respektvolles Selbstimage der jüdischen Anwesenheit in Argentinien zu bilden und zu konsolidieren - ein Versuch, kulturelle Formen staatsbürgerlicher Berechtigung zu suchen. Was war die führende Linie? Mit welchen Problemen beschäftigte sich die Zeitschrift? Die erste Nummer zeigt schon den geschichtlichen Kontext: Der rasende und wütende Antisemitismus in Europa und Argentinien in den dreißiger Jahren. Judaica betont in ihren Artikeln den Unterschied zwischen Europa und Argentinien. Während Europa dem Rassismus anheimfiel, so schreibt die Zeitschrift, ist dieser Teil des Globus dem Rassenwahnsinn und der Atmosphäre des Hasses, welche dazu führt, feindlich gesinnt. Aus diesem Grunde wird Argentinien die Wiege der zukünftigen Zivilisation sein, der Erbe von Europa. Wie die Mitglieder des "Vereins für Kultur und Wissenschaft" des Judentums glaubten auch die Autoren der Judaica, daß die Wissenschaft des Judentums und die permanente Bestätigung des jüdischen Patriotismus die passendsten und wirkungsvollsten Waffen wären, um Ablehnung zu bekämpfen. So war Judaica ein Symbol für die "Teilnahme der Juden am Vaterland und Verschmelzung von Judentum und Argentiniertum, nuestra judeidad argentina 0 nuestro argentinismo judio (unser argentinisches Judentum oder unser jüdisches Argentiniertum). Die Autoren von Judaica glaubten, den Pseudo-Dualismus und die Unverträglichkeit des Bestehens von Judentum und Patriotismus zu überwinden. Der Argentinier der zehnten Generation - so behauptete die Zeitschrift ist nicht argelltinischer als wir. Dem Vaterland gehört die jüdische Liebe, weil der liberale Geist seiner Gründer, seiner Ttaditionen und seiner Institutionen wesensgleich mit der Nation ist. Dieser Geist der staatsbürgerlichen Euphorie findet seinen Ausdruck im Gedicht von Carlos Grunberg, geschrieben in der Metrik der Nationalhymne: Wer immer Argentinien ausruft, ruft die Freiheit aus, Argentinien ist der heilige Klang, die Verkündigung an Jehovas Gemeinde. Das Gedicht endet mit der Strophe: In Frieden sollst Du zu Wohlstand gelangen, niemals sollst du durch ein Pogrom befleckt werden, und mein Volk soll immerdar das argentinische Volk mit Schalom begrüßen.

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Die jüdischen Intellektuellen der Judaica entwickelten einen psychologischen Mechanismus der selektiven Verneinung, der es ihnen erlaubte die Hindernisse, die ihnen im Wege standen, zu vermeiden und zu erklären. Ein klares Beispiel ist das Gedicht von Carlos Grundberg Patria (Vaterland). Er unterscheidet zwischen dem wirklichen Land, - antisemitisch nur vergänglich und vorübergehend, das heißt ein unvollständiges Abbild des wahren, platonischen Heimatlandes, das wahre Argentinien, das demokratisch, liberal und pluralistisch ist. Das bedeutet, daß der Jude der wahre Träger des Argentiniertums ist. Lassen Sie mich nun das Gedicht vortragen: Eine Sache ist das Vaterland, eine andere Sache ist das Land oder die Nation. Das Vaterland ist eine großartige Idee und die Nation ihre Verwirklichung Das Vaterland ist die Justiz und Gerechtigkeit, die schöne Perfektion des Idealen. Die Nation ist das konkretisierte Vaterland, die rustikale Unvollständigkeit des Wirklichen. Unterschiedlich sind die Sachen und ihre Namen, und die Schuld liegt nur am Land, wenn ihre Herrscher und ihre Bevölkerung uns verprügeln. Das Vaterland ist niemals antisemitisch, ist es nicht und kann es nicht sein, so wie Gott und wenn das Land so ist, darf der IsraeIite sich nicht beschweren - weder bei Gott noch beim Land. 2 Wie die Gründer des Vereins für Kultur und Wissenschaft des Judentums wollte auch Judaica einen historischen Irrtum berichtigen - nach den Worten von Jose Mendelssohn aus dem Jahre 1938, erneut die kulturellen Fäden und die geistige Verwandtschaft zwischen dem Judentum und dem Spaniertum 2

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Distintas Bon las cosas 11 sus nombres, 11 la culpa esta solo en el pa{s cuando sus gobernantes 0 sus hombres nos cascan la mollera 0 la nariz.

Una cosa es la patria 11 otra cosa es en cambio el pa{s 0 la nacion. La patria es una idea generosa 11 la nacion es su realizacion.

La patria no es jamas antisemita. No 10 es ni puede srrlo; como Dios. Y si el pa{s 10 es, el israelita no debe reprocharselo a los dos.

La patria es la justicia 11 el derecho, la hermosa perfeccion deI ideal; la nacion es la patria vuelta hecho, la ruda imperfeccion de 10 real.

Pero, eso si, vivimos en la tierra 11 queremos palabras 11' algo mas. jNo nos den patrias para darnos guerra! jDennos naciones, pero dennos paz!

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knoten, welche durch die Vertreibung aus Spanien zerrissen wurden. Als Mittel, die argentinischen Intellektuellen aufzuklären und den Antisemitismus zu bekämpfen, hätte die Zeitschrift jüdisch-lateinamerikanische Gemeinsamkeiten aufzuzeigen, welche, so glaubte er, existierten und nur zu entdecken und zu erforschen waren. Aron Spivak faßte unter dem Titel Judeo-America in einer klaren und extremen Art eine Reihe von Schriften zusammen, die ein Grundbestandteil von Judaica sind und sich um zwei Themen drehen, den jüdischen Beitrag zur spanischen und lateinamerikanischen Zivilisationen sowie die Ähnlichkeit und Enge zwischen dem jüdischen und dem lateinamerikanischen Geist. Das Argument von Spivak ist kurz und bündig: Wir sagen, daß Lateinamerikajüdisch ist, daß Judeo-Amerika der genaue Ausdruck ist, der wirkliche Name des Kontinents. Die Kolonialgesellschaft war ein wirtschaftliches, ethnischen und religiöses Ghetto. Der Weg zu einem neuen Horizont in dem europäischen Ghetto und demjenigen der neuen Welt hat denselben Namen: Emanzipation. In Judeo-Amerika und in Europa erhielten die Juden ihre Gleichberechtigung zur gleichen Zeit. Der erste Heilige und Märtyrer der Emanzipation hier in Amerika war Rodriguez Matos y Trevino, dort in Europa Spinoza und Uriel d'Acosta. Judeo-Amerika weiß nicht, daß es Judeo-Amerika ist. Die Aufgabe der Juden ist es, dieses Bewußtsein zu wecken. Dies ist der einzige Weg das Ghetto zu verlassen und die bestehenden Minderwertigkeitskomplexe zu bewältigen. Dieses Konzept von Judeo-Amerika ist ideologisch notwendig, um die jüdische Anwesenheit zu legitimisieren. Es dient als Bindeglied zwischen den Marranen und den neuen Juden, welche die Gestaden des Kontinents erreichen. So wie die jüdisch-spanische Symbiose im Goldenen Zeitalter in Spanien unterbrochen wird - er nennt die Vertreibung aus Spanien einen historischen Unfall- so wird sie neu geschaffen durch die Verbindung zwischen den KryptoJuden der Kolonialzeit, die zur Gestalt von Buenos Aires beitrugen, und den neu eingewanderten Juden. Diese Argumentationslinie fiel - nicht durch reinen Zufall - mit der anti-positivistischen Reaktion der Zeit und der Atmosphäre einer Hispanophilie zusammen, welche charakteristisch für den argentinischen Nationalismus ist. Die Studien über den Anteil der Juden bei der Expedition von Almagro anläßlich der Eroberung Chiles über Admiral Luis Brion, einen Juden, welcher Bolivar half, oder die Verbindung zwischen dem jüdischen Geist und dem argentinischen Nationalhelden San Martin, all dies sind eifrige, rastlose und unentwegte Versuche, den Nationalgeist der lokalen Juden zu beweisen. Nicht allein die Anwesenheit im Kontinent zu demonstrieren, ist ausschlaggebend, sondern Juden als aktiver Faktor, wenn es darum geht, die Nationalgeschichte lateinamerikanischer Länder zu gestalten. Diese Argumente führen zu absurden Höhen in den naiven und übertriebenen Feststellungen von Carlos Vogel, daß ohne die Juden Amerika nicht entdeckt worden wäre oder in solchen Studien, die die Existenz hebräischer Wörter in der indianischen Sprache

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nachzuweisen suchten. Dies war ein Versuch, in den Ureinwohnern einen der zehn verlorenen Stämme zu sehen und somit die Ursprünglichkeit jüdischer Existenz in Lateinamerika zu beweisen. Wie ähnlich waren diese Versuche jenen der deutschen Juden, welche auf den Beitrag der deutschen Juden zu Literatur, Wissenschaft und Musik hinwiesen, wobei sie vergaßen, daß die Tatsache, als Jude geboren zu sein, die Betreffenden nicht notwendigerweise zu Juden mit jüdischer Identität machte, eher das Gegenteil war der Fall. Dies führte selbst dazu, Konvertiten wieder zu Juden zu erklären: Gustav Mahler, Hugo von Hofmannsthal werden jüdische Beitragende, ungeachtet der Tatsache, daß im Fall von Hofmannsthal nur der Vater seines Großvaters jüdisch war. Diese Versuche ähneln dem Bedürfnis der jüdisch-argentinischen Intellektuellen, um den Charakter ihrer argentinischen Nationalität zu definieren, nämlich die Frage: Gibt es eine tiefe Amalgierung oder eine künstliche Verbindung zwischen Argentiniertum und Katholizismus, und gibt es die,Möglichkeit oder Unmöglichkeit einer totalen Integration in der Gesellschaft der Umwelt? Wenn Judaica sich auf Integration bezieht, dann meint sie die aktive Teilnahme in allen Sphären nationalen Lebens bei gleichzeitigem jüdischen Partikularismus im Familienleben, in der Religion, der Erziehung und so weiter. Jedoch waren nicht nur die katholischen Nationalisten sowie auch viele Liberale und Demokraten von einem tief wurzelnden Antisemitismus ergriffen, sondern teilten auch die Ansicht, daß Katholizismus ein integraler Bestandteil des Wesens der Nation sei und daher jeder jüdische Partikularismus nicht mit einer vollen Teilnahme am argentinischen Nationalleben vereinbar sei. Für die Juden gab es daher bei dieser Anschauung zwei Möglichkeiten: Entweder Assimilation (die Taufe inbegriffen) oder Ausschluß. Jene, die eine jüdisch-argentinische Symbiose schaffen wollten, mißverstanden die Bedeutung des argentinischen Liberalismus, welcher nie pluralistisch orientiert war. Die säkulare Atmosphäre, auf welche die verschiedenen Regierungen hinwiesen, wurde von den jüdischen Intellektuellen positiv gesehen wie das Angebot eines kulturellen Lebensraumes, der notwendig für die Entwicklung des jüdischen Partikularismus war. Aber sie begriffen nicht, daß jene, die für einen Säkularismus eintraten, die Herrscher einer von Einwanderung geprägten Gesellschaft waren und daher das Land in einem Nationalstaat vereinen wollten, um mit Absicht den Zerfall in Imigrantenkolonien zu vermeiden. Warum schlug sowohl in Argentinien als auch in Deutschland der Versuch, eine Symbiose zu schaffen, fehl? 1. Das Streben nach Integrationszielen, welche das Judentum der moder-

nen Welt anpassen wollte, verrät einen anhaftenden Widerspruch zwischen dem Wunsch nach objektiver Wissenschaft und ideologisch gewerteten Motiven. Der Gegensatz schuf eine ständige Spannung, die sowohl in den Schriften des "Vereins für Kultur und Wissenschaft des Judentums" als auch in den Artikeln der Zeitschrift Judaica zu erkennen ist. Beide, die Mitglieder des Vereins und die Intellektuellen der Judaica, wollten ihr Selbstbewußtsein als Juden ausdrücken. Sie konnten jedoch keine befriedigende Erklärung geben, warum sie die jüdische Identität

Jüdische Symbiosen

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bewahren wollten. Warum sollte ein Jude auf seinem Judentum bestehen? Warum dem Druck von außen standhalten? Das Ziel war einerseits die Integration, ohne jedoch zu erklären, was dies wirklich bedeutete. Was die nichtjüdischen deutschen und argentinischen Romantiker motivierte, war das aktive Verständnis ihrer eigenen Geschichte in einer positiven Perspektive; eine totale Identifikation mit ihr, während im Falle der Juden - sowohl in Argentinien als auch in Deutschland - die Juden ihre Kreativität der Umwelt zur Verfügung stellten, in einem Versuch, sich ihr begreiflich zu machen. Die "Wissenschaft des Judentums" und ludaica machten einen bewußten Versuch, die vitalen Aspekte des jüdischen Volkes als eine kollektive Einheit zu mißachten und reduzierten das Judentum auf ein reines geistiges ideelles Phänomen. Dadurch traten notwendigerweise jene Elemente in den Hintergrund, welche für eine solche Vergeistigung nicht relevant waren. Die Repräsentanten des deutschen Romantizismus zum Beispiel waren emotional an ihre Studienobjekte gebunden, aber die Verfechter der "Wissenschaft des Judentums" nahmen eine andere Haltung an. Sie wollten nur den Resten des Judentums ein anständiges Begräbnis geben - wie Moritz Steinschneider es ausgedrückt hat - der jüdischen Vergangenheit ein schönes Mausoleum errichten, das heißt Tendenzen einer De-Aktualisation waren dominierend in ihren Bestrebungen. So war die jüdische Kreativität für sie nur von antiquarischem Wert. Historisches Material der jüdischen Vergangenheit war nur von Nutzen, wenn es dem politischen und apologetischen Kampf für die Emanzipation diente; jüdische Untersuchungen wurden benutzt, um einen politischen Zweck zu fördern - ein direktes lebendiges Verhältnis zu jüdischen Studien wurde nicht entwickelt. So waren konkrete Manifest.ationen jüdischen Lebens tabu, die Selbst zensur machte das Judentum zu einer Idee und nicht zu einem lebenden Organismus. In den Schriften der jüdisch-argentinischen Intellektuellen werden triviale Kontakte mit der nichtjüdischen Gesellschaft zu hervorragenden Beziehungen. Die Prahlerei und Überdimensionalisierung, der Überfluß aller Metapher und die verschwenderische Freizügigkeit in allem was jüdisch ist, all dieses weist auf den apologetischen Charakter der Schriften hin. 2. Das berühmte Schlagwort der Französischen Revolution "Für die Juden als Individuen alles, für die Juden als Volk nichts" schloß die ~1öglich­ keit einer wirklichen Symbiose aus. Nationalität wurde nicht erreicht - entgegen den jüdischen Erwartungen - durch subjektive Gefühle der Staatsbürger, sondern nach den Vorstellungen sowohl der romantischen Argentinier als auch der deutschen Nationalisten - durch die objektive Tatsache der Zugehörigkeit zu einer historischen Gemeinschaft (einer gemeinsamen Vergangenheit), deren Wurzeln bis zu den Nibelungen oder der conquista zurückgingen. Nach den Ideen der Liberalen wurde die Nationalität erreicht durch Mischehen und gegenseitige biologische Assimilation der verschiedenen ethischen Komponenten der Nation. Keine

222

Bankier

dieser Strömungen gestattete daher die Integration von Minoritäten, die gleichzeitig ihre Identität bewahren wollten. Keine ließ Platz für partikularistische Gruppen. Als Preis für die Integration forderte die umgebende Gesellschaft die absolute Verleugnung der jüdischen Nationalität, wofür - so schien es - viele Juden bereit waren und sogar sich glücklich schätzten, diesen Preis zu bezahlen. Die Kämpfer für die jüdische Sache (Emanzipation der Juden), wie der namhafte Historiker Theodor Mommsen, rechneten bewußt mit dem Verschwinden der Juden - und dieses Verschwinden als ethnische Gruppe war die Bedingung, unter welcher sie sich der Sache der Juden annahmen. Ähnlich war es für argentinische Liberale klar, daß das Fehlen einer gemeinsamen Tradition unter den verschiedenen Immigrantengruppen die nationale Einheit verhinderte. In ihrem Eifer dieses zu erreichen, zwangen sie kulturelle Einheit auf und waren gegen Pluralismus und Vielfaltigkeit. Die Juden, die auf ihrer Identität bestanden, wurden daher sowohl in Deutschland als auch in Argentinien als der Prototyp des Hindernisses einer nationalen Einheit angesehen. Es ist klar, daß die Masse der deutschen und argentinischen Gesellschaft entweder nicht willig oder nicht fähig war, die Existenz von Juden als andersartige Gesamtheit zu akzeptieren. Trotz ihrer unterschiedlichen Ideologien war dies die vorherrschende Ansicht in beiden Ländern - unter Liberalen, Konservativen und sogar Sozialisten. Diese Haltung folgte aus dem Prinzip, welches das Recht der Existenz heterogener Elemente als Minorität in einer größeren Gesellschaft nicht anerkennt. Der Preis, welcher für die Integration in der Gesellschaft gefordert wurde, war die Auslöschung besonderer Charakterzüge und der konsequente Verlust der Identität. Eine wirklich liberale Ansicht war nicht charakteristisch für eine Gruppe oder Partei von politischer Bedeutung in beiden Ländern, sondern nur für einzelne. Die Deutschen wollten die Juden als Individuen einer Gemeinschaft in einem Prozeß der Auflösung akzeptieren; die Argentinier als eine Vielfalt von Individuen in der Welle amorpher Immigranten. 3. Nach der Einschätzung von Shulanit Volkov in ihrem Aufsatz German Jews in the Beginning 01 the 20th Century ist es klar, daß ein sozialer Kontext für deutsche und argentinische Juden geschaffen wurde. Einzigartige soziale, demographische und berufliche Merkmale schärften ihre kollektive gesellschaftliche und kulturelle Identität. In der Atmosphäre enger Verbindungen blieb eine jüdische Exklusivität. Die extreme negative Haltung, was Mischehen angeht, ist symptomatisch für die Versuche, diese gesellschaftliche Exklusivität zu behalten. Ein System von besonderen Werten schuf ihre eigene intime Kultqr innerhalb der Grenzen der modernen säkularen Gesellschaft, in welcher die Juden lebten. Kulturelle soziale codes und eine Reihe persönlicher Vorlieben gaben dieser kollektiven Identität ihre Form.

Jüdische Symbiosen

223

Sicher blieb auf dem ideologischen Niveau die Assimilation als Ziel vorherrschend. Obwohl nirgendwo explizit festgehalten, scheint es allerdings so, daß die Juden die Idee der Assimilation aufgaben und sie durch ein anderes Ideal ersetzten: Erfolg. Am Anfang war der Erfolg eine Vorbedingung für die Assimilation. Nur ein erfolgreicher Jude, entweder aufintellektuellem oder finanziellem Gebiet, konnte sich assimilieren. Erfolg wurde zu Beginn des Prozesses der Integration gesehen als das Mittel, welches zur Assimilation führte. Allerdings, als sich die Unmöglichkeit oder die Unerwünschtheit dieses Ziels herausstellte, wurde es zum Ziel selbst. Dieses wurde klar von Walter Rathenau gesehen, als er seinen Vater - den Gründer der AEG - kritisierte und feststellte, daß Erfolg nicht mit Germanisierung zu verwechseln sei. Später jedoch erkannte er die Schwierigkeiten, als er schrieb, daß für jeden jungen deutschen Juden der Moment komme, den er nie in seinem Leben vergessen könne: Nämlich der Moment, wo es ihm zum ersten Mal bewußt wird, daß er als Bürger zweiter Klasse zur Welt kam und daß kein Erfolg diese einfache Tatsache ändern könne. Jüdisch zu sein war beschämend, was in manchen Fällen sogar zum Selbsthaß führen konnte. Bernhard von Bülow, der deutsche Kanzler, der von 1900 bis 1909 im Amt war, beschreibt in seinen Erinnerungen sein erstes Treffen mit Rathenau: Er näherte sich mir mit einer gleichfalls tadellosen Verbeugung ... "Eure Durchlaucht", begann er mit wohltönendem Organ und, indem er die rechte Hand auf die linke Brust legte, "bevor ich der Gunst des Empfangs gewürdigt werde, eine Erklärung, die zugleich ein Geständnis ist". Er machte eine kleine Pause, dann mit schönem Ausdruck: "Durchlaucht, ich bin Jude!". Sowohl in Argentinien als auch in Deutschland verwechselten die Juden geschichtlich determinierte Verhältnisse mit Dialog. Die Symbiose von jüdischem Wesen und deutschem oder argentinischem Wesen war eine historische Fiktion. Jakob Wassermanns "Mein Weg als Deutscher und Jude" ist wie das Gedicht von Carlos Grunberg "Vaterland", ein Schrei in der Wüste. Nachdem nur Juden Brücken bauten, erhielten sie keine Antwort. Sie sprachen nicht zu der sie umgebenden Gesellschaft, sondern zu sich selber. Sie hörten nur das Echo ihrer eigenen Stimmen und gaukelten sich vor, daß dies die Stimmen ihrer angeblichen Partner wären. Weder in Argentinien noch in Deutschland verstanden die Juden, daß für einen Dialog zwei nötig sind. Zwei, die einander annehmen als das, was sie sind, und nicht als etwas, das sie sein sollten. Es mag sein, daß es solch einen Dialog vielleicht auf dem persönlichen Niveau gab, aber nicht als ein bedeutendes geschichtliches Phänomen. Wie Schillers Ideale der reinen Menschlichkeit gab es die Unabhängigkeitsideale der Aufklärung in Argentinien. Das Zusammentreffen der Juden mit diesen Idealen war wirklicher als ihr Zusammentreffen mit wirklichen Deutschen oder Argentiniern. Dies waren die Ursachen für den idealistischen Selbstbetrug sowohl der deutschen als auch der argentinischen Juden.

Das Bild Europas in den Kommunikationsmedien Perus 1 Desiderio Blanccr

Der Titel dieser Arbeit ist viel zu ehrgeizig im Vergleich zum Inhalt. Bedingt durch die Schwierigkeiten der vorgeschlagenen Analyse, habe ich meine Studie auf eine einzige Zeitung reduziert, EI Comercio aus Lima, da es die Zeitung mit dem größten Einßuß auf das nationale Geschehen ist und sehr repräsentativ ist. Ich habe willkürlich den Monat Januar 1987 als repräsentative Zeitspanne gewählt, um das corpus der Analyse zu bilden, und eine gewisse Abgeschlossenheit bei der Festlegung der Deutung zu erreichen. Damit die Deutung aus irgendeinem semantischen Feld auftaucht, muß dieses abgeschlossen sein, womit eine der semiotischen Bedingungen für die Gültigkeit des corpus erfüllt wird. Die anderen zusätzlichen Bedingungen sind gegeben durch die Homogenität, durch die Vollständigkeit und die Repräsentativität des corpus, Bedingungen, für deren Erfüllung ich in dieser Arbeit gesorgt habe.

I

Die Konstruktion des Bildes

Das Bild, von dem wir sprachen, ist ein komplexes System geistiger Vorstellungen, die aufgrund bestimmter Erfahrungsdaten konstruiert sind, integriert in einer kohärenten und bedeutsamen Gesamtheit. Jedes Bild ist das Ergebnis eines geistigen Konstruktionsverfahrens. Im Sinne dieser Arbeit ist das Bild eine innere Vision einer Person, einer Sache oder eines Aspektes der Realität. Es hat nichts mit dem ikonischen Bild zu tun, auch wenn dieses aktiv bei der Konstruktion des geistigen Bildes teilnimmt, mit dem wir die Objekte und die Sachen der Welt in unseren alltäglichen Beziehungen handhaben. So sprechen wir vom Bild, das wir von einer Person, einer Stadt lÜbersetzt aus dem Spanischen von Jorge Guimet und Jürgen Bünstorf. 2Professor für Lingustik und Vizerektor der Universidod de Limo.

226

Blanco

oder einer Landschaft haben, das viel mehr beinhaltet als die einfachen physischen Züge seines/ihres ikonischen Bildes. Das Bild einer Person ist integriert durch diese physischen Züge, offentsichtlichj aber es enthält auch moralische Züge, Verhaltensformen, ästhetische Empfindsamkeit, die Art der Erziehung und Hößichkeit, Termperament und Charakter, und eine Gruppe von mehr oder weniger genaueren Schattierungen, die das globale Bild festlegen, das wir uns von der Person machen. Wenn es um eine Stadt oder einen Kontinent geht, wie in dieser Arbeit, ist es klar, daß das Bild, das wir damit verbinden, aus unzählbar vielen Zügen zusammengestelit ist, die aus verschiedenen Feldern der Erfahrung stammen: Bilder der Landschaften, Dörfer und Städte, Monumente; Bilder der Arbeitsformen, Organisationen, Institutionen und Dienstleistungen, Leute und Bräuche. Solche Bilder werden aus Elementen verschiedenartiger Natur konstruiert: Es sind beteiligt, angefangen von ikonischen Bildern bis zu Bildern mit rein noologischer ("geistiger") Eigenschaft, mit denen wir uns die moralischen und spirituellen Aspekte vorstellen, sowie die bedeutungsmäßige und wert mäßige Dimension. Jedes Bild ist konstruiert aus einzelnen Stücken von Vorstellungen. Die "wirkliche" Welt ist uns in kleinen Portionen gestückelter und chaotischer Reize gegeben, die der menschliche Verstand in der Empfindung selber zu organisieren beginnt. Um diese Organisation zu erreichen, ist der Verstand durch die Kultur gesellschaftlich programmiert. Das kulturelle Programm bestimmt die Züge, die passend sind für die angemessene Wiedererkennung und Handhabung der Dinge innerhalb jeder gesellschaftlichen Formation. Wenn diese Züge vereint sind, erstellt der Verstand eine Vorstellung des Objektes, die ihm nützt, um es in seinen gesellschaftrlichen Beziehungen zu handhaben. Jede Vorstellung gibt einen gewissen Aspekt der Realität wieder; addiert zu anderen Vorstellungen, konstruiert sie das Bild, das wir uns von der Realistät formen. Das Bild ist also zusammengesetzt, verschiedenartig und fragmentarisch. Aber dank dieser Tatsache können wir durch das Bild die Welt verstehen und beherrschen.

11

Diskursive Gestaltung und Konfigurationen

Das Bild, das wir Lateinamerikaner von Europa haben, ist genauso verschiedenartig und fragmentarisch, und es ergibt sich aus einer Gesamtheit von Vorstellungen, die uns die Kommunikationsmedien liefern. Der Diskurs der Medien bildet eine Vielzahl von Gestalten, die bestimmt sind, Sinn-Effekte zu produzieren, mit denen die Vorstellungen der Realität zu konstruieren sind. Wir nenen "Gestalten" die Inhaltseinheiten, die uns erlauben, im Moment

Europa in den Kommunikationsmedien Perus

221

der Lektüre die progressive Bedeutung einer Botschaft zu konstruieren. Es sind komplexe Sinn-Einheiten, und diese stellen unter sich Beziehungen von Analogie oder Kontradiktion, von Konträrsein oder Implikation her, womit man als Ergebnis das Gewebe des Textes hat. Die Bindung der Gestalten an das Innere jeder Botschaft ergibt eine Gruppe von figurativen Netzen, deren Verlauf besonders signifikativ ist. Verschiedene figurative Verläufe bilden untereinander eine virtuelle diskursive Konfiguration, deren Leistungsfähigkeit in jedem Text, je nach der Auswahl, die die aussagende Instanz herstellt, konkret zur Wirkung kommt. Die diskursive Konfiguration ist eine Art Arsenal von Gestalten und figurativen Verläufen, von denen einige durch konkrete Botschaften wirksam werden, während andere im virtuellen Zustand bleiben. Oft verlangt die Aktualisierung einer Gestalt, um wirksam zu werden, die "abwesende" Präsenz von Gestalten oder ganzen Verläufen, die nicht aktualisiert sind, die aber in der entsprechenden Konfiguration beinhaltet sind. Jedes kulturelle Universum besteht aus einer bestimmten Gesamtheit von diskursiven Konfigurationen, die in einem "Wörterbuch von Gestalten" enthalten sein könnten. Im Universum unseres Corpus haben wir, grob gesagt, folgende Konfigurationen entdeckt, mit ihren entsprechenden gestaltenden Verläufen: • Europäische Politik; • Wirtschaftliche Systeme; • Internationale Beziehungen; • Soziale Konflikte; • Sowjetische Öffnung; • Verteidigung und Abrüstung; • Terrorismus; • Technologie und Wissenschaft; • Vatikan-Religion-Kirchen; • Kunst und Kultur; • Gesundheit; • Klima.

111

Das analytische Modell

Wenn aus der Verschiedenartigkeit einer Anhäufung von berichteten Gestalten ein "Bild" von Europa entsteht, dann kommt es daher, daß un-

228

Blanco

ter den verschiedenen Vorgängen syntagmatischer Art, die die Botschaften ausdrücken, ein System paradigmatischer Beziehungen existiert, das die vorgestellten Inhalte organisiert und das ihnen eine Kohärenz und Systematizität verleiht. Um diese angenommene Systematizität zu entdekcen, müssen wir ein passendes analytisches Modell instrumentalisieren. Das sachgemäße Modell, das die Produktion und Systematizität der Bedeutung der Berichte der Presse wiedergeben kann, ist das semiotische Quadrat von A.J. Greimas, das es erlaubt, die tiefgründigen Beziehungen, die zwischen den Einheiten der Bedeutung hergestellt werden, zu offenbaren. Das somiotische Quadrat funktioniert wie ein konstitutionelles Modell, bestimmt von den Prinzipien der Unvereinbarkeit, des Widerspruches und der Implikation. Durch das Prinzip des Konträrsein (contrariedad) reguliert es die qualitativen Gegensätze, die von der Wirklichkeit ausgesagt werden, wie zum Beispiel: offen /vs/ geschlossen offene Gesellschaften /vs/ geschlossene Gesellschaften Durch das Prinzip des Widerspruches reguliert es die privativen Oppositionen, die von der Realität ausgesagt werden, wie z.B.: offen /vs/ nicht offen geschlossen /vs/ nicht geschlossen Und, schließlich, durch das Prinzip der Implikation artikuliert es die Beziehungen der Komplementarität: /nicht offen/ bedeutet /geschlossen/ /nicht geschlossen/ bedeutet /offen/ Aus diesen Elementen baut sich das semiotische Quadrat auf, das die Struktur der Bedeutung der einzelnen semantischen Gestalten der Botschaften wiedergibt (Abb. 1). Das semiotische Quadrat stellt die Beziehungen dar, die zwischen den unterscheidenden Zügen, die eine semantische Kategorie bilden, hergestellt werden. Es entspricht der strukturellen Forderung, nach der alle Bedeutungssysteme nicht mehr sind als eine Gesamtheit von Unterschieden. Die vier Begriffe des semiotischen Quadrats entstehen aus der Schnittstelle ihrer Beziehungen und können nicht außer halb der Schnittstelle verstanden werden. Das Quadrat ist gleichzeitig ein Netz von Beziehungen und eine Sequenz von geordneten Vorgängen. Die Beziehungen, wie wir schon gezeigt haben, sind das Konträrsein, der Widerspruch und die Implikation; die Vorgänge sind die Verneinung und die Behauptung. Durch Verneinung des ursprünglichen positiven Begriffes (/offen/) erhält man den negativen kontradiktorischen Begriff (/nicht-offen/); durch Behauptung des negativen kontradiktorischen Begriffes (/nicht- offen/), erhält man den ursprünglichen negatven Begriff (/geschlossen/):

Europa in den Kommunikationsmedien Perus

Abb.1

229

r geschlossene

offenel Gesellschaften

Gesellschaften

demokratische Gesellschaften J

totalitäre

l Gesellschaften

offenl Sl ...

l'\. /

nicht geschlossenJ 52 ... demokratische1 Öffnung

. .. S2

/l

'" rl

... 51

nicht offen

Regierungen de facto (nicht konstitutionell )

"Glasnost" (UdSSR) J offen '\.

rgeschlossen

l Informationszensur nicht offen /

geschlossen

joffenj -+ Verneinung von offenj /nicht offenj -+ wenn nicht offenj dann jgeschlossenj. Durch Verneinung des negativen ursprünglichen Begriffes (fgeschlossenf) erhält man den positiven kontradiktorischen Begriff (fnichtgeschlossenj); und durch Behauptung des positiven kontradiktorischen Begriffes erhält man den ursprünglichen positiven Begriff (foffenf): offen

geschlossen '" nicht offen /

jgeschlossenj

-+

Verneinung von geschlossen: jnicht geschlossenj

-+

wenn

j nicht-geschlossenj dann j offenj. Die Beziehungen drücken einen statischen

und strukturellen Gesichtspunkt aus und artikulieren die paradigmatischen Gegensätze der diskursiven Organisation; die Vorgänge offenbaren einen dynamischen und generativen Gesichtspunkt und zeigen die Erzähltranformationen. So organisiert, ergibt das semiotische Quadrat die folgenden semantischen Dimensionen: A. Zwei "semische" Achsen: a. Komplexe "semische" Achse; Sl + S2: offen + geschlossen b. Neutrale "semische" Achse; 51 + 52: offen + geschlossen B. Zwei "semische" Schemata: a. Schema 1, positiv: Sl + 51: offen + nicht offen b. Schema 2, negativ: S2 + 52: geschlossen + nicht geschlossen C. Zwei "semische" Deixis:

Blanco

230

a. Deixis 1, positiv: SI + S2: offen + nicht geschlossen b. Deixis 2, negativ: S2 + SI: geschlossen + nicht offen Die zwei Achsen, gebildet durch Beziehungen des Konträrseins, stehen in einer Beziehung des Widerspruches untereinander. Die zwei Schemata, definiert durch Beziehungen des Widerspruches, stehen in einer Beziehung des Konträrseins zueinander. Die zwei Deixis definieren die semantischen Felder des Akzeptierten und des Ausgeschlossenen in jedem semantischen Universum, das konkret im Diskurs realisiert ist. Was das semiotische Quadrat als analytisches Modell so interessant macht, ist, daß es erlaubt, die Kohärenz irgendeines semantischen Universums zu offenbaren, unabhängig davon, ob es von begrifflicher, emotionaler oder erfundener Natur ist. Es erlaubt genauso, den Verlauf vorauszusehen, dem der Sinn im Innern eines konkreten Diskurses folgen kann, sowie die logisch möglichen Positionen, die der Sinn anehmen kann, auch wenn sie nicht ausgenutzt werden. Letztlich offenbart das semiotische Quadrat den ideologischen Code der in letzter Instanz die Konstruktion des Bildes reguliert, das die Botschaften der Massenkommunikation uns von Europa anbieten.

IV

Beispiel: Bild der Wirtschaftssysteme

Eine der semantischen Konfigurationen, die am besten das Bild definieren, das die Presse von Europa konstruiert, ist die der Wirtschaftssysteme, die seine Aktivitäten von Produktion und Handel regulieren. Das Bild der Wirtschaftssysteme, die in Europa funktionieren, entspringt aus den verschiedenen Gestalten, mit denen solche Systeme dargestellt werden.

1

Gestalt der EWG

Das Bild der EWG zeichnet sich durch die Kooperationseigenschaften aus, deren erwartete Ergebnisse die Einheit und der Frieden sind. An der Basis dieser figurativen Werte befinden sich die Romanisierung und die Christenheit. Eine fundamentale thematische Struktur erlaubt es, diese Werte untereinander zu homologisieren: Romani.ie,.,..., • Ch,.i.tenheit Einheit • F,.ieden

Diese ausgeglichene Struktur ist jedoch gestört durch externe Wirtschaftsinteressen, insbesondere durch die der Vereinigten Staaten. Das

231

Europa in den Kommunikationsmedien Perus

Außenministerium der BRD warnt vor der Gefahr eines "Handelskrieges" zwischen den Vereinigten Staaten under EG. Der Grund für den möglichen "Krieg" sind hohe Zölle für die Produkte aus den Ländern der EG. Der internen Festigkeit (Kohäsion) der EG steht die "Zerstreuung" gegenüber, verursacht durch das einseitige Handeln der Vereinigten Staaten. Das narrative Programm legt Rechenschaft ab über das trennende Verfahren, das die nordamerikanische Maßnahme im Innern der EG bewirkt: F/Zölle/[S2/USA/ - (Sl/EG/ V O(Kohäsion/)] In der Tiefenstruktur erscheint der figurative Verlauf in folgender Weise: Kohäsion '\,

Zerstreuung

nicht Zerstreuung

T

nicht Kohäsion

Die Pressebotschaft berichtet, daß das Verfahren erfreulicherweise nicht zum Abschluß kam, zur wirklichen Zerstreuung, dank einer Vereinbarung zwischen den Vereinigten Staaten und Europa über die Zölle. Die Vereinbarung wirkt also wie ein neuer operierender positiver Gegenstand, der das Verfahren in die ursprüngliche Lage zurückversetzt: F/Vereinbarung/[Sl/EG/ - (Sl/EG/ /\ O/Kohäsion)] Aufgrund der Vereinbarung wirkt die EG auf sich selbst ein, um die Kohäsion des geltenden Wirtschafts- und Handelssystems aufrechtzuerhalten.

2

Gestalt des Währungssystems

Das EWS funktioniert schlecht, sagt die Pressebotschaft, und Ausdruck dieses schlechten Funktionierens ist die Krise des französischen Franc. Der Präsident der EG meint, daß die deutschen Behörden nicht richtig gehandelt haben, um den Fall des französischen Franc zu bremsen, während sie sehr energisch eingegriffen haben, um die Parität ihrer Währung mit der des Dollars zu erhalten. Die Botschaft präsentiert diesmal eine Meinung über bestimmte Tatsachen. Die Meinung entwickelt sich in der kognitiven Ebene des Diskurses, dessen Inhalt pragmatischer Natur ist. "Meint" entspricht / glauben, daß es so ist / während andere Vertreter der Gesellschaft sich in der "doxischen" Position befinden des / glauben, daß es nicht so ist /.

Blallco

232

Abb.2 Vertreter der 1 glauben, daß ist Europäischen (GewißKommission J heit) ! ~

0

Abb.3 0

glauben, daß nicht ist (Ungläubigkeit

,/!

rKommunikations-

l medien

r

J

'\. Tnicht T~ nicht glauben, glauben, daß ist 0 daß nicht ist (Ungewißl (Leichtgläuheit) bigkeit)

1

den FF fallen lassen

1

J

!~

deutsche 1 T/' Behörden den FF nicht J fallen zu lassen

rdeutsche-

"machen", um die DM nicht fallen zulassen

l

'\.T

r

,/!

nicht die DM fallen lassen

l

Behörden

0

Die Struktur der epistemischen Modalität erlaubt, die verschiedenen Positionen der Darsteller gesellschaftlicher Aktivität gegenüber der im EWS geschaffenen Situation zu situieren (Abb. 2). Die "epistemische VeridiktiOl." weist hin auf die Manipulationshandlungen, die im wirtschaftlichen Bereich getätigt werden und auf die widersprüchliche Position der gesellschaftlichen Handelnden im Konflikt.: Die deutschen Behörden tun nichts, damit der Franc nicht. fällt, während sie Maßnahmen treffen (= tun etwas). um die Situation ihrer 'Währung zu erhalten. Die Manipulationssituation erscheint wie in Abb. 3. Als Folge meint die EG. daß sie die vereinbarten Verpflichtungen mit den Finanzministern der 12 nicht erfüllen. Die Verpflichtung verlangt. gemeinsam zu handeln, um die dest.abilisierenden Wirkungen des Falls des Dollars zu vermeiden. Einmal mehr erfaßt und mediatisiert die kognitive Ebene des D. die pragmatische Dimension des gesellschaftlichen Lebens, dargestellt durch die Botschaft. Und, ausgehend von der "Gewißheit" des beauftragten Ausdrucks, stellt sich die narrative Struktur der Disjunktion als die einzig richtige dar: Die EG glaubt, daß ! F/Nicht-Kooperat.ion/ [S2/Die 12/-(SI/EG/VO/ \-';;1;:~~f)1 Der semiotische Verlauf in der Tiefenstruktur offenbart uns, daß die EG von einem Status der Vereinigung mit der Situation der Verpflichtung zu einem Status der Zerstreuung gewechselt hat, mit den negativen Folgen. die wir kennen:

233

Europa in den Kommunikationsmedien Perus

Abb.4

1 kann sein "Zurechtbie- (Möglichkeit) ! '\. gung" J

1 o

kann nicht sein r (Zufalligkeit) 0

t/

/ !

l

'\.t

r

nicht kann nicht kann sein 0 J nicht sein (Unmöglichkeit) l (Notwendigkeit)

Abb.5 DM HFL

1 Aufwertung

Abwertung rFF I.C /!

!'\.

J

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nicht Abwertung '-+

IEG/II.

nicht Aufwertung

.e

PTA ESC Drachme

IVerpßichtungl '\.

+-'

lEG I V IVerpßichtungl

IEGI V IVerpßichtungl

t

IEGI 7i. IVerpßichtungl

Um die bewirkte Situation zu ändern, kamen Beamte des EWS in Brüssel zusammen, um die Möglichkeit einer "Zurechtbiegung" der Kurse der Währungen im System zu studieren. Die I Möglichkeit I ist das Ergebnis einer Modalisierung des Seins durch das lkannl (Abb. 4). Die Gestalt der "Zurechtbiegung" bildet die Bedeutung der Thematik IWährungsanpassungenl zwischen den Ländern der EG. Unter den vorgeschlagenen Anspassungen erscheinen Aufwertung der DM Aufwertung des Gulden

Ivsl Ivsl

Abwertung des FF Abwertung der Lira

und gleichbleibender Wert des Pfund Sterling, der Peseta, des Escudo und der Drachme, die nicht zum System gehören (Abb. 5). In beiden Fällen sind die pragmatischen Strukturen beinhaltet und mediatisiert durch die kognitive Dimension der 'gesellschaftlich Handelnden, beauftragte Ausdrücke im Diskurs der Presse.

Blanco

234

Abb.6

Privati- 1 Nachfrage sierungs- der ÖfFentwelle lichkeit (Euphorie) 1 '\.

J

1/'

Befriedigung des Präsidenten

3

r

Beschuldigungen Dysphorie der Sozialisten

./1 "'.1

Höhe des Verkaufs

L

Gestalt der "Privatisierung" in Frankreich

Die Aktien der Bankengruppe Paribas, 1982 verstaatlicht durch die sozialistische Regierung, werden durch die rechte Regierung von Jacques Chirac zum Verkauf gegeben. Die Gruppe Paribas geht eine semantische Strecke des Hin und Her in der diskursiven Darstellung des EI Comercio von Lima: a. Erste Strecke F/Verstaatlichung/[S2/'°R!;~;:!:=:e /-. (Sl/Paribas/v O/'Z;7!:/1

b. Zweite Strecke re~hte /-. (Sl/Paribas/V O/p"i~~te·/l F/Privatisierung/[S3/ Regterung Regtme

Die Pressebotschaft gibt an, daß es das zweite französische staatliche Unternehmen ist, das privatisiert worden ist; trotzdem bezeichnet sie als "Privatisierungswelle" die durch die Privatisierung geschaffene Situation. Auf der anderen Seite wird die große Nachfrage nach Aktien unterstrichen, die Beschuldigungen der Sozialisten angesichts dieser Tatsache und die Befriedigung des Präsdenten der Paribas-Gesellschaft, weil sie zum Privatsektor zurückkommt. Wenn man die verschiedenen Positionen systematisiert, erhält man Abb.6. Die euphorische Position der Agentur Reuters, die die Nachricht erstellt, und der Zeitung EI Comercio, die auswählt und sie mit der Bezeichnung "Privatisierungswelle" tituliert, obwohl es gerade der zweite Privatisierungsfall ist, offenbart sehr klar den ideologischen Code, von dem aus sowohl die Agentur als auch die Zeitung sprechen. Der Gesichtspunkt, der von den Ausdrücken gewählt worden ist, wird den Lesern aufgezwungen, als ob es sich um eine Information handeln würde, die aus der Realität kommt. Schließlich beschreibt die Zeitung, einige Tage später, das euphorische Ausmaß der Privatisierung und bezeichnet die Transaktion als einen "kompletten Erfolg". Der Erfolg der Privatisierung wird dem Mißerfolg der ersten sozialistischen Verstaatlichung gegenübergestellt, wodurch die Sinnstruktur in Abb. 7 entsteht. In derselben Zeitung erscheint eine neue Nachricht einige Tage spä.ter über die englische Regierung, der man die Absicht unterstellt, die Fluggesellschaft

Europa in den Kommuni1cationsmedien Perus

Abb.7 3 Millionen 1 Aktionäre

J

geringer Preis 1 der Aktion J

Erfolg

!\.

T\.

keine Niederlage

Mißerfolg

r ein einzelner

./!

LAktionär

'-T

rUnruhen wegen Lder Nachfrage

nicht Erfolg

235

. British Airways zu privatisieren. Diese Absicht wird vom Text der Zeitung als eine Realisierung dargestellt. Die euphorische Bewertung der Agentur UPI bleibt wörtlich in den 50 000 roten, blauen und silbernen Luftballons "verbildlicht", die der Verkehrs-Staatssekretär in den Himmel von London nach der Pressekonferenz aufsteigen ließ, auf der er den Privatisierungswillen bekanntgegeben hatte.

236

Blanco Abb. 8: Bild der WirtschaCtssysteme

Erfolg (Aktionäre) glauben zu sein (J. Delors) fallen machen

Privatisierung (Paribas) (British Airways

Verstaatlichung (Paribas) (British Airways)

Aufwertung (DM, HFL)

Abwertung

Kohäsion (CEE)

Zerstreuung (U.S.A.)

(FF, I.C)

(FF)

Euphorie

nicht fallen nicht machen

82

81

NichtZerstreuung (0)

"- ./ 1 1 s;-s;

kein Nichterfolg (Niedriger Preis)

Nicht-Abwertung

,t

NichtKohäsion (CEE)

Nicht-Aufwertung

PTA ESC Drachme

Nicht-Verstaatlichung (Paribas) (British Airways)

glauben, nicht zu sein (Medien) nicht fallen machen (DM) (Deutsche Behörden)

Nicht-Euphorie

(FF)

(Deutsche Behörden) nicht glauben nicht sein (0)

MiSerfolg (Staat)

fallen nicht machen (DM) (0) nicht glauben zu sein (0)

kein Erfolg (Störungen) Nicht-Privatisierung (0)

Das Modell in Abb. 8 liest sich wie folgt: Die europäische Gesellschaft kämpft zwischen Kohäsion und Zerstreuung, verursacht durch die Wirkung der wirtschaftlichen Faktoren, wie Ungleichgewichte der nationalen Währungen und Unentschlossenheiten der herrschenden Wirtschaft. Der Diskurs der Presse ermutigt die Strömungen für Privatisierungen und demokratische Öffnung in den Ländern mit sozialistischem Merkmal.

Europa in den Kommunikationsmedien Perus

V

237

Bild des europäischen Klimas

Das Klima ist Teil jeder Vorstellung, die wir uns über ein anderes Land, eine Region der einen Kontinent machen. Das Bild, das die Diskurse der Presse über das Klima einer Region schaffen, ist festgelegt durch die konkreten Anreize, die aus der Natur stammen, die sich aber, wenn sie durch die Programme, die die Kultur auferlegt, ausgewählt sind, in figurativen Gesamtheiten integrieren, mit denen man die Vorstellung des Wetters dieser Region konstruiert. Die gewählte Jahreszeit, um das corpus zu ordnen, kumuliert Reize des Winters, und mit denen organisiert die Botschaft der Presse die verschiedenen diskursiven "Gestalten" dieser Jahreszeit.

1

Gestalt der Kälte

Die extreme Kälte von 30 Grad Celsius oder mehr unter Null bewirkt Störungen im Leben der europäischen Gesellschaften bis hin zu einer hohen Zahl von Toten und wirtschaftlichen Schäden verschiedener Art. Man spricht zunächst von 90 Toten; einige Tage später wird über bis zu 214 Tote informiert, und schließlich berichtet man über 291 Tote in Europa aufgrund der extremen Kälte. Die Länder, die am meisten von der polaren Kältewelle, die sich über ganz Europa im Januar verbreitet, betroffen sind, sind: Sowjetunion, Finnland, Schweden und Norwegen, England, Polen und Deutschland; aber die Welle erreichte auch Spanien, Italien und Griechenland. Die Gestalt der Kälte, so wie sie im Diskurs der Presse beschrieben wurde, beinhaltet einen semischen Zug, der sich auf den Tod bezieht. Auf der anderen Seite, als diese Arbeit formuliert wurde, informiert dieselbe Zeitung über einige Tote in Europa wegen der exzessiven Hitze. Obwohl außerhalb des corpus, dient der Text des EI Comercio dazu, eine kohärente semantische Beziehung herzustellen, in dem Sinne, daß sowohl die Kälte als auch ihr Gegensatz, die Hitze, den Tod bewirken. Auf der Vorstellungsebene ist der Tod semischer Zug sowohl der Figur der Kälte wie auch der Hitze. Das Leben dagegen entspricht den Gestalten von /nicht Kälte/ und von /nicht Hitze/ (Abb. 9). Eine Region wie Europa, die extremen Temperaturen unterworfen ist, sieht sich gezwungen, dauernd gegen den Tod zu kämpfen. Auf der anderen Seite schließt die Figur der Kälte auch den Zug von materiellen Schäden oder Beeinträchtigung ein. Die Elektrizitätsgesellschaften sehen sich verpflichtet, von ihren Abnehmern eine Reduzierung des Stromverbrauches zu verlangen. Die Städte sind nicht ausreichend mit Nahrungsmitteln, wie Gemuse und frische Erzeugnisse, aufgrund der Transportschwierigkeiten versorgt. Die Kälte wirkt also als operierendes Subjekt schwerwiegender Veränderungen mit trennen-

Blanco

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Abb.9 Kälte '\. nicht Hitze /'

Tod

+

./ Hitze

+

nicht "" Kälte

Leben

Abb.l0

Kälte '\. nicht Hitze /'

Inaktivität

+

./ Hitze

+

nicht "" Kälte

Aktivität

dem Charakter, durch die die Europäer von vielen und wichtigen Dienstleistungen getrennt werden. Der folgende Algorithmus drückt die Beziehungen von Veränderungen aus, die die Kälte als operierendes Agens bewirkt: FjTemperaturj [S2 jKältej~ (SI jEuropäßrjV 0 j Dien~;~;'~::nge7.1)]

2

Gestalt der Inaktivität

Die Kältewelle zwingt die Europäßr, zuhause zu bleiben, wodurch sie so auf die täglichen Aktivitäten produktiven Charakters verzichten müssen. Die Kälte wird hier weiterhin als ein operierendes Agens gesellschaftlicher Veränderungen dargestellt: FjTemperaturj [S2 jKältej~ (SI jEuropäerjV 0 j'A:~!~~e j)] Die Kälte wird als ein störender Faktor des gesellschaftlichen Lebens gesehen, und folglich zwingt uns der Diskurs der Presse, sie mit einem dysphorischen, negativen Charakter darzustellen (Abb. 10).

Europa in den Kommunikationsmedien Perus

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Abb. 11: Bild des europäischen Klimas

Kälte

Inaktivität und Tod 81 + 82

/

~

Nicht-Hitze

1

1

82 81 Leben und Aktivität

Hitze Nicht-Kälte

Das Modell (Abb. 11) liest sich wie folgt: Europa kämpft zwischen den Extremen der Kälte und der Hitze: Beide Extreme sind schädlich für die Aufrechterhaltung des Lebens und für die Entwicklung der produktiven Aktivitäten seiner Einwohner. Die neutrale Achse, die diE' kontradiktorischen Begriffe /nicht Hitzel und /nicht Kälte/ andeutet, ist der semantische Raum des Lebens und der täglichen und produktiven Aktivität.

VI

Weitere Bilder

• Bilder der europäischen Politik Die horizontale Lektüre des ·Modells drückt Gegensätze des europäischen politischen Systems aus; die diagonale Lektüre offenbart ihre Widersprüche, und die vertikale Lesung weist auf die semantischen Affinitäten hin, mit denen die Botschaft der Presse (em EI Comercio) das Bild der europäischen Politik konstruiert. Dem Modell entnimmt man, daß die europäische Politik voll von Konflikten und Widersprüchen ist, die gleichzeitig die europäische Gesellschaft anspannen und dynamisieren. • Bild der gesellschaftlichen Konflikte Auf interner Ebene offenbart die Abhandlung der Presse die Konflikte, die Europa belasten: Die Arbeitslosigkeit fördert den Streik, der Streik bewirkt Unproduktivität und Mangel an wirtschaftlicher Reaktivierung; die Unterdrückung behindert manchmal die Organisationsfreiheit in den Ostländern, was zu einem Mangel an Reaktivierung, wenn nicht sogar zur wirtschaftlichen Katastrophe führt. Die Forderungen werden nicht nur durch Gehaltsansprüche motiviert; es bestehen auch Bedürfnisse höheren Ranges wie Kultur, Ausbildung, die die Konflikte in der heutigen europäischen Gesellschaft motivieren, wie jn den studentischen Demonstrationen in Spanien und Frankreich deutlich zu sehen ist.

240

Blanco

• Bild der sowjetischen Öffnung Die sowjetische Öffnung ist im Paradigma von K.R. Popper enthalten, das den offenen Gesellschaften die geschlossenen gegenüberstellt. In diesem sozialen Scheideweg spielen die Individuen ihr Leben mit allen seinen Werten: Freiheit, Ordnung, Information, Meinung. Für EI 00mercio (Lima) sind die offenen Gesellschaften untereinander verbunden und führen zur wirtschaftlichen Entwicklung, zur informativen Öffnung, und die technologische Revolution zwingt die geschlossene Gesellschaft, eine demokratische Öffnung zu versuchen. Die sowjetische Gesellschaft, typische Gestalt der geschlossenen Gesellschaften, erscheint in der Abhandlung der Presse im Zentrum eines Konfliktes, der die Machtgruppen der Orientierung eines dynamischen Sozialismus und eines Marktsozialismus einander gegenüberstellt. Gleichzeitig ist die Befreiun g der Anderdenkenden ein weiteres Zeichen der demokratischen Öffnung. • Bild der Abrüstung und der Verteidigung Europas Die Abrüstung und die Verständigung sind gefunden. Die Verteidigung sucht Sicherheit, wofür Maßnahmen vorgeschlagen werden, die zu einer Gleichheit der Kräfte im Kontinent führen. Das Ergebnis dieser Vorschläge wird die Kohäsion Europas sein. Die Abrüstung dagegen begrünstigt die Verwundbarkeit Europas, schwächt seine Sicherheit und behindert die gewünschte Kohäsion. • Bild des Terrorismus in Europa Die europäische Gesellschaft hat den Terrorismus in seinen großen Zügen kontrollieren können, was ihr Stabilität und Gleichgewicht sichert. Es existieren dennoch schwerwiegende Akte des Terrorismus, die dauernd drohen, die europäische Gesellschaft ins Ungleichgewicht zu bringen. Der Eindruck, den der Pressetext weckt, ist, daß Europa Gleichgewicht und Stabilität erreicht trotz der Akte von Terrorismus, die es in Unruhe bringen wollen. • Bild der Wissenschaft und Technologie Die technologische Entwicklung ist verbunden mit den Arbeit.sbedingungen und den beruflichen Anreizen einer persönlichen Verbesserung, auf der einen Seite, aber gleichzeitig ist sie verbunden mit der internationalen Kooperation und der Teilnahme an gemeinsamen Projekten, wie das mit dem sowjetischen Raumfahrtlabor durchgeführt wird, und mit der Modernisierung der Nuklearzentren desselben Landes, unter Verantwortung der BRD. • Bild des Vatikan Der Respekt von religiösen Rechten ist ein Symptom von bürgerlicher Freiheit, die gegen jegliche Unterdrückung ist. Sie tendiert. zur Freiheit, zur gegenseitigen Hilfe zwischen den Ländern. Zur Bildung von Beziehungen mit den sozialistischen Ländern, nach Akzeptierung der gesetzlichen Existenz der Kirche. Auf der anderen Seite führt das christliche

Europa in den Kommunikationsmedien Perus

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Leben zur Einheit, und die religiösen Diskussionen vergangener Jahrhunderte können aufgehoben werden, wenn die theologischen Kriterien übereinstimmen . • Bild der Kunst und der Kultur Die Kunst kann die Widersprüche harmonisieren, indem sie die Realität und die Fiktion vereinigt und indem sie die Tradition mit Innovation und Renovierung verbindet. Die Kunst und die Kultur in Europa heben sich durch Züge von Anständigkeit und Beispielhaftigkeit hervor, indem sie in die Tiefen der menschlichen Seele dringen. • Bild der Gesundheit Die Tätigkeiten für die Gesundheit wirken über die Verneinung des Todes (= /nicht Tod!), im Versuch, die Entwicklung des Lebens zu fördern. Die gesellschaftlichen Darsteller, die gegen die Gesundheit handeln, arbeiten gegen das Leben (= /nicht Leben/) und führen zum Tod. Die von den europäischen Ministern vorgeschlagenen Akti"dtäten negieren den Tod und führen zum Leben.

VII

Bibliographie

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Das Bild Lateinamerikas in europäischen Medien Walter Haubricb 1

Die Auseinandersetzungen zwischen Europa und Lateinamerika über die gegenseitige Berichterstattung beginnen und enden fast immer mit Vorwürfen hier wie dort. Auf lateinamerikanischer Seite vernimmt man in der Regel die Klage, Europa interessiere sich sehr wenig für Lateinamerika, die europäischen Medien veröffentlichen zu wenig und innerhalb dieser schon beschränkten Information berücksichtige man vor allem die Interessen der europäischen Länder selten und fast niemals die lateinamerikanischen, die selten mit den europäischen übereinstimmten. In Europa dagegen stößt man auf die Überzeugung, und zwar in den letzten Jahren mehr als früher, Lateinamerika vernachlässige Europa, es kehre ihm den Rücken zu. So glaubten einige europäische Teilnehmer des großen, 1983 abgehaltenen Kongresses über .,Politisches Denken in Lateinamerika" , in ihren Zeitungschroniken feststellen zu können, die lateinamerikanischen Länder seien sehr geneigt gewesen, ihren Beziehungen zu den Vereinigten Staaten absolute Priorität vor ihren Beziehungen zu Europa einzuräumen. Einige Europäer sprachen bei dieser Gelegenheit sogar von einem neuen Anti-Europäismus in Lateinamerika, was mir allerdings nicht als gerechtfertigt erscheint. In einigen lateinamerikanischen Ländern, vor allem in den kleineren, sehen wir uns häufig mit der Meinung konfrontiert, die Prvbleme dieser Länder seien derart kompliziert, daß eine Person, die weit entfernt von ihnen geboren sei, wie zum Beispiel in Europa, schon aufgrund dieses Umstands nicht in der Lage sei, diese zu verstehen. Ich glaube, wir Europäer können es uns erlauben, dieser Meinung entgegenzuhalten, daß es in Europa Situationen gegeben hat, die mindestens so komplex und unübersichtlich waren wie es zum Beispiel die derzeitige Situation Zentralamerikas ist. Die Vorhaltungen, in Europa werde wenig über Lateinamerika informiert, beziehen sich an erster Stelle auf die Tagespresse und erscheinen mir nicht ganz unberechtigt. Interessierte Leser in bestimmten Ländern oder Gebieten des europäischen Kontinents müssen sich sehr gegen ihren Willen davon überzeugen, daß in der Zeitung, die sie normalerweise zu beziehen pflegen, oft 1 Frankfurter

Allgemeine Zeitung, Madrid.

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Haubrich

über Monate hinweg Nachrichten über diesen Teil der Welt fehlen. Prüft und vergleicht man allerdings die Nachrichten über Lateinamerika in den großen europäischen Zeitungen, kommt man zu einigen Ergebnissen, die nicht ganz so negativ ausfallen, wie man befürchten könnte, zumindest einmal im Hinblick auf den Umfang der Information. Im Durchschnitt bringen die europäischen Tageszeitungen, deren internationaler Teil einen gewissen Umfang hat, mehr Nachrichten über Lateinamerika als zum Beispiel über Afrika - mit zwei Ausnahmen: Großbritannien und Frankreich - was sich leicht historisch erklärt. In diesen europäischen Zeitungen ist Lateinamerika mindestens so häufig vertreten wie zwei oder drei europäische Länder zusammen. Der größere Teil der publizierten Chroniken, das muß man schon sagen, erscheint im direkten Zusammenhang mit wichtigen aktuellen Ereignissen. Verlieren diese Ereignisse an Aktualität, verschwindet auch die Berichterstattung über das fragliche Land für einige Zeit. Analysiert man die europäische Berichterstattung über Lateinamerika im letzten Vierteljahrhundert, stechen besonders drei große Komplexe durch die Menge des über sie publizierten Materials hervor: 1. Die Revolution in Kuba, mit der politischen und ideologischen Entwicklung dieses Landes, und der Konflikt Kuba-USAj

2. Die Regierung der Unidad Popular und der Militärputsch mit anschließender politischer Repression in Chilej 3. Der politische Wechsel in Nikaragua und die Krise in Mittelamerika. Abgesehen von diesen drei Themen, die weit mehr Interesse als im Normalfall weckten, kann man feststellen, daß der Umfang der publizierten Nachrichten in etwa der Ausdehnung, Bevölkerung oder der politischen und wirtschaftlichen Macht der Länder entspricht. So ist zum Beispiel das Verhältnis zwischen Argentinien und Bolivien diesbezüglich 3 : 1. Es gibt Ausnahmen: Die auff'alligste und für mich interessanteste Ausnahme ist die Venezuelas, das während der letzten zehn Jahre unter den lateinamerikanischen Ländern mit am wenigsten präsent in der europäischen Presse gewesen ist. Die Gründe rur diese Abwesenheit können sein: Die Stabilität seines politischen Systems, das Fehlen sensationeller Ereignisse und das eher seltene Vorkommen von Problemen, die als typisch für Lateinamerika gehalten werden, wobei diese oft nicht mehr als topicos sind, wie zum Beispiel Drogenhandel, Guerilla-Krieg, Repression, und - besondere Aufmerksamkeit erregend - Militärputschs oder Gefahren selbiger. Eine weitere Ausnahme in der Relation "Umfang der Nachricht: Wichtigkeit des Landes", kommt aufgrund ethnischer Ursachen zustande: So zeigt die italienische Presse eine gewisse Bevorzugung Argentiniens, und die portugiesische Presse (die, sicherlich aus ökonomischen Gründen, sich nicht gerade durch eine große Lateinamerikaberichterstattung auszeichnet) zieht Brasilien vor. Brasilien ist das Land, das am meisten Nachrichten und Kommentare auf den Wirtschaft'3Seiten produziert, gefolgt in diesem Bereich von Mexiko. Die

Lateinamerika in europäischen Medien

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Krise der Auslandsverschuldung ist eines der großen Themen der europäischen Presse und eine der Sorge in europäischen Wirtschaftskreisen. In einigen Presseartikeln - nicht in allen - dominieren ganz offen die Sorgen der Gläubiger (die ihr Geld vielleicht nicht zurückbekommen), und zu kurz kommt die Frage, was aus den großen Problemen der Schuldnerländer werden soll, die nicht zahlen können. Lückenhafte oder sogar falsche Informationen erklären sich nicht selten durch die Schwierigkeiten, auf die der Berichterstatter mitunter in einem bestimmten historischen Kontext stößt. So ist zum Beispiel sehr auffällig, daß in Europa über die Repression der letzten Militärregimes in Argentinien unglaublich viel weniger publiziert worden ist als über die Repression in Chile nach dem Sturz Allendes. Kein Zweifel, daß die argentinischen Militärs es viel besser verstanden haben als ihre chilenischen Kollegen, viele Geschehnisse negativer Resonanz zu verbergen (immer unter der Annahme, daß sie die verbergen wollten). Bei verschiedenen Zeitungen und bestimmten Journalisten hatten die großen Bemühungen der damals in Argentinien am Ruder Befindlichen ziemlichen Erfolg - oftmals mit Hilfe von Werbe- und PublicRelations-Agenturen - , die europäische öffentliche Meinung zu beeinflussen. Nicht wenige europäische Journalisten waren bereit, sich schnell und leicht überzeugen zu lassen. Lücken, Ungerechtigkeiten und Tiefpunkte in der europäischen Berichterstattung über Lateinamerika. sind normalerweise das Ergebnis eines Mangels an Kontinuität und Regelmäßigkeit der Informationsvermittlung. Sicher kann nicht von einem deutschen oder englischen Zeitungsleser die Bereitschaft erwartet werden, mit der gleichen Regelmäßigkeit und Liebe zum Detail Artikel über ein fernes Land Südamerikas zu lesen, wie er das vielleicht im Falle eines europäischen Nachbarlandes tut, in dem er seine Ferien verbringt. Trotzdem wird eine Zeitung, die sich mit einer gewissen Regelmäßigkeit mit einem Land - und das kann noch so unbekannt und weit weg sein - beschäftigt, Interesse bei einem guten Teil der Leserschaft wecken. Ich glaube, eine kontinuierliche Berichterstattung ist eher gewährleistet, wenn die Zeitung - oder der Radio- jFernsehsender - feste Korrespondenten in den fraglichen Ländern beschäftigt. Nur wenige europäische Zeitungen oder Sender können zu ihrer Redaktion, ihrem Stab gehörende Journalisten als Korrespondenten nach Süd- oder Mittelamerika. schicken. Zur Zeit sind es nicht mehr als rund zehn Zeitungen, die je einen Korrespondenten sowohl im zentral- als auch im südamerikanischen Teil Lateinamerikas unterhalten. Von diesen ist normalerweise einer in Mexiko, der andere in Buenos Aires oder in Rio der Janeiro stationiert. In anderen Städten kooperieren sie mit festen Mitarbeitern, die in manchen Fällen derselben Nationalität angehören wie das Land, in dem sie arbeiten. Mehr oder weniger ausgedehnte Reisen von Mitgliedern der zentralen Redaktionen vervollständigen das Informationsangebot in Lateinamerika.. Ich möchte Sie nicht mit Zahlen über Korrespondenten, feste Mitarbeiter und Sonderberichterstatter der verschiedenen europäischen Länder in Latein-

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amerika langweilen. Lassen Sie mich nur einen schnellen Blick auf die Situation der Presse einer Sprache, wie der deutschen in diesem Falle, werfen. Die deutschsprachige Presse dürfte nach der spanischen und zusammen mit der französischen diejenige sein, die in Europa am meisten über Lateinamerika publiziert. Nur zwei in Deutschland geschriebene Zeitungen, eine bundesdeutsche und eine Schweizer, haben jeweils zwei Korrespondenten nach Lateinamerika entsandt. Zwei weitere deutsche Zeitungen bundesweiter Verbreitung zählen mit je einem Korrespondenten für alle Länder zwischen llio Grande und Patagonien. Einer der beiden wohnt in llio de Janeiro, der Vertreter der anderen Zeitung in Miami. Es gibt Zeitungen, die sich zu zweit oder zu dritt einen Korrespondenten teilen, und Journalisten, die zahlreiche Zeitungen bundesweiter Verbreitung bedienen. Bleiben zwei Wochenzeitschriften des Typs "Magazin", die jeweils zwei Journalisten des eigenen Teams auf den Kontinent unterhalten. Die beiden öffentlichen deutschen Fernsehsender haben je zwei Teams mit Journalist, Kameras und technischem Personal in Lateinamerikaj das öffentliche Radio unterhält drei Büros, nämlich Buenos Aires, Mexiko und llio de Janeiro. - Damit ist die informative Infrastruktur, derer man sich zur Unterrichtung der deutschsprachigen Fernsehzuschauer und Radiohörer über Lateinamerika bedient, - obwohl sie natürlich weder in Menge übermittelter Nachrichten noch in Begriffen von Qualität bisher das erwünschenswerte Niveau erreicht hat - doch weit davon entfernt, völlig unzureichend zu sein. Man muß zugeben, daß in der Bundesrepublik, in der Schweiz und in Österreich, wo sicherlich über viele Jahre hinweg sehr wenig über diesen Teil der Welt informiert wurde, sich die Situation der Berichterstattung über Lateinamerika während der letzten zehn Jahre in beachtlicher Weise verbessert hat. Zweifellos ist Spanien das Land, wo am meisten über Lateinamerika publiziert wird. El Pais, die spanische Tageszeitung mit der höchsten Auflage, ist bei den in den verschiedenen europäischen Ländern lebenden Lateinamerikanern zur meistgelesenen Tageszeitung geworden. El Pais unterhält zwei eigene Büros in Lateinamerika und wird demnächst das dritte eröffnenj es verfügt über feste Mitarbeiter in allen Hauptstädten des Kontinents und schickt mit ziemlicher Regelmäßigkeit Sonderberichterstatter, um diese informative Arbeit zu vervollständigen, die einem großen und wachsenden Interesse entspricht (das nicht überrascht), das die Spanier für lateinamerikanische Angelegenheiten zeigen. La Vanguardia, nach Auflagenstärke die zweite Zeitung Spaniens, verfügt ebenfalls über eine sehr komplette Nachrichtenerstattung und eigene Korrespondenten. ABC druckt - abgesehen von gelegentlichen Sonderseiten - vor allem kurze Meldungen ab, das jedoch in großer Menge. Die spanischen nationalen Radio- und Fernsehsender überragen entsprechende Einrichtungen anderer europäischer Länder in der Menge der Information bei weitem. In Frankreich, das auf eine gute Tradition der lateinamerikanischen Nachrichtenerstattung zurückblickt, hat in letzter Zeit die Menge von Nachrichten, Chroniken, Analysen, Reportagen und Kommentaren über diesen Kontinent abgenommen. Die Zeitung Le Monde hat sowohl die Anzahl als

Lateinamerika in europäischen Medien

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auch die Länge seiner Artikel, die sich mit dem spanisch- und portugiesischsprachigen Amerika beschäftigen, reduziert - eine für viele Leser dieser großen Zeitung bedauerliche Tatsache. Andere französische Zeitungen gewöhnen sich daran, eine selektivere und weniger kontinuierliche Information in ihrem internationalen Teil anzubieten. In Großbritannien und in den skandinavischen Ländern ist die Berichterstattung über Lateinamerika traditionellerweise wenig ausführlich gewesen; was im britischen Fall nicht überraschen sollte: Die englischen Zeitungen beschäftigen sich sehr wenig mit anderen Ländern, BOfern diese nicht zur anglosächsischen Welt oder zum Commonwealth gehören. Als ausreichend, aber nicht zufrieden stellend, qualifizieren die Italiener, die an Lateinamerika interessiert sind, die in ihren Zeitungen angebotene entsprechende Information. Sie vermissen die kontinuierliche, von Korrespondenten geschriebene Chronik. In Italien wie in anderen europäischen Ländern - Spanien und Holland mögen Ausnahmen sein - macht sich in den letzten Jahren ein Rückgang des Interesses der Öffentlichkeit und der Medien für internationale Themen bemerkbar. Die Italiener, Franzosen und Deutschen beschäftigen sich immer lieber mit ihren heimischen Problemen und tendieren dazu, ihr jeweiliges Land als den Nabel der Welt zu betrachten. Dies erscheint mir eine bedauerliche Entwicklung zu sein hin zu einem neuen Provinzialismus, die allerdings nicht lange anhalten darf. Ich denke, daß die Medien, auch wenn sie Geschmack und Präferenzen ihrer Leser berücksichtigen müssen, das Interesse für ausländische Themen mittels mehr und besserer Information erhöhen könnten. Beispielhaft erscheinen hier die Niederlande, deren Presse, obwohl in einer wenig verbreiteten Sprache, feste Korrespondenten in Lateinamerika unterhält. Für die Journalisten Europas ist der Zugang zu und das Verständnis von Lateinamerika sicher leichter als für die anderen Kontinente. Die europäische Komponente in Kulturgeschichte und Verhaltensweisen der Lateinamerikaner ist sehr stark; die wichtigsten Sprachen, Spanisch und Portugiesisch, sind europäische Sprachen, und in vielen Ländern Mittel- und Südamerikas und in Mexiko erscheint in diesen Sprachen eine interessante, variierte und sehr informative Presse. Die politischen Strukturen sind bis hin zu den ideologischen Standorten der Parteien ähnlich auf beiden Kontinenten. Gerade deshalb sollte man noch anspruchsvoller und strenger sein, wenn es darum geht, Schwächen und Fehler der Berichterstattung in Europa über Lateinamerika aufzuzeigen. Da ist einmal - für mich das größte Ärgernis - die Bestätigung von Klischees und Vorurteilen festzustellen: Negative und auch positive Gemeinplätze haben meistens mit der Realität dieser Länder und Völker zu tun, repräsentieren jedoch im besten Falle nur einen kleinen Ausschnitt davon oder beziehen sich auf eine vergangene Wirklichkeit. Manche Journalisten hoffen, mit der Wiederholung der Klischees einem besonders großen Leserkreis zu gefallen oder von ihrer ebenfalls in diesen Klischees gefangenen Heimatredaktion schneller akzeptiert zu werden; andere wissen es einfach nicht besser. Die Appelle an Allgemeinheiten und überkommene Vorurteile finden sich beson-

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ders häufig in der Sport berichterstattung, und die ist sehr einflußreich, weil viele Leser, Hörer und Zuschauer fast ausschließlich über die Berichte von internationalen Fußballspielen etwa ihre Information über fremde Länder und Völker so nebenher mitbekommen. Ereignisse und Erscheinungen, die von einem schlecht informierten Publikum als besonders charakteristisch angesehen werden, finden in den meisten europäischen Medien viel leichter Aufnahme als die wichtigeren Entwicklungen und Geschehnisse. Diese angeblich für Lateinamerika so typischen Phänomene sind zum Beispiel: Drogenanpflanzungen und -handel, Militärputsch, Guerilla, Naturkatastrophen, Gewalt und Elend, in besonders drastischer Form dargeboten. "Lateinamerika, Kontinent der Gewalt?" (Gott sei Dank, noch mit Fragezeichen) stand schon 1970 in einem langen und durchaus differenzierten Artikel in einer großen deutschen Zeitung. Ich vermisse in nicht wenigen Berichten in den europäischen Medien die kulturelle, historische oder politische Gesamteinordnung der einzelenen Nachrichten und Eindrücke: Selten erfährt man etwas bei Nachrichten oder Artikeln über Guatemala von der langen Tradition der Kooperativen in diesem Land, von den jahrhundertealten basisdemokratischen Bräuchen der indigenen Bevölkerung und von dem brutalen Versuch in den letzten Jahren, diese Tradition zu zerstören. So können zahlreiche Berichte einfach kein zutreffendes Bild von der Situation in diesem Land für einen fernen Leser ohne Vorkenntnisse vermitteln. Wie wenig erinnern sich die Reporter, die in den letzten Jahren aus Bolivien vorwiegend über Putschversuche, Streiks, Demonstrationen, Kokaingewinnung und horrende Inflationsraten berichteten, an die große Revolution von 1952, ihre Errungenschaften und Konsequenzen, oder an den großen Preissturz des wichtigsten Exportgutes des Landes, des Zinns. Manche Berichterstatter scheinen nichts davon zu wissen, daß es in dem Land, dessen wirtschaftliche Unterentwicklung sie so eindringlich beschreiben, eine große alte Kultur existiert, oder mit die bedeutendsten Werke der zeitgenössischen Literatur geschrieben werden. Die Tendenz zum Exotismus kann dazu führen, daß praktisch nur das von der europäischen Norm Abweichende dargestellt und in seiner Bedeutung übertrieben wird. Oberflächlichkeit und exotische Information finden sich besonders oft bei den Reisen, die Journalisten häufig ohne Vorkenntnisse in Begleitung von Staatspräsidenten oder Regierungschefs nach Lateinamerika machen. Diese kritischen Anmerkungen beziehen sich natürlich nur auf einen Teil der europäischen Lateinamerikainformation, besonders häufig in viel gelesenen, populären Medien. Man sollte deshalb diese bedauernswerte Information in ihrer Wirkung nicht unterschätzen und Änderungsversuche unternehmen. Der Vorwurf des Eurozentrismus in der Berichterstattung wird oft erhoben, nicht immer zu Recht, und ist damit auch schon wieder zu einem Allgemeinplatz, diesmal auf lateinamerikanischer Seite, geworden. Natürlich gibt es eurozentrische Akzente in der Berichterstattung über Lateinamerika, eurozentrisch ist ja schon die übertriebene Hervorhebuqg des Exotischen. Eurozentrisch ist es auch, wenn Nachrichten vorwiegend daran gemessen werden,

Lateinamerilra in europiischen Medien

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wie weit europäische Menschen oder Interessen betroffen sind. Natürlich werden die betroffenen Menschen und Interessen des Landes, in dem die jeweilige Zeitung oder Zeitschrift gelesen wird, immer eine gewisse Präferenz haben, doch sollten sie nicht bestimmend sein für Auswahl, Ausmaß und Formulierung der Nachricht. Niemand wird von den Korrespondenten verlangen, daß sie die Interessen und Bedürfnisse ihres jeweiligen Leserlandes unbeachtet lassen. Gefährlich erscheint mir die Abhängigkeit des Berichterstatters von politischen und wirtschaftlichen Interessen anderer Länder, etwa seines eigenen. Eine solche Abhängigkeit kann auch auf indirekter Weise erfolgen - zum Beispiel wenn ein Korrespondent hauptsächlich in seiner eigenen nationalen Kolonie lebt, vielleicht weil ihm der Zugang zur Gesellschaft und zu den Menschen des Gastlandes, möglicherweise aus sprachlichen Gründen, schwerfällt. Bei einem Überblick über die europäische Information - hier ist jetzt vor allem die politische gemeint - lassen sich, einmal grob aufgeteilt, drei Haltungen feststellen: 1. Eine Art von Solidaritätsjournalismus: Der Journalist will mit seiner

Berichterstattung eine bestimmte politische Position, die er für richtig und in ihren Zielen gerecht hält, durch seine professionelle, informative Arbeit unterstützen. Er ist dann oft auch bereit, wichtige Informationen, wenn sie negativ sind für die Seite, der er sich zugehörig fühlt (das ist meistens eine politische Option, die die Lage verändern, revolutionieren will), zu verschweigen. Die Forderung, klar Partei zu ergreifen, wird auf Seminaren, Workshops und Treffen von engagierten europäischen Journalisten oder Filmemachern, die sich mit Lateinamerika beschäftigen, immer wieder gefordert, vor gar nicht so langer Zeit etwa bei einem solchen Treffen in der westdeutschen Stadt Trier.

2. Die Überbf'tonung der politischen Interessen der Vereinigten Staaten von Nordamerika in dieser Region. Berichte, bei denen man gerade zu spüren scheint, daß der Autor beim Schreiben - ängstlich oder ergriffennach Washington schaut. Das führt gewöhnlich zu verfälschenden Wertungen und kann auch das Verständnis für Ursachen, Wünsche und Ziele lateinamerikanischer Politik erschweren. Natürlich müssen auch nordamerikanische Interessen beachtet, dargestellt und bewertet werden. Die politischen Interessen der europäischen Länder sind heute nicht so stark in Lateinamerika und diffenzierter, jedenfalls von viel geringerem Einfluß als die US-amerikanischen. Also droht von daher keine so große Gefahr der Einseitigkeit und Verfälschung. 3. Das ist eine Berichterstattung, die sich auf die genaue Kenntnis der Länder, aus denen sie berichtet, stützt, andere Interessen zur Kenntnis nimmt, überprüft und sich bemüht, ihren Lesern im fernen Europa ein Bild von Lateinamerika zu vermitteln, das von den alten Klischees weggeht, wenn es auch manchmal bei ihnen ansetzten muß, eben um sie dann zu entwerten. Das harte Bemühen um ein höchstmögliches Maß

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an Objektivität und genaue Recherchenarbeit sind für eine solche, von dem Autor selbst getragene und verantwortete Information unerläßlich. Die kulturelle Berichterstattung war seit je sehr lückenhaft, gering, ja in manchen Ländern Europas kaum existent. Da hat sich in den letzten zehn oder zwanzig Jahren einiges zum Positiven hin geändert: Am meisten weiß man in europäischen Ländern - in Frankreich, Deutschland, den Niederlanden, Italien - von der hispanoamerikanischen und brasilianischen (etwas weniger) Literatur. Die volkstümliche Kultur vor allem aus den Ländern, in denen sich politisch aufregende Ereignisse abspielten, fand beachtlich viel Interesse in der europäischen Presse. Hier haben sich die solidarischen Journalisten der Linken beachtliche Verdienste erworben. Wenn die Europäer sich - wie ich meine: zu Unrecht - beklagen, der Kontinent, den sie einst erobert, ausgebeutet, christianisiert und auch teilweise europäisiert hatten, wende sich nach und nach von ihnen ab, dann können sie dem auch durch größeres Interesse für Lateinamerika und durch mehr Informationen entgegenwirken. Allerdings: Bei manchen großen Fragen der internationalen Beziehungen liegt Lateinamerika etwas am Rande. In den derzeitigen Gesprächen über Abrüstung etwa ist es nicht sonderlich betroffen. Nach den kritischen Anmerkungen zu den Schwächen der europäischen Berichterstattung aus Lateinamerika muß ich allerdings feststellen, daß es durchaus auch eine gute, profunde, aus der Mitte der lateinamerikanischen Realitäten geschriebene Berichterstattung gibt, die kontinuierlich in der europäischen Presse veröffentlicht wird. Auch wenn solche Informationen zahlenmäßig noch nicht dominieren, haben sie doch besonders starken Einfluß auf die Elite-Schichten, auf die Multiplikatoren. Den am Anfang erwähnten Freunden aus Mittelamerika, die da meinen, ein Europäer sei unfähig, die Konfusion in ihren Ländern zu verstehen, könnte ich zahlreiche Berichte aus europäischen Zeitungen geben, die beweisen, daß dem nicht so ist. Für die Arbeit des europäischen Korrespondenten in Lateinamerika sind die guten Zeitungen, Magazine und Zeitschriften - in vielen gerade kleineren Ländern auch die Radiosender - von großer Bedeutung. In Lateinamerika ist es leichter als in den meisten anderen Regionen der Welt, mit den einheimischen Kollegen zu einem guten Verhältnis und zu guter produktiver Zusammenarbeit zu finden. Für den Europäer ungewohnt, manchmal auch unangenehm, sind hingegen das hohe Maß an Empfindlichkeit und die häufigen nationalistischen Reaktionen auf Kritik, die er in vielen lateinamerikanischen Ländern antrifft. Daß Kritik an der Regierung, an bestimmten Phänomenen oder an sozialen Verhältnissen nicht eine Beleidigung des ganzen Landes oder der Bevölkerung sein kann und will, das akzeptieren zahlreiche Menschen im iberischen Amerika - selbst solche in hohen politischen Ämtern - nicht. Man wünschte sich, daß manche Regierungs- und Staatschefs nicht so leicht zu beleidigen wären. In Europa ist man, zumindest in intellektuellen und politischen Kreisen, weit weniger empfindlich, wenn Dinge im eigenen Land von Ausländern kritisiert werden.

Lateinamerika in europäischen Medien

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Wenn die Süd- und Mittelamerikaner der europäischen Presse mit guten Gründen vorhalten, daß sie noch zu wenig über Lateinamerika berichtet, so können sich Europäer auch beklagen, daß man in Lateinamerika doch recht wenig über die europäische Presse weiß. Europäische Korrespondenten müssen immer wieder erleben, daß sie in lateinamerikanischen Ländern - gerade auch in Staaten wie Nikaragua und Kuba - etwa bei Ersuchen von Interviews, hinter ihren nord amerikanischen Kollegen zurückstehen müssen. Gewöhnlich wird ein europäischer Zeitungkorrespondent von einem lateinamerikanischen Gesprächspartner gefragt, für welche Agentur er arbeitet. Diese wundern sich dann darüber, daß auch europäische Zeitungen eigene Korrespondenten in Lateinamerika unterhalten können (das Thema der übermäßigen Berichterstattung durch Agenturmeldungen in den lateinamerikanischen Medien mit seinen Gefahren; die Rolle der internationalen Nachrichtenagenturen; das Mißtrauen vieler europäischer Zeitungen gegenüber staatlich subventionierten Agenturen einiger lateinamerikanischer Länder und manchmal auch gegenüber International Press Service - IPS - wären Themen fdr eine eigene Debatte und sind ja auch oft debattiert worden). Die Information der europäischen Medien hat, wenn sie von Teilen der Welt handelt, die wie Lateinamerika relativ weit weg liegen und von den europäischen Politikern noch nicht jede Woche besucht werden können, beachtlichen Einfluß auf die Entscheidungsträger von Politik und Wirtschaft. Auch deshalb ist es wichtig, daß diese Informationen möglichst korrekt, verständnisvoll, nicht zu selektiv, auf keinen Fall verfaIschend sein sollen. Ich will nicht verschweigen, daß natürlich noch vielInformationsmaterial außer halb der Presse und der anderen staatlichen oder privaten Kommunikationsmittel nach Europa vermittelt werden. Da wären zu erwähnen Berichte von politischen Stiftungen, kirchlichen Organisationen, wissenschaftlichen Institutionen. Über ihren Einfluß, ihre Bedeutung und ihre Mängel zu sprechen, würde hier zu weit führen.

Politische Beziehungen zwischen Lateinamerika und Europa

Europa und Lateinamerika Perspektiven für eine gemeinsame Entwicklung Klaus Dieter Leister

Die gemeinsame Tradition Europas und Lateinamerikas, die für die Menschen in Süd- und Mittelamerika überwiegend eine Leidensgeschichte gewesen ist, muß heute zum Anlaß genommen werden, die Beziehungen zwischen beiden Erdteilen in eine politische, kulturelle, wissenschaftliche und wirtschaftliche Partnerschaft umzuwandeln. Die Süderweiterung der Europäischen Gemeinschaft mit Spanien und Portugal kann dabei entscheidend helfen. Das große Interesse an diesem Kongreß zeigt, daß Politik, Wirtschaft und öffentliche Meinung den europäisch-lateinamerikanischen Beziehungen hohe Bedeutung zumessen. Und dies mit Recht. Heute geht es aber vor allem darum, Konsequenzen zu ziehen und konkrete pragmatische Schritte für das dringend Nötige und Machbare ins Auge zu fassen. Weil Europa und Lateinamerika auch durch eine lange Tradition gemeinsamer Werte und Interessen verbunden sind, sollten sie auch Verbündete im Kampf um die Durchsetzung der Menschenrechte sein. Förderung und Sicherung der Menschenrechte müssen für alle wesentliches unverzichtbares Anliegen sein. Wo Menschenrechtsverletzungen vorliegen, ist Engagement erforderlich und zwar so, daß es den betroffenen Menschen hilft. Die große Zahl von Menschenrechtsverletzungen, Gewalt, Folter und rassischer Diskriminierung kann daher nur mit großer Empörung und Sorge registriert werden. Es ist gut, daß sich immer mehr Menschen, private Gruppen und Organisationen offen für die Menschenrechte einsetzen. Aber auch staatliches Handeln ist gefordert und notwendig. Es sollte - auch in der UNO - darauf hingewirkt werden, daß sich immer mehr Staaten zum internationalen Menschenrechtsschutz bekennen und auch danach handeln. Die nordrheinwestfälische Landesregierung setzt sich seit Jahren für die Zeichnung und Ratifizierung sowohl der UNO-, als auch der Europäischen Antifolterkonvention ein. Es wird von der Bundesregierung erwartet, daß sie nun endlich die 1 Staatssekretär, Chef der Staatskanzlei und Europabeallftragter der Landesregierung Nordrhein-Westfalen.

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Europäische Konvention anläßlich der Tagung des Ministerkomitees im November zeichnet und die Ratifizierung beider Konventionen rasch vorantreibt. Es wird ebenso erwartet, daß die Bundesregierung nun endlich die Voraussetzung für die Aufnahme der vom Tode bedrohten 14 Chilenen schafft, zu deren Aufnahme sich die nordrhein-westfälische Landesregierung schon am 23. Juni 1987 bereiterklärt hat. Bei der Wiedereröffnung der Universität Heidelberg am 15. August 1945 hat Karl Jaspers im Rückblick auf eine schreckliche Zeit menschenverachtender Politik in Deutschland gefordert, daß die Menschenrechte "im Grundsatz unseres Lebens" anerkannt werden müssen. Wir Deutschen haben in Fragen der Behandlung von Menschen keinen Anlaß zur Selbstgerechtigkeit. Im Bewußtsein aber, daß der Einsatz für die Menschenrechte unteilbar ist und daher für alle Länder gilt, fordern wir heute umso eindringlicher, daß die Menschenrechte überall geachtet und eingehalten sehen. Der Kongreß hat sich den Dialog zwischen Lateinamerika und Europa zum Thema genommen. Die Landesregierung Nordrhein-Westfalen erinnert daran, daß in diesem Zusammenhang auch am Beginn der europäischen Integration der Wille zur Stärkung und Durchsetzung der Menschenrechte gestanden hat. Als erste europäische Nachkriegsorganisation ist 1949 der EuropaRat gegründet worden. 1953 ist die vom Europa-Rat erarbeitete "Europäische Konvention für Menschenrechte" in Kraft getreten. Heute sind 21 Mitgliedsstaaten an diese Konvention gebunden. Die Besonderheit der Europäischen Menschenrechtskonvention ist die Einsetzung spezifischer Überwachungsorgane der Europäischen Konvention und des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte. Das System der Konvention hat entscheidend zur Förderung und Konsolidierung der demokratischen Entwicklung Europas beigetragen. Selbstverständlich gilt der Grundsatz, keine Regierung darf in die inneren Angelegenheiten eines anderen Landes eingreifen. Aber schon kraft der UNOCharta gilt die Verpflichtung, die Menschenrechte zu achten, und die beiden Internationalen Pakte von 1966 über bürgerliche und politische Rechte einerseits, über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte andererseits haben diese Bindung erweitert. Es trifft nicht mehr zu, daß Menschenrechtspolitik eine ausschließlich innere Angelegenheit ist. Niemand kann ernsthaft erwarten, daß sich in einem Lande, das durch Unfreiheit und Willkür gekennzeichnet ist, die Verhältnisse von einem Tag zum anderen nur aufgrund der Verpflichtung zum Schutze der Menschenrechte schlagartig ändern. Eine Menschenrechtsverfassung kann keinem Lande allein von außen gegeben werden. Die betroffenen Menschen selbst müssen für ihre Rechte eintreten, aber sie werden dies mit umso größerem Nachdruck tun, je klarer und unmißverständlicher diese Rechte formuliert sind und wenn wirksame Organe die Wahrung dieser Rechte kontrollieren und überwachen. Der Europa-Rat kann hier für Überlegungen und Entscheidungen der regionalen Zusammenschlüsse Lateinamerikas ein Beispiel sein.

Perspektiven für eine gemeinsame Entwicklung

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Zu den elementaren Menschenrechten gehört auch die Freiheit von Hunger und Not. Daß dieses Recht Tag für Tag weltweit millionenfach nicht eingelöst werden kann, nimmt die menschliche Gemeinschaft in die Pflicht. Diese Tatsache ist aber auch eine zentrale Herausforderung für die Staatengemeinschaft. Zu einer überzeugenden MenschenrechtspoIitik gehört auch die Errichtung einer gerechteren Weltwirtschaftsordnung, die es verhindert, daß der Wohlstand der Industrieländer zu Lasten anderer, abhängiger Länder finanziert wird. Die Verschuldung darf nicht einen Grad erreichen, daß der Handelsbilanzüberschuß allein zur Zahlung der Zinsen für die oft unvermeidbare Kreditaufnahme verwendet werden muß. Es bedeutet eine Verletzung der Menschenrechte und ist zudem ökonomisch widersinnig, wenn sich die wirtschaftlichen Anstrengungen der verschuldeten Länder nur noch auf die Rückzahlung ihrer Schuldzinsen konzentrieren können. Hier ist Hilfe notwendig, daß diese Staaten ihre wirtschaftliche Selbständigkeit und damit ihre Entwicklungschancen zurückgewinnen können. Dies bedeutet, daß der Gedanke der internationalen Solidarität akzeptiert wird und die Industrieländer bereit sind, ihn in die Praxis umzusetzen. Vernünftig in diesem Sinne ist zum Beispiel der Abbau protektionistischer Handelsschranken. Nicht Abschottung und Handelskrieg dienen den Staaten, sondern wirtschaftlicher und wissenschaftlicher Austausch und Zusammenarbeit leisten ihren Beitrag zur Lösung von Problemen. Die Europäer müssen dieser Verantwortung gerecht werden, denn es geht auch um politische Folgen für alle, weil vor allem die wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse über die Aussichten auf eine friedliche politische und gesellschaftliche Entwicklung ohne Revolution und andere Ausbrüche von Gewalt entscheiden. Wenn Demokratie gefördert und persönliche Freiheit und Menschenrechte ~esichert werden sollen, müssen die wirtschaftlichen und sozialen Probleme für die Menschen erträglich gelöst werden. Nordrhein-Westfalen hat dies im Rahmen seiner bescheidenen Möglichkeiten getan und ist dabei, dies zu tun. Zum Beispiel wird der Bau eines Kinderdorfes in Brasilien unterstützt, in dem verlassene Kinder in Familien leben können und eine Ausbildung erhalten. Es ist eine hochwassersichere Brücke in Ekuador finanziert worden, den Angehörigen eines entlegenen Indianerstammes wurde der Zugang zu Bildungs- und Ausbildungseinrichtungen ermöglicht, und es wird eine private Initiative unterstützt, die die Wasserversorgung in der nikaraguanischen Stadt Jinotega mit ihrem Einsatz verbessern helfen will. Besonders eng sind auch die wissenschaftlichen Beziehungen des Landes Nordrhein-Westfalen zu den Staaten Lateinamerikas. Die Hochschulen haben insgesamt 18 Partnerschaften geschlossen, davon entfallen allein neun auf die Universität Münster. Im vergangenen Wintersemester studierten an den nordrhein-westfaIischen Hochschulen rund 750 junge Menschen aus den Staaten Lateinamerikas. Sie erhalten hier eine qualifizierte Ausbildung, mit der sie die wirtschaftliche und kulturelle Entwicklung ihrer Länder voranbringen können. Zahlreiche Kulturabkommen sorgen dafür, daß der Austausch von Professoren und Studenten mit Nordrhein-Westfalen und die wissenschaft-

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lichen Beziehungen zunehmend enger geknüpft werden. Einen besonderen Schwerpunkt bildet dabei Brasilien, was auch in der Zahl von sieben Hochschul partnerschaften zum Ausdruck kommt. Nordrhein-Westfalen hat· in der Kultusministerkonferenz dankbar die Aufgabe übernommen, den Länderbeauftragten für das Kulturabkommen mit Brasilien zu stellen. Angesichts der dargestellten Aufgaben reichen die Mittel staatlichen Handelns allein nicht aus. Die Initiativen der Unternehmen, der Banken, der Organisationen und Verbände, der Kirchen und der Bürger selbst müssen miteinbezogen werden. Die Chancen, die darin liegen, daß unsere Beziehungen zu Lateinamerika in hohem Maße auch von der Tätigkeit der Kirchen, der politischen Stiftungen, durch Kontakte der Wirtschaft, der Parteien und der Gewerkschaften mitbestimmt werden, sollten daher genutzt werden. Das Land Nordrhein-Westfalen leistet mit seinem Programm "Konkreter Friedensdienst" dazu einen Beitrag. Durch das Programm soll jungen Menschen aus Nordrhein-Westfalen die unmittelbare Begegnung mit Menschen, Kulturen, Lebensverhältnissen und Problemen der Entwicklungsländer durch aktive Mitarbeit in Projekten ermöglicht werden. Die Staaten sind heute in einem System globaler Verantwortung miteinander verbunden. Internationale Koordinierung, weltweite Partnerschaft und die Bereitschaft zum Dialog sind daher von vitaler Bedeutung. Das Europäische Parlament unterhält seit 1964 Kontakte und Beziehungen mit dem AndenParlament und dem Lateinamerikanischen Parlament. Die Interparlamentarische Konferenz hat seit 1974 regelmäßig getagt. Dieser Weg muß fortgesetzt werden, denn nur so können beide Regionen ständig über die wichtigen Entwicklungen und Probleme informiert sein und Perspektiven für den Ausbau der Partnerschaft erarbeiten. Es ist daher zu begrüßen, daß die Kommission der Europäischen Gemeinschaften Ende des vergangenen Jahres dem Ministerrat in einem ausführlichen Bericht Vorschläge für eine Vertiefung der Beziehungen zwischen der Gemeinschaft und Lateinamerika gemacht hat.

Kooperation im Bereich Bildung und Wissenschaft mit Ländern Lateinamerikas: Das Beispiel Brasilien Jürgen

w. Möllemann 1

Auf heimatlichem Münsteraner Boden möchte ich die Schwerpunkte und Möglichkeiten deutscher bilateraler Kooperation im Bl'reich von Bildung und Wissenschaft mit den Ländern Lateinamerikas am Beispiel Brasiliens darstellen. Brasilien hat, wie wir alle wissen, viele Gesichter. Das Land, 34mal so groß wie die Bundesrepublik Deutschland, zählt über 130 Millionen Einwohner. Während der Süden Brasiliens hochindustrialisiert ist, sind riesige Regionen im Norden und Nordosten des Landes weniger entwickelt. Im Süden zählt Säo Paulo, eine Stadt von zehn Millionen Einwohnern, mit Randgebieten sogar einer Riesenstadt von etwa 17 Millionen Einwohnern, zu den größten Industriezentren der Welt. Brasilien hat eine eigene Autoindustrie, riesige Wasserkraftwerke, eine eigene Erdölproduktion, die über 50% der Energieversorgung sichert. Luftfahrttechnik und Raumfahrttechnik weisen technologisches Spitzenniveau auf. Brasilien hat immerhin den achten Platz in der Rangliste der westlichen Industrienationen inne! Umso schärfer wirkt der Gegensatz zwischen dem dynamischen Süden Brasiliens und dem Norden und Nordosten mit riesigen, teils nur landwirtschaftlich genutzten, teils überhaupt noch nicht erschlossenen Räumen. Rund 30 % der Bevölkerung Brasiliens sind in der Landwirtschaft tätig, ihr Anteil am Bruttosozialprodukt beträgt jedoch nur etwa 10%. Die Landwirtschaft Brasiliens ist durch das Nebeneinander von Riesenbetrieben und von Klein- und Kleinstbauernbetrieben geprägt. Starre Feudalstrukturen behindern dringend notwendige Reformen. Aber nicht nur in den ländlichen Gebieten Brasiliens, sondern auch in den Randgebieten der vielen brasilianischen Großstädte herrschen Armut, Gesundheitsprobleme, vielfach auch hohe Kriminalität. Brasilien hat teilweise große Wirtschaftsprobleme, die Auslandsverschuldung ist hoch, hohe Inflationsraten erschweren die wirtschaftliche Stabilität 1 Bundesminster

für Bildung und Wissenschaft.

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und gefährden die soziale Stabilitä.t. Zu den größten Problemen im Bildungsbereich zählt die hohe Analphabetenquote von - geschätzt - etwa 20% der Bevölkerung. Als sogenanntes "Schwellenland" ist Brasilien daher einerseits Empfänger deutscher Entwicklungshilfe, andererseits besitzt es aber als regional hochentwickeltes Industrieland auch hochqualifizierte Ausbildungs- und Forschungseinrichtungen auf allen Gebieten von Bildung und Wissenschaft. Brasilien ist daher "auch" ein wertvoller Kooperationspartner für die Bundesrepublik Deutschland für den Austausch von Hochschullehrern, Forschern und Studenten sowie tür gemeinsame Forschungs- und Entwicklungsprojekte auf hohem technologischem Niveau. Ich werde vor allem die Schwerpunkte und Möglichkeiten der deutschbrasilianischen Kooperation auf solchen Gebieten von Bildung und Wissenschaft darlegen, die nicht vom Bereich der deutschen Entwicklungshilfe umfaßt werden. Das Fundament der deutsch-brasilianischen Kooperationen im Bereich der Bildung und Wissenschaft bilden eine Reihe bilateraler Abkommen. Das sind 1. das deutsch-brasilianische Kulturabkommen von 1969,

2. ein Rahmenabkommen von 1969 über die deutsch-brasilianische wissenschaftlich-technische Zusammenarbeit. Dieses Rahmenabkommen wurde durch mehr als 20 Einzelabmachungen ergänzt. 3. eine Kooperationsvereinbarung zwischen der Deutschen Forschungsgemeinschaft und der brasilianischen Forschungsförderungsorganisation CNPq sowie 4. eine entsprechende Kooperationsvereinbarung zwischen der brasilianischen Stipendienorganisation CAPES und dem Deutschen Akademischen Austauschdienst. 5. Schließlich wird die deutsch-brasilianische Kooperation im Bereich Bildung und Wissenschaft noch durch eine große Anzahl von Universitätspartnerschaften gefördert. Ausführende Partner dieser vielfältigen Kooperationen sind auf deutscher Seite die verschiedenen Bundesressorts sowie verschiedene Länderressorts, ferner die Großforschungseinrichtungen, die Max-Planck-Gesellschaft, die Deutsche Forschungsgemeinschaft, die sogenannten Mittlerorganisationen im kulturellen Bereich, wie das Goethe-Institut und andere, ferner die großen Organisationen zur Förderung des studentischen Austausches und des Wissenschaftleraustausches wie der DAAD, die Alexander von Humboldt-Stiftung und andere, schließlich und nicht zuletzt die Westdeutsche Rektorenkonferenz sowie viele einzelene Universitäten. Das deutsch-brasilianische Kulturabkommen von 1969 hat die Förderung der deutsch-brasilianischen Kooperation und den Austausch in allen traditionellen Bereichen des Bildungswesens (einschließlich der Kultur im engeren Sinne) zum Ziel. Hierzu einige konkrete Beispiele:

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1. Einer der traditionellen Schwerpunkte deutscher Kulturarbeit im Aus-

land ist die Förderung der deutschen Sprache. Vor allem im Süden Brasiliens mit seinen 3,2 Millionen Deutschstämmigen besteht ein lebhaftes Interesse am Erlernen der deutschen Sprache. Dies gilt insbesondere für Deutsch als Wirtschaftssprache, aber in zunehmendem Maße auch für Deutsch als Wissenschaftssprache. Während weltweit das Interesse am Erlernen der deutschen Sprache zurückgeht, ist das Interesse in Brasilien so groß, daß die Nachfrage durch die sieben Goethe-Institute und die deutschen Auslandsschulen kaum befriedigt werden kann. Hier harrt noch eine große Aufgabe für die deutsche auswärtige Kulturpolitik.

2. Aus dem großen Bereich des kulturellen Austausches (wie zum Beispiel Vorträge, Ausstellungen, Aufführungen im Bereich der Kunst) nenne ich ein Beispiel: Das Liszt-Festival in Brasiliens Hauptstadt Brasilia im Jahre 1986 unter dem Münsteraner Dirigenten Lutz Herbig. Es freut mich, daß diese kulturelle Veranstaltung sehr gut beurteilt wurde. 3. Auf dem Gebiet des Bildungswesens im engeren Sinne bestehen sehr vielfältige Beziehungen mit Brasilien im Bereich der beruflichen Bildung sowie im Hochschulbereich. Unser duales System der beruflichen Bildung findet in Brasilien, wie in vielen anderen Staaten der Welt, großes Interesse. Seit 1978 führt das Bundesministerium für Bildung und Wissenschaft daher ein internationales Austauschprogramm fur Fachkräfte - insbesondere Ausbilder - in der beruflichen Bildung durch. An diesem Programm nahmen bisher insgesamt mehr als 1.500 Fachkräfte aus rund 30 Staaten teil. Im Rahmen dieses Programms besuchte 1984 die erste Gruppe brasilianischer Fachkräfte die Bundesrepublik Deutschland. 1986 reiste die erste Gruppe deutscher Fachleute nach Brasilien und informierte sich dort über das System und die Einrichtungen der Berufsausbildung. 1987 kam eine weitere Gruppe brasilianischer Fachleute in die Bundesrepublik Deutschland, um berufliche Bildungseinrichtungen zu besuchen. Seit kurzem hat auch der Austausch von Berufsbildungsforschern begonnen. Das Programm wird im Auftrage des Bundesministeriums für Bildung und Wissenschaft von der Carl-DuisbergGesellschaft durchgeführt. 4. Es besteht auch ein erhphliches brasilianisches Interesse an unserem deutschen Fachhochschulsystem. Brasilien befindet sich selbst in der Phase des Aufbaus eines eigenen Fachhochschulsystems und möchte aus den deutschen Erfahrungen Nutzen ziehen. Das Bundesministerium fur Bildung und Wissenschaft hat daher 1986 eine hochrangige brasilianische Expertendelegation zu einem mehrwöchigen Aufenthalt in die Bundesrepublik Deutschland zum Studium des deutschen Fachhochschulsystems eingeladen. Diese Gruppe hat inzwischen der brasilianischen Regierung einen vergleichenden Bericht über das deutsche Fachhochschulsystem und über ähnliche Einrichtungen in Großbritannien und in

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Frankreich vorgelegt. Darin hat man die Vorzüge des deutschen Fachhochschulsystems besonders betont. Die Kooperation auf diesem Sektor wird fortgesetzt. Es liegt zur Zeit von brasilianischer Seite eine Einladung beziehungsweise eine Bitte an das deutsche Auswärtige Amt vor, daß die Rektoren der Fachhochschulen von Berlin, München und erfreulicherweise auch von Münster Brasilien 1988 für zwei bis drei Wochen zum Studium dortiger Fachhochschulen besuchen. Ich werde mich dafür einsetzen, daß diese Einladung realisiert wird. Einer unserer Beiträge könnte sein, daß deutsche Experten bei der Formulierung von Fachhochschulrichtlinien für Brasilien im Rahmen einer vom brasilianischen Unterrichtsministerium eingesetzten Arbeitsgruppe mitwirken. Ich freue mich sehr über den Beginn einer fruchtbaren Kooperation mit Brasilien gerade im Bereich des Aufbaus eines Fachhochschulsystems, weil sowohl die Bundesregierung als auch die Länderregierungen bei uns den Fachhochschulen einen hohen Stellenwert in unserem Hochschulsystem einräumen. Dazu gehört auch, daß wir Parallelentwicklungen in anderen Industrieländern und Schwellenländern wie Brasilien begrüßen, nicht zuletzt im Interesse der internationalen Anerkennung dieser eigenständigen Ausbildungsart. 5. Im Rahmen des Kulturabkommens werden unmittelbare Kontakte zwischen brasilianischen und deutschen Hochschulen auch durch eine Anzahl von Hochschulpartnerschaften gefördert. Erfreulicherweise ist die Zahl solcher Partnerschaften allein in den letzten drei Jahren von 18 auf 31 angestiegen. Diese Abmachungen umfassen in der Regel den Austausch von Professoren und von Studenten sowie die Durchführung gemeinsamer Forschungsprojekte. In unserem Bundesland Nordrhein-Westfalen sind zum Beispiel folgende Universitäten an solchen Hochschulpartnerschaften mit Brasilien beteiligt: Die Rheinisch-westfälische technische Hochschule Aachen, die Universität und die Sporthochschule Köln sowie, worüber ich mich besonders freue, unsere Universität Münster. Münster unterhält nicht weniger als drei Partnerschaften mit verschiedenen brasilianischen Hochschulen, zum einen im Bereich der Sozialwissenschaften, der Zahnmedizin und der Rechtswissenschaften mit der Bundesuniversität in Florian6polis, zum anderen im Bereich der Pharmazie, der Medizin, der Sozial- und Geisteswissenschaften mit der Bundesuniversität in Porto Alegre, schließlich nochmals im Bereich der Sozialwissenschaften mit der sehr renommierten kirchlichen Universität Säo Paulo. 6. Auch zwischen der Brasilianischen Rektorenkonferenz (CRUB) und der Westdeutschen Rektorenkonferenz bestehen sehr enge Kontakte. Sie wurden durch den Besuch des Präsidenten der WRK, Herrn Professor Berchems, im Jahre 1986 noch vertieft. Während dieses Besu-

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ches der WRK-Delegation in Brasilien fand ein gemeinsames deutschbrasilianisches Seminar zu Hochschulfragen statt. Die Tatsache, daß an diesem gemeinsamen Seminar sowohl der brasilianische Minister für Erziehung als auch der brasilianische Minister für Forschung und Technologie teilnahmen, zeugt für die gute deutsch-brasilianische Kooperation auf diesem Gebiet. 7. Diese ausgewählten Beispiele für deutsch-brasilianische Kooperationen auf den Gebieten von Bildung und Kultur im Rahmen des deutschbrasilianischen Kulturabkommens von 1969 stellen selbstverständlich keine erschöpfende Liste aller deutsch-brasilianischen Aktivitäten in diesem Sektor dar. Das Kulturabkommen von 1969 wird ergänzt durch ein deutsch-brasilianisches Rahmenabkommen von 1969 über die Zusammenarbeit in der wissenschaftlichen Forschung und technologischen Entwicklung. Dieses Abkommen nennt als Schwerpunktbereiche die Kernforschung, die Weltraum- und Luftfahrtforschung, die Meeresforschung, die Datenverarbeitung sowie den Austausch wissenschaftlicher Informationen. Es wurde 1975 durch ein wichtiges Zusatzabkommen über die friedliche Nutzung der Kernenergie ergänzt. Diese sehr umfassenden Kooperationsverträge zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Brasilien im Bereich der wissenschaftlichen und technologischen Zusammenarbeit, die vor allem im Bereich der friedlichen Nutzung der Kernenergie zu gemeinsamen Großprojekten führten, fanden größte internationale Beachtung und haben inzwischen für uns Modellcharakter. Federführend in diesem Bereich ist auf deutscher Seite der Bundesminister für Forschung und Technologie. Ich möchte betonen, daß alle diese Abkommen dem "beiderseitigen" Nutzen dienen. Auf der einen Seite steht das brasilianische Bedürfnis, die wissenschaftlich-technologische Infrastruktur des Landes aufzubauen und auszubauen sowie den Transfer moderner Technologie zu sichern. Auf der anderen Seite besteht ein großes deutsches Interesse an der friedlichen Nutzung der Kernenergie durch gemeinsame Großprojekte, ferner an gemeinsamer wissenschaftlicher Arbeit auf bestimmten Fachgebieten wie zum Beispiel der Tropenmedizin, der Geologie, im Bereich der Energietechniken und vor allen Dingen auch im Bereich der Ökologie und der Umweltforschung. Eine weitere deutsch-brasilianische Rahmenvereinbarung über wissenschaftliche Kooperation wurde 1984 zwischen der brasilianischen Forschungsf6rderungsorganisation CNPq und der Deutschen Forschungsgemeinschaft geschlossen. Dieses Abkommen hat, ergänzend zu den vorgenannten Vereinbarungen, unter anderem das Ziel, gemeinsame Projekte zu unterstützen, die Beteiligung brasilianischer Wissenschaftler an deutschen Forschungs- und Tagungsprojekten zu erleichtern; ferner sieht es die wechselseitige Hilfestellung beider Organisationen bei der Beschaffung und Ausführung wissenschaftlicher Geräte vor, schließlich die Zusammenarbeit beim Erteilen von Forschungsgenehmigungen. Dieser letzte Punkt ist in Brasilien besonders wichtig, da nach

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brasilianischem Recht ausländische Feldforschungsarbeiten einer ausdrücklichen staatlichen Genehmigung bedürfen, die leider nicht immer leicht zu erlangen ist. Nach diesem Kooperationsvertrag von 1984 unternommene gemeinsame Projekte betreffen vor allem die Bereiche der Geowissenschaften, der Forstund Holzwissenschaften und die der Biologie. Darüber hinaus fördert die DFG 1. Kongresse und Vortragsreisen deutscher Wissenschaftler,

2. brasilianische Gastprofessuren in Deutschland, 3. deutsch-brasilianische wissenschaftliche Kolloquien und Kongresse. Es ist vielleicht nicht allgemein bekannt, daß zwei Drittel des Gesamtetats der Deutschen Forschungsgemeinschaft, das sind immerhin etwa 600 Millionen DM von rund 1 Milliarde DM, aus Haushaltsmitteln des von mir geführten Bundesressorts stammen, des Bundesministeriums für Bildung und Wissenschaft. Ich freue mich daher besonders über die sehr engen Kooperationsbeziehungen zwischen der DFG und der brasilianischen Forschungsförderungsorganisation CNPq. Es ist das Ziel des Bundesministeriums für Bildung und Wissenschaft, die deutsch-brasilianische Kooperation im Wissenschaftsbereich möglichst auszuweiten. Diesem Zweck diente auch der Besuch des früheren parlamentarischen Staatssekretärs Pfeifer des Bundesministeriums für Bildung und Wissenschaft Ende 1985 in Brasilien. Hieraus ergaben sich vielfältige Anstöße für die Intensivierung der deutsch-brasilianischen Beziehungen im Bereich Bildung und Wissenschaft. Das Bundesministerium für Bildung und Wissenschaft hat unter anderem auch als Folge dieses Besuches gegenüber der Brasilianischen Rektorenkonferenz (CRUB) eine Initiative mit dem Ziel eingeleitet, auch solche brasilianischen Hochschulen, die bisher noch nicht in Beziehung mit deutschen Hochschulen standen, zur Ausarbeitung von Kooperationsvorschlägen zu ermuntern. Eine Reihe solcher Vorschläge wurden von brasilianischer Seite daraufhin auch übermittelt. Sie werden zur Zeit überprüft. Auch der Deutsche Akademische Austauschdienst, unsere große deutsche Institution zur Förderung des akademischen Austausches und der internationalen Kooperation in Forschung und Lehre, hat sowohl mit der erwähnten brasilianischen Forschungsföderungsorganisation CNPq als insbesondere auch vor zwei Jahren mit der brasilianischen Partnerorganisation CAPES Kooperationsabkommen geschlossen. CAPES untersteht dem brasilianischen Erziehungsministerium. Das Kooperationsabkommen zwischen CAPES und dem DAAD betrifft den Austausch von Studenten, vor allen Dingen von Doktoranden, ferner den Austausch von Gastdozenten für einen kurzfristigen Aufenthalt im Partnerland von ein bis drei Monaten sowie für einen langfristigen Aufenthalt im Partnerland von zwei bis fünf Jahren. Auch diese Programme zwischen CAPES und dem DAAD werden unter anderem auch aus Mitteln des Bundesministeriums für Bildung und Wissenschaft gefördert.

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1986 rörderte der DAAD zum Beispiel 400 Personen aus den genannten Zielgruppen. Darunter waren 143 brasilianische Studenten, von denen die meisten mit dem Ziel der Promotion in Deutschland studieren, weitere 40 brasilianische Studenten wurden von brasilianischen Organisationen mit Stipendien ausgestattet. Hinzu kamen sowohl auf brasilianischer als auch auf deutscher Seite 42 Kurzzeitdozenturen, ferner wurden acht Lektoren für Deutsch nach Brasilien entsandt. Ferner konnten elf weitere deutsche Wissenschaftler für einen Aufenthalt in Brasilien von drei bis fünf Jahren entsandt werden. Hinzu kommen schließlich Sprachkurzstipendien, die der DAAD für brasilianische Studenten und Professoren vergibt. Die Arbeit des DAAD in Brasilien wird von einem eigenen Außenbüro in Rio de Janeiro geleitet, dessen hervorragende Arbeit allgemeine Anerkennung gefunden hat. Einen außerordentlich wichtigen Teil dieser Arbeit stellt die Betreuung brasilianischer Studenten und Dozenten dar, die nach einem Aufenthalt in Deutschland nach Brasilien zurückkehren. Diese Nachkontaktarbeit rördert das Weiterbestehen wissenschaftlicher Kontakte und schafft vor allem eine ganz wichtige emotionale Beziehung und Bindung dieser Personengruppen zu unserem Land. Auch von brasilianischer Seite werden regelmäßig deutsche Professoren zu Vorträgen an brasilianischen Hochschulen eingeladen. In diesem Zusammenhang erwähne ich besonders ein rechtswissenschaftliches Seminar, das wegen des bevorstehenden Zusammentretens der brasilianischen verfassunggebenden Nationalversammlung von erheblicher Bedeutung war. An diesem Seminar hat auch der Rektor unserer Universität Münster, Herr Professor Dr. Erichsen, teilgenommen. Ich sagte eingangs, daß ich meine Ausführungen auf die deutsch-brasilianischen Kooperationen auf den Gebieten von Bildung und Wissenschaft "außerhalb" der Leistungen der deutschen Entwicklungshilfe für Brasilien konzentrieren werde. Zur Abrundung des Gesamtbildes möchte ich Ihnen aber doch wenigstens einige Stichworte zu solchen Leistungen der deutschen Entwicklungshilfe sagen, die auch Bereiche von Bildung und Wissenschaft umfassen. In der Gesamtbilanz bilateraler Entwicklungshilfe für Brasilien steht die Bundesrepublik Deutschland an erster Stelle der Geberländer. Sowohl in der finanziellen Zusammenarbeit als auch in der sogenannten technischen Zusammenarbeit gibt es eine Fülle von Entwicklungshilfeprojekten, die dem Ziel der Hilfe zur Selbsthilfe in Brasilien dienen. Hierzu gehören Bewässerungsprojekte, Projekte des Hochwasserschutzes, landwirtschaftliche Entwicklungsprojekte, Projekte im Bereich des Gesundheitswesens und andere mehr. Es gibt aber auch Vorhaben der Entwicklungshilfe auf dem Gebiet von Bildung und Wissenschaft. Hierzu gehören Vorhaben im Bereich der beruflichen Bildung, insbesondere für die Ausbildung der mittleren Ebene von Fachkräften (Techniker und Meister). Es gibt ferner auch Entwicklungshilfevorhaben, die im Rahmen von deutsch-brasilianischen Universitätspartner-

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schaften durchgeführt und vom Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit gefördert werden. Ich nenne hier zum Beispiel ein Projekt im Bereich der Forstwissenschaft im Rahmen der Universitätspartnerschaft zwischen Freiburg und der brasilianischen Universität Curitiba, verschiedene Projekte im Rahmen der Universitätspartnerschaft zwischen der Veterinärmedizinischen Hochschule Hannover und verschiedenen brasilianischen veterinärmedizinischen Fakultäten, ein Projekt im Bereich Maschinenbau im Rahmen der Universitätspartnerschaft zwischen der Rheinisch-westfälischen technischen Hochschule Aachen und der brasilianischen Bundesuniversität in Florianopolis, ähnliche Projekte für Bodennutzung und Bodenerhaltung im Amazonasgebiet, Projekte im Bereich der Energietechnik und andere. Außer dem Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit sind die politischen Stiftungen sowie die Kirchen in Entwicklungshilfeprojekten in Brasilien engagiert, hier zum Teil ebenfalls auf Gebieten von Bildung und Wissenschaft. Ich habe versucht, anhand möglichst vieler konkreter Beispiele sowohl den Gesamtrahmen als auch die Schwerpunkte der vielfältigen und fruchtbaren deutsch-brasilianischen Kooperationen auf dem Gebiet von Bildung lind Wissenschaft aufzuzeigen. Wir müssen uns aber auch fragen, welche Aussichten hat die weitere deutsch-brasilianische Kooperation auf dem Gebiet von Bildung und Wissenschaft in der Zukunft? Die nach 21 Jahren der Militärdiktatur 1985 begonnene neue demokratische Regierung Brasiliens unter dem derzeitigen Präsidenten Sarney hat noch mit erheblichen wirtschaftlichen und sozialen Problemen zu kämpfen. Große Erfolge sind aber trotz dieser kurzen Zeitspanne auch bereits erreicht worden: Das Industriewachstum 1986 betrug 12%, es wurden viele Arbeitsplätze geschaffen, die Reform des Währungswesens führte zur Senkung der Inflationsrate. Die brasilianische Regierung genießt das Vertrauen des Volkes. Wie ist die Zukunft Brasiliens? Bei Ausnutzung aller landwirtschaftlichen Produktionsmöglichkeiten könnte Brasilien seine Ernährungsprobleme allein lösen. Das Land ist ferner ungeheuer reich an noch nicht erschlossenen Bodenschätzen. Im Süden Brasiliens steht ein Potential von hochqualifizierten Facharbeitern für die weitere Entwicklung und Industrialisierung des Landes zur Verfügung. Die Konsolidierung der demokratischen Ordnung Brasiliens schreitet voran. Präsident Sarney hat in den vergangenen zwei Jahren sehr viel geleistet. Ich wünsche und vertraue daher darauf, daß Brasilien die wirtschaftlichen und sozialen Probleme in Zukunft bewältigen wird und daß Brasilien daher auch, ebenso wie in der Vergangenheit, ein guter Partner für die Weiterentwicklung und Intensivierung unserer Beziehungen auf den Gebieten von Bildung und Wissenschaft bleiben wird.

Zusammenarbeit der Universitäten Europas und Lateinamerikas Victor GodOT

Die lange und fruchtbare Kooperation zwischen den Universitäten Europas und Lateinamerikas ist allen bekannt. Unser gemeinsamer ethnischer und kultureller Ursprung hat diesen Beziehungen ohne Zweifel den Weg geebnet, Beziehungen, die mit jedem Tag nahezu alle sozio-kulturellen Schichten der Länder Lateinamerikas erreichen. Da ich gebeten worden bin, dem Ausdruck zu geben, was unsere Länder von der Wissenschaft und den europäischen Universitäten erhoffen, möchte ich sagen, daß es noch eine Reihe von Unstimmigkeiten und Lücken gibt, sowohl auf dem Gebiet der rein wissenschaftlich-akademischen Zusammenarbeit als auch, was den effektiven Einfluß angeht, den unsere Universitäten auf die Entwicklung der Länder nehmen. In diesem Sinne glaube ich, die Ansicht all meiner Kollegen wiederzugeben, wenn ich betone, daß es einer besseren Abstimmung der Universitätsprogramme, der von den Regierungen angestrebten Ziele und der Wünsche unserer Völker bedarf, um auf schnellere und einfachere Weise das schon genannte Ziel eines wahrhaften und harmonischen Wachstums und somit die Zufriedenheit unserer Völker zu erreichen. Tatsache ist, daß die Universitäten, besonders in den Entwicklungsländern, mit jedem Tag mehr eine führende Rolle in den Entwicklungsprogrammen ihrer Regierungen übernehmen sollten. Selbstverständlich ist es unerläßlieh, daß die Regierungen den Universitäten die Möglichkeit geben, an diesem Prozeß teilzunehmen. In unseren Universitäten stellen wir häufig fest, daß fast das einzige Feld, auf dem sich viele unserer Studenten betätigen wollen, das politische ist, sei es über anerkannte Parteien oder über ihre eigenen Bewegungen, von denen einige - glücklicherweise eine sehr kleine Minderheit - zu gewaltsamen oder einschüchternden Methoden greifen. Es ist sicher, daß die Universität nicht mehr nur die Institution einer kulturellen, sozialen und ökonomischen Elite ist. Jedoch können sich die Studenten, die Zugang zur Universität haben, weiterhin deshalb als privilegiert 1 Botschafter von Paraguay, Sprecher der Gruppe der Botschafter der lateinamerikanischen Staaten, Bonn.

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betrachten, weil ihnen die Verantwortung zukommt, an der vollständigen Entwicklung ihres Landes mitzuhelfen, und zwar mittels realistischer Grundlagen und Auffassungen. Mit anderen Worten: Diese jungen Menschen sollten neben den Hörsälen auch die Felder, Wüsten, Wälder, Gebirge, Fabriken, städtischen Zentren und Randviertel zu ihren Bildungsstätten machen. Die Universitäten sollten weiterhin versuchen, sich mit der Mentalität möglichst großer Teile der Bevölkerung zu identifizieren, um deren reelle Bedürfnisse und Sorgen besser zu verstehen. Wir sind daran gewöhnt, daß in den europäischen Massenmedien mit übertriebenem Nachdruck über Armut und materielle Unterentwicklung in unseren Ländern berichtet wird, über Vorgänge, die selbst für uns Ausnahmen darstellen. Offensichtlich sucht man hiermit einen betimmten Eindruck zu erzielen, vor allem bei denen, die niemals in unseren Ländern gelebt haben. Die Reaktion ist menschlich, und sie kann bei jedem, der dafür empfänglich ist, auftreten, einschließlich bei denen, die in den betroffenen Ländern leben und schon einen anderen Lebensstandard haben. Das Kuriose dabei - und für den europäischen Beobachter vielleicht der beste Rat zum Verständnis - ist die Tatsache, daß ein Großteil der Menschen in den Entwicklungsländern, denen unsere Besorgnis gilt (von einigen Ausnahmen abgesehen), nur diese Lebenserfahrung kennt und diese Situation somit fiir sie "normal" ist. Das soll nicht heißen, daß die Regierungen und die Universitäten weiterhin zulassen können oder sollen, daß dieser Prozeß seinen natürlichen Lauf nimmt. Im Gegenteil: Es ist die unumgängliche und nicht aufschiebbare Verpflichtung der führenden Klasse aller Länder der Erde, die Leiden der Menschen zu lindern und das Niveau der Lebensbedingungen gerade der bedürftigsten Bevölkerungsschichten zu heben. Ein anderes Risiko ergibt sich aus dem Ruf nach "Demokratisierung" an den Universitäten. Es ist die Entstehung eines "intellektuellen Proletariats", wodurch in den letzten Jahren auch solche Berufe von Arbeitslosigkeit betroffen sind, die traditionell als technisch oder pragmatisch angesehen werden, wie Ingenieure, Architekten, Ärzte et cetera. Wir glauben deshalb, daß die Universitäten auch eine erhöhte Verantwortung in bezug auf Berufslaufbahnen oder Studiengänge haben. Diese sollten notwendigerweise die allgemeinen Bedingungen und Prioritäten eines Landes reflektieren, um vor allem den primären Bedürfnissen seiner Bürger gerecht zu werden. In diesem Sinne sollte es ebenso eine moralische Verpflichtung der Universitäten in den Entwicklungsländern sein, vor allem derer mit Studiengebühren, nicht zu versuchen, Bewerber für Laufbahnen zu gewinnen, die für ihr Land nicht von lebenswichtiger Bedeutung sind und dort keine Zukunft haben. Eine Vernachlässigung dieser Verpflichtung hätte die fortschreitende Zunahme von Frustration und potentiellen Unruheherden zur Folge. Die Alternative ist dann die Flucht, wobei Ideen oder qualifizierte Arbeiten an Länder weitergegeben werden, die zum Fortschritt oder zur persönli-

Zusammenarbeit der Universitäten

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chen Verwirklichung in diesen Berufsständen bessere Angebote machen. Dies wird jedoch weder den Investitionen des Landes gerecht, das den Titel vergeben hat, noch erfüllt es seine Erwartungen. Ich wiederhole an dieser Stelle, was der Nobel-Preisträger Norman Borlaug, der "Vater der grünen Revolution", kürzlich gesagt hat: Man kann Afrika nicht durch Schreiben auch der gelehrtesten Werke ernähren. Es gibt eine Überfülle von Schriftwerken und wenig Bemühungen der Wissenschaftler, die sich in Taten ausdrükken.

Kolloquium: Bilanz und Zukunft der Wissenschafts beziehungen zwischen Europa und Lateinamerikal Während des Kongresses "Lateinamerika und Europa im Dialog" lädt der Rektor der Universität Münster zu einem Rundgespräch ein, an dem auf lateinamerikanischer Seite ein Erziehungsminister und früherer Rektor einer staatlichen Universität, ein Mitglied eines Nationalen Forschungsrats, der Rektor einer privaten Universität und auf europäischer Seite je ein Vertreter der europäischen Ebene, der Bundesebene und derjenigen des Landes Nordrhein-Westfalen teilnehmen. Das Gespräch wird gemeinsam von einem lateinamerikanischen Gastprofessor der Universität Münster, Professor Dr. Closs, und - in Vertretung des erkrankten Rektors - von Altrektor, Universitätsprofessor Dr. iur. Wilfried Schlüter geleitet. Professor Schlüter stellt zunächst die Teilnehmer des Rundgesprächs vor: • Seine Exzellenz, den Erziehungsminister der Republik Guatemala, Herrn Professor Dr. Arturo Meier Maldonadoj • Seine Magnifizenz, den Rektor der Päpstlichen Katholischen Universität von Ecuador, Herrn Professor Dr. theol. Julio Teran Dutarij • Den Vizerektor der Bundesuniversität von Rio Grande do Sul und Mitglied des Nationalen Forschungsrats (CNPq) der Föderativen Republik Brasilien, Herrn Professor Dr. rer. nato Gerhard Jacobj • Herrn Professor Dr. rer. nato Darcy Closs, vormals Direktor der brasilianischen nationalen Stipendienorganisation (CAPES) und leitender Mitarbeiter des Nationalen Forschungsrats (CNPq) der Förderativen Republik Brasilien, zur Zeit Gastprofessor der Universität Münster; • Den Mitarbeiter der Generaldirektion Wissenschaft der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, Herrn Dr. Thomas Wollersen, Brüsselj • Den Leiter der Stipendienabteilung des Deutschen Akademischen Austauschdienstes, Herrn Dr. phil. Friedhelm Schwamborn, Bonnj lNiederschrift nach der Tonbandaufzekhnung von Univ.-Prof. Dr. Achim Schrader.

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Kolloquium

• Den Gruppenleiter im Ministerium für Wissenschaft und Forschung des Landes Nordrhein-Westfalen und Vorsiizenden des Hochschulausschusses der Ständigen Konferenz der Kultusminister, Herrn Professor Dr. rer. nato Toni Hochmuth, Düsseldorf, in Vertretung des verhinderten Staatssekretärs des Ministeriums für Wissenschaft und Forschung, Dr. iur. Gerhard Konow. Professor Schlüter/Universität Münster weist eingangs darauf hin, daß die lateinamerikanischen Gäste zwei der neun Partneruniversitäten der Universität Münster repräsentierten, drei von ihnen hätten in Deutschland promoviert. Er erinnert an die Vielfalt der wissenschaftlichen Beziehungen der Universität Münster zu Lateinamerika, wie sie der Rektor bei seiner Eröffnung des Kongresses dargestellt habe und die sich - wie dieser Kongreß den Eindruck vermitteln könnte - keineswegs nur auf die Geisteswissenschaften beschränke. Sie umfasse ebenso intensiv die Naturwissenschaften, die mit Sicherheit in einem weiteren Kongreß Ergebnisse ihrer Zusammenarbeit ebenso überzeugend darlegen werden. Ständig seien zahlreiche Wissenschaftler aus Lateinamerika Gast der Universität Münster, etwa hundert lateinamerikanische Studenten studierten hier. Ihre Zahl sollte sich erheblich erhöhen; wozu allerdings wesentlich mehr Stipendien als bisher bereitgestellt werden müßten. Der wissenschaftliche Austausch der Universität Münster mit Lateinamerika sei mit dem Hinweis auf unsere neun Partneruniversitäten (vier in Brasilien, zwei in Argentinien und je einer in Ecuador, Kolumbien und Peru) keines weg erschöpfend umschrieben. Die Universität Münster habe seit jeher versucht, trotz Haushaltsrestriktionen mit eigenen Mitteln den Austausch zu f'ördern, weil sie davon überzeugt sei, daß jede wissenschaftliche Arbeit international sein müsse. Die deutschen Universitäten hätten aus Lateinamerika vielf'ältige wissenschaftliche Anregungen erhalten. Sie würden vor allem im Hinblick auf den wissenschaftlichen Nachwuchs den Austausch noch wesentlich stärker fördern müssen. Man solle über Programme, zum Beispiel die sandwich-Promotionen, sur place-Stipendien, spezielle Studiengänge, zum Beipsiel nach dem Muster des magister legum, der gerade in Münster eingerichtet worden sei, und vieles anderes sprechen. Die Universität Münster müsse, um die vielfältigen wissenschaftlichen Aktivitäten besser unterstützen und koordinieren zu können, darüber nachdenken, ob sie ein Institut für Lateinamerika-Forschung errichten solle. Er hoffe, daß Land, Bund und die vielf'ältigen Stiftungen trotz der schwierigen Haushaltslage die für beide Seiten wichtigen Wisse,nschaftsbeziehungen weiterhin und nachhaltiger als bisher unterstützen werden. Jede Mark, die in diesen Bereich investiert werde, trage schon mittelfristig wissenschafts- und gesellschaft politische Früchte. Das Rundgespräch werde dazu beitragen, das Erreichte kritisch zu würdigen und neue Wege für unsere zukünftige Arbeit aufzeigen.

Wissenschafts beziehungen

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Professor Meier MaldonadojErziehungsministerium von Guatemala weist einleitend am Beispiel seines Landes auf die leidvolle erste Begegnung der europäischen mit der indianischen Kultur Amerikas und auf aktuelle Probleme seines Landes hin, unter denen er die Bemühungen um eine Neu-Strukturierung der Wirtschaft, die Beseitigung der ungerechten gesellschaftlichen und politischen Strukturen, die friedliche Beendigung des mittelamerikanischen Krieges besonders hervorhebt. Er erwähnt die hilfreiche Unterstützung aus Europa, insbesondere diejenige aus Deutschland, von dem man sich Verständnis und weitere Unterstützung der jungen guatemaltekischen Demokratie erhoffe. Unter den Förderungsmaßnahmen Deutschlands nennt er die Berufsbildung in der Landwirtschaft, die Erwachsenenbildung, die Einführung der Lehramtsstudiengänge, die Stipendien für das Studium in Deutschland, die Förderung der "Deutschen Schule", des berufsbildenden "Georg-KerschensteinerInstituts" in Mazatenango, der Kulturvereinigung "Alexander von Humboldt", der Radioschule mit Unterricht in den Indio-Sprachen, der Zentralamerikanischen Hochschulvereinigung (CSUCA), letzterer vor allem durch den Deutschen Akademischen Austauschdienst (DAAD). Förderung erhalte man von allen politischen Stiftungen und der "Deutschen Stiftung für internationale Entwicklung" (DSE). Im Schulbereich zähle man auch auf die Hilfe Österreichs, Italiens, Spaniens und der Schweiz. Professor Teran DutarijKatholische Universität, Quito bezeichnet die europäisch-lateinamerikanischen Wissenschaftsbeziehungen in Geschichte und Gegenwart als "Einbahnstraße"; das dürfe sie nicht bleiben. Die Universitäten seien im spanischen Amerika im frühen 16. Jahrhundert nach spanischem Vorbild gegründet worden; wissenschaftliche Bücher seien zunächst ausschließlich aus Europa eingeführt worden, darunter - trotz der Zensur der Kolonialmacht - in großer Zahl auch die ketzerischen Schriften, denn der Buchdruck sei erst im 18. Jahrhundert eingeführt worden. Seitdem hätten neben den Missionaren auch europäische Naturwissenschaftler den Weg in die lateinamerikanischen Universitäten gefunden. Obwohl heute die überwiegende Mehrzahl der Dozenten Lateinamerikaner seien, bleibe es bei der "Einbahnstraße", denn für deren Reputation sei es noch immer wichtig, in Europa ausgebildet worden zu sein. Der dabei auftretende brain drain sei nicht die Bewegung in Gegenrichtung, die man sich wünsche. Sie bestehe heute vielmehr vor allem in den völlig neuartigen Fragen, die Lateinamerika an die europäische Wissenschaft stelle. Insbesondere dürfe die Lage der lateinamerikanischen Länder nicht länger nur durch Klischees gesehen werden; das bewirke auch Verzerrung der Sicht der eigenen Wirklichkeit bei den Lateinamerikanern. Andererseits müßten sie sich ihrerseits von ihrem typischen Chauvinismus befreien, sie müßten lernen, nicht nur das Besondere an ihrer Lage zu erkennen, sondern in Zusammenarbeit mit den europäischen Wissenschaftlern das Allgemeingültige herauszuarbeiten. In Zukunft müsse ein wahrer Austausch stattfinden; er sei seit langem Programm, die Verwirklichung lasse auf sich warten.

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Kolloquium

Professor Dr. Gerhard JacobjNationaler Forschungsrat Brasiliens stellt fest, daß die Zusammenarbeit zwischen Deutschland und Brasilien auf beiden Seiten die jeweils wichtigste Beziehung zu einem anderen Land sei und unterscheidet drei Formen der Wissenschaftsbeziehungen: • Den Austausch von Wissenschaftlern und Studenten, • die technische Entwicklungshilfe und • die wissenschaftlich-technologische Zusammenarbeit, soweit sie von Universitäten und anderen wissenschaftlichen Institutionen durchgeführt werden. Quantitativ gesehen enthalte die Bilanz der Förderung durch die Bundesrepublik Deutschland einen Wert von ca. 25 Millionen Deutsche Mark (15 Millionen US-Dollar) im Jahr; davon entfielen auf den Austausch Mittel der Regierung, des Deutschen Akademischen Austauschdienstes (DAAD), der Alexander v. Humboldt-Stiftung, der politischen, religiösen Stiftungen aller Art im Wert von ca. 5,5 Mio US-Dollar, auf die technische Entwicklungshilfe vor allem durch das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit (BMZ) 4,5 Millionen US-Dollar sowie auf die wissenschaftliche und technologische Zusammenarbeit, die vor allem das Bundesministerium für Forschung und Technologie (BMFT) im Rahmen eines Regierungsabkommens über mehrere Partner (Deutsche Forschungsgemeinschaft [DFG], Kernforschungsanlage Jülich [KFA], Gesellschaft für automatische Datenverarbeitung [GAD], Deutsche Versuchsanstalt für Luft- und Raumfahrt [DVFLR]) leiste, rund 3 Millionen US-Dollar. Die Zusammenarbeit sei gekennzeichnet durch Mitbestimmung und Mitbeteiligung Brasiliens. Das führe dazu, daß sein Land einerseits bei der Festsetzung der Prioritäten gleichberechtigt mitwirke, andererseits sich aber auch wenigstens im Umfang von 50:50 an der Finanzierung beteilige. Es handele sich daher - und das sei Grund oder Folge der Bedeutung der Beziehungen zwischen Brasilien und Deutschland - um eine zweigleisige Zusammenarbeit. Zwar sei Brasilien ein Schwellenland, daher beruhten die Beziehungen nicht in allen Gebieten auf uneingeschränkter Gegenseitigkeit; grundsätzlich gelte jedoch das Prinzip gleicher Rechte und Pflichten. In der Zukunft werde der Wille der Zusammenarbeit auf beiden Seiten noch stärker werden, wobei die Entscheidung über Prioritäten bei der brasilianischen Seite bleiben müsse. Deutschland werde Brasilien auch weiterhin in allen Fragen entgegenkommen, in denen es besondere Probleme habe (zum Beispiel durch die Finanzierung von Sprachkursen selbst bei Vorhaben, die ganz von brasilianischer Seite getragen werden). Als Wissenschaftler stimme er nicht mit der zwischen den Regierungen getroffenen Setzung gleichstarker Schwerpunkte auf die Förderung der Stadtentwicklung, der ländlichen Entwicklung, der Universitäten und der Umweltfragen mit je einem Viertel der Förderungssumme überein, respektiere aber den darin zum Ausdruck kommenden Konsens der Partner. Er warnte

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vor der Vermengung von kommerziellen und wissenschaftlichen Interessen vor allem im Bereich der Informatik (wo das nationalistische Informatik-Gesetz Brasiliens hinderlich sei) und im Bereich der Kernenergie. Zwar werde die Zusammenarbeit fortgesetzt werden, auch wenn es wegen der Schwellenland-Situation Brasiliens zu einer Verringerung der Entwicklungshilfe Deutschlands kommen solle; er plädiere jedoch für deren Fortsetzung mit dem Ziel, das Nord-Süd-Gefälle weiter abzubauen und auf diesem Wege die Süd-Süd-Zusammenarbeit zu f6rdern. Professor Hochmuth, Ministerium für Wissenschaft und Forschung des Landes Nordrhein-Westfalen weist auf die lange Tradition der deutschen Wissenschaft in der Beschäftigung mit Lateinamerika seit Alexander v. Humboldt hin. Es gebe derzeit ca. 80 Universitätspartnerschaften mit Hochschulen in Lateinamerika, allein in Nordrhein-Westfalen sei deren Zahl in den letzten Jahren von 18 um 13 auf 31 erhöht worden. Diese Partnerschaften seien valide und beinhalteten eine intensive Zusammenarbeit nicht nur in den klassischen Disziplinen, sondern auch bei aktuellen Problemen wie zum Beispiel der Behandlung von Thmoren und AIDS. Bei der Betrachtung der Perspektiven für die Wissenschaftsbeziehungen mit Lateinamerika seien Entwicklungen an den Hochschulen zu beachten: Die Philosophischen Fakultäten wären gut beraten, ihre fast ausschließliche Ausrichtung auf die Lehrerbildung zugunsten der modernen Regionalwissenschaften aufzugeben und in zunehmendem Maße eine praxisbezogene Ausbildung auch in den Philologien anzubieten (hohe Sprachkompetenz, landeskundliche und wirtschaftliche Kenntnisse, Informatik). Dabei sei in Nordrhein-Westfalen wie in anderen Bundesländern neben Ostasien die Hinwendung der Hochschulen auf Lateinamerika unübersehbar. Diese Entwicklungen würden von den Wissenschaftsressorts aufmerksam verfolgt und gef6rdert. Schwergewichte in den Wissenschaftsbeziehungen bestünden nach wie vor in den Natur- und Ingenieurwissenschaften, vor allem dort, wo es ein gemeinsames konkretes wirtschaftliches Interesse beider Seiten gebe. Neben den von Professor Jacob erwähnten Projekten in Brasilien gebe es weitere in Lateinamerika, so zum Beispiel im Maschinenbau Kolumbiens und anderer Länder. Hier sei ein wirkliches partnerschaftliches Zusammenwirken entstanden, das auf beiderseitige Kompetenz gegründet sei. Von den 377 im Jahre 1986 an Lateinamerikaner vergebenen Stipendien des DAAD seien 124 auf Naturwissenschaftler und 101 auf Ingenieure entfallen. Leider sei das eine "Einbahnstraße": nicht annähernd soviele Deutsche hätten Stipendien für Lateinamerika erhalten. Die fehlenden Äquivalenzabkommen dürften den Wechsel von Deutschen nach Südamerika nicht gehindert haben, da es im Postgraduierungsbereich ohnehin keine Schwierigkeiten mit der Anrechung von Studienleistungen im Ausland gebe. Für die Zukunft halte er eine stärkere Beteiligung auch der Fachhochschulen an der Entwicklung praxisbezogener Wissenschaftsbeziehungen für möglich und erstrebenswert. Dr. Wollersen/Kommission der Europäischen Gemeinschaften erinnert einleitend an die "Deklaration für eine bessere Zukunft" zum Ab-

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KoUoq!lium

schluß des Gipfeltreffens in Tokio im Jahre 1986, in der die Bedeutung der Entwicklungspolitik für die Erlangung von dauerhafter Stabilität und Wohlstand der Entwicklungsländer herausgestellt worden sei. Ihre Innovationsfähigkeit hänge von der wissenschaftlichen und technischen Kapazität ab, welche durch gemeinsame Forschungstätigkeit zu fördern sei. Eine Entschließung des Rats der Europäischen Gemeinschaften von 1980 habe der Entwicklung der Forschungskapazität im Bereich der Nahrungsmittelproduktion durch Komplementarität der Forschungszentren in Entwicklungsländern und in den Ländern der Europäischen Gemeinschaften Priorität verliehen. Durch die Mitgliedschaft Spaniens und Portugals seien die Beziehungen der Europäischen Gemeinschaften zu Lateinamerika erneut unterstrichen worden. Die Kommission der Europäischen Gemeinschaften verfüge über zwei Haushaltsllnien zur Förderung der konkreten Zusammenarbeit: 1. Internationale wissenschaftliche und technische Zusammenarbeit mit nicht-assoziierten Ländern (seit 1984). Die meisten lateinamerikanischen Länder hätten entsprechende Vereinbarungen mit den Europäischen Gemeinschaften getroffen.

2. Wissenschaft und Technik im Dienste der Entwicklung der tropischen und subtropischen Landwirtschaft und Medizin (seit 1985). Alle Entwicklungsländer und alle Mitgliedsländer der Europäischen Gemeinschaften könnten an diesem Programm mit gemeinsamen Projekten teilnehmen. Ziel beider Programme sei .hierbei letztlich die Förderung von gemeinsamen Forschungsvorhaben in Jahresprogrammen und nach den jeweiligen realen Bedürfnissen. Wo das noch nicht möglich sei, würden Informationsaustausch, gemeinsame Seminare, Expertenmissionen, Ausbildungsmaßnahmen, Ausrüstungen jeweils mit dem ausdrücklichen Ziel gefördert, zu gemeinsamen Forschungsprojekten und zu einer Stärkung der wissenschaftlichen Infrastruktur zu kommen. Die Ausbildung von Forschern sei in diesem Zusammenhang besonders wichtig. Die Grundlagenforschung stelle selbst bei Anwendungsbezug keine besonderen politischen Probleme; Sensibilitäten seien jedoch bei anderen, kurzfristigen Projekten von industrieller Bedeutung (zum Beipspiel Informatik, Kernenergie, Biotechnologie) zu beachten, bei denen in Verhandlungen auch die Kontrolle der kommerziellen Nutzung festgelegt werden müsse. Man strebe eine größere finanzielle Eigenbeteiligung der Entwicklungsländer an, um die Gesamtzahl der zu fördernden Projekte erhöhen zu können. Lateinamerika genieße eine gewisse Priorität; mit den Ländern des Andenpakts, Mittelamerikas und mit Uruguay stehe man jedoch noch in Verhandlungen. Seit 1984 seien 83 Projekte mit 5,1 Millionen ECU (ca 5,5 Millionen US-Dollar) gefördert worden. In Zukunft sollten drei bis vier Milllo-

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nen ECU allein für Lateinamerika vorgesehen werden. Das Programm habe zu einer Stärkung von Forscherteams in heiden Bereichen geführt. Unter wohlverstandenem europäischen Eigeninteresse sei die Verjüngung überalterter europäischer Forscherteams und die Verbreitung der "europäischen Wissenschafts- und Technik-Kultur" einschließlich der Mobilität der europäischen Forscher hervorzuheben. Multiplikatoreffekte für die finanziellen und kommerziellen Beziehungen seien zu erwarten. Dr. SchwambornjDeutscher Akademischer Austauschdienst sieht auch für die Zukunft noch die überragende Bedeutung der bilateralen Zusammenarbeit voraus. Die lobenswerte multilaterale Zusammenarbeit der Europäischen Gemeinschaften mit Lateinamerika habe zur Zeit finanziell doch noch keinen größeren Umfang erreicht als zum Beispiel der Wissenschaftleraustausch der Bundesrepublik Deutschland allein mit Brasilien. Alle Anstrengungen zu multilateraler Zusammenarbeit seien zu begrüßen; und als konkretes aktuelles Beispiel verweise er auf das von den Europäischen Gemeinschaften verdienstvollerweise gegründete, nun aber in finanzielle Schwierigkeiten geratene "Institut für europäisch-lateinamerikanische Beziehungen" (IRELA) in Madrid, auf das lateinamerikanische Forscher vor allem im Dokumentationsbereich große Hoffnungen gesetzt hätten. Die lange Geschichte der Wissenschaftsbeziehungen zwischen Deutschland und Lateinamerika sei im Vergleich zu anderen Regionen eine günstige Voraussetzung für ihre Pflege und ihren Ausbau, sie führe allerdings gelegentlich auf lateinamerikanischer Seite auch zu Überschätzungen. Eine Folge dieser langfristigen Zusammenarbeit sei zum Beispiel das Vorhandensein einer wissenschaftlichen Infrastruktur (Forschungsräte, Rektorenkonferenzen und so weiter) in Lateinamerika. Viele Universitätspartnerschaften seien Fiktion geblieben. Ohne die günstige Einschätzung von Professor Hochmuth für Nordrhein-Westfalen anzweifeln zu wollen, gelte auch hier der Grundatz small is beautiful: Institutsoder Fachbereichspartnertschaften unter dem "Dach" eines Universitätsabkommens seien der richtige Weg. In der Tat glichen die Beziehungen noch immer der "Einbahnstraße". Vielleicht sei der Ausbau der area studies ein neuer Ansatzpunkt. In Lateinamerika bestehe ein großes Potential hervorragender Wissenschaftler, die im Rahmen von Gastdozenturen und (Kultur- )Lektoraten für wenige Jahre ihr Wissen an deutschen Universitäten vermitteln könnten. Zum Teil seien die entsendenden Länder sogar bereit - wie im Fall Brasiliens und der Universität Heidelberg bereits geschehen -, umfangreiche Bücherspenden zu machen, um die deutschen Gastinstitutionen mit aktualisierten Referenzbibliotheken auszurüsten. Es fehle jedoch an der Bereitschaft der Universitäten und Wissenschaftsministerien, die dafür benötigten Stellen bereitzustellen. Das gelte auch im umgekehrten Sinne: Deutschen Forschern werde der Aufenthalt in Lateinamerika oft durch die Verweigerung von Beurlaubung (vor allem in Nordrhein-Westfalen) erschwert; die Hochschulverwaltungen zeigten sich häufig sehr unsensibel. Auch hier sei ein Vergleich mit einem

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süddeutschen Bundesland angebracht. Die sogenannten "Mittlerorganisationen" seien bereit und in der Lage, den Austausch in beiden Richtungen nachhaltig zu fördern; oft fehle es aber an der Basis, in den Universitäten, an den einfachsten Voraussetzungen. Auf zwei Tendenzen wolle er abschließend aufmerksam machen: Erstens auf die wachsende Bedeutung der Vereinigungen ehemaliger DeutschlandStipendiaten in Lateinamerika, die als "Mittler" zwischen Deutschland und Lateinamerika eine wichtige Funktion erfüllten, und zweitens auf die notwendige regionale Differenzierung: Neben dem "Giganten" Brasilien sei die Förderung von Zentralamerika oder kleineren Ländern wie zum Beispiel Uruguay vonnöten; der von der Bundesregierung für Zentralamerika zur Verfügung gestellte Betrag von 15 Millionen DM sei hierfür ein guter Ansatzpunkt.

Diskussion Frau Dr. Knoderer jBerlin stellt Fragen zur Indio-Politik in Guatemala, die von Professor Meier Maldonado beantwortet werden. Professor SchraderjMünster macht auf die nachteilige Semantik des Begriffes area studies in Lateinamerika aufmerksam: Die Lateinamerikaner hätten nicht vergessen, daß Forschungsprojekte von area studies-Instituten der US-amerikanischen Universitäten in den sechziger Jahren zur Gesellschaftsspionage mißbraucht worden seien ("Camelot-Projekte"). Professor Hochmuth entgegnet, für neue Formen müßten in der Tat neue Begriffe gefunden werden; auch der häufig benutzte Terminus "Chorologie" sei nicht ohne Erläuterung verständlich und daher zu ersetzen. Frau Professor Souza CamposjSäo Paulo fragt nach der Möglichkeit, inner-lateinamerikanische Partnerschaften, bei denen es keine Sprachbarriere gebe, stärker zu fördern. Dr. Schwamborn erinnert an geförderte Dreieckspartnerschaften wie diejenige zwischen Freiburg, Curitiba/Brasilien und Valdivia/Chile im Bereich der Forstwirtschaft und die Wirkungsweise der zentralamerikanischen Hochschulvereinigung (CSUCA), mit deren Hilfe es gelungen sei, die Zusammenarbeit zwischen den zentralamerkanischen Unh'ersitäten mit deutscher finanzieller und technischer Hilfe zu verstärken. Weitere Süd-Süd-Partnerschaften sollten auf die Dauer aber Ergebnis der Initative der Lateinamerikaner selbst sein. Professor Teran nennt hierzu das Beispiel des Stipendienwerks der katholischen Kirche (Tübingen), das mehrfach interdisziplinäre und internationale Seminare für Lateinamerikaner durchgeführt habe. Professor Schlüter äußert die Erwartung, daß die Beziehungen von Fachhochschulen in Nordrhein-Westfalen nicht auf Kosten der schon bestehenden Universitätspartnerschaften ausgebaut werden. Die Partnerschaften hätten sich - wie die Universität Münster beispielsweise zeige - nie nur auf

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die gut funktionierende Zusammenarbeit mit einzelnen Wissenschaftlern, sondern stets auf die Zusammenarbeit mehrerer Institute oder Fachbereiche gegründet. Professor Hochmuth entgegnet, daß Universitätspartnerschaften - die vor allem auf der Grundlage persönlicher Beziehungen und konkreter Projekte in Nordrhein-Westfalen in der Tat gut funktionierten - weiterhin gef6rdert würden, daß sich aber in den Fachhochschulen - auch gerade auf Wunsch der Lateinamerikaner - ein neues anwendungsbezogenes Tätigkeitsfeld ergeben habe. Professor Schlüter setzt sich abschließend dafür ein, daß Wege und Formen der Zusammenarbeit gefunden werden sollten, welche die Zeit, die normalerweise für Promotionen verwendet werden müsse, verkürzen oder die eine Alternative zur Promotion darstellen würden.

Berichte aus den Wissenschaftlichen Werkstätten des Kongresses

Werkstatt: Theologie! "Lateinamerika und Europa im Dialog": Dieser Kongreß der Universität Münster im Herbst 1987 tagte mit Ausnahme einiger Rabmenveranstaltungen in sogenannten "Werkstätten" (workshops), die von neun verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen beziehungsweise Fachbereichen oder Einrichtungen der Universität getragen wurden. Der interkulturelle Kontakt überwog gegenüber dem interdisziplinären. Die Werkstatt Theologie, ausgerichtet vom Seminar für Fundamentaltheologie, stand unter dem weitgefaßten Thema: "Religion, Kirche und Theologie im Spannungsfeld zweier Kontinente". Zum Geleit hatten wir, quasi als öffentliche Absichtserklärung, dies formuliert: Die Theologie ist in der heutigen Weltsituation schon um ihrer selbst willen darauf angewiesen, nationale und kontinentale Beschränkungen zu überwinden und ihre Begriffe in interkultureller Aufmerksamkeit und Lernbereitschaft zu formulieren. Die europäischen Kirchen werden gegenwärtig von einem Aufbruch ihrer lateinamerikanischen Schwesterkirchen herausgefordert. Die Werkstatt Theologie möchte einen Beitrag zur produktiven Annahme dieser Herausforderung leisten, indem sie vor allem lateinamerikanische Theologen selbst zu Wort kommen läßt und die Diskussion mit ihnen sucht. Wenn es gelingen sollte, in dieser Zusammenkunft ein Stück gemeinsamer Arbeit an einer Theologie zu verwirklichen, die als gemeinsame die unterschiedlichen gesellschaftlichen und kulturellen Situationen gerade zur Geltung bringt, dann wäre damit das Beste eingelöst, was von einer solchen Begegnung erwartet werden darf. Der äußere Verlauf der Werkstatt war von vornherein zweigleisig angelegt. Sämtliche Vorträge waren öffentlich zugänglich; die daran anschließenden, jeweils über mehrere Stunden ausgelegten Werkstattgespräche, waren prinzipiell nicht öffentlich, das heißt, sie waren jenen über 80 Personen vorbehalten, die der offiziellen Einladung zur Teilnahme an der theologischen Werkstatt gefolgt waren 2 sowie jenen Teilnehmern an den anderen Werkstätten des Kongresses, die sich als Gäste am Dialog der Theologen beteiligen wollten. lLateinamerika und Europa. Dialog der Theologen. Hrsg. von Johann Baptist Metz und Peter Rottländer. München, Mainz 1988. 2Die Einladung an europäische Teilnehmer muBten wir aus finanziellen Gründen auC den deutschsprachigen Raum begrenzen.

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Vor der Erläuterung des Verlaufs der Werkstattgespräche will ich hier zunächst den Plan der Werkstatt Theologie vorstellen - und zwar durch die Wiedergabe des Programms sowie mit Hilfe jener inhaltlichen Kurzbeschreibungen der thematischen Schwerpunkte, die sowohl den Referenten als auch den Teilnehmern an der Werkstatt vorgegeben waren, vorgegeben nicht zur Eingrenzung, sondern zur Anregung. Die Schwerpunkte, die im folgenden thematisch erläutert werden, galten einem interkontinentalen Vergleich aus lateinamerikanischer Sicht (Boff) und dem theologischen Zentrum der Befreiungstheologie (Gutierrez), sie galten Fragen der gesellschaftlichen Rolle der Religion (Scannone, Kaufmann), Fragen der Gemeinde (de Almeide Cunha, Steinkamp), ethischen Fragen (Dussel, Wagua) und Menschenrechtsfragen (Kardinal Arnsj Schillebeeckx, Moltmann, Teran-Dutari, Siegle). Diese Anlage der Werkstatt spiegelt schon jene Umstellung in ihrem Programm, die aus terminlichen Gründen kurzfristig notwendig wurde. Die theologische Werkstatt war von der zuständigen Senatskommission der Universität eingeladen worden, den Eröffnungsvortrag für den Gesamtkongreß vorzubereiten: Kardinal Arns von Säo Paulo, Ehrendoktor unserer Universität, sollte zum Themenbereich "Menschenrechte" sprechen. Da er jedoch durch eine kurzfristig entstandene Terminkollision daran gehindert war, schon am Eröffnungstag des Kongresses in Münster zu sein, bestimmte die Senatskommission den ursprünglich iür eine Podiumsdiskussion vorgesehenen Abschlußvortrag von Leonardo Boff über "Europäische Freiheitstraditionen und lateinamerianisches Befreiungsdenken" zum Eröffnungsvortrag des Kongresses. Das Thema "Kirche und Menschenrechte" , eingeführt durch einen Vortag des Kardinals über "Kirche und Menschenrechte in Lateinamerika" , bildet dann - in Verbindung mit einer Podiumsdiskussion - den öffentlichen Abschluß der Werkstatt Theologie.

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Das Programm

Eröffnungsveranstaltung des Kongresses, darin Vortrag von Prof. Dr. L. Boff, Petropolis, zum Thema "Europäische Freiheitstraditionen und lateinamerikanisches Befreiungsdenken" . 1. Sitzung der Werkstatt Theologie: Gespräch mit Prof. Dr. L. Boff auf der Grundlage des Vortrags vom Vormittag.

Vortrag von Prof. Dr. G. Gutierrez, Lima: "Theorie und Erfahrung im Konzept der Befreiungstheologie" .

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2. Sitzung der Werkstatt Theologie: Diskussion mit dem Referenten. Vortrag von Prof. Dr. J.C. Scannone, Buenos Aires: "Stellung/ Rolle der Religion in lateinamerikanischen Gesellschaften". Vortrag von Prof. Dr. F.X. Kaufmann, Bielefeld: "Stellung/ Rolle der Religion in mitteleuropäischen Gesellschaften". 3. Sitzung der Werkstatt Theologie: Diskussion mit Prof. Scannone und Prof. Kaufmann zu den Vorträgen vom vergangenen Nachmittag. Gemeinsamer Vortag von Prof. Dr. R. de Almeida Cunha, Belo Horizonte und Prof. Dr. H. Steinkamp, Münster: "Prozesse der Gemeindebildung in ihrer theologischen Relevanz". 4. Sitzung der Werkstatt Theologie: Diskussion mit den beiden Referenten. Film: "Gottes Volk auf dem Weg", Einführung: Prof. Dr. L. BofF. Eucharistiefeier mit Kardinal Arns und Bischof Lettmann im Dom. Vortrag von Prof. Dr. E. Dussel, Mexiko und Dr. A. Wagua, Panama: "Ethische Fragen im Rahmen eines kulturell polyzentrischen Weltchristentums" . 5. Sitzung der Werkstatt Theologie: Diskussion mit den beiden Referenten. Vortrag von Kardinal P.E. Arns, Säo Paulo: "Kirche und Menschenrechte in Lateinamerika" . Podiumsdiskussion zum Thema "Kirche und Menschenrechte" mit Kardinal P.E. Arns, Säo Pauloj Prof. Dr. Jürgen Moltmann, Tübingenj Prof. Dr. E. Schillebeeckx, Nijmegenj Pastor M. Siegle, Porto Alegrej Prof. Dr. J. Teran-Dutari, Quitoj Prof. Dr. J.B. Metz, Münster (Gesprächsleitung). 3 6. Sitzung der Werkstatt Theologie: Werkstattgespräch mit Kardinal Arns und Abschlußgespräch mit den Referenten. Ende der Werkstatt. 3Drei zusätzlich vorgesehene Diskussionsteilnehmer mußten kurzfristig absagen.

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Inhaltliche Kurzbeschreibung der thematischen Schwerpunkte

Erster thematischer Schwerpunkt: Europäische Freiheitstraditionen und lateinamerikanisches Befreiungsdenken

Ausgangspunkt dieser Thematik ist zunächst eine terminologische Beobachtung: Während in Europa für die politische Aufklärung und die mit ihr verbundenen emanzipatorischen Positionen das Programmwort der Freiheit zentral war und ist, konzentrieren sich heute lateinamerikanische Bewegungen und die ihnen verbundenen Theorien vielfach auf das Stichwort Befreiung. Drücken sich in dieser semantischen Differenz unterschiedliche historische, soziale und kulturelle Prozesse beziehungsweise unterschiedliche politische und theologische Positionen aus? In welcher (abkünftigen?) Beziehung stehen sie zueinander? Wer sind ihre (primären) Träger?

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Zweiter thematischer Schwerpunkt: Theorie und Erfahrung im Konzept der Befreiungstheologie

Die Theologie der Befreiung beruft sich nicht primär auf neue theologische Erkenntnisse, sondern auf eine neue Weise, theologische Erkenntnis zu gewinnen. Neben die Auseinandersetzung mit anderen theologischen Entwürfen sowie der theologischen Tradition und neben die Beschäftigung mit den Sozialwissenschaften tritt ein theologisches Ernstnehmen christlicher Erfahrungen - sowohl im politischen als auch im spirituellen Bereich. Mit dieser wissenschaftstheoretischen Grundoption stellen sich aber auch eine Vielzahl methodologischer und inhaltlicher Probleme: Wie sieht eine theologische Verhältnisbestimmung von Theorie und Erfahrung aus, in der nicht das eine Element das andere dominiert? Können erzählende Logik der Alltagssprache und Begriffslogik des wissenschaftlichen Diskurses überhaupt sinnvoll zusammengebracht werden? Welche Form wählt eine Theologie, die die Armen selbst theologisch zu Wort kommen lassen will? Wie verhalten sich "Spiritualität der Befreiung" und Theologie als "Glaubenswissenschaft" zueinander?

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Dritter thematischer Schwerpunkt: Stellung/Rolle der Religion in lateinamerikanischen und europäischen Gesellschaften

Aus der Vielfalt der zu bearbeitenden Probleme seien einige besonders wichtige genannt: In den lateinamerikanischen Gesellschaften spielt die Volksreligion durchweg noch eine entscheidende Rolle und kann als eine eigenständige (selbstverständlich nicht unabhängige) Größe gegenüber der kirchlich verkündeten Form der Religion abgehoben werden. Wurde sie in der Vergangenheit oftmals lediglich als eine defizitäre Form der Religion verstanden, so sind neuere Forschungen zu Ergebnissen gekommen, die der Volksreligion eine maßgebliche Funktion für die Identität insbesondere der gesellschaftlich marginalisierten Menschen zuordnen. Für eine Theologie, welche die Volksreligion in diesem Sinne ernstnehmen und zugleich mit der kirchlichen Tradition vermitteln möchte, stellen sich fundamentale Herausforderungen. Gleichsam von der anderen Seite her ist die lateinamerikanische Kirche mit "Modernisierungsprozessen"konfrontiert, die sich im Zuge der versuchten Angleichung an die Entwicklungen der "Ersten Welt" einstellen und auf eine eher indirekte Weise die Realität einer zum Allgemeinbewußtsein gehörenden Religion unterlaufen. Von europäischer (beziehungsweise deutscher) Seite stellt sich die Frage nach der Rolle der Religion in der Gesellschaft vor allem angesichts der sogenannten neuzeitlichen Säkularisierungsprozesse, das heißt dem Absinken der Religion aus dem durchschnittlichen Selbstverständnis der Menschen. Die Frage, wie sich diese Prozesse in der "späten Moderne" darstellen, wie die Theologie angemessen auf diese Herausforderung reagieren kann, welche Rolle angesichts dieser Prozesse Phänomene wie "Volksreligion" und "Volkskirche" in der hiesigen gesellschaftlichen Situation spielen, wie die Kirche bisher versucht, mit dieser Situation fertigzuwerden und wie eine aus einer gesellschaftstheoretischen Forschung gewonnene begriffliche Erfassung des Phänomens aussehen kann, sind Fragen, die vermutlich im Zentrum des europäischen Beitrages stehen.

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Vierter thematischer Schwerpunkt: Prozesse der Gemeindebildung in ihrer theologischen Relevanz

Seit "Gemeinde" nicht mehr nur ein Ausdruck für die (vorgegebene) Pfarrei ist, sondern auch als Kennzeichnung eines Prozesses verstanden wird, in dem die Glaubenden sich bewußt und praktisch sicht bar zur Kirche am jeweiligen Ort zusammenschließen, ist diese Entwicklung auch für die Theorie emi-

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nent wichtig geworden. Insbesondere in Lateinamerika ist unter dem Stichwort der "Basisgemeinden" eine Entwicklung in Gang gekommen, die von weltkirchlicher Bedeutung zu sein scheint und in vieler Hinsicht das Vorbild für gemeindliche Aufbrüche in Mitteleuropa darstellt. Ein Vergleich der Gemeindebildungsprozesse in Lateinamerika und Mitteleuropa dient aber nicht allein gegenseitiger Inspiration, sondern ebenso der Herausarbeitung von Differenzen und der Untersuchung der Gründe rür diese Differenzen. Dabei können die gemeindlichen Prozesse in Relation zu den jeweiligen gesellschaftlichen und (regional-) kirchlichen Entwicklungen interpretiert und so für eine begriffliche Durchdringung aufgearbeitet werden, die wiederum diesen Prozessen eine Hilfestellung liefern kann. So gälte es zum Beispiel für den Bereich der Theologie zu überprüfen, inwieweit das Selbstverständnis der lateinamerikanischen Befreiungstheologie als Theorie der Praxis der Basisgemeinden innovatorisch für das Theorie-Praxis-Verständnis der mitteleuropäischen Theologie sein kann. Oder es wäre der Frage nachzugehen, inwiefern unter dem Stichwort "Basisgemeinden" oftmals ein Konzept zur Erneuerung der mitteleuropäischen Kirche eingeführt werden soll, das sich selbst aber als "Sozialform" eines bestimmten inhaltlichen Projekts versteht und von diesem Projekt nicht abgetrennt werden darf.

5 Fünfter thematischer Schwerpunkt: Ethnische Fragen im Rahmen eines kulturell polyzentrischen Weltchristentums In den letzten Jahren läßt sich nicht nur eine zunehmende Realisierung der Tatsache einer weltweiten Präsenz des Christentums durch Versuche einer echten Verwurzelung in anderen Kulturen, durch entsprechende Bischofsernennung und so weiter erkennen, sondern es ist auch auf der theologischtheoretischen Ebene ein Bewußtsein dafür entstanden, daß mit diesen Prozessen Herausforderungen verbunden sind, die bis an die Substanz des Christentums beziehungsweise der Theologie reichen: Wenn Religion sich selbst ausschließlich in einer bestimmten Kultur begreifen kann, es also keine kulturunabhängige "Religion als solche" gibt, dann stellt sich die Frage, wie die Identität einer Religion in verschiedenen Kulturen bestimmt werden kann. Und weiter: Welche Bedeutung kommt den ethnischen Differenzen innerhalb der gleichen Gesellschaften zu (also etwa der kulturellen Eigenheit der Indios in den meisten lateinamerikanischen Gesellschaften)? Gibt es neben einer kirchlichen "Option für die Armen" auch eine" Option für die Anderen", und wie wäre sie zu begründen? Für die Diskussion wäre zu berücksichtigen, was diese Reflexionen, die in Lateinamerika eine anschauliche Dimension besitzen, rür die Situation in Mitteleuropa bedeuten, insbesondere' angesichts der

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vom Rassismus schwer belasteten deutschen Geschichte? Welche Rolle spielt "Kultur" in unserer Gesellschaft, und wie ist sie mit Religion vermittelt? Wie verhalten sich Religion und Politik zu den ethnischen Diversifizierungsprozessen der bundesdeutschen Nachkriegsgesellschaft?

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Sechster thematischer Schwerpunkt: Kirche und Menschenrechte in Lateinamerika

Diese Thematik ist angestoßen durch die Erfahrungen der lateinamerikanischen Kirche, die es zunehmend als ihre Aufgabe ansieht, zu einer Institution zum Schutz der Menschenrechte in Situationen permanenter Verletzung dieser Rechte zu werden. Die Auseinandersetzung mit den durch diese Situation hervorgebrachten Problemen steht vor einer Fülle von Fragen, von denen einige genannt seien: Was gehört zum "Kanon" der Menschenrechte, und wie steht es um die Definition der sogenannten sozialen Menschenrechte? Gibt es eine normative Begründung der Menschenrechte und wenn ja, wie kann sie erstellt werden, beziehungsweise welche Prämissen fließen in sie ein? Gibt es ein einheitliches Menschenbild "hinter" den Menschenrechten? Wie kommt gerade die Kirche, die in Europa der Entwicklung der Menschenrechte eher skeptisch gegenüberstand, dazu, sich in Lateinamerika als Hort und Verteidigerin der Menschenrechte zu verstehen? Inwiefern ist der Einsatz für die Menschenrechte notwendig mit bestimmten politischen Optionen für die rechtliche Verfassung der Gesamtgesellschaft verbunden (Verhältnis von Toleranz und Recht; Zusammenhang mit der Frage der Gewaltenteilung)? Welche politische Bedeutung kommt der Diskussion um die Menschenrechte in der Öffentlichkeit der verschiedenen lateinamerikanischen Länder zu? Dem Titel des Münsteraner Gesamtkongresses ("Lateinamerika und Europa im Dialog") entspricht Anlage und Verlauf der theologischen Werkstatt. Tatsächlich sollten lateinamerikanische Positionen im Vordergrund der Aufmerksamkeit und des Dialogs stehen. Daß dabei vor allem lateinamerikanische Theologen zu Wort kamen, die sich in der einen oder anderen Weise einem befreiungstheologischen Ansatz zugehörig oder nahe wissen, hängt nicht zuletzt daran, daß eben diese Theologie in einer bislang ungekannten Eindringlichkeit und Konsequenz die sozialen und die kulturell-ethnischen Probleme des lateinamerikanischen Christentums ebenso wie die nachkonziliaren Entwicklungen in der lateinamerikanischen Kirche bespricht und daraus auch kritische Fragen und Rückfragen an Europa und die europäischen Kirchen ableitet. Schließlich war die Gestaltung der Werkstatt auch von der Auffassung bestimmt, daß das Christentum gegenwärtig in eine neue Phase seiner Geschichte tritt: Das Christentum, das nach einer kurzen Gründungsepoche im Judenchristentum über nahezu 2000 Jahre hauptsächlich einem rela-

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tiv einheitlichen Kulturraum verpflichtet war, nämlich dem abendländischeuropäischen, weitet sich heute zu einem ethnisch-kulturell vielfach verwurzelten Weltchristentum; es ist in diesem Sinn auf dem Weg von einem kulturell monozentrischen Christentum Europas (und Nordamerikas) zu einem kulturell polyzentrischen Weltchristentum. 4 Auch im Blick auf diesen globalen Prozeß sollte der lateinamerikanisch-europäische Dialog in dieser Werkstatt geführt werden. Dagegen mag man einwenden, daß gerade die Beziehung "Lateinamerika - Europa" wenig geeignet sei, um das ganze Ausmaß eines kulturell polyzentrischen Weltchristentums zu erfassen. Sind denn nicht, so ließe sich fragen, gerade die le.teinamerikanischen Länder, ihre Kulturen und ihre Zivilisation im Übermaß von Europa überprojiziert? Spiegelt also ein solcher Dialog am Ende wirklich etwas anderes als eine typisch europäische Auseinandersetzung? Diese Frage will bedacht sein, und sie fand auch Aufmerksamkeit in den Werkstattgesprächen. Gleichwohl lieferten die lateinamerikanischen Vorträge und Diskussionsbeiträge genügend Beispiele dafür, daß uns aus Lateinamerika nicht nur ein projiziertes Europa anblickt, auch nicht einfach ein zweites Südeuropa (selbst wenn das für die einzelnen lateinamerikanischen Länder wiederum auf höchst unterschiedliche Weise zutrifft). Unter dieser Voraussetzung kann dann gerade der lateinamerikanisch-europäische Dialog für die Entfaltung und Stabilisierung eines kulturell polyzentrischen Christentums besonders dringlich und auch besonders verheißungsvoll sein: Dringlich, weil dieser Dialog verhindert, daß die Rede vom kulturell polyzentrischen Christentum schließlich zum subtilsten Abwehrrefiex wird, mit dem sich die europäischen Christen jene Schuldgeschicht.e vom Leib halten, die sie mit den lateinamerikanischen Ländern seit Jahrhundertf>n verbindet; verheißungsvoll, weil ein produktiver Austausch und eine gegenseitige Inspiration - Kennzeichen eines authentischen Polyzentrismus - am ehesten zwischen Kulturwelten möglich erscheint, die sich nicht völlig fremd und beziehungslos gegenüberstehen. So durchzog in diesem Münsteraner Dialogexperiment die produktive Spannung zwischen dem Befreiungsgedanken und der kulturell polyzentrischen Verwurzelung des Christentums alle Werkstattgespräche. Oder anders ausgedrückt: Die theologische Rede von Befreiung wurde in dieser Diskussion immer wieder auf die komplexe Spannung zwischen ihrer politischen und ihrer ethnisch-kulturellen Dimension hin vertieft. Daß im vorliegenden Band die lateinamerikanischen Stimmen überwiegen, hängt auch daran, daß die Werkstattgespräche nicht protokolliert werden konnten und daß deshalb die europäischen Diskussionsbeiträge nur in stichwortartiger Auswahl erinnert werden können. Diese Gespräche, an denen ständig 80 bis 100 Personen teilnahmen, nutzten durchaus die Chance der interkulturellen, der interdisziplinären und der interkonfessionellen Zusammensetzung der Werkstatt und suchten darüber hinaus der Tatsache Rechnung zu tragen, daß neben den ·Vgl. dazu: J.B. Metz, Im Aufbruch zu einer kulturell polyzentrischen Weltkirche, in: F.-X. Kaufmann/J.B. Metz, Zukunftsfähigkeit. Suchbewegungen im Christentum, Freiburg 1987. .

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Fachwissenschaftlern auch Vertreter aus den einschlägigen kirchlichen Institutionen zugegen waren. Für die Gesprächsleitung hatten sich neben mir dankenswerterweise die Professoren H. Rolfes (Kassel), H. Stobbe (Münster) und E. Zenger (Münster) zur Verfügung gestellt. Bei viel Einfühlungs- und Zustimmungsbereitschaft gegenüber den vorgetragenen Positionen gab es durchaus auch kritisch gegenfragende, rückfragende oder weiterführende Dialogbeiträge. Aus ihnen möchte ich, gerafft und ohne Ehrgeiz auf Vollständigkeit, die nachfolgenden Diskussionspunkte erwähnen: • Die radikale Herausforderung des Christentums durch die zerstörerische Armut und das menschenunwürdige Elend in den lateinamerikanischen Ländern wurde in der Diskussion entweder vorausgesetzt oder bekräftigt. "Das Reich Gottes ist nicht indifferent gegenüber den Welthandelspreisen": Unter Berufung auf diesen Satz aus dem Synodendokument "Unsere Hoffnung" (1975) wurde auch von den europäischen Gesprächsteilnehmern jeder taktische Provinzialismus abgewiesen, der den europäischen Christen diese Herausforderung durch das ferne Elend ersparen möchte. Das Wort von der "Befreiung" ist als Artikulation dieser Herausforderung zu hören. Dabei gibt es den komplexen, nicht einseitig auflösbaren Zusammenhang zwischen dem politischen und dem ethnisch-kulturellen Gehalt dieser Befreiung festzuhalten. In der Diskussion um die Träger dieser Befreiung,5 um die Tragweite der Option für die Armen, um die Menschenrechte und so weiter wurde die politische Perspektive dieses Befreiungsansatzes verdeutlicht. Dabei ist kritisch zu beachten, daß das christliche Befreiungsverständnis, das den Begriff einer schuldfähigen und umkehrbedürftigen Freiheit einschließt, weder widerspruchslos mit dem Autonomiegedanken der neuzeitlichen Freiheitsgeschichte versöhnt noch einer strikt historisch-materialistischen Interpretation von Befreiung untergeordnet werden kann. Warum zum Beispiel hat sich der (ohnehin typisch eurozentrische ) Marxismus, wo er politisch an die Macht kam, bisher immer als Leninismus konkretisiert, der mit der Preisgabe der Unterscheidung von Staat und Gesellschaft, von öffentlich und privat (durch die er den kapitalistischen Besitzindividualismus überwinden will), zugleich die subjekthafte Würde des einzelnen in Frage stellt, jene subjekthafte Würde des einzelnen, die - freilich immer als intersubjektiv konstituierte - für das christliche Befreiungsverständnis unverzichtbar ist? Wenn und insofern dieser Zusammenhang nicht zufällig ist, sondern im marxistischen Ansatz wurzelt, kann auch die marxistische Geschichts- und Gesellschaftsanalyse nicht unverändert sHier wurde zum Beispiel auf die unterschiedliche politische Semantik beim Gebrauch der ethnischen Kategorie "Volk" in der lateinamerikanischen Theologie und im deutschen Sprachraum hingewiesen. Bei uns kann "Volk" aus historischen Gründen (Drittes Reich!), aber auch aus geseUschaftlichen Gründen (im Blick auf die wachsende Mobilität der Bevölkerung, die gesteigerte Traditions- und Beziehungslosigkeit usw.) immer weniger als Muster koUektiver Identität verstanden werden.

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und ohne Rücksicht auf ihre anthropologischen Implikate einem christlichen Befreiungsverständins vorangestellt oder unterlegt werden. • Diskutiert wurde in diesem Zusammenhang auch die Frage, ob bei der Rede von der Befreiung jene Gefahr deutlich im Blick ist, die inzwischen den lateinamerikanischen Ländern wie überhaupt allen Dritte-WeltLändern durch eine "sekundäre Kolonisation" droht: Durch die Invasion der westliche Kulturindustrie und ihrer Massenmedien, nicht zuletzt des Fernsehens, das die Menschen immer mehr in einer künstlichen, in einer simulierten Welt gefangenhält und sie von ihren ursprünglichen Bildern, ihrer ursprünglichen Sprache und ihrer eigenen Geschichte immer mehr entfremdet. Wirkt dieser sanfte Terror der Kulturindustrie in den armen Ländern nicht noch weit getährlicher als etwa in Europa? Droht er nicht jeden Befreiungsprozeß zu paralysieren? Schließlich ist das Opium der Armen längst nicht mehr die Religion, es ist weit eher die - selbst in den ärmsten favelas eindringende - Massenmedienkultur, die diese Armen und Ausgebeuteten subjekt müde macht, ehe sie zu Subjekten ihrer Befreiung geworden sind: Sie raubt ihnen das eigene Gedächtnis, kaum daß sie sich ihrer eigenen Leidensgeschichte bewußt geworden sind; sie bedroht ihre Sprache, ehe sie sich selbst endlich zur Sprache gebracht und kulturell alphabetisiert haben und so weiter. Im Widerstand gegen diese neue Unmündigkeit zeigt sich eine entscheidende Front der Befreiungsarbeit, nicht nur in Lateinamerika, auch hierzulande. • Ausführliche Diskussionen gab es zum Problemkreis der "Inkulturation" , also zu den Fragen der Einwurzelung des Christentums in nicht europäische Kulturen. Diese Diskussion kreiste vor allem um die doppelgesichtige Gefahr, die sich beim Aufgang in ein kulturell vielfach verwurzeltes Weltchristentum zeigt: Einerseits lauert dabei immer die Gefahr ethnozentrischer Kurzschlüssigkeiten, die Gefahr, die sich aus den ethnischen Defiziten beziehungsweise Blindheiten einer traditionellen christlichen Anthropologie ergibt, die Gefahr einer zweiten späten Machtergreifung Europas im Weltchristentum, unterstützt durch jene profane Europäisierung der Welt, die wir Wissenschaft, Technik und technologische Zivilisation mit ihren unverkennbaren Anpassungszwängen nennen. Andererseits droht die Gefahr einer Fiktion: Der Fiktion eines geschichts- und kulturenthobenen Christentums. der Fiktion eines nackten Christentums, das sich erst im Nachhinein die unterschiedlichen Kulturgewänder umlegt. Doch die Identität des Christentums ist nicht die einer platonischen Idee; deshalb auch kann das Christentum seine abendländisch-europäische Geschichte nicht einfach abstreifen. Wie aber ist dann die Inkulturationstähigkeit des Christentums überhaupt zu verstehen? Unter welchen Prämissen seiner bisherigen Geschichte kann es sich im Weltmaßstab interkulturell einwurzeln? Inwiefern gehört zu seinem Selbstverständnis eine Hermeneutik der Anerkennung der Anderen in ihrem (ethnisch-kulturellen) Anderssein? In-

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wiefern gehört zu diesem Selbstverständnis das paulinische Pathos für die Nicht-Beschnittenen? Inwieweit ist die "Option für die Armen" zugleich eine "Option für die Anderen in ihrem Anderssein"? Inwieweit müssen sich beide Optionen ergänzen? Der Dialog wurde gerade durch die lateinamerikanischen Vorträge für diese Fragen sensibilisiert. • Im Blick auf die unterschiedlichen gesellschaftlichen und kulturellen Voraussetzungen und Ausgangslagen wurde auch die (pastoral-) theologische Frage nach der "gemeindlichen Erneuerung" ausführlich diskutiert. Die basisgemeindlichen Ansätze in der lateinamerikanischen Kirche wurden durchweg nicht als pastorale Verlegenheitslösung, sondern als verheißungsvoller Ausdruck eines neuen Lebensmodells der Kirche verstanden. Niemand plädierte zwar für eine direkte, kontextfreie, gewissermaßen "ideologische" Übertragung dieses Gemeindebilds auf die Gesamtkirche. Die Entgegensetzung einer nach dem Parochialprinzip organisierten Gemeinde (bei uns) und einem basisgemeindlichen Ansatz blieb indes umstritten. Zwar sind die Schwierigkeiten einer produktiven Verquickung von Gemeindebildung und Gesellschaftsbildung - als Kriterium für ein basisgemeindliches Konzept - bei uns unübersehbar. Doch immerhin haben die Prozesse der Säkularisierung und Modernisierung in Europa nicht nur kirchliche und gemeindliche Identitätskrisen hervorgerufen, sie konfrontieren auch die profane Gesellschaft mit neuen Krisen sozialer Identitätsbildung (wachsende Beziehungslosigkeit, Anonymität, Traditionsverlust, Kommunikationsverlust durch Informationssteigerung, neue" Vermassung" durch die verkabelten Wohnräume und die medienelektronisch vernetzten Arbeitsplätze und so weiter). Unter Berücksichtigung der hierzulande historisch und gesellschaftlich gewachsenen Gemeindeverfassungen und der unverzichtbaren theologischen Gemeindekriterien (Gemeinde als um die Eucharistie versammelte Nachfolgegemeinschaft ) sah man auch bei uns unterschiedliche Ansätze für eine gemeindliche Erneuerung "an der Basis": Entweder aus· den (ohnehin in Übergangsproblemem verstrickten) Pfarrgemeinden heraus oder auch in anderen gemeindlichen Ansätzen mit einer neuen sozialen und gesellschaftskritischen Sensibilität, die gleichwohl nicht nur die Kopie gesellschaftlicher Alternativbewegungen darstellen. • Immer wieder kam schließlich in der Diskussion zum Ausdruck, welch entscheidende Bedeutung gerade das jüngste vatikanische Konzil für die lebendige Entfaltung der Eigenständigkeit der einzelnen Teilkirehen hat, die in unterschiedlichen kulturellen und sozialen Ausgangslagen verwurzelt sind und wie sehr dies gerade auch für den Aufbruch in lateinamerikanischen Kirchen gilt. Als entscheidender Prüfstein für eine erneuerte Gesamtsicht des kirchlichen und christlichen Lebens wurde dabei immer wieder auf das bevor-

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stehende "Gedenkjahr 1492 - 1992" verwiesen: Alles kommt darauf an, daß dieses Gedenken der "Entdeckung Amerikas" vor 500 Jahren nicht mit den Kategorien einer unbelehrbaren, unbußfertigen Siegermentalität gefeiert wird, in der die Leidensgeschichte der lateinamerikanischen Völker ausgeblendet oder verharmlost ist. Während bei der Abschlußsitzung des Gesamtkongresses der Vorschlag gemacht wurde, einen möglichen Anschlußkongeß der Universität nicht mehr disziplinenorientiert, sondern themenzentriert zu organisieren (bei interdisziplinärer Zusammensetzung aus Lateinamerika und Europa), wurden bei der Abschlußsitzung der Werkstatt Theologie verschiedene Modelle einer Fortsetzung des hier begonnenen Dialogs vorgeschlagen: Zunächst eine innereuropäische beziehungsweise auf die deutsche Theologie begrenzte weitere Aufarbeitung der in der Werkstatt vorgetragenen Problemkreise - eine intensivere theologische Besprechung der konkreten Erfahrungen kirchlicher Institutionen (Adveniat, Brot für die Welt, Misereor u.a.) bei ihrer Tätigkeit für diese lateinamerikanischen Länder - eine strikt auf ein gemeinsames Thema begrenzte Fortsetzung des hier in repräsentativer Breite begonnenen Dialogs - eine Einbeziehung anderer interkultureller Begegnungs- und Dialogerfahrungen (mit asiatischen, mit afrikanischen Kirchen) in den Lateinamerika-Europa-Dialog. Universitätsprofessor Dr. Dr. Johann Baptist Metz, Dr. Peter Rottländer

Werkstatt: Verfassung und politische Herrschaftsstrukturen in vergleichender Perspektive Koordinatoren: Prof. Dr. Dr. Werner Krawietz, Lehrstuhl für Rechtssoziologie, Rechts- und Sozialphilosophie, Prof. Dr. Ernesto Garzon Valdes, Universität Mainz Eröffnung und Begrüßung durch den Dekan der Rechtswissenschaftlichen Fakultät, Herrn Prof. Dr. Eberhard Struensee Einleitung: Prof. Dr. Dr. Werner Krawietz 1. Sitzung Chairman: Prof. Dr. Stanley L. Paulson, St. Louis Prof. Dr. Aulis Aarnio, Helsinki: The Role of Parliament in a Corporatist State - A Scenario Prof. Dr. Jose Llompart, Tokyo: Proklamation der Volkssouveränität in den modernen Verfassungen - juristische Fiktion oder Wirklichkeit? Prof. Dr. Enrique Zuelta Puceiro, Buenos Aires: TI-ansition to Democracy and Constitutional Reform in Argentina 2. Sitzung Chairman: Prof. Dr. Ernesto Garzon Valdes, Mainz Prof. Dr. Agustin Squella, Valparaiso: Democracy and Equality in Latin America Prof. Dr. Dr. Robert Weimar, Siegen: Politische Dimensionen des modemen Rechtsbegriffs 3. Sitzung Chairman: Prof. Dr. Francisco J. Laporta, Madrid Prof. Dr. Tercio Sampaio Ferraz Jr., Säo Paulo: Democracy, Constitutional Government and Modemization Prof. Dr. Carlos Santiago Nino, Buenos Aires: Constitutional Reform in Argentina Prof. Dr. Norbert Hoerster, Mainz: Überlegungen zum Rechtsbegriff 4. Sitzung Chairman: Prof. Dr. Roberto J. Vernengo, Buenos Aires Prof. Dr. Fernando Galindo Ayuda, Zaragoza: Stabilisierung der Verfassung durch Rechtstheorie? Zur Selbstreproduktion des Verfassungssystems

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Prof. Dr. Raffaele De Giorgi, Lecce: Technische Anforderungen an die Entwicklung subjektiver Rechte im post-industriellen Zeitalter 5. Sitzung Chairman: Prof. Dr. Dr. Werner Krawietz, Münster Prof. Dr. Dr. Ota Weinberger, Graz: Rechtssystem und Rechtsdynamik Prof. Dr. Ralf Dreier, Göttingen: Der Vorrang der Verfassung im demokratischen Verfassungsstaat Prof. Dr. Stanley L. Paulson, St. Louis: On Holding 0/ Unconstitv.tionality A Constitv.tional Doctrine in Austria and the United States 6. Sitzung Chairman: Prof. Dr. Dr. Ota Weinberger, Graz Prof. Dr. Valentin Petev, Münster: Subjektive Rechte im Kontext politischer Systeme Prof. Dr. Eugenio Bulygin, Buenos Aires: Der ontologische Status der Menschenrechte Prof. Dr. Robert Alexy, Kiel: Grundrechtsnorm und Grundrecht 7. Sitzung Chairman: Prof. Dr. Jose Llompart, Tokyo Prof. Dr. Martin Farrell, Buenos Aires: Recent Critiqv.es 0/ the DifJerence Principle Prof. Dr. Miguel Polaino Navarrete, Cordoba: La pv.nibilidad en los lmites constitv.cionales del Estado de Derecho

Werkstatt: Internationale Wirtschafts beziehungen bei hoher Auslandsverschuld ung1 Vom 30. September bis 2. Oktober 1987 haben Prof. Dr. M. Borchert und Dr. R. Schinke im Rahmen des Kongresses "Lateinamerika und Europa im Dialog" der Universität Münster einen Workshop über Internationale Verschuldung veranstaltet. Dabei ging es um folgende Probleme: Die gegenwärtige internationale Schuldenkrise hat eine ganze Reihe verschiedener Ursachen, die die Kreditaufnahme lateinamerikanischer Länder bei internationalen Banken erst zu einer Krise werden ließen, unter anderem ist dies die schwache Konjunktur der westlichen Industrieländer in den 70er Jahren bei gleichzeitiger hoher Liquidität der Banken. Bei der internationalen Kreditvergabe begingen sowohl die heute verschuldeten Länder Lateinamerikas als auch die internationalen Banken Fehler, die mit dem "Ölpreis-Schock (für die Ölförderländer) zu Beginn der 80er Jahre offenbar wurden. Bei der Diskussion um die internationale Verschuldung sollte zwischen privater und öffentlicher Kreditfinanzierung in den Schwellenländern Lateinamerikas unterschieden werden. Entscheidend ist, daß der private Sektor das "billige" Geld der internationalen Geschäftsbanken in die Länder Lateinamerikas importierte. Aufgrund der wirtschaftlichen Entwicklung - sowohl national als auch international - trat immer mehr die Absicherung der Kredite durch Garantien der Regierungen der Schuldnerländer in den Vordergrund. Die externe Verschuldung lastet nun hauptsächlich auf den Schultern des öffentlichen Sektors, der kaum externe Forderungen ganz im Gegensatz zum privaten Sektor hat. Diese Asymmetrie wird mit dem Wort Kapitalflucht umschrieben. Verantwortlich für diese Asymmetrie ist unter anderem auch der Aufbau der finanziellen Infrastruktur in den Schuldnerländern. Die finanzielle Intermediation ausländischer Banken, die in den Schuldnerländern residieren, wird durch das fehlende Vertrauen in die jeweilige Regierung unterstützt und führt gleichzeitig zu externer Verschuldung. Der internationale Kapitalverkehr sollte insbesondere daraufhin beobachtet werden, ob den öffentlichen Krediten entgegengesetzte Ströme privater Sparakkumulation (abwertend, aber sachlich ungerechtfertigt als "Kapitalflucht" bezeichnet) gegenüberstehen. Die öffentliche Kreditaufnahme wird 1 International

Indebtedne&8. Hrsg. v. Manfred Borchert und Rolf Schinke. Im Druck.

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durch eine Sparmittel-Ansammlung in den Verschuldungsländern kompensiert, so daß über eine Beurteilung der Schuldensituation des Landes allein das Schuldenvolumen problematisch ist. Man ist sich darüber einig, daß bisherige Pläne zur Behebung der Schuldenkrise keine eigentliche Lösung versprechen. Der Baker-Plan zum Beispiel ist allenfalls als Initiative zum Umdenken zu verstehen. Der Baker-Plan scheitert vor allem an seinen Widersprüchen. Zum einen werden Schuldnerländer zu marktwirtschaftlichem Handeln aufgefordert, Industrieländer aber keineswegs ebenso in die Pflicht genommen. Zum anderen werden bestimmte Länder vom Plan als hilfsbedürftig eingestuft, die aber ein sehr solides Schuldenmanagement durchgeführt haben und somit diskriminiert werden. Davon abgesehen ist der Baker-Plan weitgehend unterdimensioniert in seiner beabsichtigten Mittelzuführung. Gegenwärtige Vorschläge zur Streichung von Schulden könnten die Zahlungsmoral der Schuldnerländer beeinträchtigen und stellen deshalb ebenfalls keine Problemlösung dar. Eine mögliche Schuldenstreichung würde zwar direkt von den Banken getragen werden müssen, die können allerdings mögliche Bilanzverluste steuerlich absetzen, so daß auch die Steuerzahler indirekt eine solche Schuldenstreichung mittragen. Eine solche Vorgehensweise könnte zwar als eine Art Entwicklungshilfe gerechtfertigt werden, bedeutet aber zugleich, daß die eigentlich armen Entwicklungsländer (zum Beispiel in Afrika) und auch Entwicklungsländer mit solider Wirtschaftspolitik im Prinzip bestraft würden. Vor allem aber der mit einer globalen Schuldenstreichung einhergehende Verlust der Kreditwürdigkeit ist keinem Land zu wünschen. Insofern schlagen Banker weiterhin Schuldenabkommen als Lösung der Verschuldungskrise vor. Diese Schuldenabkommen sollen im Gegensatz zu den bisherigen sehr langfristig (bis zu 100 Jahre) sein und durch Festlegung niedriger Zinssätze beziehungsweise Einräumung von schuldendienstfreien Jahren den Schuldnern eine wirtschaftliche Erholung ermöglichen und die Schuldenbelastung auf ein wirtschaftlich tragbares Maß reduzieren. Mögliche - durch konjunkturelle Schwankungen verursachte - "Inflationszinsen" sollen keineswegs die Schuldnerländer tragen, sondern durch die Verursacher in den Industrieländern gegenüber den Banken beglichen werden. Als kurzfristige, die Zeit mangelnder konkreter Lösungsansätze überbrükkende Instrumente wurden insbesondere Bilanzstrukturierungsmaßnahmen der Banken diskutiert. Um bestehende "Alt"schulden der Schwellenländer politisch-pragmatisch zu managen, könnte man die gegenwärtigen Kreditverträge bei Banken auf Finanzmärkten verkaufen, was natürlich eine Realisierung von Verlusten bei den Banken bedeutet. Im Vordergrund steht hier der Austausch von Forderungen gegenüber Schuldnerländern zwischen den Banken. Dies gibi den Banken die Möglichkeit, sich auf bestimmte Schuldner weitgehend zu spezialisieren. Eine Bank tauscht Forderungen gegenüber Chile mit Forderungen einer anderen Bank

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gegenüber Brasilien, so daß diese Bank sich von ihrem Engagement in Chile befreit und sich verstärkt mit Brasilien beschäftigt. Auch eine Kapitalisierung der Zinszahlungen sowie eine verstärkte Verbriefung oder auch Substituierbarkeit (debt equity swaps) in inländische Währung könnte den Druck der gegenwärtigen Verschuldungskrise lindern. Dem Instrument der Debt Equity Swaps wurde nur eine geringe Bedeutung für die Schuldenbewältigung zugesprochen. Debt equity swaps werden, wenn ihre Funktionsweise vollkommen deutlich ist, kaum neue zusätzliche Investitionen hervorrufen und nicht den Kapitalrückfluß geflüchteten Kaptitals bewirken, da sie keineswegs die wirtschaftlichen Komponenten ändern. Neben kaum niedrigeren Transaktionskosten gegenüber orthodoxen Krediten fördern sie auch keinen marktwirtschaftlichen Ansatz, denn die ihre Attraktivität steigernden Gewinnaussichten können nur auf regulierten Märkten entstehen. So rufen sie falsche Investitionssignale in den Ländern hervor und behindern eine optimale Allokation. Schließlich wäre auch an eine stärkere Beteiligung bei der Konsolidierung (Fundierung) von internationalen Schulden in langfristigen Anlagen in Form von Sonderziehungsrechten des Internationalen Währungsfonds zu denken. Letzteres betont noch einmal die zentrale Rolle des IWF für die Banken, der bei allen Schuldenlösungsstrategien miteinbezogen werden sollte. In der Diskussion betonten die lateinamerikanischen Teilnehmer als wichtige Forderung für die Zukunft, das Wachstum der Industrieländer einhergehend mit einen Abbau protektionistischer Maßnahmen dieser Länder zu stärken. Der Vergleich der wirtschaftlichen Entwicklung Japans mit den geforderten wirtschaftspolitischen Maßnahmen für Lateinamerika zeigt, daß Japan keineswegs mit offenen Märkten seine heutige wirtschaftliche Bedeutung erlangt hat, sondern insbesondere mit einer Exportstrategie bei weitgehend abgeschotteten Binnenmärkten Erfolg hatte. Dieses Beispiel zeigt, wie schwer die Schuldnerländer von der exportorientierten Strategie des IWF zu überzeugen sind. Deswegen werden horne rnade-Anpassungsprogramme vom IWF gefordert. Die Seite der Banken fordert demgegenüber von den Schuldnerländern eine sinnvolle Investitionspolitik, die sich nicht in militärischen Ausgaben vollzieht und allein die kränkelnden Branchen in den Industrieländern unterstützt. Universitätsprofessor Dr. Manfred Borchert

Werkstatt: Kooperationsformen in Lateinamerika und Europa1 Das Programm der Werkstatt "Kooperationsformen in Lateinamerika. und Europa" umfaßte insgesamt neun wissenschaftliche Veranstaltungen: 1. "Moderne und traditionelle Formen der Kooperation"

Arbeitssitzung mit den Kurzvorträgen: (a) Kooperationsformen in städtischen Regionen (J. Diaz-Albertini, Lima, Peru). (b) Die Angestelltenfonds in Kolumbien (B. Ramirez, Bogota., Kolumbien). (c) Das deutsche Genossenschaftswesen als Vorbild für Lateinamerika.? (R. Eschenburg, Münster). (d) Die Freiwillige Kette (K. Rother, Münster). 2. "Produktivgenossenschaften" Arbeitssitzung mit den Kurzvorträgen: (a) Städtische Produktivgenossenschaften, Beschäftigung und Lebensqualität (D.B. Pinho, Säo Paulo, Brasilien). (b) Produktivgenossenschaften und informeller Sektor (C. Zapata, Münster). (c) Systemüberwindung oder Systemergänzung durch Genossenschaften? (R. Eschenburg, Münster). (d) Die Produktivgenossenschaften zwischen vernunftgeprägten Interessen und traditionalen Bindungen ihrer Mitglieder (H. Vogt, Br~­ men).

1 CooperativtU en America Latina. Experienciaß Y Per8pectivtU FUtuTtU. Milnster: Selbstverlag des Instituts für Genossenschaftswesen, Abteilung Lateinamerika.

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3. "Genossenschaften und Staat" Arbeitssitzung mit den Kurzvorträgen: (a) Genossenschaften und Staat in Lateinamerika (C. Torres y Torres Lara, Lima, Peru). (b) Genossenschaften als Träger öffentlicher Aufgaben in Lateinamerika (R. Carbonell, Posadas, Argentinien). (c) Genossenschaften als Träger öffentlicher Aufgaben in Europa (Th. J Noelle - D. Moeremans, Münster). (d) Genossenschaften und Staat in Brasilien, (R. Lauschner, Säo Leopoldo, Brasilien). 4. "Genossenschaftliche Kreditversorgung" Arbeitssitzung mit den Kurzvorträgen: (a) Genossenschaften vom Typ Raiffeisen aus aktueller Sicht (L. Ocampo, La Paz, Bolivien). (b) Genossenschaften und finanzielle Infrastruktur (A.O. Dresler, Münster). 5. "Selbsthilfe und ländliche Entwicklung in Lateinamerika" Öffentlicher Vortrag von C. Maldonado, Quito, Ekuador. 6. "Genossenschaften und Integrierte Ländliche Entwicklung" Nicht-öffentliche Podiumssitzung mit dem Einführungsreferat "Die Strategie der FAO zur Unterstützung ländlicher Genossenschaften" von O. Monteza, Rom. Die Podiumsteilnehmer waren: R. Carbonell, R. Lauschner, C. Maldonado, O. Monteza, B. Ramirez. 7. "Genossenschaften - Schule der Demokratie in Lateinamerika?" Öffentlicher Vortrag von D.W. Benecke, Bonn. 8. "Strategien zur Unterstützung ländlicher Genossenschaften in Lateinamerika" Nicht-öffentliches Podium mit dem Einführungsreferat "Genossenschaften als Bestandteil des Konzeptes der Integrierten Ländlichen Entwicklung" von B. Ramirez. Die Podiumsteilnehmer waren: J. Heins, Deutscher Genossenschafts- und Raiffeisen-Verband (DGRV)j J. Herzberg, Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit (GTZ)j A. Lücke, KonradAdenauer-Stiftung (KAS)j O. Monteza, Food and Agricultural Organization 0/ the United Nations (FAO)j R. Villegas, Akademie Klausenhof.

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9. "Funktionen von Genossenschaftsverbänden" Arbeitssitzung mit den Kurzvorträgen: (a) Genossenschaftliches Controlling (A. Heinzelmann, Münster). (b) Humankapitalbildung durch Genossenschaftsverbände (L.R. Westphal, Münster). Die Werkstatt tagte an allen Tagen der Kongreßwoche. Die ständige Beteiligung betrug bei den nicht öffentlichen Sitzungen durchschnittlich zwanzig Personen. Im Gegensatz zu den anderen Werkstätten des Kongresses war die Werkstatt sprache Spanisch mit Ausnahme der öffentlichen Veranstaltungen. Neben den genannten Teilnehmern aus Südamerika nahmen mit A. Hernandez, Honduras, und L. Rivera, Honduras, noch zwei Gäste des Deutschen Akademischen Austauschdienstes (DAAD) aus Zentralamerika an der Werkstatt teil. Insgesamt wurde eine breite Palette wichtiger Themen angesprochen. Die Aktualität dieser Themen wurde durch die lebhaften und zum Teil kontrovers geführten Diskussionen deutlich. Die Ergebnisse der Werkstatt "Kooperation" sind - kurz gefaßt - folgende: Sowohl in Lateinamerika als auch in Europa werden immer wieder Kooperationen in scheinbar ganz neuen und außergewöhnlichen Kooperationsformen begonnen; aber diese manchmal als angepaßt, autochthon oder auch alternativ bezeichneten Kooperationsformen stellen keine grundsätzlichen Neuerungen dar, sondern sie sind im Prinzip in beiden Kontinenten seit langem bekannt und vielfach ausprobiert. Allerdings ist das Wissen um ihre Struktur und ihr Funktionieren zumeist nicht hinreichend breit gestreut und zudem oft nur latent vorhanden. Auch in Lateinamerika setzt sich mehr und mehr die Erkenntnis durch, daß Produktivgenossenschaften allenfalls unter besonderen, sie stabilisierenden Bedingungen längerfristig mit Erfolg betrieben werden können; im Normalfall können sie die in sie gesetzten Erwartungen regelmäßig nicht erfüllen. Daher kann man auch bei vielen ihrer früheren Befürworter heute merkliche Vorsicht und Zurückhaltung erkennen. Allgemein unbestritten ist weiterhin, daß Kreditgenossenschaften eine sehr wichtige Rolle bei der Entwicklung städtischer sowie auch ländlicher Finanzmärkte in Lateinamerika spielen können und müssen. Allerdings wird hier die Diskussion über Existenz oder Fehlen von Wettbewerb im informellen Finanzmarkt sowie über mangelnde oder hinreichende Wettbewerbsfähigkeit insbesondere ländlicher Kreditgenossenschaften gegenüber informellen Finanzmittlern noch weiterzuführen sein. In beiden Kontinenten hat sich weitestgehend die Überzeugung durchgesetzt, daß der Einfluß des Staates auf die Genossenschaften so gering wie möglich zu halten sei. Während der Staat in Deutschland immer mehr darauf verzichtet hat, in den Genossenschaftssektor einzugreifen, kann man das von Lateinamerika - noch nicht - sagen. Aber auch hier dürfte die Einsicht auf dem Vormarsch sein, daß für Selbsthilfeorganisationen jener Staat der beste

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ist, der sich darauf beschränkt, ihnen für ihr Ent- und Bestehen günstige und - was ebenso wichtig ist - langfristig geltende Rahmenbedingungen zu setzen. Einigkeit herrscht auch über die große Bedeutung von Genossenschaften für die ländliche Entwicklung. Sowohl unter Wissenschaftlern als auch unter Vertretern von Organisationen der Entwicklungszusammenarbeit wird allerdings noch darüber gestritten, wo und wie ihre Errichtung und Stärkung mit den besten Erfolgsaussichten zu f6rdern sei. Hier wird also weiterhin ein Schwergewicht der zukünftigen wissenschaftlichen Analysen und Diskussionen liegen. Ein weiterer Schwerpunkt zukünftiger Diskussionen wird die Rolle der Genossenschaften bei einer sich selbst tragenden Entwicklung ländlicher Regionen sein, da hier den Genossenschaften als wirtschaftliche Selbsthilfeeinrichtungen eine besonders große Bedeutung zukommt. Erfolgreich betriebene Selbsthilfeeinrichtungen können wesentlich dazu beitragen, daß die ländliche Bevölkerung ihr aktives Interesse auf die Entwicklung ihres eigenen ländlichen Lebensraumes richtet und ihm damit ihre Leistungskraft und ihren Leistungswillen erhält. Wo das nicht gelingt, wird auch Hilfe von außen ohne Erfolg bleiben müssen, so daß die fortschreitende Landflucht mit all ihren fatalen Konsequenzen für die ländlichen und städtischen Räume nicht zu bremsen sein dürfte. Da Genossenschaften demokratische Organisationen sind, fungieren sie immer auch insoweit als eine Schule der Demokratie, als ihre Mitglieder ständig Demokratieverhalten einüben und dann ihre diesbezüglichen Erfahrungeli und Fähigkeiten auf andere Organisationen übertragen können. Das ist in Lateinamerika offensichtlich auch in starkem Maße der Fall gewesen. Allerdings gilt das natürlich auch für alle anderen demokratisch strukturierten Organisationen wie Vereine, Verbände und insbesondere Gewerkschaften. Die Zahl der Genossenschaften hat in den letzten zehn Jahren in Lateinamerika weiter stark zugenommen, so daß auch die positive demokratieeinübende Wirkung weiter gewachsen ist. Es kann daher erwartet werden, daß von den Genossenschaften Lateinamerikas weiterhin in nennenswertem Ausmaß Kräfte ausstrahlen, die die Demokratie f6rdern, stärken und bewahren. Zwar wird die Bedeutung von funktionierenden Genossenschaftsverbänden auch in Lateinamerika immer mehr erkannt und gesehen, aber die Realität wird dem noch nicht gerecht. Folglich wird sich die Aufmerksamkeit weiter darauf richten, das genossenschaftliche Verbandswesen auszubauen und zu festigen, damit die Verbände ihre Beratungs- und insbesondere Kontrollund Prüfungsaufgaben zum Wohle der Genossenschaften in Lateinamerika erfüllen können. Dabei kann Genossenschaftsverbänden im Rahmen von Projekten der Entwicklungszusammenarbeit als Selbsthilfe-Förderungsorganisationen besondere Bedeutung zukommen. In der auf dem Kongreß folgenden Woche bot die Werkstatt Kooperation dann noch ein praxisorientiertes informatives Exkursionsprogramm für die lateinamerikanischen Werkstatteilnehmer an. Am 7.10.1987 begann die Exkursion mit einem Besuch der Raiffeisen-Schule in Rösrath. Die nächste Station war am Nachmittag desselben Tages die Akademie Deutscher Genossenschaf-

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ten in Montabaur. Mit diesen beiden Besuchszielen konnte den Besuchern aus Lateinamerika ein für alle beeindruckender Überblick über Aufbau, Umfang und Funktionsweise des Ausbildungssektors im Deutschen Genossenschaftswesen gegeben werden. Dabei wurde den Teilnehmern handgreiflich vor Augen geführt, daß eine positive Entwicklung der Deutschen Genossenschaften in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ohne ein leistungsfähiges Aus- und Weiterbildungssystem nicht möglich war, ist und sein wird. Am Abend des 7.10. wurde noch die Gebietswinzergenossenschaft in Eltville besucht. Hier erhielten die Exkursionsteilnehmer Informationen über den genossenschaftlich organisierten Weinbausektor in der Bundesrepublik, eine Sparte, in die in den lateinamerikanischen Ländern bisher kaum Genossenschaften eingedrungen sind. Am folgenden Tag stand zunächst der Besuch einer typischen RaiffeisenKreditgenossenschaft mit angegliedertem Warengeschäft auf dem Programm. In der Raiffeisen-Volksbank eGo in Mainz-Weisenau konnten im Gespräch mit Mitgliedern von Vorstand und Aufsichtsrat wertvolle Informationen über die aktuelle Lage und die Probleme von "klassischen" RaiffeisenGenossenschaften gesammelt werden. Danach wurde ein in Lateinamerika noch völlig unbekannter Typ einer Genossenschaft angesteuert, nämlich die Reformhaus-Fachakademie der Neuform eG., Vereinigung Deutscher Reformhäuser in Oberursel. Hier waren sowohl die Funktion der Genossenschaft als Vermittlungsagent zwischen den einzelnen Reformhäusern einerseits und Produzenten andererseits als auch der Gegenstand der Vermittlungstätigkeit, die biologischen Produkte, von besonderem Interesse. Den Abschluß der Exkursion sowie auch der gesamten Werkstatt Kooperation bildete ein Besuch bei der Deutschen Genossenschaftsbank in Frankfurt. Neben der Bedeutung der DG-Bank als dem Spitzeninstitut im genossenschaftlichen Bankenverbund standen ebenso die Stellungnahmen der DGbanker zur internationalen Verschuldungskrise im Mittelpunkt der Gepräche. Im Anschluß an diesen Besuch wurden die lateinamerikanischen Teilnehmer vom Koordinator der Werkstatt, Prof. Dr. Rolf Eschenburg, in Frankfurt verabschiedet und die Werkstatt Kooperation damit geschlossen. Universitätsprofessor Dr. Rolf Eschenburg

Werkstatt: Politikwissenschaftl Die Werkstatt des Instituts für Politikwissenschaft, Münster, hatte sich zur Frage gestellt, wie sich die politischen und außenwirtschaftlichen Beziehungen zwischen Lateinamerika und Westeuropa entwickelt haben und wie sie sich entwickeln werden. Dies erfolgte sowohl im Dialog von Vertretern aus Europa und Lateinamerika als auch im Dialog zwischen Vertretern aus Politik, Wirtschaft und Wissenschaften. Diese doppelte Dialogform ermöglichte einen Austausch und eine Angleichung von Perspektiven aus diversen Lebensbereichen. Die Beziehungen zwischen beiden Kontinenten sind seit langem Gegenstand von Kontroversen diesseits und jenseits des Atlantiks. Alle lateinamerikanischen Staaten beklagen einmütig, daß Europa und die EG Lateinamerika vernachlässigen. Es gab und gibt dazu sicherlich auch einigen Anlaß. Man denke nur an den EG-Agrarprotektionismus und die präferentielle Ausrichtung der EG-Handels- und Entwicklungspolitik auf die AKP-Staaten, das heißt vor allem auf Afrika. In folgenden Bereichen sind vorrangig Defizienzen im Dialog zwischen Europa und Lateinamerika festzustellen: • Auf der politischen Ebene verfügt die EG über kein Gesamtkonzept gegenüber Lateinamerika. • Es gibt keine interkontinentalen institutionalisierten Dialogmechanismen wie zum Beispiel zwischen der EG und den ASEAN-Staaten. • Ökonomisch nehmen die Handelsbeziehungen zwischen beiden Kontinenten relativ gesehen eher ab. Die hier nur skizzenhaft umrissenen Problemlagen waren Anlaß dafür, die Frage nach der Annäherung oder Distanzzunahme zwischen beiden Kontinenten anhand folgender vier Themenkomplexe zu beantworten: 1. Anhand des FalklandjMalvinas-Krieges von 1982,

2. anhand der Verschuldungskrise, lRainer FreYi Jürgen Bellers (Hrsg.:) Lateinarnerika - Westeuropa. Annäherung oder Distanzierung. Politische, wirtschaftliche und verwaltungswissenschaftliche Analysen. Münster (Selbstverlag des Instituts für Politikwissenschaft) 1989.

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3. anhand der Verbands- und Unternehmensbeziehungen zwischen beiden Kontinenten und 4. anhand der Dreiecksbeziehungen Lateinamerika - EG - USA. Der Falkland/Malvinas-Konflikt und -krieg von 1982 war sicherlich das Ereignis, das die interkontinentalen Beziehungen für dieses Jahrzehnt am intensivsten geprägt hat. Auch wenn in den Beiträgen der hierzu eingeladenen argentinischen und britischen Botschaftsvertreter die Brisanz des Konfliktes nur noch sehr gedämpft zum Ausdruck kam und auch wenn der britische Vertreter, D. Lyscom, darauf hinwies, daß es seit der argentinischen Befreiung von der spanischen Kolonialherrschaft eine lange Tradition argentinisch-britischer Freundschaft gibt, so wirkte doch der Krieg im europäisch geprägten Buenos Aires wie ein Schock. Und das gerade deshalb, weil sich die dortigen Eliten lange Zeit auf Europa und Großbritannien hin orientiert hatten. Zwar lehnte der argentinische Referent, Generalkonsul E. Pellegrini, die militärische Eroberung der Inselgruppe seitens der damaligen argentinischen Junta ab, den argentinischen Rechtsanspruch auf die Territorien hielt er jedoch historisch und völkerrechtlich für gerechtfertigt. Dabei konnte er zudem auf die einmütige Haltung der lateinamerikanischen Staatenwelt verweisen. Lyscom stellte vor allem das Argument des Selbstbestimmungsrechts der dortigen Bevölkerung in den Vordergrund. Dem Argument, die Inseln lägen nun einmal geographisch näher bei Argentinien als bei Großbritannien, entgegnete er, dann müßten auch die britischen Kanalinseln zu Frankreich gehören. Dr. Bodemer von der Universität Mainz stellte die EG-Haltung während des Krieges aus wissenschaftlicher Sicht dar. Die EG unterstützte zwar die britische Position im Krieg und verhängte ja auch gegenüber Argentinien ein Embargo. Realiter war die Haltung jedoch eher zurückhaltend und ambivalent, vor allem, nachdem seitens Großbritanniens das argentinische Kriegsschiff Belgrano versenkt worden war - ein für die Europäer unverständlicher Akt, da er den Verhandlungen zwischen den Konfiiktparteien unter Vermittlung von US-Außenminister Haig, wie sie parallel zum anlaufenden Krieg und "Truppenmarsch" weitergeführt worden waren, sicherlich nicht förderlich war. Daß die EG-Mitgliedsstaaten die britische Position während des Konfliktes überhaupt unterstützten, führte Bodemer unter anderem darauf zurück, daß sich die EG-Staaten dadurch eine britische Konzessionsbereitschaft in EGFinanz- und Agrarfragen erhofften. Prof. Wittkämper vom Institut für Politikwissenschaft der Universität Münster zeigte schließlich die prinzipiellen Möglichkeiten internationaler Konfliktbeilegung auf. Unter anderem an diesem Aspekt entzündete sich die anschließende Diskussion. Das Völkerrecht mit seinem durchaus flexiblen und anpassungsfähigen Opportunitäts- und Fffektivitätsprinzip biete durchaus Streitbeilegungsmethoden und phantasievolle Kompromißformeln (von der multinationalen Verwaltung über das Zwei-Flaggen-Modell bis zur Kongkong-Lösung für die Inseln).

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Solange jedoch auf beiden Seiten die Interessen noch unterschiedlich wahrgenommen werden würden, gebe es kaum Annäherungsmöglichkeiten: Beide Parteien vermuten im Konfliktgebiet Rohstoffreserven, die sie tur sich beanspruchen. Großbritannien sieht die Region auch unter militärstrategischem Aspekt, zumal angesichts der krisenhaften Entwicklungen im südlichen Afrika. Dazu kommen in beiden Staaten Versuche, den Konflikt innen- und wahl politisch zu instrumentalisieren. Die interkontinentale Entfremdung wurde - neben dem FalklandjMalvinas-Konflikt - verschärft durch die Verschuldenskrise der Länder der Dritten Welt, vor allem der Schwellenländer Lateinamerikas und hier allen voran Mexiko und Brasilien. Allerdings gibt es hier Hoffnungsschimmer, vor allem hinsichtlich der europäisch-lateinamerikanischen Beziehungen, da das europäische Privatbankensystem weniger in die Krise involviert ist als zum Beispiel das amerikanische und daher flexibler im Sinne eines teilweisen Schuldenerlasses reagieren kann. Eine solche Flexibilität kam auch in den Referaten der Bankenvertreter, M. Hellendahls von der Westdeutschen Landesbank und Dr. J. Westphalens von der Deutsch-Südamerikanischen Bank, zum Ausdruck. Sie machten jedoch zugleich auch deutlich, daß im Interesse der Stabilität der Banken und des Bankensystems zumindest die Fiktion einer Rückzahlbarkeit der Schulden - wie reduziert auch immer - aufrechterhalten werden müsse, um nicht das Vertrauen zu getährden und schwerwiegende Kapitalfluchtprozesse auszulösen. Die bestehende Kapitalflucht aus den Entwicklungsländern, die ja mit zur Verschuldungskrise beiträgt, zu kontrollieren oder gar zu unterbinden, hielten die Bankenvertreter für nahezu unmöglich, da sie zumeist versteckt und über überteuerte Rechnungen erfolge. Von Interesse war, daß Dr. Westphalen die Krise nur dann f'lir lösbar betrachtete, wenn auch deren langfristige und strukturelle Ursachen beseitigt werden würden, nämlich insbesondere die monostrukturelle Exportorientierung, die Verwendung der Leihgelder in nicht-produktiven Investitionen und so weiter. Kurzfristig könnten aber nur Umschuldungsverhandlungen helfen, wie sie im Pariser Club praktiziert werden. Vorrangig in diesem Punkt konnte der Vertreter Lateinamerikas, Professor Trein von der Bundesuniversität in Rio de Janeiro, voll und ganz zustimmen. In der Diskussion wurde unter anderem angesprochen, daß die Ursachen für die Krise zum Großteil in den Schwellenländern selbst lägen: Luxurierende Eliten, die sich nicht gegenüber den mehrheitlichen Interessen der Bevölkerung legitimieren bräuchten, würden ein produktives Wachstum verhindern. Allerdings ist hier zusätzlich als Ursache zu erwähnen, daß die europäischen und amerikanischen Banken nach dem Erdölpreisschock Mitte der 70er Jahre und der damit entstehenden Notwendigkeit eines recycling der Petro-Dollars den Entwicklungsländern Kredite geradezu aufdrängten beziehungsweise diese zu günstigen Bedingungen vergaben. Eher im Stillen und abseits von diesen politischen und außenwirtschaftlichen Krisen wirken die Verbandsbeziehungen über den Atlantik hinweg. Sie

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sind allgemein weniger konflikt haft und vor allem funktional bestimmt, so daß sie gegebenenfalls kooperationst6rdernd andere Politikbereiche zu beeinflussen vermögen. Im wirtschaftlichen Bereich erfolgt dies auf der Ebene des Außenhandels und der Direktinvestitionen, wie sie insbesondere im Verhältnis Bundesrepublik - Lateinamerika ausgeprägt sind. Die Beziehungen zwischen den Wirtschaftsverbänden - so Dr. Böhle vom BDI - sind so gut wie nicht vorhanden. Anscheinend besteht hierfür kein Bedürfnis, da die Angelegenheiten auf der Unternehmensebene gelöst werden können, zumal bei multinationalen Unternehmungen mit ihren großen Außenhandels-Abteilungen. Da es derartige "natürliche" Beziehungen zwischen Unternehmungen auf der Arbeitnehmerseite nicht gibt (sieht man von den wenigen Fällen spontaner, international koordinierter Streiks ab), werden die interkontinentalen Beziehungen in diesem Bereich direkt von den Verbänden getragen. Im DGB ist hierzu zuständig die Internationale Abteilung, und hier wiederum spezifisch Dr. J. Eckl, der zu diesem Fragenkomplex in der Werkstatt referierte. Insbesondere haben sich die deutschen und europäischen Gewerkschaften um die Unterstützung der lateinamerikanischen Gewerkschaften während der langen Zeit der Herrschaft von Militärdiktaturen verdient gemacht. Gegenwärtig findet ein wechselseitiger Gedankenaustausch und Lernprozeß statt, in dem jede Seite versucht, das vom jeweils anderen zu übernehmen, das der Übernahme wert und auch übertragbar ist. Auf der letzten Sitzung der Werkstatt wurde abschließend und resümierend die Frage diskutiert" ob sich die Beziehungen zwischen Lateinamerika und den USA und die Beziehungen zwischen den USA und Westeuropa aufgrund der Einflüsse eines Dritten (Europa beziehungsweise Lateinamerika) verändert haben. Zu diesem Thema waren Dr. Beinhardt von der EGKommission, Frau Salisch, Abgeordnete des Europäischen Parlaments, Prof. Sotelo vom Lateinamerika-Institut der Freien Universität Berlin und Prof. Göthner von der Sektion Lateinamerikawissenschaften der Universität Rostock eingeladen. Die Dreiecksbeziehungen wurden vor allem anhand des Beispiels der EGPolitik gegenüber der Contadora-Gruppe diskutiert. Hier wurden einerseits die Möglichkeiten Europas als Vermittler in der zentralamerikanischen Krise deutlich, andererseits aber auch die Grenzen einer solchen Rolle, denn die Vereinigten Staaten übten erheblichen Druck aus, um diese Einflußversuche in ihrem "Hinterhof" zu unterbinden. Die Abhängigkeit Europas von den USA ermöglichte ihr dieses. Erst wenn zum Beispiel die europäischen Währungen - so Frau Salisch - nicht mehr vom Dollar derart abhängig sind, wäre ein Schritt zu einer auch autonomeren Lateinamerika-Politik getan. Die Frage allerdings, ob sich die EG nicht mit einem weltweiten Engagement politisch und finanziell übernehme und damit an außen- und entwicklungspolitischem Profil verliere, blieb unbeantwortet. Die Befürworter eines solchen weltweiten Engagements konnten immerhin vorbringen, daß die Konzentration der EG-Entwicklungspolitik im wesentlichen auf Schwarz-Afrika doch sehr nach (französischem) Kolonialismus rieche.

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Unbestritten positiv wurden die Hilfen und Unterstützungsleistungen vor allem moralischer Art des Europäischen Parlaments für lateinamerikanische Parlamente und für den dortigen Demokratisierungsprozeß insgesamt beurteilt, auch wenn hier das Problem besteht, daß es für das EG-Parlament keinen Konterpart gleicher Integrationshöhe in Lateinamerika gibt. Ein glattes Resümee der Werkstatt hinsichtlich der Fragestellung nach der Distanzzunahme oder Annäherung zwischen beiden Kontinenten ziehen zu wollen, wäre sicherlich verfehlt. Zu divers sind die Entwicklungen. Es gibt Elemente der Annäherung (Contadora-Politik) und Elemente der Distanzierung (Falkland-Konflikt). Die Zukunft ist als offen zu bezeichnen. Ihre Gestaltung hängt auch davon ab, zu welchen Optionen sich die Entscheidungsträger entschließen. Priv-Doz. Dr. Jürgen Bellers

Werkstatt: Entwicklungsstaat und Entwicklungsverwaltung. Handlungsbedingungen und Handlungsspielräume für die Entwicklungszusammenarbeit am Beispiel der Verwaltungs- und Wissenschaftsiörderung1 Nahezu alle europäischen und außereuropäischen Gesellschaften werden heute mit drückenden gesamt gesellschaftlichen Problemen konfrontiert, die nicht selten die Leistungskapazitäten der politischen Syteme überfordern. Wenn wir darüber hinaus für die nächsten Jahrzehnte mit sich ändernden gesellschaftlichen und politischen Verhältnissen rechnen müssen - wobei es nicht nur um neue Entwicklungsaufgaben gehen wird, sondern auch um sozioökonomische Herausforderungen, die Akzeleration wissenschaftlicher Erkenntnisse, um den technologischen Fortschritt, um neue Knappheiten und um verschärfte Verteilungskämpfe - , dann ist mit hoher Wahrscheinlichkeit anzunehmen, daß die bereits heute feststellbare krisenhafte Überlastung dieser Systeme noch gravierendere Probleme der Regierbarkeit aufwerfen wird. Ungleich bedrückender stellen sich die Probleme in Lateinamerika dar. Ganz offensichtlich ist hier der "Staat" zum größten Hindernis der politischen, wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung geworden. Allein die in den einzelnen Ländern in letzter Zeit evident gewordenen Veränderungen der politischen, wirtschaftlichen und sozialen Rahmenbedingungen, der brutale Kontrast zwischen Industriemacht einerseits sowie Armut und Elend auf der anderen Seite, die Bevölkerungsexplosion, der in arge Schwierigkeiten geratene Landwirtschaftssektor, die Folgen der nicht einmal ansatzweise standortgerechten Industriepolitik, die Umweltpolitik sowie die Verengung der gesamtwirtschaftlichen Spielräume und die atemberaubenden und historisch beispiellosen Fehlbeträge der öffentlichen Haushalte stellen den Staat vor ungewöhnlich große und in den Folgen (noch) unbekannte Probleme. lRainer FreYi Jürgen Bellers (Hrsg.).: Lateinamerika - Westeuropa. Annäherung der Distanzierung. Politische, wirtschaftliche und verwaltungswissenschaftliche -\nalysen. Münster (Selbstverlag des Instituts für Politikwissenschaft) 1989.

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Werkstatt

Reformen gegen die Krise erscheinen deshalb unumgänglich. Vorbedingung hierfür ist, die in Europa ebenso wie in Lateinamerika für den gesellschaftlichen Entwicklungs- und Veränderungsprozeß zuständigen und kompetenten Verwaltungs- und Wissenschaftssysteme verstärkt wahrzunehmen: Wenn bei festzustellenden ansteigenden Ansprüchen an "die Politik", an "den Staat" diese Systeme in der derzeitigen Struktur den Problemen nicht mehr gewachsen sind, wenn sie schlicht den immer neuen und immer komplexeren Anforderungen, die an sie gerichtet werden, nicht mehr entsprechen können; und wenn es also gilt, die öffentliche Verwaltung von einem Instrument zur Vollstreckung ehemals kolonialer Interessen in ein leistungsfähiges Instrument zur Durchsetzung nationaler Entwicklungsaufgaben umzuwandeln, so kommt man nicht umhin, gerade diese für die Entwicklung der politischen Ordnung und ihr Fortbestehen so bedeutenden Subsysteme in den Mittelpunkt sowohl der Entwicklungsländerforschung als auch der Entwicklungszusammenarbeit zu rücken. Neuere Untersuchungen haben zudem diese Befürchtungen nicht zerstreuen können. Sie zeigen, daß in vielen Ländern Lateinamerikas die Verwaltungssysteme durch strukturelle, personelle und instrumentelle Defizite einen eklatanten Engpaßbereich darstellen. So bedeutet beispielsweise die Ausdehnung der Entscheidungs- und Handlungsspielräume der politischadministrativen Organisation nicht, daß das politische System in seiner Substanz und Legitimität gestärkt würde. Im Gegenteil: Dadurch, daß der Umfang der als öffentlich anerkannten Aufgaben expandiert, die Leistungsfähigkeit der administrativen Institutionen aber stagniert, wird das politischadministrative System zunehmend komplizierter, bürokratischer, undurchsichtiger und gefährdet somit die Glaubwürdigkeit und Legitimation des gesamten politischen Systems. Gleichzeitig aber läßt sich feststellen, daß die Verwaltungssysteme bei der Lösung von Steuerungsproblemen ganz offensichtlich über zum Teil erhebliche Handlungsspielräume verfügen, daß "Politik" bis zu einem gewissen Maße vom eigenmächtigen Handeln der Administrationen abhängt. Ausgehend von diesen Grundthesen lag es nahe, die Rolle und die Funktionen der Verwaltungs- und Wissenschaftssysteme im Entwicklungsstaat und im Entwicklungsprozeß zu analysieren und die Handlungsbedingungen und Handlungsspielräume der entwicklungspolitischen Verwaltungs- und Wissenschaftsförderung auszuloten, um diese schließlich verbessern zu können. Dieses weite und außerordentlich wichtige Politikfeld für ganz Lateinamerika aufarbeiten zu wollen, wäre ein nicht einzulösender und damit vermessener Anspruch gewesen. Notwendig erschien vielmehr die Erarbeitung regionaler differenzierter Modelle. Hierfür wurde als Schwerpunktland Brasilien gewählt. Gerade dieses Land auf dem amerikanischen Kontinent sieht sich seit dem Ende der Boomphase des "brasilianischen Wunders" 1974 vor wichtige Probleme der Regierbarkeit gestellt. Auch hier ist offensichtlich, daß, obwohl Brasilien im Laufe der letzten zwei Jahrzehnte zu einer politischen und ökonomischen Größe mit ständig wachsendem Gewicht im internationalen System

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aufgestiegen ist und zu den Ländern der sogenannten Dritten Welt mit dem höchsten EinHuß auf die internationale Politik gehört, Reformen notwendig sind, um die "marginale Masse" an den Entwicklungserfolgen teilhaben zu lassen. Im ersten Teil der Werkstatt wurden die Verwaltungs- und Wissenschaftssysteme Brasiliens und der Bundesrepublik Deutschland als zentrale Entwicklungssubjekte und damit auch als zentrale Forschungsobjekte thematisiert. Herr Professor Dr. Carl Böhret, Speyer, beleucht.ete kritisch nach dem Referat von Herrn Ulrich Fanger, MA, Freiburg, zum Thema "Politische Rahmenbedingungen der Bildungs- und Wissenschaftsverwaltung in den Staaten Lat.einamerikas", das bundesrepublikanische Verwaltungs- und Universitätssystem; vor allen Dingen auch mit Blick auf die Herausforderungen der neunziger Jahre. Analog dazu fokussierte Herr Professor Dr. Darcy Closs, Brasilia, das lateinamerikanische Verwaltungs- und Wissenschaftssystem am Beispiel Brasiliens, wobei er die Beschränkung der Aufmerksamkeit und Handlungsbereitschaft beider Systeme deutlich machte. Anhand dieser - über bloße Zustandsbeschreibungen weit hinausreichenden - Analysen kristallisierte sich heraus, daß die schon bestehenden Kooperationen und die Kooperationsmöglichkeiten, die Herr Bundesminister Jürgen W. Möllemann, Bonn, in seinem Referat ausführte, einen wichtigen Ansat.zpunkt für die Festigung und den Ausbau der Beziehungen zwischen Brasilien und der Bundesrepublik Deutschland darstellen. Herr Bundesminister Möllemann betonte den beispielhaften Charakter der schon jetzt existierenden Kooperation mit Brasilien, welches als sogenanntes Schwellenland einerseits Empfanger deutscher Entwicklungshilfe sei, andererseit.s aber als regional hochentwickeltes Industrieland über qualifizierte Ausbildungs- und Forschungseinrichtungen auf den Gebieten von Bildung und Wissenschaft verfüge und somit ein wertvoller Kooperationspartner der Bundesrepublik für den Austausch von Hochschullehrern, Forschern und Studenten sowie für gemeinsame Forschungs- und Entwicklungsprojekte auf beacht.lichem technologischem Niveau sei. Als wichtigste essentials der zweiten Sitzung, in der Probleme der Aus- und Fortbildung sowie der wissenschaftlichen Weiterbildung erört.ert wurden, lassen sich die von Herrn Professor Dr. Paul Kevenhörster, Kurator der Deutschen Stiftung für Entwicklung, Berlin, eingebrachte Idee der Dezentralisierung, der von Herrn Professor Dr. Rogerio Teodore Vahl, Florianopolis, entwickelte Gedanke der Not.wenrligkeit. von wissenschaftlicher Weiterbildung und lebenslangem Lernen sowie die von Herrn Professor Dr. Gerhard Jacob, Porto Alegre, geleistete Problematisierung der Wissenschaftsverwaltung und Wissenschaftspolitik hervorheben. Herr Professor Dr. Jacob betonte, daß es in Brasilien nicht nur viel zu wenig hochqualifizierte Wissenschaftler, sondern auch viel zu wenig fähige Wissenschaftsverwalt.er und Wissenschaft.spolitiker gebe. Auch die Bedeutung von Dezentralisierungsmaßnahmen hinsichtlich einer Verbesserung der Wandlum1"sfahigkeit der öffentlichen Verwaltung, die von Herrn Professor Dr. Kevenhörster dargelegt wurde, muß als eine wesentliche Anregung für die Rf'form der Organisationsund Personenstrukturen gesehl.'n werden.

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Im Rahmen der dritten Sitzung entwickelte Frau Dipl. Verwaltungswissenschaftlerin Sigrid Schenk-Dornbusch, Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit, Bonn, konzeptionelle Grundlagen, praktische Ansätze und neue Perspektiven der Verwaltungsförderung. Sie betonte, daß nicht nur der Transfer, sondern auch die Mobilisierung eigener Fähigkeiten in den s0genannten Entwicklungsländern unverzichtbar sei. Frau Professor Dr. MariaChristina de Souza-Campos, Säo Paulo, untersuchte Möglichkeiten und Grenzen der Verwaltungsförderung durch Zusammenarbeit zwischen den Bundesstaaten Sao Paulo und Nordrhein-Westfalen. Sie gab zu bedenken, daß der unreflektierte Export deutscher Verwaltungsmodelle aufgrund historisch gewachsener Unterschiede in den Realitäten Brasiliens und Deutschlands nicht möglich sei und unterstrich die Notwendigkeit gemeinsamer intensiver Forschungsarbeiten auf beiden Seiten. Herr Oberkreisdirektor Dr. Heinrich Hoffschulte, Steinfurt, forderte die Kommunen auf, die Entwicklungszusammenarbeit zu aktivieren und wies auf neue, entwicklungsflihige und perspektivenreiche Ansatzmöglichkeiten für die praktische Entwicklungszusammenarbeit hin. In der die Werkstatt abschließenden Podiumsdiskussion wurden alle bearbeiteten Bereiche und Problemfelder noch einmal im Zusammenhang diskutiert. Es wurde Einigkeit darüber erzielt, daß die auf den Kernbereich des politischen Systems abzielenden Aktivitäten der Verwaltungs- und Wissenschaftsförderung weiter ausgebaut werden müssen, zumal den Verwaltungssystemen mehr denn je die wichtige und an Bedeutung zunehmende Aufgabe zufällt, die Entwicklungs- und Veränderungsprozesse zu leiten und zu administrieren. Je bedeutsamer, je unentbehrlicher Rolle und Funktionen der Verwaltungssysteme werden, um so notwendiger werden analytische und instrumentelle Kompetenzen benötigt, um so unerläßlicher wird die Erneuerung der Aus- und Fortbildung, der wissenschaftlichen Weiterbildung und der wissenschaftlichen Beratung. Da es dabei keineswegs nur um Probleme einer "technokratischen" Effizienz, sondern in der Tat um die Grundlagen künftiger politischer Handlungsfähigkeit geht, sind erhebliche Anstrengungen, die eine enge Kooperation zwischen Verwaltung und Wissenschaft einschließen müssen, erforderlich. Ausdrücklich betont wurde die Bedeutung eines verstärkten Engagements in der bundesstaatlichen und kommunalen Zusammenarbeit. Auch hier bestand Einigkeit, daß gerade der kommunalen Zusammenarbeit eine zukunftsweisende Bedeutung zukommen wird. Deutlich wurde aber auch, daß es zunächst gilt, die Politikfelder zu umreißen, in denen der Bedarf an praktischer Zusammenarbeit am vordringlichsten ist. Universitätsprofessor Dr. Rainer Frey

Werkstatt: Europäische Juden in Lateinamerika1 Ein Viertel aller Juden, die vor der Verfolgung durch die Nationalsozialisten ins Ausland flüchten konnten, haben sich in Lateinamerika niedergelassen. Die Gruppe der Juden in Lateinamerika, die selbst - oder deren Vorfahren - aus den verschiedensten Ländern nach Lateinamerika auswanderten oder fliehen mußten, umfaßt insgesamt einige Millionen Menschen. Erstmals fand eine wissenschaftliche Tagung in der Bundesrepublik statt, die sich mit dem Schicksal und der heutigen Situation der Juden europäischen Ursprungs vor allem in Argentinien, Brasilien, Chile und Mexiko beschäftigte. Mehr als 50 Spezialisten aus verschiedenen Ländern Lateinamerikas und Europas, aus den U.S.A. und Israel haben neueste Forschungsergebnisse vorgestellt und diskutiert. Die Tagung beschäftigte sich zunächst mit der Auswanderung: Viele deutsche Juden haben in den 30er Jallren sehr lange, manche zu lange gezögert, bevor sie sich zur Auswanderung entschlossen. Südamerika war vielfach nur das zweitbeste Ziel; aber die Einwanderungsquoten in die USA und Kanada waren zu gering, um alle berücksichtigen zu können. Manche konnten, andere wollten nicht nach Palestina auswandern. Wieder andere erreichten Südamerika, erst nachdem sich herausstellte, daß sie auch aus anderen europäischen Ländern vertrieben wurden, zum Beispiel durch Mussolini aus Italien. Die Eingewöhnung in Lateinamerika verlief sehr unterschiedlich: Juden aus Zentraleuropa verfügten über ein recht hohes Bildungsniveau; hatten sie Berufe, die im Gastland gesucht waren, oder konnten sie sich schnell umgewöhnen, dann stand einer wirtschaftlichen Integration nicht viel im Wege. Dagegen hatten Juristen, Journalisten, Literaten oft sehr große Schwierigkeiten. Auch bereiteten nicht nur korrupte, sondern auch faschistisch beeinflußte Regierungen mancher lateinamerikanischer Länder Schwierigkeiten bei Einwanderung und Integration. Problematisch war ferner das Verhältnis zu Menschen der gleichen nationalen Gruppe, die nicht Juden waren, sondern als politische Flüchtlinge in Lateinamerika Schutz gesucht hatten. Die heutige Situation der Juden in Lateinamerika läßt sich in vielen Aspekten mit der Situation der Juden in Deutschland vor 1933 vergleichen. Heute 1 Europäische Juden in Lateinamerika. Hrsg. von Achim Schrader und Kar) Heinrich Rengstorf. St. Ingbert 1989.

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dort, wie damals hier, haben Juden die rechtliche Gleichstellung und die meisten von ihnen eine befriedigende wirtschaftliche Lage erreicht. Viele haben in der Kultur und Geisteswelt, in Wirtschaft und Wissenschaft für ihre Gesellschaften Hervorragendes geleistet. Gleichwohl unterliegen sie dort - wie damals hier - einem latenten Antisemitismus, der - zum Beispiel in Argentinien unter der Militärdiktatur - zu Verfolgungen führte. Dieses Thema stellte einen besonderen Schwerpunkt der Tagung dar. Für viele europäische Juden in Lateinamerika war und ist die Identitätsfrage schwierig zu beantworten: Verstehen sich ehemals deutsche Juden noch als "Deutsche"? Wird die Solidarität mit dem Staat Israel vom nationalistischen und patriotischen Denken der Mehrheit in Lateinamerika akzeptiert? Reicht die gemeinsame jüdische Religion aus, um ein friedliches Miteinander von zum Beispiel "deutschen" und "polnischen" Juden in derselben Gemeinde zu ermöglichen? Sind jüdische Arbeiter in den Gewerkschaften eher als Juden oder eher als Arbeiter miteinander solidarisch? Sind die "Symbiosen" in Deutschland und Argentinien miteinander vergleichbar; und was bringt die Anpassung der Juden an die umgebende Gesellschaft für die Identität des "auserwählten Volks" oder auch nur für das Ausbleiben von Pogromen? Bezeichnenderweise wurde die Frage nach der Zulässigkeit von Vergleichen aus dem deutschen "Historikerstreit" nicht aufgenommen. Das zeitgenössische lateinamerikanische Judentum durchlebt eine Epoche, in der auch andere Gruppen in Lateinamerika unter der Repression nationalistischer Militärregime oder in einer unübersichtlichen re-demokratisierten politischen Kultur durch Betonung ihrer Ethnizität Identität gewinnen. "Vergleiche" mit anderen historischen und sozialen Phänomenen werden daher in Lateinamerika nicht nur nicht tabuisiert, sondern geradezu gesucht. Die versammelten Wissenschaftler empfahlen abschließend, die deutsche Wissenschaft solle sich stärker an der internationalen Forschung beteiligen. Konkrete Forschungsprojekte und Formen der internationalen und interdisziplinären Zusammenarbeit wurden verabredet. Dazu gehören vor allem Feldforschungen in Lateinamerika bei einer Generation, die bald nicht mehr sein wird, aber auch eine Rezeption der umfangreichen wissenschaftlichen Erforschung des Judentums durch die deutsche Wissenschaft in Vergangenheit und Gegenwart, die in Lateinamerika noch weitgehend unbekannt ist.

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Tagungsprogramm 1. Einführung

Sitzungsleitung: Karl Heinrich Rengstorf, Münster (a) Achim Schrader, Münster: Spurlos verschwunden? Die Bundesrepublik Deutschland und die deutsch-jüdischen Auswanderer in Lateinamerika (b) Herbert A. Strauss, Berlin: Die jüdische Emigration nach 1933 als Epochenproblem der Zeitgeschichte

2. Auswanderung aus Europa Sitzungsleitung: Herbert A. Strauss, Berlin (a) Ruth Zariz, Jerusalem: Emigration of Jews from Germany to Latin American Countries 1938 - 1941 (b) Doron Niederland, Jerusalem: Emigration Patterns of Jewish Academics and Professionals from Germany 1933 - 1935 3. Hindernisse der Wanderung Sitzungsleitung: Walter Mettmann, Münster (a) Renate Schafft-Kulas, Nieder-Olm: Fehlgeleitetes Nationalgefühl. Zur Bewußtseinslage der emigrierten deutschen Juden .. (b) Angelo Trento, Castelgandolfo: Emigra~iio judia para pois das leis raciais de Mussolini

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Brasil de-

(c) Leonardo Senkman, Jerusalem: Argentina y el Holocausto. Dificuldades para la inmigracion y busqueda de destinos inmigratorios (d) Carlotta Jackisch, Buenos Aires: Argentinische Einwande- rungspolitik gegenüber den Juden (e) Winfried Seelisch, Darmstadt: Jüdische Emigration nach Bolivien Ende der 30er Jahre (Schriftlich vorgelegtes Referat) 4. Einwanderung in Lateinamerika Sitzungsleitung: Henrique Rattner, Säo Paulo (a) Ethel Volfzon Kosminsky, Säo Paulo: Rolandia - a terra prometida. Judeos refugiados do nazismo no Norte de Parano.jBrasil (b) Bernd areunig, Würzburg: Der Beitrag der deutschen Juden zur ländlichen Kolonisation Nord-Paranas im Rahmen der Rolandwanderung 1932 - 1938 (c) Joep Merkx und Jack Twiss Quarles, Amsterdam: "Ich hab' noch einen Koffer in Berlin" . First Generation German Jews in Argentina

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(d) David Bankier, Jerusalem: The Relations between German Jewish Refv,gees and German Political Exiles in South America 5. Anpassung an Lateinamerika I Sitzungsleitung: Wolfgang Hirsch-Weber, Mannheim (a) Fritz Pohle, Hamburg: "Freies Deutschland" und Zionis- mus. Exilkommunistische Bündnisbemühungen um die jüdische Emigration (b) Patrick von zur Mühlen, Bonn: Politisches Engagement und jüdische Identität im lateinamerikanischen Exil (c) Sabine Horl-Groenewold, Hamburg: Europäische Juden in Argentinien. Bild und Selbst bild (d) Karl Heinrich Rengstorf, Münster: Deutschsprachige Literatur deutsch-jüdischer Emigranten in Südamerika 6. Öffentlicher Vortrag Sitzungsleitung: Achim Schrader, Münster David Bankier, Jerusalem: Deutsch-jüdische Symbiose bis 1933, argentinisch-jüdische Symbiose bis 1950 7. Anpassung an Lateinamerika II Sitzungsleitung: Eva Alterman Blay, Säo Paulo (a) Edgardo J.Bilsky, Buenos Aires: Etnicidad y clase obrera. La presencia jud{a en el movimiento obrero argentino (b) Clarissa Baeta Neves, Porto Alegre: A integra~äo dos imigrantes judeos no sistema economico no Sul do Brasil (c) Henrique Rattner, Säo Paulo: Jude sein und Brasilianer. Sozialkulturelle Identitätsprobleme in Brasilien (d) Jeff H.Lesser, New York: Regional Differences in the Historical Development 0/ Jewish Social Institutions 1920 - 1948 (e) Stefan Veghazi, Santiago de Chile: CENTRA. Zur Geschichte der Arbeitsgemeinschaft der jüdischen Gemeinden und Organisationen zentraleuropäischen Ursprungs in Lateinamerika (Schriftlich vorgelegtes Referat) 8. Antisemitismus in Lateinamerika Sitzungsleitung: David Bankier, Jerusalem (a) Judith Laikin Elkin, Ann Arbor: Living with Antisemitism. The Argentine Ambiente (b) Alicia Gojman de Backal, Mexico: Participacion alemana en el movimiento de las "Camisas Doradas" (c) Eva Alterman Blay, Säo Paulo: Inquisi~äo, ·Inquisi~oes. Aspectos da participa~äo na vi da socio-politica no Brasil nos anos 30

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(d) Arnold Spitta, Bonn: Antisemitische Strömungen und Einwanderungspolitik im Argentinien der 30er und 40er Jahre 9. Identifizierung dringlicher Forschungsvorhaben und Verabredung konkreter internationaler Kooperation Sitzungsleitung: Judith Laikin Elkin, Ann Arbor Vorbereitete Beiträ.ge: (a) Achim Schrader und Thomas Blank, Münster: Bibliographie zum Studium des deutschen Judentums in Lateinamerika (b) Susana Worcman, Rio de Janeiro: Heran~a e lembran~as. Em tomo da hist6ria dos judeos cariocas (Bericht über die Arbeit des jüdischen Kultuizentrums in Rio de Janeiro) 10. Öffentliche Veranstaltung Sitzungsleitung: Achim Schrader, Münster (a) Eva Alterman Blay, Säo Paulo: Judeos em Siio Paulo (Video) (b) Siegfried Kä.tsch: Sosua - Verheißenes Land (16 mm-Film) (c) J acques Wainberg, Porto Alegre: Juden in Rio Grande do Sul (Austellung von Photographien aus dem Archiv des Instituto Marc Cha-

gall)

Univ.-Prof. Dr. Achim Schrader

Werkstatt: Die Frage nach dem Menschen in der Begegnung zwischen Lateinamerika und Europa Die Werkstatt Philosophie befaßte sich mit der "Frage nach dem Menschen in der Begegnung zwischen Lateinamerika und Europa" . Sie verstand diesen Titel im weiteren Sinne, mit Einschluß also der Ideengeschichte. Ihre Arbeit erstreckte sich auf zwei Bereiche, verteilt auf vier Tage. Der erste Bereich umfaßte die Problematik der Menschenrechte in Verbindung mit dem Naturrechtsgedanken. Hier ergab sich ein intensiver Austausch vor allem mit der Werkstatt Rechtswissenschaft. Zu diesem Zweck hatte man schon bei der Terminplanung Überschneidungen möglichst vermieden. Der zweite Bereich befaßte sich mit der Frage der lateinamerikanischen Identität gegenüber Europa. Naturgemäß wurden hier die Ideengeschichte und die Geschichte überhaupt noch stärker mit einbezogen. Für beide Bereiche wurde der Rahmen durch die öffentlichen Vorträge, die alle am ersten Tag stattfanden, abgesteckt: für den zweiten Bereich durch denjenigen von Kollegen Teran Dutari, der als Rektor der Katholischen Universität in Quito noch an interdisziplinär besetzten Podien, unter anderem zur Organisation einer zukünftigen wissenschaftlichen Zusammenarbeit beteiligt war; für den ersten Bereich durch die übrigen öffentlichen Vorträge der Kollegen Reinhard Brandt (Marburg), Otfried Höffe (Fribourg) und Martin Kriele (Köln). 1. Unter dem Titel "Freiheit und Entwicklung" fragte Martin Kriele danach, ob die Verwirklichung der sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Rechte - wie die revolutionären Bewegungen in Lateinamerika wollen - Vorrang haben gegenüber den politischen und juristischen Freiheitsrechten und legte dar, weshalb heute lediglich der im Rahmen von Gewaltenteilung zu gewährende verfassungsmäßige Schutz der Freiheitsrechte die unverzichtbare Voraussetzung für die Entwicklung zu mehr sozialer und politischer Gerechtigkeit sein kann und nicht umgekehrt. Diese brisante Frage nahm bei den übrigen Arbeiten der Werkstatt auch sonst einen wichtigen Raum in philosophischer wie in philosophiehistorischer und allgemeingeschichtlicher Perspektive ein, vor allem als Frage nach der Allgemeingültigkeit der Menschenrechte (J.M. Beneyto), zumal weder die Antike noch die Philosophie des Hochmittelalters von Menschenrechten (trotz Stoa und Christentum) etwas gewußt haben. Erst das Spätmittelalter erarbeitete die Grundlagen, auf denen das

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neuzeitliche Naturrecht die Theorie der Menschenrechte entwickeln konnte. In Europa entstanden, fand sie in Lateinamerika erst sehr viel später, im Gefolge der Französischen Revolution, Eingang. Daß dennoch das Los der Urbevölkerung in Nordamerika, wo die Theorie der Menschenrechte schon vor der Französischen Revolution politisch gesiegt hatte, vielfach weit schwerer war als das der Indios in Lateinamerika unter der noch naturrechtlieh begründeten Gesetzgebung Spaniens im 16. Jahrhundert, ist kennzeichnend für die Dialektik dieser Theorie zumindest in ihrer ursprünglichen Gestalt. Diese Dialektik basierte - wie sich im Laufe der vier Arbeitstage der Werkstatt herausstellte - auf der Tatsache, daß bei der Theorie der Menschenrechte erstmals in der Geschichte unter Recht (jus) dasselbe wie unter Herrschaft oder Eigentum (dominium) verstanden wurde, das heißt etwas, worauf man unter Umständen (durch Verkauf) verzichten kann. So ist zu erklären, daß eben diese Theorie, die zu dem modernen Rechtsstaat führte, in ihren Ursprüngen ebenfalls auch zur Rechtfertigung des Absolutismus und sogar der Sklaverei dienen konnte. Mehrere Beiträge machten vom ideen- und allgemeinhistorischen Standpunkt aus diese Dialektik anschaulich. Das gilt bereits für den Eingangsvortrag von J. Tera.n Dutari (Quito), aber auch für die Beiträge von E. Straub (Stuttgart), E.C. Frost (Mexico, D.C.), H. Pietschmann (Hamburg) und Bravo-Lira (Santiago de Chile). Bemerkenswert angesichts etwa des Auftretens brasilianischer franziskaner auf dem Kongreß waren zum Beispiel die Ausführungen von Cecilia Frost aus Mexico über die von Beginn der Eroberung an bestehende Höherschätzung der indianischen gegenüber der europäischen Bevölkerung seitens der franziskanischen Missionare. Die Indios seien dank ihrer Milde und Einfalt die von Natur aus weit besseren Christen. (So der Titel ihres Vortrags "Von Sklaven zu Engeln"). In der von Machiavelli an bis zur Amerikanischen und Französischen Revolution ständigen Berufung auf die republikanische Tugend gegen die bürgerliche Korruption sollte dieser Topos auf europäischer Seite bis heute nicht verstummen: Sollen wir ein einfaches oder ein verfeinertes Leben führen? Von besonderer Bedeutung für die Dialektik der Menschenrechte erwies sich die Rolle der spanischen Renaissance- und Barockscholastik als theoretische UmschlagsteIle zwischen Europa und Lateillamerika. Zwei Grundtendenzen waren dabei zu unterscheiden: Die Linie VitoriaSoto und die Linie Molina-Suarez. Die erste erwies sich als scharfe Kritikerin der Lehre von den natürlichen Menschenrechten, die im Spätmittelalter mit Duns Scotus, Ockham, Marsilius von Padua, Pierre d'Ailly und Gerson entwickelt worden war. Die zweite nahm diese Lehre wieder auf und setzte sie fort. Hugo Grotius sollte sie ein Jahrhundert später zusammenfassen und ihr zum Durchbruch verhelfen. Charakteristisch für den zweischneidigen Charakter der Menschenrechtstheorie ist, daß gerade die menschenrechtsfeindliche Linie Vitorio-Soto erheblich mehr zur Rechtsstellung der amerikanischen Urbevölkerung beitrug. Diese Rivalität zwischen den zwei Linien (Vitoria-Soto, Molina-Suarez) stellte sich heraus als die historisch und systematisch bedeut-

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samste Wurzel des Vorrangstreites zwischen den politischen Freiheitsrechten auf der einen und den sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Rechten auf. der anderen Seite. Die Hinweise auf den Vorläuferstreit in der spanischen Spätscholastik wurden allerdings nicht so verstanden, als ob - entgegen der Auffassun"g Krieles die sozialen vor den politischen Menschenrechten V9rrang hätten. Zum einen ist die heutige Konstellation in Lateinamerika eine ganz andere geworden, und zum anderen hat die vernunftrechtlich begründete neuzeitliche Theorie der Menschenrechte ihre absolutistischen Nebentöne abgestreift. In mehreren Beiträgen (R. Brandt, Marburg; K. Cramer, Göttingen; V. Gerhardt, Münster) wurde hier auf die Bedeutung der Rechtsphilos0phie Kants verwiesen, der, wie bereits Rousseau, wesentliche Korrekturen an dem ursprünglich ambivalenten Charakter einer vernunft rechtlich begründeten Menschenrechtstheorie anbrachte: Rousseau dadurch, daß er aufgrund seines Willensbegriffs mit der alienatio als einem wesentlichen Element der Vertragstheorie Schluß machte. - In welchem Maße er gerade in diesem Punkt von seinen Vorstellungen über das gesellschaftliche Leben der lateinamerikanischen Urbevölkerung abhängig war, machte unter anderem L. Siep, Münster, deutlich. - Kant wiederum korrigierte die herkömmliche Vernunftrechtskonzeption dadurch, daß er die Freiheit im Naturzustand nicht für unbeschränkt hielt, woraus sich die Frage nach dem Woher dieser ursprünglich rechtmäßigen Einschränkung ergab. Von einem philosophischen Standpunkt aus stellte sich die kontrovers diskutierte Frage nach dem Anteil von Vernunft und VOll Natur (V. GerhardtjF. Inciarte, Münster) an dem Kriterium der Moralität. Sofern die Menschenrechte heutzutage als unveräußerlich betrachtet werden, ist jedenfalls ein Stück der klassischen Naturrechtslehre gegen die klassische Vernunftrechtskonzeption darin wieder lebendig geworden. Leistungsfähigkeit und Grenzen einer Theorie der Menschenrechte wurden schon am ersten Abend eindrucksvoll erörtert von O. Höffe, Fribourg, der in seinem Vortrag der Frage nachging, wieweit ehen dieser Unveräußerlichkeit von Rechten und Ansprüchen auf seiten des Individuums streng begründ bare Pflichten der staatlichen Gemeinschaft entsprechen können und müssen. 2. In enger Verbindung mit dem Bereich der Menschenrechtsthematik stand auch der zweite Arbeitsbereich, der Fragen der Identität und Eigenständigkeit Lateinamerikas in der Gegenwart gewidmet war und deren in die Vergangenheit reichende Dimension, ihre ideen- und rechtsgeschichtlichen Aspekte, bereits einen zentralen Punkt des ersten Arbeitsbereiches darstellten. Um Wiederholungen zu vermeiden, sollen hier abschließend nur die im Zusammenhang mit unserer Fragestellung noch nicht vorgestellten Beiträge berücksichtigt werden. Da ist zunächst noch in historischer Perspektive das Referat von A. Belaunde Moreyra, Botschafter von Peru in Bern, hervorzuheben. Darin wurde über eine Charakterisierung der politischen Erbschaft des Befreiers Simon Bolivar ein wesentlicher Beitrag zum Verständnis gegenwärtiger Eigenständig-

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keitsbemühungen Lateinamerikas geleistet. Daß Eigenständigkeit nicht allein politische Unabhängigkeit, sondern auch kulturelle Rückbesinnung einschließen müsse, forderte A. Pena Cabrera, Lima, der am Beispiel der wiederentdeckten Andenkulturen einer in zunehmendem Maße als bedrohlich und fremd empfundenen europäischen Rationalität die spezifische rationale Leistung der Andenvölker gegenüberstellte. In dieselbe Richtung wiesen die zahlreichen Diskussionsbeiträge von H. Steger, die bis zur Infragestellung des Konzepts der Entwicklungshilfe gingen. In grundsätzlichen Überlegungen zum Thema "Kontinentale und nationale Identität" erörterte R. Maliandi, Buenos Aires, den Begriff der Identität und wies darauf hin, daß ein wesentlicher Grund für die gegenwärtige Unklarheit und Vorläufigkeit der lateinamerikanischen Bemühungen um Identität in einer fundamentalen Mehrdeutigkeit schon des Begriffs der Identität zu suchen ist. Eine besonders aktuelle Note erhielten die Arbeiten aus dem Bereich "Identität" durch das Referat von A. G6mez Lobo, Washington, der die europäischen Ursprünge der Theorie für die Praxis der Folter in mehreren lateinamerikanischen Ländern (argentinische Militärdiktatur und Chile) nachwies und sich dann in einer detaillierten Kritik der utilitaristischen Ethik auf der Grundlage der heutigen Menschenrechtstheorie für ein absolutes Verbot dieser Praxis aussprach. Einen interessanten Einblick schließlich in die für Brasilien typische Situation des akademischen Lehr- und Forschungsbetriebs auf dem Gebiet der Philosophie gewährte das Referat von A. De Boni, Porto Alegre. Aufgrund jahrhunderte währender Abhängigkeit von Portugal und seiner akademischen Lehrtradition befindet sich Brasilien erst seit der Mitte dieses Jahrhunderts auf dem Weg, die kolonial ererbte kulturelle Bindung an bestimmte Richtungen der europäischen Philosophie zu überwinden und eine eigenständige, wechselseitig begründete Zusammenarbeit zu suchen. Vielleicht gegen anfängliche Zweifel verdeutlichten so die wissenschaftlichen Beiträge und Diskussionen der "Werkstatt Philosophie" die Notwendigkeit eines "Dialogs" zwischen Lateinamerika und Europa. Klar war allerdings auch von vornherein, daß dieses konstruktive Gespräch bislang mehr eine Zukunftsaufgabe, eine Herausforderung darstellte, als eine Beschreibung wirklich bestehender Zusammenarbeit. Veröffentlichung der Kongreßbeiträge voraussichtlich im Spätherbst 1988 unter dem Titel: Im Dialog mit Lateinamerika. Menschenrechte und Entwicklung. Hrsg. von Fernando Inciarte / Berthold Wald.

Philosophie

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Tagungsprogramm

Montag, den 28. September 1987 Öffentliche Werkstattsitzung: Leitung: Prof.Dr. L. Siep Prof.Dr. J. Teran Dutari, S.J., Quito: Der europäische und der lateinamerikanische Mensch Prof.Dr. R. Brandt, Marburg: Die philosophische Begründung der Menschenrechte Öffentliche Vorträge: Leitung: Prof.Dr. F. Gerhardt Prof.Dr. O. Höffe, Fribourg: Pflichten und Rechte der Menschen, ein elementarer Tausch Prof.Dr. M. Kriele, Köln: Freiheit und Entwicklung. Gibt es eine Rangordnung der Menschenrechte?

Dienstag, den 29. September 1987 Leitung: Prof.Dr. H. Holz Werkstattsitzung: Geschichte des Naturrechts in Lateinamerika und Europa Dr.Dr. J.M. Beneyto, Luxembourg: Sind Menschenrechte universalisierbar? Prof.Dr. E.C. Frost, Mexico, D.F.: Die europäische Sicht des amerikanischen Menschen. (Von Kolumbus bis zu den ersten Franziskanern des Neuen Spanien) Prof.Dr. H. Pietschmann, Hamburg: Aristotelischer Humanismus und Inhumanität? Sepulveda und die amerikanischen Indianer Prof.Dr. L. Siep, Münster: Wie "eurozentrisch"ist das Menschenbild des neuzeitlichen Naturrechts? Prof.Dr. V. Gerhardt, Münster: Recht der Natur oder Recht der Vernunft?

Mittwoch, den 30. September 1987 Leitung: Dr. B. Wald Werkstattsitzung: Eigenständigkeit und Interdependenz der Kulturen Prof.Dr. B. Bravo Lira, Santiago: Indianorecht und Menschenwürde in Iberoamerika. Rechtsstellung von Land und Leuten Amerikas unter der spanischen Monarchie Dr.phi1.habil. E. Straub, Stuttgart: Pax - Libertas - Iustitia. Der europäische Friedensgedanke und die Entwicklung Lateinamerikas Prof.Dr. K. Cramer, Göttingen: Freiheit und Menschenrechte Prof.Dr. A. Pen a Cabrera, Lima: Europäische und Anden-Rationalität. Vergleich zweier Mentalitäten

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Werkstatt

Donnerstag, den 1. Oktober 1987 Leitung: Prof.Dr. F. Inciarte Werkstattsitzung: Das Problem der lateinamerikanischen Identität Prof.Dr. M. Skarica, Valparaiso: Der Einfluß der spanischen Scholastik auf die Entwicklung nationaler Eigenständigkeit in Lateinamerika A. Belaunde Moreyra,' Botschafter von Peru in Bern: Die Stellung Simon Bolivars im Kampf für die Unabhängigkeit Latein-Amerikas Prof.Dr. R. Maliandi, Buenos Aires: Kontinentale und Nationale Identität Prof.Dr. A. G6mez-Lobo, Washington, D.C.: Logik und Ethik der Folter Prof.Dr. L.A. De Boni, Porto Alegre: Die Rezeption europäischer Philosophie in Brasilien bis 1940 Univ.-Prof. Dr. Fernando Inciarte und Dr. Berthold Wald

Werkstatt: Lateinamerika und Europa in Bildung und .Medien! Wenn beim Kongreß "Lateinamerika und Europa im Dialog" Wissenschaftler gleicher oder verwandter Disziplinen zusammenkommen, um zu einem gemeinsamen Thema zu referieren beziehungsweise zu diskutieren, so kann man davon ausgehen, daß sie einander "verstehen": Sie kennen sich gegenseitig aus einschlägigen Publikationen, die zugrundeliegenden Wissenschaftssysteme und Denkkategorien stimmen mehr oder weniger überein, man bedient sich einer gemeinsam beherrschten Sprache, die Fachterminologie ist meist international. Damit wird wissenschaftliche Kommunikation möglich. Wie aber steht es um die Wahrnehmung der jeweils anderen Seite - Lateinamerikas durch die Europäer, Europas durch die Lateinamerikaner - bei den Nicht-Experten, bei der Masse der Bevölkerung? Welches Bild hat der Europäer von den Ländern Lateinamerikas und ihren Bewohnern und umgekehrt der Lateinamerikaner von Europa, auf welche Weise und durch welche Institutionen, Ereignisse, Informationsmittel wird dieses Bild geprägt, verändert, weiterentwickelt? Auf diese Fragen sollte die Werkstatt mit ihren unterschiedlichen Beiträgen eine Antwort versuchen. Die Arbeiten verfolgten damit auch die Frage, welche Basis eigentlich für einen Dialog zwischen Lateinamerika und Europa vorhanden ist - über die wissenschaftlich interessierten Zirkel hinaus. Die Beiträge lassen sich vier unterschiedlichen Bereichen zuordnen, die für eine solche Imagebildung als wichtig erkannt wurden: Presse, Schulunterricht/Schulbücher, wissenschaftliche (geographische) Forschung, außerschulische Information (Dritte-Welt-Gruppen). Zunächst kommt dem Schulunterricht eine große Bedeutung zu. Der Schulunterricht soll neben der Information (über Lateinamerika beziehungsweise Europa) vor allem Kriterien und Maßstäbe entwickeln, mit deren Hilfe das Informationsangebot etwa der Massenmedien aufgenommen und verarbeitet werden kann. Schulunterricht bezieht seine Inhalte und Zielsetzungen zum einen aus gesellschaftlichen Vorstellungen und Anforderungen, andererseits aus den Fragestellungen und Forschungsanliegen der entsprechenden wissenschaftlichen Disziplinen. Hieraus ergibt sich die Frage, in welchem Maße etwa 1 Teilveröffentlichung in "Internationale Schulbuchforschung" , Zeitschrift des Georg Eckert-Instituts, 10. Jg. (1988), Heft 2, Braunschweig.

Werkstatt

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Fragestellungen und Forschungsergebnisse der europäischen geographischen Lateinamerika-Forschung die Schulcurricula bestimmt haben - und damit das durch die Schule erzeugte Lateinamerika-Bild. Lernen über Lateinamerika vollzieht sich auch in den an vielen Orten existierenden "Dritte-Welt-Gruppen". Gemeinsam ist allen diesen Gruppen, daß sie mit der Unterstützung bestimmter Entwicklungsprojekte auch Informationsarbeit über Lateinamerika leisten.

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Presse

Generell kann den europäischen Zeitungen eine ausführliche und bemühte, allerdings nicht unbedingt kontinuierliche Berichterstattung über Lateinamerika bescheinigt werden (ausführlicher als über Afrika, nur in England und Frankreich steht Afrika vor Lateinamerika). Nach den spanischen bieten die Zeitungen der Bundesrepublik die meisten Informationen über Lateinamerika. Bei der Berichterstattung gibt es räumliche Schwerpunkte, etwa entsprechend Größe und Bedeutung der lateinamerikanischen Länder, aber auch Ausnahmen, etwa die faktische Nichtbeachtung von Venezuela seit vielen Jahren. Interessant (und teilweise erklärend für die Befunde) ist die "Infrastruktur" der Lateinamerika-Berichterstattung (10 europäische Zeitungen mit eigenen Korrespondenten, in wenigen großen Städten Lateinamerikas, einer sogar in den USA). Probleme der Berichterstattung: Weiterverbreitung bestehender Klischees, mangelnde (vor allem historische) Information sowie eine bestimmte vorgeprägte Haltung der Korrespondenten (z.B. "Solidaritäts-Journalismus"). Die Berichterstattung in Lateinamerika (Beispiele Peru, Brasilien) über Europa erweist sich als präzise und kontinuierlich. In Brasilien z.B.· rangiert Europa in den Meldungen weit vor allen lateinamerikanischen Ländern. Nach dem Tenor der Meldungen erscheint Europa als eine Region, die vor allem durch alte und vielseitige Kultur sowie wirtschaftlichen Wohlstand (mit kontrollierbaren Problemen) gekennzeichnet ist. Bemerkenswert ist das Bemühen um eine neutrale Berichterstattung politischer Zusammenhänge (was in umgekehrter Richtung nicht immer gilt). Die semantisch-linguistische Interpretation der in der Presse immer wieder auftauchenden "Figuren" (Beispiel Peru) erlaubt eine feinere Konturierung des vermittelten Europabildes.

Geographiedidaktik

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Schulbücher /U nterricht

Es lassen sich räumliche (vor allem Brasilien, Peru) und auch thematische Schwerpunkte (z.B. Erschließung, Städtewachstum/Bevölkerungswachstum) in den Erdkunde-Schulbüchern der BRD feststellen. Die Auswahl der Räume/Themen ist teilweise durch ihre Bedeutung, teilweise durch die Materiallage, teilweise zunächst nicht zu erklären. Die anhand von AfrikaThemen entwickelten Analyse-Instrumente (Fragen nach Europa-Perspektive, Euro- /Ethnozentrismus) können generell auch bei der Detailanalyse von Lateinamerika-Themen angewandt werden. In manchen Fällen erscheint das vermittelte Menschenbild äußerst problematisch. Aus der Sicht des Geschichtsunterrichts läßt sich eine seit etwa 1970 verstärkte Berücksichtigung von Lateinamerika-Themen feststellen (entsprechend einem Wandel der Forschungsperspektiven in der Geschichtswissenschaft), doch wird eine weitere Ausweitung/Neuaufnahme von Inhalten befürwortet. Es besteht Konsens in der Arbeitsgruppe, daß eine Integration der lateinamerikabezogenen Inhalte aus Geographie- und Geschichtsunterricht unbedingt wünschenswert ist. Schülerbefragungen zu Einstellungen/Wissen von Schülern zu Lateinamerika lassen leider generelle Zweifel an der Effektivität von Unterricht für die Erzeugung von Vorstellungen aufkommen. Die Präsenz Lateinamerikas im spanischen Schulunterricht ist erstaunlich gering (zur Zeit Franeos gab es noch ein eigenständiges Fach für die ehemaligen "Kolonialgebiete"), Afrika nimmt heute einen größeren Umfang ein. Interessant ist die Interpretation der Unabhängigkeitsbewegung in Lateinamerika, die als Erhebung gegen die fremdherrschaft Frankreichs im spanischen Mutterland und zugleich als Beginn des Niedergangs der lateinamerikanischen Länder verstanden wird. Trotz der insgesamt geringen Präsenz als Unterrichtsgegenstand ist das Vorhandensein eines "populären Image" zu registrieren, das je nach Bevölkerungsschicht unterschiedlich ist. Die Darstellung Europas/Deutschlands in Schulbüchern Latein amerikas (Beispiele Mexiko, Brasilien) ist recht differenziert, wobei in den neueren Büchern die kritische Einstellung zu (West- )Europa als "Kontinent des Überflusses" sowie die konsequent angewandte Unterteilung in ein sozialistisches und ein kapitalistisches Europa auffällt (Argentinische Schulbücher machen hier eine Ausnahme.). Eine didaktische Aufbereitung der Materialien (wie bei uns üblich) ist praktisch nicht zu erkennen.

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Werkstatt

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Wissenschaftliche geographische Forschung

Aufrallig ist der Unterschied in der Entwicklung der geographischen Lateinamerika-Forschung in den Niederlanden und in Deutschland: Während von deutschen Geographen erste Forschungsreisen nach Lateinamerika bereits in den 20er und 30er Jahren gemacht wurden, gab es noch in den 50er Jahren in den Niederlanden keinen Geographen mit Lateinamerika- Erfahrung. In der Gegenwart jedoch hat sich die Zahl der Hochschullehrer und Forschungsarbeiten mit Lateinamerika-Bezug dort stark erhöht. Es gibt ein interdisziplinäres Forschungsinstitut in Amsterdam (CEDLA). Es sind laufend Studierende mit den Feldarbeiten für ihre Diplomarbeiten in Lateinamerika (was nicht in gleichem Umfang für Deutschland gilt). Eine Bevorzugung bestimmter Länder bzw. bestimmter Probleme sind sowohl in den Niederlanden auch in Deutschland festzustellen. Die Geschichte der geographischen Forschung und Lehre in Argentinien spiegelt einen permanenten europäischen Einfluß. Dabei war ursprünglich der Einfluß der deutschen Geographie wichtig, in der Gegenwart ist es eher der Einfluß französischer Geographen (neben US-amerikanischem Einfluß). In Argentinien können drei unterschiedliche "Schulen" geographischer Forschung unterschieden werden mit je unterschiedlicher inhaltlicher Ausrichtung und regionaler Ausstrahlung. Ein engerer und dauerhafter Kontakt mit der derzeitigen deutschen geographischen Lateinamerikaforschung erscheint wünschenswert und nützlich.

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Information durch Dritte-Welt-Gruppen

Art und Bedeutung/Wirksamkeit der ARbeit solcher Gruppen wird einmal aus deutscher Sicht am Beispiel der Dritte-Welt-Gruppen im Gebiet von Münster und andererseits aus brasilianischer Sicht am Beispiel der Partnerschaft zwischen einer Gemeinde in Oelde und einer Basisgemeinde am Stadtrand von Säo Paulo beschrieben. Die Informationsmöglichkeiten sind vor allem in der Richtung von Lateinamerika nach Deutschland gegeben (durch Veranstaltungen, Reisen, Schriften), weniger in umgekehrter Richtung. Die Gefahr des Entstehens eines "Zerrbildes" (wegen der karitativen Ausrichtung der deutsl'hen Gruppen) ist nicht von der Hand zu weisen, kann jedoch wohl vermieden werden. Universitätsprofessor Dr. Jürgen Bünstorf