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German Pages 288 [289] Year 1982
EVE·MARIE ENGELS
Die Teleologie des Lebendigen
ERFAHRUNG UND DENKEN Schriften zur Förderung der Beziehungen zwischen Philosophie und Einzelwissenschaften
Band 63
Die Teleologie des Lebendigen Kritische Überlegungen zur Neuformulierung des Teleologieproblems in der angloamerikanischen Wissenschaftstheorie Eine historisch-systematische Untersuchung
Von
Dr. Eve-Marie Engels
DUNCKER &
HUMBLOT I BERLIN
Alle Rechte vorbehalten
@ 1982 Duncker & Humblot, Berlln 41
Gedruckt 1982 bei Buchdruckerei A. Sayffaerth - E. L. Krohn, Berlln 61 Printed in Germany ISBN S 428 05150 6
Für meine Eltern Sibylle Engels, geh. Lenzen und Willi Engels
Vorwort Dieses Buch war ursprünglich als eine Systematisierung und kritische Aufarbeitung zentraler Themenstellungen der angloamerikanischen Teleologiediskussion konzipiert, der eine kurze historische Einleitung vorausgehen sollte. Während des Schreibens stellte sich jedoch schon bald heraus, daß zur Einordnung, Markierung und Beurteilung des Anspruchs gegenwärtig vertretener Positionen historisch weiter ausgeholt werden mußte, als zunächst beabsichtigt war. Denn erst vor dem Hintergrund der Geschichte teleologischen und mechanistischen Denkens heben sich die Konturen gegenwärtig vorgetragener Argumente in ihrer Schärfe ab. Damit sei zugleich die Länge und die Kürze des historischen Teils dieser Arbeit erklärt. Eine auf wenige Seiten begrenzte historische Einleitung hätte ihren Zweck, die Richtung der heutigen Teleologiediskussion anzugeben, nicht erfüllen können. Eine ausführlichere historische Darstellung wäre im Hinblick auf den beabsichtigten Schwerpunkt meiner Arbeit nicht nötig gewesen. An dieser Stelle sei mir auch ein herzlicher Dank all jenen erlaubt, die mich während der Arbeit an diesem Buch unterstützten. Mein besonderer Dank gilt Herrn Prof. Dr. Gert König, an dessen Lehrstuhl ich wissenschaftliche Assistentin bin, und der mir auf vielfältige Weise half, wo immer er nur konnte. Daneben danke ich Frau Prof. Dr. Marion Soreth und Herrn Prof. Dr. Jürgen von Kempski, die mich als wissenschaftliche Hilfskraft beschäftigten und meiner Arbeit mit Interesse und Anregungen zur Seite standen. Zu danken sei auch der Konrad-Adenauer-Stiftung, die Forschungen zu diesem Buch finanzierte, sowie Herrn Prof. Dr. Gerard Radnitzky, Herrn Prof. Dr. Frithjof Rodi und Herrn Prof. Dr. Elmar Holenstein, die mich durch Gutachten für die Stiftung unterstützten. Frau Elly Isleb war so freundlich, das Manuskript zu schreiben. Ihr danke ich für die Geduld, die sie dabei aufbrachte, sowie für ihre Sorge um die Erhaltung der Lebenskräfte (Bibl. Nr. 73). Mein aufrichtiger Dank sei auch all jenen namentlich hier nicht Genannten ausgesprochen, die mich sachlich oder menschlich bei meiner Arbeit unterstützten. Nicht zuletzt danke ich Herrn Dr.]. Claude Evans jr., der mir währendallder
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Vorwort
Jahre mit liebevollem Verständnis ermutigend und ermunternd zur Seite stand und mir bei der Korrektur der Druckfahnen half. Der Ruhr-Universität Bochum danke ich für die Gewährung eines Druckkostenzuschusses. Bochum, im Oktober 1981
Eve-Marie Engels
Inhaltsverzeichnis I. Einleitung
1. Einführung in die Problemstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
11
2. Semantische Analyse einer teleologischen Erklärung . . . . . . . . . . . . . .
24
3. Zur Ortsbestimmung der angloamerikanischen Teleologiediskussion: Ihre Anknüpfung an Voraussetzungen der modernen Biologie . . . . . . 28 4. Zwei Grundbegriffe der Kybernetik: Regulation und Information
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5. Zum Problem der Rechtfertigung teleologischer Erklärungen unter den Voraussetzungen der modernen Biologie: Unsere Studie im überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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II. Hauptteil 1. Ausschnitte aus der Geschichte des Teleologieproblems bis zum ersten Drittel des 20. Jahrhunderts: Der Wandel einer Problemstellung . . . .
56
1.1. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
56
1.2. Mechanismus und Teleologie in der antiken Naturphilosophie . .
68
1.3. Die Konzeption der Maschinentheorie des Lebendigen im 17.Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
81
1.4. Kritik und Erweiterung des mechanistischen Paradigmas: Die Entwicklung neuer Erklärungsversuche des Lebendigen aus den Schwächen des maschinentheoretischen Paradigmas der klassischen Mechanik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
93
1.41. Die Lebenskraftlehren des späten 18. Jahrhunderts . . . . . .
93
1.42. Kants Kritik der teleologischen Urteilskraft . . . . . . . . . . . . 110 1.5. Die "Verwissenschaftlichung" der Teleologie des Lebendigen durch Darwins Begründung der Zweckmäßigkeit im Zufall: Ein Paradigmenwechsel im Verständnis der Zweckmäßigkeit . . .... 122
10
Inhaltsverzeichnis 1.6. Mechanismus und Vitalismus: W. Roux und H. Driesch
126
1.7. Die Konzeption der Finalität als objektive Systemeigenschaft: L. von Bertalanffys organismische Biologie oder Systemtheorie des Lebendigen: Ein Paradigmenwechsel im Verständnis der Zielstrebigkeit .......... . ............. .. . . .. . .......... . .. . . 132 2. Die Neuformulierung des Problems teleologischer Erklärungen in der angloamerikanischen Wissenschaftstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144 2.1. Rechtfertigungsversuche teleologischer Erklärungen . . . . . . . . . . 144 2.11. Versuche einer kybernetischen Begründung teleologischer Erklärungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.111. Einführung in das Problem: Die Schwierigkeit einer Explikation "zielgerichteter" Prozesse: Kritische Überlegungen zu einer Teleologie ohne Subjekt . . . 2.112. Die theoretischen Voraussetzungen des Teleologieproblems bei A. Rosenblueth, N. Wiener und J. Bigelow: Kritische Überlegungen zu ihrem Ansatz 2.113. Kritische Überlegungen zur Begründung teleologischer Erklärungen bei R. B. Braithwaite ..... . .. . 2.114. Kritische Überlegungen zur Begründung teleologischer Erklärungen bei E. Mayr .... . ........ . ... 2.115. Zusammenfassung . . ...... ... .. .. .... ... . ... ..
144 144 155 171 184 205
2.12. Der Versuch einer evolutionstheoretischen Begründung teleologischer Erklärungen: Kritische Überlegungen zum Ansatz von L. Wright . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 206 2.2. Die Übersetzung teleologischer Erklärungen: Kritische Überlegungen zum Ansatz des Logischen Empirismus ... ...... . . . . 217 III. Abschließende Bemerkungen Rückblick und Ausblick auf die zukünftigen Problemstellungen einer philosophischen Wissenschaftstheorie der Biologie
241
IV. Bibliographie
251
Autorenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277 Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 281
I. Einleitung 1. Einführung in die Problemstellung
Teleologie (von gr. 'tEAo;, Ziel, Zweck und A6yo~, Lehre) ist die von Christian W olff geprägte Bezeichnung für den Teil der Naturphilosophie, der die Dinge auf ihre Zwecke hin befragt und unter Berufung auf Endursachen erklärt. "Enimverq rerum naturalium duplices dari possunt rationes, quarum aliae petuntur a causa efficiente, aliae a fine ... Datur . . . philosophiae naturalis pars, quae fines rerum explicat, nomine adhuc destituta, etsi amplissima & utilissima. Dici posset Teleologia." (384:38).
Wolff brachte mit diesem Ausdruck eine philosophisch relevante Thematik auf den Begriff, deren Geschichte bis weit in die Anfänge des griechisch-abendländischen Denkens zurückreicht und durch Aristoteles erstmalig ihre wohl repräsentativste und für Jahrhunderte gültige Formulierung gefunden hat. Erst zu Beginn der Neuzeit wurde die Dominanz der aristotelischen Teleologieauffassung unter Einflußnahme der exakten Naturwissenschaften und deren Bestimmung als Idealtyp von Erkenntnis allmählich gebrochen und das Thema daraufhin später von Kant mit veränderter Akzentsetzung wieder aufgenommen und in andere Bahnen gelenkt. Nicht Wolffs neuzeitliche Version einer teleologischen Naturphilosophie, sondern Kants Auffassung vom nur regulativen Charakter teleologischer Begriffsbildungen entsprach dem Problembewußtsein einer Zeit, die zwar eine naturwissenschaftlich-mechanistische Betrachtungsweise Verweise auf Textstellen sind in Klammern angegeben, z. B. (384 :38). Dabei bezieht sich die Zahl vor dem Doppelpunkt auf die in unserer durchnumerierten Bibliographie angegebene Schrift, in diesem Fall auf Chr. Wolffs Philosophia Naturalis sive Logica, die Zahl hinter dem Doppelpunkt auf die Seite der Schrift. Steht nur eine Zahl in Klammern, so wird nur auf die betreffende Schrift verwiesen. Mehrere hintereinander auftretende Verweise stehen entweder jeweils in eigener Klammer, wie z. B. bei Aufzählungen in den Anmerkungen, oder in einer gemeinsamen Klammer und werden dann durch Semikolon voneinander getrennt. Taucht ein Verweis im Zusammenhang eines in Klammern gesetzten Textes auf, so haben wir auf Klammern verzichtet, z. B. (s. auch 352:25).
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I. Einleitung
im Prinzip bejahte, aber zugleich in bezug auf bestimmte Objekte die wissenschaftstheoretischen Grenzen der klassischen Mechanik erfuhr. In unserem Jahrhundert ist die Diskussion um das Teleologieproblem durch den Siegeszug einer im weiteren Sinne als mechanistisch zu bezeichnenden Disziplin, der Kybernetik, aktualisiert worden1 • Mag Bacon die Erforschung der Finalursachen auch als steriles Denken abgetan haben, so erweist sich die damit verbundene philosophisch-wissenschaftstheoretische Problematik immerhin als attraktiv und fruchtbar genug, jahrhundertelang nach seinen Verbannungsbemühungen Reflexionen zu provozieren und Gesprächsstoff zu gebären2 • Teleologie ist heute nicht nur erneut Gegenstand einer kritisch gegen sie gerichteten Reflexion3, sondern sie 1 In unserem Aufsatz (106) nahmen wir kritisch Stellung zu G. H. 'Von \Vrights Bemerkung, die Bedeutung des Beitrags von A. Rosenblueth, N . Wiener und]. Bigelow (289; 290) für die Methodologie habe darin gelegen, einen großen Fortschritt für den "kausalistischen" und "mechanistischen" Standpunkt im Geiste der galileischen Tradition darzustellen (388 :29). Wir wiesen diese memaoistische Deutung der Kybernetik als Fehlinterpretation zurück. Von Wright schrieb uns am 26. August 1979 dazu einen Brief mit folgendem Wortlaut: "Es stimmt, daß ich zur Zeit, als ich mein Buch über Erklären und Verstehen schrieb, der Meinung war, daß der Teleologiebegriff der Biologie ,kausa!isiert' werden könne und daß von ,echter' Teleologie nur in den Humanwissenschaften die Rede sein könnte ... Ich bin jetzt geneigt zu glauben, daß genuine teleologische Begriffsbildungen nicht aus der Biologie eliminiert werden können. Eine Schwierigkeit ist allerdings, klar darzulegen, was ,teleologisch' und ,mec.ltanistisch' überhaupt heißen." Während von Wright zur Revision seiner damaligen Auffassung geneigt ist, müssen wir unsere Kritik an seiner "Kausalisierung" des Teleologiebegriffs und seiner mechanistischen Deutung der Kybernetik teilweise zurücknehmen. Sofern man nämlich nur auf den Bedingungszusammenhang abhebt, der bei kybernetisch darstellbaren Prozessen vorliegt und Teleonomie lediglich als eine Sonderform der Kausalität betrachtet, wie dies ja in der Kybernetik der Fall ist, läßt sich die Kybernetik durchaus als Fortschritt für den mechanistischen Standpunkt im Geiste der galileischen Tradition betrachten. Ein gutes Beispiel hierfür, das von Wright nicht explizit anspricht, ist die Biokybernetik, wie sie in der Molekulargenetik vorliegt. Diese mechanistische Deutung kommt in M. Eigens Formulierung zum Ausdruck, daß die Molekularbiologie dem Jahrhunderte aufrecht erhaltenen ·Schöpfungsmystizismus ein Ende gesetzt und vollendet habe, was Galilei begann (226:XV). Die Frage nach der methodologischen Einordnung derKybernetik, d. h. ob sie auf physikalische und chemische Theorien reduzierbar ist, erfordert demgegenüber eine differenziertere Behandlung (vgl. Kap.l, .~ Arim. 31; Kap. Il. 1.1 und neben anderen vor allem Kap. 2.114) . .. ii. ßacon bemerkt zur teleologischen Naturbetrachtung: "' .. the inquiry. of final causes isabarren thing, or as a virgin consecrated to God." (17:114). 3 s. Kap. 2.2. dieser Arbeit.
1. Einführung in die Problemstellung
13
erfreut sich gleicherweise Wiederbelebungsversuchen4 • Dabei bedient man sich zu ihrer Legitimation jedoch weitaus subtilerer Formen als frühere Jahrhunderte. So erscheint es wie eine Ironie des Wissenschaftstheorie~ und philosophiegeschichtlichen Schicksals, daß zu ihrer Fundierung nicht auf traditionelle Rechtfertigungsmuster, wie etwa den aristotelischen Gedanken der Finalkausalität oder seine vitalistischen Erben zurückgegriffen wird, sondern ausgerechnet auf jene Mittel, die sich im Laufe eines langwierigen Prozesses in ständigem Kampf gegen sie herausgebildet haben. Ein zunehmendes Interesse an teleologischen Problemstellungen läßt sich etwa seit den vierziger Jahren unseres Jahrhunderts vor allem in der angloamerikanischen Wissenschaftstheorie beobachten, wobei unter Wissenschaftstheorie hier weitgehend Metatheorie oder Philosophie der Wissenschaft (Philosophy of Science)S zu verstehen ist. Dabei handelt es sich s~ Kap. 2.1. dieser Arbeit. Den Ausdruck Wissenschaftstheorie verwenden wir hier im Sinne einer metatheoretisch zu bestimmenden Philosophy of Science und meinen damit nicht den Bestand an Theorien, der eine Wissenschaft zu einem bestimmten Zeitpunkt definiert, so wie man etwa von theoretischer Physik, Wärmetheorie, Lichttheorie usw. spricht. Wissenschaftstheorie im oben angegebenen Sinne von Metatheorie bzw. Philosophie der Wissenschaft setzt vielmehr bei den theoretischen Voraussetzungen einer Wissenschaft an und macht sie zum Anlaß von Reflexionen auf deren stillschweigende lmplikationen und Konsequenzen, ja stellt sie möglicherweise sogar in Frage. Derartige Reflexionen können auch dem Kreise der Mitglieder einer scientific community selbst entspringen; wie dies in der angloamerikanischen Teleologiediskussion auch teilweise der Fall ist, so daß hier die Möglichkeit einer wechselseitigen Befruchtung von Grundlagenund Metatheorie gegeben ist. Manchmal fällt es schwer, eine klare Grenzlinie zu ziehen. Dies ist z. B. im historischen Teil unserer Arbeit auch häufig gar nicht möglich, weil sich die Trennung von Philosophie und Wissenschaft erst relativ spät vollzog. Wenn wir daher von Wissenschaftstheorie sprechen, so muß dem jeweiligen Kontext entnommen werden, welcher Bedeutungsaspekt gemeint ist. Diesen Unterschied zwischen Wissenschaftstheorie im Sinne des Theoriebestandes einer Wissenschaft und Wissenschaftstheorie im Sinne von Metatheorie oder Philosophie der Wissenschaft, aber auch deren Verknüpfungen, hat u. a. von Bertalanffy in seiner Theoretischen Biologie angesprochen. "Theoretische Biologie im ersten Sinn ist Erkenntnistheorie und Methodologie der Lebenswissenschaft. Sie stellt die Grundlagen der Erkenntnis in der Biologie fest und bildet so einerseits eine Abzweigung der allgemeinen Logik und Wissenschaftslehre, wie sie andererseits häufig auch für die biologische Forschung wichtig ist." Hierzu zählt er auch die Klärung des Teleologieproblems. "Der zweite Sinn der theoretischen Biologie aber ist der einer Naturwissenschaft, die sich zur beschreibenden und experimentellen Biologie ungefähr ebenso verhält wie die theoretische Physik zur Experimentalphysik. Das ist die Aufgabe einer Theorie 4
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I. Einleitung
nicht nur um die Frage nach der Struktur teleologischer Erklärungen menschlichen Handelns, die mit der geistes- und sozialwissenschaftlich bezogenen Methodendiskussion über das Verhältnis von Erklären und Verstehen relevant wurde6, sondern um das viel heiklere Problem der Rechtmäßigkeit teleologischer Begriffsbildungen in der Biologie, einem Kontext also, in dem auf der Ebene des wissenschaftlichen Diskurses kein zwecksetzendes Subjekt angehbar ist. Mit teleologischen Begriffsbildungen meinen wir hier in Anlehnung an den angloamerikanischen Sprachgebrauch und seine recht weit gefaßte Verwendung des Teleologiebegriffs sämtliche Wendungen, in denen in irgendeiner Weise auf ein Ziel oder einen Zweck von organischen Merkmalen oder Prozessen7 Bezug genommen wird. Dazu gehören um zu- und damit-Formulierungen, aber auch Begriffe wie Funktion und Rolle, also sowohl teleologische Erklärungen im engeren Sinne als auch funktionale Erklärungen, Analysen und Beschreibungen. In der Literatur werden teleologische Systematisierungsweisen auf vielfältige Weise bezeichnet, wobei derselbe Begriff häufig verschiedene Bedeutungen hat und unterschiedliche Begriffe dieselbe Bedeutung (vgl. Anm. 13). Um weitere Verwirrung zu vermeiden, werden wir in unserer Arbeit zwischen teleologischen Erklärungen, funktionalen Erklärungen, funktionalen Analysen und Beschreibungen und teleologischer Sprache im allgemeinen unterscheiden. Teleologische Erklär"Sngen beinhalten nach unserer und der traditionell gängigen Definition die wie immer auch im Einzelfall begründete - Antizipation der Wirkung eines Gegenstandes, Prozesses usw. als Ziel oder Zweck. Dabei wird die Antizipation mit zum Erklärungsgrund des betreffenden Gegenstandes, der als Mittel zur Verwirklichung des Zweckes dienen soll. Der Zweck kann auch Mittel für weitere Zwecke sein. Worauf es bei teleologischen der Einzelgebiete der Lebenserscheinungen, der Entwicklung des Metabolismus, des Verhaltens, der Vererbung usf. und letzter Linie einer ,Theorie des Lebens' in eben dem Sinne, wie es eine ,Wärmetheorie', ,Lichttheorie' usf. gibt." (38:6). 6 Es würde auf Grund der zahlreichen Veröffentlichungen zu diesem Thema zu weit führen, eine ausführliche übersieht über die dazu erschienene Literatur zu geben. Ich verweise daher auf die Darstellung von G. H. von Wright, die mit grundlegenden Positionen dieser Diskussion vertraut macht (388). In Deutschland ist diese Problematik auch vor allem durch K.-0. Apel populär gemacht worden (5), (6); s. auch Stegmüller (336:103 -147). 7 Den Ausdruck "organisch" verwenden wir hier im engeren Sinne von "belebt". In der Chemie meint man dagegen mit "organischer Chemie" im Unterschied zur "anorganischen Chemie" die Chemie der Kohlenstoffverbindungen. Lebendige Systeme sind nur ein Teil des Gegenstandes der organischen Chemie.
1. Einführung in die Problemstellung
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Erklärungen immer ankommt, ist der Anspruch, daß etwas existiert oder geschieht, um eines bestimmten Resultates willen. Den Begriff der funktionalen Erklärung hingegen reservieren wir - sofern im Einzelfall nichts anderes gesagt wird - für evolutionstheoretisch begründete Erklärungen. Wenn in einer funktionalen Erklärung die Existenz des Herzens im menschlichen Organismus au'f dessen Funktion zurückgeführt wird, so geschieht dies unserer Definition zufolge auf der Grundlage der Darwinschen Evolutionstheorie. Die Funktionalität, Zweckmäßigkeit der Ausstattung von Organismen wird hier nicht im Sinne eines antizipierten Resultates, sondern als "poststabilisierte Harmonie" 8 gedeutet, als das glückliche Zufallsprodukt eines ziellosen Evolutionsprozesses. Funktionale Erklärungen dieser Art sind nicht nur vereinbar mit dem theoretischen Selbstverständnis und den Grundvoraussetzungen der modernen Biologie, sondern darüber hinaus wesentlicher Bestandteil ihrer Methodologie. Funktionale Analysen und Beschreibungen, d. h. die Erforschung und Bestimmung der Funktion von Organen, Merkmalen, Prozessen usw., lassen unserer Bestimmung nach im Unterschied zu funktionalen Erklärungen die Art ihrer Fundierung offen und richten sich nach dem jeweiligen theoretischen Kontext. Sie wurden im Verlaufe der Geschichte sowohl durch teleologische als auch evolutionstheoretische Erklärungen fundiert. Wenn wir Ausdrücke wie teleologische Sprache, teleologische Wendungen, Formulierungen usw. gebrauchen, so sind damit, sofern aus dem jeweiligen Kontext die Bedeutung nicht hervorgeht, teleologische und funktionale Wendungen im allgemeinen ohne nähere Spezifikation gemeint. Insbesondere auf funktionale und teleologische Erklärungen werden wir später noch eingehen. Der Unterschied zwischen zufälliger und antizipierter Zweckmäßigkeit, der beide Erklärungsweisen voneinander unterscheidet, soll hier nur kurz an Hand eines Beispiels aus dem Bereich des menschlichen Handeins klargemacht werden: Ich schlendere auf dem Markt herum und treffe zufällig meine Freundin Ingrid. Dies kommt mir sehr gelegen, es ist sehr zweckmäßig, weil ich Ingrid eine Mitteilung machen mußte, und da sie telefonisch nicht erreichbar ist, hätte ich den langen Weg zu ihrer Wohnung machen müssen, was ich mir nun sparen kann. In diesem Fall würde ich mein Umherschlendern auf dem Markt nicht teleologisch unter Berufung auf den Zweck, Ingrid zu treffen, erklären, d. h. ich würde nicht die Formulierung wählen: "Ich schlenderte 8 Dieser von F. Wuketits eingeführte Begriff ist sehr glücklich gewählt, weil er treffend die Vorstellung des Evolutionstheoretikers zum Ausdruck bringt, auf finale Erklärungsprinzipien verzichten zu können, ohne das Phänomen der Zweckmäßigkeit ignorieren zu müssen. S. hierzu W uketits (398 :113 ff .).
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I. Einleitung
auf dem Markt herum, um Ingrid zu treffen.", vielmehr würde ich hier sagen: "Ich schlenderte auf dem Markt herum und traf zufällig Ingrid, was sehr zweckmäßig war9 ." In der modernen Teleologiediskussion wird das Teleologieproblem vor allem in bezug auf zwei Sachzusammenhänge angeschnitten, die seit jeher zu den zentralen Themenstellungen einer Philosophie des Lebendigen gehörten: zur Debatte steht nicht nur die seit Darwins Ersetzung der "theologischen" durch eine "wissenschaftliche Teleologie" (15 :2) als unproblematisch betrachtete Verwendung teleologischer Formulierungen zur Bezeichnung des Anpassungscharakters von Organismen, sondern auch die Frage der wissenschaftstheoretischen Legitimität teleologischer Erklärungen von Prozessen an bzw. in individuellen Systemen, die auf Grund der Durchschlagskraft der Kybernetik innerhalb der Biologie aktualisiert worden ist. Dazu gehören beispielsweise sowohl physiologische Regulationsprozesse, wie etwa die Aufrechterhaltung einer konstanten Körpertemperatur, als auch Reproduktionsprozesse. Die Popularität dieses Interesses an teleologischen Problemstellungen spiegelt sich in der Vielzahl wissenschaftstheoretischer Richtungen wider, die sich ihrer angenommen haben: wissenschaftstheoretisch interessierte Biologen und Kybernetiker, in der Tradition des Logischen Empirismus stehende Vertreter der Analytischen Philosophie und eine Vielzahl von im weiteren Sinne sprachanalytisch orientierten Philosophen und Wissenschaftstheoretikern melden sich hier gleicherweise zu Wort. Die Zahl der Veröffentlichungen zu diesem Themenbereich ist derart umfangreich, daß W. Ch. Wimsatt 1971 darauf hinweisen kann, es werde allmählich zur Selbstverständlichkeit, von der "neuen Teleologie" als Modebewegung in angloamerikanischen Philosophenkreisen zu sprechen. Es sei eine neue Welle der Beschäftigung mit Aristoteles zu beobachten. Wimsatt bezeichnet die Vertreter dieser "new teleology" auch als "neo-Aristotelians" (377:1). Die Verwendung des Begriffs "neue Teleologie" und seine Deutung im Sinne eines Neoaristotelismus halten wir jedoch aus folgendem Grund für irreführend: Die These vom genuinen - im Unterschied zum bloß heuristischen - Charakter teleologischer Begriffsbildungen in der Biologie 8 In der Anthropologie spridlt man zur Bezeichnung der zweckmäßigen Nebeneffekte von Handlungen, die ursprünglidl mit anderen Zwecksetzungen durdlgeführt wurden, von "sekundärer objektiver Zweckmäßigkeit". (Vgl. S. 25 und Anm. 19.) In der Teleologiediskussion wird die Umersdleidung zwisdlen teleologisdlen Erklärungen und funktionalen Erklärungen, Analysen und Besdlreibungen häufig vernadllässigt bzw. durdl die Uneinheitlidlkeit der Terminologie verdunkelt (vgl. Anm. 13).
1. Einführung in die Problemstellung
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läßt sich nicht ohne weiteres als Rückgriff auf eine aristotelische Teleologiekonzeption deuten. Diese Interpretation geht in einem noch näher zu bestimmenden Sinn am Selbstverständnis und Anspruch der "neuen Teleologen" vorbei. Gerade die explizite Abgrenzung von der "alten Teleologie" läßt sich hier als ein gemeinsames Interesse feststellen. Bei aller Vielfalt ihrer Akzentsetzungen herrscht nämlich bei den Apologeten teleologischer Begriffsbildungen in der Biologie zumindest in zweifacher Hinsicht ein Konsensus: Erstens besteht weitgehend Einigkeit über die Notwendigkeit einer Entmystifizierung des Konzepts der Teleologie. Kaum jemand verzichtet heute auf den eindringlichen Hinweis, daß die eigene Verwendungsweise teleologischer Begriffsbildungen in bezug auf das Lebendige bzw. das Plädoyer für diese Verwendung keinen Rückgriff auf die aristotelische Lehre von den Finalursachen und ihre vitalistischen Erben beinhaltet10 • Ein wesentliches Merkmal der Teleologiediskussion unseres Jahrhunderts ist daher ihr defensiver Zug, der unter dem Druck entsteht, mit einer Tradition brechen zu wollen und die qualitative Besonderheit des eigenen Standpunktes gegen diese Vergangenheit zu behaupten, ohne gleichzeitig auf deren Sprache verzichten zu müssen. Teleologische Sprache soll hier nicht nur die heuristische Funktion der Metapher übernehmen und den Zugang zu einem sonst nur umständlich beschreibbaren Gegenstand erleichtern. Vielmehr ist damit auch die stärkere Vorstellung verknüpft, daß sich der betreffende Gegenstand auf Grund seiner Besonderheit ohne teleologische Formulierungen gar nicht adäquat darstellen läßt. Denn - und damit kommen wir zur zweiten Übereinstimmung- Teleologie bzw. Finalität11 soll hier als spezifisches Merkmal bestimmter Prozeßtypen oder Systeme ausgezeichnet werden, dessen Besonderheit im Unterschied zu allem nichtfinalen Naturgeschehen allein mit Hilfe theoretischer Mittel gerechtfertigt werden kann, die in unserer ihrem eigenen Selbstverständnis nach postaristotelischen und postvitalistischen Zeit als wissenschaftlich hoffähig gelten, und d. h. in einem noch näher zu bestimmenden Sinn mechanistisch sind. Der Begriff der T eleono10 Und wenn zur Explikation der eigenen Position auf Aristoteles zurückgegriffen wird, wie z. B. bei E. Mayr, so geschieht dies, wie wir meinen, auf Grund einer Verkennung des fundamentalen Unterschiedes zwischen den paradigmatischen Voraussetzungen von aristotelischer und moderner Biologie. 11 Der Begriff Teleologie wird in der Diskussion nicht nur zur Bezeichnung .einer naturphilosophischen Richtung oder Lehre verwendet, sondern auch zur Charakterisierung bestimmter Verhaltens- und Systemmerkmale selbst. Er ist dann u. a. gleichbedeutend mit zielgerichtet (engl. goal-directed). Mehr und mehr setzt sich der Begriff der Teleonomie durch. P. Steinmann nannte das damit bezeichnete Phänomen Teleokausalität (338).
2 Engels
18
I. Einleitung
mie wurde eigens zur Kennzeichnung dieses neuen Verständnisses der Finalität geprägt, das planlose Zufälligkeit und die sog. Zielstrebigkeit von Prozessen zusammendenkt12, wie dies z. B. in der Molekulargenetik und anderen kybernetisch erschlossenen Bereichen der Biologie der Fall ist. Die Verwirrung, die hierdurch entstehen kann, ist verständlich. Wie R. Spaemann ausgeführt hat, legen Kybernetik und Systemtheorie auf den ersten Blick ihre Deutung als eine gewisse Rückkehr zu Aristoteles nahe, als eine Rehabilitierung der Teleologie, weil sie "das Phänomen gerichteter Prozesse unbefangen zur Kenntnis nehmen, - insbesondere das Phänomen hartnäckiger Zielverfolgung bei wechselnden Randbedingungen". Andererseits können sie jedoch "auch als Versuche interpretiert werden, der Teleologie endgültig den Garaus zu machen", weil sie teleonomische Strukturen "ihrerseits als Resultat kausal-mechanischer Prozesse" beschreiben und als solches dem blinden Zufall unterstellen. Das Phänomen der Zielstrebigkeit läßt sich jetzt, ohne in seiner Eigenart ignoriert werden zu müssen, in nichtfinale Erklärungsschemata integrieren (329:486 f.). Die Finalität der Lebenserscheinungen beruht nach Ansicht der modernen Biologie "auf einer speziellen Form der Kausalität . .. (z. B. auf Regelprozessen)", so "daß deren Verständnis die Anerkennung der Finalität nicht aufhebt, sondern untermauert". ( 141 :62). Für beide Deutungen - Kybernetik als Rehabilitierung und Kybernetik als endgültige Oberwindung der Teleologie- finden sich in der Literatur Belege. So bezeichnet z. B. B. Hassenstein in seinem jüngst erschienenen Beitrag über Biologische Teleonomie unter Berufung auf W. Kulimanns Interpretation (193) Aristoteles als den "Vater der Teleonomie" (141:70) während E. E. Harris der Ansicht ist, daß die gesamte Teleologie in einem gewissen Sinn durch die mechanistischen Instrumente und Kategorien der Kybernetik "hinwegerklärt" werden solle. " . . . the idea of purposive activity as teleological has become thoroughly disreputable, and the attempt (if anybody should be so rash to make it) to ·explain human, animal, or any other activity as directive, in terms of ends and means consciously or unconsciously aimed at - any such attempt is scorned as an outdated obscurantist error, displaying only ignorance on the part of the would-be theorist of the most recent advances in biochemistry, cybernetics, and computer science. Goal-seeking in living behavior is explained in terms of negative feed-back, thinking in terms of computer processing; memory is described as Storage, perception as information processing. All teleology is explained away in terms of the latest mechanistic devices and categories." (134 :49) 12
Zum Zufallsbegriff vgl. Kap. II. 1.42 und 2.111.
1. Einführung in die Problemstellung
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Wie eng sowohl Rehabilitierung als auch endgültige Überwindung der Teleologie in einem einzigen Argument zusammenliegen können, äußert sich in Hassensteins Überzeugung, daß durch die Kybernetik deshalb eine Rehabilitierung der Finalität und des Begriffs der Ganzheit in der Biologie möglich geworden sei, weil sich nun auch der wachsamste Mechanist ungezwungen derartiger Begriffsbildungen bedienen dürfe, ohne in den Verdacht zu geraten, auf "außernaturwissenschaftliche Erklärungsprinzipien" zurückzugreifen (141 :64). Rehabilitierung der Teleologie kann dann aber nur bedeuten, daß derjenige Aspekt der Teleologie rehabilitiert werden soll, der durch seine traditionelle Verknüpfung mit ontologisch-metaphysischen Voraussetzungen in den Augen des Naturwissenschaftlers in Mißkredit geraten war. Durch Kybernetik und Systemtheorie ist es möglich geworden, den rein formalen Aspekt der Teleologie, den Ganzheitscharakter der Lebenserscheinungen, anzuerkennen, ohne sich damit auf metaphysisch-teleologische Voraussetzungen einlassen zu müssen. Der Ganzheitscharakter des Lebendigen äußert sich in der Stabilität der Gestalt, die durch kybernetisch beschreibbare Regelprozesse realisiert bzw. aufrechterhalten wird. Insofern kommt Kybernetik und Systemtheorie das unleugbare Verdienst zu, holistischen Betrachtungsweisen in der Biologie wieder zu ihrem Recht verholfen zu haben, zur Anerkennung ihres gleichwertigen Stellenwertes neben analytischen Methoden. Dies war deshalb möglich, weil die Kybernetik zeigen konnte, daß derartige Lebensprozesse ihrem Denkmodell zufolge "mechanisch und zwangsläufig" (141 :63) ablaufen. Rehabilitierung der Finalität besagt dann aber nichts weiter als die Anerkennung der Existenz von Regelkreisprozessen. So stehen wir vor der paradox anmutenden Situation, daß Teleologie nur deshalb als rehabilitierbar erscheint, weil sie ihrer spezifischen Merkmale beraubt werden und daher in einer mechanistischen Naturauffassung untergehen konnte.
Angesichts dieser neuartigen Problemstellung provoziert die Verwendung teleologischer Begriffsbildungen insbesondere in Form teleologischer Erklärungen die Frage, auf welche Weise sich die sog. "neue Teleologie" von der alten Teleologie abhebt, ohne die Berechtigung zu verlieren, diesen Namen überhaupt noch zu tragen. Läßt sich Teleologie, wie dies in der angloamerikanischen Wissenschaftstheorie versucht wird, mit den Mitteln unserer modernen Naturwissenschaft verteidigen, ohne einerseits das Konzept der Finalität zu entleeren und ohne andererseits die Voraussetzungen und Ansprüche der modernen Naturwissenschaft, an denen sich die Wissenschaftstheorie explizit orientiert, zu entstellen? z•:·
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I. Einleitung
Der Mangel an Versuchen, die sich um dieses Thema zentrierende angloamerikanische Diskussion zu systematisieren und vorzustellen, erscheint nicht verwunderlich, wenn man sich selbst einmal der Mühe dieses Versuches unterzieht. Abgesehen von der anfänglichen Orientierungslosigkeit, die durch die terminologische Uneinheitlichkeit13 entsteht, gewinnt der Leser den Eindruck, als verlaufe er sich in einem durch eine fast unüberschaubare Anzahl von Aufsätzen verzweigten Labyrinth von Detailproblemen und -zielsetzungen14• Dieser Eindruck wird auch durch den ahistorischen Charakter der ganzen Diskussion verstärkt. Außer dem in der Regel einleitend gemachten Hinweis auf die Abgrenzung der eigenen Position von Aristotelismus, Vitalismus und theistischer Metaphysik wird weitgehend darauf verzichtet, den eigenen Standpunkt vor dem Hintergrund einer theoriegeschichtlichen Entwicklung von Problemstellungen und Lösungsvorschlägen zu beleuchten. Somit fehlt auch der historische Leitfaden, der als Orientierungshilfe dienen könnte. An demselben Mangel kranken auch die bislang in Deutschland nur spärlich gebliebenen Versuche, sich dieser Thematik im Rahmen der Wissenschaftstheorie anzuneh13 Sowohl hinsichtlim der Leistungsbestimmung der hier zur Debatte stehenden funktionalen und teleologischen Systematisierungsweisen, als aum hinsichtlich deren Bezeichnung fehlt es offensimtlich an einem Konsensus. So verwendet z. B. John Canfield (64) die Termini "teleologische Erklärung" und "funktionale Analyse" synonym und smränkt deren Rolle auf den Namweis des (der) von einem Systemteil geleisteten, nützlichen Beitrags (Beiträge) für das betreffende System ein. Zur Bezeichnung dieses Systematisierungstyps werden von anderen Diskussionsteilnehmern folgende Begriffe angeboten: "functional ascription" (237), "function-ascribing Statement" (79), "functional Statement" (297), "function Statement" (387) usw. Andere Diskussionsteilnehmer bezeichnen mit dem Konzept der "teleologismen Erklärung" eine über die reine Darstellung der Funktion eines Systemteils für das System hinausgehende Weise wissenschaftlicher Systematisierung, die den Ansprum erhebt, die Existenz dieses Systemteils bzw. seine Tätigkeitsweise in dem betreffenden System unter Berufung auf seine Funktion, die es in diesem System erfüllt, zu erklären. Aum hierfür fehlt es nimt an einer Vielzahl von Termini: "functional analysis" mit "explanatory import" (14), (15), "teleological explanation" (235), (237), "functional explanation" (387), "functional teleological description" (387) usw. Aum werden die eigenen Termini in andere Positionen hineingetragen, wie z. B. von H. Lebmann in seiner Bespremung des Ansatzes von R. B. Braithwaite (196). 14 Da wir mit unserer Arbeit nicht nur die Absicht verbinden, einige zen.trale Problemstellungen der angloamerikanischen Teleologiediskussion kritism zu diskutieren, sondern darüber hinaus dem Leser einen Ieimteren Zugang zu diesem bisher wenig bearbeiteten Gebiet zu ermöglichen, haben wir in unsere Bibliographie auch einige Titel aufgenommen, auf die wir uns in der Arbeit nicht explizit bezogen haben.
1. Einführung in die Problemstellung
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men. Die Beschäftigung mit dem Problem teleologischer Erklärungen in der Biologie erfolgte weitgehend geprägt durch die Akzentsetzungen, die mit der Fragestellung der in der Tradition des Logischen Empirismus stehenden Ansätze von C. G. Hempel und E. Nagel vorgegeben waren. Selbst das in den sechziger und zu Beginn der siebziger Jahre wachsende Interesse an der Logik teleologischer Begriffsbildungen in der Anwendung auf soziale Systeme, das im Zusammenhang mit der Entwicklung und Diskussion systemtheoretischer Ansätze in den Sozialwissenschaften neuen Nährboden fand, reichte nicht aus, auch eine wissenschaftstheoretische Diskussion dieser Thematik in bezug auf belebte Systeme in Gang zu setzen. Dies mag unter anderem an der Übernahme der neopositivistischen Kritik gelegen haben, die jede weitere Beschäftigung mit dem Problem als überflüssig erscheinen ließ 15 • Erst seit kurzem regt sich bei uns ein stärkeres Interesse am Problem teleologischer Begriffsbildungen in der Biologie16. Während sich unsere Wissenschaftstheorie bisher weitgehend an 15 So z. B. bei R. Döbert (92), J. Habermas (130), N. Luhmann (206), G. H. von Wright (388). Stegmüller beschränkte sich im wesentlichen darauf, die neopositivistisch orientierten Ansätze in Deutschland zu präsentieren (335 :518 bis 585). Neue Anregungen kamen aus dieser Richtung lange Zeit jedoch nicht. Erst 1979 machte W. Essler den Versuch, über Hempel und Stegmüller hinauszugehen und ein eigenes Auslegungsschema zu entwerfen. (Vgl. Kap. II. 2.2 Anm. 55 und 65). 18 s. hierzu vor allem die Arbeiten von R. Löw (200), (201), W. Büchel (60) und F. Wuketits (397), (402 a). In (397) nimmt die Diskussion des Teleologieproblems weniger Raum ein, weil andere Akzente gesetzt werden. Wie der Untertitel seines Buches schon andeutet, konzentriert sich Löw im wesentlichen auf die Bearbeitung dieses Themas bei Kant, ohne jedoch den historischen Bezug zu vernachlässigen. Er setzt das naturwissenschaftliche Denken Kants in Bezug zur Geschichte der abendländischen Naturinterpretation. In seinem Abschlußkapitel schneidet er Themen an, die in der heutigen, wissenschaftstheoretischen Teleologiediskussion aktuell sind und reflektiert sie vor dem Hintergrund der Geschichte. Auch ethische Fragestellungen werden hier thematisiert. (Zu diesem Buch s. auch die Rezension von Wuketis: 402). Der Zusammenhang zwischen den wissenschaftstheoretischen Aspekten des Teleologieproblems und seiner ethischen Dimension wird vor allem in den Arbeiten von H. Jonas (164), (164 a), R. Spaemann (329) und Spaemann!Löw (330) bearbeitet. Auf W. BüchelsAufsatz (60), der erst nach Abgabe dieser Dissertation beim Verlag erschien, können wir hier nicht näher eingehen. Erwähnt sei nur vorab, daß er eine Definition "zielsuchenden" Verhaltens über den Begriff der Negentropie gibt, ein Aspekt, der in den angloamerikanischen Beiträgen weitgehend vernachlässigt wird. Die zunehmende Popularität der Teleologieproblematik äußert sich auch darin, daß Heft 20 der Neuen Hefte für Philosophie ausschließlich diesem Thema gewidmet ist. Hier kommen die verschiedensten wissenschaftlichen Disziplinen zu Wort. Neben der im engeren Sinn philosophischen
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I. Einleitung
Fragestellungen der Physik orientierte, macht sich nun eine Akzentverschiebung bemerkbar, die die Biologie stärker ins Blickfeld rückt und sich in diesem Rahmen auch des Teleologieproblems annimmt. Für die Wissenschaftstheorie der Biologie wiederholt sich hier offensichtlich derselbe Vorgang, der schon die Etablierung der Biologie als Wissenschaft kennzeichnete. Ebenso wie die Biologie bzw. die Lehre vom Lebendigen im Vergleich zu den anderen Naturwissenschaften lange Zeit als Stiefkind betrachtet wurde und erst relativ spät Eingang in den Kanon der Wissenschaften fand 17 , ergeht es nun auch ihrer Wissenschaftstheorie, die sich allmählich erst einen gleichwertigen Platz neben den metatheoretischen Reflexionen auf die anderen Naturwissenschaften erobern muß. "No other branch of the philosophy of science is as backward as the philosophy of biology" bemerktE. Mayr sehr treffend (212:197). Auf Grund der Fülle der Beiträge zum Teleologieproblem können wir nicht den Anspruch erheben, die Diskussion in all ihren Aspekten zu berücksichtigen. Allerdings haben wir uns bemüht, deren zentrale Themen herauszugreifen. Dabei handelt es sich um Problemstellungen, die seit jeher Philosophen und Wissenschaftler faszinierten. Wir beschränken uns im wesentlichen auf die Behandlung des Problems teleologischer Erklärungen, weil diese von ihrem philosophiegeschichtlichen Ursprung her viel Diskussion des Teleologieproblems im Anschluß an Kant, dessen "teleologische(s) Modell im weiten Sinne, ... die Maxime der Angemessenheit der Welt für unsere Fassungskraft" (102:33), unter Einbeziehung der Überlegungen Busserls zum Lebensweltbegriff untersucht und modifiziert werden soll ( K . Düsing), wird das Teleologieproblem in den Sozialwissenschaften (N. Luhmann), der Biologie (B. Hassenstein), der Medizin (D. von Engelhardt), der Psychoanalyse (G. Schmid Noerr/A . Lorenzer) und der Geschichte (V. Muhlack) diskutiert. Den Abschluß bilden S. Tauimins Überlegungen zur "Teleology in Contemporary Science and Philosophy". Das zunehmende Interesse am Problem teleologischen Denkens äußert sich auch darin, daß in letzter Zeit Tagungen und Kolloquien stattfanden, die sich eigens um dieses Thema zentrierten. So wurde z. B. im WS 1980/81 an der TU Berlin ein Forschungskolloquium über "teleologisches Denken" angeboten. Die dort vorgetragenen Referate sind inzwischen erschienen: H. Poser (Hg.) Formen teleologischen Denkens. Philosophische und wissenschaftshistorische Analysen: Kolloquium an der TU Berlin WS 1980/81. TUB~Dokumentation: Tagungen und Kongresse Nr. 11. TU Berlin 1981. Die Gesellschafi für Wissenschaftsgeschichte stellte ihr XIX. Sympo~itlm unter: .den Titel "Die Idee der Zweckmäßigkeit in der Geschich_te der : :Wissenschaften~. (s. hier~u auch unseren ~ericht:l08). · · 17 Zur Etablierung der Biologie als Wissenschaft s; die aufschlußreiche kleine -Studie von Wuketits, der die theoretische Begründung der Biologie im 19. Jahr-hundert an .Hand einiger ihrer fundamentalen Konzepte nachzeichnet ( 400).
1. Einführung in die Problemstellung
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stärker unter Metaphysikverdacht stehen und uns von daher die Wiederaufnahme dieses Problems durch die moderne Wissenschaftstheorie interessanter erschien, als deren Diskussion der semantischen lmplikationen funktionaler Erklärungen, Analysen und Beschreibungen. Die mit diesen zusammenhängenden Fragen sollen daher nur kurz zu Beginn von Kap. II. 2.12 thematisiert werden. Zur Einführung in das Problem teleologischer Erklärungen in der Biologie wollen wir zunächst an Hand eines Beispiels eine semantische Analyse durchführen, um dann in einem weiteren Schritt über den Vergleich mit der teleologischen Erklärung einer menschlichen Handlung die Schwierigkeiten darzustellen, die die Anwendung derartiger Erklärungen auf Organismen für den heutigen Biologen mit sich bringt (Kap. I. 2.). Da sich der systematische Ansatzpunkt der in der zeitgenössischen Diskussion aufgeworfenen Fragen und angebotenen Lösungsvorschläge sowohl von der Geschichte des Teleologieproblems her begründet, als auch den Kenntnisstand der modernen Biologie berücksichtigt, soll auf beides Bezug genommen werden. Denn die Diskussion knüpft an eine bestimmte Stufe des schulbiologischen Selbstverständnisses an und betrachtet diese als verbindlichen Ausgangspunkt ihrer Reflexionen, hinter den sie nicht zurückfallen will (Kap. I. 3.). Ein integrierender Bestandteil biologischer Theorien ist heute das begriffliche Instrumentarium der Kybernetik, die sich als Biokybernetik sowohl in der Physiologie als auch in der Molekularbiologie durchsetzt18• Daher sollen auch die für unseren Zusammenhang wesentlichen Grundbegriffe der Kybernetik kurz vorgestellt werden, wobei wir den Begriff der Information ausführlicher behandeln als den der Regulation, weil er in dem später zu diskutierenden Ansatz von Mayr einen zentralen Stellenwert einnimmt (Kap. I. 4.). Danach folgt ein Ausblick auf die Schwierigkeiten, die der Versuch mit sich bringt, die Beschreibbarkeit biologischer Prozesse mit kybernetischen Kategorien zur Legitimationsgrundlage teleologischer Erklärungen zu machen (Kap. I. 5.). Dieses fünfte Kapitel endet mit einem Überblick über den Aufbau der gesamten Arbeit. Wenn wir die Darstellung wesentlicher theoretischer Voraussetzungen der modernen Biologie z. T. bereits in der Einleitung vorweggenommen haben, statt sie als letztes Kapitel der Ausschnitte aus der Geschichte des Teleologieproblems (Kap. II. 1.) zu behandeln, so deshalb, weil uns die Kenntnis dieser Voraussetzungen bei der Lektüre des ersten Kapitels (II. 1.1 -1.7.)begleiten soll. 18
s. hierzu B. Hassenstein (140), (141).
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I. Einleitung
2. Semantische Analyse einer teleologischen Erklärung Der warmblütige Organismus hält auch bei wechselnden Außentemperaturen normalerweise eine bestimmte Körpertemperatur aufrecht. Beim Menschen beträgt diese rund 37° C. Wenn durch besondere Einwirkungen, etwa durch schwere Muskelarbeit bei hoher Außentemperatur, höhere Körpertemperaturen entstehen, so treten unter normalen Umständen Abkühlungsmechanismen in Aktion, wie z. B. Schweißbildung (140:47). Solche und ähnliche Prozesse werden in biologischen Fachschriften bisweilen auf folgende Weise beschrieben: Bei erhöhter Bluttemperatur treten beim Menschen Mechanismen, z. B. Schweißbildung, in Aktion, um seine Körpertemperatur auf die Normaltemperatur zu reduzieren. Diese Aussage impliziert dem Anspruch nach mindestens drei für unsere Fragestellung relevanten Annahmen: (a) Es wird angenommen, daß der zur Debatte stehende Mechanismus bestimmte Wirkungen hat. Das Beispiel impliziert die Behauptung, daß auf Grund des betreffenden Mechanismus die Körpertemperatur reduziert wird. Dieser Bedeutungsaspekt setzt die Annahme einer Theorie voraus, die Gesetzeshypothesen über den Bedingungszusammenhang zwischen dem Mechanismus der Schweißbildung und der Reduktion der Körpertemperatur enthält. (b) über diesen Bedingungszusammenhang hinaus wird ein Relevanzzusammenhang zwischen dem Abkühlungsmechanismus und der Reduktion der Körpertemperatur angenommen. Der Mechanismus hat nicht nur eine gewisse Wirkung, sondern wird auch als relevant betrachtet im Hinblidt auf diese Wirkung der Reduktion der Körpertemperatur. Dabei wird implizit oder explizit vorausgesetzt, daß das System bei erhöhter Temperatur nicht adäquat funktioniert und der Abkühlungsmechanismus insofern zur Erhaltung des Systems beiträgt. Dieser Bedeutungsaspekt setzt Gesetzeshypothesen über das Relevanzverhältnis zwischen Ursache und Wirkung voraus. (c) Schließlich wird über die Annahme des Bedingungs- und Relevanzzusammenhangs hinaus noch behauptet, daß der Organismus gerade deswegen über den betreffenden Mechanismus verfügt, weil dieser den angegebenen relevanten Effekt hat. Der Abkühlungsmechanismus soll unter Berufung auf seine Wirkung erklärt werden. Der Unterschied zu . (b) besteht darin, daß hier nicht nur ein Relevanzzusammenhang them_a tisiert wird, sondern daß darüber hinaus ein explanatorischer Anspruch im Sinne einer Erklärbarkeit des Vorkommens des betreffenden Mechanismus unter Berufung auf seine Wirkung erhoben wird. Die reine Thema-
2. Semantische Analyse einer teleologischen Erklärung
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tisierung eines Relevanzzusammenhangs läßt die Möglichkeit offen, daß der zweckdienliche Mechanismus aus irgendwelchen Gründen auch immer in Aktion tritt. Die funktionale Beschreibung "Die Funktion der Schweißproduktion ist die Reduktion der Körpertemperatur." enthält zwar die Bedeutungsaspekte von (a) und (b), nicht aber die semantischen Implikationen von (c), den explanatorischen Anspruch der Zurückführung des Einsetzens des Mechanismus auf dessen antizipierte Wirkung. Der Unterschied läßt sich an Hand eines Beispiels aus Gehlens Anthropologie klarmachen. Gehlen weist hier im Zusammenhang mit dem Totemismus auf ein Phänomen hin, das er "sekundäre objektive Zweckmäßigkeit" nennt (117:398). Ursprünglich als Anbetung des Totemtiers intendiert, entsprang ihm als Nebenerfolg die Überwindung der Anthropophagie. Die Identifikation der einzelnen Gruppenmitglieder mit dem Totemtier führte zu einer Stabilisierung der Gruppenidentität, weil das Tötungs- und Speiseverbot des Totemtieres das Verbot des Mordes und der Anthropophagie der sich mit dem Totemtier identifizierenden anderen Gruppenmitglieder implizierte. Dadurch wurde der Totemismus wiederum rückwärts stabilisiert. Dieses Beispiel zeigt, daß man hier zwar sagen kann, die Funktion des Totemismus sei die Überwindung der Anthropophagie -denn das ist sie auch- aber nicht, daß der Totemismus entstand, um die Anthropophagie zu überwinden 19 • Der Unterschied zu (a) und (b) besteht also darin, daß der in (c) thematisierte Bedeutungsaspekt die Annahme einer Theorie voraussetzt, die Gesetzeshypothesen über finale Zusammenhänge in dem explizierten Sinn enthält. Im folgenden sollen im Lichte eines Vergleichs mit teleologischen Erklärungen in einem anderen Kontext die Schwierigkeiten erhellt werden, die die Anwendung teleologischer Erklärungen auf Organismen mit sich bringt. Der sachliche Zusammenhang, dem teleologische Erklärungen entstammen, ist der des menschlichen Handelns. Die Handlungen eines Subjekts lassen sich als teleologisch bezeichnen, wenn sie intentional sind, d. h. im Dienste der Verwirklichung der vom Handelnden bewußt gesetzten oder akzeptierten Zwecke stehen20• Die teleologische Erklärung einer 19 Vgl. hierzu auch R. Merton, der in diesem Sinne zwischen manifesten und latenten Funktionen unterscheidet (219:73- 138). 20 Dem widerspricht nicht, daß wir häufig zielgerichtet handeln, wenn unser Handeln bereits eingespielt ist und wir. nicht jeden einzelnen Schritt mehr zu überlegen brauchen (vgl. Kap. II. 1.2). Denn die Rede vom eingespielten finalen Handeln ist zu verstehen vor dem Hintergrund des bewußten, intentionalen Handelns. Unser habitualisiertes Verhalten, wie z. B. das tägliche Zähneputzen, ist potentiell jederzeit in bewußtes, intentionales Handeln überführbar. Inten-
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I. Einleitung
Handlung wäre demnach eine Antwort auf die Frage, warum diese Handlung stattgefunden habe, wobei dieses warum im Sinne eines wozu zu deuten ist. Sie wäre also eine Antwort auf die Frage nach dem Ziel oder Zweck der Handlung. So würde z. B. jemand auf die Frage, warum (wozu) er in die Bibliothek gehe, antworten: "Ich gehe in die Bibliothek, um mir ein Buch auszuleihen." Kennzeichnend für diese Erklärung ist die Berufung auf ein antizipiertes Ziel, dem die Handlung als Realisationsmittel dienen soll. Worin bestehen Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen teleologischen Erklärungen im Bereich der Biologie und dem des menschlichen Handelns? Auf beide treffen ihrem Anspruch nach die drei oben angeführten semantischen Implikationen zu. Auch im Fall einer teleologischen Erklärung menschlichen Handeins wird ja, wie das Beispiel zeigt, erstens ein Bedingungszusammenhang thematisiert: Der Gang zur Bibliothek wird als Bedingung für eine mögliche Buchausleihe betrachtet. Zum anderen wird ein Relevanzzusammenhang thematisiert: Der Gang zur Bibliothek wird als relevant betrachtet im Hinblick auf die Erfüllung eines bestimmten Zwecks, nämlich der Buchausleihe. Und schließlich wird die Handlung selbst mit Bezug auf den Zweck, dem sie dienen soll, erklärt: Die Antizipation des als Zweck betrachteten Resultates der Handlung (Buchausleihe) wird als Grund für das Stattfinden der Handlung (Gang zur Bibliothek) angegeben. Der Handelnde möchte dieses Resultat erzielen und glaubt, daß er es durch seine Handlung erzielen kann. Unter dieser Voraussetzung läßt sich die oben genannte Frage und ihre Antwort auf folgende Weise reformulieren: "Warum gehst Du in die Bibliothek?" "Ich gehe in die Bibliothek, weil ich ein Buch ausleihen will.", wobei impliziert ist, daß der Handelnde glaubt, durch seine Handlung dieses Ziel realisieren zu können. Selbst wenn hier der Einwand kommt, daß bei teleologischen Erklärungen menschlicher Handlungen noch mehr Implikationen im Spiel sind, tionales Handeln stellt somit das Paradigma teleologischen Handeins dar, das auch dann gültig ist, wenn wir von Abweichungen sprechen. Die Rede von der Abweichung ist ja nur sinnvoll vor dem Hintergrund eines Paradigmas. Die weitere Frage, ob auch Handeln, das nicht bewußtlos im oben explizierten Sinn von habitualisiert abläuft, sondern unbewußten Motiven untersteht, teleologisch in der genannten Bedeutung ist, kann hier nicht entschieden werden. Dazu wäre eine weitergehende Untersuchung in die Struktur und den Ablaufpsychischer Prozesse erforderlich. Daß es aber funktional, d. h. zweckmäßig sein kann, läßt sich wohl nicht bestreiten. Zur jüngsten Teleologiediskussion in der Psychoanalyse s. G. Schmid Noerr und A. Lorenzer (314).
2. Semantische Analyse einer teleologischen Erklärung
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daß also die Analyse noch weiter zu treiben sei, und selbst wenn der Reduktion "echter Teleologie" auf "echte Kausalität" 21 mit Skepsis begegnet wird und man Absichten, Wille usw. nicht als verhaltensauslösende Ursachen begreift, so läßt sich hier doch zumindest ein Subjekt angeben, das in der Lage ist, Handlungsabsichten zu haben, die der Handlung vorgelagert sind oder sie begleiten, und das andererseits zweckdienliche Kausalprozessein Gang setzen kann bzw. dies veranlassen kann, so daß unter idealen Umständen die Handlung in dem mit ihr bezweckten Resultat zum Ende gelangt. (Wir fügen einschränkend "unter idealen Umständen" hinzu, weil sich ja Fälle vorstellen lassen, in denen die Handlung durch irgendwelche widrigen Umstände nicht zur Realisierung ihres Ziels kommt, vorher unterbrochen wird, scheitert usw. Diese Möglichkeit der Zielverfehlung macht auch klar, daß das zukünftige, bezweckte Ereignis selbst nicht die Ursache seiner eigenen Realisierung durch das Mittel der Handlung sein kann 22, es sei denn, man wolle die Teleologie eines Ver21 Wir sind uns durchaus darüber im klaren, daß unsere Darstellung teleologischer Erklärungen intentionalen, menschlichen Handeins stark vereinfacht ist und daß wir das Problem des Verhältnisses von Erklären und Verstehen ausgeblendet haben. Insofern spiegelt unsere Präsentation weder die Komplexität dieser Problematik noch den heutigen Stand der Kontroverse um Verstehen und Erklären. Unter Berücksichtigung der Akzentsetzung unserer Studie erweist sich eine Behandlung dieser Thematik jedoch als nicht notwendig. Für uns ist nur relevant, daß im Falle menschlichen, intentionalen Handeins überhaupt eine Instanz angehbar ist, auf die wir uns berufen können, um die Anwendung teleologischer Kategorien zu legitimieren. Daher liegt die methodologische Kontroverse um Verstehen und Erklären jenseits des für unseren Samzusammenhang relevanten Themenbereichs. Zur Analyse teleologischer Erklärungen s. auch die Analyse von C. ]. Ducasse, die bei Stegmüller (335 :535 ff.) referiert wird. Zur weiteren Diskussion des Verhältnisses von Erklären und Verstehen und zur jüngsten Diskussion über die Struktur teleologischer Erklärungen s. Stegmüller (336:103- 147). 22 Als Argument gegen die Anwendung teleologischer Erklärungen auf organische Phänomene wird häufig angeführt, daß in teleologischen Erklärungen die zeitliche Reihenfolge von Ursache und Wirkung verkehrt sei: ein noch nicht eingetretenes, erst später stattfindendes Ereignis, das als Zweck betrachtet wird, müsse dann seine eigene Verursachung bewirken. Dies ist jedoch ein falsches Teleologieverständnis und wird häufig zu Unrecht gegen Apologeten teleologischer Erklärungen im Bereich der organischen Natur als Vorwurf erhoben. Bei Aristoteles z. B. steht die bezweckte Form eines Naturgegenstandes nicht nur als realisierte am Ende eines Prozesses, sondern fungiert als die reg.elnde Einheit, die den gesamten Gestaltungsprozeß von Anfang an bestimmt und sich als das in einem Seienden angelegte Mögliche realisiert. Bezogen auf den lebendigen Organismus bedeutet dies, daß das Ganze, als Zweck betrachtet, potentiell von Anbeginn in der Stofflichkeit vorhanden ist und die Entfaltung seiner
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I. Einleitung
haltens von seiner faktischen Zielrealisation abhängig machen, was unserer Ansicht nach nicht sinnvoll wäre. Denn unter dieser Voraussetzung würde ein Handeln nur nach erreichtem Zweck als final gelten können und zweckverfehlendes Handeln, obwohl ursprünglich zweckerfüllend intendiert, wäre mit einemmal nicht mehr final.) Durch unsere Ausführungen sollte deutlich werden, daß sich die Anwendung teleologischer Erklärungen auf Organismen bei gleichzeitiger Obereinstimmung mit dem wissenschaftstheoretischen Selbstverständnis der modernen Biologie deshalb als problematisch erweist, weil hier ein zwecksetzendes Subjekt bzw. eine gleichwertige ontologische Instanz nicht angehbar ist, die den Zusammenhang von (a) und (b) einerseits mit (c) andererseits stiften könnte. Dieser Argumentation zufolge wäre eine theoretische Legitimierung teleologischer Erklärungen in der Biologie nur dann möglich, wenn man entweder mit dem wissenschaftstheoretischen Selbstverständnis der modernen Biologie zu vereinbarende Bedingungen angeben könnte, die die Funktion erfüllen könnten, den Sinn teleologischer Erklärungen zu fundieren, das antizipatorische Bedeutungsmoment einzuholen, oder aber bereit wäre, auf traditionelle Rechtfertigungsmuster, wie etwa die aristotelische Naturteleologie oder die theistische Metaphysik, zurückzugreifen. Diese letzte Möglichkeit würde ein radikales Umdenken erfordern, weil damit unsere gesamte neuzeitliche Entwicklung rückgängig gemacht würde. Bevor wir auf mögliche Einwände gegen unsere Argumentation zu sprechen kommen, werden wir die für unsere Themenstellung relevanten theoretischen Grundannahmen der modernen Biologie vorstellen. 3. Zur Ortsbestimmung der angloamerikanischen Teleologiediskussion: Ihre Anknüpfung an Voraussetzungen der modernen Biologie Zwei Merkmale der belebten Natur sind es vor allem, die immer wieder Erstaunen auslösten und Anlaß zu kühnen Spekulationen über ihren Ursprung und ihre Möglichkeit gaben: Zum einen ist damit die zweckmäßige, lebensdienliche Ausstattung von Organismen gemeint, die sich in ihrem Anpassungscharakter an ihre jeweilige gattungs- bzw. artspezifische Umgebung ausweist. Beispiele hierfür gibt es unzählig viele. Man denke nur an die Kiemen der Fische, Teile in Übereinstimmung mit der ihm wesensmäßigen Form bestimmt (vgl. Kap. II, 1.2.).
3. Zur Ortsbestimmung der angloamerikanischen Teleologiediskussion
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den Rüssel des Elefanten, die Hand des Menschen oder die Drüse des Tintenfisches. Mit Aristoteles' Tierlehre (11) liegt wohl eines der ersten Zeugnisse in der Geschichte der Biologie vor, das diesem Phänomen besondere Aufmerksamkeit gewidmet hat und auf der Grundlage einer Vielzahl empirischer Untersuchungen an Hand von Beispielen zu belegen suchte. Zum anderen ist damit die Besonderheit bestimmter Prozeßarten gemeint, eine bestimmte, als typisch geltende Gestalt oder einen als typisch geltenden Zustand zu realisieren. Ein Beispiel hierfür sind ontogenetische Entwicklungsprozesse. Das sogenannte "Ziel" der Entwicklung eines Embryos ist erreicht, wenn das Produkt, der fertige Mensch z. B., über alle wesentlichen Merkmale verfügt, die ihn etwa von einem Baum unterscheiden und als Menschen definieren. Daneben lassen sich auch sämtliche Regulationsprozesse anführen, wie etwa die Aufrechterhaltung einer konstanten Körpertemperatur trotz wechselnder Umweltbedingungeil und andere Prozesse, für die W . Cannon den Begriff H omöostase prägte, der mit seinem 1932 erschienenen Buch The Wisdom of the Body (69) zum terminus technicus wurde. Diese beiden kurz skizzierten Merkmale des Lebendigen wurden im Verlaufe der Philosophie- und Wissenschaftsgeschichte häufig auf die Leistungen einer zwecksetzenden Instanz zurückgeführt - sei es in Form eines der Natur immanenten Prinzips, sei es in Gestalt einer transzendenten, göttlichen Vernunft - und teleologisch erklärt. Wie wir im vorigen dargestellt haben, sind die Handlungen eines Subjekts teleologisch, wenn sie im Dienste antizipierter Zwecke stehen. Die aristotelische Naturteleologie ist nach diesem Vorbild konzipiert (vgl. Kap. II. 1.2.). Zufall im Sinne von Planlosigkeit23 scheint da ausgeschlossen, wo alles so optimal im Hinblick auf die Erhaltung und Funktionsweise des Lebens zusammentrifft. Teleologische Denkfiguren dieser Art sind im Zuge der Entwicklung der neuzeitlichen Naturwissenschaften allmählich preisgegeben worden. Für die Biologie setzte eine "sinnvolle naturwissenschaftliche Diskussion" der Frage, was Leben sei (379:VI), erst im letzten Jahrhundert ein. Während das Problem der zweckmäßigen Ausstattung von Organismen nach Ansicht der modernen Biologie seine bis heutige gültige Lösung durch Darwins Theorie der natürlichen Auslese erfahren hat, so daß für den Bereich der phylogenetischen Entwicklung der Darwinismus bzw. seine Verfeinerung durch den Neodarwinismus24 den Stand des gegenwärtigen n
Vgl. Anm. 12.
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wissenschaftlichen Selbstverständnisses darstellt, ist die Molekulargenetik im Bereich der ontogenetischen Entwicklung repräsentativ für den gegenwärtigen Wissensstand. Diese beiden auch häufig als die zwei Revolutionen der Biologie bezeichneten Ereignisse machen die Verwendung teleologischer Erklärungen im strengen Sinne des Wortes im Rahmen des wissenschaftlichen Diskurses überflüssig, ja sie sind sogar inkompatibel mit dem heutigen Selbstverständnis der Wissenschaft. Die Existenz einer lebensdienlichen Organausstattung wird nicht mehr unter Berufung auf ihren zuvor antizipierten Zweck erklärt, sondern als das zufällige Ergebnis eines Evolutionsprozesses vorgestellt. Der Abschluß eines embryonalen Entwicklungsprozesses, der im kompletten Organismus als der fertigen Gestalt sein sog. Ziel erreicht, bedarf zu seiner Erklärung nicht mehr der Vorstellung einer Finalkausalität, sondern läßt sich nach heutigem Verständnis im Prinzip auf die besonderen Konstellationen molekularbiologisch erlaßbarer Anfangsbedingungen zurückführen. In der Schulbiologie herrscht heute Einigkeit darüber, daß belebte und unbelebte Natur aus denselben "Bausteinen" zusammengesetzt sind, wenn sie sich auch in deren Konstellation voneinander unterscheiden. Die naturwissenschaftliche Leistung der Molekulargenetik besteht für den Biologen darin, daß sie es ermöglicht hat, den traditionellen Zielbegriff von seinem metaphysischen Beiwerk zu befreien und die Finalität durch ihre Zurückführung auf materielle Ausgangsbedingungen zu verobjektivieren. Dasselbe triffi auch auf andere Disziplinen der Biologie, wie z. B. auf die Physiologie, zu. Was früher auf die Steuerungsleistung subjektanalog konzipierter Prinzipien oder Instanzen zurückgeführt wurde, die sog. Zielstrebigkeit der belebten Natur, wird heute als eine besondere Form der Kausalität begriffen. Die Entstehung eines Steines und die Entwicklung eines Embryos werden beide unter Verzicht auf immaterielle Steue, rungskräfte erklärt. Wenn auch die Frage, ob sich die Biologie in metho· dologischer Hinsicht auf Physik und Chemie reduzieren läßt, noch offen ist und je nach biologischer Disziplin (Genetik, Physiologie, Verhaltensforschung usw.) vermutlich unterschiedlich zu beantworten ist, wird zu24 s. hierzu die Beiträge von D. Hull (157), E. Mayr (214), E. Oeser (248) und F. Wuketits (398), (403). Der Wissenschafl:stheoretiker und Biologe Wuketits bringt das Selbstverständnis der heutigen Biologie sehr explizit zum Ausdruck. An der "prinzipiellen Gültigkeit der Evolutionstheorie" können seiner Meinung nach heute "auch nicht die geringsten Zweifel bestehen ... Darwins Erklärungsprinzip für die Evolution ist wissenschafl:stheoretisch gesehen ein Meilenstein in der Biologie geworden. Kein Biologe wird heute daran zweifeln können, daß die Selektion de facto eine wichtige Triebfeder der Evolution darstellt." (403:1).
3. Zur Ortsbestimmung der angloamerikanisdlen Teleologiediskussion
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mindest in ontologischer Hinsicht ein Reduktionismus vertreten 25 • Dieser äußert sich in dem Vertrauen auf die prinzipielle naturwissenschaftliche Erklärbarkeit des Lebendigen, das den Rückgriff auf metaphysisch-transzendente Lebensprinzipien ausschließt. In diesem Sinne setzt sich eine mechanistische Lebensauffassung durch. Mit der Molekulargenetik hat die Biologie ihren "Newton des Grashalms" 26 gefunden. Kants Zweckbegriff scheint hier nicht einmal mehr im regulativen Sinn erforderlich zu sein. Und nicht nur die Frage nach der ontogenetischen und phylogenetischen Entwicklung, sondern auch das Problem der Biogenese, der Entstehung erster Lebewesen überhaupt, wird heute in der Wissenschaft im Sinne eines ontologischen Reduktionismus beantwortet27 , so daß man hier mit Recht von der dritten Revolution der Biologie sprechen könnte. Für M. Eigen gibt es keine tiefe Zäsur zwischen der unbelebten Natur und der Biosphäre. Die Entstehung des Lebens, "also die Entwicklung vom Makromolekül zum Mikroorganismus", ist für ihn "nur ein Schritt unter vielen, wie etwa der vom Elementarteilchen zum Atom, vom Atom zum Molekül." (226 :XV). Wie weit sich die Biologie als naturwissenschaftliche Disziplin von teleologischem Denken im traditionellen Sinne entfernt hat, äußert sich in Hassensteins Beobachtung, daß für einen frisch habilitierten Dozenten der Biologie der Begriff Teleologie nicht mehr zum aktiven Wissen gehöre, lediglich der Begriff Teleonomie, der den "naturwissenschaftlich verwendbaren Anteil" der Teleologie bezeichne ( 141 : 69 f.). An diese theoretischen Voraussetzungen der modernen Biologie, die zumindest in ontologischer Hinsicht reduktionistisch argumentiert, knüpft 25 Zur Diskussion verschiedener Spielarten des Reduktionismus s. im Anschluß an f . Ayala (16:VIII f.) 2. Kochanski (183:67 -120). 26 (169:400); vgl. Kap. li. 1.42.; s. auch den Aufsatz von H. Plessner (265). 27 s. hierzu die Beiträge von B. Rensch (280), (281) und die dort angegebene Literatur. An Darstellungen und Diskussionen der Position Eigens s. die Beiträge von Hassenstein (141), Löw (200), (201) und Stegmüller (336). Zur Frage der Entstehung des Lebens s. darüber hinaus die Beiträge von W. Büchel (57), F. Crick (77), F. facob (160), R. Kaplan (171), (172), Th. von Randow (276) und die von H. Seebaß (322) bearbeitete Vortragsreihe, die im WS 1979/80 an der Universität Münster in der Absicht einer Intensivierung des "Studium Generale" stattfand. Im Rahmen dieser interdisziplinären Kommunikation wurde das Problem der Entstehung des Lebens unter den verschiedensten Aspekten beleuchtet, und zwar unter biologischem (B. Rensch), medizinischem (R. Toellner), ethischem (F. K . Beller), philosophisch-begriffsanalytischem (F.lnciarte), theologischem (P. Hünermann), juristischem (H. Kiefner) und politischsozialem (E. Boettcher) Aspekt.
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I. Einleitung
die angloamerikanische Diskussion an und wirft alte Fragestellungen im Lichte des neuen wissenschaftlichen Selbstverständnisses, das sie als verbindlich betrachtet, wieder auf. Dabei sind die Weichen für die Richtung, in die die Beantwortung der Frage nach der Möglichkeit teleologischer Erklärungen in der Biologie geht, durch den historischen Kontext gestellt, und zwar in einem zweifachen Sinne: Zum einen stellt sich das Problem einer wissenschaftstheoretischen Rechtfertigung teleologischer Erklärungen in der wissenschaftshistorischen Situation des "Postaristotelismus", "Postvitalismus" usw., die sich durch den Anspruch des Verzichts auf derartige metaphysische Legitimationsgrundlagen für die mögliche Anwendung teleologischer Kategorien auf Organismen kennzeichnet. Die zentrale These derartiger Metaphysiken lautete ja - von Fall zu Fall mehr oder weniger explizit - daß in der belebten Natur nicht nur auf Schritt und Tritt Zweckmäßiges anzutreffen sei, sondern daß die Existenz und Funktionsweise dieser Phänomene auch unter Berufung auf ihren antizipierten Zweck zu erklären sei. Der Sinn teleologischer Erklärungen wurde hier also durch die zugrundeliegende Metaphysik ermöglicht, die das Vorliegen von Zweckmäßigkeit als ein nichtzufälliges, quasi planmäßiges Resultat wie immer auch zu bestimmender subjektanaloger Instanzen deutete. Vor dem Hintergrund der Überwindung dieser metaphysischen Lehren stellt sich die Frage nach der Legitimation teleologischer Erklärungen bei gleichzeitiger Ablehnung gerade jener Voraussetzungen, die ihren Sinn garantierten. Werden derartige metaphysische Voraussetzungen heute auch kritisch hinterfragt, so muß doch im Hinblick auf das Problem der Rechtfertigung teleologischer Erklärungen in der Biologie berücksichtigt werden, daß im Rahmen dieser metaphysischen Theorien immerhin eine Instanz angehbar war, die die Funktion ausübte, jene Lücke zu füllen, die hinterbleibt, wenn das Subjekt der Zwecksetzung nicht angehbar ist, aber die Verwendung teleologischer Erklärungen dennoch sinnvoll bleiben soll. Für zeitgenössische Apologeten teleologischer Begriffsbildungen in der Biologie, die einerseits derartige metaphysische Voraussetzungen nicht mehr teilen, andererseits aber den wissenschaftstheoretischen Anspruch teleologischer Erklärungen nicht preisgeben wollen, ergibt sich die Notwendigkeit, andere Theorien zur Legitimationsgrundlage solcher Erklärungen anzubieten.
Aus dieser Situation erwächst zum anderen das Problem, daß die heutige Verwendung teleologischer Erklärungen, selbst wenn dieser metaphysische Hintergrund explizit abgelehnt wird, in den Verdacht gerät, die Tradition derartiger metaphysischer Rechtfertigungsversuche der
3. Zur Ortsbestimmung der angloamerikanischen Teleologiediskussion
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Teleologie des Lebendigen mit lediglich anderem Inhalt fortzusetzen. Dieser Skepsis entspringt einerseits die spezifische Fragestellung der Vertreter der in der Tradition des Logischen Empirismus stehenden Analytischen Philosophie, ob sich teleologische Erklärungen bzw. funktionale Analysen 28 in Erklärungen jenes Typs übersetzen lassen, der von ihnen als Idealschema wissenschaftlicher Erklärungen postuliert wird. Wenn dies möglich sei, so handele es sich bei derartigen Wendungen lediglich um eine "fas:on de parler", um metaphorische Formulierungen, die den Anschein erwecken, "als ob" hier echte "materiale Teleologie", wie sie im Falle der Existenz zwecksetzender Subjekte gegeben sei, vorliege (333:27; 335 :522), und die bloß eine heuristische Funktion haben. Dieser Fragestellung entspringen andererseits die zahlreichen Versuche einer semantischen Explikation funktionaler und teleologischer Formulierungen, die über den Versuch der Übersetzung in das DN-Modell der wissenschaftlichen Erklärung hinausgehen und sich darum bemühen, die bei teleologischen Erklärungen stillschweigend gemachten Voraussetzungen und Implikationen freizulegen 29• Bevor wir im nächsten Kapitel auf die kybernetischen Kategorien Regulation und Information zu sprechen kommen, wollen wir einige Einwände vorwegnehmen, die sich jetzt bereits anmelden könnten. Jemand könnte zu bedenken geben, daß teleologische Erklärungen, wie wir sie in unserem Beispiel (Kap. I. 1.2) vorgestellt haben, gar nicht mehr wörtlich zu nehmen sind, wenn sie in biologischen Fachschriften auftauchen, daß sie vielmehr im Sinne evolutionstheoretisch fundierter, funktionaler Erklärungen zu deuten sind. Existenz und Wirkungsweise des Abkühlungsmechanismus sei nicht auf dessen von wem auch immer antizipierten Zweck zurückzuführen, sondern sei in dem Sinne unter Berufung auf seine Funktion zu erklären, daß sich Organismen, die über solche Mechanismen verfügen, im Dasein erhalten konnten und mit ihnen auch die betreffenden Mechanismen. Daher seien sie durch ihre Funktion erklärbar. Manchmal bediene sich der Biologe solcher teleologischen Erklärungsformen auch aus heuristischen oder didaktischen Gründen, nämlich um die Darstellung eines sonst nur umständlich beschreibbaren Gegenstandes zu erleichtern und seine Funktionsweise verständlich zu machen. Die Diskussion über das Problem teleologischer Erklärungen in der Biologie würde sich damit erübrigen, weil teleologische Erklärun28 Die betreffenden Autoren interpretieren funktionale Analysen im stärkeren Sinne des Anspruchs teleologischer Erklärungen. 29 Vgl. hierzu den Anfang von Kap. II. 2.2.
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gen beiden Auffassungen zufolge im wörtlichen Sinne ja gar nicht mehr verwendet werden. Eine mögliche Antwort hierauf folgt am Schluß (Kap. III). Nun ist jedoch noch eine andere Argumentationsstrategie denkbar, die in der angloamerikanischen Wissenschaftstheorie auch ihre Vertreter hat, wenn auch nicht auf die explizite Weise, wie wir es jetzt formulieren. Zwar lasse sich nicht das erstmalige Auftreten zweckmäßiger Organe, Merkmale usw. unter der konsequenten Voraussetzung eines evolutionstheoretischen Ansatzes teleologisch erklären, weil die Evolution dieser Auffassung zufolge kein zielgerichteter Prozeß sei. Daneben lasse die Biologie jedoch noch genug Spielraum für derartige Erklärungen. Man denke nur an die Vielzahl zielgerichteter Prozesse in und an lebenden Organismen. Unsere Argumentation, die auf der Orientierung teleologischer Erklärungen am Paradigma der intentionalen Subjektivität basiere, gehe von einer durch die spektakulären Erfolge der Kybernetik wissenschafhtheoretisch längst überholten Alternative von moderner N aturwissenschafi einerseits und Teleologie andererseits aus, wodurch auch die Restriktion der Teleologie auf evolutionstheoretisch-funktionales Denken oder auf ihre heuristische Funktion hinfällig werde. Die Alternative von reiner Kausalität einerseits und subjektbezogener Teleologie andererseits sei nicht mehr aufrechtzuerhalten. Gerade weil die Kybernetik den Weg zu einer subjektlosen Teleologiekonzeption gewiesen habe, seien teleologische Erklärungen nicht mehr nur in den Handlungswissenschaften, sondern auch in der Biologie legitim. Die Kybernetik habe mit Begriffen wie Programm, Code, Information usw. die Bedingungen für die Fundierung des Sinnes teleologischer Erklärungen bereitgestellt, ohne auf metaphysische Steuerungsprinzipien zurückgreifen zu müssen. Die erste Möglichkeit, von der wir oben sprachen (vgl. S. 28) sei also bereits gegeben. Eine andere Weise, diesen Einwand zu formulieren, wäre die strikte Trennung zwischen den ontologischen und den methodologischen oder wissenschaftstheoretischen Aspekten des Reduktionismusproblems 30• So sei die Befür30 F. Ayala (16:VIII f.) und im Anschluß daran Z. Kochanski (183:67 -120) heben einen ontologischen von einem methodologischen Reduktionismus ab. Diesen Gedanken aufnehmend, unterscheidet W. Büchel zwischen den ontologischen und wissenschaftstheoretischen Aspekten des Reduktionismusproblems (59:248 ff.). Diese Gegenüberstellung von Ontologie und Wissenschaftstheorie mag zwar terminologisch gebräuchlich sein, ist gleichwohl aber nicht unbedenklich, da eine Einschränkung von Wissenschaftstheorie auf den Bereich der Methodologie jedenfalls zu eng ist: Die Methodologie stellt lediglich einen Bereich der Wissenschaftstheorie dar, zu der neben ihr u. a. auch die Ontologie gehört. Vgl. hierzu G. König (186:31 ff.).
3. Zur Ortsbestimmung der angloamerikanischen Teleologiediskussion
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wortung eines ontologischen Reduktionismus durchaus vereinbar mit der Ablehnung eines methodologischen Reduktionismus. Selbst wenn man also mit der modernen, naturwissenschaftlich fundierten Biologie einen ontologischen Reduktionismus vertrete und sich auf den Standpunkt stelle, daß alle Lebensprozesse ohne den zweckmäßig steuernden Eingriff von Enteleebien und anderen immateriellen Lebensprinzipien ablaufen, so sei damit noch nicht die Verpflichtung zu einem methodologischen Reduktionismus verbunden, also z. B. zu einem Verzicht auf kybernetische Kategorien wie Information, Programm, Redundanz usw., denn die oben genannten Begriffe entsprächen "Gesichtspunkten und Betrachtungsweisen ..., welche außerhalb des Rahmens der physikalisch-chemischen Betrachtungsweise liegen". (59:248) 31 • Dieses Argument könnte nun auch auf die Verwendung des Zielbegriffs ausgedehnt werden, und man könnte versuchen, teleologische Erklärungen unter Berufung auf den wissenschaftstheoretisch respektablen, ja unverzichtbaren Charakter der Kybernetik zu legitimieren, zu deren Kategorien ja auch der Zielbegriff gehöre. Die Kategorien der Kybernetik seien aber ontologisch neutral und daher auf die unterschiedlichsten Gegenstandsbereiche anwendbar. So 31 Büchels Argumentation setzt voraus, daß sich die Grenzen von Physik und Chemie exakt bestimmen lassen und daß sich physikalisch-chemische Betrachtungsweisen von denen anderer Wissenschaften, etwa der Kybernetik, genau abgrenzen lassen. Die Frage nach der Reduzierbarkeit der Biologie auf Physik und Chemie, die oft in der Weise formuliert wird, ob die gewöhnlichen Gesetze von Physik und Chemie zur Erklärung der Lebensphänomene ausreichen, ist jedoch nicht zuletzt deswegen so schwer zu beantworten, weil sie sich auf zwei verschiedene Weisen auslegen läßt, je nachdem, was man hier unter gewöhnlichen Gesetzen versteht. Entweder deutet man den Begriff im Sinne von bekannten Gesetzen oder aber in dem Sinne, daß damit die Gesetze von Physik und Chemie überhaupt gemeint sind. Im ersten Fall wird die Frage nach der Reduzierbarkeit der Biologie vom theoriegeschichtlichen Stand der physikalischen und chemischen Wissenschaften abhängig gemacht. Mögen die gewöhnlichen, d. h. bekannten Gesetze dieser Wissenschaften gegenwärtig auch noch nicht ausreichen, um die Lebensphänomene vollständig erklären zu können, so mag dies doch zu einem späteren Zeitpunkt nach der Entdeckung neuer physikalischer und chemischer Gesetzmäßigkeiten durchaus möglich sein. Im zweiten Fall stellt sich das Problem, die Grenzen von Physik und Chemie exakt zu definieren. Was ist ein physikalisches oder chemisches Gesetz? Welche Gesetzesmäßigkeiten gehören überhaupt dazu? Welche Disziplinen sind der Physik zuzurechnen? Ist z. B. Kybernetik eine physikalische Disziplin? Die Definition von Physik hat sich im Laufe der geschichtlichen Entwicklung dieser Wissenschaft ständig geändert. Von diesen Definitionen hängt dann allerdings die Beantwortung der Frage nach der methodologischen Reduzierbarkeit von Biologie und Kybernetik auf andere (Natur)-wissenschaften ab. Zur Diskussion dieses Problems s. auch Kochanski (183:75 -79 und 93- 95).
3*
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I. Einleitung
interessiere z. B. bei der Informationsverarbeitung nur der strukturelle Prozeß, wobei davon abgesehen werde, an und in welchen Objekten diese Prozesse ablaufen. Sowohl Automaten als auch Organismen wiesen dementsprechend gleiche Strukturen auf32 • Auf Grund dieser ontologischen Neutralität des Zielbegriffs sei die Anwendung teleologischer Erklärungen auf Organismen legitim. Diese Annahme der ontologischen Neutralität kybernetischer Kategorien, die die Gemeinsamkeit von Strukturen in und an Objekten unterschiedlicher ontologischer Beschaffenheit zum Ausdruck bringt, darf jedoch nicht dazu verführen, über die spezifischen Differenzen hinwegzusehen, die Gegenständetrotz der Tatsache, daß sie in mancher Hinsicht kybernetisch auf dieselbe Weise beschreibbar sind, voneinander unterscheidet. Wir werden später zu zeigen versuchen, daß die Begründung teleologischer Erklärungen organischer Prozesse unter Berufung auf die Anwendbarkeit der kybernetischen Kategorie Ziel nicht stichhaltig ist, weil der in teleologischen Erklärungen vorausgesetzte Zielbegriff und der in der Kybernetik verwendete Begriff zwei verschiedenen Sachzusammenhängen entstammen und nur durch die Verwendung desselben Wortes zu einer Einheit zusammengezwungen werden. Die Kategorien der Kybernetik, und damit auch ihr Zielbegriff, mögen zwar ontologisch neutral sein, der in teleologischen Erklärungen implizierte Zielbegriff dagegen nicht. Die Trennung zwischen ontologischer und methodologischer Argumentationsebene, die zur Überwindung der Alternative von moderner Biologie und Teleologie angeführt wurde, läßt sich nun umgekehrt gerade für ein Argument gegen deren Verbindung fruchtbar machen: Die methodologische Irreduzierbarkeit kybernetischer Kategorien und damit auch des kybernetischen Zielbegriffs ist kein Argument für die Rehabilitierung der Teleologie, weil die Verwendung teleologischer Erklärungen an bestimmte ontologische Voraussetzungen gebunden ist. Daß die postulierte, strikte Trennung zwischen beiden Zielbegriffen selbst von Kybernetikern nicht konsequent durchgehalten wird, soll unsere spätere Diskussion noch zeigen.
32 Hierzu s. H. Schnelle (317), (319). Zur Vermeidung von Mißverständnissen sei darauf hingewiesen, daß Schnelle in diesem Zusammenhang nicht das Teleologieproblem anschneidet und den kybernetischen Zielbegriff nicht diskutiert. Wie er sich zur Frage der Rechtfertigung teleologischer Erklärungen stellt, bleibt also offen.
4. Zwei Grundbegriffe der Kybernetik: Regulation und Information
S7
4. Zwei Grundbegriffe der Kybernetik: Regulation und Information
Der Begriff Kybernetik geht auf das griechische Wort xußEQV~'t'rl~ zurück und bezeichnete hier den Träger ursprünglich noch nicht geschiedener Funktionen von Steuermann und Lotse (112:11; 227:87). H. Frank führt A. Ampere als ersten an, der den Begriff der Kybernetik (cybernetique) zur Bezeichnung einer Wissenschaft verwendet. In seinem "Essai sur la philosophie des sciences" aus dem Jahre 1834 schlägt er ihn als Bezeichnung für die Wissenschaft von den Mitteln der Regierung vor33 • Seine Popularität und Verwendungsweise in der heute geläufigen Bedeutung verdankt der Ausdruck N. Wiener, der 1948 in seinem Buch Cybernetics or Control and Communication in the Anima! and the Machineden Grundstein für die Lehre von der Informationsübertragung und Kontrolle bei Maschinen und Lebewesen legte. Wiener hat den Ausdruck zwar nicht geprägt, wie häufig angenommen wird, ihn jedoch als terminus technicus in dem von ihm explizierten Sinn eingeführt. Heute ist die Kybernetik zu einer interdisziplinären Betrachtungsweise herangewachsen, die nicht nur in Biologie und Technik, sondern darüber hinaus in Politik, Ästhetik, Betriebs- und Volkswirtschaft Eingang gefunden hat (78). Da sie von den physikalischen, physiologischen und psychologischen Besonderheiten von Systemen abstrahiert und Strukturen auf den Begriff bringt, die in formaler Hinsicht identisch sind, wird sie auch als "Brücke zwischen den Wissenschaften" bezeichnet (78:16; 112). Es sind vor allem zwei Begriffe, denen diese Brückenfunktion zukommt und die auch im Hinblick auf unseren größeren thematischen Zusammenhang relevant sind: Regulation und Information. Regulationsprozesse lassen sich am besten an Hand des folgenden Schemas von Hassenstein darstellen (140:45). Hierbei haben wir es mit einem Regelkreis zu tun, der über eine negative Rückkoppelung (negative feedback) verfügt. F. von Cube beschreibt ihn auf folgende Weise: "Beim Regelkreis handelt es sich um ein System mit einer konstant zu haltenden ,Regelgröße' (z. B. der Raumtemperatur), die von zwei Eingangsgrößen, der ,Stellgröße' und der ,Störgröße' (z. B. der Außentemperatur), abhängig ist. Diese Größen können aus mehreren Teilgrößen bestehen, insgesamt muß jedoch die Stellgröße einstellbar sein, während die Störgröße innerhalb eines gewissen Bereiches schwanken kann (die Anzahl der Personen in einem Zimmer, wechselnde Sonnenbestrahlung usw.). 33
Hierzu s. G. Canguilhem (68:90), F. von Cube (78:34), H. Frank (112:11).
I. Einleitung
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Allgemeines Wirkungsgefüge eines Regelmechanismus Regulierendes Zentrum, REGLER
Übertragung des ISTWERTS /{jeweiligen Meßwerts} t------;..,. der Regelgröße
/
Übertragung der STELLGRÖSSE
Meßeinrichtung für die zu regelnde Größe, FUHLER
KorrekturKonstant zu hallendu Zustand oder Vorgang. REGELGRÖSSE Nach B. Hassenstem
Die in Großbuchstaben gedruckten Wörter sind genormte Fachausdrücke aus der Regelungtechnik. Der Regelkreis funktioniert nun so, daß trotz der sich verändernden Störgröße die Regelgröße einen (nahezu) konstanten Wert, den ,Sollwert', behält. Die Konstanz der Regelgröße wird dadurch erreicht, daß mittels eines am System angebrachten ,Meßfühlers' der jeweilige Ausgangswert der Regelgröße einem Regler zugeführt wird, der die zur Korrektur des Systems notwendige Stellgröße ermittelt und dem ,Stellwerk' zur Durchführung weitergibt." (78:126 f.).
Von Cube unterscheidet bei technischen Regelkreisen zusätzlich zwischen dem "Sollwert" und der "Führungsgröße". Hier läßt sich ja der konstant zu haltende "Sollwert", wie z. B. beim Thermostaten, von außen setzen und verändern, während dies bei biologischen Regelkreisen nicht der Fall ist. Daher kann man auch sagen, daß der "konstant zu haltende Wert . . . vom System her gesehen ein Sollwert, von äußeren Eingriffsmöglichkeiten her gesehen eine Führungsgröße" (78:128) ist. Im Unterschied zu einer "linearen Kausalkette" (180:29), bei der ein Gegenstand auf den anderen wirkt und dieser wiederum auf den nä~hsten, liegt hier ein geschlossener, auf dem Prinzip der negativen Rückkoppelung basierender Wirkungskreis vor, der auf die oben beschriebene Weise funktioniert 34 • 34 Von negativer Rückkoppelung spricht man hier deshalb, weil jede Abweichung Vorgänge zur Folge hat, die sie in Gegenrichtung beeinflussen (140 :42). Diese negative oder kompensierende Rückkoppelung unterscheidet man von der
4. Zwei Grundbegriffe der Kybernetik: Regulation und Information
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Dieser mathematisch bestimmbare ,Sollwert' wird in der Literatur, vor allem in englischsprachigen Texten, meist als Ziel (engl. goal) bezeichnet. Ein terminus technicus ist der Begriff goal seeking system zur Bezeichnung eines selbstregulierenden Systems (engl. self-adjusting, selfadapting). Eine der ersten Rückkoppelungsvorrichtungen war der Fliehkraftregler der Wattsehen Dampfmaschine, der bezeichnenderweise auch "governor" genannt wurde und über den - wie dies auch bei dem Begriff Kybernetik der Fall war- die Vorstellung menschlichen Handelns, Eingreifens und Steuerns auf Maschinen übertragen wurde. G. Canguilhem hat in seinem Aufsatz "Die Herausbildung des Konzepts der biologischen Regulation im 18. und 19. Jahrhundert" die "nur schwer zu beschreibende Geschichte" der mühevollen Erfindung des Begriffs der Regulation nachgezeichnet35 • Es würde hier zu weit führen, ihm auf seinem langen Weg zu folgen. Als für uns wesentliches Resultat seiner begriffsgeschichtlichen Untersuchung ist die allmähliche Übernahme des Begriffs aus seinem ökonomischen, politischen und maschinentheoretischen Kontext in die Physiologie des 19. Jahrhunderts und seine Weitergabe an die Kybernetik des 20. Jahrhunderts festzuhalten. Canguilhem verbindet diese Linie mit den Namen C. Bernard, W. Cannon und N. WieneriA. Rosenblueth, weist jedoch darauf hin, daß der Ausdruck bereits vor seiner Aufnahme in das Vokabular der Physiologie durch Bernard in dem heute weitgehend vergessenen Artikel Latzes über "Leben, Lebenskraft" aus dem Jahre 1842 ganz natürlich verwendet wurde. positiven oder kumulativen Rückkoppelung, die dazu führt, daß die Stabilität des Systems aufgehoben wird (181 :1079). Der in der Literatur auch verwendete Begriff "Rückwirkung" ist keine Erfindung der Kybernetiker. Bereits 1842, möglicherweise noch früher, taucht er bei H. Lotze auf, der genau dieselben Phänomene im Auge hat, die heutige Biokybernetiker beschreiben. Die Natur "habe dem Körper als Mitgift eine außerordentliche Anzahl glücklicher Umstände zuerthei!t, durch welche sie das Problern gelöst, dass nun die äusseren Störungen sich selbst an den Rückwirkungen brechen müssen, welche sie mechanisch hervorrufen". (203:216) und: " ... die Rückwirkung muß vielmehr selbst durch die Folgen der Störung hervorgehoben werden und mit einer mechanischen Federkraft hervorspringen." (203 :211 ). Lotze verwendet zur Bezeichnung dieses Sad1Verha!ts auch den Begriff der Regulation. Ähnliche Gedanken finden sich auch bei E. Pflüger (259). Vgl hierzu auch J. Reinke, der auf diese wissenschaftsgeschichtlich interessanten Quellen aufmerksam macht (279 :118 ff.). 35 (68:89 -109). Vgl. auch die interessanten Studien von K . Rothschuh (292), (293) und E. Ungerer (359:96- 128).
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Zu Beginn des 20. Jahrhunderts ist der Ausdruck in seiner Verwendung auf belebte Systeme auch in Deutschland eine Selbstverständlichkeit geworden und erscheint sogar in Titeln, wie z. B. bei Driesch (93), Roux (295) und Ungerer (356). Ein Begriff, der also ursprünglich dem Kontext menschlichen Handeins entstammt, findet auf dem Wege über die Kennzeichnung bestimmter Maschinen Eingang in Biologie und Physiologie und bildet heute einen Schlüsselbegriff der Kybernetik. Der zweite Grundbegriff der Kybernetik, der eine Brücke zwischen den Wissenschaften schlägt, ist der Begriff der Information 38 • Damit ist er in erster Linie in seiner mathematisch-statistischen bzw. nachrichtentechnischen Bedeutung gemeint. Dieser Begriff nimmt hier eine derart zentrale Stellung ein, daß die Kybernetik auch als Wissenschaft von der Information bezeichnet wird. Ihre mathematische Fundierung verdankt die Kybernetik vor allem dem Schöpfer der Informationstheorie, C. Shannon. Gegenüber dem alltagssprachlichen Informationsbegriff, auf den wir später zu sprechen kommen, wird der mathematische Informationsbegriff mit einer ganz neuen Bedeutung versehen, so daß man hier eher von mehreren verschiedenen Informationsbegriffen statt von einem Begriff und seinen verschiedenen Verwendungsweisen sprechen sollte. Wie Y. Bar-Hillel ausgeführt hat (23:13 ff.), ist die Verwendung des Ausdrucks Informationstheorie zur Bezeichnung der Theorie der Nachrichtenübermittlung durch eine recht unglückliche sprachliche Entwicklung entstanden und sollte im nachrichtentechnischen Kontext besser nicht gebraucht werden. Aus demselben Grunde solle man hier besser auch auf den Begriff der Information verzichten. Der englische, von R. V. L. Hartley geprägte Ausdruck lautete ursprünglich "theory of information transmission". Wegen der leichteren Sprechbarkeit sei das Wort "transmission" jedoch bald einfach weggelassen worden, wodurch "besonders unter Philosophen" viel Verwirrung entstanden sei. Der unkorrekte Wortgebrauch führte nach Bar-Hillel häufig zu einer Verwechslung der Theorie der Informationsübermittlung mit der Theorie des Informationsgehaltes. Der semantische Gehalt, auf den es z. B. beim alltagssprachlichen Informationsbegriff ankommt, ist aber etwas anderes als der Informationsgehalt im Sinne von Informationsmenge, die bei der Vbermittlung der Information eine Rolle spielt. Man könnte diesen Unterschied auch an den 38 Zum Informationsbegriff s. u. a. Y. Bar-Hillel (22), (23), M. Bense in (78), R. Capurro (71), F. von Cube (78), H. von Dit/urth (Hg.) (91), B. Hassenstein (140), ]. Kiefer (176), G. Klaus (180), G. Klaus (Hg.) (182), G. Klaus/M. Buhr (Hg.) (181), A. Müller (Hg.) (227), E. Oeser (249), H . Sachsse (305), H . Schnelle (318), C. F. von Weizsäcker (371), N. Wiener (373).
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Begriffen Qualität und Quantität festmachen, weil es bei der alltagssprachlichen Bedeutung auf den semantischen, inhaltlichen oder qualitativen Aspekt der Nachricht ankommt, bei der nachrichtentechnischen dagegen auf ihren quantitativen, meßbaren, abzählbaren Aspekt. Wegen der Gefahr der Verwechslung beider Informationsbegriffe hat Bar-Hillel vorgeschlagen, auf die Verwendung des Informationsbegriffs im mathematischen Sinn zu verzichten, weil er auf Grund seiner Ambiguität eine semantische Falle (22 :296) darstelle. Wir wollen den Unterschied zwischen beiden Informationsbegriffen kurz an Hand eines Beispiels erläutern (140:58 f.): Ein Kind liegt krank im Bett, seine Mutter arbeitet in der Küche. Da die Stimme des Kindes zu schwach ist, die Mutter zu rufen, hat es eine Klingel bekommen, um sich bemerkbar machen zu können. Mutter und Kind haben vereinbart, daß das Kind jedesmal klingelt, wenn es die Mutter bitten möchte, zu ihm zu kommen. Hier liegt die einfachste Situation einer Nachrichtenübermittlung vor: zwei Zeichenarten (Klingeln, kein Klingeln) kommen in Frage, so daß bei der Übertragung eines der Zeichen jeweils über eine alternative Entscheidung Auskunft gegeben werden kann. Ein Zeichen, das über eine alternative Entscheidung Auskunft zu geben vermag, weil zwei Zeichenarten zugelassen sind, nennt man binäres Zeichen, und die elementare Nachrichtenmenge, die von einem einzelnen binären Zeichen übertragen wird, heißt ein bit (binary digit). Dieser meßbare Aspekt der Information, der den Ausdruck Informationsmenge rechtfertigt, liegt also hier darin, daß eine Meldung eine Auswahl aus einer bestimmten Menge möglicher Meldungen darstellt. Was zur Bestimmung dieses Informationsbegriffs keine Rolle spielt, ist einerseits der physikalische Träger oder das physikalische Medium (optisch, akustisch usw.), andererseits der semantische Gehalt der Nachricht. Im oben genannten Beispiel bleibt die Informationsmenge immer 1 bit, ganz gleich, ob sich das Kind akustischer oder optischer Mittel bedient, wie etwa eines Schalters, der beim Drücken eine Lampe in der Küche aufleuchten läßt, und unabhängig vom Inhalt der Nachricht. So hätte das Klingelzeichen auch vereinbart werden können, um über einen bestimmten Vorgang auf der Straße, die das Kind von seinem Bett aus beobachten kann, Auskunft zu geben. Augenfällig ist diese Trennung des quantitativen vom semantischen Aspekt einer Information beim Telegramm. Für den Empfänger stellt das Telegramm eine bedeutungstragende Information dar, für den Nachrichtentechniker dagegen eine meßbare Größe. Die Informationsmenge ist also "an Signalen und Nachrichten dasjenige, was zahlenmäßig zu fassen" und damit mathematisch darstellbar ist (140:56). In seiner mathematischen Bestimmung
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I. Einleitung
schrumpft der Informationsbegriff daher zu folgender Definition zusammen: "Unter der Information eines Zeichens innerhalb einer gegebenen Zeichenmenge versteht man die kürzeste Binärcodierung dieses Zeichens." (78:30). Man kann also "Information durch Entscheidung messen, genauer den Informationsbetrag durch den Gehalt an Entscheidungen. Die Zweierentscheidung ist die Einheit. Man sagt, eine Information enthält soundso viel ,bit', d. h. also Zweierentscheidungen." (78 :31 ). Der mathematische Informationsbegriff ist in dem Sinn abstrakt und neutral, daß er von den je spezifischen Inhalten und Zielsetzungen abstrahiert und auf Gegenstände unterschiedlichster Art anwendbar ist. Daher hat er Eingang in die verschiedensten Wissenschaften gefunden. So ließ sich z. B. ein Zusammenhang zwischen der Theorie der Nachrichtenübertragung und der Thermodynamik herstellen, Information mit negativer Entropie gleichsetzen, weil die Shannonsche Formel für den Informationsgehalt und die wahrscheinlichkeitstheoretische Formulierung des Entropiesatzes formale Ähnlichkeiten aufweisen (180:129 ff.). In der Biologie, speziell in der Molekulargenetik, spielt der mathematische Informationsbegriff z. B. dann eine Rolle, wenn die Informationsmenge eines Nucleotids bestimmt wird. Gerade diesen hier ausgeblendeten inhaltlichen Aspekt haben wir im Auge, wenn wir im Kontext des alltagssprachlich vermittelten Handeins von Information sprechen. Allerdings muß der Begriff in diesem Zusammenhang von seinem Bedeutungsgehalt her nach verschiedenen Seiten hin entfaltet werden. Zum einen kann Information als Nachricht, Botschaft, Kenntnis, Wissen, oft auch als Anweisung verstanden werden. Wir informieren uns selbst und gegenseitig, indem wir Kenntnisse erwerben und austauschen, uns in Kenntnis setzen über Sachverhalte, uns Mitteilungen machen, Nachrichten geben. Information bezeichnet dann jeweils den Bedeutungsgehalt der betreffenden Nachricht. In diesem Kontext haben wir es mit interagierenden Subjekten zu tun, die mit bestimmten Zielsetzungen kommunizieren. Da hier nicht nur der Inhalt, sondern auch der Zweck der Information eine Rolle spielt, kommt zum semantischen der pragmatische Aspekt hinzu. Ein Telegramm, das wir zufällig lesen, aber nicht an uns adressiert ist, wie etwa "Bitte ankomme Freitag 13." enthält, obwohl wir es von der Bedeutung her verstehen, für uns keine Information, außer der, daß hier eine Kommunikation zwischen Personen stattfinden soll. Wir werden nicht informiert, sondern lesen die Information, die andere austauschen. Nicht jede Bedeutung muß daher schon Information sein. In-
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Formation im Sinne dieser alltagssprachlichen Verwendungsweise impliziert den zumindest potentiellen Bezug zu teleologisch interagierendem Sender und Empfänger. Diesen Informationsbegriff wollen wir daher den teleologischen Informationsbegriff nennen. Nun gibt es aber alltagssprachlich vermittelte Zusammenhänge, in denen von Information noch in einem anderen Sinn die Rede sein kann. So enthält zum Beispiel der Bauplan eines Hauses die Information über die Gestalt des betreffenden Gebäudes. Information wird hier in Abstraktion von den Subjekten, die den Plan entworfen haben, als reine Struktur, Gestalt oder Form verstanden. Zwar wird hier nicht, wie bei der wissenschaftlich-mathematischen Information, das Meßbare, Quantifizierbare thematisch, sondern Eigenschaften oder Qualitäten. Insofern kann man hier auch von einem Informationsgehalt sprechen, der in der Form oder Gestalt besteht. Aber il!l Unterschied zur teleologischen Verwendungsweise des Informationsbegriffs, bei dem der Gehaltsaspekt neben dem Zweckaspekt ja auch das Wesentliche ist, spielt der Bezug zu einer Intentionalität keine Rolle, weil nur auf die reine Form oder Gestalt abgehoben werden soll. Wir wollen diesen Informationsbegriff daher in Abgrenzung vom mathematischen und teleologischen als strukturellen oder morphologischen Informationsbegriff bezeichnen37• Dies schließt nicht aus, daß Information in dieser strukturellen Bedeutung in finale Zusammenhänge eingebettet und von daher teleologisch zu deuten sein kann. Im Alltag ist das in der Regel ja auch der Fall. Baupläne entwirft man, weil man ein Ziel vor Augen hat, das in die Realität umgesetzt werden soll. Der Handwerker bringt in Übereinstimmung mit der als Ziel konzipierten, im Bauplan niedergelegten Gestalt das Material in Form. Aber der reine Gestaltaspekt existiert auch unabhängig vom pragmatischen Verwendungszusammenhang. Wir haben bisher den wissenschaftlich-mathematischen vom alltagssprachlichen Informationsbegriff in seinen verschiedenen Verwendungsweisen abgegrenzt. Nun taucht der Informationsbegriff im wissenschaft37 Es ist schwer, für den gemeinten Sachverhalt den treffenden Ausdruck zu finden. Gegen unsere Begriffswahl könnte der Einwand erhoben werden, daß der Ausdruck strukturell nicht spezifisch genug sei, weil auch im mathematischmtchrichtentechnischen Zusammenhang Strukturen im Spiel sind. Wir fügen daher .eigens hinzu, daß es uns hier nur auf den Form- oder Gestaltaspekt ankommt, weshalb wir auch zusätzlich den Begriff morphologisch verwenden. Wie aus dem Kontext hervorgeht, schränken wir diesen Ausdruck nicht auf den Bereich der Biologie ein, sondern verstehen Morphe hier im ursprünglichen, weiteren Sinn. .
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liehen Diskurs aber auch noch in anderen Bedeutungen als in dieser mathematischen auf. So wurde z. B. der letzte Nobelpreis für Medizin und Physiologie an die Neurobiologen R. W. Sperry, D. H. Hube! und T . N. Wiesel für die Erforschung der "Informationsverarbeitung" im Gehirn verliehen. Wahrnehmungs- und Verhaltensleistungen werden in diesem Zusammenhang als Prozesse beschrieben, bei denen das Gehirn aus der Umwelt biologisch wichtige Informationen herausfiltert und umformt. Eine andere Verwendungsweise des Informationsbegriffs ist die genetische Information oder der genetische Code. Die biologische Information im allgemeinen gehört bislang zu den "schwierigen Begriffen, für die eine begriffliche Behandlung bisher noch aussteht". (273 :38). Auch wir können hier nicht den Anspruch erheben, den Informationsbegriff in seinen verschiedenen biologischen Verwendungsweisen zu klären. Dazu wären weitaus genauere, einzelfachwissenschaftliche Kenntnisse auf den verschiedensten Gebieten der Biologie und Physiologie erforderlich. Wir wollen uns daher auf die Behandlung des Begriffs der genetischen Information beschränken und versuchsweise eine Klärung herbeiführen. Dabei soll auch der Frage nachgegangen werden, ob es sich bei diesem Begriff "nur um eine brauchbare Terminologie" handelt, "die sich herausgebildet hat" (23 :24), um eine Metapher mit heuristischer Funktion, oder ob der Begriff der genetischen Information in einem noch näher zu definierenden Sinn wörtlich zu verstehen ist. Die DNA wird häufig als "Informationsquelle" für die Gestalt des sich entwickelnden Organismus bezeichnet, sie enthält die "Botschaft", "Anweisung" oder das "Rezept" für dessen Aufbau (vgl. Kap. II. 2.114). Auf Grund des mathematisch darstellbaren Zusammenhangs zwischen der Anzahl der möglichen Basenkombinationen und der Anzahl der Aminosäuren spielt auch der mathematische Aspekt bzw. der Informationsbegriff in seiner mathematischen Bedeutung zweifelsohne eine wesentliche Rolle zum Verständnis des Entwicklungsprozesses. So sagt man z. B., ein Nucleotid trage die Informationsmenge 2 bit. Dies ist aber nicht der einzig mögliche und relevante Bedeutungsaspekt, der im Begriff der genetischen Information zum Tragen kommt. Wenn davon die Rede ist, daß im genetischen Code die Gestalt des zukünftigen Organismus verschlüsselt liegt, daß die DNA die "Matrize", das "Rezept" oder den "Bauplan" darstellt, so steht hier nicht der mathematische Zusammenhang zwischen der Anzahl der Basen und der der Aminosäuren zur Debatte, also nicht die Frage nach der Informationsmenge eines Nucleotids, ausgedrückt in bit. Information bezeichnet hier vielmehr eine Form oder Gestalt, die in der strukturellen Konfiguration der Moleküle angelegt ist38, gleichzeitig
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aber auch die Bestimmung der Art und Weise, wie diese Gestalt zu realisieren ist. Genetische Information bedeutet also Gestalt in einem zweifachen Sinn: nicht nur die Form des Organismus wird durch die Struktur der DNA repräsentiert, sondern auch die Gestalt des Prozesses der Realisation dieser Form (213:102; 305:24). R. Capurro hat in seinem Beitrag zur etymologischen und ideengeschichtlichen Begründung des Informationsbegriffs dargestellt, daß in unmittelbarem Zusammenhang mit der Auslegung platonischer und aristotelischer Texte in der Antike und im Mittelalter der lateinische Begriff informatio verwendet wurde. Informatio bedeutet hier u. a. Formung, Gestaltung, Bildung, auch Unterweisung, Anweisung und Belehrung. Der in informatio enthaltene Bedeutungsaspekt gibt die Bedeutungsvielfalt der griechischen Begriffe n'm:o~, f!OQ