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German Pages 143 [144] Year 1977
Die KSZE und die Menschenrechte
STUDIEN ZUR DEUTSCHLANDFRAGE Herausgegeben vom Göttinger Arbeitskreis
BAND 2
Die KSZE und die Menschenrechte Politische und rechtliche Überlegungen zur zweiten Etappe
Mit Beiträgen von Dieter Blumenwitz . Georg Brunner Rupert Dirnecker . Wilhelm Grewe • Jens Hacker Boris Meissner • Hans·Peter Schwarz
DUNCKER & HUMBLOT I BERLIN
Die in dieser Reihe veröffentlichten Beiträge geben ausschließlich die Ansichten der Verfasser wieder.
Der Göttinger Arbeitskreis: Veröffentlichung Nr. 420
Alle Rechte vorbehalten
© 1977 Duncker &< Humblot, Berlln 41
Gedruckt 1977 bei Berliner Buchdruckerei Union GmbH., Berlln 61 Printed in Germany ISBN 3 428 04042 2
INHALT
Was können wir von der Überprüfungskonferenz in Belgrad erwarten? Von Prof. Dr. Hans-Peter Schwarz, Direktor des Forschungsinstituts für Politische Wissenschaft und Europäische Fragen der Universität Köln ..............................................................
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Zu den Problemen des überprüfungstreffens der KSZE in Belgrad Von Rupert Dirnecker, Vortragender Legationsrat 1. K1. Bonn . . . . . . ..
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Bemerkungen zu einer Bilanz der KSZE-Ergebnisse Von Prof. Dr. Wilhelm Grewe, Botschafter a. D. ......................
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Die völkerrechtlichen Aspekte der KSZE-Schlußakte Von Prof. Dr. Dieter Blumenwitz, Universität Würzburg . . . . . . . . . . . . ..
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Die allgemeinen Menschenrechte in den UN-Menschenrechts-Konventionen und in der KSZE-Schlußakte Von Dr. Jens Hacker, Institut für Ostrecht an der Universität Köln. . ..
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Die östliche Menschenrechtskonzeption Von Prof. Dr. Georg Brunner, Universität Würzburg
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Das Selbstbestimmungsrecht der Völker nach Helsinki und die sowjetische Selbstbestimmungskonzeption Von Prof. Dr. Boris Meissner, Direktor des Instituts für Ostrecht an der Universität Köln .............................................. 115
Die Beiträge dieses Bandes fußen auf Vorträgen, die auf der Wissenschaftlichen Jahrestagung des Göttinger Arbeitskreises am 21. und 22. April 1977 in Mainz gehalten wurden.
WAS KÖNNEN WIR VON DER üBERPRüFUNGSKONFERENZ IN BELGRAD ERWARTEN? Von Hans-Peter Schwarz Meine überlegungen über die Aussichten der überprüfungskonferenz in Belgrad habe ich wie folgt gegliedert: -
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in einem ersten Teil (I) werde ich die heute schon recht gut erkennbaren Positionen der Staatengruppen und Staaten skizzieren, die sich in Belgrad zusammenfinden: der Warschauer Pakt-Staaten, der EG- und NATO-Gruppe, sowie der Neutralen und Blockfreien; in einem zweiten Teil (II) wird zu erörtern sein, wie es gegewärtig um die Entspannungspolitik steht und welchen Stellenwert die KSZE in diesem Zusammenhang hat; in Verbindung damit ist drittens (II1) zu fragen, welche Funktion die Menschenrechtsfrage im gegenwärtigen Ost-West-Dialog erhalten sollte. Sie ist durch zwei voneinander unabhängige Vorgänge zu einem Zentralthema der Ost-West-Beziehungen geworden: durch die Aktivität der östlichen Menschenrechtsbewegung und durch den Wahlsieg von Präsident Carter. Und es wird zu prüfen sein, ob es angebracht wäre, auf der überprüfungskonferenz einen stärkeren Akzent in der Menschenrechtsfrage zu setzen, als dies den westeuropäischen Regierungen gegenwärtig opportun erscheint. 1.
Gegenüber der Konstellation in den Jahren 1966 -1975 hat sich die Lage in paradoxer Weise verändert. Damals waren die Warschauer Pakt-Staaten, geführt von Breshnjew, demandeur; die westlichen Demokratien scheuten - zu Recht - vor der Konferenz zurück. Als sie schließlich in die Zusammenkunft eingewilligt hatten, taten sie ihr Bestes, für einen in jeder Phase kontrollierten und moderierten Ablauf zu sorgen. Heute gehen die westlichen Demokratien als demandeur nach Belgrad; der Ostblock ist in der politischen Defensive. Alle Anzeichen deuten darauf hin, daß die Sowjetunion eine kurze Konferenz von niedrigem politischen Stellenwert mit dementsprechend wenig substantiellen Ergebnissen ansteuert.
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Die Gründe dafür sind offensichtlich: das ursprüngliche östliche Konzept, das eine offensive Bewegungspolitik ermöglichen sollte, ist schon bei der Vorbereitungskonferenz von Mitte 1972 bis Mitte 1973 im prozeruralen Konzept der westeuropäischen Neunergruppe steckengeblieben, die auch von den Neutralen unterstützt wurde. Es gelang dem Ostblock nicht, die Ablösung der USA von Westeuropa zu induzieren oder die Auflösung der NATO und der EG bei stufenweiser Ersetzung durch ein gesamteuropäisches Regionalsystem in die Wege zu leiten. Doch auch die defensiven Komponenten des östlichen Konzepts, die auf eine völkerrechtliche Festschreibung der Grenzen und auf eine Bestandsgarantie der sozialistischen Systeme hinausliefen, sind gescheitert. Schon im August 1975 ließ sich erkennen, daß die westlichen Demokratien in Helsinki einen Defensiverfolg errungen hatten. Allerdings konnte man damals noch nicht voll absehen, daß die Schlußakte ein so nützliches Instrument dynamischer westlicher Ostpolitik werden würde, wie es sich seither gezeigt hat. Die östlichen Bürgerrechtler haben sich damals zumeist ebenso getäuscht wie die entschlossenen antikommunistischen Kräfte des Westens. Das E.C.S.C.-Komitee in den USA, das im November 1976 eine Informationsreise in 18 europäische Staaten durchführte und auch mit verschiedenen emigrierten Dissidenten sprach, berichtet von einem Gespräch mit Andrei Sinyavski in Paris, der erzählte, er habe geweint, als er die Schlußakte zuerst gelesen habe, weil er darin nur einen weiteren Schritt auf dem Wege der Preisgabe der unterdrückten Völker des Ostens durch den Westen gesehen habe. Bei wiederholtem Lesen und überdenken der Schlußakte sei er aber zu entgegengesetzten Schlußfolgerungen gekommen. Sie erscheine ihm jetzt ein Instrument, um der Freiheitsbewegung in den totalitären Gesellschaften des Ostens zu helfen. Wir wissen, daß die unterschiedlich starken Bürgerrechtsbewegungen in der UdSSR, in der CSSR, in Polen, in der DDR und in Rumänien im Lauf des Jahres 1976 zu denselben Schlußfolgerungen gelangt sind. Dies hatte zur Folge, daß die Schlußakte heute zu einer Quelle der Verlegenheit für die kommunistischen Regierungen geworden ist. Was als Instrument der politischen Offensive bzw. der Stabilisierung des Ostblocks konzipiert war, ist - weitgehend aufgrund der tapferen Aktivität der östlichen Dissidenten - zu einem Faktor geworden, dessen langfristige Auswirkungen noch gar nicht absehbar sind. Innenpolitisch haben jene Gruppen (nicht zuletzt die bedrängten christlichen Kirchen und Religionsgemeinschaften) in der Schlußakte ein Dokument, auf das sie sich streng legalistisch berufen können: schließlich trägt die Schlußakte die Unterschriften der Parteichefs Bresh-
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njew, Gierek, Honecker, Tito. Im Feld der internationalen Politik aber haben die östlichen Partei- und Staatschefs durch ihre Unterschrift bekräftigt, daß die Menschenrechtsfrage ein legitimer Tagesordnungspunkt im Ost-West-Dialog ist, den auch die nicht-sozialistischen Regierungen zur Sprache bringen dürfen. Dementsprechend dürfte der Ostblock bestrebt sein, den Charakter einer überprüfungskonferenz möglichst herunterzuspielen. Gerade die letzte Stellungnahme des Konsultativkomitees der Warschauer PaktStaaten in Moskau sowie die neueste Kritik an Präsident Carter zeigte deutlich die Tendenz, den anderen Unterzeichnerstaaten mit größtem Nachdruck klarzumachen, daß intensives Insistieren auf einer überprüfung der Vereinbarungen aus Korb 3 und auf der Menschenrechtsfrage (also v. a. Prinzip VII) als entspannungsfeindlich angesehen und entsprechend hart konterkariert würde. Der Ostblock macht klar, daß die KSZEüberprüfungskonferenz in diesem Fall die ohnehin schon vielfach belasteten Ost-West-Beziehungen zusätzlich verschlechtern würde. Demgegenüber wird der Ausweg gesucht, die Thematik auszuweiten. Dem soll die Ingangsetzung neuer, großer und bisher noch recht vager Entspannungsprojekte dienen (Umweltschutz-, Verkehrs-, Rohstoffkonferenzen), die von Breshnjew erstmals im Dezember 1975 vorgeschlagen wurden. Daneben soll der Vorschlag eines no first use-Abkommens die bisher recht belanglose sicherheitspolitische Substanz des KSZE-Unternehmens etwas anreichern. Er könnte, so hoffen die Warschauer PaktStaaten, innerhalb der westlichen Staaten wenn möglich erneut die Diskussion über die Frage militärischer Nutzung der Kernwaffen aufwerfen. Also einerseits Ablenkung von den problematischen Punkten der Erfüllung und erneute Öffnung umfassender Zukunftshorizonte, die aber noch ziemlich leer sind; andererseits Wiederaufgreifen traditioneller sicherheitspolitischer Ideen, die für den Westen unannehmbar sind, dort eventuell zu inneren Divergenzen führen und so die eigene Position verbessern können. Auch die Strategie der EG-Staaten liegt in den Grundzügen fest, wobei es für das gute Funktionieren der EPZ-Zusammenarbeit spricht, daß diese Grundzüge zu einem Gutteil auf die Arbeit der für EPZ zuständigen desk officers zurückgehen. Die EG- und NATO-Staaten sind entschlossen, das Erfolgsrezept der KSZE-Vorbereitungs- und Hauptkonferenz erneut zu wiederholen. Sie wollen in einem abgestimmten Verbund operieren, der auch eine gewisse Arbeitsteilung erlaubt. Wir werden noch darauf einzugehen haben, ob die prinzipielle übereinstimmung hinsichtlich des Grundsatzes konzertierter Aktion auch schon Konsensus über die Akzentsetzungen bedeutet.
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Es gibt Anzeichen dafür, daß die USA die Menschenrechtsfrage mit wesentlich größerer Entschiedenheit in den Mittelpunkt der Konferenz rücken möchten als die EG-Staaten. Immerhin: die Notwendigkeit konzertierter Aktion wird gesehen und anerkannt, denn man erinnert sich daran, daß die sorgfältige Vorbereitung und die Geschlossenheit der EG- und NATO-Staaten während der KSZE-Konferenz auch die meisten Neutralen und einen Teil der Blockfreien für die westlichen Positionen gewinnen konnte. Und der bisher bleibende Erfolg der KSZE für den Westen bestand darin, daß die bis Anfang der 70er Jahre weitgehend bilaterale Entspannungspolitik multilateralisiert wurde. übereinstimmung besteht auch darüber, daß die KSZE in erster Linie eine Folgekonferenz sein muß. Im Mittelpunkt hat also die Schlußakte in allen ihren Teilen und die Frage zu stehen, wie sie erfüllt bzw. nicht erfüllt worden ist. Zwar wird im Anschluß an die Erörterung über die Erfüllung der Schlußakte in ihren einzelnen Sektionen auch - wie das Kommunique des NATO-Ministerrats vom Mai 1977 ausführt - über die "Weiterentwicklung des Entspannungsprozesses in Zukunft" gesprochen werden können. Aber man wird keine Ablenkungsmanöver vom Thema mitmachen. Hauptziel ist: die Sicherung der Erfüllung und die Diskussion darüber, wo die Erfüllung verbessert werden kann. Dabei wird auch die Erfüllung der Vereinbarungen bezüglich der allgemeinen Menschen- und Bürgerrechte zu diskutieren sein, wobei sich hier Prinzip VII aus dem Prinzipiendekalog als natürlicher Ansatzpunkt anbietet. Sorgfältige und umfassende überprüfung setzt voraus, daß die Körbe organisatorisch gleich behandelt werden; es erfordert auch, daß die Teilnehmerstaaten frei sind, im Hinblick auf die einzelnen Teile der Schlußakte jeweils jene Fragen aufzuwerfen, die ihnen wesentlich erscheinen. Sollte der Ostblock darauf beharren, das Thema eines no first useAbkommens auf der Konferenz selbst entschieden zur Sprache zu bringen, so wird ihm klargemacht werden, daß dieser Vorschlag nicht konsensfähig ist. Wenn Staaten, die eine allgemeine Gewaltverzichtsvereinbarung unterschrieben haben, dann auch noch einen Vertragsentwurf vorlegen, in dem spezielle Formen der Gewaltanwendung (also Einsatz von Kernwaffen) geächtet werden, so wirft das auf ihre Einschätzung der allgemeinen Gewaltverzichtsvereinbarung kein besonders günstiges Licht. Was hier vorgeschlagen wird, ist tatsächlich in der Schlußakte schon enthalten. Neue umfassende Vereinbarungen sollen nicht ausgearbeitet werden. Und das östliche Bestreben, neue Foren für den Ost-West-Dialog zu schaffen, wird erst einmal auf Zurückhaltung stoßen.
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Protokollarisch soll die KSZE entsprechend den Beschlüssen von Helsinki einen deutlich niedrigeren Stellenwert erhalten als die erste KSZE; auch dies ein Indiz dafür, daß v. a. eine überprüfung beabsichtigt ist - selbst wenn die EG-Staaten das Wort überprüfung wohl nicht demonstrativ verwenden wollen, um die sozialistischen Staaten nicht von vornherein zu skandalisieren. Die öffentliche Meinung in den USA und Westeuropas, die Gruppen der Menschenrechtsbewegung in Osteuropa und Präsident Carter zwingen die westeuropäischen Regierungen, der Belgrader Konferenz einen wesentlich höheren politischen Stellenwert zu geben als die östlichen Staaten wünschen. Schon die vorbereitende Zusammenkunft findet vielmehr Aufmerksamkeit als dies sonst derlei Ereignissen zuteil wird, die der diplomatische Kalender vorschreibt. Und der Erwartungsdruck wird noch zunehmen, denn die bedrängten Gruppen der östlichen Menschenrechtsbewegung, ihre in den Westen exilierten Vorkämpfer und ihre Freunde in der öffentlichen Meinung des Westens sehen in der Belgrader Konferenz eine einzigartige Gelegenheit, ihre Sache vor dem denkbar breitesten Forum zur Sprache zu bringen. Wie schon 1972 und 1973 geht also die östliche und die westliche Staatengruppe mit sehr unterschiedlichen Erwartungen und Strategien zur Konferenz. Ähnliches gilt für die Neutralen und die Blockfreien. Jugoslowien, das zwar das offenste und liberalste aller sozialistischen Länder ist, mußte sich doch von Milovan Djilas sagen lassen, selbst in den schlimmsten Jahren der Repression unter der Monarchie habe es im Lande nicht so viele politische Gefangene gegeben wie heute, im Jahr 1977. Dementsprechend wendet sich die Gastgeberregierung ziemlich entschieden dagegen, in Belgrad einen starken Menschenrechtsakzent zu setzen - man wird also die jugoslawische Delegation in wichtigen Fragen sehr viel näher an der Seite der Ostblock-Regierungen finden als während der KSZE. Rumänien, das sich zwischen 1972 -1975 in Richtung auf einen blockfreien Status zu bewegen suchte, steht, was die Unterdrückung der Menschenrechtsbewegung betrifft, Seite an Seite mit der Sowjetunion, Polen und der CSSR. Finnland wird sich gezwungenerweise, wenn auch recht unbehaglich, klein machen, um jeden Dissens mit der Sowjetunion zu vermeiden. Demgegenüber kann man erwarten, daß Österreich, Schweden und die Schweiz gerade im Zeichen der grundsätzlichen Auseinandersetzung über die Menschenrechte wie schon zwischen 1973 - 1975, wahrscheinlich noch mit größerer Entschiedenheit, auf der Linie der EG- und NATO-Staaten stehen werden. Für den wahrscheinlichen Verlauf der Konferenz kann man aus diesen Beobachtungen der Ausgangslage die folgenden Schlußfolgerungen ziehen:
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1. Die Tendenz zu einer ideologischen Polarisierung der Teilnehmerstaaten in zwei großen Lagern - freiheitliche Demokratien versus sozialistische Staaten - ist größer als auf der KSZE. Das Klima hat sich bemerkenswert verändert. Trotz aller Gegensätze waren sich 1972 -1975 alle Beteiligten darin einig, daß die KSZE zu einer wie auch immer gearteten Normalisierung und Entspannung im Zusammenleben zwischen den Staaten verschiedener Systeme führen müßte. Dies ist heute nicht mehr so sicher. Zwar erklären noch alle Regierungen im feinsinnigen Understatement der Diplomatensprache, daß sie auf ein "konstruktives Ergebnis" hinarbeiten möchten. Aber die Tendenz ist stark, das Gegensätzliche stärker hervorzuheben als das Gemeinsame, und da ja Belgrad in der Tat eine Kontrollstation im Entspannungsprozeß ist, wird der Blick ganz naturgemäß viel stärker auf das viele Nichterfüllte und Trennende, als auf die löblichen Vorhaben gelenkt.
2. Im westlichen Lager ist zwar bezüglich des prozeduralen Konzepts, das in Belgrad verfolgt werden soll, soweit man sieht, ziemliche übereinstimmung erreicht. Doch scheint mir zwischen den USA und den westeuropäischen EG-Staaten noch keine Einigkeit darüber zu bestehen, wie die Grundlinie operativ zu gestalten ist und mit wieviel Entschiedenheit die östlichen Menschenrechtsverletzungen offen zur Sprache gebracht werden sollen - vor allem auch die Verfolgung jener Gruppen und Individuen der Menschenrechtsbewegung, deren Verbrechen in zweierlei besteht: erstens darin, die eigenen Regierungen anzumahnen, doch gefälligst die freiwillig eingegangenen Verpflichtungen der Schlußakte einzuhalten, und zweitens darin, daß sie - wiederum gestützt auf die Schlußakte - in Ermangelung einer freien öffentlichen Meinung westliche Korrespondenten über konkrete Menschenrechtsverletzungen in ihren Ländern unterrichten. In diesem Zusammenhang geht es also im wesentlichen um das Prinzip VII des Prinzipienkatalogs der Schlußakte. Damit verbunden ist auch ein mehr taktisches Problem. Ist es besser, östliche Nichter,füllung oder Verletzungen der Vereinbarungen von Korb 3 (aber auch der Vereinbarungen nach Korb 2) sowie die ganz offenkundigen Interpretationsdifferenzen in bezug auf die Prinzipien, öffentlich und mit einiger Entschiedenheit zu kritisieren, oder wäre es der Sache dienlicher, dies durch flexible Diplomatie in nichtöffentlichen Sitzungen abzuhandeln - also die Differenzen in camera caritatis zur Sprache zu bringen? Worum es dabei geht, läßt sich gut am Beispiel der Diskussion verdeutlichen, die sich gegenwärtig in der Bundesrepublik zwischen Bundesregierung und CDU/CSU-Opposition abspielt.
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Obwohl die KSZE-Schlußakte die Beziehungen zwischen den europäischen Staaten in allgemeiner Form anspricht, war und ist es allen Beteiligten bewußt, daß es im Rahmen der Entspannungspolitik auch eine ganze Anzahl spezifischer deutscher Probleme gibt. Das gilt nicht nur für die Frage der Grenzen und das Problem der Nichteinmischung, wo die Warschauer Pakt-Staaten natürlich in erster Linie bestrebt waren, ihre bekannten Positionen durchzusetzen - ohne Erfolg übrigens. Es gilt auch für viele Materien, die in Korb 3 angesprochen sind. In Korb 3 ist unter Abschnitt 1 a beispielsweise eine Verpflichtung enthalten, Kontakte und regelmäßige Begegnungen auf der Grundlage familiärer Bindungen zu verbessern, sowohl was die Genehmigung von Reisen wie auch was die Zeitdauer angeht, in der Visa erteilt werden, wie auch bezüglich der Gebühren. Es liegt auf der Hand, daß diese Bestimmung in erster Linie für die Menschen im geteilten Deutschland von Bedeutung ist, wo immer noch in zehntausenden von Familien, die in der DDR bzw. der Bundesrepublik wohnen, größere oder kleinere menschliche Tragödien nach Milderung verlangen. Nur einige Zahlen zur Illustration: 1975 und 1976 sind rd. 3,1 Millionen Westdeutsche in die DDR gereist sowie weitere 1,4 Millionen Bundesbürger, die 1975 von West-Berlin aus zu Tagesaufenthalten nach Ost-Berlin gefahren sind, wo sie Verwandte oder Freunde besuchen - also insgesamt 4,5 Millionen Reisen von West nach Ost. Demgegenüber konnten im gleichen Zeitraum nur 1,33 Millionen Personen im Rentenalter die Bundesrepublik besuchen. Personen unterhalb des Rentenalters dürfen nur zu genau bezeichneten Anlässen ausreisen - in dem genannten Zeitraum waren es ca. 40 000. Man kann davon ausgehen, daß es sich bei den Ost-West-Reisen in den meisten Fällen um Familienbesuche handelt - wobei eben die Besuche von Ost nach West ganz entscheidend eingeschränkt sind. Aber die Zahlen zeigen die Größendimension dieses menschlichen Problems. Ein weiterer Punkt ist die Familienzusammenführung. 1976 sind etwas über 10000 Personen legal aus der DDR in die Bundesrepublik übergesiedelt; davon etwa 5 000 unterhalb des Rentenalters. Es liegen aber Berichte vor, daß 1976 etwa 100000 Antragsteller - oft unter Berufung auf die KSZE-Schlußakte - die legale übersiedlung in die Bundesrepublik beantragt haben. Danach hätten also von 1 000 DDR-Bürgern 7 ein schriftliches Gesuch auf dauernde übersiedlung in die Bundesrepublik gestellt. Solche Gesuche wurden 1976 von den DDR-Behörden, möglicherweise auch aufgrund der KSZE-Vereinbarungen, vergleichsweise großzügiger behandelt als früher; seither ist eine stark restriktive Praxis zu beobachten.
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Doch die Frage der Familienzusammenführung betrifft auch unser Verhältnis zu anderen Ostblockstaaten. In Rumänien etwa leben noch ca. 400000 deutschsprachige Bürger, knapp 2 °/0 der Bevölkerung. 1976 sind ca. 3 000 ausgereist. Auch unter ehemaligen deutschen Staatsbürgern in der Sowjetunion und unter den etwa 2 Millionen Wolgadeutschen, die allerdings nie deutsche Staatsangehörige waren, aber als diskriminierte Minderheit leben müssen, sind seit längerem lebhafte Bestrebungen im Gang, in die Bundesrepublik zu emigrieren - dies ist ein ähnliches Phänomen wie im Fall der sowjetischen Juden, von denen viele nach Israel emigrieren möchten. 1976, im Gefolge der KSZE, konnten immerhin über 13000 Deutschsprachige aus der UdSSR in die Bundesrepublik übersiedeln. Am schwierigsten liegt das Problem im Hinblick auf Polen. Nach diffizilen Verhandlungen hat die polnische Regierung im März 1976 einer Vereinbarung zugestimmt, nach der in den kommenden 4 Jahren 120000 bis 125 000 deutschsprachige Antragsteller ausreichen dürfen. Die Bundesrepublik verpflichtete sich im Gegenzug zur Zahlung einer Entschädigung für Abgeltung von Ansprüchen auf dem Gebiet der Renten- und Unfallversicherung in Höhe von 1,3 Mrd. sowie zu einem Finanzkredit von 1 Mrd. DM zum Zinssatz von 2,5 °/0 bei einer Laufzeit von 25 Jahren. Die Ausreisevereinbarung wurde am Rande der Konferenz von Helsinki getroffen. Die Bundesregierung argumentiert nun, und zwar nicht ganz ohne Grund, daß diese Vielzahl menschlicher Probleme und Tragödien, die nur teilweise unter Berufung auf Korb 3 behandelt werden können, vielfach aber auch außerhalb der dort getroffenen Vereinbarungen liegen, am besten durch diskrete Diplomatie angepackt werden kann. Meist sind dafür bilaterale Vereinbarungen erforderlich, wie sie in einer ganzen Reihe von Fällen am Rande der KSZE getroffen werden konnten. Es besteht auch die Hoffnung, diese Fragen in pragmatischer Weise auf der KSZE-überprüfungskonferenz voranzubringen. Zweifellos stellt die KSZE-Schlußakte im Hinblick auf solche und andere menschliche Fragen ein sehr nützliches Instrument dar. Vieles auf diesem Feld kann heute gegenüber den Ost-Staaten über die diplomatischen Kanäle angesprochen werden, was früher nicht möglich war. Dies erklärt es jedenfalls, weshalb die Bundesregierung mit einigem Nachdruck die Meinung vertritt, die überprüfungskonferenz müßte so ablaufen, daß Konfrontationen und unfruchtbare ideologische Auseinandersetzungen vermieden werden. Daneben gibt es aber eine ganze Reihe von Fragen direkt politischer Natur, für die sich der diskrete Ansatz weniger eignet. Dazu zählen auch Materien aus Korb 3. So sind beispielsweise in zwei stark beachte-
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ten Fällen westdeutsche Korrespondenten aus der DDR wegen ungeschminkter Berichterstattung ausgewiesen worden. In dem einen Fall, der sich einige Monate nach Unterzeichnung der KSZE-Schlußakte ereignete, war Herr Mettke, ein Korrespondent des "Spiegel" davon betroffen. Er wurde ausgewiesen, weil sein Magazin wahrheitsgemäß darüber berichtete, daß Kinder von Eltern, die aus der DDR geflohen waren, auf staatliche Weisung hin zwangsadoptiert wurden. Im Fall des im Dezember 1976 a.usgewiesenen ARD-Fernsehredakteurs Loewe nahm die DDR-Regierung daran Anstoß, daß Loewe in einem aus der DDR gesendeten Fernsehbericht feststellte: "Die Zahl der Verhaftungen aus politischen Gründen nimmt im ganzen Land zu. Ausreiseanträge von DDR-Bürgern werden inuner häufiger in drohender Form abgelehnt. Hier in der DDR weiß jedes Kind, daß die Grenztruppen den strikten Befehl haben, auf Menschen wie auf Hasen zu schießen." In solchen Fällen hängt die Gewährleistung freierer journalistischer Berichterstattung nach Korb 3 eng mit der allgemeineren Menschenrechtsfrage zusammen. Natürlich gilt alles, was von den Unterzeichnern der Charta 77 über die Menschen- und Bürgerrechtsverletzungen in der CSSR gesagt wurde, auch für die DDR. Ein Zentralproblem ist dabei die Diskriminierung von gläubigen christlichen Familien in der DDR, deren Kinder auf der Oberschule mit Schwierigkeiten zu rechnen haben und in einer Reihe bekannt gewordener Fälle nicht studieren durften. Lehrer warnen die Eltern davor, ihre Kinder an der christlichen Unterweisung teilnehmen zu lassen; diese müssen sich häufig heimlich zur christlichen Unterweisung schleichen. Das ist freilich nicht nur ein Problem der DDR, sondern der sozialistischen Systeme generell. Wenn es um derartige Grundsatzfragen geht, hilft naturgemäß der diskrete diplomatische Ansatz nichts. Hier kann in der Tat nur eine gewisse Verbesserung erreicht werden, wenn starker Druck der öffentlichen Meinung des Westens in Verbindung mit offener Sprache der Regierungen erfolgt. Die CDU/CSU-Opposition denkt an derartige Problemfelder, wenn sie von der Bundesregierung verlangt, diese solle eine "Dokumentation über Menschenrechtsverletzungen in Deutschland und an Deutschen" veröffentlichen und diese auch in die Vorbereitung der KSZE-Überprüfungskonferenz im Neuner-Rahmen einbringen. In der Tat lassen sich auch für diesen Ansatz gute Argumente ins Feld führen. Die Bundesregierung sträubt sich aber aus zweierlei Gründen dagegen: Einmal deshalb, weil sie durch eine derartige Dokumentation von der These, die "neue Ostpolitik" habe auch in der DDR und im Verhältnis zur DDR zu einer Normalisierung geführt, teilweise selbst widerlegen würde; zum zweiten aber unter Verweis darauf, daß bei
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einem Hochspielen der Menschenrechtsverletzungen und der ideologischen Unvereinbarkeiten die stille Diplomatie gestört würde. Die eDU/ eSU-Opposition wird deshalb eine eigene Dokumentation erarbeiten und rechtzeitig veröffentlichen. Diese Auseinandersetzung zwischen den politischen Parteien in der Bundesrepublik zeigt aber beispielhaft, wo die Schwierigkeiten für die gesamte westliche Strategie bei der KSZE-überprüfungskonferenz liegen. Auf westlicher Seite wird eben immer noch darum gerungen, ob die Gangart auf der überprüfungskonferenz hart oder weich sein soll, ob die dem Osten unangenehmen Themen wohlverpackt in einer langen Traktandenliste oder mit dem Schwerpunkt auf bestimmten kontroversielIen Fragen angesprochen werden sollen. Die diesbezügliche Diskussion in der Bundesrepublik ebenso wie in anderen westlichen Demokratien leidet freilich bis heute darunter, daß die Strategie-Diskussion in bezug auf die Belgrader Konferenz mit verengter Perspektive geführt wird und sich vorwiegend auf die Frage beschränkt, ob die östlichen Regierungen ihren Verpflichtungen aus der Schlußakte nachgekommen sind und wie man erreichen könnte, daß sie diese ernster nehmen. Dabei wird oft übersehen, daß die KSZE nur ein Teilelement aus dem sehr viel umfassenderen Gesamtkontext der Ost-West-Beziehungen wie der Menschenrechtsproblematik ist. Man muß also vor allem auch fragen: 1. Welchen Stellenwert kann und soll die Belgrader überprüfungskonferenz in den Ost-;West-Beziehungen generell haben?
2. Welche Bedeutung hat eigentlich die Menschenrechtsfrage für die Politik der westlichen Demokratien und was ergibt sich daraus für die Konferenzstrategie und Taktik in Belgrad? H.
Die kommende überprüfungskonferenz in Belgrad fällt in eine Periode der Stagnation und kritischer Verschlechterung der Ost-West-Beziehungen. Diese Verschlechterung hat viele Gründe, deren negative Auswirkungen heute zusammenfallen. Stichwortartig seien nur die wichtigsten genannt: 1. In den westlichen Regierungen ist die Erkenntnis inzwischen Gemeingut, daß die Sowjetunion die Ära der Entspannungspolitik unter Nixon / Kissinger und Breshnjew dazu benützt hat, eine Position militärischer überlegenheit zu erreichen. Im nuklearstrategischen Bereich hat sie zumindest Parität erreicht. In Zentraleuropa und Nordeuropa hat sie ihre konventionellen und die nuklear gerüsteten Streitkräfte quali-
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tativ und quantitativ so eindrucksvoll verstärkt, daß den NATO-Streitkräften heute eine überwältigende Offensivkapazität gegenübersteht. Der in den USA stark beachtete Nunn / Bartlett Report vom Januar 1977 stellte fest: "It is the central thesis of this report that the Soviet Union and its Eastern European allies are rapidly moving towards a decisive military superiority over NATO." Parallel dazu ist eine intensive übersee-Expansion im Gange, vor allem in Afrika, in Verbindung mit dem neuen Navalismus der Sowjetunion. Auch die westliche Öffentlichkeit wird mehr und mehr auf die geänderten Stärkeverhältnisse aufmerksam. Die Entspannungspolitik hat bisher keine sicherheitspolitische Rendite abgeworfen, und jeder Kenner der offiziellen östlichen Entspannungsdoktrin weiß, daß die kommunistischen Regierungen die Entspannungsbereitschaft des Westens in erster Linie als Ergebnis ihrer wachsenden Stärke deuten. 2. Die Erwartungen, die in Ost und West an die Intensivierung des Ost-West-Handels geknüpft wurden, haben sich nur teilweise erfüllt. Die Intensivierung des Handels hat keine politische Rendite abgeworfen; außerdem ist die Ausweitung des Handelsvolumens nunmehr an einer natürlichen Grenze angelangt, die daraus resultiert, daß die Staatshandelsländer einen Teil ihrer Importe aus dem Westen über westliche Kredite finanzieren müssen und andererseits nur in begrenztem Maß Waren liefern können, die auf den westlichen Märkten absetzbar sind. 3. Die Ölkrise des Winters 1973/74 und die folgenden Nord-Süd-Verhandlungen haben das Interesse der westlichen Demokratien an der Ostpolitik abgelenkt; heute erscheinen die mit dem Schlagwort Nord-SüdBeziehungen gekennzeichneten Probleme vordringlicher als die Verbesserung der Ost-West-Beziehungen. Die Entspannungspolitik steht nicht mehr an der Spitze des Prioritätenkatalogs. 4. Die weltweite Rezession hatte zur Folge, daß sich die westlichen Staaten seit einigen Jahren primär mit sich selbst beschäftigen müssen: sowohl mit wirtschaftlichen und politischen Krisenerscheinungen im Innern wie mit der Gestaltung der wirtschaftlichen Beziehungen untereinander. Zudem finden gegenwärtig in zwei Schlüsselstaaten der NATOAllianz (in Italien und in Frankreich) innenpolitische Verschiebungen statt, die höchste Aufmerksamkeit beanspruchen. Auch dies hat die OstWest-Beziehungen in den Hintergrund treten lassen. 5. Die Entspannungspolitik ist aber auch im politisch-ideologischen Bereich an eine natürliche Grenze gestoßen. Die östlichen Dissidenten haben die westlichen Gesellschaften unüberhörbar darauf hingewiesen, was Entspannungspolitik ist: prekäre Koexistenz im Interesse der Friedenserhaltung mit autokratischen Regierungen, die ihre Völker unter2 KSZE
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drücken, ihre Dissidenten in Irrenanstalten stecken oder sonstwie verfolgen und sich vorbehalten, die politische Auseinandersetzung mit dem Westen auch im Zeichen der Entspannung fortzusetzen. Seit 1973 Solchenizyns Archipel GULAG erschien, seit Professor Sacharow seinen berühmten Brief an den amerikanischen Kongreß geschrieben hat und vor allem seit die östlichen Bürgerrechtsbewegungen in den Jahren 1976 und 1977 unter Berufung auf die KSZE-Schlußakte den Westen auf die wahre Natur der östlichen Entspannungspartner hinweisen, ist die innenpolitische Basis westlicher Entspannungspolitik einer zunehmenden Erosion verfallen. Im Westen, vor allem auch in den USA, wird man sich in zunehmendem Maß darüber klar, daß sich die herrschenden Klassen in den sozialistischen Staaten einen dynamischen Entspannungsprozeß weder leisten können noch leisten wollen, weil er die Stabilität ihrer System untergräbt. So geht die gegenwärtige Stagnation der Entspannungspolitik in starkem Maß darauf zurück, daß sie mit östlichen Partnern durchgeführt ,werden muß, deren altmodisch-autokratisches Regierungssystem: von den gebildeten und kulturell fortgeschrittenen Bevölkerungen in Polen, der CSSR, Ungarn, der DDR abgelehnt wird und deren Wirtschaftssystem im ganzen wenig leistungsfähig ist. Die strukturelle Instabilität eines Hegemonialsystems, das letzten Endes allein auf der Macht der sowjetischen Militärmaschine und auf der Wirksamkeit politischer und polizeilicher Kontrolle beruht, setzt der Entspannungspolitik objektive Grenzen. Dies wurde Ende der 60er und Anfang der 70er Jahre noch weniger deutlich gesehen als heute. Das gilt übrigens auch für die Beziehungen zwischen der Bundesrepublik und der DDR sowie für die Berlin-Frage; auch hier mußte man einsehen, daß es mit den Verbesserungen bestenfalls ganz langsam geht und daß vieles, was man erhoffte, überhaupt nicht möglich ist. Es sind also objektive Fa~toren, die den Entspannungsprozeß seit Jahren verlangsamt haben. 6. Dazu kamen historische Zufälle: die Entwicklung in den USA seit 1974 - der Sturz Präsident Nixons, der Wahlkampf und der Regierungswechsel. Diese Vorgänge haben fürs erste den amerikanischsowjetischen Bilateralismus beendet, der seit Ende der 60er Jahre ein Zentralfaktor der Entspannungspolitik gewesen ist. Sie haben zu einer verstärkten Hinwendung der USA zu ihren westlichen Verbündeten geführt und sie bewirkten, daß Washington seine Ostpolitik nicht mehrwie unter Nixon - als "Heilige Allianz" zur Verhinderung von innerer Veränderung in Ost und West versteht, sondern erneut auch als Teil einer Auseinandersetzung um menschliche Freiheit und menschliche Würde.
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III. Die westliche Strategie für die Belgrader überprüfungskonferenz muß im Licht dieser umfassenderen Vorgänge festgelegt werden. Und genau hier ist der Platz, wo die Menschenrechtsfrage in dem Ost-West-Gespräch eine zentrale Rolle spielen kann. Ihre Einführung in den Entspannungsdialog ist zweifellos ein Gebot der politischen Moral. Man kann nicht schweigend zusehen, wie politisch rückständige Autokratien liberale oder christliche Protestgruppen niederwalzen und einzelne Menschen zerbrechen, die sich des Verbrechens schuldig gemacht haben, die feierlich geleistete Unterschrift kommunistischer Parteichefs ernst zu nehmen. Würden die westlichen Demokratien darauf nicht nachhaltig insistieren, so würden sie sich bei den Völkern im Osten völlig unglaubwürdig machen. Aber das Insistieren auf der Menschenrechtsfrage dient auch anderen Zielen und stellt eine Antwort auf die eben genannten Schwierigkeiten dar. 1. Wenn es richtig ist, daß sich die Sowjetunion - dabei unterstützt von den Regierungen ihres Blocks - erneut in einer expansiven Phase ihrer Politik befindet, dann ist es gute Politik, sie stärker mit den Problemen im eigenen Innern und im eigenen Hegemonialbereich zu beschäftigen.
Man bedarf nicht der Belehrung durch die chinesischen Kommunisten, um zu wissen, daß das sowjetische Hegemonialsystem in Europa heute das letzte große klassische Imperium darstellt, nachdem die Kolonialreiche der anderen europäischen Staaten allesamt zusammengebrochen sind. Dieses Imperium beruht - wie seinerzeit die zaristische Herrschaft über Polen im ganzen 19. Jahrhundert -letzten Endes auf militärischer übermacht. Die kommunistische Ideologie ist längst langweilig geworden. Wer also im Ost-West-Dialog mit Beharrlichkeit die Menschenrechtsthematik im Gespräch hält, packt diese Systeme an ihrer verwundbarsten Stelle. 2. Wer heute die Menschenrechtsfrage entschieden in die Ost-WestBeziehungen einführt, hat aber auch Zielgruppen im Auge, die im Westen sitzen. Im Zeichen der Gleichgewichtspolitik Kissingers war die politisch-ideologische Dimension der Ost-West-Beziehungen weitgehend vergessen worden. Niemand wird zwar dafür plädieren, die Ost-WestBeziehungen allein als ideologische Auseinandersetzung zu verstehen; gewisse übertreibungen aus den 50er Jahren sind noch in guter Erinnerung. Aber es geht beim Ost-West-Verhältnis eben nicht nur um die Sicherung des Friedens in Europa, nicht nur um Arbeitsplatzsicherung und Profite durch intensiveren Osthandel, sondern die Ost-West-Bezie-
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hungen sind gleichzeitig immer noch durch grundlegende ordnungspolitische Differenzen gekennzeichnet, die unaufhebbar sind. Es mag zwar etwas pathetisch klingen, ist aber doch Tatsache, daß es in den OstWest-Beziehungen eben nach wie vor um die Freiheit geht - um die Freiheitssicherung für die westlichen Demokratien, aber eben auch um die Freiheit im Ostblock. Eben das brachte die östliche Menschenrechtsbewegung in Erinnerung. Sie setzt zwar Realpolitiker und progressive Gruppen in Verlegenheit, aber sie dient der geistigen Klärung über eine Grundtatsache in den OstWest-Beziehungen. Diese tragen eben immer noch die Züge einer säkularen Auseinandersetzung zwischen den freiheitlichen Demokratien und den autokratischen Parteidiktaturen des Ostens. Man sollte auch nicht übersehen, daß heute eine Chance besteht, durch Wiederentdeckung der Menschenrechte als ein Zentralelement der Weltpolitik so etwas wie einen gemeinsamen Boden zwischen konservativen und progressiven Strömungen im westlichen Bereich zu finden. Die Konservativen werden sich daran erinnern lassen müssen, daß die Menschenrechtsfrage auch im Hinblick auf das südliche Afrika oder auf Diktaturen in Lateinamerika nicht außer acht gelassen werden kann; und die Progressiven müssen sich daran gewöhnen, dieselbe fordernde Sprache, die sie gegenüber der Militärdiktatur in Chile oder in Brasilien zu führen pflegen, auch gegenüber den sozialistischen Diktaturen in der UdSSR, in der CSSR oder in der DDR zu gebrauchen. Nicht zuletzt sind die sogenannten eurokommunistischen Parteien Hauptadressaten einer Strategie, die die Menschen- und Bürgerrechte in den Ost-West-Beziehungen stark thematisiert, Man hat auch in der Bundesrepublik sehr genau darauf geachtet, ob die großen kommunistischen Parteien Westeuropas, die sich angeblich gewandelt haben, auf die Verfolgung der Unterzeichner der Charta 77, der sowjetischen Bürgerrechtler, der protestierenden einzelnen in der DDR oder der KORGruppe in Warschau reagieren. Aus den kommunistischen Parteizentralen in Paris und Rom hört man aber nichts. Noch im letzten Jahr vernahm man nicht selten gelegentliche Kritik am Sowjetkommunismus. Seit Monaten aber herrscht das große Schweigen, oder aber man muß lesen, wie ein führender KP-Funktionär seine Landsleute aus den antikommunistischen Parteien schilt, weil sie es wagen, in einem Klima des Opportunismus offen über die Unterdrückung im Ostblock zu sprechen. So ist gerade die Einstellung zur östlichen Menschenrechtsbewegung ein sehr geeignetes Indiz, an dem sich ablesen läßt, wieweit die sogenannten eurokommunistischen Parteien tatsächlich vom sowjetischen Modell entfernt und dem rechtsstaatlich-freiheitlichen zugewandt sind. Die
Was können wir von der Überprüfungskonferenz in Belgrad erwarten?
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bisherigen Ergebnisse dieser überprüfung sind nicht ermutigend. Eben das aber spricht dafür, die Thematik kontinuierlich im Ost-West-Dialog zu halten: sei es, um die kommunistischen Parteien des Westens weiter zu zwingen, sich zu dekuvrieren, oder aber um den Klärungsprozeß in ihren Reihen voranzutreiben. Entspannungspolitik ist eben nicht nur eine Auseinandersetzung zwischen West und Ost, sondern auch ein Dialog, den der Westen mit sich selber führt. Auch bei der strategischen Anlage der KSZE sind die politischen Rückwirkungen im Westen so wichtig wie die im Osten. 3. Dabei darf auch die besondere psychologische Lage in der Öffentlichkeit der Vereinigten Staaten nicht vergessen werden. Wer die USA in den 70er Jahren besucht und mit vielen Amerikanern gesprochen hat, war immer wieder verblüfft, wie tief der Selbstzweifel und die außenpolitische Skepsis saßen, die das Vietnam-Trauma hinterlassen hatte. In den Jahren 1970-1974 mußte man befürchten, daß auch die militärische und politische Präsenz der USA in Europa ein Opfer dieser moralischen Malaise werden würde. Die Nixon / Kissingersche Gleichgewichtspolitik konnte zwar für einige kritische Jahre als "holding operation" nützlich sein, sie war aber nicht geeignet, der US-Außenpolitik jenen moralischidealistischen Rückhalt in der Öffentlichkeit zu geben, dessen eine amerikanische Regierung offenbar bedarf, wenn sie aktive Weltpolitik betreiben soll. Hier scheint in der öffentlichen Meinung und auch im Kongreß durch die Cartersche Menschenrechtskampagne ein Wandel einzutreten, zumal der Mann auf der Straße die überzeugung gewonnen hat, daß der Präsident tatsächlich an die Werte glaubt, für die er sich einsetzt. Man mag in Westeuropa über die amerikanische Führungsmacht denken, wie man will. Jedenfalls ist nicht zu bestreiten, daß die westeuropäischen Demokratien ohne die volle politische, militärische und wirtschaftliche Präsenz der USA in Europa keine Zukunft hätten. Man mag auch der Meinung sein, daß der in Washington neu entdeckte außenpolitische Idealismus im Ostblock letztlich doch nichts ausrichten wird. Und man mag auch befürchten, daß die Menschenrechtsthematik die Spannungen zwischen Ost und West zeitweilig verschärft. Dennoch ist diese neue, moralisch motivierte Hinwendung der USA zu Europa und auch seinen Menschenrechtsfragen so wichtig und so sehr im Interesse der freiheitlichen Kräfte Westeuropas, daß sich die Europäer jetzt nicht abseits halten können. Es ist besser, wenn die USA im neugewonnenen überschwang moralischer Außenpolitik etwas übertreiben und die OstWest-Beziehungen belasten, als wenn sie sich defaitistisch und zynisch nur mit sich selbst beschäftigen.
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Und man sollte auch nicht vergessen, daß in den kommenden Jahren im einen oder anderen Land Westeuropas innenpolitische Situationen entstehen können, bei denen die Parteien, die die Menschen- und Bürgerrechte hoch halten, die Unterstützung der amerikanischen Politik und öffentlichen Meinung gleichfalls dringend brauchen könnten. So kann die Menschenrechtsthematik auch als Faktor der erneuten Verklammerung zwischen den USA und Westeuropa wirken. Wenn das zutrifft, dann wäre es freilich kurzsichtig, wollten die westeuropäischen Regierungen nunmehr in ihren Beziehungen zum Ostblock jene ideologiefreie Gleichgewichtspolitik Kissingers fortführen, von der sich die USA eben abwenden. Was ergibt sich aus diesen überlegungen für die KSZE-überprüfungskonferenz? Soll Belgrad eher ein Exerzitium in Kabinettsdiplomatie oder eher ein Menschenrechtsforum werden? Hier wird man vorwegschicken müssen, daß das neue Interesse für die grundlegend wichtigen Fragen der Menschen- und Bürgerrechte im Ostblock nicht allein in Belgrad artikuliert werden kann und muß. Es gibt viele andere Möglichkeiten, die Thematik im Ost-West-Gespräch zu halten; und mindestens ebenso wichtig wie die Regierungen sind in diesem Zusammenhang Presse, Rundfunk, politische Parteien, Studentengruppen, Gewerkschaften und nicht zuletzt die Kirchen. Man könnte sich ja immerhin vorstellen, daß in Belgrad oder mit Blick auf Belgrad auch der Vatikan einmal etwas aus seiner Reserve hervortritt - schließlich eröffnet ihm seine Teilnahme an der KSZE eine einzigartige Möglichkeit. Wenn nicht die freiheitlichen Elemente der westlichen Gesellschaften die Sache der Freiheit in ganz Europa als langfristiges Thema aufgreifen, kann man nicht erwarten, daß die Diplomaten in Belgrad viel bewirken. So sollte man also die Menschenrechtsthematik nicht nur in bezug auf Belgrad aufgreifen. Immerhin: die EG-Regierungen würden doch gut daran tun, nochmals zu überprüfen, wo und wie die Akzente bei der Belgrader Konferenz liegen sollten. Heute hat es doch den Anschein, als ob die politisch-symbolische Bedeutung der überprüfungskonferenz größer sein wird als das, was im praktisch humanitären Bereich positiv bewirkt werden kann. Und wenn es tatsächlich zutrifft, daß die USA bereit sind, die Menschenrechtsthematik in den Mittelpunkt der Konferenz zu rücken, so wäre dies Grund genug zu überlegen, ob man ihnen dabei im eigenen europäischen Interesse nicht doch Unterstützung gewähren sollte. Sie haben zwischen 1972-1975 in Helsinki und Genf auf weite Strecken die Rolle eines Beobachters gespielt; wenn sie sich nun mit neuem Selbstvertrauen und entschieden eines genuin europäischen Problems annehmen möchten, sollte man sie nicht bremsen und entmutigen
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- selbst wenn dabei in Belgrad einiges Porzellan zu Bruch gehen sollte. Schließlich sind die Ostblock-Regierungen auch nicht zimperlich, und es gibt keinen Grund, sie wie eine Braut im Honeymoon zu behandeln. Es kann kein Schade sein, in Belgrad zu dokumentieren, wo die strukturellen Grenzen und Hemmnisse west-östlicher Entspannungspolitik liegen. Andererseits wird man aber doch nicht übersehen dürfen, daß die KSZE-Schlußakte selbst einen gewissen Wert darstellt. Man kann sich im Ost-West-Dialog darauf berufen, man kann damit praktische menschliche Verbesserungen in Gang setzen, und man sollte sich deshalb hüten, dem Ostblock Anlaß zu geben, den Konferenztisch zu verlassen. Denn wenn erst einmal eine überprüfungskonferenz geplatzt oder im schlimmsten Unfrieden auseinander gegangen ist, wird man auch mit der Schlußakte keine Politik mehr machen können. Sie wäre dann nur eine internationale Vereinbarung mehr, die von der Geschichte abgeheftet wird und in den Archiven verstaubt. Man muß also die rechte Mitte halten zwischen entschiedener Kritik und pragmatischer Arbeit an der Lösung sachlicher Probleme. So gesehen, wird der operative Teil der KSZE sehr viel schwieriger werden als die vorbereitende Sitzung, die sich mit den Prozeduren befaßt. Entscheidend aber wird nicht nur der Gang der Gespräche sein, sondern vor allem das Echo in der Öffentlichkeit und die Stellungnahmen, die die Konferenz von außen her begleiten. Helsinki war ein Defensiverfolg der freiheitlichen Demokratien, Belgrad kann ein Offensiverfolg werden, auch gegenüber den kommunistischen Kräften im eigenen Innern, wenn die Parlamente, die freiheitlichen Parteien und die Öffentlichkeit darauf drängen, diese Chance zu nutzen. Was aus der überprüfungskonferenz sachlich herauskommen kann, läßt sich heute einigermaßen absehen. Es ist nicht viel. Was aber aus der Konferenz politisch wird und welche Wirkungen von ihr ausgehen werden, läßt sich eher weniger sicher voraussagen als vor einem Vierteljahr oder vor einem halben Jahr.
ZU DEN PROBLEMEN DES üBERPRüFUNGSTREFFENS DER KSZE IN BELGRAD Von Rupert Dirnecker I. Die mit der KSZE eingeleitete multilaterale Ost-West-Politik in Europa tritt im Sommer 1977 in eine neue Phase ein. Am 15. Juni beginnt in Belgrad die diplomatische Zusammenkunft zur Vorbereitung eines ersten Treffens der von den Außenministers der KSZE-Teilnehmerstaaten benannten Vertreter, das im Herbst 1977 "einen vertieften Meinungsaustausch vornehmen soll", "sowohl über die Durchführung der Bestimmungen der KSZE-Schlußakte und die Ausführung der von der KSZE definierten Aufgaben, als auch ... über die Vertiefung der gegenseitigen Beziehungen der Teilnehmerstaaten,die Verbesserung der Sicherheit und die Entwicklung der Zusammenarbeit in Europa und die Entwicklung des Entspannungsprozesses in der Zukunft" (Schlußakte: Folgen der Konferenz, Ziffer 2 a, b, 3, 4). Die Belgrader Zusammenkunft hat somit bereits in der von den 35 Staats- und Regierungschefs am 1. August 1975 in Helsinki unterzeichneten Schlußakte einen klar umrissenen formalen Rahmen und ein inhaltliches Mandat erhalten: 1. Formal ist das Belgrader Treffen der von den Außenministern be-
nannten Vertreter weder von gleichem Rang wie die Gipfelkonferenz der Staats- und Regierungschefs in Helsinki noch eine gleichrangige Nachfolgekonferenz. Dies zeigt ein Blick auf die in der Schlußakte vorgenommene äußerst sorgfältige und zurückhaltende Wahl der formalen Begriffe für die Folgen der KSZE: Es wird dort nur gesprochen: deutsch von "Treffen" und "Zusammenkunft"; französisch: "rencontre" und "reunion"; italienisch: "incontri" und "riunione"; der englische, russische und spanische Text verwendet dagegen die gemeinsamen Begriffe "meetings", "vstretchy" und "reuniones".
Dieses magere Resultat ist eine Konsequenz sowohl des tiefen Mißtrauens der westlichen Teilnehmerstaaten gegen eine irreversible Automatik der KSZE-Folgen in Richtung auf eine Periodisierung und Insti-
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tutionalisierung der KSZE als auch des Umstandes, daß auch die Sowjetunion in ihren froheren Plänen einer Institutionalisierung aufgrund eigener überlegungen wieder zurückgesteckt hatte. Die NATO-Länder argwöhnten, daß der von der CSSR eingebrachte östliche Vorschlag eines "Konsultativausschusses für SiCherheit und Zusammenarbeit in Europa" im Sicherheitsbereich auf die Auflösung der NATO, im politischen Bereich auf die "Finnlandisierung" Westeuropas abzielte und ein sowjetisches Mitspracherecht (droit de regard) gegenüber dem wirtschaftlichen, politischen und militärischen Integrationsprozeß der Neun installieren sollte. Andererseits hielten sie für die wirtschaftliche und wissenschaftliche Zusammenarbeit in Europa die bestehenden zwischenstaatlichen Institutionen, insbesondere die "Wirtschaftskommission der VN für Europa" (ECE) in Genf und den europäischen Regionalausschuß der UNESCO in Paris, für ausreichend. Bevor über eine Institutionalisierung der KSZE entschieden werden sollte, sollten erst die Auswirkungen der KSZE-Schlußakte in einer Zwischenperiode abgewartet und geprüft werden. Die Sowjetunion ihrerseits kam im Verlauf der KSZE zu der Befürchtung, daß eine permanente Multilateralisierung der Ost-Westbeziehungen ihre eigene Hegemonie in Osteuropa beeinträchtigen und ein westliches Mitspracherecht in osteuropäischen Angelegenheiten einführen könnte. Im Ergebnis führten diese beiderseitigen Vorbehalte gegen eine verfrühte Institutionalisierung eines gesamteuropäischen politischen Organs dazu, daß durch die KSZE die bestehenden Bündnisstrukturen in Europa nicht geändert wurden und vor allem die Sicherheit in Europa weiterhin in erster Linie den beiden Bündnissen, NATO und Warschauer Pakt, anvertraut bleiben sollte. Die Konsequenz dieser überlegungen ist die übertragung der multilateralen "Verhandlungen über eine beiderseitige und ausgewogene Truppenverminderung in Mitteleuropa" (MBFR) in Wien auf die betroffenen Bündnisstaaten von NATO und Warschauer Pakt. Andererseits blieben die neutralen und ungebundenen Teilnehmerstaaten der KSZE in den sicherheitspolitischen Dialog der beiden Bündnisse - wenigstens marginal - dadurch eingeschaltet, daß die Verhandlungen über die "vertrauensbildenden Maßnahmen im militärischen Bereich (CBM) und bestfplmte Aspekte der Sicherheit und Abrüstung" (hier vor allem durch den Hinweis auf den Zusammenhang der Sicherheit in Europa und im Mittelmeerraum) auf der KSZE selbst geführt wurden. Diese formale Struktur der Verhandlungsbereiche gilt auch für Belgrad. Ebenso bleibt formal für Belgrad mitbestimmend, daß in der KSZE-
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Schlußakte mangels eines gesamteuropäischen politischen Organs für bestimmte und beschränkte Fragen der intersystemaren gesamteuropäischen Zusammenarbeit und Durchführung der Absichtserklärungen der Körbe II und III der Schlußakte neben Expertentreffen der KSZE-Teilnehmerstaaten auch regionale europäische Unterorganisationen von Institutionen der Vereinten Nationen vorgesehen sind; namentlich sind in diesem Zusammenhang genannt die "Wirtschaftskommission der Vereinten Nationen für Europa" (ECE) für die wirtschaftliche Zusammenarbeit und die UNESCO für die Zusammenarbeit in den Bereichen der Bildung, der Wissenschaft und der Kultur (KSZE-Schlußakte: Folgen der Konferenz, Ziffer 1 c). Schließlich ist in der Schlußakte vorgesehen, daß - mangels eines eigenen KSZE-Organs - die technische Abwicklung der Treffen in Belgrad und weiterer Treffen den jeweiligen Gastländern obliegt. Diese restriktiven Festlegungen der Schlußakte hinsichtlich der Konferenzfolgen tragen den schon genannten Vorbehalten der westlichen Teilnehmerstaaten gegen eine automatische und irreversible Periodisierung und Institutionalisierung der KSZE Rechnung. Ob und wie die multilateralen Ost-Westverhandlungen im KSZE-Rahmen fortgeführt werden sollen, bleibt somit der freien Entscheidung der Teilnehmerstaaten aufgrund der Ergebnisse des Belgrader überprüfungstreffens vorbehalten. Dies sollte man im Westen auch bereits in der Terminologie beachten und nicht inkorrekterweise und unpräzise schon jetzt von "Nachfolgekonferenzen" sprechen. In der Terminologie liegt nämlich schon Substanz. 2. Das materielle Mandat für Belgrad ist in der KSZE-Schlußakte (in der eingangs zitierten Bestimmung) wie folgt umrissen: vertiefter Meinungsaustausch : a) über die Durchführung der konkreten Bestimmungen der Schlußakte und Ausführung der von der KSZE definierten Aufgaben; b) über die Entwicklung des Entspannungsprozesses in der Zukunft, und zwar in den auf der KSZE behandelten Fragenbereichen der gegenseitigen Beziehungen, der Sicherheit und der Zusammenarbeit in den Bereichen der Wirtschaft, der Wissenschaft und der Technik sowie der Umwelt (Korb II) sowie der Zusammenarbeit in humanitären und anderen Bereichen (Korb III) . . Angesichts di'eses klaren materiellen Mandats klingt es befremdlich, wenn manche westlichen Politiker, wie kürzlich Brandt und Wehner, jene absichtsvollen Warnungen aus dem Osten sich zu eigen machen, das Belgrader Treffen dürfe kein Tribunal für gegenseitige Anschuldigungen werden. Oder wie Wehner in der "Neuen Gesellschaft", IV/1977 schreibt:
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"Hätten wir nicht außerdem Anlaß, darum bemüht zu werden, die in Belgrad fällige Konferenz ... jedenfalls unsererseits davor bewahren zu helfen, daß sie lediglich zu einer Konfrontation gegensätzlicher Forderungen und Feststellungen führen würde?" Hier ist die Frage geboten: Wie soll denn das überprüfungstreffen in Belgrad den ihm klar gestellten Aufgaben gerecht werden, wenn nicht durch eine nüchterne und sachliche Bilanz der bisherigen Durchführung der KSZE-Absichtserklärungen und der Auswirkungen der KSZE insgesamt? Hält Wehner schon die Feststellung von Verstößen gegen Buchstaben und Geist der feierlich in Helsinki unterzeichneten Schlußakte für entspannungsstörende Polemik? Rät er selbst dann zum Leisetreten und Verschweigen der für die kommunistischen Regierungen unangenehmen Tatbeständen, wenn diese ihrerseits, um aus ihrer gegenwärtigen Defensive herauszukommen, den Westen insgesamt oder einzelne westliche Länder auf die Anklagebank zu zwingen versuchen? Ich meine im Gegenteil: Wenn die Gesamtbilanz der KSZE-Auswirkungen positiv ausfallen sollte, braucht sie eine objektive Prüfung der Tatsachen, auch der negativen, nicht zu scheuen. Eine aus Wohlverhalten gegenüber dem Osten frisierte Bilanz würde hingegen nur eine Scheinentspannung vortäuschen, mit allen gefährlichen Folgen für die tatsächliche Sicherheit und das Problembewußtsein des Westens. Die Probleme, die sich bei der Durchführung der Schlußakte von Helsinki bisher ergeben haben, gehören nicht unter den Tisch, sondern auf den Tisch. Die Völker Europas haben ein Recht darauf, daß diese sie unmittelbar berührenden Fragen freimütig und sachlich - und nicht hinter verschlossenen Türen, sondern öffentlich - erörtert werden. Es handelt sich in Belgrad nicht mehr wie in Helsinki und Genf um eine Konferenz, auf der die Schlußakte ausgehandelt wurde und wo eine gewisse Vertraulichkeit der Verhandlungen am Platze war. Auf dem Belgrader überprüfungstreffen haben sich die Regierungen, die in Helsinki feierlich durch ihre Staats- und Regierungschefs ihr Wort verpfändet haben, dem Urteil der Völker Europas zu stellen. Die Europäer wollen selbst urteilen, was aus den feierlichen Versprechungen von Helsinki geworden ist, ob diese bisher umfassendste Veranstaltung der Entspannungspolitik tatsächlich mehr Sicherheit, mehr Zusammenarbeit, mehr Freizügigkeit von Menschen und Informationen über die Grenzen hinweg, kurz gesagt - mehr Freiheit in ganz Europa gebracht hat.
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II.
Von welchen Tatsachen haben wir auszugehen? Nachdem mein Vorredner eine ausführliche Bilanz der Auswirkungen der bisherigen KSZE-Politik gegeben hat, möchte ich - ohne allzu sehr auf Einzelheiten einzugehen - folgende vier Teilbilanzen meinen überlegungen für Belgrad zugrundelegen: 1. Die Bemühungen Moskaus um einseitige Uminterpretation und Instru-
mentalisierung der KSZE-Schlußakte mit der Absicht, die Ergebnisse von Helsinki zugunsten der dort noch nicht befriedigten sowjetischen Maximalvorstellungen nachträglich zu korrigieren; 2. die unmittelbare Durchführung der Absichtserklärungen des Korbes III der KSZE-Schlußakte sowie ihre - in diesem Ausmaß von West und Ost unerwarteten - mittelbaren - Auswirkungen auf die Dynamik des freiheitlichen Emanzipationsprozesses im Osten und deren Bedeutung für die multilaterale Ost-West-Politik; 3. Auswirkungen des Korbes II auf die wirtschaftliche und wissenschaftlichtechnische Zusammenarbeit in Europa und die sich hierbei ergebenden Probleme; 4. die Auswirkungen der KSZE auf die militärische Sicherheitslage in Europa und die hieraus sich ergebende Problematik für Friedenssicherung, Entspannungspolitik und innere Entwicklung in Osteuropa.
III.
Erste Teilbilanz: Uminterpretation und Instrumentalisierung der KSZE-Schlußakte durch Moskau. 1. Das Ergebnis von Helsinki war ein westöstlicher Kompromiß. Da aber der ideologische Gegensatz, die existierenden Machtstrukturen und die gegensätzlichen Interessenlagen sowie Ordnungsvorstellungen für Nachkriegseuropa durch die KSZE nicht verändert worden sind, verlagerte sich das Ringen um die Formulierung der Schlußakte auf deren nachträgliche Interpretation und Anwendung.
Moskau hat eines seiner vorrangigen Konferenzziele, nämlich die politische Konsolidierung und rechtliche Legalisierung des nach 1945 entstandenen territorialen und politischen Status quo in Ostmitteleuropa durch eine völkerrechtliche Anerkennung seitens des Westens, nicht voll erreicht. Der Westen widersprach dem ausdrücklich. Die KSZE wurde insbesondere nicht zu der von Moskau erstrebten Ersatzfriedenskonferenz über Deutschland. Der Westen verstand sich lediglich zu einer zeitweiligen und faktischen Hinnahme des bestehenden territorialen Status quo als Ausgangslage für die künftige Ost-West-Politik in Europa, indem er durch Bekräftigung der völkerrechtlichen Grundsätze
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des Gewaltverzichts, der Unverletzlichkeit der Grenzen und der territorialen Integrität im Prinzipienkatalog der Schlußakte lediglich eine gewaltsame Veränderung des territorialen Status quo ausschloß. Dies bedeutet jedoch nicht Erstarrung, Einfrieren des bestehenden Zustandes. Im Gegenteil: Mit der gleichrangigen Aufnahme -
des Grundsatzes der inneren und äußeren Selbstbestimmung der souveränen Staaten, einschließlich des souveränen Rechts der friedlichen, einvernehmlichen, völkerrechtskonformen Änderung der Grenzen (im Prinzip I),
-
des Grundsatzes des nationalen Selbstbestimmungsrechts der Völker (Prinzip VII!),
-
des Grundsatzes der Achtung der Menschenrechte (Prinzip VII)
-
und der Unberührtheitsklausel bezüglich der Rechte und Verpflichtungen der Teilnehmerstaaten sowie der einschlägigen Verträge, Abkommen und Abmachungen (im Prinzip X)
wurde der Weg für friedliche Veränderung und frietllichen Fortschritt in Europa offengehalten. Dies betrifft in vollem Maße die "europäische Option". Dies wird jedoch nicht voll den Bedürfnissen der "deutschen Option" gerecht, da nunmehr die staatliche Wiedervereinigung Deutschlands dem Mitspracherecht und Vetorecht der souveränen DDR unterstellt und somit die Wiedervereinigungspolitik auf das von jeher kommunistische Konförderationsmodell eingeschränkt wird. Andererseits mußte Moskau aber sich für diese faktische Hinnahme des Status quo durch den Westen einige Zugeständnisse in Form der Absichtserklärungen zugunsten von mehr Freizügigkeit von Menschen, Ideen und Informationen und der humanitären Erleichterungen in Korb III abringen lassen. Gerade diesen Gesamtkompromiß versucht jedoch Moskau zugunsten seiner ursprünglichen und nach wie vor aufrechterhaltenen Maximalziele nachträglich umzustoßen. Es stellt zunächst den in Helsinki erreichten Konsensus über den Gesamtcharakter der Schlußakte in Frage. Die verschiedenen Teile der Schlußakte seien von unterschiedlicher Verbindlichkeit. Dem Prinzipienkatalog komme völkerrechtliche Verbindlichkeit zu. Die Absichtserklärungen der Körbe II und III bedürften dagegen. wie Breschnew schon einige Tage nach Helsinki erklärte, zusätzlicher bilateraler Vereinbarungen zwischen den betroffenen Staaten, um verbindlich zu werden. Im Prinzipienkatalog wiederum, der das Kernstück der Schlußakte sei, so heißt es weiter in der Moskauer Argumentation, komme ferner
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dem Grundsatz der "Unverletzlichkeit der Grenzen" die Hauptbedeutung zu. Er gelte absolut und uneingeschränkt. Ähnlich wie im Interpretationsstreit um die deutschen Ostverträge wird diesem Zentralbegriff die Bedeutung der Unanfechtbarkeit und Unveränderlichkeit unterschoben. Die Zulässigkeit des "peaceful change" wird - wie im neuen Freundschaftsvertrag zwischen der Sowjetunion und der DDR vom 7.10.1975als Komplementärgrundsatz unterschlagen. Gemäß dieser Argumentation wird die Fortführung der vom Grundgesetz gebotenen Deutschland- und Berlinpolitik durch die Bundesrepublik Deutschland als eine flagrante Verletzung von Buchstaben und Geist von Helsinki verurteilt. 2. Andere Zentralhegriffe des Prinzipienkatalogs wiederum, wie "Achtung der Souveränität" und Einmischungsvel'bot, dienen Moskau als juristische Argumentationsgrundlage für die nach Helsinki noch verschärfte Politik der ideologischen Abgrenzung des eigenen Machtbereiches gegenüber den freiheitlichen Einflüssen aus dem Westen und unerwünschten Nebenwirkungen der zwischenstaatlichen Entspannungspolitik. 3. Moskau versucht ferner, den Begriff der "friedlichen Koexistenz", den es wegen des westlichen Widerstandes nicht im Text der Schlußakte verankern konnte, nachträglich in die Schlußakte hineinzuinterpretieren. Mit der Behauptung, der Prinzipienkatalog sei Ausdruck der Politik der "friedlichen Koexistenz", möchte Moskau diesen Verhaltenskodex auf das Verhältnis zwischen sozialistischen und kapitalistischen Staaten einengen, während für sein Verhältnis zu den sozialistischen Staaten der "sozialistische Internationalismus" verbindliche Grundnorm sei. Es besteht somit zur Aufrechterhaltung seiner hegemonialen Stellung auch nach der Berliner Konferenz der kommunistischen Parteien Europas - auf dem in dieser Grundnorm des sozialistischen Völkerrechts implizierten Anspruch auf "brüderliche Hilfeleistung" bei Gefährdung der "sozialistischen Errungenschaften" in den anderen sozialistischen Staaten. Dieses Festhalten an der "Breschnew-Doktrin" der "eingeschränkten Souveränität" der sozialistischen Staaten auch nach Helsinki und nach Berlin nimmt dem Prinzipienkatalog der KSZE-Schlußakte die ihm vom Westen zugedachte Schutzfunktion für die osteuropäischen Staaten gegen eine erneute sowjetische Intervention ala CSSR. 4. Andererseits hält sich Moskau mit dieser KSZE-widrigen Interpretation den Weg offen, um den "ideologischen Kampf" als konstitutiven Bestandteil der Politik der "friedlichen Koexistenz" weiterhin und sogar noch verstärkt offensiv in die nichtkommunistischen Staaten hineinzutragen und dies als im Einklang mit der so einseitig interpretierten KSZE-Schlußakte stehend zu rechtfertigen. Moskau erklärt demgemäß
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"nationale Befreiungskriege" und "proletarische Revolutionen" nach wie vor zu "gerechten Kriegen" und "gerechten revolutionären Gewaltanwendungen". Sie seien legitime Mittel dieser Politik, die wiederum im Einklang mit dem objektiven geschichtlichen Prozeß in Richtung auf die weltweite kommunistische Endgesellschaft stehe. Ebenso wie Breschnew im Oktober 1975 den Vorschlag des französischen Präsidenten, "die politische Entspannung nicht nur durch die militärische Entspannung, sondern auch durch die Entspannung im ideologischen Kampf zu ergänzen", brüsk zurückwies, mutet diese sowjetische Argumentationslinie den nichtkommunistischen Staaten ein völlig einseitiges Entspannungsverständnis zu: nämlich die "realistische Anpassung" der nichtkommunistischen Staaten und Gesellschaften an diese "objektive", in der sowjetischen Politik verkörperte Entwicklung, um die Geburtswehen der neuen Welt so gelinde wie möglich zu halten. Widerstand dagegen störe die Entspannung, sei kalter Krieg. 5. Hieraus ergibt sich für den Westen die unumgängliche operative Schlußfolgerung für Belgrad: Diese einseitige Mißdeutung des Prinzipienkatalogs der KSZE-Schlußakte darf vom Westen nicht mehr stillschweigend hingenommen werden wie bisher, soll nicht dieEntspannungspolitik zur Einbahnstraße für sowjetische Machterweiterung entarten. Insbesondere die Bundesrepublik Deutschland muß als Hauptzielscheibe dieser offensiven Politik unter Mißbrauch der KSZE-Schlußakte die unverzichtbaren Grundlagen ihrer Deutschlandpolitik auch im Interpretationsstreit um die Schlußakte unmißverständlich klarstellen.
IV.
Zweite Teilbilanz: KSZE und freiheitlicher Emanzipationsprozeß in Osteuropa. 1. Während Moskau so durch Umdeutung der KSZE-Schlußakte die politische und rechtliche Konsolidierung seiner Vorherrschaft in Ostmitteleuropa vorantreibt und von dieser Basis aus den "ideologischen Kampf" als Mittel der "Politik der friedlichen Koexistenz" nach Westeuropa hineinträgt, hat die westliche Konferenzstrategie bislang nur geringfügige Erfolge aufzuweisen, insofern sie gegen eine zeitweilige faktische Hinnahme des Status quo in Ostmitteleuropa zumindest mehr Freizügigkeit für Menschen, Informationen und Ideen über die nationalen und Systemgrenzen hinweg durchsetzen und damit den Grenzen in Europa eine neue Qualität verleihen wollte.
Die Absichtserklärungen des Korbes IU, auf die im Westen die größten Hoffnungen gesetzt wurden, haben bisher keineswegs den erstrebten
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Durchbruch für mehr Freiheit in ganz Europa gebracht. Sie blieben schon inhaltlich und formal weit unter dem Standard der völkerrechtlich bereits verbindlichen, wenn auch weithin verletzten, Menschenrechtsdeklaration der Vereinten Nationen von 1948 und der beiden internationalen Menschenrechtspakte von 1966. Die konkreten Fortschritte aufgrund unmittelbarer Auswirkung der KSZE-Beschlüsse des Korbes III sind somit gering und stehen bis heute noch in keinem angemessenen Verhältnis zu der umfassenden Anstrengung der westlichen Konferenzdiplomatie. Insbesondere im geteilten Deutschland wurde seit Helsinki der Eiserne Vorhang nicht durchlässiger, sondern perfektionierter. Die Zahl der barbarischen automatischen Schußapparate stieg auf über 25 000. Sie machen die innerdeutsche Grenze heute zur heimtückischsten Grenze der W el t. Soweit sich die Zahl der Ausreisen von Deutschen aus osteuropäischen Ländern merklich gesteigert hat, wie z. B. der Deutschen aus dem polnischen Machtbereich, beruht diese Steigerung nicht unmittelbar auf der KSZE-Schlußakte, sondern wurde sie durch zusätzliche deutsche Geldleistungen in Höhe von 2,3 Milliarden DM erkauft. So begrüßenswert ferner das Ansteigen der Aussiedlerzahlen aus der Sowjetunion von 5000 Personen in den Jahresdurchschnitten von 1972 -1975 auf 9700 Personen im Jahre 1976 sein mag, so sind diese Zahlen immer noch ein Tropfen auf den heißen Stein, wenn man sie mit der Gesamtzahl von 1,8 Millionen Personen deutscher Nationalität in der Sowjetunion vergleicht. Dagegen fielen selbst nach der KSZEdie Aussiedlerzahlen aus Rumänien sowie die Jahresraten der jüdischen Emigration aus der Sowjetunion auf die Hälfte bzw. ein Drittel der früheren Jahresraten. Schließlich darf nicht vergessen werden, daß sich hinter diesen Aussiedlerzahlen immer noch eine Unmenge menschlichen Leidens verbirgt. Statt die Aussiedlungsanträge in einem - wie es in der KSZE-SchlUßakte heißt - "positiven und humanitären Geist" zu behandeln, unterliegen Aussiedlungswillige, gleich welcher Nation, nach wie vor Diskriminierungen, beruflichen Nachteilen und Repressalien. Den nationalen Minderheiten werden weiterhin die auch in der KSZE-Schlußakte versprochenen kulturellen Gruppenrechte nationaler Minderheiten versagt, was wiederum einen erhöhten Aussiedlungsdruck erzeugt. Die Schlüsselfunktion der Freizügigkeit und Aluswanderungsfreiheit für ,die von der Entspannungspolitik erhoffte Liberalisierung in den totalitären Diktaturen des Ostens ist nicht hoch genug einzuschätzen. Professor Andrej Sacharow schreibt hierzu in seinem Buch "Mein Land und die Welt", 1975: "Die Verteidigung des Rechts, ungehindert das eigene Land zu verlassen und wieder zurückkehren zu dürfen, sowie der freien Wahl des Aufenthalts3 KSZE
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landes ist sozusagen der Prüfstein, das Übungsgelände, um den gesamten Stil der Entspannung zu bestimmen" (S. 11). "Das Schlüsselproblem ist die Freizügigkeit und Auswanderungsfreiheit. Ohne die Verwirklichung dieser Rechte bleibt die Hälfte der Welt ein großes Konzentrationslager, das die andere Hälfte bedroht" (S. 118).
2. So geringfügig zwar diese konkreten Ergebnisse bei der bisherigen Durchführung der Absichtserklärungen der KSZE-Sch1ußakte sind, so weitreichend können aber die langfristigen und mittelbaren Wirkungen von Helsinki sein. Der Text der KSZE-Schlußakte, der in den Zeitungen der kommunistischen Länder veröffentlicht wurde, wurde von den Menschen begierig aufgegriffen und gab den Menschen- und Bürgerrechtsbewegungen in den kommunistischen Ländern einen in Ost und West in diesem Ausmaß unerwarteten Aufschwung. Diese Gruppen waren zwar unabhängig von der KSZE und schon vor der KSZE entstanden, erhielten nun jedoch in der Schlußakte ein neues Instrument, die Menschenund Bürgerrechte von ihren eigenen Regierungen einzufordern. Seitdem die KSZE-Schlußakte in den einzelnen kommunistischen Staaten Osteuropas zum einheitlichen Berufungsdokument geworden ist, sind diese Bewegungen nicht mehr isoliert wie in früheren Jahrzehnten. Ihr generelles Anwachsen in allen Staaten des Ostblocks fällt nunmehr auch zeitlich zusammen. In allen Ländern bilden sich "Gruppen für die Einhaltung der Helsinki-Beschlüsse". Andrej AmaZrik wies kürzlich darauf hin, daß diese Gruppen nur die "Spitzen eines Eisberges" bildeten, die Wortführer einer breiten, mit ihnen sympathisierenden Bewegung. Diese elementare Bewegung zu freiheitlicher Emanzipation der Menschen und Völker ist auch nicht mehr, wie es die kommunistische Propaganda immer noch versucht, als eine vom Westen manipulierte Subversion hinwegzudiskutieren. Die Führung der sowjetischen Hegemonialmacht sieht sich somit einem unerwarteten Bumerangeffekt der von ihr jahrzehntelang erstrebten KSZE gegenüber. Man könnte geradezu mit Hegel von einer "List der Geschichte" sprechen. Und man könnte in Abwandlung eines Wortes von Karl Marx sagen: "Ein Gespenst geht um in Osteuropa: der Geist der Freiheit, der Geist der europäischen Freiheit." 3. Ob sich diese Hoffnungen der Menschen und Völker in Osteuropa auf die KSZE-Schlußakte erfüllen, hängt weitgehend auch von der Haltung des Westens ab. Andrej Sinjawski, der schon zu Beginn der 60er Jahre als Freund von Pasternak wegen seiner Veröffentlichungen im Ausland verurteilt worden war und nach seiner Ausweisung aus Rußland in Paris lebt, erklärte der KSZE-Kommission des amerikanischen Kongresses als Zeuge:
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Er habe zunächst geweint, als er zum ersten Mal die KSZE-Schlußakte gelesen habe. So niederschmetternd sei sein Eindruck gewesen, der Westen habe damit endgültig die Völker Osteuropas abgeschrieben. Im Laufe der Zeit und aufgrund der unerwarteten Resonanz der Schlußakte im Osten sei er jedoch zu einer gegenteiligen, positiveren Beurteilung gekommen. Die Schlußakte berge ein mächtiges Potential, um der Freiheit in den totalitären Staaten des Ostens eine Gasse zu schlagen. Die KSZE-Schlußakte gibt in der Tat dem Westen - vor allem den Regierungen, aber auch den Oppositionen, gesellschaftlichen Gruppen und Institutionen der öffentlichen Meinung - eine feste rechtliche
Grundlage, nicht nur die Erfüllung der dort beschlossenen konkreten Absichtserklärungen bei den kommunistischen Regierungen anzumahnen, sondern auch - gestützt auf Prinzip VII des Prinzipienkatalogs die gesamte Skala der Menschenrechte und Grundfreiheiten zum Gegenstand der zwischenstaatlichen Beziehungen und Diskussionen zu machen. Im Prinzip VII gingen die Teilnehmerstaaten der KSZE eine feierliche politisch-moralische V erpflich tung ein:
Absatz 1 und 2 lauten: "Die Teilnehmerstaaten werden die Menschenrechte und Grundfreiheiten, einschließlich der Gedanken-, Gewissens-, Religions- oder Üherzeugungsfreiheit für alle ohne Unterschied der Rasse, des Geschlechts, der Sprache oder der Religion achten. Sie werden die wirksame Ausübung der zivilen, politischen, wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen sowie der anderen Rechte und Freiheiten, die sich alle aus der dem Menschen innewohnenden Würde ergeben und für seine freie und volle Entfaltung wesentlich sind, fördern und ermutigen." In Absatz 5 dieses Prinzips anerkennen die Teilnehmerstaaten ausdrücklich "die universelle Bedeutung der Menschenrechte und Grundfreiheiten, deren Achtung ein wesentlicher Faktor für den Frieden, die Gerechtigkeit und das Wohlergehen ist, die ihrerseits erforderlich sind, um die Entwicklung freund-
schaftlicher Beziehungen und der Zusammenarbeit zwischen ihnen sowie zwischen aUen Staaten zu gewährleisten". Absatz 8 dieses Prinzips verweist ausdrücklich auf die Menschenrechtsdoku-
mente der Vereinten Nationen, die - wie die Internationalen Menschenrechtspakte von 1966 - zusätzlich zu moralischen Verpflichtungen völkerrechtliche Pflichten der Unterzeichnerstaaten begründet haben.
Damit ist die Wahrung der Menschenrechte innerhalb der Staaten als wesentlicher Faktor der zwischenstaatlichen Beziehungen anerkannt worden. Dies entspricht der Erkenntnis, daß die Achtung der individuellen Freiheit im Staate und der Friede zwischen den Staaten in einem unlösbaren Zusammenhang stehen. Dies entspricht ebenso der Auffassung des modernen Völkerrechts von der universellen Geltung der Menschenrechte und ihrem Vorrang vor der Souveränität der Staaten, so daß die Forderung nach Wahrung der Menschenrechte nicht mehr unter Be3*
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rufung auf die staatliche Souveränität und das Verbot der Einmischung als unzulässig abgelehnt werden kann.
Präsident Carter ist daher zuzustimmen, wenn er vor den Vereinten Nationen am 17. 3.1977 sagte: "Alle Unterzeichnerstaaten der VN-Charta haben sich feierlich verpflichtet, die grundlegenden Menschenrechte zu beachten und zu respektieren. Daher kann kein Mitglied der Vereinten Nationen sich darauf berufen, daß die Mißhandlung seiner Bürger ausschließlich seine eigene Angelegenheit sei." Für das freiheitliche, naturrechtliche Menschenrechtsverständnis der christlichen und humanistischen Tradition Europas erg~bt sich diese Schlußfolgerung aus deren Grundprämisse von der dem Staate vorgegebenen Freiheit und Würde der Person. Für die marxistisch-leninistische Menschenrechtsaujjassung sind dagegen Menschenrechte nur relative Rechtsgewährungen des absoluten Staates, die dem Staatsbürger lediglich als Glied des Kollektivs zur Erfüllung seiner gesellschaftlichen Funktionen gewährt werden. Die kommunistischen Regierungen lehnen daher die Unbedingtheit der Menschenrechte, ihren primär personalen Bezug und ihre überstaatliche Geltung ab. Aufgrund der angeblichen "prästabilierten Harmonie" zwischen Gesellschaft und Individuum in der sozialistischen Gesellschaft werden die Menschenrechte dort dem Vorbehalt der staatlichen Souveränität unterstellt. Mangelnder Rechtsschutz des Bürgers gegenüber dem sozialistischen Staat im Innern und Ablehnung jeglicher überstaatlicher Berufungsinstanz mit dem Hinweis auf die Staatssouveränität und das Einmischungsverbot nach Außen sind die logischen Folgen. Wie brüchig aber diese Rechtskonstruktion ist, beweist täglich die Unfähigkeit kommunistischer Regierungen zu einer geistigen Auseinandersetzung mit der elementaren Erscheinung der Menschen- und Bürgerrechtsbewegungen. Aber auch bei einer systemimmanenten Betrachtung können sich die kommunistischen Regierungen nicht mehr ihren völkerrechtlichen Verpflichtungen zur Wahrung der Menschenrechte entziehen. Mit dem Beitritt zu den Internationalen Menschenrechtspakten von 1966, die am 23. 3. 1976 in Kraft getreten sind, haben sie sich völkervertragsrechtZich gebunden. Auch wenn sie sich nicht dem besonderen Beschwerdeverfahren gemäß Artikel 41 des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte unterworfen haben, ergibt sich aus allgemeinen Regeln des völkerrechtlichen Vertragsrechts das Recht eines jeden Vertragsstaates, einen anderen Vertragsstaat auf eine Vertragsverletzung hinzuweisen und ihn aufzufordern, die Vertragsverletzung künftig zu unterlassen (so auch die Rechtsauffassung des Auswärtigen Amtes laut Schreiben von Staatssekretär Dr. Gehlhoff an den A:bgeordneten Dr. Czaja vom 12. 1. 1977 - 011-300.16).
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4. Diese Politik der moralisch-politischen Unterstützung des freiheitlichen Emanzipationsprozesses in Osteuropa stellt an die Glaubwürdigkeit und Moral des Westens hohe Anforderungen: Die Menschen und Völker im freien Teil Europas werden sich hierbei wieder der freiheitlichen Grundlagen ihrer gesellschaftlichen und staatlichen Ordnung bewußt werden müssen, und die Regierungen werden sich in dem Spannungszustand zwischen Menschenrechten und staatlicher Souveränität, zwischen Moral und Staatsräson bewähren müssen.
Viele Fragen stellen sich in diesem Kernbereich der gegenwärtigen Diskussion um die Entspannungspolitik: Kann und darf der Westen sich auf eine lediglich etatistische Entspannungspolitik einlassen, die sich nur um die Stabilität des Status quo staatlicher Machtverhältnisse sorgt wie einst zu Metternichs - und auch Kissingers Zeiten, darüber jedoch den Menschen vergiBt? Kann und darf der Westen der "Realpolitik" auch die moralische Dimension der Entspannungspolitik opfern, ohne seines eigenen Wesensgesetzes untreu zu werden? Schon erheben, auch in Deutschland, manche selbsternannten Ratgeber ihre warnende Stimme, nichts zu unternehmen, was die Stabilität der kommunistischen Regime schwächen oder untergraben könnte. Wir würden nur die Entspannung zwischen Ost und West stören und würden das bisher an menschlichen Erleichterungen Erreichte nur gefährden. Die vordergründige Logik dieser Warnungen ist jedoch eine Scheinlogik: Diese Warner reden bewußt oder aus Irrtum am Problem vorbei. Die Forderung nach weltweiter Durchsetzung der Menschenrechte kann eben nicht als politische Taktik abgetan werden. Sie entspringt der elementaren Verpflichtung auf jene moralischen Grundwerte, ohne die jede Politik in Pragmatismus und schließlich in eine menschenfeindliche Gewaltpolitik entartet. Sie beruht darüber hinaus nicht nur auf dem Naturrecht, wie es die Auffassung des Westens ist, sondern - wie ich vorhin schon dargelegt habe - auch auf dem geltenden positiven Völkervertragsrecht. Diesem Imperativ hat sich jede Gesellschaft, jeder Staat zunächst für sich seLbst zu stellen. Hier ist kein Platz für pharisäerhafte Selbstgerechtigkeit. Die universale Verantwortlichkeit für Menschenrechte beginnt zu Hause. Abgesehen davon ist die moralisch-politische Unterstützung der Menschenrechtsbewegung in den kommunistischen Staaten für den Westen aber auch politisch, gerade aUs Gründen der Friedenssicherung, aus Gründen der Entspannungspolitik als Mittel der Friedenssicherung, geboten.
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Mit Recht weist Andrej Amalrik darauf hin, daß nur durch Evolution und Liberalisierung in den kommunistischen Staaten und durch Herstellung eines Minimalkonsensus zwischen Regierungen und Völkern revolutionäre Eruptionen mit unabsehbaren Folgen für den Weltfrieden verhindert werden können. Noch eindrucksvoller hat der polnische Philosoph Leszek Kolakowski auf einer Pressekonferenz, die er zusammen mit polnischen Landsleuten und Heinrich Böll am 17. 3.1977 in Köln abgehalten hat, dieses Problem erläutert: "Es ist uns wohlbekannt, daß der neuerliche Aufschwung der oppositionellen Aktivität in Osteuropa bei vielen Leuten im Westen die Angst erweckt, daß diese Aktivität zu einer explosiven Lage in einem oder mehreren Ländern und eventuell zur Entstabilisierung der ganzen europäischen Ordnung führen könnte. Solange aber die Bevölkerung sich dessen bewußt ist, daß sie demokratischer Institutionen und der Garantie der Bürgerrechte beraubt ist, daß sie in ein System hineingezwängt ist, in dem die Machtausübung an keine Verantwortung gebunden ist, kann diese Ordnung nie stabil bleiben und die Möglichkeit, ja die Wahrscheinlichkeit der Explosionen nie ausgeschlossen werden. Nicht die Existenz der Opposition ist die Quelle der Spannung und Entstabilisierung. Im Gegenteil: Je weniger die Regierung als legitim und vertrauenswürdig gilt, desto weniger ist sie fähig, spontane Ausbrüche, die durch verschiedene zufällige und unvorhersehbare Umstände verursacht worden sein könnten, zu kontrollieren. Je mehr repräsentative Institutionen es gibt, die das eigentliche Vertrauen der Bevölkerung genießen, desto geringer ist die Wahrscheinlichkeit, die sogar zur sowjetischen Invasion führen könnte." Der Erfolg einer realistischen und gleichzeitig moralisch orientierten Entspannungspolitik, die neben anderen Bemühungen auch auf die Liberalisierung in den Gesellschaften Osteuropas setzt, hängt entscheidend vom Gleichgewicht der Kräfte ab, d. h. in diesem Zusammenhang vom Gleichgewicht des politischen Willens. Sogenannte "Realpolitik" ohne die moralische, freiheitliche, menschliche Dimension würde den Westen gerade jener Stärke berauben, mit der er, anstatt sich apathisch und ängstlich sowjetischen Zielvorstellungen und Drohungen anzupassen, wieder ein ausgewogenes und gleichgewichtiges Ost-West-Verhältnis in Europa herstellen kann. Die Stärke des Westens ist die Idee der Freiheit, die sich vor allem in den Menschenrechten verkörpert. Mit unbeirrtem Eintreten für die Menschenrechte ermutigt der Westen den Freiheitswillen der Menschen und Völker in Osteuropa, die sich zunehmend wieder ihrer europäischen Tradition bewußt werden, schafft er ein natürliches Bündnis zwischen den Menschen und Völkern in West- und Osteuropa, trifft er die kommunistischen Regime an ihrer schwächsten Stelle, nämlich an der mangelnden Zustimmung der Völker. Ich habe bei diesen grundsätzlichen Ausführungen über die rechtliche Begründung und politische Notwendigkeit der humanen und moralischen
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Dimension einer wirklichen Entspannungspolitik konkret nur auf die Freizügigkeit abgestellt, weil dieser eine Schlüsselfunktion für die durch die Entspannungspolitik anzustrebende freiheitliche Evolution in Osteuropa zukommt. In ähnlicher Weise wäre dies aber auch an den übrigen Menschenrechten - an der Freiheit der Person, der Gewissens-, Religions- und Meinungsfreiheit, der Freiheit der Persönlichkeitsentfaltung, der Vereinigungsfreiheit und an den anderen Grundfreiheiten - zu demonstrieren. Ich möchte mir jedoch versagen darauf einzugehen, sondern nur ein Problem hervorheben: die Freiheit des internationalen und intersystemaren Informationsflusses und -kontaktes. Auch hier stellen die kommunistischen Staaten die KSZE-Schlußakte geradezu auf den Kopf. Sie mißbrauchen sie einerseits, um den unkontroHierten Informationsfluß von West nach Ost, der in der Schlußakte von Helsinki als legitim anerkannt ist, zu behindern und abzuwürgen. Mit dem Vorbehalt der staatlichen Souveränität, der nationalen Gesetzgebung, Sitten und Gebräuche sowie mit ZensuranspI'Üchen - Vorbehalte, die die Sowjetunion hartnäckig aber schließlich vergeblich in der Präambel zu Kovb III auch ausdrücklich zu verankern versucht hat - soll dieser Informationsfluß streng kontrolliert und kanalisiert werden. Die grenzüberschreitenden westlichen Informationsmedien wie Deutsche Welle, Radio Liberty, RFE, Stimme Amerikas und BBC sollen mundtot gemacht werden. Andererseits scheren die kommunistischen Propagandaapparate sich um keinen Deut, wenn es gilt, die öffentliche Meinung der offenen Gesellschaft des Westens informationsmäßig zu desinformieren und propagandistisch zu indoktrinieren. Während man westliche Information und Kritik mit dem Hinweis auf die Friedens- und Wohlverhaltenspflicht zu zensieren beansprucht, fordert man sogar in einem amtlichen Dokument der DDR vom Juni 1976 ausdrücklich die Haßerziehung gegenüber der Bundesrepublik Deutschland (Grußadresse der FDJ in der NVA und den Grenztruppen der DDR an das X. Parlament der FDJ vom 3. 6. 1976). Freizügigkeit von Informationen und Meinungen wird als angebliche Störung von Annäherung, Entspannung und Frieden denunziert, widerstandslose Hinnahme der kommunistischen Propaganda durch den Westen jedoch als Entspannungsbeitrag postuliert. Grundsätzlich hat sich in dieser Hinsicht nach Helsinki nichts geändert. Einige kosmetische, für die kommunistischen Regime ungefährliche Veränderungen können darüber nicht hinwegtäuschen.
V. 1. Dritte Teilbilanz: Auswirkungen der KSZE auf die west-östliche Zusammenarbeit in Wirtschaft und Wissenschaft.
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Diese ideologisch-politische Abgrenzungspolitik der kommunistischen Staaten ist auch dem Ausbau der von diesen aus ureigenem Interesse erstrebten wirtschaftlichen und wissenschaftlichen Zusammenarbeit zwischen Ost und West nicht dienlich. Ohne freieren Kontakt der Menschen, ohne freiere Information werden die wirtschaftliche und wissenschaftliche Zusammenarbeit zwischen Ost und West nicht über das Niveau schwerfälliger Kompensationsgeschäfte oder eines kanalisierten und kontrollierten wissenschaftlichen Austauschs hinauskommen. Dies gilt um so mehr, wenn man in die höhere Stufe der wirtschaftlichen und wissenschaftlich-technischen Kooperation aufsteigen möchte. Tatsächlich hat daher an der Ausweitung des Ost-West-Handels in den letzten Jahren die KSZE-Schlußakte mit ihren umfangreichen Absichtserklärungen des Korbes II auch kaum Anteil. Sie beruht vor allem auf der vom Osten bewußt in Kauf genommenen Hochverschuldung, die für die Jahre 1972 bis 1976 bereits die nicht mehr unbedenkliche Höhe von fast 100 Milliarden DM erreicht hat und bei einem Fortschreiten dieser Entwicklung bis 1980 auf 250 Milliarden DM anzusteigen droht. Wenn trotz dieser Kredithilfe des Westens der wirtschaftliche und technologische Rückstand des Ostens statt abzunehmen wächst, sind Zweifel an dem System dieser Zusammenarbeit erlaubt. Die Starthilfe des Marshallplans für das zerstörte Westeuropa betrug von 1948 bis 1952 rund 14 Milliarden Dollar, was heute 40 Milliarden Dollar, d. h. 100 Milliarden DM entsprechen würde. Wenn hieraus der Wiederaufbau der westeuropäischen Wirtschaft zur heutigen Weltbedeutung erwuchs, war dies nicht nur der Dollarhilfe, sondern der schöpferischen Kraft der Freiheit als Ordnungsprinzip zu verdanken. Demgegenüber gleichen die Absichtserklärungen des Korbes II der KSZE-Schlußakte eher einem Zerrbild des freien Welthandels, geradezu einem Modell "gesamteuropäischer sozialistischer Plan- und Verwaltungswirtschaft" . Auch dieser Zusammenhang demonstriert die Schlüsselfunktion der mit der dem Ruf nach Menschenrechten zum Ausdruck kommenden freiheitlichen Emanzipations'bestrebungen der Menschen und Völker Europas. Ohne die Effizienz der Freiheit werden Ost-West-Handel und wirtschaftliche und wissenschaftlich-technische Zusammenarbeit keine Zukunft haben. 2. Tatsächlich haben die Absichtserklärungen des umfangreichen Korbes II der KSZE-Schlußakte seit Helsinki nur kaum merkbare konkrete Fortschritte für das diesbezügliche Ziel der KSZE gebracht, nämlich eine ausgewogene und dauerhafte Regelung der wirtschaftlichen und wissen-
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schaftlich-technischen Beziehungen zwischen den west- und osteuropäischen Staaten im Gesamtrahmen der Entspannungspolitik zu schaffen. -
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Im Bereich der bilateraLen Handetsförderung sind nur einige Zulassungen von Firmenvertretungen in der CSSR und Bulgarien und einige Erleichterungen von Geschäftskontakten in einzelnen osteuropäischen Staaten positiv zu vermerken. Einige Absichtserklärungen des Korbes II gingen in die Kooperationsabkommen mit Polen und der UdSSR ein. Das starre Außenhandelsmonopol der Ostblockstaaten, das z. B. in der DDR noch durch die Verordnung vom 30. 9. 1976 verschärft wurde, erweist sich als ein wesentliches Hindernis für die Erleichterung und Ausweitung des Ost-West-Handels. Nicht besser ist es bei den Bemühungen um die Verbesserung der Wirtschaftsinformationen. Im Bereich der wissenschaftlich-technischen Zusammenarbeit kam der Westen mit seinen Forderungen nach verbesserten Direktkontakten zwischen den Wissenschaftlern und wissenschaftlichen Institutionen nur geringfügig voran.
3. Die multilaterale Implementierung zahlreicher Absichtserklärungen des Korbes II ist der Europäischen Wirtschaftskommission der Vereinten Nationen (ECE) zugewiesen worden, deren Mitgliederkreis inzwischen mit dem Teilnehmerkreis der KSZE identisch gemacht wurde. Die ECE wurde im Text des Korbes II hinsichtlich der Implementierung der Absichtserklärungen ausdrücklich in folgenden Bereichen angesprochen: .-
Registrierung von Außenhandelsgesetzen; Angleichung statistischer Nomenklatoren in Handel und Wirtschaft; Handels- und Absatzförderung; Information über industrielle Kooperationsverträge; Prüfung von multilateralen Forschungsprojekten; Prüfung von multilateralen Konferenzen, Symposien von jüngeren Wissenschaftlern; - Aufnahme der Absichtserklärungen zu Umweltfragen in die Arbeitsprogramme der entsprechenden Organe der ECE;
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Aufnahme der Absichtserklärungen für gesamteuropäische Verkehrsfragen in die Arbeitsprogramme des Binnenverkehrsausschusses der ECE; - Ersuchen an die Mitgliedsstaaten der Zentralkommission für die Rheinschiffahrt und die Donaukommission, die laufenden Arbeiten innerhalb der ECE weiterzuführen. In der ersten Phase bis zur 31. Generalversammlung der ECE im März 1976 reagierten die zahlreichen Fachausschüsse der ECE unterschiedlich, am positivsten das Handelskomitee, das die KSZE-Implementierung in sein Arbeitsprogramm für 1976/77 aufnahm.
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Die 31. Generalversammlung beschloß die Anpassung der ECE-Arbeitsprogramme an KSZE-Bestimmungen und eine möglichst intensive Einschaltung der ECE in diese Implementierung der KSZE. Eine Entscheidung über den sowjetischen Vorschlag, drei gesamteuropäische Konferenzen über Verkehrs-, Umwelt- und Energiefragen abzuhalten, wurde jedoch von der Generalversammlung bis zum Herbst 1977 verschoben. Westlicherseits sieht man hierin eher ein sowjetisches Ablenkungsmanöver, um mit spektakulären Folgekonferenzen den KSZE-Prozeß zu institutionalisieren und von der Verwirklichung unangenehmer Absichtserklärungen abzulenken. Westlicherseits tendiert man dazu, diese Fragen der bewährten und sachlichen Arbeitsweise der bestehenden ECE-Organe anzuvertrauen. Allgemein läßt sich somit sagen, daß die multilaterale Implementierung der KSZE im Rahmen der ECE erst am Anfang steht. Ähnlich ist es auch bei der UNESCO, die sich im Sommer 1977 auf einer Konferenz in Helsinki mit der multilateralen Implementierung der KSZE im Bereich der Wissenschaft und Technik befassen wird. 4. Von Interesse sind ferner die regionalen Bemühungen zur Verbesserung der wirtschaftlichen Zusammenarbeit auf der Grundlage der KSZE-Schlußakte, wie sie im Sommer 1976 auf griechische Initiative mit einem Treffen der Balkanstaaten in Athen eingeleitet wurden. Ein weiteres Treffen ist von den Teilnehmerstaaten (Türkei, Jugoslawien, Rumänien, Bulgarien und Griechenland) noch vor Belgrad vorgesehen.
5. Ein besonders wichtiges Problem im Zusammenhang mit der Implementierung der KSZE-Schlußakte ist schließlich das Verhältnis der einzelnen Staatshandelsländer und des RGW insgesamt zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft.
Mit dem Vorschlag vom 16. 2.1976, ein Abkommen über die Prinzipien der gegenseitigen Beziehungen zwischen denbe~den wirtschaftlichen Zusammenschlüssen RGW und EG ,abzuschließen, versuchte die sowjetische Hegemonialmacht des RGW, die Bemühungen der einzelnen osteuropäischen Länder, vor allem Rumäniens, Polens und Ungarns, in direkte handelsvertragliche Beziehungen mit der EG zu kommen, zu blockieren und versucht Moskau ferner, parallel zu dem seit Helsinki verstärkten sowjetischen Integrationsdruck innerhalb des RGW die noch bestehende nationale Außenhandelsvertragskompetenz der RGW-Länder zu liquidieren und diese somit auch außenwirtschaftlich voll der sowjetischen Kontrolle zu unterwerfen. Die Sowjetunion besteht in dem .&bkommensentwurf RGW - EG ferner auf der Gewährung der Meistbegünstigungsklausel für alle RGW -Staa-
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ten, zeigt jedoch keine Bereitschaft, sich im Gegenzug dem internatiomilen Standard des Welthandels, etwa durch den Beitritt zum GATT, zu unterwerfen - im Unterschied zu Rumänien, Polen, CSSR und Ungarn, die GATT-Mitglieder sind. Mit Recht hat daher die EG in ihrem Verhandlungs-Gegenentwurf diese vom Eigeninteresse der Sowjetunion diktierten Forderungen abgelehnt. Es liegt nicht im Interesse der EG und der EG-Mitgliedsländer, durch die unterschiedslose Gewährung der Meistbegünstigungsklausel ihren gemeinschaftlichen Besitzstand der Wirtschafts- und Zollunion aushöhlen zu lassen und - entgegen dem allgemein-politischen Ziel der westlichen Entspannungspolitik - die osteuropäischen Staaten noch mehr in den sowjetischen Hegemonialverband des RGW hineinzupressen. Die freiwillige Integration der Neun läßt sich nicht auf eine Stufe stellen mit der Zwangsintegration des RGW, in der die Volkswirtschaften der osteuropäischen Staaten nur Zulieferwirtschaften für die allein autarke sowjetische Wirtschaft werden sollen. Das im Gegenentwurf der EG vom November 1976 vorgeschlagene Rahmenabkommen zwischen EG und RGW - eingeschränkt auf mehr technische Fragen der wirtschaftlichen Zusammenarbeit - würde den einzelnen osteuropäischen Staaten die Möglichkeit lassen, ihre rechtlich noch bestehende Außenhandelsvertragskompetenz auch faktisch ~u nutzen. Es würde ferner die Einwirkungsmöglichkeiten der Sowjetunion auf die Entwicklung der EG ausschließen. Andererseits würde sich die EG ihre Einwirkungsmöglichkeiten auf die einzelnen osteuropäischen Länder mittels direkter Handelsverträge zwischen diesen und der EG aufrechterhalten. Diese Option muß auch offengehalten werden, um die auf der KSZE vom Westen durchgesetzte Verknüpfung von Korb 11 und Korb 111 zu bewahren. Die Auflösung dieses Zusammenhangs würde das vorrangige östliche Streben nach Vorteilen der wirtschaftlichen und wissenschaftlich-technischen Zusammenarbeit ohne östliche Gegenleistungen auf dem Gebiet der menschlichen und kulturellen Ost-WestBeziehungen nur begünstigen. Mit der Akzeptierung der Formel: "Korb 11 zum Nulltarif" würde der Westen einen wichtigen Verhandlungshebel, den er aufgrund seiner wirtschaftlichen Stärke besitzt, ohne Gegenleistung aus der Hand geben. VI.
Vierte Teilbilanz: KSZE und militärische Sicherheitslage in Europa. 1. Ausgewogene Entspannungspolitik bedarf ebenso wie des Gleichgewichts des politischen Willens auch eines Gleichgewichts der militärischen Kräfte. Nur durch ein ausreichendes Abschreckungs- und Vertei-
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digungspotential kann der Westen verhindern, daß er eines Tages wehrlos einer politischen Erpressung oder militärischen Bedrohung seitens der nach wie vor expansiven Sowjetunion ausgesetzt ist. Nur dadurch kann er auch verhindern, daß kommunistische Diktaturen aus ihren inneren Krisen heraus die Flucht in außenpolitische oder sogar militärische Krisen antreten. Insofern ist eine angemessene westliche Sicherheitspolitik auch von vitaler Bedeutung für den Fortgang der freiheitlichen Emanzipation der Menschen und Völker im sowjetischen Machtbereich. Aber gerade in dieser Hinsicht ist 11/2 Jahre nach Helsinki offenkundig, daß die KSZE die militärische Sicherheit des Westens nicht gefördert hat, noch in der Lage ist, sie wesentlich zu fördern. Insofern verdient die KSZE als "Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa" ihren Namen nicht. Moskau hatte sich im Vorfeld der KSZE zunächst geweigert, Fragen der militärischen Sicherheit auf der KSZE überhaupt zu behandeln. Schließlich fügte es sich widerwillig dem Drängen des Westens und erklärte es sich bereit, die sogenannten "vertrauensbildenden Maßnahmen im militärischen Bereich" zu vereinbaren. Der geringe militärische Wert dieser Vereinbarungen war von Anfang an bekannt. Ebenso gering hat sich aber auch die psychologisch-politische, d. h. vertrauensbildende Wirksamkeit dieser Vereinbarungen bisher erwiesen. Die Warschauer-Pakt-Staaten erfüllten seit Helsinki diese Verpflichtungen nur zögernd und lückenweise. Sie meldeten lediglich drei Manöver mit mehr als 25 000 Mann beteiligter Soldaten an und luden hierzu nur selektiv Beobachter aus den unmittelbaren Nachbarländern, Türkei und Dänemark, ein. Mehrfach entzogen sie sich der Notifizierungspflicht durch räumliche und zeitliche Aufteilung von Manövern. Zu den 13 Manövern, die von den NATOStaaten notifiziert wurden, war trotz Einladung an alle Warschauer-PaktStaaten kein einziger Manöverbeobachter erschienen. 2. Schwerwiegender als diese restriktive Haltung der WarschauerPakt-Staaten gegenüber den "vertrauensbildenden Maßnahmen" ist jedoch, daß mit dem voreiligen Abschluß der KSZE der Westen selbst den früher von ihm richtigerweise als notwendig erkannten zeitlichen und sachlichen Zusammenhang zwischen Bemühungen um politische Entspannung und Stabilisierung der militärischen Sicherheitslage in Europa, d. h. verhandlungstechnisch zwischen KSZE und MB FR, aufgegeben hat. Wie wenig Hoffnung auf eine echte Verständigungsbereitschaft Moskaus in den MBFR-Verhandlungen in Wien besteht, zeigt die Tatsache, daß die Sowjetunion sich weigert, den Grundsatz der Parität auch für die beiderseitigen konventionellen Truppenstärken in Mitteleuropa zu ak-
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zeptieren, den sie auf dem Gebiet der nuklearstrategischen Kräfte in den Verhandlungen mit den USA stets für sich gefordert hat. Dies zeigt ferner die T·atsache, daß die Sowjetunion hinter dem Vorhang der jahrelangen KSZE- und MBFR-Verhandlungen ihr mitilärisches Potential in einem Maße ausgebaut hat, das ihre legitimen Verteidigungsbedürfnisse weit übersteigt und ihre konventionelle überlegenheit in Europa noch vergrößert. Hinzu kommen die wachsende Bedrohung der Nord- und Südflanke der NATO und das weltweite Vordringen der rasant wachsenden sowjetischen Hochseeflotte. Der Aufbau dieses umfassenden militärischen Angriffspotentials und gleichzeitig polittschen Droh- und Erpressungsinstrumentariums verstärkt die Zweifel an einer wirklichen Entspannungsbereitschaft Moskaus. Es ist daher keine vorschnelle und leichtfertige Unterstellung, wenn in der westlichen Entspannungsdiskussion der letzten Monate angesichts dieser nachprüfbaren Tatsachen immer lauter gefragt wird, welche politischen Intentionen Moskau mit dem Aufbau dieser militärischen Kapazitäten verfolgt. Politische Entspannung ist ohne ein Mindestmaß an beiderseitigem Vertrauen nicht möglich. Dieses kann aber kaum erwartet werden, wenn und solange die Sowjetunion auf der Aufrechterhaltung ihres - wie sie sagt - "historisch gewachsenen" militärischen übergewichts in Europa beharrt und sich den westlichen Vorschlägen für eine ausgewogene, die Sicherheit beider Seiten gewährleistende Rüstungsbegrenzung in Europa auf der Basis der Parität widersetzt.
VII.
Zusammenfassende überlegungen für Belgrad. Teilbilanzen und Gesamtbilanz der bisherigen KSZE-Auswirkungen legen folgende operative überlegungen für das überprüfungstreffen in Belgrad nahe: 1. Der Westen sollte von seiner in Helsinki bezogenen Linie hinsichtlich der Fortsetzung der KSZE-Politik auch in Belgrad nicht abgehen. Er sollte seine Entscheidungsfreiheit darüber, ob und wie die multilateralen Ost-West-Verhandlungen im KSZE-Rahmen fortgeführt werden sollen, vom Ergebnis des überprüfungstreffens und der Beurteilung der Gesamtlage abhängig machen. Keine automatische und irreversible Periodisierung und Institutionalisierung der KSZE!
2. Der Westen darf in Belgrad die Diskussion über den Interpretationsstreit um Gesamtcharakter und einzelne Prinzipien des Prinzipienkatalogs der KSZE-Schlußakte nicht scheuen. Insbesondere die Bundes-
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regierung darf die einseitige Umdeutung der Schlußakte vor allem durch Moskau und Ostberlin nicht widerspruchslos hinnehmen. Für uns ist die KSZE keine Ersatzfriedenskonferenz für und über Deutschland und kein akzeptables Grundmuster für eine endgültige territoriale und politische Neuordnung Europas auf der Grundlage der Teilung Deutschlands und Europas. Wir bestehen nach wie vor darauf, daß die "deutsche Option" und die "europäische Option" offen bleiben. Wir bestehen darauf, daß Berlin nicht angetastet wird. Berlin bleibt Prüfstein der Entspannungspolitik. 3. Die faktische Hinnahme des bestehenden territorialen Status quo ist Ausdruck der grundsätzlichen Bereitschaft des Westens zum Gewaltverzicht und seiner Verantwortung für den Frieden in Europa. Sie ist jedoch keine Kapitulation vor den ungesunden Realitäten im geteilten Europa und geteilten Deutschland. Entspannungspolitik ist nur sinnvoll, wenn sie auf den Abbau der Spannungsursachen gerichtet ist, die vor allem in der unnatürlichen Teilung Europas und Deutschlands, in der Unfreiheit im östlichen Teil Europas und in der Bedrohung des freien Teils Europas durch die expansive Politik der Sowjetunion fortbestehen. Der Westen darf daher auch die Diskussion über diese Europa bedrängenden Fragen nicht scheuen. 4. Dies erfordert insbesondere eine Diskussion der menschenrechtlichen Lage in ganz Europa als einem wesentlichen Faktor für echte Entspannung. Als Grundlage hierfür wäre eine nur buchhaltermäßige Vberprüfung der Ausführung der konkreten Absichtserklärungen der Schlußakte ungenügend. Gemäß den Prinzipien VII und VIII der Schlußakte sind die Verletzungen der Menschenrechte und des nationalen Selbstbestimmungsrechts der Völker in ihrer Gesamtbreite in Form von objektiven Dokumentationen als entspannungs- und friedensstörende Faktoren zur Sprache zu bringen. Die Bundesrepublik Deutschland hat hierbei aufgrund ihres Verfassungsauftrags und ihrer moralischen Grundwerte eine besondere Verpflichtung, für die Wahrung der Menschenrechte in ganz Deutschland und aller Deutschen einzutreten. In diesem Zusammenhang wäre zu erwägen, die Schaffung einer internationalen Vberprüfungs- und Beschwerdeinstitution zum Schutz der Menschenrechte in Form einer Menschenrechtskommission im KSZERahmen nach dem Vorbild der Menschenrechtskommission und des Menschenrechtsgerichtshofes des Europarates und des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften in Angriff zu nehmen. In einer in Belgrad vorzuschlagenden Absichtserklärung könnte das Mandat des in Helsinki bereits beschlossenen Expertentreffens zur Ausarbeitung des von der
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Schweiz eingebrachten Entwurfs für ein System der friedlichen Streitschlichtung zwischen den Staaten entsprechend erweitert werden (Prinzip V und Ziffer II der Bestimmungen über Fragen der Verwirklichung einiger Prinzipien der Schlußakte). Hierbei wäre auch zu prüfen, wie die heute besonders entspannungsstörende Problematik um das Menschenrecht der Freizügigkeit und Auswanderungsfreiheit etwa durch eine Absichtserklärung zugunsten von bilateralen Optionsverträgen entschärft werden könnte. In die Diskussion über den Menschenrechtsschutz sollten schließlich auch Vorkehrungen für den Schutz der kulturellen Gruppenrechte von nationalen Minderheiten in Europa einbezogen werden. 5. Für die Förderung der grenzüberschreitenden menschlichen und kulturellen Kontakte als einem wesentlichen Faktor für besseres Verständnis unter den Völkern wären weitergehende Absichtserklärungen zugunsten des Ausbaus der europäischen Jugendkontakte, auch auf individueller Basis, und zum Ausbau der kultrellen Kontakte erwägenswert. 6. Die Verwirklichung der Absichtserklärungen des Korbes II zugunsten unmittelbarer Kontakte zwischen den Menschen, Unternehmungen und Institutionen im Bereich der wirtschaftlichen und wissenschaftlichtechnischen Zusammenarbeit sollte in Belgrad vorrangig vor einer inflationären Ausweitung neuer spektakulärer und sachfremder Entspannungsofferten, die nur von der mangelhaften Erfüllung der in Helsinki übernommenen Verpflichtungen ablenken sollen, in Betracht gezogen werden. Statt der von Breschnew vorgeschlagenen Sonderkonferenzen über gesamteuropäische Verkehrs-, Energie- und Umweltfragen sollte die ECE hiermit beauftragt werden. Die Verhandlungen zwischen EG und RGW sollten in Belgrad nicht durch Absichtserklärungen in einer Richtung präjudiziert werden, die der bisher von der EG in Helsinki und bei dem bisherigen Dialog mit dem RGW bezogenen Linie widersprechen würden. 7. Der in Helsinki preisgegebene sachliche und zeitliche Zusammenhang zwischen Entspannungsfortschritten in politischem, wirtschaftlichem und menschlichem Bereich einerseits und in militärischem Bereich andererseits sollte wieder stärker berücksichtigt werden, indem Entscheidungen über die Fortführung der KSZE-Politik von parallelen Fortschritten bei den MBFR-Verhandlungen mitbestimmt werden sollten. Zu erwägen wäre ferner - im Rahmen der "vertrauensbildenden Maßnahmen" - eine Senkung der Notifizierungsschwelle bei Manöver-
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ankündigungen, etwa von den bisher vereinbarten 25 000 Mann beteiligter Soldaten auf 10 000 Mann. 8. Bei der Vorbereitung des Belgrader überprüfungstreffens und in Belgrad selbst sollte die bei den bisherigen KSZE-Verhandlungen in Genf und Helsinki zunehmend bewährte Geschlossenheit der EG- und NATO-Staaten und deren Konzertierung mit den neutralen Staaten noch verbessert werden. 9. Schließlich wird die für Europa vitale Entscheidung, ob die KSZE der von der Sowjetunion erstrebten Festigung ihres Besitzstandes und Ausweitung ihres Einflusses auf Westeuropa führen wird oder ob die in den bisherigen Auswirkungen der KSZE ansatzweise sichtbar gewordene Dynamik des freiheitlichen Emanzipationsprozesses in Osteuropa sich durchsetzen wird, wesentlich von der Wiederbelebung der Idee der Freiheit als einem Grundwert Europas abhängen. Diese Offensive für Freiheit in ganz Europa, für Menschenrechte und nationale Selbstbestimmung kann aber nicht allein Sache der Regierungen sein. Sie muß getragen werden von allen politischen und gesellschaftlichen Kräften, die sich der Idee der Freiheit verpflichtet fühlen.
BEMERKUNGEN ZU EINER BILANZ DER KSZE-ERGEBNISSE Von Wilhelm Grewe 1. KSZE war ein durch Jahrzehnte hindurch konsequent verfolgtes Ziel der Sowjetunion. Sie erstrebte damit:
a) eine internationale Sanktionierung des Status quo der Nachkriegszeit (Ersatz-Friedensvertrag); b) als Teilstück dieser Sanktionierung insbesondere die Anerkenung der DDR; c) die Institutionalisierung der sowj. Hegemonie in Europa, insbesondere durch ein permanentes Organ der Konferenz. Mit c) ist sie gescheitert. b) war schon erreicht, als die Konferenz von Helsinki die Schlußakte unterzeichnete. a) ist erreicht worden wenn auch nicht in Form eines eindeutig völkerrechtlich bindenden Vertrages. Eine Fehlkalkulation war Helsinki für die Sowjetunion also nur insoweit, als sie nicht alles erreicht hat, was ihr vorschwebte. Im großen und ganzen war Helsinki ihr Erfolg. 2. Eine Fehlkalkulation lag weiterhin allenfalls darin, daß die Sowjetunion die explosive Wirkung des Korbs III nicht rechtzeitig erkannte. Korb !II ist sicher als Erfolg des Westens zu werten; er hat die vom Westen unterstützte Bewegung zur Durchsetzung der Menschenrechte in Osteuropa stärker als erwartet gefördert. 3. Dieser Erfolg wird allerdings gemindert durch die Tatsache, daß man zusammen mit den SowJets Formulierungen unterschrieben hat, von denen man genau weiß, daß sie keine echten Garantien der Menschenrechte sind, sondern im Osten so interpretiert und manipuliert werden, daß sie wirkungslos werden. Man verhilft damit den Menschenrechtsartikeln kommunistischer Verfassungen zu unverdienter Respektabilität und trägt im Ergebnis zu einer Deformierung der Menschenrechte bei. 4 KSZE
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4. Daß die Schlußakte kein förmlich bindender Völkerrechtsvertrag ist, ist zu begrüßen. Damit ist einer Entwicklung zu einem regionalen europäischen Teilvölkerrecht ein Riegel vorgeschoben. Aber man darf das nicht überschätzen: in der breiteren Öffentlichkeit unterscheidet niemand zwischen Völkerrechtsnormen und politischmoralischen Programms ätzen. Die Sanktionierung der Grenzen in der Schlußakte wirkt psychologisch wie ein Friedensvertrag. Auch muß damit gerechnet werden, daß solche Sätze, die heute noch kein Völkerrecht sind, im Laufe der Zeit dazu werden - nicht zuletzt durch die Wirkungen von Helsinki. Wenn der Westen eine auf Helsinki gestützte Menschenrechtskampagne verfolgt, trägt er selbst dazu bei, diesen Prozeß der Verrechtlichung der Schlußakte zu fördern. 5. Die Bewertung von Korb II! ist schwierig und komplex. Menschenrechte betreffen immer temporäre Einzelfälle - Grenzen sind etwas Dauerhaftes. Abwägung gegeneinander daher problematisch. Ob die Dissidenten-Bewegung wirklich Breitenwirkung gewinnen wird, steht dahin. Noch hat sie eine solche nicht. 6. Ihre Unterstützung durch westliche Regierungen und eine von diesen aktiv und gezielt betriebene Kampagne zum Schutz der Menschenrechte in Osteuropa muß in naher Zukunft eine Gefahrenschwelle erreichen. Sie kann nur zu Situationen führen, die man schon kennt: 17. Juni 1953, Ungarn 1956, Prag 1968. Da der Westen kaum weiter gehen wird als damals, bleibt ihm nur der Rückzug von seinen überzogenen Positionen übrig - d. h. eine moralische Niederlage. 7. Der Westen hat sein wichtigstes KSZE-Ziel nicht erreicht: einen sicherheitspolitischen Fortschritt. Die Sicherheitsbestimmungen der Schlußakte sind kaum der Rede wert. Die MBFR-Verhandlungen wurden erst abgekoppelt, dann immer mehr denaturiert, ein Ergebnis ist nicht abzusehen. 8. Ein unzweifelhafter Erfolg ist die Mitwirkung der USA und Kanadas und die Anerkennung, daß sie für die europäische Sicherheit mitverantwortlich sind. Positiv war auch die enge Kooperation von NATOund EG-Mitgliedern in den Verhandlungen. Erfreulich auch, daß sich die europäischen Neutralen nicht einschüchtern ließen und sich nicht scheuten, der Sowjetunion entgegenzutreten.
Bemerkungen zu einer Bilanz der KSZE-Ergebnisse
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9. Die Gefahr einer durch Helsinki ausgelösten Euphorie auf dem Gebiete der Sicherheit ist noch nicht überwunden. Sie kann zu einem weiteren verhängnisvollen Nachlassen der Verteidigungsanstrengungen führen. 10. In bezug auf die Deutschland-Politik ist anzuerkennen, daß eine Anzahl sowjetischer Zielsetzungen durchkreuzt, relativiert, abgebogen worden ist. Daß es schließlich gelungen ist, ein so selbstverständliches und schon vor Jahrzehnten anerkanntes Prinzip wie Peaceful Change (d. h. Grenzänderungen mit friedlichen Mitteln) zu verankern, ist gewiß positiv, aber auch kein Grund zu besonderer Begeisterung. 11. Bei aller Anerkennung solcher begrenzter Teilerfolge darf doch nicht übersehen werden, daß die Schlußakte von Helsinki international als der große Schlußstrich unter die Teilung Deutschlands gewertet werden wird. Zwar ist dieses Ergebnis durch den Grundvertrag bereits zum großen Teil vorweggenommen worden. Es macht aber immer noch einen erheblichen Unterschied, ob das bilateral oder durch einen großen internationalen Akt aller europäischen Staaten erfolgt. 12. Als Gewinn wird die KSZE für die Entspannungspolitik - für die es nach wie vor keine Alternative gibt - zu werten sein. Prozedural wie inhaltlich wird sie nützliche Dienste für eine Konkretisierung der Elemente dieser Politik leisten können. Im Endergebnis zeigen sich sowohl Plus- wie Minus-Punkte, deren Addition auf der positiven oder negativen Seite jedem, der eine Bilanz zu ziehen sucht, selbst überlassen bleiben mag.
DIE VÖLKERRECHTLICHEN ASPEKTE DER KSZE-SCHLUSSAKTE Von Dieter Blumenwitz Die Schwierigkeiten beginnen bereits mit der Titulierung: "Schlußakte" (Acte final, final act). Die Wiener Konvention über das Recht der Verträge vom 23. Mai 1969 definiert nur den Begriff "Vertrag"; nach Art. 2 Ziff. 1 lit. a bedeutet Vertrag "an international agreement conc1uded between States in written form and governed by international law, whether embodied in a single instrument or in two or more related instruments and whatever its particular designation". Die Konvention verzichtet jedoch darauf, das "governed by international law" näher zu umreißen - also insbesondere die Unterscheidungsmerkmale zwischen Rechtsvertrag und sog. Nicht-Rechtsvertrag 1 klar herauszustellen; das Gleiche gilt für die Problematik des sog. "soft-law"2, also formell-rechtlich korrekt abgefaßte Erklärungen, die aber keine konkrete Verpflichtung beinhalten. Beide Problemkreise werden mit der KSZE-Schlußakte angesprochen. In der diplomatischen Sprache versteht man unter "Akte" die Zusammenfassung der Ergebnisse einer Konferenz in einem Dokument; von einer Schlußakte spricht man, wenn die Zusammenfassung der Ergebnisse "die Verhandlungen umfassend und nach sachlichen Gesichtspunkten zu sondernde Gebiete zum Gegenstand" hat. In dem Recht der Verträge von Lord MacNair heißt es zu "act": "usually denoting a multilateral treaty which establishes rules of law or a regime, such as the Act of Algeciras of 7 April 1906"; der "final act" wird wie folgt definiert: "a formal statement or summary of the proceedings of a congress or conference, enumerating the treaties or conventions drawn up as the result of its deliberations." Die Definitionen von Lord MacNair deuten demnach auf rechtlich Gestaltetes hin. 1
Vgl. Blumenwitz, Das deutsch-polnische Ausreiseprotokoll vom 9. Oktober
1975. Ein Beitrag zur Abgrenzung von vertraglichen und nichtvertraglichen
Verpflichtungen in der neueren Staatenpraxis. In: Festschrift für Frhr. von der Heydte, I, S. 47 (57 ff.). 2 Der Ausdruck "soft law" stammt wohl von Lord MacNair; vgl. dazu Wengler, Rechtsvertrag, Konsensus und Absichtserklärung im Völkerrecht, in: JZ 1976, S. 195 Anm. 19.
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Dieter Blumenwitz
I. Die Frage, was hinter dem terminus technicus "Schlußakte" im Zusammenhang mit der "feierlichen Annahme" des Textes von Helsinki vom 1. August 1975 steht, wird in Ost und West unterschiedlich beantwortet8 und läßt sich nur in einer differenzierteren Erörterung ergründen. 1. Das KSZE-Schlußdokument, das über die Konferenzergebnisse berichtet, ist nämlich mit seinen über 30000 Worten ein sehr komplexes Instrument4 • Es gliedert sich zunächst in drei große Abschnitte: -
eine Einleitung, ein Dokumententeil, die Schlußklauseln des Gesamtdokuments.
Die Einleitung enthält in vier Einleitungssätzen in "KommuniqueSprache" eine kurze Schilderung des Konferenzverlaufs; es folgt ein Absatz in "politischer Sprache", in dem die Teilnehmerstaaten die Absicht und die Notwendigkeit unterstreichen, durch Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa den Entspannungsprozeß zu fördern, und eine überleitung zu den eigentlichen Konferenzdokumenten. Der Dokumententeil enthält die in Genf erarbeiteten Konferenzdokumente, auf die im einzelnen noch zurückzukommen sein wird. Die Schlußklauseln des Gesamtdokuments regeln die Ausfertigung der Konferenzdokumente in den sechs Konferenzsprachen (zu denen auch Deutsch zählt), die Veröffentlichung und Verbreitung der Schlußakte in den Teilnehmerstaaten und die übermittlung der Schlußakte durch die finnische Regierung an die Vereinten Nationen, wobei sichergestellt wird, daß die Akte zwar als "offizielles Dokument der Vereinten Nationen", nicht aber als ein nach Art. 102 UN-Charta registrierbarer "Vertrag oder ein internationales Abkommen gemäß diesem Artikel" erscheinen (sog. "legal disclaimer"). Unterzeichnet wurde von den Vertretern der 35 Teilnehmerstaaten die Schlußakte als solche, nicht die einzelnen Dokumente des Dokumententeils. Die Verbindung zum eigentlichen operativen Teil der Konferenzergebnisse wird durch den Schlußsatz hergestellt, in dem die Teilnehmerstaaten ihre "Entschlossenheit" dokumentieren, "in Übereinstimmung mit den Bestimmungen in den oben angeführten Texten zu handeln". Dieser modus procedendi zeigt nicht zuletzt, wie verbissen um die Vorfrage der "nur" politischen oder auch völkerrechtlichen Bindung der Konferenzergebnisse für die Teilnehmerstaaten gerungen wurde. 3 Schweisfurth, Zur Frage der Rechtsnatur, Verbindlichkeit und völkerrechtlichen Relevanz der KSZE-Schlußakte, in: ZaöRVR 1976, S. 681 ff. t Deutscher Text: Deutscher Bundestag 7. Wahlperiode - Drs. 7/3867 vom 23. 7.1975.
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2. Die eigentlichen Konferenzergebnisse erscheinen im Dokumententeil; in seinem Aufbau reflektiert er die Gliederung des Konferenzstoffes in die sog. vier Körbe, auf die man sich bei der Verabschiedung der Tagesordnung in der Eröffnungsphase in Helsinki geeinigt hat: -
Fragen der Sicherheit in Europa (Korb I);
-
Zusammenarbeit in den Bereichen der Wirtschaft, der Wissenschaft und der Technik sowie der Umwelt (Korb II);
-
Zusammenarbeit in humanitären und in anderen Bereichen (Korb III);
-
die Folgen der Konferenz (Korb IV);
-
hinzu kommt noch die in den letzten heißen Konferenztagen besonders von Malta hartnäckig verfolgte sog. Mittelmeererklärung, die in der Schlußakte zwischen Korb II und Korb III eingeschoben wurde.
Die im Korb I geregelten "Fragen der Sicherheit in Europa" bestehen aus (1) einer Präambel, die die wichtigsten Themen des Abschnitts hervorhebt, (2) der Erklärung über die Prinzipien, die die Beziehungen der Teilnehmerstaaten leiten (die sog. Zehn Prinzipien mit einem Einleitungstext, der sog. "Minipräambel" und einer Schlußklausel). In einem weiteren Teil dieses Abschnitts werden (3) "Fragen der Verwirklichung einiger der vorstehenden Prinzipien" angesprochen; es folgt schließlich (4) das Dokument über "vertrauensbildende Maßnahmen und bestimmte Aspekte der Sicherheit und Abrüstung". Da sowohl die Konferenzfolgen im sog. Korb IV wie auch die Fragen der Verwirklichung des Prinzipienkatalogs nur unverbindlich formuliert sind, steht der eigentliche Prinzipienkatalog im Mittelpunkt der völkerrechtlich analysierbaren Ergebnisse. Er bildet damit auch das Kernstück der Vereinbarungen der Konferenz. Da nach der Schlußklausel des Prinzipienkatalogs alle Prinzipien "von grundlegender Bedeutung" sind und "folglich gleichermaßen und vorbehaltslos" anzuwenden sind (wobei jedes Prinzip "unter Beachtung der anderen ausgelegt wird"), sind zunächst alle Prinzipien in ihrem Zusammenhang kurz zu erläutern, bevor dann spezielle Regelungen im einzelnen vertieft werden können.
3. Prinzip I ("Souveräne Gleichheit, Achtung der der Souveränität innewohnenden Rechte") räumt den Staaten folgende Positionen ein: das Recht auf rechtliche Gleichheit, territoriale Integrität, Freiheit, politische Unabhängigkeit, freie Systemwahl und seine Fortentwicklung, Unabhängigkeit der Gesetzgebung; das Recht eines jeden Staates, seine
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Außenbeziehungen im Einklang mit dem Völkerrecht frei zu gestalten; die Vertrags- und Bündnisfreiheit (einschließlich der Respektierung der Neutralität). Zwischen die freie Gestaltung der Außenbeziehungen und der Vertrags- und Bündnisfreiheit wurde dann noch eine wichtige grenzbezogene Bestimmung eingeschoben, die den sog. "peaceful change" absichern soll: "Die Teilnehmerstaaten sind der Auffassung, daß ihre Grenzen, in übereinstimmung mit dem Völkerrecht, durch friedliche Mittel und durch Vereinbarung verändert werden können." Prinzip II ("Enthaltung von der Androhung oder Anwendung von Gewalt") enthält das allgemeine Gewaltverbot und hebt als Schutzobjekt die territoriale Integrität und die politische Unabhängigkeit der Staaten besonders hervor. Prinzip III ("Unverletzlichkeit der Grenzen") enthält die zentrale Bestimmung der grenzbezogenen Regelungen des Prinzipienkatalogs und wird in seinem vollen Wortlaut unten noch eingehend darzustellen sein. Prinzip IV ("Territoriale Integrität der Staaten") greift ein Element des Prinzips II durch die Formulierung konkreter Tatbestände wieder auf: die Staaten enthalten sich jeder Handlung - insbesondere der Androhung und Anwendung von Gewalt - gegen die territoriale Integrität, politische Unabhängigkeit und Einheit der Staaten, verzichten auf militärische Besetzung und erkennen gewaltsamen Gebietserwerb nicht an. Prinzip V ("Friedliche Regelung von Streitfällen") ist wegen seiner unverbindlichen Formulierung (freie Wahl der friedlichen Mittel der Streiterledigung; Enthaltung von Handlungen, die Streitfälle verschärfen und friedliche Regelungen erschweren) für die Lösung aktueller Fragen weniger ergiebig. Prinzip VI ("Nichteinmischung in innere Angelegenheiten") ergänzt sowohl Prinzip I wie auch Prinzip II durch den Grundsatz der Nichteinmischung - weder individuell noch kollektiv - in innere und äußere Angelegenheiten und verbietet die bewaffnete Intervention oder ihre Androhung, den militärischen, politischen, wirtschaftlichen und sonstigen Zwang gegen die Ausübung der souveränen Rechte der Staaten, ferner die Unterstützung terroristischer und subversiver Tätigkeit. Prinzip VII ("Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten, einschließlich der Gedanken-, Gewissens-, Religions- oder überzeugungsfreiheit") stellt die Verbindung vom Prinzipienkatalog zum sog. Korb III her; für die Frage der Sicherheit in Europa ist die Vorschrift insoweit von Interesse, als sie Aufschluß darüber vermittelt, wie weit es den
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westlichen und neutralen Teilnehmerstaaten geglückt ist, die von der östlichen Seite mit den souveränitäts-, insbesondere grenz bezogenen Regelungen verfolgte Zementierung des Status quo in Europa durch ein "Mehr" an Menschenrechten und Grundfreiheiten auszubalancieren. Prinzip VIII ("Gleichberechtigung und Selbstbestimmungsrecht der Völker") steht wiederum als ein grenz bezogene Regelungen relativierendes Element im Mittelpunkt der Problematik; das Prinzip verpflichtet die Teilnehmerstaaten zur Achtung der Gleichberechtigung und des Selbstbestimmungsrechts der Völker in übereinstimmung mit den Normen des Völkerrechts über die territoriale Integrität, räumt weiter allen Völkern das Recht ein, in voller Freiheit ihren inneren und äußeren Status zu bestimmen und zu entwickeln, und unterstreicht schließlich die universelle Bedeutung des Selbstbestimmungsrechts. Prinzip IX ("Zusammenarbeit zwischen den Völkern") stellt - ähnlich wie Prinzip VII - eine Verbindung zwischen Prinzipienkatalog und anderen auf der Konferenz behandelten Materien her (insbesondere die im Korb II geregelte "Zusammenarbeit in den Bereichen der Wirtschaft, der Wissenschaft und der Technik sowie der Umwelt"); das Prinzip steht damit nicht in einem unmittelbaren Zusammenhang mit den grenzbezogenen Regelungen. Prinzip X ("Erfüllung völkerrechtlicher Verpflichtungen nach Treu und Glauben") enthält eine Reihe von völkerrechtlichen Selbstverständlichkeiten (Erfüllung völkerrechtlicher Verpflichtungen nach Treu und Glauben; Beachtung völkerrechtlicher Verpflichtungen; Vorrang der Verpflichtungen nach der UN-Charta vor sonstigen Verpflichtungen), gewinnt aber dadurch spezifische Bedeutung, daß sich die Teilnehmerstaaten in diesem Zusammenhang verpflichten, "die Bestimmungen der Schlußakte der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (obgleich diese wegen des schon erwähnten "legal disclaimer" in den Schlußakten des Gesamtdokuments an sich rechtlich unverbindlich sein sollen) gebührend zu berücksichtigen und durchzuführen".
Das Problem der Konkurrenz zwischen Prinzipienkatalog einerseits und völkerrechtlichem Vertragsrecht der Teilnehmerstaaten andererseits wird in der Schlußklausel nach dem Prinzip X im Sinne einer sog. Unberührtheitsklausel geregelt; sie ist insoweit von fundamentaler Bedeutung, als sie Aufschluß darüber gibt, in welchem Umfang die Teilnehmerstaaten noch auf frühere, einzelne Bestimmungen des Prinzipienkatalogs u. U. relativierende Vertragspositionen zurückgreifen können, was für die Bundesrepublik insbesondere im Hinblick auf die Fortschreibung der Vierrnächteverantwortung für Deutschland als Ganzes und für Berlin und der einzelnen Rechte aus dem Deutschlandvertrag von Interesse ist.
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11. Der kurze überblick über die Konferenzergebnisse zeigt, daß eigentlich jedem Prinzip und noch einigen damit verbundenen Spezialthemen ein ganzer völkerrechtlicher Vortrag gewidmet werden könnte. Ich kann deshalb nur einige Probleme kurz anreißen. Da das Selbstbestimmungsrecht der Völker und die östliche Selbstbestimmungskonzeption in anderen Beiträgen dieses Bandes behandelt werden, verbleibt mir von den materiellen Prinzipien darzustellen: (1) die Unverletzlichkeit der Grenzen einschließlich des "peaceful change" (Prinzip 111 mit Prinzip I Abs. 2 Satz 2), (2) die territoriale Integrität und die Nichteinmischung (Prinzip IV und
VI),
(3) das Selbstbestimmungsrecht der Völker (Prinzip VIII), soweit es die europäische Vereinigung und das Deutschlandproblem berührt. Hinzu kommen dann noch einige Fragen der Auslegung, die alle Sachprinzipien betreffen und im Prinzip X und in den Schlußklauseln geregelt wurden. 1. Die Unverletzlichkeit der Grenzen (Prinzip III)
Die Formulierung der Unverletzlichkeit der Grenzen war eines der Kernprobleme der Konferenz. Die Unverletzlichkeit der Grenzen erschien in den Maximalforderungen der östlichen Seite zum Prinzipienkatalog immer an erster Stelle'. Die UdSSR mußte sich in der Vorbereitungsphase der in den Schlußempfehlungen von Helsinki (8. Juni 1973) enthaltenen Reihung der Prinzipien (die noch nicht notwendigerweise etwas über ihre Rangfolge aussagt) beugen, da sich die westlichen und neutralen Staaten auf einen von der Sowjetunion mitgestalteten Präzedenzfall berufen konnten, nämlich die UN-Deklaration vom 24. Oktober 1970, die die Unverletzlichkeit der Grenzen nicht als vorrangiges Prinzip erwähnt. (Hier steht der Gewaltverzicht und das Prinzip der friedlichen Streiterledigung an erster Stelle.) Was den Inhalt der der Unterkommission 1 in Genf unterbreiteten Vorschläge anbelangt, so ergeben sich keine wesentlichen Unterschiede gegenüber den grenzbezogenen Vorschriften der Ostverträge - sieht man von den in den Ostverträgen enthaltenen genauen Beschreibungen von Grenzverläufen ab, die in einem auf das Grundsätzliche zu beschrän5 Vgl. z. B. die auf der Tagung des Politischen Beratenden Ausschusses des Warschauer Paktes in Prag im Januar 1972 angenommene "Deklaration über Frieden, Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa", Text: Jacobsen-Mallmann-Maier, Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa - Analyse und Dokumentation (1973), S. 375 ff.
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kenden Prinzipienkatalog ohnehin nicht einzuarbeiten wären. Als Besonderheit kann die im westlichen (französischen) Entwurf angesprochene Relativierung des rechtlichen Status der Grenzen angesehen werden: "Die Teilnehmerstaaten halten ihre Grenzen,wie sie an diesem Tag bestehen, wie immer nach ihrer Auffassung deren rechtlicher Status sein mag, für unverletzlich!."
Man wird hier in der Annahme nicht fehlgehen können, daß diese Passage der westlichen Formulierung ein Anliegen eines Bonner Vorschlags vom 24. September 1973 zum Thema " Gewaltverzicht, Unverletzlichkeit der Grenzen und territoriale Integrität" enthält7. Die Bundesregierung wollte hier vermutlich an ein Element der UN-Deklaration vom 24. Oktober 1970 anknüpfen, wonach die aus dem Gewaltverzicht abgeleitete AußerstreitsteIlung einer Grenze oder Demarkationslinie nicht die völkerrechtliche Statusfrage präjudiziert. Weiter dürfte die Formulierung intendiert haben, der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts Rechnung zu tragen, wonach die Grenze zwischen der Bundesrepublik und der DDR - trotz ihrer im Grundvertrag konstatierten Unverletzlichkeit - doch nur den Status bzw. "Charakter einer staatsrechtlichen Grenze" hat. Gegen dieses "Offenhalten" des juristischen Status der Grenzen, aus der u. U. auch für die deutsch-deutschen Beziehungen innerhalb der KSZE "Besonderheiten" hätten abgeleitet werden können, hat die östliche Seite von Anfang an Stellung bezogen. Jegliche Einschränkung der Unverletzlichkeit der Grenzen durch die Normierung einer dieses Prinzip relativierenden Klausel wurde kategorisch abgelehnt; dieser Punkt wurde von der UdSSR nach Presseverlautbarungen als "nicht negotiabel" bezeichnet. Die Delegation der DDR betonte die Notwendigkeit einer "unverfälschten" Formulierung des Prinzips; die "Unverletzlichkeit der Grenzen" dürfe nicht auf das Verbot der Gewaltanwendung beschränkt sein, da die gewaltsame Verletzung erfahrungsgemäß immer nur die letzte Etappe in einem Prozeß gewesen sei, den es nunmehr gelte, als Ganzes ein für allemal unmöglich zu machen. Die Unverletzlichkeit der Grenzen bedeutet daher, daß die existierenden Grenzen nicht in Frage gestellt werden dürften - weder durch eine besondere Qualifizierung des Prinzips noch durch einen rechtlichen Vorbehalt hinsichtlich des rechtlichen Status einer Grenze8• e Text des französischen (westlichen) Vorschlags vom 19. 10. 1973: CSCE/II A/12, in: EA 1974, D. 1. 7 CSCE/II/A/3; vgl. hierzu Birnbaum, Die Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, Arbeitspapiere zur Internationalen Politik, hrsg. vom Forschungsinstitut der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik e. V. (1974), S. 23. 8 Vgl. die Grundsatzerklärung der DDR zur Konferenz, Text: Neues Deutschland, Nr. 183, vom 5. 7. 1973.
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In diesem Lichte erscheint die einvernehmliche Grenzänderung (Prinzip lAbs. 2 Satz 2) als ein besonderes Problem. Einvernehmliche Grenzänderungen wurden als solche von der östlichen Seite in der Vergangenheit keineswegs abgelehnt. Dies zeigen z. B. die sog. Gromyko-Erläuterungen vom 29. Juli 1970 zum Moskauer Vertrag, insbesondere zur Grenzänderung: "Wenn zwei staaten freiwillig ihre Vereinigung beschließen oder Grenzen korrigieren, wie wir das selbst mit Norwegen, Afghanistan und Polen, dort sogar mehrmals, gemacht haben, oder wenn die Staaten z. B. ihre gemeinsame Grenze aufgeben und sich vereinigen wollen wie Syrien und Ägypten, so wäre uns nicht eingefallen, hier zu kritisieren, denn dies ist Ausdruck der Souveränität und gehört zu den unveräußerlichen Rechten der Staaten und Völker." Auf der KSZE war die östliche Seite auch bereit, diesen Gedanken in irgendeiner Form in den Prinzipienkatalog aufzunehmen - nur mit der Unverletzlichkeit der Grenzen wollten ihn die Ostblockstaaten auf keinen Fall in Verbindung bringen. Von seiten der westlichen Staaten und besonders der Bundesrepublik bestand man während der Generaldebatte in Genf ausdrücklich auf dieser Verbindung'; im Laufe der Redaktionsphase näherte man sich jedoch mehr und mehr dem östlichen Standpunkt an; die endgültige Formulierung des sog. peaceful change lautet: "Sie (die Teilnehmerstaaten) sind der Auffassung, daß ihre Grenzen in Übereinstimmung mit dem Völkerrecht, durch friedliche Mittel und durch Vereinbarung verändert werden können." In dieser Formulierung fehlt die Akzentuierung des Selbstbestimmungsrechts, das im französischen Vorschlag z. B. enthalten war; das Selbstbestimmungsrecht als Maßstab und Motor des "peaceful change" mußte der östlichen Seite gefährlich erscheinen. Die Verknüpfung des peaceful change ausgerechnet mit dem Souveränitätsprinzip muß als östlicher Verhandlungserfolg gewertet werden. Aber auch normtechnisch können die Ansätze zur Regelung der einvernehmlichen Grenzänderung nicht restlos befriedigen. Da die einzelnen Elemente der Regelung durch die Konjunktion "und" (nicht "oder"!) verknüpft werden, sind die Qualifikationen kumulativ zu berücksichtigen, d. h. eine Grenzänderung in Europa ist nur "dekalogskonform", wenn sie -
im Einklang mit dem Völkerrecht steht, mit friedlichen Mitteln erfolgt und sich auf einen völkerrechtlichen Vertrag (bei völkerrechtskonformer Auslegung ist zu ergänzen: der betroffenen Staaten) gründet.
Die kumulative Verknüpfung der einzelnen Elemente erscheint verblüffend: Eine vertraglich vereinbarte Grenzregelung zwischen den beU
Vgl. Birnbaum, aaO. (Anm. 7), S. 23.
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troffenen Staaten scheint immer im Einklang mit dem Völkerrecht zu stehen und ist Ausdruck der Anwendung friedlicher Mittel, da ein Vertrag nach moderner völkerrechtlicher Auffassung ohnehin nichtig ist, "wenn sein Abschluß durch Androhung oder Anwendung von Gewalt unter Verletzung der in der Satzung der Vereinten Nationen niedergelegten Grundsätze des Völkerrechts zustande gekommen ist"lO. Will man die Regelung sinnvoll interpretieren, so könnte man die Erklärung des Außenministers der Vereinigten Staaten vom 5. Juli 1973, die die Auffassung des Westens signalisierte, zum Ausgangspunkt nehmen: Das Gewaltverbot in bezug auf Grenzen schließt "friedliche Änderungen von Grenzen nicht aus, wenn solche Änderungen sich auf den Willen der Bevölkerung gründen und im gegenseitigen Einvernehmen der Staaten erfolgen"ll. Im Lichte dieser Erklärung betrachtet, würde "im Einklang mit dem Völkerrecht" bedeuten, daß eine von Staaten vorgenommene völkervertragliche Grenzänderung nicht dem Selbstbestimmungsrecht der betroffenen Bevölkerung zuwiderlaufen darf (wobei noch offen bliebe, ob es sich um ein Optionsrecht oder ein Selbstbestimmungsrecht der Bevölkerung im Sinne von "Volk" oder "Teilen" eines Volkes handelt). Ganz gleich ob und auf welcher Ebene eine sinnvolle Auslegung des "peaceful change" möglich sein wird, zeigt die in Genf gefundene und in Helsinki unterzeichnete Formulierung schon heute, daß sie gerade gegen das Prinzip gerichtet sein kann, das sie nach deutscher Auffassung zu tragen bestimmt ist: das Selbstbestimmungsrecht des deutschen Volkes. Durch die zusätzliche Bindung des Selbstbestimmungsrechts an die völkerrechtlich relevante Zustimmung dessen, der es bislang beharrlich verweigert hat, wird das Selbstbestimmungsrecht in Europa zu einem "nudum ius" und einem einzelstaatlicher Souveränität absolut unterzuordnenden politischen Gestaltungsprinzip. überträgt man die Konstellation von Selbstbestimmungsrecht der Völker und einzelstaatlicher Souveränität auf den außereuropäischen Bereich, so wird das im Grunde groteske Ergebnis erst in seiner vollen Dimension deutlich: Die Verwirklichung des Selbstbestimmungsrechts der Völker in den Kolonien wäre nur mit der völkervertraglichen Zustimmung der jeweiligen Kolonialmacht möglich gewesen.
2. Territoriale Integrität und Nichteinmischung in innere Angelegenheiten (Prinzip IV und VI). Der Grundsatz der Achtung der territorialen Integrität (Prinzip IV) ist eine praktische Folge der Unverletzlichkeit der Grenzen (Prinzip III) 10 Art. 52 der Wiener Konvention über das Recht der Verträge vom 23. 5. 1969 (Text in: ZaöRVR 9 [1969], S. 711 = AJIL 63 [1969], S. 875 [engi.]). 11 Text: Amerika Dienst, Dokumentation Nr. 26/1973.
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und wird ergänzt durch das im Prinzip VI enthaltene Interventionsverbot; die drei Prinzipien hängen eng miteinander zusammen. Sachlich dürfte es bei der Formulierung des Prinzips IV keine größeren Schwierigkeiten gegeben haben, da der sowjetische und der französische Entwurf keine unüberwindlichen Divergenzen offenbaren. Der sowjetische Vorschlag zum Prinzip IV griff - in Ergänzung des Prinzips III - im wesentlichen die grenzbezogenen Elemente auf, so wie sie in den Ostverträgen bereits ihren Niederschlag gefunden hatten; der französische Entwurf versuchte demgegenüber, die territoriale Integrität mehr an das UN-Recht zu binden. Die Schwierigkeiten eines für Ost und West gleichermaßen verbindlichen Grundsatzes der territorialen Integrität liegen wiederum in Detailfragen, die Probleme des Prinzips VI mit einschließen, einer Regelung im Prinzipienkatalog nicht zugänglich sind und auch hier nur kurz angesprochen werden können. In der westlichen Völkerrechtslehre wird eingeräumt, daß das aus der Achtung territorialer Integrität resultierende Interventionsverbot zu den dunkelsten und ungeklärtesten Begriffen des Völkerrechts zähJt12. Die Entwicklung im östlichen Lager hat die Abklärung des Begriffs keineswegs erleichtert; dies zeigt nicht zuletzt die fortdauernde Diskussion der Probleme der Breschnew-Doktrin. In der sozialistischen Völkerrechtslehre und -praxis zeichnet sich eine nicht zu übersehende Ausdehnung der durch das Interventionsverbot zu schützenden Rechtsgüter von den inneren auf die äußeren Angelegenheiten ab 13• Zweck der extensiven Interpretation des Interventionsbegriffs ist es, im möglichst großen Umfang außenpolitische Aktionen nichtkommunistischer Staaten im Bedarfsfall als völkerrechtswidrig zu qualifizieren. So wurde die Hallsteindoktrin in der sowjetischen Völkerrechtslehre als "Instrument der diplomatischen Intervention gegen die DDR" und "Einmischung in die auswärtigen Angelegenheiten anderer Staaten" gewertet14• Dasselbe, was seinerzeit gegen die Hallsteindoktrin 12 Vgl. Haedrich, Intervention, in: WVR, Bd. 2 (1961), S. 144 mit weiteren Nachweisen. 13 Während die Ausgabe des sowjetischen "Wörterbuchs der Diplomatie" des Jahres 1960 nur die Einmischung in die inneren Angelegenheiten als Intervention ansah, ist in der Ausgabe 1971 nur mehr von "Angelegenheiten" die Rede; Minasjan, Pravovye osnovy leninskoj diplomatii (Die Rechtsgrundlagen der Leninschen Diplomatie, 1970), S. 131 f., bezieht sich ausdrücklich auf die Intervention in äußere Angelegenheiten. Das gleiche gilt im übrigen auch für den jugoslawischen Vorschlag; der französische Vorschlag spricht demgegenüber nur von der Einmischung "in die Angelegenheiten, die in die nationale Zuständigkeit ... fallen". 14 Vgl. Frenzke, Das Interventionsverbot und das Gewaltverbot in der sowjetischen Völkerrechtslehre, in: Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (1975), S. 75.
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angeführt wurde, gilt heute für die Bemühungen der Bundesrepublik, auf niedrigerer Ebene ihr "besonderes Verhältnis" zur DDR in Drittstaaten durchzusetzen. Dies hat kürzlich wieder die Kontroverse um die Konsularverträge der DDR mit dritten Staaten gezeigt1 5 • Neben dem Verbot der "indirekten Einmischung in äußere Angelegenheiten" verdient das Verbot der Unterstützung terroristischer oder subversiver Tätigkeiten besondere Aufmerksamkeit. Das begrüßenswerte Verbot der terroristischen Aktivität wird in der politischen Praxis aber so lange wenig effektiv sein als es nicht gelingt, eine Grenze zwischen dem legitimen Freiheitskampf einer unterdrückten Nation und dem Terrorismus zu ziehen. "Subversiv" ist nach östlichem Sprachgebrauch alles, was sich gegen die dort etablierte Ordnung richtet - das natürliche Spannungsfeld zwischen Staat und Individuum eingeschlossen. Die Sowjetunion kann deshalb mit dem Prinzip VI weiter das Ziel verfolgen, etwaige Einfallstore zu ihren innerstaatlichen Angelegenheiten abzublocken; die UdSSR denkt hier vor allem an das siebte Prinzip (Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten) und an den sog. Korb III. Die Sowjetunion argumentiert hier mit dem vorrangig normierten Souveränitätsprinzip und der Akzentuierung des Rechts jedes Teilnehmerstaates der Konferenz, seine Gesetze und Verordnungen zu bestimmen. Nach der Auffassung der Sowjetunion liegt bei diesen Schranken der innerstaatlichen Gesetzgebung die Interventionsschwelle für dritte Staaten, die sich um die Verwirklichung von Menschenrechten und Grundfreiheiten in der UdSSR bemühen.
3. Selbstbestimmungsrecht der Völker (Prinzip VIII) Auch beim Prinzip VIII des Dekalogs liegt die eigentliche Schwierigkeit weniger in der Formulierung einer Regelung als in der Beschreibung des konkreten Inhalts des Regelungsgegenstandes. In keinem der bekannt gewordenen Entwürfe zum Selbstbestimmungsrecht und in keinem der ergänzenden Vorschläge war ausreichend klargestellt worden, daß das Volk im Sinne des Prinzips VIII als Träger der dort erwähnten Rechte ein anderes Rechtssubjekt sein sollte als das des jeweiligen Staatsvolkes der an der Konferenz teilnehmenden Staaten. Darüber hinaus hatte sich die UdSSR zunächst nur dazu bereitgefunden, die "innere" Komponente des Selbstbestimmungsrechts zu akzeptieren; die "äußere" Selbstbestimmung wurde mit der Begründung kategorisch abgelehnt, sie sei für die europäischen Verhältnisse nicht relevant, sondern könne nur für den typischen Bereich kolonialer Abhängigkeit gelten. Die Be15 Vgl. Blumenwitz, Die deutsche staatsangehörigkeit und die Konsularverträge der DDR mit dritten Staaten, in: Politische Studien, Heft 221 (1975), ferner die Protestnote der DDR an die Bundesregierung vom 21. Januar 1975 (Text: Neues Deutschland vom 7. Februar 1975).
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strebungen der UdSSR gingen dahin, den Begriff des Selbstbestimmungsrechts der Völker in bezug auf die europäischen Verhältnisse zu meiden. Die endgültige Formulierung des Prinzips enthält Elemente, die westlichen wie östlichen Bestrebungen Rechnung tragen: "Die Teilnehmerstaaten werden die Gleichberechtigung der Völker und ihr Selbstbestimmungsrecht achten, indem sie jederzeit in übereinstimmung mit den Zielen und Grundsätzen der Charta der Vereinten Nationen und den einschlägigen Normen des Völkerrechts handeln, einschließlich jener, die sich auf die territoriale Integrität der Staaten beziehen. Kraft des Prinzips der Gleichberechtigung und des Selbstbestimmungsrechts der Völker haben alle Völker jederzeit das Recht, in voller Freiheit, wann und wie sie es wünschen, ihren inneren und äußeren politischen Status ohne äußere Einmischung zu bestimmen und ihre politische, wirtschaftliche, soziale und kulturelle Entwicklung nach eigenen Wünschen zu verfolgen." Das Prinzip VIII ist damit durchaus geeignet, die sog. "europäische Option" abzusichern, da hier Kollisionen mit der territorialen Integrität der betreffenden Staaten auszuschließen sind. Im übrigen erscheint aber die europäische Einigung auch nicht als eine Angelegenheit primär eines "europäischen Volkes"; insoweit hätte es des Prinzips VIII überhaupt nicht bedurft, da die von Staaten getragene und geförderte Einigung bzw. Vereinigung Ausdruck ihrer Souveränität ist, die auch von der Sowjetunion in diesem Sinne verstanden wird, ohne sich damit mit dem westeuropäischen Anliegen politisch zu identifizieren. Der "deutschen Option" vermag das Prinzip VIII nicht im vollen Umfang zu entsprechen: Die "europäische Option" besteht darin, daß den interessierten europäischen Staaten das ihrer souveränen Staatlichkeit immanente Recht nicht abgesprochen wird, sich durch weitere Stärkung primären wie sekundären Gemeinschaftsrechts zusammenzuschließen und die Bildung einer europäischen Nation und eines europäischen Staatsvolkes voranzutreiben. Die Rechtsposition, die die Bundesregierung u. a. nach der Präambel zum Grundgesetz und Art. 23 Grundgesetz (in der Interpretation, die diese Verfassungsbestimmungen durch das Grundvertragsurteil vom 31. Juli 1973 erfahren haben) auch auf der KSZE zu vertreten hat, wird durch die Fortexistenz des deutschen Gesamtstaates bestimmt16 • Das Deutsche Reich existiert nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts fort, besitzt nach wie vor Rechtsfähigkeit, "ist allerdings als Gesamtstaat mangels organisierter 15 Vgl. Urteil des BVerfG vom 31. 7. 1973 (E 36, S. 1 [15 f.D: "Das Grundgesetz - nicht nur eine These der Völkerrechtslehre und der Staatsrechtslehre! - geht davon aus, daß das Deutsche Reich den Zusammenbruch 1945 überdauert hat und weder mit der Kapitulation noch durch Ausübung fremder Staatsgewalt in Deutschland durch die alliierten Okkupationsmächte noch später untergegangen ist; das ergibt sich aus der Präambel, aus Art. 16, Art. 23, Art. 116 und Art. 146 GG."
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Organe selbst nicht handlungsfähig"17. Damit wäre an sich bereits im Vorfeld der KSZE von der Bundesregierung die Frage nach der Vertretung des nicht selbst handlungsfähigen Völkerrechtssubjekts "Deutsches Reich" zu klären gewesen. Die souveräne Gleichheit, die die KSZE allen Teilnehmerstaaten garantiert, verdrängt nämlich gleichsam den fortexistierenden deutschen Gesamtstaat aus der europäischen Rechtswirklichkeit, da nicht zwei Völkerrechtssubjekte auf demselben Territorium als Staaten existieren können und die Frage der Gebietshoheit auf der Konferenz zugunsten der Teilnehmerstaaten im Sinne des faktischen Gebietsstandes entschieden wurde. Die Absicherung der spezifisch deutschlandrechtlichen Interessen dürfte deshalb eher im Prinzip X und in der Schlußklausel zu suchen sein. II!. Das Prinzip X und die Schlußklausel enthalten Grundsätze, die auf alle materiellen Bestimmungen des vorangegangenen Katalogs zwischenstaatlicher Verhaltensregeln gleichermaßen anwendbar sind.
1. Die im Prinzip X zunächst geregelte Erfüllung völkerrechtlicher Verpflichtungen nach Treu und Glauben ist Grundvoraussetzung zwischenstaatlicher Beziehungen und hat für das Vertragsrecht in dem Satz "paeta sunt servanda" ihre allgemein gültige Formulierung gefunden. Insoweit handelt es sich um eine Selbstverständlichkeit, die auf einer Staatenkonferenz wie der KSZE kaum ernsthaft bestritten werden konnte; Prinzip X Abs. I und I! lauten: "Die Teilnehmerstaaten werden ihre völkerrechtlichen Verpflichtungen nach Treu und Glauben erfüllen, und zwar jene Verpflichtungen, die sich aus den allgemein anerkannten Grundsätzen und Regeln des Völkerrechts ergeben, wie auch jene Verpflichtungen, die sich aus mit dem Völkerrecht übereinstimmenden Verträgen oder sonstigen Abkommen, deren Vertragspartei sie sind, ergeben. Bei der Ausübung ihrer souveränen Rechte, einschließlich des Rechtes, ihre Gesetze und Verordnungen zu bestimmen, werden sie ihren rechtlichen Verpflichtungen aus dem Völkerrecht entsprechen; sie werden ferner die Bestimmungen der Schlußakte der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa gebührend berücksichtigen und durchführen." Bei der Abfassung dieses Grundsatzes auf der KSZE fällt auf, daß die "Ausübung souveräner Rechte, einschließlich des Rechtes, Gesetze und Verordnungen zu bestimmen", besonders hervorgehoben wird. Damit unterstreicht die Konferenz erneut in ganz entscheidender Weise die staatliche Souveränität. Dies hat gerade für die Staaten des Ostblocks 17 Vgl. BVerfGE 2, 266 (277); 3, 288 (319 f.); 5, 85 (126); 6, 309 (336, 363); ferner das Grundvertragsurteil sub B Irr 1.
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auch praktische Konsequenzen. Tritt zwischen Völkerrechtsnorm und Rechtssubjekt des innerstaatlichen Rechts der staatliche Gesetzgeber, so wird die Völkerrechtsnorm nach der Auffassung der sozialistischen Staaten durch das Medium der staatlichen Norm in vielfacher Weise gebrochen und gefiltert. Das gilt vor allem für die völkerrechtlich garantierten Menschenrechte und Grundfreiheiten, die sich erst im Spannungsbereich zwischen Individuum und staatlichem ordre public entfalten. Durch das im Bereich der sozialistischen Staaten rücksichtslos praktizierte Ausschöpfen von Gesetzesvorbehalten wird dann die Substanz der völkerrechtlichen Verpflichtung minimalisiert. 2. Für die Interpretations!ragen ist das Prinzip X einschließlich der Schlußklausel von großem Interesse, da mit der Erfüllung völkerrechtlicher Verpflichtungen auch die Frage nach der Rangordnung der Verpflichtungen verbunden ist. Mit der Frage nach der Rangordnung völkerrechtlicher Verpflichtungen sind zwei Problemkreise verknüpft: (1) Die unterschiedliche Normqualität von Völkerrechtsregeln, insbesondere also die Frage nach der Unabdingbarkeit der Grundsätze der UN-Charta und anderer Grundregeln des Völkerrechts (sog. ius cogens) beim Abschluß völkerrechtlicher Verträge. (2) Der intertemporale Konflikt zwischen früher und später eingegangenen völkerrechtlichen Verpflichtungen, also die Frage, inwieweit frühere Vertragspositionen durch spätere Verpflichtungen der Staaten berührt werden, eine Frage, die auf der Konferenz unter dem Stichwort "Unberührtheitsklausel" diskutiert wurde und die für die Bundesrepublik besonders wegen der Viermächterechte bedeutsam ist. a) Der den Vorrang der UN-Charta regelnde Abs. III des Prinzips X lautet: "Die Teilnehmerstaaten bestätigen, daß im Falle eines Widerspruchs zwischen den Verpflichtungen der Mitglieder der Vereinten Nationen aus der Charta der Vereinten Nationen und ihren Verpflichtungen aus irgendeinem Vertrag oder sonstigen internationalen Abkommen ihre Verpflichtungen aus der Charta der Vereinten Nationen gemäß ihrem Artikel 103 Vorrang haben."
Das Prinzip X enthält insoweit nur eine Selbstverständlichkeit, da die Teilnehmerstaaten der Konferenz (mit Ausnahme der Schweiz) in unabdingbarer Weise als UNO-Mitglieder an Art. 103 UN-Charta gebunden sind. Immerhin enthält diese "KlarsteIlung" ein völkerrechtspolitisches Element, das die Bedeutung zwingender Normen des Völkerrechts, über die sich Staaten bei der Ausübung ihres souveränen Vertragsrechts nicht hinwegsetzen können, unterstreicht. Ziel der Formulierungen ist es, vor dem politischen Hintergrund der Breschnew-Doktrin eine weitere Ga.-
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rantie für eine UNO-konforme Interpretation auch des Dekalogs zu erreichen. b) Die wichtigste der fünf Schlußklauseln des Prinzipienkatalogs ist die Unberührtheitsklausel; sie lautet wie folgt: "Indem die Teilnehmerstaaten die vorstehenden Prinzipien gebührend berücksichtigen, insbesondere den ersten Satz des X. Prinzips, ,Erfüllung völkerrechtlicher Verpflichtungen nach Treu und Glauben', stellen sie fest, daß die vorliegende Erklärung weder ihre Rechte und Verpflichtungen noch die diesbezüglichen Verträge und Abkommen und Abmachungen berührt." Eine Unberührtheitsklausel erscheint bei oberflächlicher Betrachtung als überflüssige Wiederholung des Völkerrechtssatzes, wonach der ältere Vertrag nicht deshalb hinfällig wird, weil seine Erfüllung mit der Erfüllung eines neuen Vertrages mit einer dritten Partei unvereinbar ist. Dies gilt um so mehr, wenn der ältere Vertrag nicht mit einem späteren Vertrag kollidiert, sondern mit Prinzipiendeklarationen unterhalb der Schwelle des völkerrechtlichen Vertragsrechts, da es hier an sich an einer Normenkollision auf gleicher Ebene fehlt. Diesen Gesichtspunkt unterstreicht vor allem RusseP8, The Helsinki Declaration, in: AJIL Bd. 70 (1976), S. 242 ff. (259). Aber auch "nur" politische Erklärungen unterhalb der Schwelle des Völkerrechts haben schon wegen ihrer Tatbestandswirkung für die maßgeblichen Völkerrechtsnormen eine Gewichtigkeit, die bei der Auslegung namentlich hochpolitischer Verträge mit ihren Interpretationsspielräumen berücksichtigt werden muß. Es kann weiter auch nicht unterstellt werden, daß die in Helsinki unterzeichnenden Staaten ein Auseinandertreten ihrer rechtlichen und außerrechtlichen Verpflichtungen beabsichtigten oder zumindest in Kauf nahmen. Der Normkomplex des Dekalogs - ganz gleich wie man ihn formalrechtlich beurteilt - muß mit den fortbestehenden Vertragspositionen der Unterzeichnerstaaten in Einklang gebracht werden. Hierbei kann der Unberührtheitsklausel (oder Nichtberührungsklausel) der KSZESchlußakte hinsichtlich der fortbestehenden Vertragspositionen nur deklaratorische Bedeutung zukommen; insoweit kann dem Passus "die Teilnehmerstaaten stellen fest, daß ... " eine von den Unberührtheitsklauseln der Ostverträge abweichende Bedeutung beigemessen werden1'. Es ist aber nicht auszuschließen, daß sie - mit konstitutiver Wirkung - den Regelungsinhalt der Prinzipien I mit X zu relativieren oder zu verkürzen vermag. Dies übersieht Schweisfurth20 , der andererseits wiederum die Unberührtheitsklausel der Schlußakte zur Lösung von Konflikten zwischen der Schlußakte und früheren außerrechtlichen Normen heranziehen will. 18 18 20
The Helsinki Declaration, AJIL 70 (1976), S. 242 ff. (259). Vgl. Schweisfurth, aaO. (Anm. 3), S. 697, Anm. 61. aaO, S. 720.
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(1) Unberührtheitsklauseln können sog. Vereinbarkeitsklauseln sein, d. h. eine die Parteien bindende Feststellungsbehauptung, daß die neue übereinkunft - gleichgültig, ob ihr nun politischer oder völkerrechtlicher Gehalt beigemessen wird - nichts beinhalte, was eine Vertragspartei nötige, einen bereits bestehenden Vertrag mit Dritten zu verletzen. Eine solche Feststellung - wie sie etwa im sowjetischen Entwurf angedeutet wurde - kann sinnvollerweise nur das Ergebnis einer tatsächlich durchgeführten gemeinsamen Analyse der älteren Verträge der Parteien sein21 • Hieran fehlt es jedoch bei der KSZE, da z. B. das östliche wie auch das westliche Bündnissystem bewußt nicht zum Gegenstand der Verhandlungen gemacht wurden. Der Nachweis, daß der Dekalog mit sämtlichen Bestimmungen aller völkerrechtlicher Verträge der 35 Teilnehmerstaaten in Einklang steht, könnte ohnehin nicht gelingen. (2) Im Zusammenhang mit den Unberührtheitsklauseln der Ostverträge wurde auch eine Auslegung diskutiert, die dahin geht, daß keine Vertragspartei durch die geschlossene Vereinbarung genötigt sein soll, irgendwelche Schritte in bezug auf Verträge mit Dritten zu unternehmen, ohne daß jedoch die Erfüllung der eigentlichen Verpflichtung aus der neueren Vereinbarung unter Hinweis auf ältere Verträge mit Dritten verweigert werden dürfte22• Mit einer sog. Drittsicherungsklauselläßt sich jedoch ein Konflikt zwischen dem Dekalog und älteren völkervertraglichen Positionen der Teilnehmerstaaten der KSZE kaum zugunsten der älteren Verträge lösen; da praktisch alle europäischen Staaten (einschließlich der USA und Kanadas) die Schluß dokumente unterzeichnet haben, gibt es im Sinne der Drittsicherungsklausel keine zu sichernden "dritten Staaten". Art. 4 Moskauer Vertrag, IV Warschauer Vertrag und 9 Grundvertrag vermochten als "Drittsicherungsklauseln" die Rechte und Pflichten der westlichen Alliierten der Bundesrepublik als an den Verträgen nicht unmittelbar beteiligte Dritte zu sichern; hinsichtlich des Dekalogs sind jedoch Frankreich, Großbritannien und die USA nicht unbeteiligte Dritte.
(3) Letztlich vermag nur eine echte Vorrang klausel ältere Vertragspositionen der Teilnehmerstaaten der KSZE gegenüber neuen politischen oder rechtlichen Verpflichtungen aus dem Dekalog abzusichern. Eine Vorrangsklausel besagt, daß die Parteien früher abgeschlossenen Verträgen einen echten Vorrang vor der zu schließenden neuen Abmachung 21 Vgl. hierzu WengIer, Der Moskauer Vertrag und das Völkerrecht, in: JZ 1970, S. 632 ff. (zu Art. 4 Moskauer Vertrag); Kimminich, Der Moskauer Vertrag vom 12. 8. 1970 - Eine völkerrechtliche Analyse (1972), S. 85 (zu Art. 4 Moskauer Vertrag); zur Gesamtproblematik Blumenwitz, Die Unberührtheitsklausel in der Deutschlandpolitik, in: Festschrift für Berber (1973), S. 83 ff. 22 Vgl. Wengier, aaO., S. 632; kritisch hierzu Kimminich, aaO., S. 86.
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einräumen; damit wären die die Teilnehmerstaaten aus dem Prinz ipienkatalog treffenden Verpflichtungen von vornherein durch die "unangetastet" oder " unberührt " weiterexistierenden früheren Verträge eingeschränkt. Aber auch wenn die Schlußklausel von den Teilnehmerstaaten als echte Vorrangklausel zugunsten von Bestimmungen aus älteren Verträgen interpretiert werden wird, wird damit der eigentliche Kern der Problematik noch nicht gelöst, da eine derartige Vorrangklausel naturgemäß nur "abstrakt" formuliert ist. Eine globale Einbeziehung des ganzen in Jahrzehnten gewachsenen Dschungels älterer Verträge mit höchst divergierenden Zielsetzungen aus 35 verschiedenen europäischen Staaten in die Unberührtheitsklausel bzw. Vorrangklausel des Dekalogs würde zu einer unübersehbaren, rechtlich kaum mehr faßbaren Relativierung des Prinzipienkatalogs führen. Die Teilnehmerstaaten könnten damit ihrer jeweiligen Vertragssituation ein Gewicht beimessen, das mit den durch die KSZE verfolgten Entspannungstendenzen objektiv schlechthin nicht zu vereinbaren wäre; die Positionen, die die westliche, aber auch die östliche Seite im sog. Kalten Krieg eingenommen haben und die noch immer völkerrechtlich verbindlich formuliert sind, könnten am Vorrang partizipieren. Andererseits wären alle Einschränkungsversuche der am Vorrang partizipierenden Verträge willkürlich. Das gilt auch für die Erwägung, zwischen Pflichten und Rechten aus Verträgen zu differenzieren und nur den Pflichten, nicht aber den Rechten aus früheren Verträgen den Vorrang einzuräumen, da die Vertragspflichten meist um der Rechte willen eingegangen worden sind. Deshalb spricht die Schlußklausel auch ausdrücklich von "Rechten und Verpflichtungen" . Eine ausgewogene Balance zwischen dem Regelungsinhalt des Dekalogs einerseits und den vorrangigen Vertragspositionen der Teilnehmerstaaten andererseits wird sich wohl nur durch eine - auch für den Prinzipienkatalog gebotene - Auslegung nach dem Grundsatz von Treu und Glauben23 erreichen lassen. Nach der relativ gründlichen, fast zweijährigen Beratung des Dekalogs in der Konferenzphase in Genf dürfen die Vertragsparteien darauf vertrauen, daß sich ein Teilnehmerstaat nicht entgegen dem im Dekalog vereinbarten Regelungsinhalt mittels einer abstrakten Vorrangklausel auf frühere Rechtspositionen aus Verträgen mit anderen Teilnehmerstaaten der Konferenz beruft. Ein Teilnehmerstaat, der expressis verbis im Prinzipienkatalog eine Verpflichtung eingeht, diese aber durch eine bestimmte Vertragsposition, die er formell beibehält, relativieren will, ist auf Grund des "Rechtsscheins" des vereinbarten neuen Regelungsinhalts gehalten, die anderen Teilnehmerstaaten über mögliche Einschränkungen des Dekalogs nicht im un23 Vgl. J. P. Müller, Vertrauensschutz im Völkerrecht (1971), S. 252 f.; Schweisfurth, aaO., S. 721 f.
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klaren zu lassen24 • Die besondere Rolle der "bona fides" bei der Anwendung der Unberührtheitsklausel ergibt sich aus dem Umstand, daß sie im Prinzipienkatalog abstrakter formuliert wurde als z. B. in den Ostverträgen oder im Grundvertrag mit ihren begleitenden Instrumenten. Weiter - und das ist der entscheidende Gesichtspunkt - bringt die Schlußklausel das "Nichtberühren" selbst im unmittelbaren Zusammenhang mit der "Erfüllung völkerrechtlicher Verpflichtungen nach Treu und Glauben". Es muß deshalb künftig damit gerechnet werden, daß Staaten wie die DDR und Polen, die die Früchte ihrer eigentlichen Verhandlungen durch die Unberührtheitsklausel gefährdet sehen, dem Rückgriff auf frühere Vertragspositionen mit dem bona-fides-Argument begegnen werden. Es ist keineswegs zufällig, daß SED-Chef Honecker in seiner Grundsatzerklärung am 30. Juli 1975 in Helsinki die bekannte Formel von der "strikten Einhaltung und vollen Anwendung von Verträgen" durch den Zusatz "nach Treu und Glauben" ergänzte; denn die "strikte Einhaltung und volle Anwendung" schließt an sich auch die volle Ausschöpfung einer Unberührtheitsklausel ein, die nunmehr durch die Akzentuierung von Treu und Glauben wieder eingeschränkt wurde. Abschließend möchte ich nicht verschweigen, daß Schweisfurth in seiner sehr eingehenden Untersuchung zur Frage der Rechtsnatur, Verbindlichkeit und völkerrechtlichen Relevanz der KSZE-Schlußakte25 eine Interpretation der Unberührtheitsklausel (Nichtberührungsklausel) im Sinne einer Vorrangklausel ausschließtH • Für die hier vorgetragene Interpretation der Unberührtheitsklausel im Sinne einer den Regelungsinhalt des Dekalogs möglicherweise reduzierenden Vorrangklausel zugunsten fortbestehender früherer Vertragspositionen spricht nicht zuletzt die Beratung der KSZE-Schlußakte im Bundesrat27 • Im ZusammenVgl. Blumenwitz, in: Festschrift für Berber, S. 99 ff. aaO., S. 697, 709, 718 f., 720 ff. 28 So schon Schweisfurth, Die Bedeutung eines "gesamteuropäischen Katalogs von Völkerrechtsgrundsätzen" für die völkerrechtliche Lage der sozialistischen Staaten Osteuropas, in: Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, Berlin-West 1975, S. 125 und S. 132 ff.; Schweisfurth sieht hier die - allgemeine - Problematik einer Unberührtheitsklausel im Dekalog zu sehr unter der Verengung seiner Thematik, der intersozialistischen Bündnisverträge. (Die von Schweisfurth im Interesse einer künftig besseren Völkerrechtsordnung in Osteuropa geforderte Vorrangklausel zugunsten des Dekalogs, kann zumindest dem deutschlandpolitischen Anliegen der Bundesrepublik nicht entsprechen, da diese Positionen im Dekalog nicht ausreichend abgesichert wurden und die Bundesrepublik diesbezüglich auf die Argumentationsebene einer Vorrangklausel zugunsten des Deutschlandvertrages angewiesen ist.) 27 Vgl. Blumenwitz, Die Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa und die Auswirkung ihrer grenzbezogenen Regelungen auf die Bundesrepublik Deutschland, in: Partnerschaft mit dem Osten (1976), S. 217 ff. (247 ff.). 24
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hang mit der Erörterung der Ergebnisse von Helsinki brachte der Freistaat Bayern einen Entschließungsantrag ein, mit dem u. a. eine "KlarsteIlung" der Konferenzergebnisse im Sinne der deutschlandrechtlichen und -politischen Forderungen des Grundgesetzes verfolgt wurde 28 • Der Antrag, der von den eDU-regierten Ländern und der Opposition im Bundestag unterstützt wurde, behandelte die Regelung, "wonach frühere bilaterale und multilaterale Verträge sowie andere Rechte und Verpflichtungen unberührt bleiben sollen", als echte Vorrangklausel und zählte die am Vorrang partizipierenden grundlegenden Vertragsund Rechtspositionen der Bundesrepublik im einzelnen auf, um so einer möglichen "Estoppel-Wirkung" des Dekalogs vorzubeugen. Die Bundesregierung widersprach der mit der Klarstellung verfolgten Interpretation der Schlußakte nicht; sie hielt lediglich die Notifizierung des durch die KlarsteIlung akzentuierten deutschen Rechtsstandpunktes für nicht erforderlich, da der "unzutreffende Eindruck erweckt (werden könnte), daß die Konferenztexte selbst unsere Interessen nicht wahren"!'.
!8 VgI. Bayer. Staatsregierung, Bulletin 29/75 vom 2. Juli 1975, S. 1 f.; Bundesrats-Drucksache 446/75. tu Vgl. Bundesrat - 422. Sitzung, 11. Juli 1975, Steno Ber. S. 184 f. Die SPDregierten Länder schlossen sich der Auffassung der Bundesregierung an und verhinderten - da Berlin (ohne Präjudizwirkung für die noch offene Grundsatzentscheidung, ob Berlin bei politischen Entschließungen Stimmrecht hat) mit abstimmen durfte - das Zustandekommen einer KSZE-Entschließung des Bundesrates (vgl. Bundesrat, aaO., S. 191 C), so daß - im Gegensatz zu den Ostverträgen - bei der Unterzeichnung der Schlußakte in Helsinki ein förmlicher Hinweis auf die noch "offene" deutsche Frage unterblieb.
DIE ALLGEMEINEN MENSCHENRECHTE IN DEN UN-MENSCHENRECHTS-KONVENTIONEN UND IN DER KSZE-SCHLUSSAKTE Von Jens Hacker Die Vereinten Nationen (UN) haben seit ihrer Gründung eines ihrer Hauptziele darin gesehen, in möglichst allen Staaten den Menschenrechten zur Anwendung zu verhelfen. Die Satzung der UN vom 26. Juni 1945 bezieht sich insgesamt an sieben Stellen auf die Menschenrechte. Die Weltorganisationsetzt sich - wie es in Artikel 1 der UN-Charta heißt - das Ziel, "eine internationale Zusammenarbeit herbeizuführen, um internationale Probleme wirtschaftlicher, sozialer, kultureller und humanitärer Art zu lösen und die Achtung vor den Menschenrechten und Grundfreiheiten für alle ohne Unterschied der Rasse, des Geschlechts, der Sprache oder der Religion zu fördern und zu festigen". Diese Bestimmung der Satzung enthält auch ein klares Bekenntnis der Vereinten Nationen zum Grundsatz der Selbstbestimmung der Völker. Bereits im Juni 1946 setzte gemäß Artikel 68 der UN-Satzung der Wirtschafts- und Sozialrat der Weltorganisation eine Kommission für Menschenrechte ein, die das Menschenrechts-Programm der UN konkretisieren sollte. Am 10. Dezember 1948 verkündete die Generalversammlung der UN die "Allgemeine Erklärung der Menschenrechte", die lediglich eine Empfehlung bildete und kein die Staaten bindendes Völkerrecht geschaffen hat1 • Mit ihr verband die Weltorganisation das Ziel, "die allgemeine Achtung und Verwirklichung der Menschenrechte und Grundfreiheiten durchzusetzen"2. 1 "Ober die Entwicklung und Problematik der Menschenrechte liegen zahlreiche Untersuchungen vor, die hier nicht im einzelnen aufgeführt werden können. Vgl. dazu mit jeweils weiteren Nachweisen: F. Ermacora: Zu den Menschenrechtspakten der Vereinten Nationen, in: Vereinte Nationen 1968, S. 133 - 139; J. Soder: Die Menschenrechtskonventionen der Vereinten Nationen, in: Vereinte Nationen 1967, S. 167 -173; E. Schwelb: Civil and Political Rights: The International Measures of Implementation, in: American Journal of International Law 1968, Bd. 62, S. 827 - 868; P. E. Goose: Der internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte, in: Neue Juristische Wochenschrift 1974, S. 1305 -1310; H.-J. Bartsch: Die Entwicklung des internationalen Menschenrechtsschutzes, in: Neue Juristische Wochenschrift 1977, H. 11,
S. 474 -480.
2 Text in: Völkerrechtliche Verträge. Textausgabe. Hrsg. von F. Berber, München 1973, S. 149 - 155 (150).
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Trotz ihrer rechtlichen Unverbindlichkeit erwies sich die "Allgemeine Erklärung der Menschenrechte" von Anfang an als ein Dokument von beachtlicher politischer und moralischer Bedeutung. Dennoch war die zentrale Aufgabe der Kommission für Menschenrechte, einen völkerrechtlich verbindlichen Menschenrechtspakt zu schaffen, außerordentlich schwierig. In der Kommission für Menschenrechte, dem Wirtschaftsund Sozialrat und in der Vollversammlung der UN wurden zwei Möglichkeiten erwogen und ausgiebig diskutiert: entweder einen einzigen, alle Menschenrechte umfassenden Pakt oder zwei Pakte zu formulieren, von denen sich der eine auf politische und bürgerliche Rechte und der andere auf wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte beziehen würden. Die Aufteilung in zwei verschiedene Pakte rechtfertigte sich aus dem Umstand, "daß die Gesetzgebung der Mitgliedstaaten den beiden Gruppen von Menschenrechten unterschiedlich Rechnung trägt. Die Vereinigten Staaten machten z. B. geltend, daß sie nur beschränkte gesetzliche Möglichkeiten hätten, in die freie Marktwirtschaft einzugreifen, um die Respektierung der wirtschaftlichen und sozialen Rechte zu gewährleisten"3. Aus innenpolitischen Erwägungen heraus hatte die amerikanische Administration von Anfang an auch Bedenken gegen einen UN-Pakt über bürgerliche und politische Rechte. Die kompromißlose Erklärung der USA, sie könnten die beiden Menschenrechtspakete nicht unterzeichnen, lähmte die Arbeit der Kommission für Menschenrechte und "verzögerte die Fertigstellung der Pakte um ein gutes Jahrzehnt"'. Erst 18 Jahre nach der Verkündung der "Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte" sah sich die Vollversammlung der UN am 16. Dezember 1966 in der Lage, den "Internationalen Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte"5, den "Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte"8 und ein Fakultativ-Protokoll zum Pakt über bürgerliche und politische Rechte 7 zu beschließen. Seit dem 19. Dezember 1966 stehen die beiden Pakte und das Fakultativ-Protokoll den Staaten zum Beitritt offen. a So A. w. Stahel: Die Entwicklung der Menschenrechte, in: Neue Zürcher Zeitung vom 9. Dezember 1973. Vgl. dazu auch P. E. Goose, a.a.O. (Anm. 1), S. 1306. Er weist darauf hin, daß sich für den Schutz wirtschaftlicher und sozialer Rechte vor allem die Ostblockstaaten nachdrücklich eingesetzt hätten. Die Entscheidung, zwei verschiedene Konventionen auszuarbeiten, fällte die Vollversammlung der UN 1951. 4 So A. W. Stahel, ebenda. S Deutscher Text in: Bundesgesetzblatt 1973 II, S. 1534. 8 Deutscher Text, eben da, S. 1569. 7 Deutscher Text als Anlage II zur Denkschrift der Bundesregierung zum Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte, in: BundesratDrucksache 304173 vom 13. April 1973. Vgl. dazu auch U. Beyerlin / w. Strasser: Völkerrechtliche Praxis der Bundesrepublik Deutschland im Jahre 1973, in: Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht Bd. 35, 1975, S. 768 - 833 (785 - 787).
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Es sollten noch fast zehn Jahre nach ihrer Verabschiedung durch die Generalversammlung der UN dauern, bis die beiden Pakte in Kraft treten konnten. Lange Zeit erschien es als äußerst fraglich, ob beide Konventionen jemals wirksam werden könnten, da zunächst die Ratifikations-Urkunden nur sehr schleppend eingingen. Die jeweils vorgesehene Mindestzahl von 35 solcher staatlicher Bindungserklärungen schien - wie Christian Tomuschat zutreffend bemerkt - "in fast unerreichbare Ferne gerückt"8. Der entscheidende Durchbruch erfolgte erst 1975, als am 3. Oktober Jamaica als 35. Staat dem Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte ratifizierte und pikanterweise wenig später, am 23. Dezember, die Tschechoslowakei als 35. Staat die Ratifikationsurkunde zum Pakt über bürgerliche und politische Rechte hinterlegte. So ist der Internationale Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte - im folgenden "Sozialpakt" genannt - seit dem 3. Januar 1976 völkerrechtlich wirksam, während der Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte - im folgenden "Bürgerrechtsaspekt" genannt - am 23. März 1976 in Kraft getreten ist. Das Fakultativ-Protokoll zum Bürgerrechtspakt bedurfte zum Inkrafttreten nur der Hinterlegung von 10 Ratifikations- oder Beitrittsurkunden und its gleichfalls seit dem 23. März 1976 in Kraft. Die Tatsache, daß zur Zeit 147 Staaten den Vereinten Nationen angehören und bisher nur ca. 40 Staaten dem Sozialpakt und dem Bürgerrechtspakt beigetreten sind, macht deutlich, wie schwierig es für die UN ist, den Menschenrechten weltweite Geltung zu verschaffen. Aus der Liste der bisherigen Vertragsstaatengehthervor, daß nicht nur zahlreiche Länder mit freiheitlich-demokratisch verfaßten Staatsordnungen, sondern auch viele Staaten der sogenannten Dritten Welt gezögert haben, den Menschenrechtspakten zuzustimmen'. Festzuhalten gilt zunächst, daß alle Staaten des Ostblocks ihre Beitrittsurkunden hinterlegt haben. Da neben der Sowjetunion auch die Ukraine und Weißrußland Mitglieder der Weltorganisation sind, haben sie diesen Schritt auch selbständig vollzogen. Die UdSSR hat ihre Beitrittsurkunden am 16. Oktober 1973, die DDR am 8. November 1973 hinterlegt. Auffällig ist, daß wichtige westliche Staaten bisher die beiden Menschenrechtspakte noch nicht ratifiziert oder gar noch nicht einmal unterzeichnet haben. Die Bundesrepublik Deutschland hat beide Pakte am 9. Oktober 1968 unterzeichnet und ihre Beitrittsurkunden am 17. Dezember 1973 hinterlegt. Von den westeuropäischen Staaten sind bis8 eh. Tomuschat: Menschenrechtsschutz durch die Vereinten Nationen, in: Vereinte Nationen 1976, S. 166 - 174 (167). • Vgl. dazu "Sozialfragen und Menschenrechte", in: Vereinte Nationen 1976, S. 26 f.; der Stand von Ende April 1977 wird wiedergegeben ebenda 1977, H. 3, S.96.
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lang außerdem Dänemark, Schweden, Norwegen und Großbritannien den beiden Konventionen beigetreten; das gleiche gilt für Kanada. Nicht unerwähnt bleiben sollte, daß auch Jugoslawien zu den Signatarstaaten gehört. Mehrere Staaten - wie Italien, Österreich, Belgien und Luxemburg - haben beide Pakte bisher nur unterzeichnet, aber noch nicht ratifiziert. Hingegen hat neben den Vereinigten Staaten Frankreich beide Pakte nicht einmal unterzeichnet. Der Vollständigkeit halber sei noch erwähnt, daß von den 35 Signatarstaaten der KSZE-Schlußakte neben den genannten Staaten auch Finnland und Cypern zu den Unterzeichnern der Menschenrechtspakte der UN zählen. Die beiden UN-Konventionen markieren - wie Felix Ermacora betont - einen entscheidenden Einschnitt in die Arbeit der Vereinten Nationen für den Schutz der Menschenrechte: "Sie haben die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte in ihrem Inhalt ausgelotet und den Inhalt der Deklaration in die Form juristischer Normen eines völkerrechtlichen Vertrages gebracht. Die Vereinten Nationen haben - im Zusammenhang mit der Konvention über die Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung10 - ein Rechtsschutzsystem eingerichtet, das allerdings nicht jene Tragweite' hat, wie die regionale Verwirklichung der Allgemeinen Erklärung: die Europäische Konvention für Menschenrechtell." Wenn damit auch erstmals in ihrer Geschichte die Vereinten Nationen heute über eine spezifizierte und konkretisierte Rechtsgrundlage für ihre Bemühungen um eine Sicherung der Menschenrechte verfügen, ist damit gleichzeitig auch die "Einheitlichkeit des menschenrechtlichen Standards zerfallen. Es gibt nun auf der einen Seite die Vertragsstaaten der beiden übereinkommen und auf der anderen Seite diejenigen Länder, die lediglich den - sehr viel vageren und für die Rechtsanwendung weniger geeigneteren - Grundprinzipien der Charta verpflichtet sind. "12 Um das Bild der Bemühungen der Vereinten Nationen um den Schutz der Menschenrechte zu vervollständigen, darf nicht unerwähnt bleiben, daß die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 1948 und die beiden Menschenrechtspakte von 1966, die zusammengefaßt auch als" The International Bill of Human Rights" apostrophiert werden, durch eine ganze Reihe von Deklarationen, vornehmlich der UN-Vollversammlung, und von völkerrechtlichen Verträgen zu Einzelfragen des Menschenrechtsschutzes ergänzt werden13 • Schließlich strahlen auch einen "ge10 Text des Internationalen Übereinkommens vom 7. März 1966 zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung in: Bundesgesetzblatt 1969 II,
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F. Ermacora, a.a.O. (Anm. 1), 5. 133.
50 eh. Tomuschat, a.a.O. (Anm. 8), 5.167. Vgl. die Nachweise bei eh. Tomuschat, ebenda, 5.167.
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wissen menschenrechtlichen Flankenschutz"14 Konventionen aus, die Spezialorganisationen der UN, vornehmlich die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) aufgelegt haben.
I. Die rechtliche Wirksamkeit beider Konventionen Die rechtliche Wirksamkeit ist in beiden UN-Menschenrechtspakten sehr unterschiedlich geregelt. Darauf ist vor allem deshalb hinzuweisen, weil die Staaten des Ostblocks - auch und gerade die DDR - aus Gründen der politischen Opportunität in der Diskussion um die Verwirklichung der Menschenrechte sehr viel stärker und intensiver mit den im Sozialpakt verankerten Rechten argumentieren und operieren als mit den im Bürgerrechtspakt geschützten klassischen Freiheitsrechten. Gemäß Artikel 2 Ziffer 1 des Sozialpakts verpflichtet sich jeder Vertragsstaat nur dazu, "unter Ausschöpfung aller seiner Möglichkeiten Maßnahmen zu treffen, um nach und nach mit allen geeigneten Mitteln, vor allem durch gesetzgeberische Maßnahmen, die volle Verwirklichung der in diesem Pakt anerkannten Rechte zu erreichen". Somit haben die Signatarstaaten keine aktuellen Rechtspflichten übernommen; sie haben sich nur verpflichtet, die Realisierung der in der Konvention verankerten Rechte anzustreben. Ein "höherer Verpflichtungsgrad wäre bei dem verschwommenen Inhalt mancher Bestimmungen auch überspannt gewesen"15. Eine Ausnahme von diesen bewußt vage formulierten Regelungen macht lediglich Artikel 2 Ziffer 2 des Sozialpakts, in dem das Diskriminierungsverbot ausgesprochen ist - "wohl um einen Rückschritt hinter die seit 1969 in Kraft befindliche Konvention gegen Rassen-Diskriminierung vom 7. März 1966 zu vermeiden"16. Hingegen spricht der Bürgerrechtspakt von der Verpflichtung der Vertragsstaaten, "die in diesem Pakt anerkannten Rechte zu achten und sie allen in seinem Gebiet befindlichen und seiner Herrschaftsgewalt unterstehenden Personen ... zu gewährleisten" (Artikel 2 Ziffer 1). Im Gegensatz zum Sozialpakt gehört der Bürgerrechtspakt zu jenem Typus völkerrechtlicher Konventionen, die den Signatarstaaten Rechtspflichten auferlegen: die Transformierung in innerstaatliches Recht. Hinzu kommt, daß die im Bürgerrechtspakt anerkannten Rechte klar und bestimmt formuliert sind. Die unmittelbare Anwendung soll auch dadurch erleichtert werden, daß die Einschränkungen und Vorbehalte, mit denen zahlreiche Rechte versehen sind, differenziert und unzweideutig ausgestaltet sind. Für die unmittelbare Anwendung spricht 14 So F.-Ch. Zeitler: Die Menschenrechte im geteilten Deutschland, in: Partnerschaft mit dem Osten. München 1976, S. 191 - 215 (195 f.). 15 So F.-Ch. Zeitler, ebenda, S. 197. 16 So F.-Ch. Zeitler, ebenda.
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schließlich auch das im Fakultativ-Protokoll zum Bürgerrechtspakt geregelte Verfahren der Individualb~schwerde; dieses Verfahren - darauf wird noch zurückzukommen sein - setzt voraus, daß sich der Beschwerdeführer seinem Staat gegenüber auf die Rechte des Bürgerrechtspakts berufen kann17• So pflichtet ein großer Teil der Wissenschaft der These der unmittelbaren Geltung des Bürgerrechtspakts ZU18 • Die von den Unterzeichnerstaaten des Bürgerrechtspakts übernommenen Verpflichtungen reichen noch weiter: Jeder Signatar hat "im Einklang mit seinem verfassungsmäßigen Verfahren und mit den Bestimmungen dieses Paktes die erforderlichen Schritte zu unternehmen, um die gesetzgeberischen oder sonstigen Vorkehrungen zu treffen, die notwendig sind, um den in diesem Pakt anerkannten Rechten Wirksamkeit zu verleihen, soweit solche Vorkehrungen nicht bereits getroffen worden sind" (Artikel 2 Ziffer 2). Auch diese Bestimmung spricht für die unmittelbare Geltung dieser UN-Konvention. 11. Die Problematik des internationalen Rechtsschutzes Unter dem Aspekt des internationalen Rechtsschutzes hat der Sozialpakt nur geringe Bedeutung. Da er keine aktuellen Rechtspflichten erzeugt und die meisten in ihm aufgeführten Bestimmungen bewußt verschwommen formuliert sind, kann es nicht überraschen, daß der Sozialpakt kein Verfahren der Staaten- oder Individual-Beschwerden vorsieht, um Rechtsverletzungen vor Verwaltungsbehörden oder Gerichten zu rügen. Der Sozialpakt beschränkt sich auf das Berichtssystem. Die Vertragsstaaten haben sich nur verpflichtet, "Berichte über die von ihnen getroffenen Maßnahmen und über die Fortschritte vorzulegen, die hinsichtlich der Beachtung der in dem Pakt anerkannten Rechte erzielt wurden" (Art. 16). Diese Berichte haben sie dem Generalsekretät der Vereinten Nationen zuzuleiten, der sie dem Wirtschafts- und Sozialrat der UN übermittelt, damit dieser sie prüft. Der Wirtschafts- und Sozialrat kann diese Berichte der Menschenrechts-Kommission "zur Prüfung und allgemeinen Empfehlung oder gegebenenfalls zur Kenntnisnahme" weiterreichen (Artikel 19). Der Wirtschafts- und Sozialrat kann außerdem der Generalversammlung "von Zeit zu Zeit Berichte mit Empfehlungen allgemeiner Art und einer Zusammenfassung der Angaben vorlegen, die er von den Vertragsstaaten und den Sonderorganisationen über Maßnahmen und Fortschritte hinsichtlich der allgemeinen Beachtung der in diesem Pakt anerkannten Rechte erhalten hat". 17 Vgl. dazu H.-J. Bartsch a.a.O (Anm. 1), S. 474; sehr detailliert die Darstellung bei F.-Ch. Zeitler, ebenda, S. 197 f. 18 Vgl. dazu F.-Ch. Zeitler, ebenda mit Nachweisen in Anm. 10; a. A. P. E. Goose, a.a.O. (Anm. 1), S. 1306.
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Von dieser Regelung unterscheidet sich deutlich der Bürgerrechtspakt, der jedem Vertragsstaat aufgibt, "dafür Sorge zu tragen, daß jeder, der in seinen in diesem Pakt anerkannten Rechten oder Freiheiten verletzt worden ist, das Recht hat, eine wirksame Beschwerde einzulegen, selbst wenn die Verletzung von Personen begangen worden ist, die in amtlicher Eigenschaft gehandelt haben" (Artikel 2 Ziffer 2). Darüber hinaus haben die Signatare dafür zu sorgen, "daß jeder, der eine solche Beschwerde erhebt, sein Recht durch das zuständige Gerichts-, Verwaltungs- oder Gesetzgebungsorgan oder durch eine andere, nach den Rechtsvorschriften des Staates zuständige Stelle feststellen lassen kann, um den gerichtlichen Rechtsschutz auszubauen" (Artikel 2 Züfer 3). Angesichts der unterschiedlichen Verfassungen und Rechtsordnungen der vom Bürgerrechtspakt betroffenen Staaten hat man davon abgesehen, die Signatare zu verpflichten, die in der Konvention anerkannten Rechte in einer bestimmten zeitlichen Frist innerstaatlich durchzusetzen, soweit das geltende Recht ihnen widerspricht. Für die Bundesrepublik Deutschland entstanden aus dieser Regelung keine innerstaatlichen Probleme, da das Grundgesetz einen umfassenden Schutz der Menschenrechte enthält. Dem im Bürgerrechtspakt verankerten innerstaatlichen Rechtsschutz wird Artikel 19 Absatz 4 des Grungesetzes Genüge getan: "Wird jemand durch die öffentliche Gewalt in seinen Rechten verletzt, so steht ihm der Rechtsweg offen. Soweit eine andere Zuständigkeit nicht begründet ist, ist der ordentliche Rechtsweg offen ...11". Hingegen hat sich für die DDR eine neue rechtliche Situation insofern ergeben, als sie verpflichtet ist, den in der Konvention anerkannten Rechten zur Wirksamkeit zu verhelfen. Die Verfassung der DDR kennt - aufgrund der offiziell verordneten Menschenrechts- und GrundrechtsDoktrin - keinen besonderen gerichtlichen Grundrechtsschutz. Dem Bürger der DDR gewährt Artikel 103 der Verfassung nur ein Eingaberecht: Jeder Bürger kann sich mit Eingaben (Vorschlägen, Hinweisen, Anliegen oder Beschwerden) an die Volksvertretung, ihre Abgeordneten oder die staatlichen und wirtschaftlichen Organe wenden. In ihrer Antwort vom 4. April 1977 auf die Große Anfrage der CDU/CSU-Bundestagsfraktion vom 16. Februar 1977 betont die Bundesregierung, daß eine außerordentlich starke Zunahme der Eingaben und Beschwerden von Bewohnern der DDR an die staatlichen Organe auf allen Ebenen zu verzeichnen sei: "Die Eingaben betreffen zum größten Teil Fragen der Versorgung, der Dienstleistungen im allgemeinen sowie Probleme des Wohnungsweseng2o. " 18 Vgl. dazu auch die Denkschrift der Bundesregierung, a.a.O. (Anm. 7), S. 28. Artikel 2 Ziffer 3 des Bürgerrechtspakts hat im wesentlichen in Artikel 13 der Europäischen Menschenrechtskonvention .sein Gegenstück (BeschwerdeMöglichkeit bei Vp.rlp.tzung der Rechte oder Freiheiten der Konvention).
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Gemäß Artikel 2 Ziffer 2 hat - um es noch einmal zu wiederholen jeder Vertragsstaat des Bürgerrechtspakts im Einklang mit seinem verfassungsmäßigen Verfahren die gesetzgeberischen oder sonstigen Vorkehrungen zu treffen, die notwendig sind, um den in diesem Pakt anerkannten Rechten Wirksamkeit zu verleihen. Wenn sich die DDR hier auf den Hinweis zurückzieht, daß ihre Verfassung keinen gerichtlichen Grundrechtsschutz kennt, sollte ihr entgegengehalten werden, daß es mit ihrer sonst so oft beteuerten "Völkerrechtstreue" nicht gut bestellt ist. Unabhängig davon ist die DDR jedoch nach Artikel 2 Ziffer 3 des Bürgerrechtspakts verpflichtet, Vorkehrungen zu treffen, um durchgreifende Möglichkeiten für Beschwerden einzelner gegen die Verletzung seiner Rechte im innnerstaatlichen Bereich zu eröffnen. Bisher war die DDR weder nach der UN-Charta noch dem innerdeutschen Grundvertrag verpflichtet, Beschwerden gegen die in dem Bürgerrechtspakt präzisierten und dezidiert aufgeführten Rechte zuzulassen. Nicht übersehen werden darf dabei aber, daß der Bürgerrechtspakt keine Sanktionen gegen Staaten vorsieht, die ihren Verpflichtungen nicht nachkommen. Auch bei der Ausarbeitung des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte hat sich herausgestellt, wie schwierig es ist, eine wirksame internationale Kontrolle über die Verwirklichung und den Schutz der Menschenrechte im Rahmen der Vereinten Nationen durchzusetzen. Ebenso wie der Sozialpakt sieht auch der Bürgerrechtspakt das Berichtssystem vor. Die Vertragsstaaten sind verpflichtet, über die Maßnahmen, die sie zur Verwirklichung der in diesem Pakt anerkannten Rechte getroffen haben und über die dabei erzielten Fortschritte Berichte vorzulegen, die von dem dafür eingerichteten Ausschuß für Menschenrechte geprüft werden (Artikel 40). Die erste Wahl des Ausschusses für Menschenrechte, der aus 18 Mitgliedern besteht (Artikel 28), fand gemäß Artikel 30 spätestens sechs Monate nach Inkrafttreten des Bürgerrechtspakts statt. Die Versammlung der Vertragsstaaten, die die 18 Ausschußmitglieder zu wählen hatte, wurde innerhalb der sechsmonatlichen Frist zum 20. September 1976 einberufen. Zwei der 18 Mitglieder sind deutsche Wissenschaftler: die Professoren Christian Tomuschat (Universität Bonn) und Bernhard Graefrath (Humboldt-Universität Ost-Berlin). Wenn man berücksichtigt, daß die USA, Frankreich, Italien, Belgien, die Niederlande, Australien und Neuseeland, um nur einige zu nennen, nicht Signatare des Bürgerrechtspakts sind, dann ist die - wie Egon 20 Text der Großen Anfrage der CDU/CSU-Bundestagsfraktion vom 16. Februar 1977 in: Deutscher Bundestag, 8. Wahlperiode, Drucksache 8/118; Text der Antwort der Bundesregierung vom 4. April 1977, ebenda, Drucksache
8/255, S. 14 f. (15).
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Schwelb betont - "Vertretung der westlichen Zivilisationsformen" mit insgesamt fünf Mitgliedern "sehr befriedigend"21. Der Sowjetblock ist außer durch Prof. Graefrath durch drei weitere Mitglieder aus der UdSSR, Rumänien und Bulgarien vertreten. Je drei Ausschuß-Mitglieder sind Afrikaner und Lateinamerikaner, je ein Mitglied kommt aus Cypern, dem Iran und Syrien. 111. Das Fakultativ-Protokoll zum Bürgerrechtspakt Im Gegensatz zum Sozial pakt kennt der Bürgerrechtspakt sowohl ein Individualbeschwerde- als auch ein Staatenbeschwerde-Verfahren. Das Verfahren der Individualbeschwerde ist gesondert in dem FakultativProtokoll zum Bürgerrechtspakt geregelt. Es bestimmt, daß Einzelpersonen, die behaupten, in einem ihrer im Pakt niedergelegten Rechte verletzt zu sein und die alle zur Verfügung stehenden innerstaatlichen Rechtsbehelfe erschöpft haben, dem Ausschuß für Menschenrechte eine schriftliche Mitteilung zur Prüfung einreichen können (Artikel 2). Voraussetzung für eine solche Individualbeschwerde ist jedoch, daß sie einen Vertragsstaat der Konvention betrifft, der auch Vertragspartei des Fakultativ-Protokolls ist. Der Ausschuß für Menschenrechte nimmt keine Mitteilung entgegen, die sich gegen einen Vertragsstaat des Paktes richtet, der nicht Vertragspartei dieses Protokolls ist (Artikel 1). Wie wenig effektiv das Verfahren der Individualbeschwerde ausgestaltet ist, verdeutlicht ein kurzer Vergleich mit der Europäischen Menschenrechts-Konvention von 1950 (MRK). Während sich gemäß Artikel 2 des Fakultativ-Protokolls nur Einzelpersonen an den Ausschuß für Menschenrechte wenden können, läßt Artikel 25 der MRK auch Beschwerden nichtstaatlicher Organisationen oder Personenvereinigungen zu. Während nach Artikel 1 des Fakultativ-Protokolls der Beschwerdeführer der Herrschaftsgewalt des Staates unterliegen muß, gegen den sich die Beschwerde richtet, kann sich gemäß Artikel 25 MRK eine Beschwerde gegen jeden Vertragsstaat richten, der das Recht der Individualbeschwerde anerkannt hat. Artikel 5 des Fakultativ-Protokolls bestimmt, daß der Ausschuß für Menschenrechte "die Mitteilung" der sich beschwerenden Einzelperson "prüft"; im Gegensatz zur MRK endet das Verfahren jedoch nicht mit einer Entscheidung über die geltend ge21 So E. Schwelb: Vorbereitende Maßnahmen zur Anwendung der VN-Menschenrechtspakte, in: Vereinte Nationen 1976, S. 174 - 178 (175). Er gibt eine sehr detaillierte und aufschlußreiche Analyse über den bisherigen Stand der Anwendung der beiden UN-Menschenrechtspakte. Vgl. dazu auch H.-J. Bartsch, a.a.O. (Anm. 1), S. 475. Die konstituierende Sitzung des Ausschusses für Menschenrechte fand vom 21. März bis zum 1. April 1977 statt. Vgl. dazu im einzelnen "Menschenrechtsausschuß: Konstituierende Tagung behandelt Verfahrens ordnung" in: Vereinte Nationen 1977, H. 2, S. 61 f.
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machte Menschenrechts-Verletzung. Das ist auch der Grund, weshalb das Fakultativ-Protokoll nicht den Prozeßbegriff "Beschwerde" verwendet, sondern von "Mitteilungen" spricht 22. Im Verfahren nach dem Fakultativ-Protokoll teilt der Ausschuß für Menschenrechte "seine Auffassungen dem betroffenen Vertragsstaat und der Einzelperson" mit (Artikel 5 Ziffer 4). Die Prüfung erfolgt auf der Grundlage der "unterbreiteten schriftlichen Angaben" (Artikel 5 Ziffer 1); eine mündliche Verhandlung sieht das Protokoll nicht vor. Hinzu kommt, daß der Ausschuß für Menschenrechte nach dem Fakultativ-Protokoll nicht - wie im Verfahren der Staatenbeschwerde gemäß Artikel 41 des Bürgerrechtspakts - autorisiert ist, eine "gütliche Regelung" herbeizuführen. Damit sich die Funktion des Ausschusses für Menschenrechte nicht darin erschöpft, "Mitteilungen" über Menschenrechts-Verletzungen entgegenzunehmen und diese nur zu "prüfen", eröffnet ihm das FakultativProtokoll wenigstens eine Möglichkeit, als eine kontrollierende Instanz hervorzutreten. Artikel 4 des Fakultativ-Protokolls legt fest, daß der Ausschuß jede bei ihm eingereichte Mitteilung dem Vertragsstaat des Protokolls zur Kenntnis bringt, "dem vorgeworfen wird, eine Bestimmung des Paktes verletzt zu haben". Der betroffene Staat hat dem Ausschuß "innerhalb von sechs Monaten schriftliche Erläuterungen oder Stellungnahmen zur Klärung der Sachen übermitteln und die gegebenenfalls von ihm getroffenen Abhilfemaßnahmen mitzuteilen". Da dieses Verfahren jedoch in nichtöffentlicher Sitzung stattfindet (Artikel 5 Ziffer 3) und "sich folglich kein Staat dem Druck der öffentlichen Meinung ausgesetzt sieht, darf bezweifelt werden, ob es dem Ausschuß gelingen wird, mit Hilfe des schwachen Instrumentariums, über das er verfügt, einen wirksamen Menschenrechtsschutz des einzelnen zu gewährleisten"23. Zusammenfassend läßt sich feststellen, daß der Ausschuß für Menschenrechte im Verfahren nach dem Fakultativ-Protokoll dem betroffenen Staat seine "Auffassung" mitteilen "und damit wohl auch die rechtliche Feststellung einer Verletzung des Pakts verbinden"24 kann. Und gemäß Artikel 40 des Bürgerrechtspakts kann der Ausschuß für Menschenrechte "Berichte" der Vertragsstaaten anfordern und nach deren Prüfung dazu "Bemerkungen" abgeben: "Eine spezielle Rüge 22 Vgl. zur Frage des Kontroll- und Vberwachungsverfahrens im H.-J. Bartsch, a.a.O. (Anm. 1), S. 475 f.; Ch. Tomuschat, a.a.O. (Anm. Zeitler, a.a.O. (Anm. 14), S. 204 - 206; H. Haug: Die UNO-Pakte Menschenrechte und die kommunistischen Staaten Osteuropas, Zürcher Zeitung vom 5. Februar 1977. 23 So H.-J. Bartsch, ebenda, S. 476. 24 So F.-Ch. Zeitler, a.a.O. (Anm. 14), S. 205.
einzelnen
8); F.-Ch.
über die in: Neue
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einer Menschenrechtsverletzung dürfte demnach nur in verklausulierter Form möglich sein25 ." Franz-Christoph Zeitler apostrophiert den Ausschuß für Menschenrechte als "das völkerrechtlich zuständige Organ für die verbindliche Auslegung der unbestimmten Rechtsbegriffe der Konvention"26. Ob der funktionell und institutionell so schwach ausgestattete Ausschuß für Menschenrechte wirklich befugt ist, die Bestimmungen des Bürgerechtspakts verbindlich auszulegen, erscheint zumindest fraglich 27 • Die Tatsache, daß für das Verfahren der Individualbeschwerde der Abschluß eines gesonderten Protokolls notwendig war, macht die entscheidende Schwäche des UN-Menschenrechtsschutzes deutlich: "Seit Gründung der Organisation bestehen unter ihren Mitgliedern tiefgreifende Meinungsverschiedenheiten darüber, ob die Vereinten Nationen befugt seien, sich mit Eingaben von Einzelpersonen über Menschenrechtsverletzungen zu befassen. Die Befürworter haben sich seit jeher auf Art. 55 c der Charta gestützt, der den UN die ,allgemeine Achtung und Verwirklichung der Menschenrechte für alle' als Aufgabe zuweist; die Gegner verweisen auf die Sicherungsklausel in Artikel 2 VII, derzufolge aus der Charta eine ,Befugnis der UN zum Eingreifen in Angelegenheiten, die ihrem Wesen nach zu inneren Zuständigkeit eines Staates gehören, oder eine Verpflichtung der Mitglieder, solche Angelegenheiten einer Regelung auf Grund der Charta zu unterwerfen', nicht abgeleitet werden kann28 ." Daher steht unzweifelhaft fest, daß zahlreiche Staaten das FakultativProtokoll zum Bürgerrechtspakt niemals unterzeichnen und sich damit nicht dem Verfahren der Individualbeschwerde unterwerfen werden. So ist es kein Zufall, daß nur wenige Signatare des Bürgerrechtspakts bisher auch das Fakultativ-Protokoll ratifiziert haben. Es erscheint vor allem völlig ausgeschlossen, daß die Staaten des Ostblocks - und damit auch die DDR - jemals das Fakultativ-Protokoll unterzeichnen werden, da es ihrem Souveränitäts-Verständnis widerspricht, ein internationales Organ anzuerkennen, das über die Durchsetzung und den Schutz der Menschenrechte in ihren Staaten zu wachen hätte. Die DDR bemüht - im Anschluß an die im völkerrechtlichen Schrifttum der UdSSR vertretene Auffassung - den "überzogenen Souveränitätsbegriff des 19. Jahrhunderts als rechtstheoretischen Schutzwall geSo F.-Ch. Zeitler, ebenda. So F.-Ch. Zeitler, ebenda. 27 Vgl. dazu auch die detaillierte Darstellung von H.-J. Bartsch, a.a.O. (Anm. 1), S. 476. 28 H.-J. Bartsch, ebenda, S. 475 f. 25
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gen die menschenrechtliche Zugluft der Bürgerrechtskonvention"28. Als repräsentativ für diese Ansicht sei Prof. Bernhard Graefrath von der Sektion Rechtswissenschaft der Humboldt-Universität in Ost-Berlin zitiert, der in den letzten Jahren die wichtigsten Beiträge zu dieser Problematik geliefert hat und sich trotz seiner einseitigen Sicht wohltuend von dem bekannten Grundrechts-"Experten" der DDR, Prof. Hermann Klenner, unterscheidet, dem in seinem jüngsten Beitrag "Menschenrechte im Klassenkampf"30 nicht viel Substantielles eingefallen ist. Graefrath legt größten Wert auf die Feststellung, daß die beiden UNMenschenrechtspakte nicht versuchten, "die Gewährleistung der Menschenrechte aus dem Hoheitsbereich der Staaten auszugliedern und irgendeiner nichtexistenten außer- oder überstaatlichen Macht zu unterstellen. Sie gehen vielmehr davon aus, daß es sich hier um eine Aufgabe der jeweiligen Staaten handelt, und versuchen, die Zusammenarbeit der Staaten in diesem Bereich inhaltlich zu definieren und zu organisieren." An anderer Stelle betont er, daß die Gewährleistung der Menschenrechte grundsätzlich im Souveränitätsbereich der einzelnen Staaten bleibe: "Die UNO-Charta hat den Schutz der Menschenrechte nicht aus dem Souveränitätsbereich der Staaten ausgegliedert. Sie hat vielmehr in richtiger Erkenntnis, daß die Menschenrechte unlösbar mit der jeweiligen Gesellschaftsordnung verknüpft sind, die Verantwortung der Staaten für ihre Gewährleistung anerkannt und bekräftigt und es der UNO zur Aufgabe gemacht, die Zusammenarbeit der Staaten bei der Gewährleistung und beim Schutz der Menschenrechte zu organisieren ... Alle Versuche, die staatliche Souveränität beiseitezuschieben oder sie unter Berufung auf die Menschenrechte zu unterlaufen, können nicht der Entwicklung der Menschenrechte dienen31 ." In einem Vortrag über "Internationale Zusammenarbeit der Staaten zur Förderung und Wahrung der Menschenrechte" hat sich Graefrath am 2. Dezember 1976 noch einmal mit dieser Problematik vor dem Wissenschaftlichen Rat der Sektion Rechtswissenschaft der Humboldt-Universität Berlin eingehend befaßt. Darin beruft er sich nicht nur auf den in Artikel 2 Ziffer 1 der UN-Charta verankerten "Grundsatz der souSo F.-Ch. ZeitIer, a.a.O. (Anm. 14), S. 198. H. Klenner: Menschenrechte im Klassenkampf, in: Einheit 1977, H. 2, S. 156 - 165. In einigen Punkten äußern sich C. Luge, R. Mand und R. Rost differenzierter in ihrem Beitrag "Sozialismus und Menschenrechte - Staatsund rechtstheoretische Aspekte", in: Staat und Recht 1977, H. 8, S. 789 -797. Vgl. auch den Aufsatz von Max Schmidt, Direktor des Instituts für Internationale Politik und Wirtschaft der DDR: Zur Dialektik des Kampfes für den Frieden und für die Verwirklichung der Menschenrechte, in: Neue Justiz 1977, Nr. 14, S. 430 - 433. 31 B. Graefrath: Internationale Zusammenarbeit und Menschenrechte, in: Neue Justiz 1973, S. 683 - 688 (683, 687f.). 28
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veränen Gleichheit" aller UN-Mitglieder, sondern bemüht nun auch die in Ziffer 7 derselben Bestimmung verankerte Vorbehaltsklausel zugunsten der nationalen Zuständigkeit. Graefrath folgert: "Die Organisation der Vereinten Nationen hat nicht, konnte nicht und kann auch in Zukunft nicht die Gewährleistung von Menschenrechten übernehmen. Sie kann auch nicht zu einer internationalen Kontrollinstanz über die allgemeine Einhaltung von Menschenrechtsbestimmungen gemacht werden32 ." Die Bundesrepublik Deutschland wird vorläufig das Fakultativ-Protokoll nicht unterzeichnen, da die Europäische Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 4. November 1950, der die Bundesrepublik Deutschland seit 1952 als Mitgliedstaat angehört, einen wesentlich umfassenderen Rechtsschutz sichert3ll• Zuständig für solche Beschwerden ist die Europäische Kommission für Menschenrechte. Die Kommission befaßt sich jedoch nicht mit einem Gesuch, wenn es bereits einer anderen internationalen Untersuchungs- oder Ausgleichsinstanz unterbreitet worden ist (Artikel 27 MRK). Das bedeutet: Eine zuvor beim Ausschuß für Menschenrechte des Bürgerrechtspakts eingereichte Beschwerde könnte nicht von der Europäischen Kommission für Menschenrechte behandelt werden. Daher will die Bundesrepublik Deutschland erst einmal abwarten, wie sich die Arbeit des Ausschusses für Menschenrechte der UN auf die Tätigkeit der Europäischen Menschenrechts-Kommission auswirken könnte. Darüber, ob der Standpunkt der Bundesregierung im Interesse der in der DDR lebenden Bürger ist, kann man zumindest streiten. Am entschiedensten hat bisher Franz-Christoph Zeitler der Bundesregierung empfohlen, ihre Ansicht zu revidieren: "Will die Bundesrepublik gegenüber der DDR menschenrechtspolitisch offensiv werden, sollte sie immer wieder vor der Weltöffentlichkeit den gemeinsamen Beitritt der deutschen Staaten zum Fakultativprotokoll fordern und damit den DDR-Bürgern die Möglichkeit eröffnen, von Rechts wegen internationales Interesse auf ihre Situation zu lenken, ohne daß die Bundesrepublik sich in jedem Einzelfalle als Staat engagieren muß. Dieser politische Vorteil wöge den immer wieder ...34 ins 32 B. Graefrath: Internationale Zusammenarbeit der Staaten zur Förderung und Wahrung der Menschenrechte, in: Neue Justiz 1977, H. 1, S. 1 -7 (2 f.). 33 Vgl. dazu im einzelnen H.-J. Bartsch, a.a.O. (Anm. 1), S. 477 - 480 mit weiteren Nachweisen. Vgl. dazu auch den Bericht des vom Ministerkomitee des Europarats eingesetzten Sachverständigen-Ausschusses über die sich durch die Koexistenz der VN-Pakte über Menschenrechte und der Europäischen Menschenrechtskonverition ergebenden Probleme. Text in: Bundesrat, Drucksache 304/73, Anlage I zur Denkschrift der Bundesregierung. Nachweis oben in Anm. 7. 34 Hier verweist F.-Ch. Zeitler auf P. E. Goose, a.a.O. (Anm. 1), S. 1310.
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Feld geführten Nachteil auf, daß im Bereich der Europäischen Menschenrechtskommission (West-Europa) ein Beschwerdeführer von einer Anrufung der Europäischen Menschenrechtskommission ausgeschlossen würde ... , wenn er sich vorher an den mit viel geringeren Kompetenzen ausgestatteten Menschenrechtsausschuß der Bürgerrechts-Konvention gewandt hätte. Dieses Konkurrenzverhältnis ließe sich durch entsprechende Rechtsmittelbelehrungen der jeweils angegangenen Instanzen ohne Unzuträglichkeiten für die Betroffenen lösen35 ." Schließlich sei noch bemerkt, daß auch das im Bürgerrechtspakt vorgesehene Verfahren von Staatenbeschwerden wenig effektiv ausgestaltet ist, da es von einer besonderen Unterwerfungserklärung abhängig ist. Beschwerden solcher Art können nur Staaten gegen Staaten vor dem Ausschuß für Menschenrechte einlegen, die die Kompetenz des Ausschusses zur Entgegennahme solcher Beschwerden anerkannt haben. Die Bundesrepublik Deutschland hat kürzlich eine solche Erklärung abgegeben, die aber völkerrechtlich insofern noch nicht relevant geworden ist, als die Mindestzahl von 10 Unterwerfungserklärungen für das Inkrafttreten der Regelung über die Staatenbeschwerde noch nicht erreicht worden ist (Artikel 41 Ziffer 2)36. Außer der Bundesrepublik Deutschland haben sich bisher nur Dänemark, Finnland, Norwegen, Schweden und Großbritannien diesem Verfahren unterworfen. Ob sich die Staaten des Ostblocks - und damit auch die DDR - jemals diesem Verfahren unterwerfen werden, erscheint höchst zweifelhaft. Allerdings würden sie hier kein großes Risiko eingehen, da der Ausschuß für Menschenrechte keine verbindlichen Entscheidungen trifft, sondern nur seine "guten Dienste" zur Verfügung stellt, "um eine gütliche Regelung der Sache ... herbeizuführen" (Artikel 41 Ziffer 1 e). Damit ist bereits jetzt vorauszusehen, daß die Staatenbeschwerde "aufgrund ihrer eingeschränkten Anwendbarkeit und wegen fehlender Sanktionsmöglichkeiten dem Ausschuß keine wirksame Handhabe zur Sicherung der Menschenrechte bieten wird. Erfahrungen mit Staatenbeschwerden nach Artikel 24 MRK haben im übrigen gezeigt, daß sich dieses Institut in der Praxis nicht bewährt. Die Hoffnung, die Staaten würden sich als Sachwalter des kollektiven Interesses der Vertragsgemeinschaft am Schutz der Menschenrechte verstehen, hat sich nicht erfüllt"37. Abschließend sei als positives Faktum vermerkt, daß es den Vereinten Nationen mit den beiden Menschenrechtspakten gelungen ist, die völkerrechtlich unverbindliche Allgemeine Erklärung der Menschenrechte 35 F.-Chr. Zeitler, a.a.O. (Anm. 14), S. 205 f.; Hervorhebung im Text. Vgl. zu diesem Konkurenzverhalten auch F. Meißner: Die Menschenrechtsbeschwerde vor den Vereinten Nationen, Baden-Baden 1976, S. 53 -68. 36 Vgl. dazu im einzelnen Ch. Tomuschat, a.a.O. (Anm. 8), S. 168 f. 37 So H.-J. Bartsch, a.a.O. (Anm. 1), S. 475 mit instruktiven Nachweisen.
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aus dem Jahre 1948 in die Form einer völkerrechtlich verbindlichen Konvention gebracht zu haben. Anzuerkennen sind auch die Bemühungen der UN, ihr Ziel, den Menschenrechten weltweite Geltung zu verschaffen, mit einem Rechtsschutzsystem zu verbinden. Daß dieses Rechtsschutzsystem nur unzureichend ausgestaltet werden konnte, war von vornherein zu erwarten. Zu sehr gingen und gehen die Meinungen in der Welt über die Funktion der UN im Bereich des Menschenrechtsschutzes auseinander. Immerhin ist ein, wenn auch unzureichender Anfang gemacht worden. Daß die Staaten des Ostblocks den Vereinten Nationen jegliches Recht absprechen, über die Verwirklichung und Einhaltung der Menschenrechte in der Welt zu wachen, ist höchst bedauerlich und bedenklich. Die Begründung, eine solche Aufgabe der UN widerspräche den Prinzipien der Souveränität und Nichteinmischung, kann keinesfalls überzeugen. In Artikel 55 der UN-Charta wird den Vereinten Nationen die Aufgabe zugewiesen, "die allgemeine Achtung und Verwirklichung der Menschenrechte und Grundfreiheiten für alle ... " zu fördern. Diese Bestimmung läßt es durchaus zu, daß sich die UN mit Menschenrechts-Verletzungen befassen, die von Einzelpersonen vorgebracht werden. Der dazu von östlicher Seite vorgebrachte Einwand, eine solche Funktion der UN widerspräche der Vorbehaltsklausel des Artikel 2 Ziffer 7 der UN-Charta, ist unstatthaft. Den Versuch, "die eigene Souveränität absolut zu setzen und sie den universalen Menschenrechten überzuordnen, werden die westlichen Staaten noch viel weniger akzeptieren können, dem im übrigen die gesamte Tendenz im internationalen Recht widerspricht, die auf eingeschränkte Souveränität der Staaten und erweiterte Rechte der einzelnen hinausläuft. Wenn die Sowjetunion jedoch verkündet, daß der Kampf um die Menschenrechte ihre innere Ordnung gefährde, dann wird man ihr gern zustimmen, denn hier wird der innere Widerspruch des Sowjetsystems aufgedeckt, das sich nach außen als Vorkämpfer aller Befreiungsbewegungen gebährdet, aber im innern freiheitliche Regungen unterdrückt"38. IV. Die in den heiden UN-Pakten verankerten Menschenrechte Die beiden Menschenrechtspakte der Vereinten Nationen behandeln zwei unterschiedliche Materien: einerseits die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen und andererseits die staatsbürgerlichen und politischen Rechte. Im Sozialpakt erkennen die Signatarstaaten beispielsweise das Recht des einzelnen auf Arbeit, auf gerechte und günstige Arbeitsbedingungen und auf soziale Sicherheit an. Außerdem geht es bei ihm um den Schutz der Familie, die als die natürliche Kernzelle der Gesellschaft 38 So der Kommentar "Kommunismus und Menschenrechte in Osteuropa", in: Neue Zürcher Zeitung vom 5.16. Juni 1977.
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bezeichnet wird, den Schutz von Müttern, Kindern und Jugendlichen ohne Diskriminierung aufgrund der Abstammung oder aus sonstigen Gründen. Die Konvention postuliert darüber hinaus das Recht eines jeden auf einen angemessenen Lebensstandard, 'das höchste Maß an körperlicher und geistiger Gesundheit und das Recht auf Bildung. Neben den individuellen Rechten ist im Sozialpakt auch "das Recht eines jeden, zur Förderung und zum Schutz seiner wirtschaftlichen und sozialen Interessen Gewerkschaften zu bilden oder einer Gewerkschaft eigener Wahl allein nach Maßgabe ihrer Vorschriften beizutreten", verankert; ausdrücklich werden das freie Betätigungsfeld der Gewerkschaften und das Streikrecht genannt. Allerdings können die einzelnen Staaten aufgrund weitreichender Vorbehalte die Durchsetzung dieses Kollektivrechts verhindern (Artikel 8 des Sozialpakts). Das Recht, Gewerkschaften zu bilden oder einer Gewerkschaft eigener Wahl beizutreten, und das Recht der Gewerkschaften, sich frei zu betätigen, sind mit folgendem Vorbehalt versehen: eine Einschränkung dieser Rechte ist zulässig, wenn sie "gesetzlich vorgesehen und in einer demokratischen Gesellschaft im Interesse der nationalen Sicherheit oder der öffentlichen Ordnung oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer erforderlich sind". Dennoch bleibt es bemerkenswert, daß die Staaten des Ostblocks der Aufnahme des Streikrechts in den Katalog der Rechte im Sozialpakt überhaupt zugestimmt haben, auch wenn es mit der einschränkenden Klausel verbunden ist: " ... soweit es in übereinstimmung mit der innerstaatlichen Rechtsordnung ausgeübt wird". Im Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte sind die klassischen Freiheitsrechte - beispielsweise das Recht auf Leben, auf persönliche Freiheit und Sicherheit, auf Freizügigkeit, auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit und auf unbehinderte Meinungsfreiheit - kodifiziert. Außerdem bestimmt der Bürgerrechtspakt, daß jede Kriegspropaganda durch Gesetz verboten ist. Von besonderer Bedeutung sind die in der Konvention verankerten fundamentalen Justizgrundsätze. Eine Prüfung ergibt, daß man in diesem Katalog zwei der klassischen Individualrechte, die in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948 aufgeführt sind, vergeblich sucht: das Asylrecht (Artikel 14) und das Eigentumsrecht (Artikel 17). In der östlichen Publizistik wird der Wegfall des Eigentumsrechts im Bürgerrechtspakt als großer Erfolg ihrer Menschenrechts-Doktrin gewertet. So legen beispielsweise DDRAutoren besonderen Wert auf die Feststellung, daß nunmehr der "enge Rahmen der bürgerlichen Menschenrechtskonzeption ein für allemal gesprengt" worden sei; Graefrath spricht von der "Entthronung der beherrschenden Rolle des Eigentumsrechts": Die UN-Menschenrechtskon-
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ventionen seien "keine Proklamationen der Grundrechte der bürgerlichen Gesellschaft, in denen das Individuum von der Gesellschaft isoliert, dem Staat gegenübergestellt und die Freiheit mit der Heiligkeit des Privateigentums identifiziert wurde"39. Daß das Eigentum "übrigens auch in einer sozialistisch beeinflußten UNO durchaus nicht zu den juristischen ,drop outs' zählt - wenn es der Mehrheit nützlich erscheint -, zeigt ... die Resolution 3236 vom 22. 11. 1974, in der das ,unveräußerliche Recht' der Palästinenser ,auf Rückkehr in ihre Heimat und ihr Eigentum' beschworen wird"40. Ergänzend sei vermerkt, daß auch die· Europäische Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten von 1950 auf die Aufnahme des Eigentumsrechts in ihren Menschenrechts-Katalog verzichtet hat. Weiterhin erkennt der Bürgerrechtspakt das Recht an, sich friedlich zu versammeln (Artikel 21). Auch wiederholt er das im Sozialpakt verankerte Recht eines jeden, sich frei mit anderen zusammenzuschließen, sowie zum Schutz seiner Interessen Gewerkschaften zu bilden und ihnen beizutreten (Artikel 22). Beachtung verdient der besonders detailliert ausgestaltete Grundsatz, nach dem alle Menschen vor Gericht gleich sind (Artikel 14). Schließlich sollte Artikel 17 nicht übersehen werden; der folgendes bestimmt: "Niemand darf willkürlichen oder rechtswidrigen Eingriffen in sein Privatleben, seine Familie, seine Wohnung und seinen Schriftverkehr oder rechtswidrigen Beeinträchtigungen seiner Ehre und seines Rufes ausgesetzt werden. Jedermann hat Anspruch auf rechtlichen Schutz gegen solche Eingriffe oder Beeinträchtigungen." Diese Bestimmung gehört zu den wenigen, die. nicht mit den sonst üblichen und zumeist weitgefaßten Vorbehalten versehen worden ist. Hier fehlt die den meisten anderen Menschenrechten beigegebene Formel, nach der sie aufgrund der innerstaatlichen Rechtsvorschriften unter besonderen Voraussetzung~n eingeschränkt werden dürfen. In der Mehrzahl der Fälle - das gilt z. B. für das Recht auf Freizügigkeit (Artikel 12), das Recht auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit (Artikel 18) und das Recht auf unbehinderte Meinungsfreiheit (Artikel 19) werden als Kriterien der Schutz der öffentlichen Ordnung, der Volksgesundheit, der Sittlichkeit oder Rechte und Freiheiten anderer genannt; die Artikel 12 und 19 nennen als weiteres Kriterium den Schutz der nationalen Sicherheit, während hier Artikel 18 vom Schutz der öffentlichen Sicherheit spricht. Festzuhalten gilt, daß in all diesen Fällen die 39 40
B. Graefrath, a.a.O. (Anm. 31), S. 684. Diesen aufschlußreichen Hinweis gibt F.-Ch. Zeitler, a.a.O. (Anm. 14),
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Einschränkungen dieser Grundrechte gesetzlich vorgesehen sein müssen41 • Die seit dem Inkrafttreten der beiden UN-Menschenrechtspakte vergangenen Monate haben deutlich gemacht, wie sehr beide neue dynamische Elemente in die Diskusison um die Menschenrechte gebracht haben. Die Diskussion um das "richtige" Menschenrechts-Verständnis hat inzwischen eine Dimension angenommen, die man in den Staaten des Ostblocks auch mit den schärfsten und restriktivsten Maßnahmen nicht mehr völlig unterbinden könnte. Selbst wenn sich der Westen - was nicht zu erwarten ist - dem Druck der Sowjetunion und deren Verbündeten beugte und sich einer größeren oder gar totalen Abstinenz in dieser so eminent wichtigen Frage auferlegte, könnte die Auseinandersetzung um die Menschenrechte nicht mehr zum Verstummen gebracht werden. In der von den in den Westen gelangten Dissidenten immer wieder forcierten Diskussion geht es gar nicht mehr allein um die Frage nach der Realisierung einzelner Grundrechte in den kommunistischen Staaten, sondern um den Wert und die Funktion der Menschenrechte überhaupt. Dabei ist der östlichen Argumentation und Polemik vor allem entgegenzuhalten, daß den beiden Menschenrechtspakten der Vereinten Nationen das herkömmliche Menschenrechts-Verständnis zugrunde liegt. Dieses Verständnis basiert auf der Feststellung, daß die Menschen- und Grundrechte vorstaatliche und unveräußerliche Rechte sind, die der einzelne kraft seiner Seins- und Wert autonomie besitzt. Hingegen geht die in den kommunistischen Staaten verordnete Grundrechts-Doktrin davon aus, daß es keine von Natur aus gleichermaßen und für alle Zeiten zustehende Menschenrechte gebe; die Interessen der Bürger und des Staates werden als identisch angesehen. Immer wieder wird außer41 Vgl. dazu vor allem Ch. Tomuschat, a.a.O. (Anm. 8), S. 172. Er betont, daß von den Vorbehalten vor allem dem Begriff der "öffentlichen Ordnung" eine wichtige Funktion zukomme: "Es kann als absolut sicher gelten, daß die kommunistischen Staaten sich zur Rechtfertigung ihrer Politik der Beeinflussung und Lenkung der öffentlichen Meinung auf eben diesen Vorbehalt berufen werden mit dem Argument, Meinungsfreiheit dürfte stets nur im Einklang mit der herrschenden Staatsordnung ausgeübt werden, und Meinungen, die am sozialistischen Prinzip zweifelten, verstießen daher ipso iure gegen die öffentliche Ordnung." Nicht nur im Widerspruch zur eigenen Verfassung, sondern auch zum Artikel 12 des Bürgerrechtspakts steht die gesetzgeberische Praxis der DDR, das Recht auf Freizügigkeit nicht nur einzuschränken, sondern es nahezu zu eliminieren. Die Regelungen über den Schußwaffengebrauch an der innerdeutschen Grenze durch die Grenztruppen der "Nationalen Volksarmee" widerspricht bereits der ersten Voraussetzung des Vorbehalts in Artikel 12 des Bürgerrechtspakts insoweit, als eine solche Einschränkung der Ausreisefreiheit gesetzlich vorgesehen sein muß, was in der Praxis der DDR nicht der Fall ist. Vgl. dazu mit weiteren Nachweisen J. Hacker: Die Menschenrechte im geteilten Deutschland, in: Die politische Meinung 1977, H. 172, S. 45 - 61 (57 - 60); ders.: Selbstbestimmung, Freizügigkeit und Meinungsfreiheit nach dem Inkrafttreten der UN-Menschenrechtspakte, in: Vereinte Nationen 1976, S. 77 -82; F.-Ch. Zeitler, ebenda, S. 201- 203.
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dem die These vorgetragen, daß die Menschenrechte, wie alles Recht, Klasseninteressen widerspiegelten und verwirklichten; sie seien daher kein zeitlos gültiger Grundwert42 . Die Versuche der Staaten des Ostblocks, den beiden UN-Menschenrechtspakten die eigene Menschenrechts-Doktrin zu unterstellen, sind untauglich und werden auch von vielen Bürgern nicht akzeptiert. Die "Charta 77", das Manifest der tschechoslowakischen Bürgerrechtsbewegung, legt dafür eindringlich Zeugnis ab 43• Aus diesem von namhaften Prager Intellektuellen unterzeichneten Dokument geht klar hervor, daß das Menschenrechts-Verständnis, auf dem sowohl der Bürgerrechtspakt als auch der Sozialpakt der UN basieren, einer unterschiedlichen Auslegung nicht fähig sind. V. Die Menschen- und Grundrechte in der KSZE-Schlußakte
Auszugehen ist zunächst davon, daß der rechtliche Rang der KSZESchlußakte und der bei den UN-Menschenrechtspakte unterschiedlich ausgestaltet ist. Die KSZE-Schlußakte ist "weder ganz noch teilweise ein völkerrechtliches Abkommen"44; dies geht eindeutig aus der Ziffer 4 ihrer Schlußbestimmungen hervor 45 : "So notwendig von den meisten Teilnehmerstaaten die Klarstellung empfunden wurde, daß es sich bei der Schlußakte nicht um ein völkerrechtliches Abkommen handele, so wenig war das Insistieren auf dieser Klarstellung durch das Bestreben motiviert, den hohen politischen Rang dieses Dokuments und der in ihm niedergelegten politischen Verhaltensregeln und Absichten in Frage zu stellen. "46 42 Vgl. dazu beispielsweise B. Graefrath, a.a.O. (Anm. 31, 32); H. Klenner, a.a.O. (Anm. 30). Vgl. zur sowjetischen Menschenrechts-Doktrin den Beitrag von Georg Brunner in diesem Band. ,43 Deutscher Text der "Charta 77" in: Neue Zürcher Zeitung vom 23.124. Januar 1977 und Listy-Blätter - Zeitschrift der tschechoslowakischen sozialistischen Opposition, Februar 1977, H. 12, S. 1 f. Die Autoren der "Charta 77" prüfen anhand der in den beide UN-Pakten verankerten Menschenrechte die menschenrechtliche Wirklichkeit in der Tschechoslowakei: ein für die politische Führung in Prag verheerendes Dokument. 44 So K. Blech: Die KSZE als Schritt im Entspannungsprozeß Bemerkungen zu allgemeinen Aspekten der Konferenz, in: Europa-Archiv 1975, S. 681 - 692 (686). 45 Darin wird festgestellt, daß die KSZE-Schlußakte nicht nach Artikel 102 der UN-Charta registrierbar ist. Wird die Nichtregistrierbarkeit eines internationalen Dokuments, d. h. die Unzulässigkeit seiner Registrierung, gemeinsam festgestellt, so bedeutet dies die Übereinstimmung darüber, "daß das Dokument eben keinen Vertrag und keine sonstige internationale Übereinkunft darstellt" (so K. Blech, ebenda, S. 686 f.). 48 So K. Blech, ebenda, S. 687. Eine sehr instruktive und kritische Darstellung über den Verlauf der KSZE gibt Harold S. Russel: The Helsinki Declaration: Brobdingnag or Lilliput?, in: American Journal of International Law
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Was die inhaltliche Seite der KSZE-Schlußakte angeht, so wird im Prinzip X des "Korbes I" deutlich zwischen den" völkerrechtlichen Verpflichtungen . nach Treu und Glauben" und jenen Bestimmungen der Schlußakte differenziert, die die Teilnehmerstaaten "gebührend berücksichtigen und durchführen". Eine Prüfung der menschenrechtlichen Substanz der KSZE-Schlußakte hat vom Prinzip VII des "Korbes I" auszugehen: Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten, einschließlich der Gedanken-, Gewissens-, Religions- oder überzeugungsfreiheit. In diesem Prinzip, das jede vernünftige Gliederung und einleuchtende Subsumtion vermissen läßt, wird nicht nur auf die Ziele und Grundsätze der Satzung der Vereinten Nationen und die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 1948, sondern auch auf die beiden UNMenschenrechtspakte verwiesen. Unklar ist zunächst, warum sich die überschrift zu diesem Prinzip nicht auf die Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten beschränkt hat. Liest man die weiteren Darlegungen, dann kann man die Autoren der "Charta 77" verstehen, daß sie sich vornehmlich auf die beiden UN-Menschenrechtspakte und nur in ganz wenigen Punkten auf die KSZE-Schlußakte berufen haben. Prinzip VII des "Korbes I" der KSZE-Schlußakte bestimmt zunächst, daß die Signatare die Menschenrechte und Grundfreiheiten, einschließlich der Gedanken-, Gewissens-, Religions- oder überzeugungsfreiheit für alle ohne Unterschied der Rasse, des Geschlechts, der Sprache oder Religion achten werden. Daran schließt sich die Feststellung an, daß sie die wirksame Ausübung der zivilen, politischen, wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen sowie der anderen Rechte und Freiheiten, die sich alle aus der dem Menschen innewohnenden Würde ergeben und für seine freie und volle Entfaltung wesentlich sind, fördern und ermutigen werden. Im folgenden Absatz wird die Religions- und überzeugungsfreiheit spezifiziert. Seltsam mutet an, daß sich die Unterzeichnerstaaten der KSZE-Schlußakte einerseits verpflichtet haben, die Menschenrechte und Grundfreiheiten zu achten; andererseits haben sie nur die Absicht ausgesprochen, die wirksame Ausübung der Rechte und Grundfreiheiten der Menschen zu fördern und zu ermutigen. Es ist gut zu wissen, daß gerade die Staaten, die einer der Natur des Menschen widersprechenden MenschenrechtsDoktrin folgen, Signatare des UN-Bürgerrechtspakts sind. Menschenrechtliche Fragen werden auch und gerade in "Korb 111" der KSZE-Schlußakte, der die überschrift "Zusammenarbeit in humanitären 1976, S. 242 - 272. Russel, Rechtsberater für europäische Angelegenheiten im amerikanischen Außenministerium, war der Chefunterhändler der amerikanischen Delegation auf der KSZE in Helsinki.
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und anderen Bereichen" trägt, angesprochen. Der "Korb III" behandelt vier Bereiche: menschliche Kontakte, Information, Zusammenarbeit und Austausch im Bereich der Kultur sowie im Bereich der Bildung. Obwohl sich die detailliert gestalteten Aussagen durchweg in der Sphäre vage formulierter Absichtserklärungen bewegen, haben sie in der Zwischenzeit eine außerordentliche Dynamik und Brisanz entwickelt, mit der weder im Westen noch im Osten gerechnet worden war. Die westlichen Staaten waren daher auf der KSZE gut beraten, wenigstens diese menschenrechtlichen Zugeständnisse den kommunistischen Ländern abgerungen zu haben, auch wenn die Ergebnisse zunächst als völlig unzureichend und zu unbestimmt erschienen. Positiv springt zunächst die "relativ konkrete Formulierung ins Auge, die an praktischen menschenrechtlichen Konfliktsituationen aussetzt. So werden auf dem Sektor der Ausreisefreiheit in den vier Teilbereichen ,familiäre Kontakte', Familienzusammenführung, Eheschließung über die Grenze, Reisen aus persönlichen oder beruflichen Gründen nähere Aussagen gemacht"47. Aus diesen positiven Formulierungen läßt sich - wie Franz-Christoph Zeitler zutreffend bemerkt - "trotz ihrer bürokratischen Sprache spiegelbildlich ablesen, in welcher Unfreiheit die Menschen in Osteuropa leben ... Bei der Lektüre von Formulierungen wie ,Gesuche auf Billigung der Ausreise zum Zwecke der Heirat', ,Gesuch auf Zusammenführung von Eltern und minderjährigen Kindern' und der Versicherung, daß ein solches Gesuch nicht mehr bestraft werden soll und im Billigungsfall die persönliche Habe mitgenommen werden darf (der Rest also wie selbstverständlich eingezogen wird), fühlt sich der Verfassungshistoriker in die Zeit des Absolutismus oder der Restauration zurückversetzt ... Der Eindruck verfestigt sich, wenn man liest, daß auch Gesuche um Heirat und Familienzusammenführung nur ,wohlwollend geprüft' bzw. ,in positivem und humanitärem Geist' behandelt werden sollen, also ein Rechtsanspruch des Bürgers oder nur eine präzise Destination tunlichst vermieden wird. Daß jegliche Spontaneität der obrigkeitsstaatlichen Zensur zum Opfer fällt, erhellt aus den wortreichen Wendungen im Abschnitt ,Information'. Der Westen konnte sich mit seiner Forderung auf Abschaffung der Störsender nicht durchsetzen; gefördert werden soll nur ,aufgezeichnete Information', der Austausch ,bespielten audio-visuellen Materials', der Austausch bestimmter Radiound Fernsehprogramme. Dementsprechend ist auch die ,Förderung des Tourismus auf individueller oder kollektiver Grundlage' von einer kaum zu überbietenden Blässe"48. Diese Beispiele ließen sich noch beliebig vermehren. 47
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So F.-Ch. Zeitler, a.a.O. (Anm. 14), S. 209. F.-Ch. Zeitler, ebenda, S. 209 f.; Hervorhebungen im Text.
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Daß die westlichen Staaten selbst um diese menschlichen Erleichterungen auf der KSZE ringen mußten, zeigt, wie sehr sich die Staaten des Ostblocks vor einer freieren Bewegung und verstärkten Kontakten auf den verschiedenen Ebenen fürchten. In seiner Eröffnungsrede in Helsinki meinte der damalige amerikanische Außenminister William Rogers am 5. Juli 1973, "Korb III" der KSZE-Schlußakte könnte zu "einer traurigen Fußnote in den künftigen Geschichtsbüchern werden"49, wenn nicht konkrete Wege zur Verwirklichung der in diesem Teil enthaltenen Konzeptionen gefunden würden. Daß diese pessimistische Prognose nicht eintreten möge - darin liegt die große Aufgabe der westlichen Staaten auf der KSZE-Folgekonferenz. "Etwas vom Wichtigsten, was die KSZEFolgekonferenz überhaupt bewirken kann, wird erreicht", wenn - wie die "Neue Zürcher Zeitung" bemerkt - "die Veranstaltung durch ihre Bestandsaufnahme des Erreichten und des Nichterreichten die Unterschiede in der demokratischen Legitimität der verschiedenen Teilnehmerregierungen deutlich macht und jenen Ermutigung gewährt, die gegen staatliche Unterdrückung an ein internationales Gewissen appellieren"5o.
Text in: Europa-Archiv 1973, S. D 464. So der Kommentar "Kommunismus und Menschenrechte in Osteuropa", a.a.O. (Anm. 38). Die Belgrader Konferenz in ein Tribunal zu verwandeln das wäre, wie Fritz Ullrich Fack in der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" vom 19. April 1977 zutreffend bemerkt, sicher untunlich: "Aber wichtige Positionen von Helsinki der Nachschau zu entziehen, hieße umgekehrt, die weitere Verschärfung der Repression im Ostblock geradezu zu ermutigen." 49
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DIE ÖSTLICHE MENSCHENRECHTSKONZEPTION Von Georg Brunner In den letzten Jahren hat die Frage der Menschenrechte in der Sowjetunion wie in anderen Ländern Osteuropas eine zweifelhafte Aktualität gewonnen. Sie ist teilweise von den Partei- und Staatsführungen der betreffenden Länder selbst ausgelöst worden, doch hat sie alsbald einen anderen Sinn erhalten als offiziell beabsichtigt. Die gewollte Aktualität entstammt dem internationalen Bereich und konzentriert sich auf drei Dokumente. Es handelt sich bei ihnen um die beiden Menschenrechtspakte der Vereinten Nationen vom 16. Dezember 1966, nämlich den Internationalen Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte und den Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte, die von der Sowjetunion und ihren Gefolgschaftsstaaten ratifiziert worden und am 3. Januar bzw. 23. März 1976 völkerrechtlich in Kraft getreten sind!; das dritte Dokument ist die Schlußakte der Helsinki-Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa vom 1. August 1975, die in ihrer Prinzipienerklärung den Menschenrechten große Bedeutung beimißt und namentlich in ihrem der "Zusammenarbeit in humanitären und anderen Bereichen" gewidmeten Teil ("Korb 3") einiges Interessante über die Menschenrechte zu sagen weiß. Mögen diese Dokumente in rein außenpropagandistischer Absicht unterzeichnet worden sein, so haben sie im Inneren des sowjetischen Hegemonialbereichs eine unerwünschte und unerwartete Eigendynamik entfaltet. Dies gilt vor allem für die Schlußakte von Helsinki, die - im Gegensatz zu den beiden Menschenrechtspakten, welche nur in den Amtsblättern publiziert worden sind in der Tagespresse veröffentlicht worden und somit breiten Bevölkerungskreisen bekannt geworden ist. In der Sowjetunion hat die Mitte der 60er Jahre aufgekommene und infolge der seit 1972 verschärft einsetzenden Verfolgungsmaßnahmen maßgeblich geschwächte Dissidentenbewegung durch diese Dokumente eine unverhoffte Argumentationshilfe und neuen Auftrieb erhalten. Hier wurde bereits im Mai 1969 von namhaften Wissenschaftlern eine "Initiativgruppe zum Schutze der Menschenrechte" (Iniciativnaja gruppa po zascite prav celoveka) gegründet, und im November 1970 riefen die Physiker A. D. Sacharov, A. N. Tver!
UN Monthly Chronicle 1976, Nr. 1, S. 73.
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dochlebov und V. N. Calidze ein "Komitee für Menschenrechte" (Komitet prav celoveka v SSSR) ins leben. Ihnen sind verschiedene Menschenrechtsgruppen gefolgt, die die Menschenrechtsverletzungen in der Sowjetunion nunmehr auch unter Hinweis auf die gleichzeitige Verletzung völkerrechtlicher Verpflichtungen rügen. In den letzten Jahren hat die Menschenrechtsbewegung auch auf andere Länder Osteuropas, namentlich die Tschechoslowakei, Polen und die DDR, übergegriffen. Unter den von diesen Bewegungen hervorgebrachten Dokumenten hat die "Charta '77" ,die größte Berühmtheit erlangt, die im Januar 1977 anläßlich der Unterzeichnung der UN-Menschenrechtskonventionen durch die Tschechoslowakei von tschechoslowakischen Intellektuellen entworfen worden ist. Das Menschenrechtsverständnis, das sich in den Menschenrechtsbewegungen offenbart, bewegt sich in den traditionellen Bahnen liberaldemokratischen Gedankenguts und weicht in fundamentaler Weise von der offiziellen Menschenrechtskonzeption des "Systems" ab. Im folgenden sollen die Grundzüge dieser offiziellen Menschenrechtskonzeption dargestellt werden, und zwar in der Weise, daß ihre wichtigsten Aussagen in Gestalt von fünf Thesen vorangestellt und die neueren Entwicklungen und aktuellen Streitfragen im Rahmen ihrer Exegese behandelt werden 2 •
These Nr. 1: Es gibt keine angeborenen, unveräußerlichen Menschenrechte, sondern nur Grundrechte der Bürger, die staatliche Gewährungen darstellen. Die westliche Verfassungslehre unterscheidet zwischen Menschenrechten und Bürgerrechten. Unter Menschenrechten versteht sie die Grundrechte,die jedem Menschen kraft seines Menschseins von Geburt an zustehen, unveräußerlich, vorstaatlichen Ursprungs und deshalb von jedem Staat zu achten sind. Träger der Bürgerrechte ist demgegenüber nur der Staatsbürger, der diese Rechte durch die Verfassungsgesetzgebung seines Staates erhält. Folglich stehen die Bürgerrechte im Gegen! Aus dem westlichen Schrifttum zu den Grundrechten in den kommunistisch regierten Ländern sei insbesondere verwiesen auf: D.-G. Lavroff, Les libertes publiques en Union Sovietique, 2. Aufl., Paris 1963; G. Brunner, Die Grundrechte im Sowjetsystem, Köln 1963; ders., Zur Wirksamkeit der Grundrechte in Osteuropa, Der Staat 1970, S. 187 ff.; D. Müller-Römer, Die Grundrechte in Mitteldeutschland, Köln 1965; L. Roth, Staatsauffassung und Grundrechte in der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken, Diss. Köln 1965; J. N. Hazard, Die Bürgerrechte in der Sowjetunion, in: K. A. Bettermann - F. L. Neumann - H. C. Nipperdey (Hrsg.), Die Grundrechte, Bd. I/2, Berlin 1967, S. 971 ff.; K. Westen, Die Rolle der Grundrechte im Sowjetstaat, in: R. Maurach - B. Meissner (Hrsg.), 50 Jahre Sowjetstaat, Stuttgart 1969, S. 78 ff.; H.-J. Uibopuu, Die Menschenrechtspakte der Vereinten Nationen im Staatsrecht der UdSSR, Osteuropa-Recht 1975, S. 1 ff.; U. Arens, Die andere Freiheit, München 1976; H. Kaschkat, Die sozialistischen Grundrechte in der DDR, Diss. Würzburg 1976.
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satz zu den Menschenrechten zur Disposition der Staatsgewalt, wenn auch alle rechtsstaatlichen Verfassungen Vorkehrungen zu treffen pflegen, um die staatliche Disponibilität der Bürgerrechte in Schranken zu halten. In diesem Sinne gliedern sich etwa die Grundrechte des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland in Menschenrechte, die jedermann zustehen (z. B. Gleichheit, persönliche Unversehrtheit, Meinungsfreiheit), und Bürgerrechte, die nur Deutsche für sich. in Anspruch nehmen können (z. B. Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit, Freizügigkeit, Berufsfreiheit). Allerdings folgt aus Art. 1 GG, der die Würde des Menschen für unantastbar und die Menschenrechte für unverletzlich und unveräußerlich erklärt, daß auch den Bürgerrechten ein unverletzlicher Menschenrechtskern innewohnt. Zudem werden der Einschränkbarkeit von Bürgerrechten durch die Technik von abgestuften Verfassungs- und Gesetzesvorbehalten sowie den von der Verfassungsrechtsprechung entwickelten Grundsatz der VeI'lhältnismäßigkeit enge Grenzen gezogen. Schließlich richtet Art. 19 Abs. 2 GG eine absolute Wesensgehaltssperre auf. In den kommunistischen Verfassungen wird man nach einer entsprechenden Unterscheidung vergeblich suchen. Sie kennen nur Bürgerrechte. In früheren Zeiten - so z. B. in der Verfassung der RSFSR von 1918 und in der ungarischen Verfassung von 1949 - wurden die Grundrechte teilweise nicht einmal allen Staatsbürgern zugestanden, sondern auf "Werktätige" beschränkt. Diese Einschränkung der Grundrechtssubjektivität ist inzwischen generell in Wegfall gekommen, aber formelle Voraussetzungen der Grundrechtsinhaberschaft ist nach wie vor die Staatsangehörigkeit. Die einzige Ausnahme bildet die jugoslawische Verfassung von 1974, die in ihren Art. 153 ff. bewußt zwischen Menschen- und Bürgerrechten unterscheidet. Daß die kommunistischen Verfassungen - mit der Ausnahme Jugoslawiens - nur Bürgerrechte kennen, ist durchaus konsequent. Denn die kommunistische Grundrechtskonzeption steht nach wie vor auf dem Standpunkt, daß es keine angeborenen und unveräußerlichen Rechte gebe und jede Rechtsinhaberschaft letztlich auf staatlicher Gewährung beruhe. Die absolut herrschende Meinung begründet diese Auffassung mit dem Primat des 'Staates gegenüber dem Recht und dem Primat des objektiven gegenüber dem subjektiven Recht. Hiernach kann Recht nur vom Staat geschaffen werden und subjektive Rechte des Einzelnen müssen in einer objektiwn Rechtsnorm begründet sein. Mit dieser Grundeinstellung ist die Existenz von Menschenrechten schlechthin unvereinbar. Es war nur folgerichtig, daß der Ausdruck "Menschenrechte" im kommunistischen Schrifttum bis zur Mitte der 60er J a:hre praktisch nicht auftauchte; die offizielle Terminologie bediente sich nur der Ausdrücke "Grundrechte" und "Bürgerrechte". 7 KSZE
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Freilich entspricht diese Grundrechtskonzeption nicht dem internationalen Sprachgebrauch. Alle einschlägigen internationalen Dokumente die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte vom 10. 12. 1948, die Satzung der Vereinten Nationen vom 26. 6. 1945 (Art. 1 Ziff. 3, Art. 13 Abs. 1 lit. b, Art. 55 lit. c, Art. 56, Art. 62 Abs. 2, Art. 68, Art. 76 lit. c), die beiden UN-Menschenrechtskonventionen vom 16.12.1966, die KSZESchlußakte vom 1. 8. 1975 und sogar Art. 2 des deutsch-deutschen Grundlagenvertrages vom 21. 12. 1972 - sprechen ,ausdrücklich von "Menschenrechten", wobei die Formulierungen keinen Zweüel daran lassen, daß dabei angeborene, vorstaatliche, unveräußerliche und unverletzliche Menschenrechte im klassischen Sinne gemeint sind. Eine Unterzeichnung derartiger Dokumente wäre den kommunistischen Staaten durch ihre Systemideologie an sich verwehrt gewesen. Daß sie sich über die ideologischen Bedenken hinweggesetzt und die Todsünde der Häresie in Kauf genommen haben, hat ausschließlich politische und propagandistische Gründe. Wenn sich der kommunistische Sprachgebrauch seit Mitte der 60er Jahre vor allem dann, wenn es einen nichtkommunistischen Adressatenkreis anzusprechen gilt, in zunehmendem Maße des Ausdrucks "Menschenrechte" bedient, so handelt es sich lediglich um eine opportunistische Anpassung an internationale Gepflogenheiten, der die Hoffnung zugrunde liegt, eine neue und wirmsame Waffe in der psychologischen Kriegführung einsetzen zu können. Von einer Veränderung der grundsätzlichen ideologischen Positionen kann keine Rede sein. Die Hemmungslosigkeit, mit der die ideologischen Schranken überwunden und die "Menschenrechte" als Propagandawaffe gebraucht werden, weist von Land zu Land bemerkenswerte .A!bstufungen auf. Die geringsten Skrupel zeigt ohne Zweifel ·die DDR, wo die vorrangige Propagandafunktion der Grund- und Menschenrechte unverhohlen proklamiert wirds. In Ausführung der propagandistischen Direktiven werden im rechts wissenschaftlichen Schrifttum der DDR die Klassenforderungen des Proletariats kurzerhand zum Menschheitsanliegen und die Diktatur des Proletariats zur Verwirklichung der Menschenrechte erklärt4 und wird die völkerrechtliche Durchsetzung eines "Menschenrechts auf Freiheit von Ausbeutung" gefordert5 • Auf der anderen Seite macht sich im ungarischen Schrifttum angesichts des propagandistischen Mißbrauchs S Vgl. z. B. die jüngsten programmatischen Ausführungen bei: E. Poppe, Gedanken zum Stand der sozialistischen Grundrechtstheorie und -forschung in der DDR, Staat und Recht 1975, S. 1333 ff.; B. Graefrath, Internationale Zusammenarbeit der Staaten zur Förderung und Wahrung der Menschenrechte, Neue Justiz 1977, S. 1 ff. 4 H. Klenner, Menscherechte im Klassenkampf, Einheit 1977, S. 156 ff. (156). 5 E. Poppe - A. Zschiedriah, Freiheit von Ausbeutung sozialistisches Grundrecht und Menschenrecht, Staat und Recht 1977, S. 341 ff. (351 f.).
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der Menschenrechte ein gewisses Schamgefühl bemerkbar. Der führende ungarische Rechtstheoretiker Imre Szab6 bemüht sich immer wieder mit einem unverkennbaren Unterton des Bedauerns um die Zerstreuung der Illusion, als ob es angeborene, unveräußerliche Menschenrechte geben könnte 6• Im sowjetischen Schrifttum sind gelegentlich Äußerungen anzutreffen, die der Kategorie der Menschenrechte eine über die bloßen Bürgerrechte hinausweisende Substanz abzugewinnen trachten. I. E. Faber von dem Juristischen Institut in Saratow hat 1967 die Menschenrechte erstmals als soziale Möglichkeit gedeutet, die unabhängig von staatlicher Anerkennung existierten, und ihnen die Bürgerrechte als vom Staat gesetzlich anerkannte Rechte gegenübergestellt7. Obwohl er vorsichtig genug war, um ausdrücklich darauf hinzuweisen, daß die Menschenrechte eine soziologische und keine juristische Kategorie darstellten, haben seine Thesen nur wenig ZustimmungS, dafür aber um so mehr Kritik erfahren9 • Eine eindeutige Stellungnahme zugunsten der Menschenrechte als Rechtspositionen hat - soweit ersichtlich - nur der kürzlich verstorbene ukrainische Staats- und Rechtstheoretiker P. E. Nedbajlo bezogen10 • Er 'bezeichnete die Auffassung als fehlerhaft, nach der der Mensch nur deshalb Rechte besitze, weil sie ihm vom Staat zugesprochen worden seien, und meinte, daß man die Rechte nicht ausschließlich mit dem Begriff "Bürger" verbinden dürfe. Der Mensch als soziales Wesen habe Rechte im Verhältnis zum Staat. Der Marxismus schließe die Existenz unveräußerlicher Menschenrechte nicht aus, nur müsse ihnen eine materialistische Begründung gegeben werden. In diesen Gedanken schimmerte das alte Problem der Möglichkeit eines marxistischen Naturrechts auf, das die mit den Namen Stucka und Pasukanis verbundenen rechtstheoretischen Diskussionen der 20er Jahre beherrschtell. Die von Marx e I. Szab6, Az emberi jogok, Budapest 1968, S. 17 ff.; ders., Az emberi jogok napja, Jogtudomanyi Közlöny 1977, S. 61 ff. (61). 7 1. E. Farber, Prava celoveka, grazdanina i lica v socialisticeskom obscestve, Pravovedenie 1967, Nr. I, S. 39 ff. (42 f.); ders., Svoboda i prava celoveka v sovetskom gosudarstve, Saratow 1974, S. 37 f. 8 So vor allem bei V. A. Kucinskij, Lienost', svoboda, pravo, Minsk 1969,
S. 23 f.
g G. V. Mal'cev, Socialisticeskoe pravo i svoboda licnosti, Moskau 1968, S. 26 f.; N. 1. Matuzov, Lienost'. Prava. Demokratija, Saratow 1972, S. 86 f.; V. A. Patjulin, Gosudarstvo i lienost' v SSSR, Moskau 1974, S. 192 f. 10 P. E. Nedbajlo, Mezdunarodnaja zascita prav celoveka, Sovetskij Ezegodnik Mezdunarodnogo Prava 1968, S. 31 ff. (35 f.). Zuletzt laut Konferenzbericht von N. 1. Kozjubra - V. K. Zabigajlo, ObsuZdenie kursa marsistskoleninskoj obscej teorii gosudarstva i prava, Sovetskoe Gosudarstvo i Pravo 1973, Nr. 10, S. 133 f. (134). 11 Vgl. hierzu G. Brunner, Naturrecht und Sowjetideologie, Recht in Ost und West 1966, S. 229 ff. Siehe auch D. Pfaff, Die Entwicklung der sowjetischen Rechtslehre, Köln 1968, S. 47 ff., 69 ff., 89 ff.
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in dem vielzitierten Vorwort zur "Kritik der politischen Ökonomie"12 mehrdeutig skizzierten Basis-Überbau-Lehre enthält insofern einen Ansatz zu einem "unterpositiven Naturrecht der Materie", als das Postulat einer Übereinstimmung der positiven Rechtsordnung mit den Erfordernissen der materiellen gesellschaftlichen Entwicklung möglich erscheint. Von diesem Ausgangspunkt aus wäre die These denkbar, die Grundrechte wurzelten in der jeweiligen materiellen Basis der Gesellschaft und könnten vom Staat nicht geschaffen, sondern nur anerkannt werden, ja der Staat müsse diese Grundrechte gegen sich gelten lassen. Freilich konnte in der Sowjetunion diese ideologische Reserve aus politischen Gründen niemals ausgeschöpft werden, aber Ende der 50er Jahre sind im rechtswissenschaftlichen Schrifttum Stimmen zu vernehmen gewesen, in denen diese Möglichkeit vorsichtig angeklungen ist. Nach Stalins Tod haben sich einige Gelehrte bis zu der Aussage vorgewagt, daß eine objektiv gesellschaftswidrige Rechtsnorm möglicherweise unwirksam sein könnte13 . Diese Ansätze sind dann aber nicht zur Entfaltung gekommen, da eine Weiterführung dieser Gedankengänge unweigerlich an die Grenzen des politisch Zulässigen gestoßen wäre. Von gelegentlichen Andeutungen der genannten Art abgesehen hat die sowjetische Rechtslehre unverändert an ihrem überkommenen Standpunkt festgehalten, der die Existenz von unveräußerlichen Menschenrechten leugnet und die Grundrechte der Bürger letztlich der staatlichen Disponibilität überantwortet.
These Nr. 2: Die Grundrechte sind zwar subjektive Rechte, aber sie befinden sich auf der höchsten, nicht unmittelbar anspruchsbegTÜndenden Ebene des Rechtsverwirklichungsprozesses. Im wissenschaftlichen und ideologischen Schrifttum der Sowjetunion ist das Problem der Grundrechte nach der Totenstille des Stalinismus in der Chruscev-Ära eingehend diskutiert worden. Die Diskussion wurde zunächst in der zweiten Hälfte der 50er Jahre um die subjektiven Rechte schlechthin geführt und endete mit einer Rehabilitierung dieser zuvor als "bürgerlich" verteufelten Rechtskategorie14 • Speziell auf die Grundrechte wurde sie wohl erstmals im Jahre 1962 auf einer Konferenz des 12 K. Marx - F. Engels, Ausgewählte Schriften in zwei Bänden, Berlin-Ost 1953, Bd. I, S. 337 f. 18 S. F. Kecek'jan, Pravootnosenija v socialisticeskom obscestve, Moskau 1958, S. 22; A. A. Piontkovskij, K voprosu 0 vzaimootnosenii ob'ektivnogo i sub'ektivnogo prava, Sovetskoe Gosudarstvo i Pravo 1958, Nr. 5, S. 25 ff. (33); B. V. Sejndlin, Suscnost' sovetskogo prava, Leningrad 1959, S. 8 f., 24. Zu den Einzelheiten vgl. G. Brunner, Grundrechte im Sowjetsystem, Köln 1963, S. 57 ff. 14 Vgl. hierzu A. Bilinsky, Zur Problematik des subjektiven Rechts in der sowjetischen Rechtslehre, Jahrbuch für Ostrecht 1960, Bd. II2, S. 137 ff.; G. Brunner (Anm. 13), S. 54 ff.
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Juristischen Instituts in Saratow erstreckt, wo die Frage behandelt wurde, ob die Grundrechte subjektive Rechte seien15 • Das Hauptargument der Gegner, subjektive Rechte könnten nur innerhalb eines konkreten Rechtsverhältnisses entstehen, ist zwischenzeitlich durch verschiedene, teilweise sehr gekünstelte Konstruktionen überwunden worden, so daß heute die herrschende Lehre in der Sowjetunion die Ansicht vertritt, die Grundrechte seien subjektive Rechte 16 • Die sowjetische Grundrechtsdiskussion ist in den kommunistischen Ländern Osteuropas mit unterschiedlichen Nuancen nachvollzogen woroen. Die Geburtswehen der neuen Erkenntnis waren in der DDR am größten, aber bis Ende der 60er Jahre hat sich die Auffassung von der subjektiven Rechtsnatur der Grundrechte auch hier überwiegend durchgesetzt17• Die Anerkennung der subjektiven Rechtsqualität der Grundrechte ist sicherlich ein bemerkenswerter theoretischer Ansatz, aber für sich genommen auch nicht mehr als das. Wesentlich interessanter sind die konkreten Schlußfolgerungen, die aus dieser These abgeleitet werden. Vor allem zwei Fragen verdienen besondere Aufmerksamkeit: Entsprechen den Grundrechten Erfüllungspflichten des Staates oder seiner Organe? Bejahendenfalls: Kann der Bürger konkrete Ansprüche gegen den Staat geltend machen? Zwar werden diese Fragen im Schrifttum der kommunistisch regierten Länder relativ selten angesprochen, doch scheint ihre Beantwortung nach dem vorliegenden Material möglich zu sein. Die erste Frage wird heute überwiegend in dem Sinne positiv beantwortet, daß den Grundrechten Pflichten des Staates und/oder seiner Organe entsprächen18 • Zwischen Staat (Staatsorgan) und Bürger bestünde 15 Das einschlägige Referat hielt N. I. Matuzov, K voprosu 0 ponjatii sub'ektivnych prav grazdan, in: Razvitie prav grazdan SSSR i usilenie ich ochrany na sovremennom etape kommunistil!eskogo stroitel'stva, Saratow 1962, S. 102 ff. lS Eine ausführliche Darstellung der Argumente ist zu finden bei L. D. Voevodin, Konstitucionnye prava i objazannosti sovetskich grazdan, Moskau 1972, S. 91 ff. 17 H. Klenner, Studien über die Grundrechte, Berlin-Ost 1964, S. 69 ff.; W. Büchner-Uhder, E. Poppe und R. Schüsseler in: Demokratie und Grundrechte, Berlin-Ost 1967, S. 40; E. Poppe, Der Verfassungsentwurf und die Grundrechte und Grundpflichten der Bürger, Staat und Recht 1968, S. 532 ff. (538). Unrichtig daher D. Müller-Römer, Die Grundrechte im neuen mitteldeutschen Verfassungsrecht, Der Staat 1968, S. 307 ff. (312), die subjektive Rechtsqualität der Grundrechte würde schlechthin geleugnet. 18 So etwa aus dem neueren sowjetischen Schrifttum: V. A. Patjulin, Interesy gosudarstva i graZdan pri socializme, Sovetskoe Gosudarstvo i Pravo 1972, Nr. 5, S. 20 ff. (24, 27); ders. (Anm. 9), S. 125 ff.; L. D. Voevodin (Anm. 16), S. 102, 111; Redaktionsartikel: Sovetskaja socialistil!eskaja demokratija i lil!nost', Sovetskoe Gosudarstvo i Pravo 1974, Nr. 6, S. 3 ff. (6); G. V. Mal'cev, Social'naja spravedlivost' i prava l!eloveka v socialistil!eskom obsl!estve, Sovetskoe Gosudarstvo i Pravo 1974, Nr. 11, S. 10 ff. (11, 18); B. V. Sl!etinin, GraZdanin i socialistil!eskoe gosudarstvo, Sovetskoe Gosudarstvo i Pravo 1975, Nr. 2,
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ein Rechtsverhältnis mit korrespondierenden Rechten und Pflichten. Allein in der DDR wird diese Auffassung nicht geteilt. Hier wird die Staats gerichtetheit der Grundrechte strikt abgelehnt, die Grundrechte werden ,ausschließlich als ein Mittel sozialer Integration des Einzelnen in das Kollektiv begriffen19 • Aus der positiven Antwort auf die erste Frage folgt keineswegs eine Bejahung der zweiten. Im Gegenteil. Im Schrifttum besteht Einmütigkeit darüber, daß die Grundrechte dem Bürger keinen materiell-rechtlichen Anspruch auf ein konkretes Handeln oder Unterlassen des Staates vermitteln. Bei einer genaueren Untersuchung der subjektiven Rechtsnatur der Grundrechte stellt sich alsbald heraus, daß die Grundrechte als eine besondere oder 'atypische Art der subjektiven Rechte betrachtet werden20 • Die Konstruktionen sind im einzelnen unterschiedlich, doch ist ihnen allen gemeinsam, daß sie die Grundrechte als eine Zwischenstufe im Prozeß der Rechtsverwirklichung ansehen. Die Grundrechte wel'den durch die Verfassung geschaffen, entstehen also auf der obersten Ebene der Normenhierarchie. Aus diesem Umstand wird gefolgert, daß sie erst einer sondergesetzlichen Konkretisierung bedürften, damit aus ihnen konkrete Ansprüche hergeleitet ~rden könnten. Indem die Grundrechte auf einer hohen Abstraktionsebene angesiedelt werden und ihr Verhältnis zu den einfachgesetzlich gewährten Einzelberechtigungen als eine Beziehung Allgemeines - Besonderes gedeutet wird, bewirken die Lehren vom "allgemeinen Rechtsverhältnis" und die verschiedenen Spielarten der Stufentheorie eine Entfernung der Grundrechte von den subjektiven Berechtigungen und ihre rechtsdogmatische Umformung zu allgemeinen Rechtsgrundsätzen. Da die Grundrechte keine materiellrechtlichen Ansprüche gewähren, können sie nur als Auslegungsrichtlinie für die Rechtsanwendung Bedeutung erlangen. Auf diese Weise bleibt das Bekenntnis zur subjektiven Rechtsqualität der Grundrechte letztlich nur ein Lippenbekenntnis, das zwar von einem im Vergleich zum Stalinismus veränderten politischen Gesamtklima Zeugnis ablegt, aber ohne praktisch-juristische Relevanz für den Bürger ist. S. 3 ff. (8); 1. E. Farber, Svoboda i prava celoveka v sovetskom gosudarstve, Saratow 1974, S. 91; Redaktionsartikel: Aktual'nye problemy nauki sovetskogo gosudarstvennogo prava, Sovetskoe Gosudarstvo i Pravo 1976, Nr. 7, S. 3 ff. (8). 19 G. Haney, Das Recht der Bürger und die Entfaltung der sozialistischen Persönlichkeit, Staat und Recht 1962, S. 1063 ff. (1069); H. Klenner (Anm. 17), S. 89; E. Poppe (Anm. 17), S. 534. 20 L. D. Voevodin, Teoreticeskie voprosy pravovogo polozenija licnosti v sovetskom obscenarodnom gosudarstve, Sovetskoe Gosudarstvo i Pravo 1963, Nr. 2, S. 12 ff. (14 ff.); 1. Szab6 in: Az allampolgärok jogai es kötelessegei, Budapest 1965, S. 77 ff.; N. I. Matuzov, Sub'ektivnye prava grazdan SSSR, Saratow 1966, S. 66 ff. Zum neueren Meinungsstand vgl. die beachtlichen Ausführungen von L. D. Voevodin (Anm. 16), S. 87 ff.
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These Nr. 3: Grundrechte und Grundpfiichten bilden eine untrennbare Einheit. Die routinemäßig immer wieder wiederholte These von der dialektischen Einheit von Rechten und Pflichten ist einer zweifachen Auslegung zugänglich. Nach der konventionellen Auslegung stellen die Grundrechte zugleich Grundpflichten dar, d. h. der Bürger ist sowohl Rechts- wie Pflichtensubjekt. Zur Illustration dieser Aussage wird meistens das klassische Beispiel angeführt, daß dem Recht auf Arbeit auch eine Pflicht zur Arbeit entspreche oder - Wtie sich die noch geltende sowjetische Verfassung von 1936 in Art. 12 Albs. 1 ausdrückt - "Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen!" In diesem Sinne bestimmt etwa § 54 Abs. 2 der am 19. April 1972 revidierten ungarischen Verfassung von 1949: "Die Ausübung der Rechte ist mit der Erfüllung der staatsbürgerlichen Pflichten untrennbar verbunden." Problematisch ist allerdings die Reichweite dieses Satzes. Es fragt sich, ob die Grundrechte nur dann Grundpflichten darstellen, wenn die Verfassung dies ausdrücklich normiert, oder ob es sich um einen allgemeinen Rechtsgrundsatz handelt, der ohne Rücksicht auf den Pflichtenkatalog der Verfassung Platz greift. Die Vernunft spricht für die erstgenannte, restriktive Auffassung, da es zumindest bei einigen Grundrechten offensichtlich widersinnig wäre, sie zugleich als Pflichten begreifen zu wollen. Dies gilt namentlich für die verschiedenen Unverletzlichkeitsrechte. In welchem Sinne sollen etwa die Unverletzlichkeit der Person, der Wohnung oder das Briefgeheimnis eine Pflicht darstellen? Aus diesem Grunde ist es als ein Zeichen der Vernunft zu werten, daß im kommunistischen Schrifttum die konventionelle Interpretation der Einheitsthese ganz überwiegend restriktiv vorgetragen Wtird. Die Denaturierung der Grundrechte durch Umdeutung von Betätigungsmöglichkeiten in Betätigungszwänge wird nur insoweit befürwortet, als dies auf eine ausdrückliche verfassungsrechtliche Regelung zurückgeführt werden kann. Eine Ausnahme bildet wiederum nur die DDR. Hier wird für den Pilichtencharakter der Grundrechte allgemeine Geltung beansprucht. Der offizielle Kommentar zur DDR-Verfassung von 1968 formuliert dies folgendermaßen: "Aus den umfassenden Rechten, die die sozialistische Verfassung dem Bürger gewährleistet, erwächst ihm die Verpflichtung, von diesen Rechten aktiv Gebrauch zu machen, um zur Stärkung der sozialistischen Staatsmacht, zur Mehrung des gesellschaftlichen Reichtums, zur Höherentwicklung der Gesellschaft beizutragen. Die sozialistischen Grundrechte schließen die Verpflichtung zu ihrer aktiven Ausübung ein, weil das allein ihre Realität und ihre Entfaltung verbürgt21 ." It K. Sorgenicht - W. Weichelt - T. Riemann - H.-J. Semler (Hrsg.), Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik, 2 Bd., Berlin-Ost 1969, Bd. II, S.13.
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In bezug auf das in Art. 27 der DDR-Verfassung gewährleistete Grundrecht der Meinungsäußerungsfreiheit wird die allgemeine Einheitsthese, wie folgt, konkretisiert: "Für antisozialistische Hetze und Propaganda, im besonderen für die vom imperialistischen Gegner betriebene ideologische Diversion, kann es in der sozialistischen Gesellschaft keine Freiheit geben, sind diese doch gegen die Freiheit gerichtet, die sich die Werktätigen im Sozialismus errungen haben. Angesichts der verstärkten Versuche der imperialistischen Kräfte, durch ideologische ,Aufweichung' die sozialistische Ordnung zu untergraben, ist es verfassungsmäßige Pflicht, allen solchen Versuchen entschieden entgegenzutreten. Das gilt für die Verbreitung antisozialistischer Ideologie, die angeblich im Namen der ,Freiheit', ,Demokratie' oder ,Menschlichkeit' betrieben wird 22 ." Neben der konventionellen Interpretation hat sich im sowjetischen Schrifttum der 70er Jahre eine moderne Deutung der Einheitsthese angebahnt. Sie ist mit besonderem Nachdruck von V. A. Patjulin, einem wissenschaftlichen Mitarbeiter am Institut für Staat und Recht an der Akademie der Wissenschaften der UdSSR, entwickelt worden23 • Er vertritt die Auffassung, daß Rechte und Pflichten in dem Sinne eine untrennbare Einheit bildeten, daß jedem Grundrecht des Bürgers eine Pflicht des Staates entspreche. Dem Grundrechtsberechtigten müsse also in Gestalt des Staates ein Grundrechtsverpflichteter gegenüberstehen. Bezugspunkt der Einheitsthese ist bei dieser Deutung also nicht der Bürger, sondern das zwischen Bürger und Staat bestehende allgemeine Rechtsverhältnis. Dies ist freilich etwas völlig anderes als die von der konventionellen Interpretation beabsichtigte Einengung der staatsbürgerlichen Betätigungsmöglichkeiten. Die moderne Deutung zielt auf eine theoretische Stärkung der Rechtsstellung des Bürgers gegenüber der Staatsgewalt ab. Es ist deshalb nicht weiter verwunderlich, daß die neue Lehr:e Patjulins sofort auf Kritik gestoßen ist24 • Allerdings hat sie auch zunehmend Anhänger gefunden25 • Der Streit ist noch nicht ausgetragen, aber man kann sagen, daß gegenwärtig im sowjetischen Schrifttum die konventionelle und die moderne Version der Einheitsthese einander die Waage halten.
a.a.O., Bd. H, S. 107. V. A. Patjulin (Anm. 18), S. 26 ff.; ders. (Anm. 9), S. 111 ff. 24 So in der Rezension des in Anm. 9 genannten Buches von N. I. Matuzov, I. E. Farber und V. V. Borisov, in: Sovetskoe Gosudarstvo i Pravo 1974, Nr. 10, 22
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S.145.
26 B. V. Scetinin (Anm. 18), S. 8. N. I. Matuzov, der in seiner 1966 erschienenen Monographie über die subjektiven Rechte (Anm. 20, S. 117 ff.) noch uneingeschränkt den konventionellen Standpunkt einnahm, setzt sich nunmehr für eine doppelte Bedeutung der Einheitsthese ein (Anm. 9, S. 179).
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These Nr. 4: Die gesellschaftlichen Interessen bilden die immanente Schranke aller Grundrechte. Dieser These liegt die ideologisch-rechtsphilosophische Fragestellung nach dem gegenseitigen Verhältnis gesellschaftlicher und persönlicher Interessen zugrunde. In der Stalin-Ära wurde der Problemcharakter dieser Fragestellung mit dem Identitätsdogma schlechthin geleugnet: im Sozialismus seien die gesellschaftlichen und persönlichen Interessen identisch, folglich könnten auch keine Konflikte auftreten. Das absolute Identitätsdogma ist seither durch ein Harmoniedenken abgelöst worden. Man steht heute allgemein auf dem Standpunkt, daß unter den Bedingungen des Sozialismus nur eine grundsätzliche Harmonie der persönlichen und gesellschaftlichen Interessen vorherrsche, die Konflikte im Einzelfall nicht ausschließe!tI. Die Gründe für mögliche Konflikte seien teils subjektiver, teils objektiver Natur. In subjektiver Hinsicht wird auf kapitalistische überbleibsel im Bewußtsein der Menschen und überhaupt auf einen noch unzureichend entwickelten individuellen Bewußtseinsstand hingewdesen. An objektiven Ursachen werden ·die nichtantagonistischen Widersprüche im Sozialismus genannt, so namentlich die Geltung des Leistungsprinzips, das noch nicht die Befriedigung aller menschlichen Bedürfnisse gestatte. Gelegentlich wird auch die Verletzung von Führungsgrundsätzen des sozialistischen Aufbaus für möglich gehalten. Wie dem auch sei, es wird als eine dauernde Aufgabe des Staates angesehen, auf eine Herstellung der Interessenübereinstimmung auch im Rahmen der Grundrechte hinzuwirken. Sollten aber alle staatlichen Bemühungen nichts fruchten, so wird kein Zweifel daran gelassen, in welcher Richtung die Konfliktlösung zu erfolgen hat: die gesellschaftlichen Interessen haben uneingeschränkten Vorrang, zumal dies auch den "wohlverstandenen" persönlichen Interessen entspreche!7. Nach dem kollektivistischen Menschenbild der Sowjetideologie ist diese Antwort unausweichlich. Den philosophischen Bemühungen der 60er Jahre, der Personalität des Menschen eine begrenzte Eigenständigkeit gegenüber dem Kollektiv zu sichern, wie sie von V. P. Tugarinov28 in der Sowjetunion, Adam Schaff29 1I Vgl. hierzu grundsätzlich L. D. Voevodin (Anm. 16), S. 123 ff.; V. A. Patjulin (Anm. 9), S. 96 ff. 27 N. 1. Matuzov (Anm. 9), S. 84 f.; L. D. Voevodin (Anm. 16), S. 128 ff. (insb. S. 133); Redaktionsartikel: Sovetskaja socialisticeskaja demokratija i lienost', Sovetskoe Gosudarstvo i Pravo 1974, Nr. 6, S. 3 ff. (10); B. V. Scetinin (Anm. 18), S. 6. !8 V. P. Tugarinov, 0 cennostjach zizni i kul'tury, Leningrad 1960; ders., o smysle zizni, Leningrad 1961; ders., Lienost' i obscestvo, Moskau 1965; ders., Kommunizm i lienost', Leningrad 1966; ders., Teorija cennostej v marksizme, Leningrad 1968. !I A. Schaff, Filozofia czlowieka Marksizm a egzystencjalizm, Warschau 1961; ders., Marksizm a jednostka ludzka, Warschau 1965.
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und Leszek Kolakowski 30 in Polen oder Karel Kosik 31 inder Tschechoslowakei unternommen wurden, ist auf die Dauer kein Erfolg beschieden gewesen. Auch in der Rechtswissenschaft ist von "relativ autonomen Räumen elementarer Integrität", in die der Staat nur bei "antigesellschaftlichen Exzessen" eingreifen dürfe 32 , heute keine Rede mehr. Auf diese Weise erweisen sich die gesellschaftlichen Interessen als die immanente Schranke aller Grundrechtsausübung. Diese verfassungstheoretische GrundeinsteIlung kommt in den einzelnen kommunistischen Verfassungen in unterschiedlicher Weise zum Ausdruck. Als genereller Verfassungsvorbehalt aller Grundrechte tauchen die gesellschaftlichen Interessen im engeren sowjetischen Hegemonialbereich nur in der bulgarischen Verfassung von 1971 (Art. 9 Abs. 2) und in der 1972 neugefaßten ungarischen Verfassung von 1949 (§ 54 Abs. 2) auf. Außerhalb der "sozialistischen Staatengemeinschaft" trifft man ·auf einen generellen Verfassungvorbehalt der genannten Art weit häufiger 33 , wobei insbesondere Art. 61 der kubanischen Verfassung von 1976 bemerkenswert ist, wonach eine Ausübung der Freiheitsrechte im Gegensatz zu der Existenz und den Zielen des sozialistischen Staates und zur Grundentscheidung des Volkes, den Sozialismus und Kommunismus -aufzubauen, nicht nur unzulässig, sondern auch strafbar ist. In den meisten Verfassungen wird allerdings der Verfassungsvorbehalt der gesellschaftlichen Interessen nur in bezug auf einzelne Grundrechte, vor allem die politischen Freiheitsrechte ausgesprochen. Aber auch im Schrifttum dieser Länder wird allgemein anerkannt, daß es sich bei den gesellschaftlichen Interessen um eine (ungeschriebene) Grundrechtsschranke genereller Art handelt. So wird etwa in der sowjetischen Verfassung von 1936 nur die Vereinigungsfreiheit unter den Vorbehalt einer übexeinstimmung mit den Interessen der Werktätigen gestellt, aber der einschlägige Art. 126 wird insofern zu einer allgemeinen, -auf alle Grundrechte anwendbaren Norm erklärt34 • Ist davon auszugehen, daß die gesellschaftlichen Interessen die immanente Schranke aller Grundrechte darstellen, so ist damit noch nicht geklärt, wer diese gesellschaftlichen Interessen erkennt und verbindlich feststellt. Die Antwort auf diese Frage ergibt sich aus der These von der "führenden Rolle der Partei", die in allen neueren Verfassungen nun30 L. Kolakowski, Swiadomosc religijna i wi~z koscielna, Warschau 1965; ders., Kultura i fetysze, Warschau 1967. . 31 K. Kosik, Dialektika konkretniho, 3. Auf!., Prag 1965, insb. S. 149 ff. 3! P. Peska, K ustavni problematice politickych prav, zejmena prava spolcovaciho, Pravnik 1967, S. 585 ff. (585 f.). 33 Art. 38 der (nord)vietnamesischen Verf. von 1959; Art. 49 der nordkoreanischen Verf. von 1972; Art. 39 Abs. 1 der albanischen Verf. von 1976. 34 L. D. Voevodin (Anm. 16), S. 125 f.
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mehr in einem der einleitenden Artikel verankert wordenist35 • Die kommunistischen Parteien verstehen sich als die Avantgarde der fortschrittlichsten und bewußtesten Elemente der Arbeiterklasse und des ganzen Volkes und nehmen für sich auf der Grundlage ihres Bewußtseinsvorsprungs das uneingeschränkte Erkenntnis- und Führungsmonopol in Anspruch. Im Klartext heißt dies, daß die Grundrechte nur insofern gelten, als dies der Partei zweckmäßig erscheint. Die Partei ist der autoritative Interpret der jeweiligen Grundrechtsinhalte. An diesem Punkte münden alle grundrechtsfreundlichen überlegungen der Rechtswissenschaftler zwangsläufig in eine Sackgasse. Vor der unangreifbaren Macht der Partei, die Grundrechte nach Belieben bis zum Nullpunkt einschränken zu können, müssen alle rechtstheoretischen Konstruktionen kapitulieren. Die somit erzielte materielle Entwertung der Grundrechte gilt für die kommunistische Rechtslehre ganz allgemein. In der DDR geht man aber noch weiter. Man begnügt sich nicht mit der Entwertung der Grundrechte, sondern man ist darüber hinaus bestrebt, die Grundrechte in ein offensives Instrument der Indoktrination umzufunktionieren, mit dessen Hilfe die soziale Integration befördert wird. Als Ziel der Grundrechte wird die "Vergesellschaftung des Menschen" angegeben36 ; die Grundrechte seien "Leitungsinstrumente der Arbeiterklasse zur Realisierung ihrer historischen Mission "37. Der Sachzusammenhang, in dem die Grundrechte eine praktische Bedeutung entfalten, ist folglich die Agitation und Propaganda.
These Nr. 5: Es gibt verschiedene Grundrechtsgarantien, von denen die juristischen Garantien die geringste Rolle zu spielen haben. Was die Verwirklichung und Durchsetzung der Grundrechte angeht, so pflegt die kommunistische Grundrechtsdoktrin zwischen ideologischen, politischen, ökonomischen und juristischen Garantien zu unterscheiden. Hierbei versteht man unter ideologischen Garantien die Verbindlichkeit des Marxismus-Leninismus sowjetischer Prägung, unter politischen Garantien die kommunistische Einparteiherrschaft und unter ökonomischen Garantien die zentrale Planwirtschaft auf der Basis des gesellschaftlich-staatlichen Eigentums. Mit anderen Worten: das bestehende 35 Vgl. G. Brunner, Neuere Tendenzen in der verfassungsrechtlichen Entwicklung osteuropäischer staaten, Jahrbuch des öffentlichen Rechts 1974 (NF Bd. 23), S. 209 ff. (217). 38 G. Baranowski, Der Schutz der Rechte der Bürger und die Formung der sozialistischen Persönlichkeit, Diss. Jena 1965, S. 93, 185. 37 A. Zschiedrich, Zum objektiv begründeten Interesse der Arbeiterklasse an der Realisierung der sozialistischen Grundrechte, Staat und Recht 1975, S. 1466 ff. (1468).
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Herrschaftssystem bürgt für die Realität der Grundrechte. Den juristischen Garantien des Rechtsschutzes wird daneben nur eine ergänzende Bedeutung zugemessen. Insbesondere wird die sogenannte "prozessuale Betrachtungsweise", die die subjektiven Rechte am Maßstab ihrer gerichtlichen Durchsetzbarkeit mißt, als "bürgerlich" abgelehnt. Allerdings fordert das rechtswissenschaftliche Schrifttum der meisten Länder eine Ausnahme bildet wiederum die DDR - seit geraumer Zeit einen verstärkten Ausbau der juristischen Grundrechtsgarantien. Im einzelnen stellt sich die Rechtslage von Land zu Land recht unterschiedlich dar. Einen spezifischen Grundrechtsschutz gibt es nirgends. Ja, in den 70er Jahren sind sogar die 'bescheidenen Ansätze zu ihm, die in den 60er Jahren vereinzelt zu beobachten waren, vollends abgestorben. In der jugoslawischen Verfassung von 1963 war die Möglichkeit einer Verfassungsbeschwerde im Rahmen der Vedassungsgerichtsbarkeit zwar vorgesehen, aber in der Praxis war sie infolge einer permanenten Übergangsregelung ausgeschlossen38 • über Grundrechtsverletzungen wurde im Verwaltungsprozeß entschieden. In der neuen Verfassung von 1974 ist die Möglichkeit eines verfassungsgerichtlichen Grundrechtsschutzes nicht mehr enthalten. Über Verletzungen von Individualrechten sollen nunmehr die ordentlichen Gerichte im Verwaltungsprozeß entscheiden (Art. 203 kbs. 3, Art. 216, Art. 218). Ein indirekter verfassungs gerichtlicher Grundrechtsschutz ist allerdings insofern vorhanden, als das Verfassungsgericht Jugoslawiens von Amts wegen Normenkontrollverfahren einleiten kann und hierbei auch Eingaben von Bürgern als Anregung dienen können (Art. 387 Abs 1 u. 3). Nach der bisherigen Praxis ist diese Möglichkeit nicht gering zu veranschlagen39 • Dem jugoslawischen Beispiel einer Verfassungsgerichtsbarkeit wollte allein die Tschechoslowakei folgen. Hier sah das Verfassungsgesetz Nr. 143/1968 die Einführung einer Verfassungsgerichtsbarkeit vor, die auch für den Schutz der Grundrechte gegen Eingriffe der Staatsgewalt zuständig sein sollte (Art. 92). Ganz abgesehen davon, daß in der Folgezeit keine Verfassungsgerichte errichtet worden sind, ist an eine Verfassungsbeschwerde aber niemals gedacht worden40 • In Anbetracht dieser Rechtslage verschiebt sich die Problematik des Grundrechtsschutzes auf die Ebene des allgemeinen Verwaltungsrechtsae Vgl. im einzelnen V. Dimitrijevic, Verfassungsgerichtsbarkeit in Jugoslawien, Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht 1968, S. 170 ff. (188 ff.). ao Einige Zahlen bei N. Djurisic, Experience of the Constitutional Court of Yugoslavia, Osteuropa-Recht 1970, S. 183 ff. (188). 40 J. Blahoz, Nekoli nametü k modelu ustavniho soudnictvi CSSR a CSR, Pravnik 1969, S. 352 ff. (363).
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schutzes. Die Grundrechte werden hier zwar nicht qua Grundrechte besonders geschützt, aber sie können unter Umständen an dem Rechtsschutz partizipieren, der dem Bürger gegenüber der Exekutive eingeräumt ist. Dabei ergeben sich drei Möglichkeiten eines indirekten Grundrechtsschutzes. Erstens gibt es in allen kommunistischen Ländern einen verwaltungsinternen Rechtsschutz, sei es in Gestalt einer förmlichen Verwaltungsbeschwerde, sei es in der Form eines formlosen Eingaberechts, das der Sache nach ein Petitionsrecht darstellt. Dieser Rechtsschutz ist naturgemäß wenig effektiv. Denn über die Beschwerde entscheidet die übergeordnete Behörde des Verwaltungsorgans, dessen Maßnahme angefochten wird, d. h. die Entscheidung verbleibt in dem Organisationsbereich der betroffenen Verwaltungseinheit: die Verwaltung entscheidet in eigener Sache. Wesentlich wirksamer ist hingegen der gerichtliche Verwaltungsrechtsschutz, der in den einzelnen Ländern in sehr unterschiedlichem Maße gewährt wird4!. In Jugoslawien ist er am weitesten entwiCkelt. Hier ist die verwaltungsgerichtliche Generalklausel bereits durch das Gesetz über das Verwaltungsstreitverfahren vom 23. 4. 1952 eingeführt worden, und die Anfechtbarkeit von Verwaltungsakten ist nur in wenigen Ausnahmefällen und aus einsichtigen Gründen ausgeschlossen'!. Diesem Beispiel sind allein Rumänien im Jahre 196743 und Bulgarien im Jahre 197044 gefolgt, aber in beiden Ländern ist die Generalklausel gerade in den neuralgischsten Bereichen (Landesverteidigung, Staatssicherheit, Polizeirecht usw.) so stark durchlöchert, daß der gerichtliche Verwaltungsrechtsschutz in der Praxis beträchtlich zusammenschrumpft. In den meisten anderen Ländern (Sowjetunion, Polen, Tschechoslowakei, Ungarn) ist der Rechtsweg zu den Gerichten nur in gesetzlich besonders vorgesehenen Fällen, d. h. nach dem Enumerationsprinzip gegeben, wobei zu den wichtigsten Fallgruppen die Wohnungs-, Steuer-, Verwaltungsstraf- und Sozialversicherungssachen gehören. Allein in der DDR ist jeglicher gerichtlicher Verwaltungsrechtsschutz ausgeschlossen 45• 41 VgI. S. Lamrnich, Die gerichtliche Kontrolle der Verwaltung in den sozialistischen Verfassungssystemen, Verwaltungsarchiv 1973, S. 246 ff.; L. Schultz, Die gerichtliche Kontrolle von Verwaltungsakten in den sozialistischen Staaten, Recht in Ost und West 1974, S. 241 ff. 42 Eine allerdings unvollständige - Liste der nicht anfechtbaren Verwaltungsakte ist zu finden bei S. Popovic, Upravni spor u teoriji i praksi, Belgrad 1968, S. 203 f. u Art. 1 des Gesetzes Nr. 1/1967 betr. die Zuständigkeit der ordentlichen Gerichte zur Verhandlung und Entscheidung von Klagen der durch rechtswidrige Verwaltungsakte in ihren Rechten Verletzten vom 26. 7. 1967 (Buletinul Oficial1967, Teil I, Nr. 67). 44 Art. 45 des Gesetzes über das Verwaltungsverfahren vom 24. 6. 1970 (Dadaven Vestnik 1970, Nr. 53).
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Als dritte Möglichkeit kommt schließlich die allgemeine Gesetzlichkeitsaufsicht der Staatsanwaltschaft in Betracht. Die Staatsanwaltschaft ist in den kommunistischen Ländern als eine allgemeine Rechtsaufsichtsbehörde konzipiert, die gegen Rechtsverletzungen aller Art einzuschrei"'" ten hat. So kann sie auch jede Verwaltungsmaßnahme mit der Maßgabe beanstanden, daß auf ihren Einspruch hin die übergeordnete Verwaltungsbehörde die Rechtmäßigkeit der beanstandeten Maßnahme zu überprüfen und sie gegebenenfalls aufzuheben hat. In der Rechtswirklichkeit pflegt aber die Staatsanwaltschaft meistens nur dann einzuschreiten, wenn obrigkeitliche Belange auf dem Spiel stehen. Nur gelegentlich, nämlich dann, wenn sich obrigkeitliche und persönliche Interessen im Einzelfall decken, kommt es vor, daß die Staatsanwaltschaft zum Schutze von Individualrechten tätig wird46 • Der Bürger kann nur versuchen, die Staatsanwaltschaft zu einem Eingreifen zu bewegen, er hat aber keinerlei Möglichkeiten, ein Tätigwerden zu erzwingen. Zusammenfassend kann man feststellen, daß die kommunistisch regierten Länder einen zwar recht unterschiedlich ausgestalteten, insgesamt aber doch eher bescheidenen Verwaltungsrechtsschutz zur Verfügung stellen und einen spezifischen Grundrechtsschutz überhaupt nicht kennen. Von allen ideologischen, verfassungstheoretischen und materiell-rechtlichen Erwägungen abgesehen ist letztlich die fehlende verfahrensrechtliche Durchsetzbarkeit der Grundrechte der Umstand, in dem die praktische Bedeutungslosigkeit der "sozialistischen" Grundrechte wurzelt. Abschließend sei noch kurz auf die Frage eingegangen, ob und inwiefern der Beitritt der kommunistischen Staaten zu den beiden UN-Menschenrechtskonventionen und namentlich dem Internationalen Pakt über 45 Der einzige Fall, in dem die Maßnahme einer Verwaltungsbehörde beim Kreisgericht angefochten werden kann, ist in § 27 Abs. 3 u. 4 des Wahlgesetzes vom 24. 6. 1976 (Gesetzblatt 1976, Teil I, S. 30) enthalten und kann eigentlich nur als eine Verhöhnung des Rechtsschutzgedankens angesehen werden: er betrifft die Streichung aus und die Ablehnung der Eintragung in die Wählerliste. Zum Rechtsschutz in der DDR vgl. im übrigen G. Brunner, Das System des öffentlich-rechtlichen Rechtsschutzes in der DDR, in: R. Lange - B. Meissner - K. Pleyer, Probleme des DDR-Rechts, Köln 1973, S. 89 ff. Seither hat sich soviel ereignet, daß 1974/75 auch die Ende 1969 errichteten Beschwerdeausschüsse bei den örtlichen Volksvertretungen abgeschafft worden sind. 46 In der Sowjetunion betrafen von 242 bekanntgewordenen Fällen, in denen die Staatsanwaltschaft im Zeitraum von 1937 bis 1964 Protest gegen Verwaltungsmaßnahmen erhoben hat, 8 Fälle eine Grundrechtsverletzung; so G. G. Morgan, The Protests and Representations Lodged by the Soviet Procuracy against the Legality of Governmental Enactments 1937 - 1964, in: Legal Controls in the Soviet Union, Law in Eastern Europe, Bd. 13, Leiden 1966, S. 103 ff. (113). Zur Geschichte und Praxis der allgemeinen Aufsicht in der Sowjetunion vgl. im übrigen: G. G. Morgan, Soviet Administrative Legality, Stanford/Cal. 1962. Für die DDR siehe: D. Stenda, Die Gesetzlichkeitsaufsicht der Staatsanwaltschaft in der DDR, Diss. Würzburg 1976.
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bürgerliche und politische Rechte die geschilderte Menschenrechtskonzeption zu beeinflussen vermag. Es ist offensichtlich, daß die westliche und die östliche Menschenrechtsauffassung nicht miteinander zu vereinbaren sind. Welche Auffassung soll aber bei der Auslegung der Menschenrechte maßgebend sein, die zu achten und gewährleisten die vertragschließenden Parteien in Art. 2 Abs. 1 die Verpflichtung übernommen haben? Auszugehen ist von dem Willen der Parteien und der üblichen Bedeutung des Wortlautes. Ein inhaltlicher Konsens und ein übereinstimmender Sprachgebrauch sind also Voraussetzung für eine sichere Auslegung. An (fieser Voraussetzung mangelt es jedoch im vorliegenden Falle. Die kommunistischen Staaten verbinden mit den Menschenrechten der Internationalen Pakte ganz andere Inhalte als die westlichen Demokratien. Zu dieser Dichotomie tritt die schwer zu durchschauende Menschenrechtsauffassung der vertragschließenden Entwicklungsländer der Dritten Welt hinzu. Zwar mag der Westen darauf bauen, daß seine Menschenrechtsidee der Gefühlsund Gedankenwelt der Völker Osteuropas weit näher steht als die offizielle Grundrechtsdoktrin des Ostens, aber für die Vertragsauslegung ist dies kaum von Bedeutung. Von östlicher Seite wird auch nachdrücklich betont, daß es unzulässig sei, den Internationalen Pakten das westliche Menschenrechtsverständnis zugrunde zu legen. Dies soll sich auch aus den Menschenrechtskonventionen selbst ergeben, und zwar vor allem aus drei Umständen47 : 1. Bezugspunkt aller Menschenrechte sei das Selbstbestimmungsrecht der Völker, von dem beide UN-Menschenrechtskonventionen in ihrem Art. 1 ausgingen; 2. in dem Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte fehle bezeichnenderweise das Eigentumsrecht; 3. durch die Verabschiedung zweier Menschenrechtskonventionen sei zum Ausdruck gekommen, daß die politischen und die sozialen Rechte eine untrennbare Einheit bildeten. Auch wenn man diese Auffassung nicht teilt, wird es praktisch kaum möglich sein, eine einheitliche Auslegung der Menschenrechtskonventionen zu erzielen. Sollte sich bei der Inhaltsbestimmung der einzelnen Menschenrechte gelegentlich trotzdem Einmütigkeit einstellen, so ist damit noch nicht viel gewonnen, da fast alle Menschenrechte unter einem kautschukartigen Vorbehalt stehen. Der Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte gestattet die Einschränkung von Menschenrechten im Hinblick auf die nationale Sicherheit, die öffentliche Ordnung oder aus ähnlichen Gründen. Im Zweifelsfall wird jeder Staat, der die Menschenrechte in seinem Machtbereich unterdrückt, eine passende Rechtfertigung finden. Es gibt nur wenige Fälle, in denen der Wortlaut der Vertragsbestimmungen so eindeutig ist, daß über Vertragsverletzungen in Er47
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mangelung eines Vorbehalts kaum Meinungsverschiedenheiten aufkom"; men dürften. Dies ist vor allem bei den justiziellen Grundrechten der Fall. Art. 2 Abs. 3 lit. a) und Art. 17 der Konvention über bürgerliche und politische Rechte sehen z. B. vor, daß jeder Vertragsstaat verpflichtet ist, seinen Bürgern zum Zwecke des Menschenrechtsschutzes ein wirksames Beschwerdesystem zur Verfügung zu stellen. Daß etwa die DDR durch eine totale Verweigerung des Verwaltungsrechtsschutzes gegen diese Bestimmungen verstößt, kann nicht zweifelhaft sein. Das Verbot von Folter, grausamer, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung (Art. 7), das Gebot menschlicher Behandlung von Häftlingen (Art. 10) und gewisse Mindestgarantien für den Angeklagten im Strafprozeß (Art. 14 Abs. 3) stehen unter keinem Vorbehalt und sind wohl auch hinlänglich bestimmt, um z. B. ihre regelmäßige Verletzung durch die sowjetischen Strafverfolgungs- und Strafvollzugsorgane ohne Schwierigkeiten nachweisen zu können48 • An dieser Stelle wird jedoch eine weitere empfindliche und sträfliche Lücke im Internationalen Pakt über politische und bürgerliche Rechte sichtbar: er stellt keinen wirksamen internationalen Menschenrechtsschutz zur Verfügung. Das in Art. 40 vorgesehene Berichtssystem gestattet dem Ausschuß für Menschenrechte nur "allgemeine Bemerkungen", nicht aber konkrete Rügen. In Art. 41 - 45 ist zwar eine "Staatenbeschwerde" an den Ausschuß für Menschenrechte vorgesehen, die gegebenenfalls auch zur Einsetzung einer Ad-hoc-Vergleichskommission führen kann, doch ist das Verfahren so umständlich und langwierig ausgestaltet, daß eine Abhilfe kaum zu erwarten ist, zumal Ausschuß wie Kommission - in denen sich die Vertreter der westlichen Demokratien freilich in einer hoffnungslosen Minderheit befinden - nicht viel mehr tun können, als auf eine gütliche Einigung hinzuwirken. Aber im Verhältnis zu den kommunistisch regierten Ländern ist nicht einmal diese totgeborene "Staatenbeschwerde" zu gebrauchen. Denn Art. 41 stellt eine Fakultativklausel dar und ist von den Ostblockstaaten nicht ratifiziert worden. Es versteht sich von selbst, daß sie das Zusatzprotokoll zum Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte, das eine "Individualbeschwerde" an das Menschenrechtskomitee der Vereinten Nationen ermöglicht, erst recht nicht unterzeichnet haben. Während der Beratungen der Menschenrechtskonventionen haben die kommunistischen Staaten alle westlichen Versuche, eine Institutionalisierung und Internationalisierung des Menschenrechtsschutzes herbeizuführen, erfolgreich bekämpft, und heute weisen sie jeden Hinweis von westlicher Seite auf die Menschenrechtswirklichkeit in ihrem Machtbereich 48 Material hierzu ist z. B. in der von Amnesty International herausgegebenen Broschüre "Politische Gefangene in der UdSSR", Wien 1975, zu finden.
Die östliche Menschenrechtskonzeption
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als eine Einmischung in die inneren Angelegenheiten fremder Staaten und als Verstoß gegen das Souveränitätsprinzip entrüstet zurück49 • Dieser Einwand ist freilich absurd. Denn schon die Satzung der Vereinten Nationen statuiert ein Befassungsrecht der UN-Organe in bezug auf Menschenrechtsfragen (Art. 13 Abs. 1 lit. b, Art. 62 Abs. 2, Art. 68, Art. 76 lit. cl, und wenn der Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte gegenseitige völkerrechtliche Verpflichtungen der Staaten50 begründet, so ist es ein Gebot der Logik, daß die Vertragspartner eine Vertragsverletzung zumindest verbal rügen können. Die Möglichkeit, auf Menschenrechtsverletzungen in den Ostblockstaaten öffentlich und vor internationalen Foren hinzuweisen, ist am hohen Wert der Menschenrechte gemessen zugegebenermaßen bescheiden, aber sie sollte nicht ungenutzt bleilben. Die Vitalität der Menschenrechtsbewegungen und die äußerste Empfindlichkeit, mit der die Regime auf jede Kritik reagieren, beweisen, daß den Feinden der Menschenrechte schon die Publizität ihres Tuns sehr unangenehm ist. Noch wichtiger wäre es allerdings, die Bemühungen um einen wirksamen internationalen Menschenrechtsschutz unbeirrt fortzusetzen. Insofern verdient der ungarische Rechtstheoretiker Imre Szab6 volle Zustimmung, wenn er vor kurzem anläßlich des Tages der Menschenrechte folgendes ausgeführt hat: "Im Kreise der Vereinten Nationen beschäftigt man sich gegenwärtig viel mehr mit der Herausbildung immer neuer Menschenrechte und deren Kodifizierung, anstatt sich um die Sicherung der Verwirklichung der Rechte und den Ausbau eines Systems von Garantien zu kümmern. Man kann von einer gewissen Inflation der Menschenrechte sprechen, während die Verwirklichung der Rechte, die ernsthafte Aufforderung der Staaten, darüber Rechenschaft abzulegen, wie sie eigentlich die Menschenrechte verwirklicht haben, in den Vereinten Nationen vorerst in rudimentären Formen erfolgt, wenn sie überhaupt erfolgt. Weniger Menschenrechtsdeklarationen, aber mehr Verpfiichtung der Staaten zur Rechenschaftslegung: das könnte hinsichtlich der Menschenrechte die internationale Parole der Gegenwart seinSt ."
48 1. P. Bliscenko - O. N. Chlestov, Mezdunarodnye pakty 0 pravach celoveka, Sovetskoe Gosudarstvo i Pravo 1974, Nr. 6, S. 108 ff. (111); V. A. Kartaskin, Uvazenie prav celoveka i nevmesatel'stvo vo vnutrennie dela gosudarstv, Sovetskoe Gosudarstvo i Pravo 1974, Nr. 6, S. 113 ff. Weitere Hinweise bei H.-J. Uibopuu (Anm. 2), S. 2, Fußnote 8. GO Die Auffassung, nach der der Einzelne auch unmittelbar Rechte aus den Menschenrechtskonventionen ableiten könne, wird von der östlichen Völkerrechtslehre heftig bekämpft. Zahlreiche Nachweise bei H.-J. Uibopuu, Die Subjekte des Völkerrechts, in: Osteuropa-Handbuch. Sowjetunion. Außenpolitik, Bd. II!, Köln 1976, S. 62 ff.(73 f.). Für die DDR repräsentativ: B. Graefrath (Anm. 3), S. 4. GI I. Szab6, Az emberi jogok napja, Jogtudomänyi Közlöny 1977, S. 61 ff. (63 f.).
8 KSZE
DAS SELBSTBESTIMMUNGSRECHT DER VÖLKER NACH HELSINKI UND DIE SOWJETISCHE SELBSTBESTIMMUNGSKONZEPTION Von Boris Meissner I. Die Verankerung des Selbstbestimmungsprinzips in der Satzung der Vereinten Nationen Der völkerrechtliche Charakter des Selbstbestimmungsrechts der Völker ist lange umstritten gewesenl • Seit seiner Verankerung in der Satzung der Vereinten Nationen, der UN-Deklaration über "freundschaftliche Beziehungen" von 1970, der KSZE-Schlußakte von 1975 und nach dem 1976 erfolgten Inkrafttreten der UN-Menschenrechtskonventionen von 1966 dürfte feststehen, daß es sich bei ihm um ein allgemein anerkanntes völkerrechtliches Prinzip handelt. An dieser positiven Entwicklung hat die Sowjetunion wesentlichen Anteil gehabt, wenn sie auch in ihrer außenpolitischen Praxis das Selbstbestimmungsrecht immer wieder verletzt hat. Der Sowjetstaat ist seit seiner Entstehung für die Anerkennung des Selbstbestimmungsrechts der Völker als eines universellen Prinzips eingetreten. Durch die Fixierung des Selbstbestimmungsrechts in den Friedensverträgen, die 1920 vom bolschewistischen Rußland mit Estland, Lettland, Litauen und Finnland abgeschlossen wurden2 , gewann dieses zum ersten Mal im gegenseitigen Verhältnis dieser Staaten partikulärvölkerrechtlichen und damit normativen Charakter. Den Ausgangspunkt zu einer Entwicklung, die dem Selbstbestimmungsrecht den Eingang in das allgemeine Völkerrecht verschaffen sollte, bildete jedoch keine sowjetische, sondern eine anglo-amerikanische Initiative in Gestalt der Atlantic-Charta. In der gemeinsamen Erklärung des amerikanischen Präsidenten Roosevelt und des britischen Premierministers Churchill vom 14. August 1941 1 Vgl. B. Meissner: Sowjetunion und Selbstbestimmungsrecht, Köln, 1962; K. Rabl: Das Selbstbestimmungsrecht der Völker, 2. Aufl., Köln / Wien 1973; W. Heidelmeyer: Das Selbstbestimmungsrecht der Völker, Paderborn 1973. 2 Zum Wortlaut der Friedensverträge mit den baltischen Staaten und Finnland vgl. o. Hoetzsch (Hrsg.): Der europäische Osten, Leipzig / Berlin 1933.
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wurde in Verbindung mit dem Verzicht der beiden Mächte auf Gebietsvergrößerungen (Ziff. 1) festgelegt, daß keine Gebietsveränderungen ohne Zustimmung der betroffenen Bevölkerung (Ziff. 2) erfolgen sollten. Allen Völkern wurde das Recht zugestanden, über ihre Regierungsform selbst zu bestimmen (Ziff. 3). Zugleich wurde den unterdrückten Völkern versprochen, daß ihnen die "souveränen Rechte" und die "Selbstregierung" zurückgegeben werden sollte, deren sie gewaltsam beraubt worden waren. Am 24. September 1941 gab die Sowjetunion als Teilnehmer der Londoner Interalliierten Konferenz ihre Zustimmung zu den in der Atlantie-Charta niedergelegten Grundsätzen3• In einer Erklärung des sowjetischen Botschafters in London, Maiskij, war ein Bekenntnis der Sowjetunion zur "Souveränität der Völker" und zu dem "Prinzip des Selbstbestimmungsrechts der Völker" enthalten. Das Selbstbestimmungsrecht wurde aber entsprechend der sowjetischen Konzeption weiter ausgelegt. Es wurde aus drüeklich das "Recht einer jeden Nation auf ihre Unabhängigkeit und territoriale Integrität" betont und die innere Seite des Selbstbestimmungsrechts nicht nur auf die Regierungsform, sondern aueh auf die Gesellschaftsordnung bezogen. Von sowjetischer Seite wurde nicht erklärt, daß die Grundsätze der Atlantie-Charta nicht auf die besiegten Länder Anwendung finden sollten. Es wurde lediglich der Vorbehalt angemeldet, daß "die praktische Anwendung dieser Grundsätze sich notwendigerweise den Umständen, Bedürfnissen und geschichtlichen Besonderheiten der einzelnen Länder angepaßt werden müßte". Am 1. Januar 1942 wurde die "Deklaration der Vereinten Nationen", die ausdrücklich auf die Atlantie-Charta Bezug nahm, vom sowjetischen Botschafter in Washington, Litwinow, unterzeichnet. Die Rechtsnatur der Atlantie-Charta ist umstritten. Die westliche Seite sieht in ihr eine politische Prinzipienerklärung, mit der gewisse moralische Bedingungen verbunden sind, während die sowjetische Seite in Verbindung mit der Deklaration vom 1. Januar 1942 stärker ihren rechtlichen Charakter betont. Dies ergibt sich teilweise aus der sowjetischen Doktrin, die eine gemeinsame Deklaration als einen völkerrechtlich verbindlichen Vertrag ansieht4. 3 Vgl. S. B. Krylov: Istorija sozdanija Organizaeii Ob-edinennych Nacij (Geschichte der Entstehung der Organisation der Vereinten Nationen), Moskau 1960, S. 15 ff. 4 Vgl. A. Uschakow: Der Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe (Comeeon), Köln 1962, S. 23, Anmerkung 1,2.
Das Selbstbestimmungsrecht und die sowjetische Konzeption
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Die Bedeutung der Atlantic-Charta ist vor allem darin zu sehen, daß damit der Anstoß zu einer Entwicklung gegeben wurde, die über die drei Kriegskonferenzen unter Beteiligung der Sowjetunion (Moskau, Teheran 1943, Jalta 1945) und die Konferenz von Dumbarton Oaks 1944 zur Begründung der Organisation der Vereinten Nationen führen sollte5 • Auf der Gründungskonferenz der UNO in San Franzisko (25. April bis 26. Juni 1945)6 wurde am 5. Mai 1945 von den einladenden vier Großmächten Abänderungen zu den Dumbarton Oaks Proposals eingebracht, denen die Vorschläge der einzelnen Mächte zu Grunde lagen, die in den ersten Tagen der Konferenz ausgearbeitet worden waren. Diese Vorschläge sind von den Kommissionen und Unterausschüssen, die von der Konferenz für diesen Zweck eingesetzt wurden7 , vordringlich behandelt worden. Die vier sowjetischen Abänderungsvorschläge vom prinzipiellen Charakter sahen unter anderem vors: 1. die Entwicklung freundschaftlicher Beziehungen zwischen den Staa-
ten "auf der Achtung vor dem Grundsatz der Gleichberechtigung und der Selbstbestimmung der Völker";
2. die internationale Zusammenarbeit in der "Förderung der Menschenrechte, insbesondere des Rechts auf Arbeit und des Rechts auf Bildung, sowie der Grundfreiheiten für alle ohne Unterschied der Rasse, der Sprache, der Religion und des Geschlechts". Die Dumbarton Oaks Proposals enthielten zwar einen Hinweis auf die Menschenrechte, nicht aber auf das Selbstbestimmungsrecht der Völker. Insofern lag in diesem Punkt ein originärer sowjetischer Beitrag vor, der im Kapitel I "Ziele und Grundsätze" (Art. 1, Abs. 2), Kapitel IX "Internationale wirtschaftliche und soziale Zusammenarbeit" (Art. 55, Abs. C) und mittelbar im Kapitel XII "Internationales Treuhandsystem (Art. 76 Abs. B) seinen Niederschlag gefunden hat'.
Vgl. Krylov, a.a.O., S. 18 ff. Vgl. Krylov, a.a.O., S. 73 ff. 7 Vgl. E. Menzel: Die Vereinten Nationen und das Selbstbestimmungsrecht, in: Festschrift für Rudolf Laun zu seinem achtzigsten Geburtstag, Jahrbuch für Internationales Recht, 11. Bd., Göttingen 1962, S. 273 f. 8 Krylov, a.a.O., S. 94. o Auf diese Tatsache hat Krylov bereits in der ersten Auflage seines Buches 1949 hingewiesen. Da Krylov der sowjetischen Delegation in Dumbarton Oaks und San Francisco als Völkerrechtsexperte angehört hat, dürfte seine Aussage kaum zu bezweifeln sein. Menzel (a.a.O., S. 234) äußert die Vermutung der sowjetischen Urheberschaft auf Grund einer Analyse der westlichen Quellen. S
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Nach herrschender sowjetischer Völkerrechtslehre hat das Selbstbestimmungsprinzip mit seiner Aufnahme in die UN-Satzung den Rang eines völkerrechtlichen Grundsatzes von normativem Charakter erhalten10 •
11. Die Aufnahme des Selbstbestimmungsprinzips in die beiden UN-Menschenrechtskonventionen Die Sowjets sind im Rahmen der Vereinten Nationen fortlaufend für eine vertragliche Fixierung des Selbstbestimmungsrechts in Verbindung mit den allgemeinen Menschenrechten sowie für seine praktische Anwendung bei der Liquidierung des Kolonialsystems eingetreten 11 • Bereits bei der Erörterung des Entwurfs der allgemeinen Menschenrechtsdeklaration der Vereinten Nationen vom 10. Dezember 1948 durch die IH. Tagung der Vollversammlung wurde von der sowjetischen Delegation vorgeschlagen, einen Abschnitt über das Selbstbestimmungsrecht der Völker aufzunehmen. Der Vorschlag lautete12 : 1. Jedes Volk und jede Nation haben das Recht auf nationale Selbstbestimmung. Die Staaten, die für die Verwaltung der Gebiete ohne Selbstregierung, einschließlich der Kolonien zuständig sind, sollen zur Verwirklichung dieses Rechts beitragen, sich leiten lassen durch die Prinzipien und Ziele der Vereinten Nationen, die sich auf die Völker dieser Gebiete beziehen. 2. Jegliches Volk und jegliche Nationalität innerhalb eines Staates sollen über gleiche Rechte verfügen. Die staatlichen Gesetze sollen keinerlei Diskriminierung in dieser Hinsicht zulassen. Den nationalen Minderheiten soll das Recht garantiert werden, die heimische Sprache zu gebrauchen sowie eigene nationale Schulen, 10 Vgl. L. V. Speranskaja: Princip samoopredelenija v mezdunarodnom prave (Das Selbstbestimmungsprinzip im Völkerrecht), Moskau 1961, S. 38. G. r. Tunkin: Völkerrechtstheorie, Berlin (West) 1972, S. 88; D. B. Lewin, G. P. Kaljushnaja: Völkerrecht, Berlin (Ost), 1967, S. 68; Meissner: Sowjetunion und Selbstbestimmungsrecht, a.a.O., S. 385 ff. 11 Vgl. E. R. Goodman: The Cry of National Liberation: Recent Soviet Attitudes toward National Self-Determination, International Organization, 14. Jg., 1960 Nr. 1, S. 92 ff.; B. Rivlin: Self-Determination and Dependent Areas, International Conciliation, January 1955, Nr. 501, S. 195 ff.; D. B. Levin: Princip samoopredelenija naciej i likvidacija kolonialisma (Das Selbstbestimmungsprinzip und die Liquidierung des Kolonialismus), Sovetskoe gosudarstvo i pravo (Sowjetstaat und Recht - abgekürzt SGP -), 1962, Nr. 8, S. 92 ff. t! General Assembly, Official Records (3rd session), Document A/784, Annexes, Part I, 1948, agenda item 58, S. 545. Vgl. Goodman, a.a.O., S. 93; Speranskaja, a.a.O., S. 52.
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Bibliotheken, Museen und andere Kultur- und Bildungseinrichtungen zu besitzen. 3. Die in dieser Deklaration festgelegten Rechte und Grundfreiheiten des Menschen und Bürgers sollen auch auf die Bevölkerung der Gebiete ohne Selbstregierung, einschließlich der Kolonien erstreckt werden. Der sowjetische Vorschlag wurde von der Vollversammlung abgelehnt, desgleichen die Anregung, einen entsprechenden Passus über das Selbstbestimmungsrecht in den Entwurf der geplanten Menschenrechtskonvention aufzunehmen. Auf der V. Tagung der Vollversammlung wurde die Menschenrechtskommission des Wirtschafts- und Sozialrats durch eine abgeschwächte Resolution vom 4. Dezember 1950 aufgefordert, das Selbstbestimmungsrecht näher zu fixieren13 • Von der VI. Tagung der Vollversammlung der Vereinten Nationen wurde am 5. Februar 1952 mit 42 gegen 7 Stimmen (bei 5 Enthaltungen) beschlossen, das Selbstbestimmungsrecht in den nunmehr vorgesehenen beiden Menschenrechtskonventionen zu behandeln. Die Notwendigkeit wurde damit begründet, daß die Verletzung des Selbstbestimmungsrechts in der Vergangenheit zu Kriegen geführt habe und in der Gegenwart als ständige Bedrohung des Friedens angesehen werden müsse. In der Resolution Nr. 545 (VI) war vorgesehen, folgenden Satz in die Konvention aufzunehmen14 : "Alle Völker haben das Recht auf Selbstbestimmung. " Die Hervorhebung des universellen Charakters des Selbstbestimmungsrechts beruhte auf einer polnischen Formulierung, die von der Sowjetunion unterstützt wurde lS • Ein entsprechender Artikel über das Selbstbestimmungsrecht ist am 21. April 1952 von der Menschenrechtskommission auf ihrer achten Sitzung mit 13 gegen 4 Stimmen (bei einer Stimmenthaltung) angenommen worden. 13 Resolution Nr. 421 D (V). Vgl. G. Decker: Das Selbstbestimmungsrecht der Nationen, Göttingen 1955, S. 200/201; Menzel, a.a.O., S. 282; Speranskaja, a.a.O., S. 53/54; vgl. hierzu den vorausgegangenen sowjetischen Abänderungsvorschlag zum Entwurf der Menschenrechtskonventionen vom 1. Dezember 1950; General Assembly Official Records (5th session), Document A 1576, Annexes, 1950, agenda item 63, S. 35. 14 Vgl. Decker, a.a.O., S. 203; Menzel, a.a.O., S. 282; Speranskaja, a.a.O., S. 54. 15 Vgl. G. B. Staru~enko: Princip samoopredelenija narodov i nacij vo vnesnej politike sovetskogo gosudarstva (Das Selbstbestimmungsrecht der Völker und Nationen in der Außenpolitik des sowjetischen Staates), Moskau 1960, S. 156, Speranskaja (a.a.O., S. 54) schreibt das Verdienst um die Formulierung der sowjetischen Delegation zu.
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Der Beschluß hatte folgenden Wortlaut 18 : "Die Kommission für Menschenrechte beschließt, in die Entwürfe der Konventionen für Menschenrechte den folgenden Artikel über das Recht von Völkern und Nationen auf Selbstbestimmung aufzunehmen: 1.
Alle Völker und alle Nationen haben das Recht auf Selbstbestimmung, d. h. das Recht, ihren politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Status frei zu bestimmen.
2. Alle Staaten, einschließlich derer, die für die Verwaltung von Gebieten ohne Selbstregierung und Treuhand-Gebieten Verantwortung haben, und derer, die in irgendeiner Weise die Ausübung dieses Rechts durch ein anderes Volk unter Kontrolle halten, haben die Verwirklichung dieses Rechts in allen ihren Hoheitsgebieten zu fördern, und in 'übereinstimmung mit den Bestimmungen der Satzung der Vereinten Nationen die Aufrechterhaltung dieses Rechts in anderen Staaten zu respektieren. 3. Das Recht der Völker auf Selbstbestimmung soll ebenso die dauernde Souveränität über ihre Naturschätze und Hilfsquellen einschließen. In keinem Fall darf ein Volk seiner Existenzmittel auf Grund von irgendwelchen von anderen Staaten beanspruchten Rechten beraubt werden." Die VII. Tagung der Vollversammlung der Vereinten Nationen faßte am 16. Dezember 1952 mit 40 gegen 16 Stimmen (bei 6 Enthaltungen) einen Beschluß über "Das Recht der Völker und Nationen auf Selbstbestimmung"17. In ihm wurde durchaus im Einklang mit der sowjetischen Konzeption festgestellt, daß das Selbstbestimmungsrecht als Voraussetzung für die Verwirklichung der allgemeinen Menschenrechte anzusehen sei. Damit wurde zum Ausdruck gebracht, daß den Menschen, die ihnen zustehenden Grundrechte nur gesichert werden könnten, wenn den Völkern, denen sie angehörten, das Gruppenrecht der nationalen Selbstbestimmung zuerkannt würde. In den ersten beiden Teilen der Resolution ("A" und "B") forderte die Vollversammlung die für die Verwaltung von Gebieten ohne Selbstregierung zuständigen Mitgliedstaaten auf, praktische Schritte für die Verwirklichung des Selbstbestimmungsrechts vorzubereiten. Dabei sollte der Wille des jeweiligen Volkes "durch Volksabstimmung oder andere anerkannte demokratische Mittel" und zwar vorzugsweise unter der Obhut der Vereinten Nationen festgestellt werden. United Nations Bulletin, 12. Jg., 1952, S. 373; Decker, a.a.O., S. 205/6. Resolution 637 (VII), in: General Assembly Official Records (7th session), Resolutions, Supplement No. 20 (A/236l), S. 26/27; Decker, a.a.O., S. 210, 376 ff.; Speranskaja, a.a.O., S. 58/59. Außerdem wurde eine Resolution 626 (VII) über das Recht zur freien Nutzung der Naturschätze und Hilfsquellen aDl~enommen. Wortlaut, Resolutions, Supplement No. 20 (A/2361), S. 18. 18
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Im dritten Teil ("e") wurde der Menschenrechtskommission übertragen, Wege und Mittel zur Durchsetzung des Selbstbestimmungsrechts näher zu untersuchen. Von der Menschenrechtskommission wurden 1955 die folgenden Entwürfe ausgearbeitet und der X. Tagung der Vollversammlung zur Bestätigung unterbreitet l8 : 1. der Entwurf des Selbstbestimmungsartikels, der als Artikel 1 in die Konventionen über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte sowie bürgerliche und politische Rechte eingefügt werden sollte; 2. der Resolutionsentwurf zur Errichtung einer Kommission zur Prüfung der Frage der Souveränität über Naturschätze und Hilfsquellen1G ; 3. der Resolutionsentwurf über die Schaffung einer Kommission für Gute Dienste2°; 4. der Resolutionsentwurf für die Errichtung einer Kommission zum Studium des Selbstbestimmungsprinzips. Der Entwurf über den Selbstbestimmungsartikel ist vom dritten Hauptausschuß im November 1955 mit 54 zu 0 Stimmen (bei 2 Enthaltungen) angenommen worden. Er hatte folgenden Wortlaut!l: ,,1. Alle Völker haben das Recht auf Selbstbestimmung. Kraft dieses Rechts steht es ihnen frei, ihren politischen Status zu bestimmen und ihre wirtschaftliche, soziale und kulturelle Entwicklung zu verfolgen. 2. Alle Völker können zu ihrem eigenen Nutzen frei über ihre Naturschätze und Wirtschaftskräfte verfügen, unbeschadet der Verpflichtungen, die aus der internationalen wirtschaftlichen Zusammenarbeit auf der Grundlage des Prinzips des gegenseitigen Nutzens und aus dem Völkerrecht erwachsen. Auf keinen Fall darf ein Volk seiner Existenzmittel beraubt werden. Vgl. Speranskaja, a.a.O., S. 61; Decker, a.a.O., S. 211, Anmerkung 75. Eine entsprechende Kommission, die von sowjetischer Seite befürwortet wurde, ist auf der XIII. Tagung der Vollversammlung mit Resolution vom 12. Dezember 1958 errichtet worden. Vgl. Menzel, a.a.O., S. 292. ro Die als eine Art Schiedskommission gedachte "good office commission" ist von der Vollversammlung nicht gebildet worden. Vgl. Menzel, a.a.O., 18 18
S.292/3.
U General Assembly, Official Records (10th session), Document A/2929, Annexes, Part 11, 1955, agenda item 28, S. 13; deutsche Übersetzung: Journal der Internationalen Juristen-Kommission, Genf, Bd. VIII, 1967, No. 1, S. 67. Vgl. hierzu auch den englischen Urtext und die deutsche Übersetzung der beiden UN-Konventionen für Menschenrechte in: Internationales Recht und Diplomatie, 13. Jg., 1968, S. 105 ff.
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3. Alle Teilnehmerstaaten dieser Konvention, einschließlich derjenigen, die für die Verwaltung von Gebieten ohne Selbstregierung und von Treuhandgebieten verantwortlich sind, sollen die Verwirklichung des Selbstbestimmungsrechts fördern und das Recht in übereinstimmung mit den Bestimmungen der Charta der Vereinten Nationen achten." ' In der endgültigen Fassung war nur von Völkern (peoples), nicht dagegen von Nationen (nations) die Rede. Damit sind alle Mißverständnisse, daß unter Nationen Staatsvölker gemeint sein könnten, ausgeräumt worden. Aus der Formulierung geht eindeutig hervor, daß die Völker, und zwar "alle Völker", als Träger des Selbstbestimmungsrechts anzusehen sind, während die Staaten die Adressaten bilden. Die Sowjetunion hat an der Festlegung des Selbstbestimmungsrechts im Artikel 1 der beiden Menschenrechtskonventionen wesentlichen Anteil gehabt. Sie leistete aber sofort Widerstand, als von der Menschenrechtskommission auf ihrer Genfer Tagung am 15. April 1953 mit 15 gegen 3 Stimmen eine Resolution angenommen wurde, die nach Inkrafttreten der Konvention die Schaffung eines Menschenrechtskomitees von 9 Mitgliedern zur überwachung der Einhaltung der Menschenrechte vorsah 22 • Die Sowjetunion, die Ukrainische SSR und Polen machten gegen den Beschluß, der eine Verwirklichung der Menschenrechte (einschließlich des Gruppenrechts der nationalen Selbstbestimmung) sichern sollte, geltend, daß die Tätigkeit des Komitees die Souveränität der Staaten verletzen würde. Auch die Bildung einer vom Wirtschafts- und Sozialrat der Vereinten Nationen vorgeschlagenen und von den Westmächten befürworteten "Ad Hoc-Commission on Self-Determination" ist hauptsächlich am Widerstand der Sowjetunion und der anderen Ostblockstaaten gescheitert23 • Auf der anderen Seite hielt dies die Sowjetunion in keiner Weise davon ab, gleichzeitig die totale Beseitigung des Kolonialregimes in der Welt ohne die geringste Rücksicht auf die Souveränitätsrechte anderer Staa22 Vgl. Goodman, a.a.O., S. 98 ff.; Decker, a.a.O., S. 209; H. Meyer-Lindenberg: Die Bemühungen der Vereinten Nationen um eine Kodifikation der Menschenrechte, Festschrift Laun, Göttingen 1962, S. 306. 23 Vgl. Goodman, a.a.O., S. 103/4 und die entsprechenden Stellungnahmen der Vertreter der Ukrainischen und Weißrussischen SSR im 3. Komitee der XIII. Vollversammlung im November 1958, General Assembly, Official Records (13th session) Third Committee, Summary Records of Meetings, S. 261; 269/270. Der jugoslawische Vertreter befürwortete eine Untersuchung der mit dem Selbstbestimmungsbegriff verbundenen Grundsatzfragen durch die Rechtskommission der Vereinten Nationen.
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ten zu fordern. Die entsprechende Forderung ist vom sowjetischen Partei- und Regierungschef Chruschtschow am 23. September 1960 auf der XV. Tagung der Vollversammlung der Vereinten Nationen erhoben worden 24. Der von sowjetischer Seite eingebrachte Entwurf einer "Deklaration über die Gewährung der Unabhängigkeit an die kolonialen Länder und Völker"25 löste eine ausführliche Debatte in der Vollversammlung aus. In ihrem Verlauf ist vom damaligen kanadischen Premierminister Diefenbaker in besonders eindringlicher Form darauf hingewiesen worden, daß Sowjet-Rußland als das größte Kolonialreich der Welt in keiner Weise legitimiert sei, als Vorkämpfer für das Selbstbestimmungsrecht und gegen den Kolonialismus aufzutreten2t • Die Debatte wurde mit einer Resolution der Vollversammlung vom 14. Dezember 1960 über Kolonialismus und Selbstbestimmungsrecht mit 80 zu 0 Stimmen (bei 9 Enthaltungen) angeschlossen27• Ihr lag ein Kompromißvorschlag· der afro-asiatischen Staatengruppe zugrunde, der in stärkerem Maße das Selbstbestimmungsrecht als ein für alle Völker verbindliches Prinzip herausstellte. In der Präambel der Resolution wurde erklärt, daß "alle Völker ein unveräußerliches Recht auf völlige Freiheit, Ausübung ihrer Gebietshoheit und Unverletzlichkeit ihres nationalen Gebiets besitzen". In den im Anschluß an die Präambel aufgeführten sieben Punkten ist die Betonung des universellen Charakters des Selbstbestimmungsrechts (Ziff. 2), die Verurteilung jeder nationalen Unterdrückung und Fremdherrschaft (Ziff. 1) sowie der völligen Aufspaltung der nationalen Einheit und territorialen Integrität eines Landes (Ziff. 6) besonders hervorzuheben. Am 16. Dezember 1966 sind die Konventionen über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte sowie bürgerliche und politische Rechte von der Vollversammlung der Vereinten Nationen einstimmig angenommen worden. Damit hatten die zwölf jährigen Bemühungen des dritten Hauptausschusses der Vollversammlung der Vereinten Nationen um die Annahme der beiden Weltpakte und des Fakultativprotokolls zu einem Erfolg geführt28. 24
Zum Wortlaut der Chruschtschow-Rede vgl. Pravda vom 24. September
1960; deutsche "übersetzung, Die Presse der Sowjetunion vom 30. September 1960, Nr. 115, S. 2527. 25 Wortlaut: Pravda vom 27. September 1960; deutsche "übersetzung, Die Presse der Sowjetunion vom 5. Oktober 1960, Nr. 1l7, S. 2587. Vgl. hierzu auch
V. 1. Lisovskij: Mezdunarodnoe pravo i XV sessija Generalnoj Assamblij OON (Das Völkerrecht und die XV. Tagung der Vollversammlung der UNO), Moskau 1961. 28 Vgl. Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung vom 15. Oktober 1960, Nr. 195, S. 1881. 27 Dok. A/RES/1514 XV; englischer Text, Menzel, a.a.O., S. 285/6; auszugsweise deutsche übersetzung, Neue Zeit, 1960, Nr. 52, S. 2.
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An der Formulierung des Selbstbestimmungsrechts, das als alleiniger Artikel 1 des Kapitels I der beiden Menschenrechtskonventionen aufgeführt wurde, hat sich seit 1955 nichts geändert. III. Das Selbstbestimmungsprinzip in der UN-Deklaration über "freundschaftliche Beziehungen" Trotz der Unterstreichung des normativen Charakters des Selbstbestimmungsrechts durch seine Aufnahme in die beiden Weltpakte und der Anerkennung seiner weltweiten Geltung, ließ sich von vornherein nicht übersehen, daß die einzelnen Staaten, die den beiden Menschenrechtskonventionen beitraten, den Wortlaut des Artikel 1 verschieden auslegten. Dies ist aus einer Zusammenstellung der verschiedenen Auffassungen indem Dokument A/2929, das vom Generalsekretär 1955 der X. Tagung der Vollversammlung der Vereinten Nationen zugeleitet wurde, deutlich zu ersehen gewesen. Daher ist es von besonderer Bedeutung gewesen, daß das Selbstbestimmungsrecht vor dem Anfang 1976 erfolgten Inkrafttreten der beiden Menschenrechtskonventionen noch bei zwei Anlässen ausführlich diskutiert und als völkerrechtliches Prinzip bestätigt wurde. Dies geschah erstens in Verbindung mit der "Deklaration über die völkerrechtlichen Prinzipien betreffend die freundschaftlichen Beziehungen und die Zusammenarbeit zwischen den Staaten in Übereinstimmung mit der Charta der Vereinten Nationen", die von der Vollversammlung der Vereinten Nationen am 24. Oktober 1970 angenommen wurde 2D • Zweitens erfolgte dies im Rahmen der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE), die mit der Verabschiedung der Schlußakte durch die Gipfelkonferenz in Helsinki am l. August 1975 ihren Abschluß fand 30• Den Ausgangspunkt beider Dokumente bildete der Wunsch der Sowjetunion eine Kodifizierung der Grundsätze der "friedlichen Koexi28 Vgl. H. Guradze: Der Stand der Menschenrechte im Völkerrecht, Göttingen 1956, S. 132 ff.; derselbe: Die Menschenrechtskonventionen der Vereinten Nationen, Jb. f. Internationales Recht, 15. Bd., 1970, S. 242 f. ID Vgl. B. Graf zu Dohna: Die Grundprinzipien des Völkerrechts über die freundschaftlichen Beziehungen und die Zusammenarbeit zwischen den Staaten, Berlin (West) 1973; F. Ermacora: Die Selbstbestimmung im Lichte der UN-Deklaration betreffend die völkerrechtlichen Grundsätze über die freundschaftlichen Beziehungen und die Zusammenarbeit zwischen den Staaten entsprechend der Charta, in: Festschrift für Rudolf von Laun zu seinem neunzigsten Geburtstag, Internationales Recht und Diplomatie, Jg. 1972, Köln 1973, S. 55 ff. 30 Vgl. H. Volle, W. Wagner (Hrsg.): KSZE Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, Bonn 1976; B. Meissner (Hrsg.): Oststaaten und europäische Sicherheit 1972 - 1975, Internationales Recht und Diplomatie, Jahrgang 1975/1976.
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stenz" zu erreichen, die von sowjetischer Seite als die Grundlage des allgemeinen Völkerrechts angesehen wird31 • Die UN-Deklaration über die "freundschaftlichen Beziehungen"S2 weist in ihrer endgültigen Fassung sieben Prinzipiep auf. Das Selbstbestimmungsrecht der Völker bildet dabei zusammen mit der Gleichberechtigung das fünfte Prinzip. Der entsprechende Abschnitt hat folgenden Wortlaut33 : "Auf Grund des in der Charta verankerten Prinzips der Gleichberechtigung und des Selbstbestimmungsrechts der Völker haben alle Völker das Recht, völlig frei und ohne Einmischung von außen über ihren politischen Status zu entscheiden und ihre wirtschaftliche, soziale und kulturelle Entwicklung zu gestalten, und jeder Staat ist verpflichtet, dieses Recht in übereinstimmung mit den Bestimmungen der Charta zu achten. Jeder Staat hat die Pflicht, sowohl gemeinsam mit anderen Staaten als auch einzeln die Verwirklichung des Prinzips der Gleichberechtigung und des Selbstbestimmungsrechts der Völker in übereinstimmung mit der Charta zu fördern und die Organisation der Vereinten Nationen dabei zu unterstützen, die Verpflichtungen zu erfüllen, die ihr von der Charta zur Verwirklichung dieses Prinzips auferlegt werden, um a) freundschaftliche Beziehungen und die Zusammenarbeit zwischen den Staaten zu fördern und b) dem Kolonialismus unter gebührender Berücksichtigung des frei geäußerten Willens der betreffenden Völker unverzüglich ein Ende zu bereiten; sowie unter Berücksichtigung dessen, daß die Unterwerfung von Völkern unter fremdes Joch, Fremdherrschaft und fremde Ausbeutung sowohl eine Verletzung dieses Prinzips als auch eine Mißachtung der Grundrechte des Menschen darstellt und der Charta der Vereinten Nationen widerspricht. Jeder Staat hat die Pflicht sowohl gemeinsam mit anderen Staaten als auch einzeln die allgemeine Achtung und Wahrung der Menschenrechte und Grundfreiheiten in übereinstimmung mit der Charta zu fördern. 31 Vgl. M. Wendte: Die friedliche Koexistenz und die Vereinten Nationen, Kölner Diss. 1971; B. Meissner: Die Sicherheitsvorstellungen der Sowjetunion und die Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, in: Oststaaten und europäische Sicherheit 1972 - 1975, a.a.O., S. 25 ff. 31 Die Deklaration ist mit Resolution A/2625 (XXV) angenommen worden; deutsche Übersetzung, in: Völkerrecht. Dokumente. Teil 3, BerUn (Ost) 1973, S. 1165 ff. 33 Ebenda, S. 1172 ff.
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Die Gründung eines souveränen und unabhängigen Staates, die freie Vereinigung mit einem oder die freie Integration in einen unabhängigen Staat oder die Erringung irgendeines anderen durch ein Volk frei bestimmten politischen Status stellen für dieses Volk Mittel der Verwirklichung seines Rechts auf Selbstbestimmung dar. Jeder Staat hat die Pflicht, sich jedweder Gewaltmaßnahmen zu enthalten, die die oben in der Ausarbeitung dieses Prinzips erwähnten Völker ihres Rechts auf Selbstbestimmung, auf Freiheit und auf Unabhängigkeit berauben. Bei ihren Aktionen und ihrem Widerstand gegen solche Gewaltmaßnahmen in Ausübung ihres Rechts auf Selbstbestimmung sind die Völker berechtigt, in übereinstimmung mit den Zielen und Prinzipien der Charta der Vereinten Nationen um Unterstützung nachzusuchen und diese zu erhalten. Das Territorium einer Kolonie oder eines anderen nicht selbständigen Gebiets besitzt in übereinstimmung mit der Charta einen Status, der sich von dem des Territoriums des Staates deutlich unterscheidet, von dem es verwaltet wird; dieser eindeutig unterschiedliche Status besteht in übereinstimmung mit der Charta so lange, bis das Volk der Kolonie oder des nicht selbständigen Gebietes sein Recht auf Selbstbestimmung in übereinstimmung mit der Charta der Vereinten Nationen und insbesondere mit ihren Zielen und Prinzipien wahrnimmt. Keine Bestimmung der vorstehenden Paragraphen ist als Ermächtigung oder Ermunterung zu irgendeiner Handlung aufzufassen, die die territoriale Integrität oder die politische Einheit souveräner und unabhängiger Staaten teilweise oder vollständig zerstören oder beeinträchtigen würde, die sich von dem oben beschriebenen Prinzip der Gleichberechtigung und des Selbstbestimmungsrechts der Völker leiten lassen und folglich eine Regierung besitzen, die das ganze Volk des Territoriums ohne Unterschied der Rasse, des Glaubens und der Hautfarbe vertritt. Alle Staaten sollen sich jedweder Handlung enthalten, die auf die teilweise oder vollständige Zerstörung der nationalen Einheit und der territorialen Integrität eines anderen Staates oder Landes gerichtet ist." Die Deklaration trägt nach Ermacora mit ihrer größeren Variationsbreite in mancherlei Hinsicht zu einer Klarstellung des Selbstbestimmungsrechts bei34 • Im Absatz 1 wird die Selbstbestimmung wie im Artikel 1 der beiden Menschenrechtskonventionen von der subjektiven Seite gesehen. Im Absatz 2 wird auf die Verpflichtung der Staaten hingewiesen, die Verwirklichung des Selbstbestimmungsrechts zu fördern. In der Unterjochung von Völkern unter einer Fremdherrschaft, ihrer 34
Vgl. Ermacora, a.a.O., S. 60 ff.
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Unterdrückung und Ausbeutung wird nicht nur eine Verletzung des Selbstbestimmungsprinzips, sondern auch eine Mißachtung der Menschenrechte gesehen. Im Anschluß daran wird auf die einzelnen Erscheinungsformen des Selbstbestimmungsrechts eingegangen und die Staaten verpflichtet, sich jeder Zwangsmaßnahme zu enthalten, die den Völkern das Recht auf Selbstbestimmung, Freiheit und Unabhängigkeit vorbehält. Andernfalls steht den unterdrückten Völkern neben einem Widerstandsrecht ein Anspruch auf Unterstützung von außen zu. Die weiteren Ausführungen lassen erkennen, daß sich die Deklaration nicht nur zur Selbstbestimmung als Statusentscheid, sondern auch zur Selbstbestimmung als wiederholbaren Akt bekennt. Eine Bestandsgarantie der staatlichen Souveränität wird in der Deklaration im Grunde genommen nur bei einer demokratischen Legitimation als gegeben angesehen. Wichtig ist auch die Wiederholung der bereits in der UN-Resolution vom 14. Dezember 1960 getroffenen Feststellung, nach der Handlungen von Staaten, welche die teilweise oder vollständige Zerstörung der nationalen Einheit oder der territorialen Integrität eines anderen Staates oder Landes zum Ziel haben, verboten sind. Eine Reihe von Unklarheiten werden durch die Ausführungen in der Deklaration nicht beseitigt. Dazu gehört die Frage, was unter dem "Volk" als Subjekt des Selbstbestimmungsrechts zu verstehen ist. IV. Das Selbstbestimmungsprinzip in der KSZE-Schlußakte In der sowjetischen Völkerrechts doktrin ist das Selbstbestimmungsrecht der Völker als einer der Grundsätze der "friedlichen Koexistenz", die über die "Fünf Prinzipien" hinausführten, immer besonders betont worden35• Um so verwunderlicher war es, daß sich die Sowjets bei den Vorverhandlungen über die KSZE in Helsinki anfangs sträubten, nicht nur die Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten, sondern auch das Selbstbestimmungsrecht der Völker in den "Prinzipienkatalog" der KSZE aufzunehmen. Auch nachdem es feststand, daß diese Position nicht durchzuhalten war, sind die Sowjets in dem am 4. Juni 1973 auf der Außenministerkonferenz in Helsinki vorgelegten Deklarationsentwurf S6 bestrebt gewesen, den Begriff "Selbstbestimmungsrecht der Völker" zu vermeiden. Es wurde unter Voranstellung der Gleichberechtigung als das "Recht der Völker" umschrieben, "über ihr Schicksal selbst zu entscheiden". Jedes Volk habe das Recht, "eine solche Gesellschafts35 Vgl. B. Meissner, A. Uschakow (Hrsg.): Probleme der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, Berlin (West) 1975, S. 48 ff. 38 Wortlaut: Oststaaten und europäische Sicherheit 1972 -1975, a.a.O., S.
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ordnung zu errichten und eine solche Form der Regierung zu wählen, wie es für die Gewährleistung der ökonomischen, sozialen und kulturellen Entwicklung ihres Landes für zweckmäßig und notwendig hält". Sehr viel eindeutiger ist in Entwürfen von jugoslawischer und von französischer Seite zum Selbstbestimmungsrecht der Völker Stellung bezogen worden. Im jugoslawischen Deklarationsentwurf vom 5. Juli 197537 wurde nicht nur der Begriff des Selbstbestimmungsrechts gebraucht, sondern auch seine universelle Bedeutung hervorgehoben, mit der "jede Form der Unterjochung oder mit dem Willen der betreffenden Völker im Widerspruch stehenden Unterordnung" unvereinbar sei. Im Anschluß daran wurde folgende Formulierung des Selbstbestimmungsprinzips vorgeschlagen: "Sie werden das Recht eines jeden Volkes beachten, frei seinen politischen Status zu wählen sowie unabhängig und ohne äußere Einmischung seine politische, wirtschaftliche und kulturelle Entwicklung zu verfolgen. Sie werden sich jeder Gewalt oder anderer Handlungen enthalten, welche einem Volk Gleichberechtigung oder das Selbstbestimmungsrecht streitig machen." Im französischen Entwurf der Prinzipienerklärung vom 14. Oktober 197338 , der die Auffassung der EG-Staaten wiedergab, wurde zwischen dem inneren und äußeren Aspekt des Selbstbestimmungsrechts unterschieden und die Nichteinmischungsforderung ebenso wie im jugoslawischen Entwurf besonders betont. Die vorgeschlagene Formulierung lautete: "Die Teilnehmerstaaten erinnern daran, daß gemäß der UN-Charta die Entwicklung der freundschaftlichen Beziehungen unter den Nationen auf der Achtung des Prinzips der Gleichberechtigung und des Selbstbestimmungsrechts der Völker beruht. Kraft dieses Prinzips haben alle Völker das Recht, ihren inneren und äußeren politischen Status in völliger Freiheit und ohne äußere Einmischung zu bestimmen und ihre wirtschaftliche, soziale und kulturelle Entwicklung fortzusetzen, und alle Staaten haben die Pflicht, dieses Recht zu achten. Die Teilnehmerstaaten sind der Auffassung, daß die Achtung dieser Prinzipien ihre Beziehungen leiten muß, wie dies kennzeichnend für die Beziehungen zwischen allen Staaten sein muß." Die Aufnahme des Selbstbestimmungsrechts der Völker als achtes Prinzip in die "Erklärung über die Prinzipien, die die Beziehungen der Wortlaut: Ebenda, S. 221 fi. Wortlaut: KSZE. Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, a.a.O., S. 233 ff. 37
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Teilnehmerstaaten" leiten, ist bereits auf der Außenministerkonferenz der KSZE beschlossen worden. Es bedurfte langwieriger Verhandlungen auf der Expertenkonferenz in Genf bis es gelang, eine Einigung über die endgültige Formulierung der Prinzipienerklärung zu erreichen, die nach Billigung durch die Gipfelkonferenz in Helsinki als erster Teil in die Schlußakte der KSZE vom 1. August 197539 aufgenommen wurde. Das achte Prinzip, das sich auf die Gleichberechtigung und das Selbstbestimmungsrecht der Völker bezieht, lautet jetzt: "Die Teilnehmerstaaten werden die Gleichberechtigung der Völker und ihr Selbstbestimmungsrecht achten, indem sie jederzeit in übereinstimmung mit den Zielen und Grundsätzen der Charta der Vereinten Nationen und den einschlägigen Normen des Völkerrechts handeln, einschließlich jener, die sich auf die territoriale Integrität der Staaten beziehen. Kraft des Prinzips der Gleichberechtigung und des Selbstbestimmungsrechts der Völker haben alle Völker jederzeit das Recht, in voller Freiheit, wann und wie sie es wünschen, ihren inneren und äußeren politischen Status ohne äußere Einmischung zu bestimmen und ihre politische und wirtschaftliche, soziale und kulturelle Entwicklung nach eigenen Wünschen zu verfolgen. Die Teilnehmerstaaten bekräftigen die universelle Bedeutung der Achtung und der wirksamen Ausübung der Gleichberechtigung und des Selbstbestimmungsrechts der Völker für die Entwicklung freundschaftlicher Beziehungen zwischen ihnen sowie zwischen allen Staaten; sie erinnern auch an die Bedeutung jeglicher Form der Verletzung dieses Prinzips." Die Formulierung des zweiten Absatzes des achten Prinzips steht im Einklang mit der Definition des Selbstbestimmungsrechts der Völker im Art. 1 der UN-Konventionen für Menschenrechte von 1966. Diesen Weltpakten kommt seit ihrem Inkrafttreten völkerrechtlich eine stärkere Verbindlichkeit als der UN-Deklaration über "freundschaftliche Beziehungen" und der KSZE-Schlußakte zu. Die Bedeutung der Aufnahme des Selbstbestimmungsrechts der Völker in die Prinzipienerklärung der KSZE sollte trotzdem nicht unterschätzt werden, obwohl sie nur deklaratorischer Natur ist. Sie liegt vor allem darin, daß auf diese Weise die Geltung des Selbstbestimmungsrechts für alle Völker Europas und damit erneut sein universeller Charakter besonders betont wird. Dies ist· vor allem wichtig für jene europäischen Völker, die ihre staatliche Unabhängigkeit gewaltsam eingebüßt haben 30
Wortlaut: Ebenda, S. 23,7 ff.
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oder gegen ihren Willen geteilt worden sind. Ihnen bietet sich damit im verstärkten Maße die Möglichkeit, ihren Anspruch auf die Bestimmung ihres inneren und äußeren politischen Status in voller Freiheit zu erheben und im übergang den Schutz aller jener Rechte zu beanspruchen, die heute jedem Volk im Rahmen eines Völkerrechts zustehen, das dabei ist, den allgemeinen Menschenrechten einen gebührenden Platz im Rahmen einer fortbestehenden "Intersouveränitätsordnung" einzuräumen. Durch die Aufnahme des Prinzipienkatalogs der KSZE in den außenpolitischen Teil der neuen Bundesverfassung der UdSSR haben die zehn Prinzipien, unter denen jetzt der Gewaltverzicht vor dem Souveränitätsprinzip aufgeführt wird, eine zusätzliche verfassungsrechtliche Verbindlichkeit für die Sowjetunion erlangt. Auffallend ist, daß die sowjetische Seite auch jetzt wieder bestrebt gewesen ist, beim achten Prinzip den Begriff "Selbstbestimmungsrecht der Völker" zu vermeiden und ihn im Sinne des sowjetischen Deklarationsentwurfs vom 4. Juni 1973 zu umschreiben. An der normativen Bedeutung des Selbstbestimmungsrechts der Völker können diese Formulierungskünste nichts ändern. Sie lassen aber erkennen, wie brisant die Nationalitätenfrage in der Sowjetunion und darüber hinaus das Streben der osteuropäischen Völker nach nationaler Selbstbestimmung ist. V. Grundzüge der sowjetischen Selbstbestimmungskonzeption Unter Berücksichtigung der Entwicklung, die zu einer immer stärkeren Verrechtlichung des Selbstbestimmungsprinzips führen sollte, dürfte der normative Charakter des Selbstbestimmungsrechts der Völker heute kaum zu bestreiten sein. Es besteht andererseits kein Zweifel darüber, daß das moderne Völkerrecht weiterhin in erster Linie auf dem Souveränitätsprinzip beruht. Zwischen dem Souveränitätsprinzip und dem Selbstbe,stimmungsrecht der Völker besteht ein natürliches Spannungsverhältnis, das immer wieder Konflikte hervorrufen wird. Dies gilt vor allem in den Fällen, wo die Frage, wer als Subjekt des Selbstbestimmungsrechts anzusehen ist, nicht eindeutig beantwortet werden kann. Geblieben ist auch die unterschiedliche Einstellung zum Selbstbestimmungsprinzip in Ost und West40 • Jede Berufung auf das Selbstbestimmungsrecht setzt daher die Kenntnis der unterschiedlichen Selbstbestimmungskonzeptionen voraus. 40 Vgl. H.-H. Mahnke: Die Prinzipienerklärung der KSZE-Schlußakte und das Völkerrecht - Völkerrechtliche Aspekte der deutschen Frage - Teil 2; Recht in Ost und West, 21. Jg., 1977, S. 122.
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Im folgenden ist auf die sowjetische Selbstbestimmungskonzeption näher einzugehen, da ihr auf der östlichen Seite eine zentrale Bedeutung zukommt. Sie ist in einer engen Verbindung mit der außenpolitischen Theorie des Marxismus-Leninismus zu sehen, wie sie von Lenin entwickelt worden ist41 • Sie bildet im Hinblick auf das Selbstbestimmungsprinzip trotz aller inzwischen stattgefundenen Wandlungen die ideologische Grundlage der sowjetischen Völkerrechtsdoktrin. Wenn Lenin dem Selbstbestimmungsrecht der Völker bereits früh eine starke Beachtung schenkte, so lag dies einerseits in dem besonderen Charakter Rußlands als einem Vielvölkerstaat, andererseits in der bedeutsamen Funktion begründet, die von ihm der "nationalen Frage" im Rahmen seiner "Imperialismustheorie" zugewiesen wurde. Das Nationale stellt für Lenin ebenso wie die proletarische Staatlichkeit nur eine übergangsform zu der von ihm angestrebten "klassenlosen Gesellschaft" dar, in der es weder politische Herrschaftsorganisationen noch soziale Gruppen und nationale Individualitäten geben soll. Trotzdem ist sein Bekenntnis zu einem allgemein geltenden Selbstbestimmungsrecht der Völker nicht nur taktisch gemeint. Wenn das Nationale eine notwendige Zwischenstufe auf dem Wege zum Endziel darstellt, kommt der Bindung an das Selbstbestimmungsprinzip in der ganzen übergangsperiode eine rechtliche und nicht nur politische Bedeutungzu. Die Verwirklichung der nationalen Selbstbestimmung bildet nach Lenin die entscheidende Voraussetzung für die von ihm angestrebte soziale Selbstbestimmung in einem kommunistischen Sinn. Das Subjekt des Selbstbestimmungsrechts ist für Lenin die Gesamtnation und nicht etwa die Arbeiterklasse, wie dies unter anderem von Bucharin behauptet worden ist. Maßgebend für den sowjetischen Nationsbegriff ist dabei die Definition, die von Stalin im Jahre 1913 entwickelt worden ist42 • Sie ging von vier objektiven Merkmalen der Nation aus: 1. Sprachgemeinschaft, 2. gemeinsames Territorium, d. h. geschlossenes Siedlungsgebiet, 3. gemeinsames Wirtschaftsleben und 4. Kulturgemeinschaft, die durch eine bestimmte psychische Wesensart bestimmt ist. Wichtig ist, daß Stalin in übereinstimmung mit Lenin die Hinzuziehung eines fünften Merkmals, nämlich des Staates, ausdrücklich abgelehnt hat.
Die Nation ist nach sowjetischer Auffassung auch ohne Staat existent und besitzt die "nationale Souveränität". Ihr steht aufgrund des Selbst41 42
9'
Vgl. Meissner, Sowjetunion und Selbstbestimmungsrecht, a.a.O., S. 32 ff. Ebenda, S. 47.
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bestimmungs rechts der Völker der Anspruch auf ihren eigenen Staat, der mit staatlicher Souveränität ausgestattet ist, zu. Lenin versteht unter dem Selbstbestimmungsrecht vor allem die politische Selbstbestimmung, d. h. das Recht auf Sezession und die Bildung eines eigenen unabhängigen Nationalstaates. Daneben umfaßt es die "unbedingte Gleichberechtigung aller Nationen im Staat" und "den unbedingten Schutz der Rechte einer jeden nationalen Minderheit". Stalin hat 1913 diese vier Elemente zu einer Begriffsbestimmung zusammengefaßt. Nach seiner Definition bedeutet das Recht auf Selbstbestimmung 43 : "Die Nation kann sich nach eigenem Gutdünken einrichten. Sie hat das Recht, ihr Leben nach den Grundsätzen der Autonomie einzurichten. Sie hat das Recht, mit anderen Nationen in föderative Beziehungen einzutreten. Sie hat das Recht, sich gänzlich loszutrennen. Die Nation ist souverän, und alle Nationen sind gleichberechtigt." Diese Definition wird noch heute mit Vorliebe in der sowjetischen Staats- und Völkerrechtslehre verwandt. Aus ihr läßt sich neben dem Sezessionsrecht ein Recht auf Selbstregierung im Rahmen einer föderativen Staatsordnung entnehmen. Diese Begriffsbestimmung zeigt, daß das Sezessionsrecht zwar den Kern des sowjetischen Selbstbestimmungsbegriffs bildet, daß dieser aber weiter gefaßt ist. Die sowjetische Definition läßt so bei aller ihrer ideologischen Begrenzung erkennen, daß es sich bei dem Selbstbestimmungsrecht um ein vielschichtiges Gebilde handelt, das sowohl dem innerstaatlichen Recht als auch dem Völkerrecht angehört. Bei der Bestimmung des Inhalts und damit des Gegenstandes des Selbstbestimmungsrechts legt die sowjetische Völkerrechtslehre einerseits den Lenin-Stalinschen Selbstbestimmungsbegriff, andererseits die entsprechenden Dokumente der Vereinten Nationen zugrunde44 • Im Einklang mit dem Selbstbestimmungsartikel (Art. 1) der UN-Menschenrechtskonventionen von 1966 geht die sowjetische Völkerrechtslehre J. StaUn: Werke, Bd. 2, S. 283. Zum sowjetischen Schrifttum über das Selbstbestimmungsrecht der Völker vgl. neben den Literaturhinweisen bei Meissner, Sowjetunion und Selbstbestimmungsrecht, a.a.O., S. 113 ff. an neueren Arbeiten: D. B. Levin: Princip samoopredelenija nacij v mezdunarodnom prave (Das Prinzip der Selbstbestimmung der Nationen im Völkerrecht), Sovetskij ezegodnik mezdunarodnogo prava (Sowjetisches Jahrbuch für Internationales Recht) - abgekürzt: SEMP - 1962, Moskau 1963, S. 25 ff.j N. M. Minasjan: Leninskoe ul:!enie 0 samoopredelenija nacii i mezdunarodnoe pravo (Die Leninsche Lehre über die Selbstbestimmung der Völker und das Völkerrecht), SEMP 1970, Moskau 1972, 43
44
S. 29 ff.
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davon aus, daß das moderne Selbstbestimmungsrecht der Völker die folgenden vier Normgruppen umfaßt: 1. das Recht auf Bestimmung des politischen Status; 2. das Recht auf Bestimmung des wirtschaftlichen Status; 3. das Recht auf Bestimmung des sozialen Status; 4. das Recht auf Bestimmung des kulturellen Status.
Diese Normgruppen sind gemäß der sowjetischen Konzeption durch den Anspruch auf Existenzsicherung und Beseitigung der Fremdherrschaft zu ergänzen. a) Der politische Status weist nach sowjetischer Auffassung eine äußere und eine innere Seite auf. In dem einen Fall ist die staatliche Unabhängigkeit, im anderen die innere Staatsordnung der Gegenstand des Selbstbestimmungsrechts. In der Frage des subjektiven Rechts eines Volkes auf Eigenstaatlichkeit bestehen in der Völkerrechtswissenschaft selbst dort Zweifel, wo das Selbstbestimmungsrecht als ein Grundsatz des Völkerrechts und nicht nur als eine politisch-ethische Maxime angesehen wird. Die sowjetische Völkerrechtslehre läßt sich durch diese Zweifel wenig beeindrukken. Sie vertritt den Standpunkt, daß die Völkerrechtssubjektivität in jedem Fall bei Nationen gegeben ist, die um ihre Staatlichkeit kämpfen, wobei nur ein Mindestmaß von Organisiertheit vorausgesetzt wird. Der Anspruch auf Völkerrechtssubjektivität steht auf Grund des Selbstbe"" stimmungsrechts auch der Nation zu und nicht etwa nur dem in der Bildung begriffenen Staat45 • Im Einklang mit Lenin ist die sowjetische Völkerrechtslehre der Auffassung, daß die Entscheidung über den mit dem Selbstbestimmungsrecht geltend gemachten Rechtsanspruch allein dem berechtigten Volke zukommt. Jede Beeinflussung von außen gilt als rechtswidrig. Nach sowjetischer Auffassung hat jede Nation das Recht, ihre innere Staatsordnung, d. h. das politische und ideologische System, die Staatsund Regierungsform, die Staatsverwaltung und die Staatsgrenzen selbst zu bestimmen. Das gleiche gilt für die Gestaltung der Innen- und Außenpolitik. Die politische Selbstbestimmung ist nach sowjetischer Auffassung erst dann vollkommen verwirklicht, wenn eine übereinstimmung der Staatsund Volkssouveränität vorliegt. Diese übereinstimmung läßt sich gemäß der Sowjetideologie in vollem Umfange nur unter kommunistischen Vorzeichen erreichen. 46 Vgl. H.-H. Mahnke, Die Nation als Völkerrechtssubjekt. Sowjetische Auffassungen, Jb. für Ostrecht, Bd. VIII, 1. Hjb., 1967, S. 7 ff.
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b) Der wirtschaftliche Status ist in der sowjetischen Konzeption als Gegenstand des Selbstbestimmungsrechts aufs engste mit dem politischen Status verbunden. Er weist ebenfalls eine äußere und innere Seite auf. Die politische Unabhängigkeit einer Nation wird nur im Falle der gleichzeitigen wirtschaftlichen Unabhängigkeit als voll gewährleistet angesehen. Die Entscheidung über die Wirtschaftsordnung steht nach sowjetischer Auffassung nur der Nation selbst zu. Sie kann alle Maßnahmen (Verstaatlichung usw.) ergreifen, die sie für richtig hält. Die wirtschaftliche Nutzung der Bodenschätze eines Landes steht, vorbehaltlich der sich aus der wirtschaftlichen Zusammenarbeit ergebenden Verpflichtungen, nach sowjetischer Auffassung ebenfalls ausschließlich dem berechtigten Volk zu. Dieses besitzt über sie gemäß dem wirtschaftlichen Selbstbestimmungsrecht die volle Verfügungsgewalt. c) Der soziale Status wird aus ideologischen Gründen als genauso wichtig angesehen wie der politische und wirtschaftliche. Auch in diesem Falle werden das soziale System und die Gesellschaftsordnung allein durch das jeweilige Volk bestimmt. d) Der kulturelle Status und die "Lebensweise eines Volkes" sind in der sowjetischen Konzeption eng miteinander verbunden. Die "kulturelle Selbstbestimmung" betrifft die kulturelle Ordnung sowie das Erziehungs- und Bildungswesen. Das "Recht auf freie Gestaltung der Lebensweise" ist z. B. von Chruschtschow des öfteren hervorgehoben worden. e) Die nationale Existenzsicherung stellt die Grundlage dar, auf der erst die Bestimmung des politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Status möglich ist. Dieser Existenzsicherung dienen sowohl die entsprechenden Bestimmungen der Unionsverfassung als auch der von der Sowjetunion ratifizierten Konvention über den Völkermord vom 9. Dezember 1948. Durch diese Konvention wird das Genocid zu einem internationalen Verbrechen erklärt, und werden die Signatarmächte zu seiner Bestrafung und Unterdrückung verpflichtet48 • Die Forderung auf nationale Existenz schließt auch das in der sowjetischen Völkerrechtslehre nicht gebräuchliche "Recht auf Heimat" ein, das sich aus der existentiellen Verbundenheit eines Volkes oder Volksteiles mit seiner Heimat47, von einigen Sonderfällen abgesehen, in na48 Vgl. Dahm, G.: Völkerrecht, Bd. I, Stuttgart 1958, S. 391. Durch die Konvention ist erstmalig ein Gruppenrecht mit normativer Wirkung begründet worden. Die Konvention ist allerdings von mehreren Signatarmächten bisher nicht ratifiziert worden. 47 Vgl. F. Klein: Heimatrecht im Völkerrecht, West-Ost-Berichte, März! April 1959, S. 66; R. Laun: Das Recht auf Heimat, Darmstadt 1951. Zum
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türlicher Weise ergibt. Diesem "Recht auf Heimat", das als Reflex des Selbstbestimmungsrechts der Völker und der allgemeinen Menschenrechte anzusehen ist, trägt mittelbar der Art. 49 des Genfer Abkommens zum Schutz der Bevölkerung, dem die Sowjetunion beigetreten ist, Rechnung48 • Auf Grund seiner Bestimmungen sind zwangsweise Einzel- oder Massenumsiedlungen sowie Deportationen aus dem besetzten Gebiet verboten. Die Besatzungsmacht darf auch nicht Teile ihrer Zivilbevölkerung in das von ihr besetzte Gebiet deportieren oder umsiedeln. Bei der Unterzeichnung des Abkommens am 12. August 1949 gab der sowjetische Delegationsleiter, General Slawin, dem sowjetischen Bedauern Ausdruck, daß "sich diese Konvention nicht auf die Zivilbevölkerung außerhalb des vom Feinde besetzten Gebietes erstreckt und daher nicht ganz den Forderungen der Menschlichkeit entspricht"49. Aus der engen Verbindung von Volk und Siedlungsgebiet und damit Selbstbestimmungsrecht und Heimatrecht erwächst der Anspruch der betroffenen Bevölkerung, im Falle von Gebietsabtretungen über das Schicksal ihrer Heimat zu entscheiden. Diese Auffassung wird von der sowjetischen Völkerrechtslehre geteilt, wenn sie auch den Begriff Heimatrecht nicht gebraucht. Das Annexionsverbot, das im modernen Völkerrecht das wichtigste Mittel zur Sicherung des Heimatrechts darstellt, wird 'von ihr gerade deswegen bejaht, weil es eine Verletzung des Selbstbestimmungsrechts darstellt. Unter dieser Verletzung kann aber nur die Beeinträchtigung oder Vernichtung der Existenz eines Volkes oder eines Volksteils verstanden werden. Insofern stellen auch Massenaustreibungen und Deportationen Verletzungen eines so verstandenen Selbstbestimmungsrechts dar. Die stalinistische Praxis der Teilung von Völkern, von Massenaustreibungen und Deportationen5o ist somit auch in sowjetischer Sicht als völkerrechtswidrig anzusehen, wenn die Wiedergutmachung des dadurch bewirkten Unrechts in der Sowjetunion selbst bisher nur teilweise erfolgt ist. Heimatbegriff vgl. K. Stavenhagen: Heimat als Lebenssinn, Göttingen 1946; der Begriff selbt ist dem sowjetischen Völkerrechtsdenken bisher fremd geblieben, obgleich "rodina" (Heimat) in den Vorstellungen des russischen Volkes einen hohen Rang einnimmt und tiefgehende ethische Verpflichtungen in sich schließt. 48 Vgl. K. Urbanek: Das Heimatrecht der deutsche Vertriebenen ein Anspruch des positiven Völkerrechts, Dortmund 1959, S. 35. (9 Urbanek, a.a.O., S. 57/58. 50 Vgl. R. Conquest: The Soviet Deportations of Nationalities London, 1960, S. 82 ff., 130 f.
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Mit der Vorstellung von der Bodenverbundenheit eines Volkes ist auch der von sowjetischer Seite so stark propagierte Gedanke, daß jedem Volk die volle Verfügungsgewalt über die Bodenschätze seines Siedlungsgebiets zustehen soll, verknüpft. f) Die Beseitigung der Fremdherrschaft ist neben der nationalen Existenzsicherung die Grundvoraussetzung für die volle Ausübung des Selbstbestimmungsrechts. Auf diese Tatsache hat kein anderer als Lenin ständig hingewiesen51 • Das Selbstbestimmungsrecht kann nach sowjetischer Auffassung auf drei Wegen verwirklicht werden: 1. durch eine Volksabstimmung;
2. durch eine nationale Befreiungsrevolution; 3. durch einen nationalen Befreiungskrieg. Im kolonialen Bereich wird den beiden letztgenannten Methoden der Vorrang gegeben. Plebiszit und Referendum werden dagegen im Bereich der enwickelten Länder im Einklang mit Lenin als die beiden Hauptformen angesehen, die eine "souveräne, genaue klare und freiwillige Willensäußerung" des Volkes ermöglichen würden. Das Selbstbestimmungsprinzip kann nach sowjetischer Auffassung auch "auf Grund der freien Willensäußerung der obersten Gesetzgebungsorgane" durchgeführt werden. Eine wesentliche Unterscheidung wird zwischen den einzelnen Formen der Wahlentscheidung nicht gemacht. Auch dort, wo Lenin und Stalin vom Referendum gesprochen haben, ist hauptsächlich das Plebiszit gemeint. Die Frage, ob der Bevölkerung eines Gebiets im Falle einer Gebietsabtretung ein Mitspracherecht zusteht, ist in der völkerrechtlichen Theorie und Praxis umstritten. Die sowjetische Völkerrechtslehre ist anderer Auffassung und weist dem völkerrechtlichen Plebiszit bei der Durchsetzung des Selbstbestimmungsrechts eine wesentlich umfassendere Aufgabe zu. Das Plebiszit wird nicht nur im Falle einer Zession, sondern auch bei den anderen derivativen Gebietserwerbsarten für notwendig gehalten. Nach sowjetischer Auffassung sind nur solche Gebietsveränderungen als völkerrechtlich einwandfrei und damit für die Völkerrechtsgemeinschaft verbindlich anzusehen, die im Einklang mit dem Selbstbestimmungsrecht, d. h. mit dem frei geäußerten Willen der betroffenen Bevölkerung erfolgt sind. 51
Vgl. W. I. Lenin: Ausgewählte Werke, Bd. I, S. 747.
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Die Annexion als die einseitige gewaltsame Aneignung fremden Staatsgebiets wird von den Sowjets als rechtswidrig angesehen, nicht weil sie gewaltsamen Charakter besitzt, sondern weil sie eine Verletzung des Selbstbestimmungsrechts darstellt52 • Dies wird in der deutschen Diskussion über die völkerrechtliche Bedeutung des Selbstbestimmungsrechts meist übersehen. Das gleiche gilt für die Ersitzung, d. h. den Gebietserwerb durch Zeitablauf und Duldung. Eine Ersitzung unter Verletzung des Selbstbestimmungsrechts ist nach sowjetischer Auffassung nicht zulässig. Das Selbstbestimmungrecht kann durch Massenaustreibungen nicht umgangen werden53• In übereinstimmung mit diesem Grundsatz ist von den Sowjets seit der Brest-Litowsker Friedenskonferenz stets die Rückkehr der Flüchtlinge und Emigranten in ihre alte Heimat gefordert worden, um an der Entscheidung über die Zukunft ihres Landes teilzunehmen. Auch die Zession, d. h. die Gebietsabtretung auf vertraglicher Grundlage, sowie die Zuteilung von Gebiet durch internationale Organe in Gestalt der Adjudikation setzt gemäß der sowjetischen Völkerrechtslehre die übereinstimmung mit dem Selbstbestimmungsrecht und damit eine Willensäußerung der betroffenen Bevölkerung voraus. Nach Auffassung der sowjetischen Völkerrechtlicher hat ein Gebietserwerb auf der Grundlage des Selbstbestimmungsrechts vor anderen Rechtstiteln den unbedingten Vorrang 54 • Geopolitische Begründungen von Gebietsveränderungen werden ebenso abgelehnt wie historische Argumente, wenn sie sich im Widerspruch zum Selbstbestimmungsrecht der Völker befinden. Historische Rechtstitel werden nur dann als gerechtfertigt angesehen, wenn es sich nicht um weit zurückliegende Gebietsansprüche handelt. Die Teilung eines Volkes ist vom sowjetischen Standpunkt in übereinstimmung mit Punkt 6 der UN-Resolution vom 14. Dezember 1960 und der entsprechenden Bestimmung in der Deklaration über die "freundschaftlichen Beziehungen" vom 24. Oktober 1970 in jedem Fall rechtswidrig. Erst recht müßte dies für die Teilung eines Nationalstaates gelten, die sowohl eine Verletzung des Selbstbestimmungsrechts als auch des Souveränitätsprinzips darstellt. In der sowjetischen Völkerrechtslehre wurde früher vom Selbstbestimmungsrecht der Nationen" (pravo nacij na samoopredelenie) gesprochen. Heute ist meist im Einklang mit der Satzung der Vereinten Nationen 52 Vgl. B. Meissner: Die sowjetische Stellung zur Annexion und zur Ersetzung, Internationales Recht und Diplomatie, 9. Jg., 1964, S. 96 ff. 53 Vgl. Ju. G. Barsegov: Territorija v meZdunarodnom prave (Das Territorium im Völkerrecht), Moskau 1958, S. 140 f. 54 Ebenda, S. 84 f.
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vom "Selbstbestimmungsrecht der Völker und Nationen" (pravo narodov i nacij na samoopredelenie) die Rede. Die Nation gilt weiterhin als Hauptträger des Selbstbestimmungsrechts. Die weiter gefaßte Formulierung der Vereinten Nationen in Verbindung mit der Begriffsbestimmung der UN-Menschenrechtskonventionen erleichtert es aber der sowjetischen Seite, das Volk im ethnographischen oder sozial-politischen Sinne als weiteren Träger des Selbstbestimmungsrechts heranzuziehen. Dies bietet den Sowjets die Möglichkeit, überall dort, wo es keine festumrissenen Volksindividualitäten als Grundlage der Nationsbildung gibt, vor allem im früheren oder jetzigen kolonialen Bereich, die jeweilige Bevölkerung eines bestimmten Territoriums, unabhängig von ihrem historischen Entwicklungsstand als ein Subjekt des Selbstbestimmungsrechts anzusehen 55 • Gefordert wird lediglich, daß diese Völker ein gemeinsames Gebiet sowie weitere Gemeinsamkeiten von geschichtlicher, kultureller, sprachlicher, religiöser oder anderer Art aufweisen würden und durch gemeinsame Ziele verbunden wären, die sie mit Hilfe des Selbstbestimmungsrechts erreichen wollen. Auch Völker, die aus mehreren Nationen, Völkerschaften oder nationalen Gruppen bestehen, können nach dieser Auffassung Träger des Selbstbestimmungsrechts sein. Da es sich im deutschen Fall eindeutig um eine Nation handelt, können diese überlegungen außer acht bleiben. Wichtiger ist der Ausgang der Diskussion über den Nationsbegriff, der von 1966 bis 1970 in der Sowjetunion stattfand und mit einer Bestätigung der Nationsdefinition Stalins endete58 • Die sowjetischen Lehrbücher des "Historischen Materialismus" und der "Theorie des wissenschaftlichen Kommunismus", ebenso wie die nationstheoretischen Veröffentlichungen gehen seitdem von der Begriffsbestimmung Stalins aus, ohne allerdings in den meisten Fällen seinen Namen zu erwähnen. Teilweise ist das Bestreben bemerkbar, im Sinne der während der Diskussion gemachten Vorschläge dennoch eine Änderung der Definition unter Hervorhebung des ökonomischen Elements herbeizuführen. Ein entsprechender Vorschlag findet sich bezeichnenderweise in der deutschen Ausgabe des 1974 von P. N. Fedossejew herausgegebenen Sammelbandes "Der Leninismus und die nationale Frage in der Gegenwart", nicht aber in der ursprünglichen russischen Originalausgabe. 65 Vgl. G. Starusenko: Nacija i gosudarstvo v osvoboZdajuscichsja stranach (Nation und Staat in den sich befreienden Ländern), Moskau 1967, S. 108. SB Vgl. B. Meissner: Entstehung, Fortentwicklung und ideologische Grundlage des sowjetischen Bundesstaates, in: F. C. Schroeder, B. Meissner: Bundesstaat und Nationalitätenrecht in der Sowjetunion, Berlin (West) 1974, S. 62 ff.
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VI. Die sowjetische Selbstbestimmungskonzeption und der Selbstbestimmungsanspruch der deutschen Nation Von den Sowjets ist seit 1955 die Theorie von den zwei voneinander völlig getrennten souveränen deutschen Staaten entwickelt worden. Zur völkerrechtlichen Rechtfertigung der unter Verletzung des Selbstbestimmungsprinzips erfolgten Teilung Deutschlands diente die Behauptung, daß die deutsche Nation in zwei eigenständige Völker, in zwei Nationen zerfallen sei, die verschiedenen Gesellschaftssystemen angehören würden 57• Infolgedessen sei auf beiden Seiten ihre "gesellschaftliche Selbstbestimmung" in unterschiedlichen staatlichen Formen verwirklicht worden. Diese These, die auch von Chruschtschow vor seinem Sturz vertreten wurde, haben sich bisher nur einzelne sowjetische Völkerrechtler zu eigen gemacht. Zu ihnen gehört der sowjetische Völkerrechtler Staruschenko, der wider besseres Wissen erklärt58 : "Die einheitliche Nation teilte sich faktisch in zwei Völker, die sich unter den Bedingungen entgegengesetzter sozialer Systeme weiter entwickelten. " Zur Begründung dieser Behauptung wird teils auf den Zerfall Österreichs-Ungarns als Folge des Ersten Weltkriegs69 , teils auf die Trennung der Deutsch-Österreicher von dem deutschen Gesamtvolk im 19. Jh. hingewiesen. Aus dieser historischen Betrachtung wird der Schluß gezogen, daß aus der Gemeinsamkeit der Sprache zweier Staaten nicht die Forderung auf staatliche Einheit abgeleitet werden könne. In beiden Fällen liegen die 67 Vgl. K. Iwanow: 'über Selbstbestimmung und Bonner Heuchelei, Pravda vom 22. 12. 1961; deutsche 'übersetzung, Beilage zum "Parlament" vom 18. April 1962. S. 197; dazu die Erwiderung von B. Dirnecker: Die deutsche Forderung nach Selbstbestimmung und das schlechte Gewissen Moskaus, ebenda, S. 189 ff. 58 G. Staruschenko: Wer verhindert eigentlich die Selbstbestimmung?, in: "Die Sowjetunion heute" vom 10. Dezember 1961, Nr. 35, S. 3/4. Die apologetischen Ausführungen Staruschenkos stehen in einem deutlichen Widerspruch zu dem von ihm selbst in einem früheren Aufsatz gebrauchten Satz: "Man kann nicht das Recht eines Volkes auf Selbstbestimmung anerkennen und ihm die Möglichkeit nehmen, Herr im eigenen Haus zu sein." G. B. Starusenko: Protiv izvrasl:enija principa samoopredelenija narodov i nacij (Gegen die Verdrehung des Prinzips der Selbstbestimmung der Völker und Nationen), SGP, 1958, Nr. 1, S. 63. 59 Vgl. die Zuschrift des sowjetischen Völkerrechtlers und damaligen Leiters der Vertrags-Rechts-Abteilung des Außenministeriums der UdSSR G. I. Tunkin an die Izvestija vom 27. Mai 1959 und die deutsche Erwiderung im Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung vom 12. Juni 1959. Wortlaut: Internationales Recht und Diplomatie, 5. Jg., 1960, S. 564 ff.
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logischen Kurzschlüsse, von den dargebotenen Geschichtsklitterungen ganz abgesehen, auf der Hand. Bei Österreich-Ungarn handelte es sich um einen ausgesprochenen Nationalitätenstaat, der weniger auf Grund der Folgen des Krieges als äußerer Einwirkungen in eine Reihe von kleineren Staaten zerfallen ist. Zu einem solchen Zerfall konnte es beim deutschen Nationalstaat infolge der fortbestehenden Einheit der deutschen Nation gar nicht kommen. Auch unter Zugrundelegung des sowjetischen Nationsbegriffs dürfte feststehen, daß die deutsche Nation einen realen und nicht abstrakten Charakter aufweist. Wesentlich ist, daß nach sowjetischer Auffassung der Staat kein objektives Merkmal der Nation darstellt. Es wird auch von sowjetischen Wisenschaftlern zugegeben, daß ein Volk nicht aufhört eine Nation zu sein, wenn von ihm ein Teil gewaltsam losgerissen wird. Jakubowskaja bemerkt dazu60 : "Man kann ... nicht die Gemeinschaft des Territoriums mit der staatlichen Gemeinschaft auf eine Stufe stellen, ohne einen Fehler zu begehen, denn dadurch wird in den Begriff der Nation ein neues Kriterium hineingetragen ... beispielsweise kann ein Teil eines Volkes gewaltsam von dem übrigen Teil losgerissen werden, ohne daß es dadurch aufhört, eine Nation zu sein." Selbst unter Stalin hat es die Sowjetunion nicht zu bestreiten gewagt, daß das Selbstbestimmungsrecht auch besiegten Nationen zukommt. In Zurückweisung von jugoslawischen Annexionsabsichten gegenüber Kärnten wurde in einer Note der Sowjetregierung vom 20. August 1949 erklärt61 : "Die jugoslawische Regierung ist der Ansicht, das Prinzip der Selbstbestimmung der Nationen sei nur auf Jugoslawien und die Siegernationen anwendbar. So aber können nur Menschen denken, die im Geiste des imperialistischen Landraubs erzogen sind. Der Demokratismus hingegen geht davon aus, daß das Prinzip der Selbstbestimmung der Nationen auf alle Nationen, darunter auch auf die besiegten Nationen anzuwenden ist." Um die Nichtanwendung des Selbstbestimmungsrechts in der außenpolitischen Praxis der Sowjetunion zu rechtfertigen, sind von einigen 80 S. Jakubovskaja: Obrazovanie irascvet socialisti~eskich nacij v SSSR (Die Entstehung und Entwicklung der sozialistische Nationen in der UdSSR), Kommunist, 1953, Nr. 8, zitiert nach Ost-Probleme, 5. Jg., 1953, S. 1306. 81 "Neue Zeit" vom 7. 9. 1949, Nr. 37, Beilage, S. 2.
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sowjetischen Völkerrechtlern folgende Gründe für den Ausschluß des Selbstbestimmungsrechts geltend gemacht wordenG2 : a) soweit es sich um einen "Aggressorstaat" handelt; b) zum Zwecke der Friedenssicherung Beide Gründe, die vor allem im Hinblick auf Deutschland geltend gemacht werden, können ebensowenig überzeugen wie die Beschränkung des Selbstbestimmungsrechts der "sozialistischen Nationen" aufgrund des Prinzips des "proletarisch-sozialistischen Internationalismus" in der Auslegung der "Breshnew-Doktrin". Die Fixierung dieser Doktrin in dem neuen Bündnisvertrag zwischen der Sowjetunion und der DDR vom 7. Oktober 1975 kann die Anwendung des Selbstbestimmungsrechts auf den anderen Teil Deutschlands nicht ausschließen. Die von sowjetischer Seite gebrachten Argumente für eine Aufrechterhaltung und Zementierung der Spaltung Deutschlands sowie gegen die Entwicklung von Sonderbeziehungen zwischen den beiden deutschen Teilstaaten stehen in einem deutlichen Widerspruch zu der eigenen Selbstbestimmungskonzeption und sind demnach nicht geeignet, die fortlaufende Verletzung des Selbstbestimmungsrechts des deutschen Volkes zu rechtfertigen. Auch das Beharren der bisherigen Nachfolger Stalins auf dem Gedanken einer Ausweitung des Sowjetimperiums um die unter der Hegemonie Moskaus befindlichen Volksdemokratien steht im deutlichen Widerspruch zu der Vorstellung von einer gleichberechtigten sozialistischen Staatengemeinschaft, wie sie von reformkommunistischer Seite angestrebt wird63• Durch die Fixierung des normativen Charakters des Selbstbestimmungsprinzips in den beiden UN-Menschenrechtskonventionen und in der KSZE-Schlußakte ist das Eintreten der Bundesrepublik Deutschland für die Verwirklichung des Selbstbestimmungsrechts des ganzen deutschen Volkes nicht nur gegenüber der Sowjetunion, sondern auch gegenüber der DDR wesentlich erleichtert worden. Unter Zugrundelegung des Hinweises auf das Selbstbestimmungsrecht im Grundvertrag vom 21. Dezember 1972 und der weiter fortbestehenden Realität der deutschen Nation kann die Bundesrepublik Deutschland immer wieder den Anspruch auf "besondere Beziehungen" zwischen den 82 Vgl. G. P. Zadoroznyj: Mirnoe sosuSl:estvovanie i meZdunarodnoe pravo (Die friedliche Koexistenz und das Völkerrecht), Moskau 1964, S. 336; G. Tunkin: Granicy gosudarstv i mirnoe sosuscestvovanie, Izvestija vom 27. August 1963, deutsche "übersetzung, Internationales Recht und Diplomatie, 9. Jg. 1964, S. 198; P. Smol'enskij: Diplomatija i granicy, Moskau 1965, S. 43. 83 Vgl. B. Meissner: Die "Breshnew-Doktrin", Das Prinzip des "proletarischsozialistischen Internationalismus" und die Theorie von den "verschiedenen Wegen zum Sozialismus", Köln 1969.
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beiden deutschen Teilstaaten mit dem Ziel der Wiederherstellung der staatlichen Einheit geltend machen, ohne daß die andere Seite dies als völkerrechtlich unzulässig bezeichnen kann. Die sowjetische Staats- und Völkerrechtslehre geht davon aus, daß jedem Volk, unabhängig davon, ob es als Staat organisiert ist oder nicht, die "nationale Souveränität" zukommt 64, mit der das Selbstbestimmungsrecht der Völker unmittelbar verbunden ist. In Verbindung mit der nationalen Souveränität ist in der sowjetischen Lehre die Völkerrechtssubjektivität einer Nation, soweit sie nicht mit der staatlichen Souveränität zusammenfällt, bejaht worden. Allerdings ist die Frage nach der Völkerrechtssubjektivität der Nation fast ausschließlich in Verbindung mit dem Kampf der kolonialen Völker um ihre Unabhängigkeit behandelt worden. Wenn es sich bei der nationalen Souveränität um ein universelles Prinzip handeln sollte, wie es die sowjetischen Völkerrechtler betonen, ist nicht einzusehen, warum es nicht die gleiche Bedeutung für Nationen haben sollte, die geteilt sind oder ihre staatliche Unabhängigkeit gewaltsam eingebüßt haben. Wenn ihre gesamtstaatliche Rechtspersönlichkeit in Frage gestellt wird, so müßte ihnen doch in jedem Fall jene Rechtsstellung zukommen, die sich nach sowjetischer Auffassung aus der nationalen Souveränität ergibt. In der sowjetischen Völkerrechtslehre wird mit Recht betont, daß die Frage nach dem endgültigen politischen und rechtlichen Status der einen oder anderen Nation mit der Anerkennung und Bestätigung der nationalen Souveränität durch das Völkerrecht nicht im voraus entschieden werde. Das Völkerrecht fordere lediglich die Achtung der freien Willensäußerung der Nation. Eine solche freie Willensäußerung hat die Sowjetunion in dem von ihr beherrschten Teil Deutschlands bisher nicht zugelassen. Dies erscheint besonders wichtig für die Beurteilung der Perspektive, die mit der Formel von der "Annäherung der sozialistischen Nationen" verbunden ist65 , die zum ersten Mal im Bündnisvertrag zwischen der UdSSR und der DDR vom 7. Oktober 1975 verankert worden ist66 • So lange bei einem solchen Integrationsprozeß eine freie Willensäußerung der beteiligten Nationen nicht gegeben ist, fehlt die für einen engeren Zusammenschluß notwendige völkerrechtliche Legitimität. Ebenso wie jede einseitige, hegemonische Beschränkung der SouveräniU B. Meissner: Der Souveränitätsgedanke in der sowjetischen Völkerrechtslehre, in: E. Kroker, Th. Veiter (Hrsg.): Rechtspositivismus, Menschenrechte und Souveränitätslehre in verschiedene Rechtskreisen, Wien I Stuttgart 1976, S. 118 ff. es Vgl. E. Schneider: Die "Annäherung der sozialistischen Nationen" im neuen Parteiprogramm der SED, in: Deutschland-Archiv, 9. Jg., 1976, S. 398 ff. 66 Vgl. Th. Schweisfurth: Die neue vertragliche Bindung der DDR an die Sowjetunion, in: Europa-Archiv, 30. Jg., 1975, S. 757 f.
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tät eines Staates durch einen anderen Staat, gleich mit welcher ideologischen Begründung, im Widerspruch zum modernen Völkerrecht steht, gilt das gleiche für jede zwangsweise Assimilationspolitik, die sich über das Selbstbestimmungsrecht der Völker hinwegsetzt.