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German Pages 294 [295] Year 1986
ANDREAS BARTELS
Kausalitätsverletzungen in allgemeinrelativistischen Raumzeiten
ERFAHRUNG UND DENKEN Schriften zur Förderung der Beziehun~~:en zwischen Philosophie und Einzelwissenschaften
Band 68
Kausalitätsverletzungen in allgemeinrelativistischen Raumzeiten
Von
Dr. Andreas Barteis
DUNCKER & HUMBLOT I BERLIN
Als Dissertation vom Fachbereich 09 der Justus-Liebig-Universität Gießen angenommen am 19. 11. 1984.
CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek
Bartels, Andreas: Kausalitätsverletzungen in allgemeinrelativistischen Raumzeiten I von Andreas Bartels. - Berlin: Duncker und Humblot, 1986. (Erfahrung und Denken; Bd. 68) ISBN 3-428-06016-4 NE:GT
Alle Rechte vorbehalten & Humblot GmbH, Berlin 41 Satz: Werksatz Marschall, Berlin 45; Druck: Werner Hildebrand, Berlin 65 Printed in Germany
© 1986 Duncker
ISBN 3-428-06016-4
Für Cornelia
Inhaltsverzeichnis Einleitung
II
Kapitel 1: Kausalität als physikalisches Konzept I.
Das physikalistische Konzept der Kausalität im Spektrum philosophischer Kausalbegriffe 0
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Kausalität und Kontingenz: Der naturphilosophische Hintergrund des physikalistischen Konzepts Vielfalt kausaler Begriffe versus physikalistische Reduktion Die Folgen der Dichotomie "regelmäßige Verknüpfung" versus "kausale Notwendigkeit" Kant über kausale Notwendigkeit Konzepte kausaler Notwendigkeit heute- Alternative zum physikalistischen Kausalbegriff?
38
Die Bedeutung des physikafisfischen Kausalbegriffes für die RaumzeitPhilosophie
44
I.
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Die RoJle der Naturphilosophie der Kausalität bei einem physikalistischen Konzept Die aUgemeine Relativitätstheorie (AR) als kritischer Maßstab für den aJltagssprachlichen Kausalbegriff o
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a) Problemstellung b) Kausalitätsbedingungen c) Das Beispiel: Auflösung der CTL-Paradoxie o
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Folgerungen für die Methodologie der Raumzeit-Philosophie
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a) Empiristische und realistische Standpunkte zur begrifflichen aedeutung von CTL-ModeJlen (K. Gödel, H. Stein, L. Sklar) b) Plädoyer für eine theorienimmanente Naturphilosophie (R. Weingard, J. Earman, H. Putnam) c) Schlußbemerkung . 0
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Kapitel 2: Kausalstruktur in kosmologischen Lösungen der Feldgleichungen I.
Die Kausalstruktur globaler Lösungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
68
l. Gibt es in der AR ein Kausalproblem? . . . . . . . . . . . . . . . . • . . . .
68
8
Inhaltsverzeichnis
2. Was sind kosmologische Lösungen der Feldgleichungen? . . . . • . . 3. Läßt sich die Steady-State-Theorie als Modell der AR interpretieren? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
4. Die Metrik der Anti-De-Sitter-Raumzeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
II.
74 79 88
5. Die Rolle von Überdeckungsräumen bei der philosophischen Beurteilung von CTL . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Der Verlust der globalen Cauchy-Vorhersagbarkeit in der Anti-DeSitter-Raumzeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7. Dynamische Universen - Die metrische Struktur der FRWWelten ........................................•. , . . 8. Gibt es eine realistische Interpretation von Anfangssingularitäten? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9. Anfangssingularitäten und Kausalprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10. CTL in Universen mit räumlicher Rotation . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Die Taub-NUT-Raumzeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
108 114 121 130
Kausalstruktur und Singu/aritäten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
136
I. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10.
Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Innenstruktur der Kerr-Newman-Metrik . . . . . . . . . . . . . . . . Rollentausch von räumlichen und zeitlichen Koordinaten . . . . . . Reisen in der Kerr-Newman-Raumzeit ............... , . . . . . Energieextraktion aus der Ergosphäre (Penrose-Prozeß) . . . . . . • Die Bedeutung des Penrose-Prozesses für den Energieflußbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . • . . . . Eine methodologische Konsequenz aus dem Penrose-Prozeß . . . . Die Struktur der Schwarzschild-Metrik (Spezialfall der Kerr-Newman-Metrik für a = 0, e = 0) ...................... , . . . . . CTL und Cauchy-Vorhersagbarkeit in der Kerr-NewmanMetrik ............... ·. ............................. Ereignishorizonte und Vorhersagbarkeil . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
91 97 101
136 140 142 145 148 150 151 !52 !57 162
Kapitel 3: Die physikalische Realisierung des Energie-Transfer-Modells
I.
Die Diskussion um die Anwendbarkeit des Transfer-Modells in der Physik
166
I. 2.
166
3.
Probleme einer nomologischenKonzeption der Kausalität . . . . . . Das Energiefluß-Modell - Eine Neuauflage kausaler Metaphysik? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ein Dialog zur physikalischen Realität der Kausalrelation . . . . . . Teil I:
Physikalistischer kontra nomologischer Kausalbegriff (D. Fair kontra J . Earman) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Teil II: Kausalontologie oder epistemische Relativität der Kausalität? (A. Rosenberg kontra J. Aronson). . . . . . . . • . . . .
173 177 177 186
Inhaltsverzeichnis Teillll: Paßt der physikalische Energieflußvektor auf unseren Kausalbegriff? (D. Dieks kontra Kommentator) . . . . . . • Schlußkommentar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . • . . . . . . . . . . . .
189 193
Zur Entwicklung der Beziehung von Energiefluß-Begriff und Kausalbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
195
Die Anwendung des Transfer-Modells in der AR . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
211
4.
ll.
9
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2. 3.
Die kausale Rolle des Gravitationsfeldes - zur Kritik der Auffassung H . Törnebohms . . . ... . .. .. .. .. .. . .. . ; . . . . . • . . . . . . Die Auszeichnung der Energie als kausale Transfergröße.... .. . Zum Verhältnis von Ontologie und Methodologie- Überlegungen zur Strategie der kausalen Interpretation der AR . . . . . . . . . . . . .
III. Wesentliche Merkmale der Kausalität . . . . . . . . . . . . . . . . • . . . • . . . . .
I. 2. 3. 4.
211 220 227 229
Gesetzesartigkeit, Determinismus, Kausalität . . . . . . . . . . . . . . . . Kausalität und Energieerhaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kausalität und Nahewirkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Methode der semantischen Verallgemeinerung . . . . . . . . . . . .
229 239 248 252
Anhang: Energiebedingungen in der AR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
255
Kapitel 4: Physikalische Semantik und die Bedeutung kosmologischer Modelle I.
Weshalb wir ein neues Konzept ,.physikalischer Bedeutung" brauchen
259
II.
Putnams Theorie der Bedeutung . . . . . . . . . . . . . . . • . . . . • . • . . . . . . . .
262
111. Intendierte Modelle . . . . . . . . . . . . • . . . . . . . • . . . . . . . . . . . . . . • . . . .
271
IV. Pragmatisierung: Die Rolle nicht-formalisierter Theorienelemente für die Bedeutung kosmologischer Modelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . • • . . .
285
Literaturverzeichnis
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Einleitung Begriffe und Menschen haben eines gemeinsam: behandelt man sie lieblos, so kann man von ihnen auch nichts erwarten. Ein Begriff, der heute sehr oft lieblos behandelt wird, ist der Begriff der Kausalität. Sorglos wird Kausalität einmal mit Determinismus gleichgesetzt, ein anderes Mal mit Vorhersagharkeil oder schlicht Gesetzmäßigkeit. Da man weithin dem Begriff der Kausalität keine besondere Kraft zubilligt, von der wir bei unseren Versuchen, die Wirklichkeit zu verstehen, profitieren könnten, ist eine präzise Verwendung selbst in wissenschaftlichen Kontexten nicht üblich. Natürlich gibt es auch viele sorgfältige Bemühungen um den Kausalbegriff. Ein gutes Beispiel ist J. L. Mackies scharfsinniges Werk "The Cement of the Universe" von 1974. Man findet hier eingehende Analysen der Frage, wie die Situationen beschaffen sein müssen, in denen wir zurecht kausale Begriffe verwenden. Begriffsexplikationen dieser Art behandeln Kausalität als ein Ordnungsschema, an dessen Konturen hier und da zu feilen ist, um dem Ziel näher zu kommen, es an genau jene Klasse realer Vorgänge anzupassen, die Konsistenz und Adäquatheil zum Sprachgebrauch optimiert. Aber auch ein Korsett, das gut sitzt, ist ein Korsett; ein Begriff, der darin steckt, ist für Entdeckungsreisen ungeeignet. Diese Einschränkung der Bewegungsfreiheit geht aufDavid Hume zurück. Seit Hume konnte eine Philosophie sich nur dann als modern verstehen, wenn sie die "Hervorbringung" einer Wirkung durch ihre Ursache als psychologische Metapher oder- wie bei Kant- als notwendigen Denkmodus betrachtete, jedenfalls aber als etwas, das den Besonderheiten unserer Erkenntnis, nicht den Eigenschaften der erkannten Welt zugehört. Als empirischer Gehalt der Kausalrelation war nur mehr eine formale Struktur von Ereignisfolgen übriggeblieben, die meist so spezifiziert wurde, daß sie die Vorhersagbarkeil von Ereignissen garantierte (z. B. in der Formel "gleiche Ursachen, gleiche Wirkungen"). Albert Einsteins "Allgemeine Relativitätstheorie" hat uns in mehreren Hinsichten neue Welten eröffnet. In einer Hinsicht trifft dies auf die Vielzahl von Weltmodellen zu, die mithilfe dieser Theorie konstruiert werden konnten. In diesen Modellen, die physikalisch mögliche Universen darstellen, ist eine Formenvielfalt kausaler Beziehungen enthalten (und zum Teil noch verborgen), die so gar nicht zum Bild eines "entzauberten", blutleer gewordenen Kausalbegriffes paßt. Da gibt es mögliche kausale Prozesse, die an bestimmten Stellen der raumzeitlichen Welt beginnen oder abbrechen,
12
Einleitung
Signale, die keine Spuren in der Vergangenheit hinterlassen haben, Horizonte, die keine Wirkungen nach außen dringen lassen und gar Zeitreisen, die in die eigene Vergangenheit zurückführen können. Wenigstens zwei der eben genannten Arten von Ereignisfolgen verletzen fest verwurzelte Überzeugungen von der formalen Struktur kausaler Prozesse. Signale, die in das Wirkungsgefüge der Zukunft eingreifen, ohne an einem vergangeneo Zeitpunkt datierbar zu sein, zerstören die Vorhersagbarkeit des kausalen Zusammenhangs, während Zeitreisen nicht nur der formalen Eigenschaft der NichtReflexivität der Kausalrelation widersprechen, sondern unseren elementaren logischen Instinkt alarmieren. Schließlich scheint es hier Il!Öglich, durch einen nachträglichen Eingriff in die Vergangenheit Gegenwart und Zukunft zu verändern. Die Verwendung des Terminus "Kausalitätsverletzung" wirkt vor allem in diesem Fall nur allzu plausibel. Dennoch wird sich im Gang der vorliegenden Untersuchung herausstellen, daß dieser Terminus streng genommen ungerechtfertigt ist und man besser von ungewöhnlichen, oder wenn man möchte, von "pathologischen" Kausalstrukturen sprechen sollte. Die Weltmodelle nämlich, denen diese Kausalstrukturen entstammen, sind sämtlich ebenso strenge und verläßliche mathematische Derivate von Einsteins Theorie wie jene Modelle, die angenähert den Kosmos beschreiben, in dem wir leben. Sie teilen daher mit ihnen auch die Eigenschaft, daß die möglichen physikalischen Ereignisse, die an ihren Raum-Zeit-Punkten stattfinden könnten, im sehr Kleinen genauso miteinander verknüpft sind, wie es durch die Spezielle Relativitätstheorie beschrieben wird, d. h. sie tragen an jeder Stelle dieselbe kausale Struktur wie jene gewöhnlichen Modelle. Wenn sie daher global andere formale Eigenschaften für Ereignisfolgen zulassen, so hat dies den Charakter eines im Kleinen festgelegten Themas, das im Großen in ungewohnter Weise variiert wird. Die "pathologischen" Kausalstrukturen sind daher als echte, physikalisch mögliche Kausalstrukturen aufzufassen. Daß sie auch in logischer Weise unbedenklich sind, werde ich im ersten Kapitel dieses Buches für den problematischen Fall der Zeitreisen zeigen, indem ich auf Fehler in den zahlreichen Zeitreisen-Paradoxa hinweise. Wenn diese Argumentationsarbeit geleistet ist, wird der philosophische Ertrag der Untersuchung sichtbar werden. Einsteins "Allgemeine Relativitätstheorie" hat noch in einer weiteren Hinsicht neue Welten eröffnet. Sie hat gezeigt, wie tief in die Grundstrukturen unserer Erfahrung und unseres Denkens spezifische physikalische Eigenschaften unserer Welt eingreifen. Auch der auf die formale Struktur konstanter Ereignisfolgen verengte Kausalbegriff ist ein Ergebnis dieses Adaptionsprozesses. So wichtig erfahrungsnahe Begriffe auch für unsere Orientierung in der Alltagswelt sind, so hinderlich und irreführend ist die für sie kennzeichnende Verengung in kognitiven Unternehmungen, die uns die Wirklichkeit durch den Kontrast
Einleitung
13
mit einem Hintergrund von Möglichkeiten zu Bewußtsein bringen sollen, also in der wissenschaftlichen Forschung. Für Entdeckungsreisen braucht man Begriffe, die unabhängig sind von den kontingenten Eigenschaften unserer Welt und die Weltmodelle, die uns durch Einsteins Theorie bereitgestellt wurden, sind Wegmarken, die uns zeigen, welcher Ballast abgeworfen werden muß. Im Rahmen meiner Untersuchung werde ich einen Kausalbegriff verwenden, der bis auf jene Kernbedeutung entschlackt ist, die als der Baustein begriffen werden kann, mit dem alle großräumigen kausalen Beziehungen in Modellen der Allgemeinen Relativitätstheorie errichtet sind: EnergieImpuls-Transfer zwischen infinitesimal benachbarten Ereignispunkten. So sprengt die Formenvielfalt kausaler Strukturen in der Allgemeinen Relativitätstheorie nicht nur einen zu engen Kausalbegriff auf, sondern induziert gleichzeitig die Suche nach einer physikalischen Realisation des Begriffs. Das Vorliegen einer kausalen Beziehung wird dadurch zu einer empirischen Angelegenheit. Die Kausalität ist nicht mehr länger nur Ordnungsbegrifffür das zu Erforschende, sondern wird selbst zum empirischen Forschungsgegenstand. Drei Probleme sind es, die dieses Konzept zum Scheitern bringen könnten. Sie werden vor allem im dritten Kapitel behandelt. Das erste Problem stellt sich mit der Frage, ob Energie-Impuls-Transfer wirklich die ihm zugedachte Rolle erfüllen kann, die Kausalrelation zu kennzeichnen. In drei Dialogen zwischen Befürwortern und Gegnern des Energiefluß-Modellswerden Argumente zusammengetragen, die, wie ich glaube, die Leistupgskraft und den universellen Geltungsanspruch dieses Modells demonstrieren. Einen besonderen Problemfall für das Energiefluß-Modellstellt das Gravitationsfeld in Einsteins Theorie aufgrundder Nichtlokalisierbarkeit seines Energieinhaltes dar. Durch eine Verallgemeinerung des Energieflußbegriffs läßt sich die Anwendbarkeit des Modells jedoch auch hier sichern. Dabei handelt es sich um keine ad hoc-Maßnahme; die Überlegungen zur Entwicklung der Beziehungen zwischen Energiefluß-und Kausalbegriff zeigen vielmehr, daß parallel zur Entstehung und Ablösung der neuzeitlichen Gravitationstheorien ein begrifflicher Prozeß stattfand, in dem die ursprünglichen physikalischen Intuitionen von Verursachung als Energiefluß a1:1f die Abstraktionsstufe der jeweils neuen Theorie gehoben wurden und sich damit kontinuierlich mitentwickelten. Ein zweites Problem für den hier vertretenen Ansatz entsteht durch die Forderung, bisher für wesentlich gehaltenen Eigenschaften kausaler Beziehungen, der Energieerhaltung; Nahewirkung, Gesetzesartigkeit und verschiedenen Formen der Vorhersagbarkeit, bzw. des Determinismus, innerhalb des neuen Konzepts einen Platz zuzuweisen. Es wird sich herausstellen, daß Merkmale wie das Nahewirkungsprinzip begrifflich mit dem
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Einleitung
Energiefluß-Modellverknüpft sind, während Vorhersagbarkeils-Eigenschaften kausaler Beziehungen von der raumzeitlichen Struktur des jeweiligen Weltmodells abhängen; die Gesetzesartigkeit verliert dagegen ganz ihre Rolle als Kompagnon des Kausalbegriffs. Das dritte der angesprochenen Probleme hat beim Autor Überlegungen ausgelöst, die in die physikalische Semantik hineinführen und die ihren Niederschlag im abschließenden vierten Kapitel gefunden haben. Um eine begriffliche Relevanz für diejenigen empirisch inadäquaten Modelle der Allgemeinen Relativitätstheorie beanspruchen zu können, in denen ungewöhnliche Kausalstrukturen auftreten, müssen diese Modelle als zum Bedeutungsgehalt der Theorie gehörig ausgewiesen werden. Die formale Erfüllung der Grundgleichungen der Theorie genügt hierzu nicht, weil beispielsweise die Steady-State-Theorie mit ihren eindeutig akausalen Entstehungsvorgängen formal im Einklang mit Einsteins Feldgleichungen formuliert werden kann. Zur Kodierung des Bedeutungsgehaltes der Theorie müssen also sogenannte Bedeutungsbedingungen hinzutreten. Diese Situation wirft die Frage auf, wie im allgemeinen der Bedeutungsgehalt einer physikalischen Theorie zu bestimmen ist. Die Antwort, die ich hierauf zu geben versuche, knüpft an die Überlegungen Hilary Putnams an: Formale Systeme, wie der "Formalismus" einer physikalischen Theorie, können ihre Bedeutung nicht eindeutig bestimmen. Sie erhalten diese Bedeutung auch nicht durch "Zuordnungsdefinitionen". Vielmehr müssen ihre Termini als Kodierungen eines Bedeutungsinhalts betrachtet werden, der sich aus ursprünglichen Vorstellungsinhalten in einem Prozeß fortgesetzter Abstraktion und Verallgemeinerung herausgeschält hat. Bedeutungsanalyse wird also in einem wesentlichen Teil Begriffsgeschichte oder thematische Analyse erfordern. Meine Hoffnung ist, den Leser davon überzeugen zu können, daß ein empirischer, in seinen Voraussetzungen karger Kausalbegriff nicht nur den Kausalstrukturen gerecht zu werden vermag, mit denen die Allgemeine Relativitätstheorie uns konfrontiert hat, sondern ganz allgemein ein beweglicheres Denkinstrument (und interessanteres Forschungsobjekt) hervorbringt, als es klassischer Empirismus und logischer Empirismus zuließen. Eine an den Methoden der logischen Analyse geschärfte Naturphilosophie braucht nicht in Furcht vor traditionellen metaphysischen Begriffen zu erstarren. Die Einsicht, die ich in Kapitel 4 wiederzugeben versucht habe, daß nämlich der naturphilosophische Horizont sich am besten vor dem Hintergrund einer physikalischen Semantik aufhellt, verdanke ich wie viele andere Anregungen, Dr. Rainer Born. Großen Gewinn habe ich aus oft ermunternden, oft heilsam ernüchternden Diskussionen mit Dr. Manfred Stöckler gezogen. Seine sorgfältige Durchsicht des Manuskripts hat dessen Lesbarkeit wesentlich verbessert. Besonderen Dank schulde ich meinem Lehrer, Profes-
Einleitung
15
sor Kanitscheider, der mir den entscheidenden Impuls gab, diese Arbeit zu beginnen, und von dessen Kenntnisreichtum und vorurteilslosem Interesse ich bei vielen schwierigen Problemen profitierte. Der Studienstiftung des Deutschen Volkes schließlich möchte ich für die großzügige finanzielle Förderung meiner Arbeit danken. Bevor wir uns nun der Darstellung und Analyse ungewöhnlicher Kausalstrukturen in Modellen der Allgemeinen Relativitätstheorie zuwenden, wollen wir im ersten Kapitel zunächst die inneren Schwierigkeiten des empiristischen und des Kantischen Kausalbegriffes studieren, um hier bereits erste, von der Relativitätstheorie unabhängige Argumente und Hinweise zu sammeln, die für ein physikalisches Konzept der Kausalität sprechen.
ERSTES KAPITEL
Kausalität als physikalistisches Konzept I. Das physikalistische Konzept der Kausalität im Spektrum philosophischer Kausalbegriffe 1. Kausalität und Kontingenz: Der naturphilosophische Hintergrund des physikafisfischen Konzepts In seinem berühmten Aufsatz Natura/ism reconsiderei hat Ernest Nagel eine der unverzichtbaren Forderungen des Naturalismus als Postulat der Kontingenz natürlicher Prozesse formuliert: " ... the sequential orders in which events occur or the manifold relations of dependence in which things exist are contingent COnnections, not tlre e'mbodiments of a fixed and unified pattern of logically necessary links" 2 • Die Naturerkenntnis ist auf das Finden gesetzesartiger Beziehungen angewiesen; von Einzelgegenständen führt kein logischer Schluß aufVerknüpfungen zu anderen Gegenständen. Im naturalistischen Weltbild existiert also ein grundlegender Dualismus von "inneren Eigenschaften" physikalischer Entitäten und den kausalen Beziehungen dieser Entitäten. Danach können wir nicht erwarten, unsere Erkenntnis der kausalen Beziehungen, die wir aus gesetzesartigen Erklärungen von Prozessen entnehmen, durch Einsichten in ein inneres "Wesen" von Entitäten zu vertiefen, die uns enthüllen könnten, weshalb das kausale Geschehen so und nicht anders ablaufen muß. Tiefere nomische Strukturen können wir natürlich jederzeit entdecken. Die Erwartungen, die sich mit der Vorstellung einer möglichen Einsicht in die Notwendigkeit von Prozessen verbinden, bleiben aber auch bei tieferen nomologischen Erklärungen stets unerfüllt. Während in NotwendigkeilsKonzeptionen der Kausalität kausale Beziehungen aufinnere Eigenschaften physikalischer Systeme zurückgeführt werden, enthalten nomische Erklärungen kausaler Prozesse re/ationa/e Eigenschaften von Systemen in irreduzibler Weise. Um einen physikalischen Vorgang zu erklären, muß daher immer 1 Ernest Nagel, Naturalism Reconsidered. Presidential Address to the American Philosophical Association. Eastern Division. 1954. 2 Ebd., S. 9.
I. Physikalische Kausalität und philosophische Tradition
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auf die materielle und raumzeitliche Umgebung eines Systems Bezug genommen werden. Die Behauptung einer Existenz von Natur-Notwendigkeiten setzt also voraus, daß man zeigt, wie eine Reduktion der relationalen Eigenschaften auf einstellige Prädikate eines Ausgangssystems auszusehen hat. Um die Besonderheit philosophischer Postulate besser zu erfassen, ist es immer ratsam, nach einer möglichen Falsifikationsinstanz zu fragen. Für das Kontingenz-Postulat von Nagellautet die entsprechende Frage: Wann wären wir gezwungen zu akzeptieren, daß ein Prozeß die Verkörperung eines "festgelegten und einheitlichen Musters logisch notwendiger Verbindungen" darstellt? Zunächst ist einmal festzuhalten, daß Nagels Ausdruck "logisch notwendige Verknüpfung" sich nur auf die epistemische Ebene beziehen kann, denn nur auf dieser Ebene ist es sinnvoll, von logischen Beziehungen zu reden. Es handelt sich bei diesem Ausdruck also tim das epistemische Gegenstück einer Natur-Notwendigkeit. Das Kontingenz-Postulat des Naturalismus wäre also, ausgedrückt in epistemischen Termen, gescheitert, wenn es einen theoretischen Rahmen gäbe, in dem Beschreibungen von gewissen Ereignissen Beschreibungen ihrer (Wirkungs-)Ereignisse logisch implizierten. Eine solche Implikation müßte als Ausdruck des ontischen Enthaltenseins der Wirkungen in den Ursacheereignissen bzw. deren inneren Eigenschaften betrachtet werden. "Beschreibung eines Ereignisses" ist nun zunächst noch ein so vager Ausdruck, daß es denkbar erscheint, das System von Beschreibungen eines Ereignisses so weit anzureichern, daß dieses System gerade hinreichend wird zur Deduktion eines Wirkungsereignisses. Es hängt von der Art des Determinismus ab, den die Gesetzesstrukturen erfüllen (vgl. Kap. 3), wieviel an Information über die Welt man hinzunehmen muß, um diese Deduktion durchführen zu können. Diese Situation gibt Anlaß, einen unverfanglichen Begriff schwacher "physikalischer Notwendigkeit'' einzuführen. Dieser schwache Begriff soll sich auf ein Spektrum der Bestimmtheit für Folgen von Ereignissen beziehen. Der Grad dieser Bestimmtheit wird am Umfang der Menge von Randbedingungen und Gesetzen ("Information über die Umgebung") gemessen, die man hinzunehmen muß, um Beschreibungen von Wirkungsereignissen deduktiv aus den Beschreibungen der Ursacheereignisse herleiten zu können. Der entscheidende Unterschied gegenüber einer "echten" physikalischen Notwendigkeit besteht darin, daß die hinzugenommenen Informationen zwar als mehrsteilige Prädikate formuliert werden können, an deren einer Stelle das Ursacheereignis (bzw. das verursachende System) steht, nicht aber als einstellige Prädikate, die sich ausschließlich auf innere Eigenschaften des V rsacheereignisses beziehen. Der weitgefaßte schwache Begriff der physikalischen Notwendigkeit weist auf ein Spektrum unterschiedlich starker Determiniertheit kausaler Prozesse durch innere Eigenschaften und Eigenschaften der Umgebung eines Systems; der engere Begriff dagegen stellt die Gegenthese zum Kontingenz-Postulat des Naturalismus dar. 2 Barteis
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Kausalität als physikalistisches Konzept
Auch abgesehen von ihrer möglichen Bewährung im Wissenschaftsprozeß besitzen für den starken Begriff der kausalen Notwendigkeit These und Gegenthese schon von der begrifflichen Seite her unterschiedliche Präferenz 3• Fassen wir einmal die These der echten naturalen Notwendigkeit ins Auge, so enthält diese gegenüber der schwachen Notwendigkeit die Aussage, daß sich alle mehrsteiligen Prädikate, die in der Erklärung eines kausalen Prozesses verwendet werden, auf einstellige Prädikate reduzieren lassen. Es wird also behauptet, daß die Trennung von "So-Sein" der Ereignisse und Entitäten und deren dynamischer Entwicklung eliminierbar ist. Die Dynamik der Prozesse soll bereits in den wesentlichen Eigenschaften ihrer Anfangsereignisse enthalten sein, oder anders ausgedrückt: die Menge der Folgeereignisse bestimmt eine Eigenschaft, die selbst zu den wesentlichen, charakterisierenden Eigenschaften der Anfangsereignisse gehört. Man kann darin eine neodynamistische Weltauffassung sehen, die etwas verkürzt zu kennzeichnen wäre als Behauptung der Identität (oder einer Enthaltenseinsbeziehung) zwischen der "Natur" der Dinge und ihrer kausalen, die Folgeereignisse bestimmenden "Kraft"4 • In ihrer konsequenten Form führt diese Auffassung zu einer magischen Sicht der Natur, die dem kausalen Weltbild scharf entgegengesetzt ist. So wie es in den magischen Begriffssystemen der Naturvölker "wahre" Benennungen von Gegenständen gibt, die das innere Wesen der Gegenstände und ihr zu erwartendes zukünftiges Verhalten aufschlüsseln, so sucht auch der Neo-Dynamist nach den" wahren" Beschreibungen von Systemen, in denen die kausalen Kräfte der Systeme eingeschlossen sind. Ebenso sinnlos wie die Frage nach dem Grund desZutreffenseiner "wahren" Benennung für einen Gegenstand ist auch die Suche nach weiteren Erklärungen für "wahre" Beschreibungen von Systemen. Die Verknüpfung der wahren Beschreibung mit dem kausalen Verhalten des Systems soll gerade "innerlich" sein, also eine weitergehende Analyse ausschließen. Die Auswirkung dieser Analyseresistenz für die Rekonstruktion der Kausalrelation besteht in einer drastischen Entnaturalisierung der kausalen Beziehung. Dies kann man sehen, wenn man sich zunächst fragt, welche Form die physikalische Relation zwischen den Folgegliedern eines kausalen Prozesses in neodynamistischer Sicht auf der epistemischen Ebene annimmt. In epistemischer Hinsicht ist die Folgebeziehung zwischen Ursache und Wirkung hier zur logischen Folgerung (aus inneren Eigenschaften) geworden. Die Kausalrelation kann daher nichts anderes sein als das Korrelat dieser logischen Folgerung auf der ontischen Ebene. Kann aber die Kausalrelation dann überhaupt noch in einer natürlichen Relation bestehen, einer Relation also, die durch ein Element der realen Welt realisiert wird? Wäre sie eine natürliche Relation, so müßte sie sich auf einen Sachverhalt zwischen Ereignissen beziehen, der zu unserer 1 Vorausgesetzt, man ordnet einer magischen Weltsicht geringste Präferenz, weil geringste Wahrscheinlichkeit der Erfüllung zu. 4 Vgl. R. Harre, E. H. Madden: Causa! Powers. Oxford 1975.
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aktualen Welt gehört und der unabhängig von der Existenz der Ereignisse, zwischen denen er vermittelt, auch nicht-erfüllt sein könnte. Der aufmerksame Leser bemerkt, daß hier die Kontingenz des Sachverhaltes, auf den die Relation sich bezieht, als Merkmal der Natürlichkeit der Relation eingesetzt wird. Eine petitio principii läge aber nur dann vor, wenn es darum ginge, den Neo-Dynamismus ad absurdum zu führen. Das ist hier nicht beabsichtigt. Vielmehr soll festgehalten werden: die Rolle, die die Kausalrelation in einer Notwendigkeits-Konzeption der Kausalität spielen muß, ist unverträglich mit der Auffassung der Kausalrelation als einer natürlichen, kontingenten Relation. Sind Kausalbeziehungen im strengen Sinne notwendig, so muß die Kausalrelation unabhängig sein von allen Sachverhalten der Welt außer den inneren Eigenschaften von Ursacheereignissen. Sollte sich also herausstellen, daß wir die - nach einem Alltagsbegriff von Kausalität- klassifizierten kausalen Prozesse der Welt unter Verwendung einer bestimmten natürlichen Relation verstehen können (die denselben Grad an Kontingenz besitzt wie alle anderen theoretischen Entitäten und Relationen unserer Theorie) und sollte sich zudem eine explanative Überlegenheit gegenüber Rekonstruktionen zeigen, die keine ontisch autonome kontingente Kausalrelation verwenden, so wäre dies ein Indiz dafür, daß der Neo-Dynamist wenigstens in unserer Welt unrecht hat. Dies gilt sogar dann, wenn sich unsere Welt zufällig als eine Leiboiz-Weit herausstellen sollte, als eine Welt also, in der jedes Element "notwendig" mit jedem anderen verknüpft ist, keines also aus der Welt herausgenommen werden könnte, ohne diese Welt zum Verschwinden zu bringen. Denn die Beschaffenheit einer solchen Welt könnte ihrerseits als kontingent verstanden werden, so, daß die notwendige Bezogenheit ihrer Elemente nur durch die besondere Strenge ihrer gesetzesartigen Kopplungen garantiert wäre, nicht aber eo ipso schon durch die inneren Eigenschaften ihrer Elemente. Deshalb stünde der Neo-Dynamismus in einer Leibniz-Welt unter den prinzipiell gleichen Validierungsbedingungen. Wenn im folgenden Argumente dargestellt werden, die für die Realisation der Kausalrelation durch Energieflußvektoren sprechen, so können diese Argumente also zugleich als Einwände gegen die Position der physikalischen Notwendigkeit angesehen werden. Die Etablierung der Kausalrelation als kontingente natürliche Relation ist ein Schritt zur Validierung des naturalistischen Kontingenz-Postulats. Die nähere Analyse wird ergeben, daß die Verwendbarkeit eines Energieflußvektors zur Beschreibung der kausalen Dynamik nicht schon in der Beschreibung von Ursachen enthalten ist und andererseits auch mit dem Ursache-Ereignis und dem zugehörigen Energieflußvektor noch kein Wirkungs-Ereignis konstruiert werden kann. Das Wirkungs-Ereignis ist erst durch die speziellen Gesetze bestimmt; sie legen fest, zu welchem Effekt die Wirkungsübertragung führt. 2•
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Die Geschichte des philosophischen Kausalbegriffs ist durch eine Reihe von Versuchen gekennzeichnet, Verursachung mit der einen oder anderen Art von "notwendiger Verknüpfung" gleichzusetzen. Den Skrupeln gegenüber einer Fortsetzung solcher Versuche seien hier noch zwei weitere hinzugefügt. Der erste dieser Punkte hat einen eher linguistischen Hintergrund. Wie Anscombe 5 zutreffend ausführt, besteht "Verursachung" der sprachlichen Intention nach in einer "Herkunft" ("derivativeness") der Wirkung von ihren Ursachen. Als Beispiel dieses "Herkunft"-Aspektes führt Anscombe die Elternbeziehung an. Über materiale Beziehungen dieser Art können uns Begriffe wie "Notwendigkeit" oder auch die unbedingte Generalisierbarkeit von Folgen nichts mitteilen. In Bunges6 Worten: es fehlt der "generative" Aspekt der Verursachung, der für unsere Sprachverwendung wesentlich ist. Der zweite Punkt ist prinzipieller Art; hier geht es um die Notwendigkeit einer Kopplung von Verursachung und Determinismus. Die Auslösung einer Bombe durch einen indeterministischen Zerfallsprozeß der Quantenmechanik 7 stellt das schlagende Beispiel eines zeitlich nicht determinierten, wohl aber kausalen Vorganges dar. Einen nicht determinierten Vorgang wird man aber schwerlich als naturnotwendig bezeichnen können, da hier für das individuelle Ereignis offenbar zu keinem Zeitpunkt eine Konjunktion hinreichender und notwendiger Bedingungen vorhanden ist. Da der quantenmechanische Zerfallsprozeß, der in der Auslösung der Bombe einen durchaus handfesten Effekt hervorbringt, offenbar (für das einzelne Ereignis) keine Spur von Notwendigkeit zeigt, muß sein kausaler Charakter durch etwas anderes als die notwendige Beziehung seiner Folgenglieder garantiert werden: "not being determined does not imply not being caused", wie Anscombe 8 es ausdrückt. Halten wir als Zwischenergebnis fest: Kausalität und physikalische Notwendigkeit sind begrifflich zu trennen. Verursachung ist mit einem Spektrum schwacher Notwendigkeit verknüpft - und auch dies nur für den Fall deterministischer Prozesse. Notwendigkeit istjedoch sicher kein wesentliches allgemeines Merkmal der Kausalrelation. Denn solche Natur-Notwendigkeit müßte sich in einer absoluten Generalisierbarkeit singulärer Kausalsätze niederschlagen. Wie aber das Beispiel der indeterministischen Verursachung zeigt, ist nicht jeder singuläre Kausalsatz generalisierbar.
s G. E. M. Anscombe: Causality and Determination. Cambridge University Press 1971. S.67. 6 Vgl. Mario Bunge: Causa1ity. Dover-Edition 1979. Preface XIX. 7 Die sogenannte Feynman-Bombe, vgl. Anscombe, a. a. 0., S. 78. 8 Anscombe, a. a. 0 ., S. 78.
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2. Vielfalt kausaler Begriffe versus physikalistische Reduktion? Wenn im 1. Abschnitt einiges für eine naturalistische bzw. physikalistische Rekonstruktion der Kausalrelation und gegen eine Notwendigkeitsauffassung der Kausalität spricht, so heißt dies nicht, daß die physikalistische Position keine ernstzunehmenden Einwände zu befürchten hätte. Aus den verschiedenartigsten Angriffen gegen den kausalen Physikalismus wollen wir einen herausgreifen, dessen Initiator besonders unverdächtig erscheint, die im ersten Abschnitt dargestellten Argumente oder allgemein die Vorteile eines möglichst umfassenden naturalistischen Weltverständnisses zu ignorieren. Hilary Putnams Kritik9 an der physikalistischen Konzeption der Kausalität ist zudem deshalb von besonderem Interesse, weil sie es uns ermöglichen wird, diese Konzeption erkenntnistheoretisch so geschmeidig zu machen, daß sie im Kern auch für einen "sophisticated realism" annehmbar wird. Putnams Überlegungen werden uns eng auch an transzendentale Auffassungen der Kausalität heranführen, was nahelegen wird, einen Blick aufs Kants Kausal-Konzeption zu werfen und darüber hinaus mögliche Überlebensformen einer Notwendigkeitsanalyse der Kausalität zu erörtern. Putnams Angriff auf den physikalistischen Kausalbegriff stellt einen Sonderfall seiner allgemeinen Strategie gegen die wissenschaftsphilosophische Position des "metaphysischen Realismus" dar. Als metaphysischer Realist, so kann man Putnam verstehen, sucht der Physikalist eben nach einem "letzten Bodensatz" der Realität, nach den von unseren epistemischen Bemühungen in totounabhängigen grundlegenden konkreten Entitäten. F~r ihn besitzt die Welt "an sich" eine eindeutige ontologische Schichtung, auf deren unterster, der physikalischen Ebene, jene Relation anzusiedeln ist, auf die unsere Rede von Verursachung sich letzten Endes bezieht. Was an dieser Vorstellung des Physikalisten ist nun falsch oder auch nur naiv? Nun, für Putnam besteht die Naivität des metaphysischen Realisten im allgemeinen darin, die Rolle unserer begrifflichen Aktivität und unserer normativ bestimmten Optionen in der Konstruktion des Realen unberücksichtigt zu lassen. Dies hat zur Folge, daß Eigenschaften, die sich auf den- ontologisch begriffenen- Stufen unseres Bildes der Welt zeigen, in ihrem gesamten begrifflichen Gehalt als vorgefundene Merkmale der äußeren, von begrifflicher Konstruktion unabhängigen Welt betrachtet werden. Die Zutat unseres Verstandes, die speziell der kausale Physikalist unberücksichtigt läßt, besteht nach Putnam darin, daß jede Anwendung eines kausalen Konzeptes die Wahl einer Perspektive voraussetzt, durch die bestimmt ist, wie wir den Terminus "Verursachung" jeweils verwenden. Wir haben stets aus einer Vielzahl möglicher kausaler Ketten 9 Hilary Putnam: Three Kinds of Scientific Realism. The Philosophical Quarterly. Vol. 32, No. 128, 1982, S. 195-200, und: Why there isn't a ready made world. Synthese 51, 2, 1982, s. 141-167. .
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auszuwählen, die von einem bestimmten zu erklärenden Ereignis in die Vergangenheit zurückführen. Daher sind in jedem wissenschaftlichen oder Alltags-Kontext kausale Begriffe stets mit "nicht-physikalischem Inhalt beladen", einem Inhalt, der sich auf eine physikalische Kausalrelation nicht zurückführen läßt. Allgemeiner formuliert behauptet Putnam hier, daß bestimmte semantische Aspekte unserer Welt-Repräsentation nicht auf die physikalischen Prädikate der repräsentierten Welt reduzierbar sind. Putnam versucht dies besonders für den Begriff der Referenz zu zeigen. Die Referenzrelation, so seine These, ist entgegen den Intentionen aller "kausalen Theorien" der Referenz nicht mit einer bestimmten kausalen Kette gleichzusetzen, die den Benutzer eines sprachlichen Ausdrucks mit Objekten aus der Extension dieses Ausdrucks verbindet. Das Argument, das er dabei anführt, hat auch für Putnams Ablehnung eines rein physikalischen Kausalbegriffes Bedeutung. Es ist das Argument der Notwendigkeit begrifflicher Auswahl relevanter Kausalketten, die ihrerseits nicht in physikalische Kompetenz fällt. Auch jede spezielle Anwendung des Verursachungsbegriffs setzt eine Wahl voraus: die Auswahl relevanter Entitäten, die als Träger der Kausalrelation in Frage kommen (sollen). Der Jurist, der Polizist und u. U. der Psychologe und der Chemiker, sie alle werden, ihren besonderen Erkenntniszielen und -motiven entsprechend, unterschiedliche" Ursachen" für das nicht-natürliche Ableben einer Person verantwortlich machen und die Kriterien ihrer Auswahl können ihrerseits nicht durch Hinweis auf physikalische Sachverhalte ersetzt werden - bestenfalls die gehirnphysiologischen Prozesse, die der geistigen Realisierung dieser Kriterien entsprechen, nicht aber, daß und wie von diesen Kriterien Gebrauch gemacht wird. Den Optionen der verschiedenen Erkenntnisinteressenten entspricht jeweils eine typische Einteilung des Kontextes in "Hintergrundsbedingungen" und "auslösende Faktoren". Ursachen sind sozusagen jene Ereignisse, die wir relativ zum jeweiligen Erkenntnisinteresse als die "auslösenden Faktoren" auswählen. Damit soll keineswegs einem totalen Relativismus des Verursachungsbegriffs das Wort geredet werden. Einerseits steht die jeweilige Option unter den begrifflichen Kriterien ihres Kontextes; es gibt also Grenzen für das, was innerhalb eines Kontextes als Ursache angesprochen werden darf. Zum anderen gibt es aber auch keinen Relativismus der Wahl zwischen verschiedenen Kontexten. Die kausalen Netze, die die Rede von Verursachung für jeden Kontext anleiten, müssen nach naturalistischer Auffassung in einer Verfeinerungsrelation zueinander stehen: die Menge der kausalen Paare aus dem "juridischen Netz" ist eine wohlbestimmte Teilmenge aus der Menge der kausalen Paare des "physikalischen Netzes". Der Ausdruck" Ursache" hat deshalb mehr als nur Interesse-relative Bedeutung, weil es nicht nur das Erkenntnisinteresse ist, das Ursachen auswählt (sondern ein Zusammenspiel von Interessen und Kriterien) und die Menge, aus der ausgewählt wird, durch objektive Eig-
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nungskrit((_~ien bestimmt ist (die Zugehörigkeit zur Grundmenge, die dem physikalischen Netz entspricht, bzw. ihren Teilmengen, die Vergröberungen dieser Grundmenge und damit den "höheren" epistemischen Schichten entsprechen). Nicht jedes Ereignis kann- bezüglich eines bestimmten Erkenntnisinteresses als Ursache eines bestimmten anderen Ereignisses ausgewählt werden. Die grundlegende Eignung von Ereignissen als Ursachen, die unabhängig von Erkenntnisinteressen gedacht werden muß, soll die Verwendung kausaler Sprechweise nicht willkürlich werden, ist zunächst eine physikalische Eignung. Sie bestimmt die Anwesenheit v9n Ereignissen im Grundnetz kausaler Relationen. Auf diese physikalische Vernetzung von Ereignissen kann im Prinzip Bezug genommen werden, um ein System von Ereignissen als ein kausales Teilnetz zu bestätigen (in der Praxis wird man von solcher physikalischer Feinanalyse Abstand nehmen, stattdessen die Existenz einer feineren Struktur unterstellen und sich auf die Erfüllung der Kontextkriterien konzentrieren). Die Existenz eines objektiven kausalen Netzes schafft erst die Grundlage dafür, eine begründbare und nicht nur willkürliche Wahl nach Erkenntnisinteressen zu treffen. Nichts anderes ist ja "Wahl" als Kennzeichnung innerhalb) einer wohlbestimmten Menge nach Kriterien. Was Putnams Kritik 1" deutlich macht, ist also eine Grenze der 1" In dem Artikel .. Why there isn't a ready made world" (Synthese 51, 1982, S. 141-167) verschärft Putnam seine Kritik an der physikalistischen Kausalkonzeption. "Verursachung", so Putnam, ist ein (aus der physikalischen Welt) abstrahierter Begriff, mit dessen Hilfe bestimmte Ereignisse oder Gegenstände ausgezeichnet werden, die geeignet sind, andere Ereignisse oder Gegenstände zu erklären. Der abstrakte Charakter des Begriffs schließt nach Putnam seine Verknüpfung mit einer konkreten physikalischen Relation aus: .. Even when we imagine a possible world in which there are non-physical things or properties, we can conceive of these things and properlies causing things to happen. A disembodied spirit would not have mass or charge, but ... it could cause something ... " (vgl. a. a. 0., S. 150). Es ist aber eines, sich vorstellen zu können, daß ein körperloser Geist etwas verursacht (z. B. einen Unfall, indem er über die Straße läuft) - wobei man stillschweigend die doch gerade ausgeschlossene Analogie zu physikalischen Verursachungen verwendet (in unserem Beispiel die Aussendung irgendeines Signals oder eine massive Wechselwirkung, die der Autofahrer spürt) und etwas anderes, die de facto kausale Wirksamkeit des Geistes zu akzeptieren. Zudem verletzt Putnam hier seine sehr plausible Konzeption der Referenz von Begriffen mittels Anknüpfung an die Resultate der jeweiligen wissenschaftlichen Theorien. Nach dieser Konzeption wird z. B. die Definition von "Wasser", die sich zunächst auf grobsinnliche Eigenschaften von Flüssigkeiten stützt, im Lauf der Entwicklung physikalischer Theorien durch Aussagen über die Molekularstruktur verfeinert. Die Definition von Wasser wird dadurch zwar abstrakter, bleibt aber immer an Terme physikalischer Theorien gebunden. Zwischen den kausalen Aktionen des körperlosen Geistes und der Auslösung eines Unfalls durch eine Person mit üblichem physikalischen Aufbau gibt es dagegen keinen denkbaren Abstraktionsprozeß entlang einer Linie verfeinerter Theorien (nach Voraussetzung soll der Geist auch keine physikalischen Eigenschaften irgendeiner späteren Theorie tragen). Kein Wunder also, daß Putnam sich in demselben Artikel genötigt sieht, seine frühere Position, die er an seinem berühmten Wasser-Beispiel in "Die Bedeutung von Bedeutung" erläuterte, gegen den Vorwurf des Essentialismus in Schutz zu nehmen (vgl. a. a. 0 ., S. 157)- nur so glaubt er die frühere Auffassung mit dem jetzigen Anti- Essentialismus kohärent halten zu können. Entschei-
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physikalischen Reduktion von Kausalität, nicht deren Unmöglichkeit. Die Semantik von Verursachung enthält mehr als nur die physikalische Relation zwischen Ereignispunkten; sie bringt zusätzlich Erkenntnisziele zur Geltung. Die physikalische Relation aber ist eine notwendige Bedingung für die Verwendung jeden Verursachungsbegriffs. Wenn juridische Beschreibungsformen von Vorgängen andere Gesichtspunkte in den Vordergrund rücken als etwa psychologische oder physikalische, so schließt dies nicht aus, daß diese verschiedenen Beschreibungsformen sich auf einer' tiefsten, physikalischen Ebene als Kurzfassungen für lange Ketten physikalischer Kausalbeziehungen herausstellen. Verschiedene kausale Beschreibungen auf gleicher Netzebene entsprechen verschiedenen Zweigketten des Netzes (siehe Abbildung unten).
Das kausale Netz und die Vielzahl möglicher ,.Ursachen"
Für dieselbe (biologische) Wirkung kann man verschiedene biologische (Ursache 1 ), chemische (Ursache2 ) oder physikalische (Ursache3) Ursachen auszeichnen. Die Netze (€)) und (•) sind Teilnetze des Rhysikalischen Grundnetzes ( o ). Jeder Punkt • gehört zum Netz ((§)), jeder Punkt €> gehört zum Netz ( o ) • 0-,
" Ursache 2 Ursache 1
0
Punkte des "physikalischen" Netzes
@
Punkte des "ehemischen" Netzes
Wirkung
• Punkte des "biologischen" Netzes
dend beim semantischen Ankoppeln an physikalische Eigenschaften, so schreibt er hier, ist, daß eine bestimmte Ankoppelung nicht unabhängig von unseren "referentiellen Intuitionen" in der Natur existiert, sondern vielmehr erst mental konstruiert wird. Diese Zusatzbemerkung ist aber viel zu schwach, um aus Sicht der älteren Position die Ablehnung des kausalen Physikalismus zu rechtfertigen. Auch wenn man berücksichtigt, daß wir es sind, die Begriffe physikalisch verankern, ist doch die Tatsache, daß ein Begriff (im besonderen der Begriff "Kausalrelation") sich in bestimmter Weise physikalisch verankern läßt, eine Tatsache unserer Welt, die entscheidendes Gewicht für alle semantischen Erweiterungen des Begriffs besitzt.
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Daß Putnams Argument keine tiefgreifende irreparable Konsequenz für die physikalistische Kausalanalyse beinhaltet, wird schon dadurch klar, daß dieselbe Einteilung in Hintergrund und kausalen Auslöser relativ zu einer Form der Erklärung auch zwischen verschiedenen physikalischen Theorien, ja innerhalb derselben Theorie stattfindet. In endlichen Raumzeitbereichen werden wir niemals eine einfache Monokausalität antreffen, sondern stets mehrere Ursachen für ein bestimmtes Ereignis zur Verfügung haben. Daß auch in der Physik die Antwort auf die Frage "Was war die Ursache für das Ereignis e?" methodologischer Auswahl unterliegt, zeigt, daß Putnams Argument keineswegs gegen die physikalische Realisation der Verursachung spricht. Die Tatsache allein, daß die Anwendungen eines Begriffs einer methodologischen Präparation unterliegen, besagt nichts über seine mögliche Reduzierbarkeit in einem bestimmten Aspekt; was den Kausalbegriff angeht, so ist dieser Aspekt die Mikro-Relation zwischen Ereignissen. Daneben kommen in der kausalen Rede - darauf wollte Putnam hinweisen -auch andere Bedeutungsaspekte zum Ausdruck, die vom einen zum anderen Erklärungskontext variieren können und nicht physikalisch reduzierbar sind. Eine gemeinsame physikalische Basis der verschiedenen Verursachungsbegriffe (des juridischen, psychologischen etc.), die in der atomaren Struktur des kausalen Grundnetzes, realisiert durch die physikalische Kausalrelation, besteht, ist auch durchaus mit einem internen Realismus verträglich, wie ihn Putnam vertritt. Denn nichts in dieser physikalistischen Auffassung verpflichtet dazu, die begrifflichen Inhalte des physikalischen Bildes der Welt oder die Existenz der ontologischen Stufung als fertig vorgefundene Merkmale der Außenwelt zu betrachten. Reduktion muß nicht als Zurückführung von Phänomenen auf Entitäten betrachtet werden, die in toto unabhängig von begrifflicher Erfassung existieren. Stattdessen kann der Reduktionist - dem Putnam zu Unrecht einen Neo-Essentialismus unterschiebt - die ontologische Schichtung auch als Ergebnis begrifflicher Konstruktion betrachten - als ein Ergebnis einer Konstruktion des Wirklichen, die den Kriterien rationaler Akzeptierbarkeit wie Kohärenz und Vollständigkeit entspricht. Eine physikalistische Konzeption der Kausalität sollte also, sofern sie Putnams Kritik ernst nimmt, sich nicht als ein reduktionistisches Programm für den gesamten Bedeutungsgehalt kausaler Begriffe verstehen, sondern vielmehr als ein Programm, das sich zum Ziel setzt, den Zusammenhang der vielen kausalen Arrangements aus ihrem Bezug auf eine Grundrelation verständlich zu machen. Um einen überambitionierten Physikalismus in die Schranken zu weisen, verwendet Putnam ein transzendental-pragmatisches Argument: es weist auf Bedeutungselemente des Verursachungsbegriffs hin, die prinzipiell nichtnaturaler Art sind, die andererseits verbindlich sind für jede Verwendung
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kausaler Begriffe - wenn auch diese Verbindlichkeit nur pragmatisch begründet ist, also keine "Bedingung der Möglichkeit" im streng transzendentalen Sinne darstellt. Man kann sich fragen, ob auch diese pragmatische Bedingung Putnams zu einer Art apriorischer Einschränkung möglicher wahrer Aussagen über kausale Beziehungen führt, wie dies aufgrund der transzendentalen Bedingungen Kants für die möglichen wahren Aussagen über kausale Erfahrungsinhalte der Fall ist. Tatsächlich findet sich bei Putnam 11 die Behauptung der Existenz "philosophisch unmöglicher Theonen"; deren Nicht-Wahrheitsfähigkeit soll allein mittels philosophischer Reflexion (außerlogischer Art) nachweisbar sein. Der Angelpunkt dieses Argumentes ist eine semantische Kohärenzbedingung, die alle Theorien erfüllen müssen, sofern sie Aussagen über den Theorien-Konstrukteur, den Menschen, einschließen. Dieser Teil der Aussagen darf nun der Fähigkeit des Theorienkonstrukteurs zur Bezugnahme auf äußere Gegenstände nicht widersprechen, d. h. es darf hier nichts behauptet werden, das mit der Behauptung der Referenz-Fähigkeit logisch unverträglich ist. Bringt nun Putnams pragmatische Forderung an den Kausalbegriff eine ähnliche Einschränkung für mögliche kausale Aussagen physikalischer Theorien mit sich? Wir haben bereits gesehen, daß die Berücksichtigung der spezifischen Verwendungsbedingungen für kausale Begriffe mit einer physikalistischen Reduktion der kausalen Mikrorelation durchaus vereinbar ist. Die Reduktion kann also sicher nicht mittels einer semantischen Kohärenzbedingung als "philosophisch unmöglich" erwiesen werden, in der gefordert wird, daß der Aspekt der pragmatisch bestimmten Auswahlkriterien für "Ursachen" die theoretische Rekonstruktion der Kausalität "überleben" muß. Physikalische Kausalkonzeptionen müssen der vollen semantischen Kompetenz des Theorienkonstrukteurs Genüge tun (also mindestens diese Kompetenz nicht ausschließen). Die genannten Qualifizierungen der physikalistischen Reduktionsauffassung hatten die Aufgabe, die Erfüllbarkeit dieser Rahmenbedingung zu zeigen. Über die semantische Rahmenbedingung hinaus gibt es keine weitere apriori-Eingrenzung der möglichen Aussagen über kausale Sachverhalte. Entscheidend für diese zum Fall der transzendentalen Bedingungen grundverschiedene Situation ist, daß Putnam auch bei seinen neuesten Überlegungen seine frühe Überzeugung 12 nicht aufgibt, daß Theorien auch und gerade dort begriffliche Autorität beanspruchen können, wo sie die begrifflichen Rahmen der Alltagserfahrung sprengen. Was Theorien zu Tage fördern, kann falsch aus philosophischen Gründen nur sein, wenn der Aussagegehalt der Theorie (oder die auf diese Theorie gestützte Reduktion von Verursa11 Vgl. Hilary Putnam: Vernunft, Wahrheit und Geschichte. Suhrkamp 1982. Kap. 1: Gehirne im Tank. I ~ z. B. in .. It ain't necessarily so", The Journal of Philosophy, Vol. 59 ( 1962), s.658671.
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chung) inkorrekt an unsere semantische Praxis ankoppelt. Eine philosophische Unmöglichkeit theoretischer Aussagen aus dem Grunde, daß sie als theoretische Aussagen Kodifizierungen der formal vorstrukturierten alltäglichen Erfahrungserkenntnis sein müßten, ist bei Putnams Sicht der epistemischen Rolle von Theorien ausgeschlossen.
3. Die Folgen der Dichotomie .,regelmäßige Verknüpfung" versus .,kausale Notwendigkeit" Wenn die physikalistische Kausalauffassung, wie gesehen, auch den Einwand Putnams gut überstehen kann und zum anderen diese Position die im ersten Abschnitt genannten begrifflichen Vorteile bietet, z. B. den .,generativen" Aspekt von Verursachung zur Geltung bringt, ohne die Kontingenzder Kausalrelation preiszugeben, so ist erklärungsbedürftig, wieso Kausalität auch heute noch meist im Zeichen der Dichotomie .,regelmäßige Verbindung von Folgegliedern"- .,notwendige Beziehung zwischen Ereignissen" diskutiert wird. Zum einen muß hier wohl das Gewicht des Hume-Kantischen Erbes in Rechnung gestellt werden, wichtiger aber scheint zu sein, daß die Denkrichtungen immer noch durch einen Problementwurf fokussiert sind, der auf den logischen Empirismus zurückgeht. Dieser Entwurf macht die empiristische Skepsis gegenüber kausalen Begriffen zu der Problematik. In der Fortsetzung des Humeschen Kausalitätsskeptizismus ist die vorrangige Frage, welche Bestandteile unserer kausalen Begriffe in die Reichweite der sinnlichen Erfahrungserkenntnis fallen. Neoempiristen wie Frank 13 oder Schlick 14 gaben die begriffliche Autonomie der Kausalrelation auf, weil sie weder sinnlich erfahrbar noch per se in der Gesetzesstruktur von Theorien repräsentiert ist. Sie reduzierten kausale Begriffe auf nomologische Beziehungen bzw. auf Vorhersage-Qualitäten von Gesetzen und verbannten damit die Kausalrelation von der ontischen Ebene. Die generierende Rolle der kausalen Relation konnte zwar mit Hinweis auf die Regularität von Vorgängen oder die Erfüllung von sine qua non-Bedingungen for den Sprachgebrauch gerechtfertigt, aber nicht als objektives Merkmal kausaler Prozesse angesehen werden. Für eine Kausalrelation physikalischer Art gab es auch deshalb keine Verwendung, weil keine empirische Methode der Verifikation denkbar schien, die ein kausales Urteil von einer Aussage unterschieden hätte, die sich auf rein nomologische Sachverhalte bezieht. Unter dem logisch-empiristischen Mikroskop war der kausale Zement nicht auflösbar, deshalb wurde er entweder der Kategorie metaphysischer Fossilien oder aber u P. Frank: Das Kau~algesetz und seine Grenzen. Wien 1932. M. Schlick: ,,Causality in Contemporary Physics", Brit. Journ. Phi!. Sei. 12 (1961), S.l77-193 und S.281-298. 14
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den Problemen der normalen Sprache zugeordnet. Im Rahmen der ordinary language philosophy aber werden dann die Anwendungs- und Rechtfertigungsbedingungen kausaler Rede unter Ausblendung aller ontologischen Gesichtspunkte auf die logische Struktur von Alltagssituationen bezogen 15 • Dies läuft schließlich darauf hinaus, kausale Begriffe durch eine bestimmte Konjunktion von Konditionalsätzen zu definieren. Was mit "Verursachung" gemeint ist, löst sich damit in eine Erwartungshaltung gegenüber dem Ablauf zukünftiger Ereignisse bzw. eine Überzeugung bezüglich alternativer Ereignisverläufe auf. Auf diese Weise können sich in fast unkontrollierbarem Umfang sehr spezielle faktische Gegebenheiten unserer Welt in den allgemeinen Kausalbegriff einschleichen, so daß - wie schon für den Kantischen Kausalbegriff - "exotische" Konsequenzen physikalischer Theorien (z. B. Abweichungen vom regulären Kausalbegriff in bestimmten Modellen der AR) von vorneherein begrifflich ausgeschlossen werden. Im Rahmen der für den logischen Empirismus charakteristischen Dichotomie erscheint ein Festhalten an der objektiven Bedeutung kausaler Begriffe nur möglich, wenn man sie als nicht-empirisch auffaßt. Man kann Kausalität dann mit bestimmten epistemischen Qualitäten der Welt (Gesetzesartigkeit, Vorhersagbarkeit) identifizieren oder der stärkeren transzendentalen Version der kausalen Notwendigkeit auch in der epistemischcn Wende wieder . zum Durchbruch verhelfen, indem man kausale Begriffe als Essenz unserer Aneignungsweise von Prozessen herausstellt. Mit Blick aufKa nt- der dieser letztgenannten Version Pate gestanden hat- sollen im 4. Abschnitt mögliche Verwendungen kausaler "Notwendigkeit" diskutiert und damit etwas Licht in die oft recht dunkle Rede von Notwendigkeit als Charakteristikum kausaler Folgen gebracht werden. Dabei werden nun Aspekte im Vordergrund stehen, die bei der Behandlung des Konzepts der "NaturNotwendigkeit" im 1. Abschnitt nicht zum Zuge kamen. Jetzt geht es darum zu untersuchen, ob eine lebendige Alternative zur physikalistischen Kausalkonzeption durch eine epistemisch aufgefaßte Notwendigkeit ins Spiel gebracht werden kann. Kann die transzendentale Analyse oder eine ihrer Nachfolgekonzeptionen der physikalisch aufgefaßten Verursachung das Wasser abgraben? Bevor wir zeigen, daß und worin sich für transzendentale Konzeptionen der Kausalität unüberwindliche Schwierigkeiten auftun, wollen wir die eingangs gestellte Frage nach dem Motiv nicht-physikalistischer Programme abschließen. Als Motivationshintergrund dieser Programme wirkt, wie gesagt, der enge empiristische Erkenntnis begriff, der die Dichotomie "empirische Folgen - nicht-empirische Begriffe" aufwirft und damit zu einer Konfrontation "regelmäßige Verknüpfung" versus "kausale Notwendigkeit" führt (Verzicht auf Objektivität der Kausalrela tion versus nicht-empirisches 15
Vgl. z. B. Mackie: The Cement of the Universe. Oxford 1974.
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Reservat der Kausalrelation). Faßt man dagegen in Überwindung dieser Dichotomie "empirische Ereignisfolgen" selbst schon als theoretisch rekonstruierten Sachverhalt auf, so erscheint es unmittelbar plausibel, daß das Korrelat der Vorstellung einer "notwendigen Verbindung" solcher Ereignisfolgen im Bereich der theoretischen Rekonstruktion zu suchen ist, daß also der objektive Gehalt von "Kausalrelation" innerhalb von physikalischen Theorien dargestellt werden muß. Eine Voraussetzung für die Aufhebung der besagten Dichotomie ist also die in den 60er Jahren begonnene ontologische Rehabilitierung der theoretischen Entitäten. Zunächst aber bleibt zu zeigen, daß die von Kant inspirierten Notwendigkeitsanalysen der Kausalität ihren inneren Schwierigkeiten nicht entkommen.
4. Kant über kausale Notwendigkeit
Kant hat seine Auffassung zur Kausalität vor allem in der berühmten "2. Analogie der Erfahrung" in der Kritik der reinen Vernunft dargelegt. Im Moment der Notwendigkeit, so können wir Kants allgemeine Auffassung charakterisieren, entzieht sich der Begriff der Verursachung unserer Erfahrungserkenntnis. Die Notwendigkeit, also das Spezifikum der kausalen im Gegensatz zu den regelmäßigen, aber innerlich unverbundenen Folgen, repräsentiert den nichtempirischen Anteil des Begriffs. Damit wendet sich Kant gegen die Auffassung von Hume, nach der die vorgestellte Notwendigkeit der Wirkung lediglich eine subjektive, auf Ereignisfolgen projizierte Zutat unseres Verstandes ist. · Die Mehrdeutigkeit in Kants Begriff der Notwendigkeit ist von verschiedenen Autoren bemerkt, wenn auch unterschiedlich gewichtet worden. J. Bennett16 hat zwei wesentliche Verwendungen von "notwendig" in der 2. Analogie 17 hervorgehoben 18 : Einmal sind kausale Gesetze notwendig, um die Einheit des Selbstbewußtseins des Erkennenden zu garantieren. Nur indem sich das Subjekt der Welt als einer Gesamtheit geordneter, regelmäßiger Abfolgen von Zuständen perennierender Substanzen bewußt ist, kann es seiner selbst als eines ordnenden Vernunftwesens bewußt sein. Wir werden diese Art der Notwendigkeit als "transzendentale" Notwendigkeit bezeichnen. Die transzendentale Bedeutung ist ganz verschieden von einer anderen Verwendung von "Notwendigkeit", nach der jedes kausale Gesetzirgendeine nicht-empirische Art von notwendiger Beziehung der Folgenglieder aus16
J. Bennett: Kant's Analytic. Malta 1975.
17
I. Kant: Kritik der reinen Vernunft. Die tranzendentale Analytik. Zweite Analogie
der Erfahrung (B 232 ff.) 18 Wir werden später noch eine dritte Verwendung von ,.notwendig" kennenlernen: die notwendige, d. h. unbedingte Geltung eines Gesetzes.
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drückt, deren Abfolge das Gesetz regelt. Bei der ersten Version handelt es sich um eine epistemische Art der "Notwendigkeit", die sich auf unsere Verstandestätigkeit bezieht, bei der zweiten um eine relationale Eigenschaft der durch den Verstand konstituierten Entitäten (also eine Version, die man im gegebenen Kontext nur mit Vorsicht "ontologisch" nennen darf). Wenn Kant sagt, daß der Begriff der Ursache den Begriff der Notwendigkeit der Verbindung mit einer Wirkung enthält, so kann er sich damit nur auf diese zweite Version beziehen, auf .,Notwendigkeit" also als Charakteristikum der Verbindung von Ereignissen: "Soll also meine Wahrnehmung die Erkenntnis einer Begebenheit enthalten, da nämlich etwas wirklich geschieht: so muß sie ein empirisches Urteil sein, in welchem man sich denkt, daß die Folge bestimmt sei, d. i. daß sie eine andere Erscheinung der Zeit nach voraussetze, worauf sie notwendig, oder nach einer Regel folgt" 19 • Da Kant die "ontologisch~" Version der Notwendigkeit ohne besondere argumentative Verknüpfung an die transzendentale Version anschließt, als bestünde zwischen beiden eine materiale Implikation, muß man bei ihm den Glauben unterstellen, daß durch die apriorische Weise des Wissens von kausalen Gesetzen, also dadurch, daß "wir gar nicht umhin können", unsere Erfahrungen realer Prozesse mithilfe kausaler Gesetze zu ordnen, schon eine bestimmte Qualität der Beziehung so geordneter Ereignisketten gesichert sei. In der Tat aber könnte man der transzendentalen Notwendigkeit durchaus zustimmen, ohne damit zugleich zuzugeben, daß die kausalen Prozesse selbst den Charakter von notwendigen Abläufen annehmen. In diesem Sinne stellt etwa Bennett fest: "From the mere fact that a knowable world must be causally ordered, nothing follows about whether the concept of cause involves a non-empirical kind ofnecessity" 20 • Die transzendentale Notwendigkeit, Veränderungen in der Form gerichteter, regulärer Folgen zur Vorstellung zu bringen, reicht nicht aus, um eine nicht-empirische Bezogenheit der Folgenglieder behaupten zu können. Kants Motiv zur Verknüpfung beider Arten von Notwendigkeit war das Ziel, die Vorstellung einer notwendigen Bezogenheit von Ursache und Wirkung, wie sie sich im Alltagsdenken findet, gegen ihre Depotenzierung zu einer bloß subjektiven Zutat des Verstandes in Schutz zu nehmen. Und da er wie Hume der Meinung war, daß für diese Vorstellung kein empirisches Korrelat auszumachen sei, blieb nichts anderes, als ihren objektiven Bezug als ein inneres Merkmal eines notwendig zu bildenden Kausalbegriffes zu rekonstruieren. Eine Veränderung vom Zustand x einer Substanz zu einem Zustand y, so könnte man Kants Idee paraphrasieren, muß (mit transzendentaler Notwendigkeit) begrifflich so erfaßt werden, daß x von y gefolgt werden muß (mit "ontologischer Notwendigkeit"). Der Übergang von "es muß kausale Gesetze geben" zu "jedes 19 211
I. Kant: Kritik der reinen Vernunft, B. 246 f. J. Bennett: a.a.O., S.157.
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kausale Gesetz drückt eine nicht-empirische Notwendigkeit aus" ist jedoch, wie gesagt, von Kant nicht wirklich argumentativ gerechtfertigt worden. Selbst wenn man den Schluß von der epistemischen Unverzichtbarkeit kausaler Gesetze auf eine Aussage über die Bedeutung von "Kausalgesetz" akzeptieren könnte, so bliebe immer noch offen, warum denn die innere Verbindung von Ursache und Wirkung nicht-empirischer Art sein muß. Die Notwendigkeit, kausale Gesetze anzunehmen, könnte sich im Sinne Kants als transzendental herausstellen, die objektive Verknüpfung von Ereignissen jedoch empirischer Natur sein (eine Möglichkeit, die Kant aufgrundseines mit Hume geteilten Verständnisses empirischer Erkenntnis nicht erwogen hat). Um noch besser verstehen zu können, worin Kants Analyse der Kausalität fehlgeht, ist es erforderlich, den Schritt zu rekonstruieren, den Kant beim Übergang zwischen den beiden Arten der Notwendigkeit vollzieht. Die Brücke von der transzendentalen zur "ontologischen" Notwendigkeit bildet der Begriff der Generalisierbarkeit des kausalen Urteils. Nach Kant fordert der transzendental bestimmte Kausalbegriff, daß y auf x notwendig und in Übereinstimmung mit einer absolut universellen Regel folgt. Die transzendentale Notwendigkeit des Kausalgesetzes erscheint dem Subjekt zunächst in der Form der unbedingten und generellen Gültigkeit einer Regel. Diese Analyse Kants trägt dem Umstand Rechnung, dessen Erörterung weite Teile der 2. Analogie in Anspruch nimmt: dem Unterschied zwischen den sukzessiven Folgen von Phänomenen, die sich auf verschiedene Wahrnehmungen an einem perennierenden Objekt beziehen, deren Reihenfolge willkürlich und daher salva veritate umkehrbar ist, und jenen Folgen, deren Abfolgeprinzip festgelegt ist und die daher auf Veränderungen an Objekten in der Zeit bezogen werden müssen. Nicht-kausale Wahrnehmungsketten erläutert Kant am Beispiel der Betrachtung eines Hauses: "In dem (vorigen) Beispiel von einem Hause konnten meine Wahrnehmungen in der Apprehension von der Spitze desselben anfangen , und beim Boden endigen, aber auch von unten anfangen, und oben endigen ... In der Reihe dieser Wahrnehmungen war also keine bestimmte Ordnung, welche es notwendig macht, wenn ich in der Apprehension anfangen müßte, um das Mannigfaltige empirisch zu verbinden. Diese Regel aber ist bei jeder Wahrnehmung von dem, was geschieht, jederzeit anzutreffen, und sie macht die Ordnung der einander folgenden Wahrnehmungen (in der Apprehension der Erscheinungen) notwendig" 21 • Die Existenz von eindeutig gerichteten Phänomenabfolgen ist es, die als Ausdruck einer ausnahmslos geltenden Regel gedeutet wird. L. W. Beck hat hier auf eine weitere semantische Schwierigkeit hingewiesen, auf die Doppeldeutigkeit des Ausdrucks "nach einer Regel folgen": "In the first edition, the second analogy reads: "Everything which happens (comes tobe) presupposes 21
I. Kant: Kritik der reinen Vernunft, B 237 f.
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something which it follows according to a rule". Here the word "rule" refers to the necessity (and per corollary, the universality in the sense of unexceptionability) of the causal connection. We use the word "rule" in this sense when we say, for example, "the integers of rr follow one another according to a rule", and it is only for this reason that the calculation of rr always Ieads to the same string of numbers. But "as a rule" and regularly can also refer to "the usual thing" as in the sentences "As a rule he arrives early", or "He regularly arrives early". In this sense, the "regular" means the maximally-usual, whether it be necessary or brought about by a adherence to a rule, or not" 22 • Der Grund dafür, daß Kant von der einen Verwendung von "Regel" umstandslos zur anderen übergeht, liegt vermutlich in seinem sehr starken Gesetzesbegriff, der sich deutlich vom Status von Gesetzen als kontingente Hypothesen in der modernen Wissenschaftstheorie abhebt. So behandelt Kant gesetzesartige Generalisierungen nicht als fallible Hypothesen, sondern als Aussagen, die durch ihren besonderen inneren Bezug zur Realität gerechtfertigt werden sollen. Ihr besonderer Bezug zur Realität besteht darin, daß sie notwendige Sachverhalte ausdrücken; in der Diktion von L. W. Beck: "in order to make explanatory use of a statement of empirical regularity, we read the modality of necessity into it, implicitly or explicitly. Without this addition of the concept of necessity, a merely enumerative generalization does not explain anything, for without the modality ofnecessity it cannot support a contrafactual subjunctive" 23 • Nur wenn die Verbindungkraft einer Regel "notwendig", eine "rule governed necessity" ist, kann durch diese Verbindung die Regularität der Folge garantiert werden (so wie dies bei der wiederholten Konstruktion der Zahl rr der Fall ist). Nun kann aber ein Naturgesetz wie beispielsweise das Newtonsehe Gravitationsgesetz dem kontrafaktischen Konditionalsatz "Würde der Stein nicht, wie es tatsächlich der Fall ist, durch den Tisch gestützt, so würde er zu Boden fallen" Gewicht geben, auch ohne daß eine innere Notwendigkeit für das Fallen des Steines über die hypothetische Geltung des Gesetzes hinaus unterstellt werden müßte. Der kontrafaktische Konditionalsatz erhält das gleiche hypothetische Gewicht, das das Gesetz selbst besitzt. Ein naturnotwendiger Zusammenhang zwischen den Instanzen des Gesetzes und dem Verhalten des Steines muß nur angenommen werden, wenn man sich unter diesem "Gewicht" (oder dieser "Stützung") eine strenge Form der Rechtfertigung vorstellt. Die Generalisierbarkeit kausaler Urteile, in der sich die Regularität kausaler Folgen ausdrückt, führt nur dann auf eine innere regelhafte Verbindung von Ursache und Wirkung, wenn Gesetze als Formulierungen notwendiger Sachverhalte aufgefaßt werden. Kehren wir zur Rekonstruktion des Gedankengangs der 2. Analogie zurück. Der Eindruck von Phänomenabfolgen, die so gerichtet sind und 22 Lewis White Beck: Kanton the Uniformity ofNature. Synthese, Vol. 47, No. 3 (1981), S. 449-464, hier: S. 453. 21 L. W. Beck: ebd., S. 461.
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unter keinen Umständen anders gerichtet sein könnten, wird von Kant als "Notwendigkeit", sprich" Unbedingtheit des Kausalgesetzes" objektiviert. In der Tat kann die Generalisierbarkeit eines kausalen Urteils nicht "in der Empirie vorgefunden", d. h. nicht durch eine endliche Anzahl von Beobachtungen gerechtfertigt werden. Eine Rechtfertigung dieser uns vom Erleben der eindeutigen Gerichtetheit aufgezwungenen Regularität kann daher, wenn überhaupt, nur nicht-empirisch erfolgen. Und dies geschieht bei Kant so, daß die Regularität des Kausalgesetzes als Eigenschaft der (vom Verstand konstituierten) Entitäten Ursache und Wirkung aufgefaßt wird. Genauer muß es sich um eine dispositionale Eigenschaft der Folgenglieder jedes kausalen Prozesses handeln, die den synthetisierenden Verstand zwingt, sie als innerlich notwendig aufeinander bezogen zu denken. Solche komplizierten Erläuterungen hat Kant aber oft durch einfachere und traditionellere Formulierungen ersetzt, in denen anklingt, daß wir Ursachen als ausgestattet mit kausalen Kräften denken müssen: "Also muß jede Substanz... die Kausalität gewisser Bestimmungen in der andern, und zugleich die Wirkungen von der Kausalität der andern in sich enthalten... " 24 • Rekapitulieren wir Kants Schritt von der transzendentalen zur "ontologischen" Notwendigkeit: Es besteht 1) eine transzendentale Notwendigkeit für die Annahme von Kausalgesetzenaufgrund der Existenz eindeutig gerichteter Phänomenfolgen. 2) Diese eindeutige Gerichtetheit ist, so Kant, nicht anders zu verstehen als durch die Eigenschaft der unbedingten Regularität der objektiven Folgen. 3) Diese Regularität oder Generalisierbarkeit kausaler Urteile anzunehmen, ist man nur berechtigt, wenn man als weitere innere Eigenschaft von Kausalgesetzen eine notwendige, d. h. absolut starre Verbindung von Ursache und Wirkung annimmt. Mithilfe einer kleinen, aber nicht unwichtigen Modifikation kann der letzte Teil dieses Schrittes als methodoJogisch plausibles Argument rekonstruiert werden. David-Hillel Ruben 25 hat gezeigt, daß kausale Generalisierungen als Konklusionen in induktiven Schlußschemata nicht allein mithilfe von Erfahrungsprinzipien wie der "regelmäßigen Abfolge" gewonnen werden können. Um das generelle Urteil zu bestätigen, muß für den Einzelfall schon eine kausale Hypothese ausgesprochen werden. Ohne Verwendung spezifisch kausaler Begrifflichkeit26 , so kann man dieses Ergebnis zusammenfassen, können spezielle Ereignisfolgen nicht als Stützungen allgemeiner Kausalhypothesen aufgefaßt werden. Vergleicht man Kants Analyse nun mit dem Gedankengang von D.-H. Ruhen -wobei wir Kants innere Notwendigkeit der kausalen Verknüpfung mit dem kausalen Mechanismus zwischen Ursache und Wirkung identifizieren wolI. Kant: Kritik der reinen Vernunft, B 259. D.-H. Ruben: Kausalitätsskeptizismus oder unsichtbarer Zement, Ratio, 24. Band, Heft2 (1982), S.l41-152. 26 Die Frage, worin das Spezifische kausaler Begriffe, also der kausale Zemeqt natura• besteht, wird von Ruben nicht behandelt. 24 25
3 Barteis
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len 27 - so kann man den letzten Teil (3) seines Schrittes als eine methodologische Forderung verstehen: durch die eindeutig bestimmte (und in diesem Sinne notwendige) kausale Verknüpfung von Ereignissen soll die Generalisierbarkeit von Kausalgesetzen erklärt werden. Die Angabe eines kausalen Mechanismus kann jedoch im Unterschied zu Kants Intentionen höchstens eine viel schwächere Form der Bestimmtheit von Folgen sichern (vgl. den schwachen Notwendigkeitsbegriff in Abschnitt l). So hypothetisch wie das kausale Urteil im Spezialfall bleibt auch die Generalisierung (oder das Kausalgesetz). Auch diese schwache Form der induktiven Bestätigung ist nur im deterministischen Fall gegeben. Nicht-deterministische Kausalbeziehungen erlauben überhaupt keine Art der Generalisierung individueller Aussagen. In gewisser Weise reziprok dazu verhält sich das zweite Ergebnis von David-Hillel Ruhen: Sollen spezielle Urteile überhaupt bestätigende Kraft für konditionale Generalisierungen haben, so müssen diese Generalisierungen kausaler Art sein. Nur kausale Generalisierungen können von Einzelfäll_en induktive Bestätigungen erhalten. Anders gesagt: bloße Generalisierungen, die nicht schon anders als durch ihre. Eigenschaft, Generalisierungen von Einzelaussagen zu sein, als kausal ausgewiesen sind, können durch Einzelfälle überhaupt nicht induktiv bestätigt werden. Kants dritter Teilschritt ist insofern ein Fehlschlag, als er sich Auskunft über die Eigenschaften der Kausalrelation von der begrifflichen Eigenschaft der Generalisierbarkeit kausaler Aussageformen verspricht. Nach Rubens Argument kann die Generalisierbarkeit von Einzelaussagen zur Charakterisierung der Natur dieser Einzelaussagen jedoch nur ausgenutzt werden, wenn es sich bei den Generalisierungen um schon auf anderem Wege als kausalerfaßte Allaussagen handelt- und auch dann nur unter besonderen Bedingungen (Determinismus) und in eingeschränktem Umfang (Bestätigung, aber keine Rechtfertigung). Nur bei kausalen Allaussagen kann man eine innere Beziehung zu den entsprechenden Einzelaussagen unterstellen. Der zweite Teiischritt Kants, in dem er von der eindeutigen Gerichtetheit kausaler Folgen zu ihrer unbedingten Regularität übergeht, ist verglichen damit nicht so leicht rational rekonstruier bar. WieS. Körner28 bemerkt, zeigt Kant nämlich keineswegs, daß das Kausalgesetz das einzige begriffliche Mittel ist, das Wahrnehmungsurteilen über die Reihenfolge von Erscheinun27 Man kann natürlich auch versuchen, aus der ,.inneren Notwendigkeit" als einer hinreichenden Bestimmtheit der Folge B durch die Ursache A Sinn zu machen. Man muß dann zur Beschreibung von A einen empirischen Gehalt hinzunehmen, der hinreichend für einen Zustand A' ist, so daß unmöglich A' auftreten kann, ohne von B gefolgt zu werden. Anders gesagt, man nimmt zu der Beschreibung von A alle relationalen Prädikate hinzu, in denen A auftritt und hofft auf den allgemeinen Determinismusder Welt. Fürdiese Version der ,.inneren Notwendigkeit" läßt sich Kants Schritt (bei deterministischen Bedingungen) tatsächlich vollziehen. 28 Stephan Körner: Kant. Vandenhoek Göttingen 1967, S. 70.
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gen Notwendigkeit verleiht. Zur Objektivierung von eindeutig gerichteten sukzessiven Folgen ist das Kausalgesetz in seiner generellen Form, nach der die kausalen Folgen unabdingbar in starr festgelegter Richtung verlaufen, zwar hinreichend, aber keineswegs notwendig. So bezeichnet auch Strawson29 Kants Überstieg von der Notwendigkeit (bzw. Eindeutigkeit) der Ordnung der Perceptionen zu der Aussage, daß die Veränderung von x nach y selbst notwendig sei, daß sie unveränderlich und mit innerer Notwendigkeit erfolge, als einen "Fehlschluß". Die objektive Ereignisfolge muß nicht selbst eindeutig gerichtet sein, um die Eindeutigkeit der Synthese der Wahrnehmungen zu gewährleisten, wie sie für kausale Folgen typisch ist. Es ist durchaus denkbar, daß Ursachen nicht starr mit bestimmten Wirkungen gekoppelt sind, sondern z. B. aufgrundder Struktur des raumzeitlichen Hintergrunds 311 die gleiche Ursache in verschiedenen raumzeitlichen Punkten verschiedene Wirkungen nach sich zieht, die dabei auftretenden Ereignisfolgen aber eindeutig gerichtet sind (d. h. nicht in anderer Reihenfolge synthetisiert werden könnten, ohne den physikalischen Gehalt zu zerstören). Die Synthese von Phänomenfolgen, die zu kausalen Prozessen gehören, zeigt ja lediglich die formale Struktur der Gerichtetheit. Kants Fehler bestand darin, anzunehmen, daß diese Struktur nur durch eine eindeutige Beziehung zwischen den Folgegliedern rekonstruiert werden kann. Anders ausgedrückt: er berücksichtigte nicht den möglichen Fall der schwach deterministischen (vgl. Abschnitt I) oder a-deterministischen (also uneindeutigen) Gerichtetheit von Prozessen. Mit der Zulassung dieser Möglichkeit wäre die unbedingte Regularität kausaler Folgen dahin, damit die Annahme bindender kausaler Kräfte als Eigenschaften von Ursachen, und insgesamt der Schritt von der transzendentalen Notwendigkeit der Annahme kausaler Gesetze zur inneren Notwendigkeit kausaler Verknüpfungen. Die argumentativen Sprünge in Kants zweiter Analogie hofft L. W. Beck 31 dadurch abzumildern, daß er die Übergänge durch "regulative Ideen" markiert. Auch Beck vertritt die Auffassung, daß die zweite Analogie keinen zwingenden Beweis für eine transzendentale Notwendigkeit der Regularität von Kausalgesetzen enthält; ja, daß man einen solchen Beweis aus der Notwendigkeit der Annahme universeller Geltung des Kausalprinzips auch gar nicht erwarten dürfe. Die Regularität von Kausalfolgen, skizziert in dem P. F . Strawson: The Bounds of Sense. London !966, S. !38. In den Friedmann-Modellen der AR ist der Verlauf eines kausalen Prozesses, der zur Zeit t= to gestartet wird, unabhängig vom gewählten Startpunkt auf der raumartigen Hyperfläche (t= to). Im allgemeinen aber werden in der AR eindeutig gerichtete, also deterministische Ereignisfolgen je nach dem Raumzeitpunkt ihres Starts qualitativ und quantitativ (andere Bahnen) verschieden ausfallen (vgl. dazu Kap. 3). Dieses Beispiel zeigt, daß unter dem Blickwinkel der AR die kausale Welt Kants eine raumzeitlich ganz besonders wohlgeordnete, hoch symmetrische Welt ist. 3 1 L. W. Beck: Kanton the Uniformity of Nature. Synthese, Vol. 47, No. 3 (1981), vgl. s.454/55. 29
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~·
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Slogan "gleiche Ursachen, gleiche Wirkungen", erscheine stattdessen in Kants Kritik der Urteilskraft als eine "Regel des reflektierenden Urteilens" und als "Ausdruck einer regulativen Idee" 32 • Daher könne man die Behauptung der Regularität als eine methodologische Forderung deuten, die pragmatisch konstitutiv für die Aneignung kausaler Folgen ist, die aber nicht "von der Natur erfüllt werden muß". Bei dieser Interpretation könnte auch die "innere Notwendigkeit" zwischen Ursache und Wirkung nur mehr als methodologisch oder pragmatisch transzendental eingestuft werden; denn wenn die Natur, sofern sie kausal aufgefaßt wird, mit Folgen identisch wäre, die durch innere Notwendigkeit zusammengehalten werden, so könnte es in dieser Natur keine nicht-regulären Kausalfolgen geben Uedenfalls wenn sich diese Notwendigkeit auf alle identisch reproduzierten Ereignisse erstreckt). Die regulative Idee der Regularität kausaler Folgen sichert, so Beck und Dodge 33 , die Unterscheidbarkeit zwischen nur vorausgehenden und kausal bestimmenden Ereignissen. Ohne Regularitätsannahme käme Schopenhauers Kant-Kritik zum Zuge, nach der Kant jede objektive Folge als kausale Folge auszeichnet. Die Replik auf diese Kritik setzt, wie gesehen, offenbar eine Abschwächung des starken transzendentalen Anspruchs der Argumentation in der zweiten Analogie voraus. Fassen wir unsere Überlegungen nochmals zusammen und gehen wir dabei von den unterschiedlichen Bedeutungen des Ausdrucks "notwendig" aus, die hier eine Rolle spielen. Da ist zunächst eine transzendentale Notwendigkeit: Ist das Wahrgenommene tatsächlich eine Veränderung von x nach y , so muß die Wahrnehmung von x der Wahrnehmung von y eindeutig vorgeordnet sein. Die kausale Folgebeziehung als für das erkennende Subjekt notwendiger Begriff involviert danach eine eindeutige Gerichtetheit der kausalen Beziehung. Durch die Möglichkeit zur Auszeichnung dieser besonderen Eigenschaft kausaler Beziehungen ist für Kant bereits die Objektivität von Kausalgesetzen erwiesen; bestimmt sind diese durch die unbedingte Generalisierbarkeit von Einzelaussagen. Auch diesen Aspekt bezeichnet Kant mit dem Terminus "notwendig": in dieser Verwendung meint "notwendig" die unbedingte Geltung (eines Gesetzes). Der dritte Aspekt schließlich, in dem "notwendig" auftaucht, ist die Notwendigkeit des kausalen Prozesses selbst. Hier heißt "Notwendigkeit" soviel wie absolute Determiniertheit (von Ereignisfolgen durch ihr Anfangsglied). Welche substantiellen Aussagen über die Realität werden durch Kants Kausalanalyse nun impliziert? S. Körner 34 hat Kants Kausalprinzip mit Existenzaxiomen in der Mathematik verglichen: es behauptet die Existenz Vgl. L. W. Beck: a. a. 0., S. 461. J. R. Dodge: Uniformity of Empirical Cause-Effect Relations in the Second Analogy. Kant-Studien 1982, 73. Jahrgang, Heft l, S. 47-55. 14 S. Körner: Kant, op. cit., S. 67. 32
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von "Ursachen", sofern wir Veränderungen feststellen; die Form der Notwendigkeit, die Kant für die Kausalrelation rekonstruiert, reicht aber nicht aus, um Ursachen aus den entsprechenden Wirkungen apriori zu konstruieren, noch dazu, umgekehrt, in einer Physik apriori die Wirkungen einer gegebenen Ursache rein begrifflich zu erschließen. Denn im Gegensatz zu einer realistisch interpretierten Naturnotwendigkeit ist die kausale Kraft der Ursache keine natürliche, empirisch aufdeckbare Eigenschaft von Ereignissen (oder Dingen). Vielmehr ist diese Notwendigkeit eine Rejlexionsform, die auf apriori nicht vorhersehbare Ereignisfolgen angewandt wird. Insofern wird also hier die empirische Wissenschaft von metaphysischen Ansprüchen, Notwendigkeiten im Sinne rein begrifflicher Deduzierbarkeit von Naturabläufen entdecken zu müssen, entlastet. Auf der anderen Seite wird für Prozesse in unserer Phänomenwelt ein strikter Determinism~s 35 gefordert- eine Bedingung, die, wie wir heute wissen, im Großen nur für Raumzeiten mit bestimmten Symmetrieeigenschaften und im mikroskopischen Bereich (ßZerfall) gar nicht erfüllt ist. Das Problem, was geschehen soll, wenn eine Theorie Aussagen impliziert, die dem Kausalprinzip widersprechen, hat sich für Kant nicht in der heutigen aktuellen Schärfe gestellt, da die Theorien seiner Zeit der Alltagserfahrung noch wesentlich näher waren, als es die heutigen sind. Gegenwärtige Nachfolgekonzeptionen sollten sich aber der Frage stellen, ob sie eine Falschheit solcher Theorien aus philosophischen Gründen behaupten wollen, die entweder ursachlose Ereignisse (wie die Steady-State-Theorie) vorhersagen oder indeterministische Prozesse beschreiben, die sich in beobachtbaren Phänomenen niederschlagen (Quantenmechanik). Körner hält eine direkte Falsifikation des Kausalprinzips in der Perspektive Kants für undenkbar: "Wir beobachten weder verursachte noch unverursachte Ereignisse"- weil "Ereignisse" schon dem Bereich der theoretischen Rekonstruktion angehören - "sondern nur solche, die wir entweder in Ursachenketten unterbringen können oder nicht" 36 • Überzeugend wäre diese Immunisierung nur, wenn dadurch klar würde, wie denn ein Ereignis uns erscheinen würde, das wir "in keiner Ursachenkette unterbringen können", wenn wir mit der Theorie vertraut sind, die dieses Ereignis als unverursacht, d. h. als unverbunden mit Vorgängerereignissen beschreibt bzw. vorhersagt. Die Vertrautheit mit der Theorie schließt aus, daß wir es als ein Wunder auffassen würden. Und ebenso unplausibel ist, daß wir unbeirrt an einer aufgrund der Theorie falschen kausalen Interpetation des Ereignisses festhalten und ein weder erkennbares noch theoretisch erlaubtes UrsacheEreignis postulieren würden. Ursachlose Ereignisse können uns durchaus in der Beobachtung gegeben sein, nämlich so, daß wir gewisse Phänomene mit einem unverursachten Ereignispunkt der Theorie, d. h. einem Ereignispunkt ohne kausale Vorgängerereignisse identifizieren. Die Kritik am eher intuitiJj
16
"Gleiche Ursachen, gleiche Wirkungen". S. Körner: Kant, op. cit., S. 71/72.
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Kausalität als physikalistisches Konzept
ven Beobachtungsbegriff des logischen Empirismus hat zu dem Ergebnis geführt, daß im Prinzip alles, was eine Theorie aussagt, "beobachtbar" ist, d. h. über Meßtheorien und spezielle Meßverfahren mit Phänomenen identifizierbar. Die Unsicherheit, wie in solchen Konfliktf t aufbauen, haben auf der Fläche t = const. ihre Spur hinterlassen und sind daher im Prinzip mithilfe der auf dieser Fläche gegebenen Daten vorhersagbar. Die zeitartigen Geodäten entspringen und enden in einer raumartig liegenden Unendlichkeitsgrenze. Dies hat zur Folge, daß sich für einen Beobachter P die Menge der Teilchen des Universums zu jedem Zeitpunkt in die sichtbaren und die noch nicht sichtbaren aufteilt. Über die Grenze zwischen den beiden Teilmengen, den Partikelhorizont, driften im Laufe der Zeit weitere Teilchen, die damit für P sichtbar werden 45 (vgl. AbbildungS. 90). Alle Teilchen, deren Weltlinien den Vergangenheitslichtkegel von 0 am Punkt P nicht schneiden, sind von 0 noch nicht beobachtet worden. Für den mathematisch idealen Grenzpunkt der Weltlinie von P läßt sich ebenfalls ein Vergangenheitslichtkegel definieren; alle Ereignisse außerhalb dieses Lichtkegels, dessen Grenzflächen den sogenannten Ereignishorizont bilden, werden niemals mit P kausal wechselwirken können. In der De-Sitter-Raumzeit 45
Hawking/Ellis: op. cit., S. 128.
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Kausalstrukturen in relativistischen Weltmodellen
O's Weltlinie
Teilchen weltlini
schon von 0 beobachtetes Teilchen Teilchenhorizont für 0 an P an Ereignispunkt P von 0 noch nicht beobachtete Teilchen von 0 an P
(aus: Hawking/Eilis: The Large Sca/e Strukture of Spacetime, S. 128)
besitzt jede zeitartige Geodäte einen Ereignishorizont, jenseits dessen eine nicht-leere Menge von Ereignissen liegt, die von der Geodäte kausal entkoppelt sind. Die Existenz kausal unverbindbarer Punkte ist besonders bemerkenswert, wenn man sie auf dem Hintergrund einer anderen Eigenschaft sieht: Die De-Sitter-Raui:nzeit ist geodätisch vollständig, d. h. es gibt keine abbrechenden kausalen Geodäten. Die Lücken in der kausalen Ordnung der Oe-Sitter-Welt sind also nicht auf Lücken in kausalen Weltlinien zurückführbar, mithin also nicht auf einen Tatbestand, den ein Beobachter, der Reisen in dieser Welt unternimmt, als Verletzung seiner kausalen Vorstellungen empfinden würde. Die kausal unverbindbaren Punkte liegen auf Weltlinien, die - veranschaulicht am Hyperboloid - hyperbolisch auseinanderstreben, weil der Raum selbst sich in dieser Weise ausdehnt. Eine Folge dieses Expansionseffektes ohne Materie ist die raumartig liegende Zukunfts- und Vergangenheitsunendlichkeit und die Tatsache, daß bei genügend großer Entfernung und relativer Geschwindigkeit eine Weltlinie die andere durch abgesandte Lichtblitze nicht mehr erreichen kann (siehe Skizze S. 89). Auch die Anti-Oe-Sitter-Raumzeit besitzt die Topologie S 1 x R 3 und kann als Hyperboloid
in einem fünfdimensionalen flachen R 5 veranschaulicht werden mit der Metrik
Streicht man zur Darstellung im dreidimensionalen Raum wieder die Koordinatenyund z, so erhält man in den Koordinaten u, vundxeine Hyperboloid-Gleichung: u2 + v2 - x 2 = -I ~ u2 + v2 = x 2 - l. Für alle u und v ist diese Gleichung nur erfüll bar, wenn x 2 - l 2::0, also x 2:: l bzw. x :'S - l. Die durch
I. Die Kausalstruktur globaler Lösungen
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die Gleichung dargestellte Hyperboloid-Fläche zerfällt in zwei Teile; der Bereich - 1 < x < 1 wird ausgespart. Da die Veranschaulichung durch ein Hyperboloid im fünfdimensionalen Einbettungsraum einer diffeomorphen Abbildung entspricht, zeigt dies, daß die Anti-De-Sitter-Raumzeit nicht einfach zusammenhängend ist (siehe Skizze).
Diese topalogische Anomalie führt zum Auftreten geschlossener Kausalkurven. In der Hyperboloidgleichung für die Metrik stehen für die Auszeichnung einer Zeitkoordinate zwei Koordinatendifferentiale mit negativem Vorzeichen zur Auswahl. Wählt man das eine Koordinatendifferential als "zeitlich", so sorgt die andere "räumliche" Koordinate mit negativem Vorzeichen für das "Umkippen" des Hyperboloids gegenüber dem De·Sitter-Hy· perboloid. Die zeitliche Koordinate ist dann geschlossen; Kreise auf dem Hyperboloidmantel beschreiben geschlossene zeitartige Weltlinien. Dieser Mangel kann durch den Übergang zu einem einfach zusammenhängenden Überdeckungsraum ("covering space") behoben werden- im Fall der Anti· De-Sitter-Raumzeit besitzt dieser Überdeckungsraum die TopologieR 4 • Man kann sich den Übergang hier als ein "Abrollen" der geschlossenen Kurven S 1 auf offene Kurven R 1 vorstellen.
5. Die Rolle von Überdeckungsräumen bei der philosophischen Beurteilung von CTL Im allgemeinen 46 wird die Tatsache, daß CTL im Überdeckungsraum verschwinden, so beurteilt, als sei damit der artifizielle, unphysikalische 46 Vgl.etwa F. J. Tipler: Causality Violation in General Relativity, op. cit. , S. 14: Begriff der "trivialen CTL".
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Kausalstrukturen in relativistischen Weltmodellen
Charakter dieser CTL erwiesen. Die Analogie zu den Koordinatensingularitäten ist ja auch recht verführerisch: warum soll man sich mit kausalen Komplikationen herumschlagen, wenn diese doch offensichtlich nur durch die "ungeschickte" Darstellungsform der Raumzeit erzeugt werden? Die erwähnte Analogie ist aber irreführend. Koordinatensingularitäten sind deshalb unphysikalisch, weil die Theorie, um die es geht, eine wesentlich koordinatenunabhängige Theorie ist, d. h. die theoretischen Aussagen sind gerade dadurch ausgezeichnet, daß sie in beliebigen krummlinigen Koordinaten ihre Identität bewahren. Effekte, die nur auf der Verwendung eines speziellen Koordinatensystems beruhen, können von daher nicht als Konsequenzen der Theorie angesehen werden. Ganz anders aber liegt der Fall bei alternativen topalogischen Zusammenhangsformen. Nichts in der Theorie spricht für die Auszeichnung einer bestimmten Zusammenhangsform, so daß deren Wahl die Objektivität globaler Eigenschaften der Raumzeit sichern könnte. Wir müssen daher zunächst davon ausgehen, daß die Sachverhalte, die in den verschiedenen topalogischen Darstellungen einer Modell-Metrik auftreten, gleiche epistemische Wertigkeit haben, daß sie alle als Konsequenzen der Theorie angesehen werden müssen. Wenn F. J. Tiplersolche CTL, diedurch den Übergang zu einem covering space verschwinden, als "triviale" 47 Kausalitätsverletzungen ohne physikalische Bedeutung bezeichnet, so denkt er dabei vermutlich daran, daß man etwa aus der Minkowski-Raumzeit mit der üblichen Topologie durch Identifizierungen geeigneter Punkte Kausalschleifen erzeugen kann. Das Artifizielle solcher Kausalitätsverletzungen durch Übergang zu einer anderen Topologie scheint auf der Hand zu liegen, aber ist die Minkowski-Raumzeit mit der üblichen Topologie denn weniger artifiziell konstruiert? Daß die einfache Zusammenhangsform uns anschauungsmäßig näher liegt, besagt nichts darüber, daß andere Zusammenhangsformen derselben metrischen Struktur mit einer etwa geringeren a priori-Wahrscheinlichkeit der Realisation behaftet wären. Am Beispiel des Binstein-Universums kann man sich klar machen, daß die Topologie einer Raumzeit ebenso empirische Effekte nach sich ziehen kann wie die Metrik48 • CTL's aber sind zweifellos von prinzipiell empirisch testbarer Qualität. Zwischen dem AntiOe-Sitter-Raum und seinem einfach zusammenhängenden Überdeckungsraum kann also im Prinzip empirisch unterschieden werden. Damit fällt jede a priori-Begründung für eine epistemische Vorzugsstellung des Überdeckungsraumes weg und die verschiedenen topalogischen Darstellungen der Raumzeit stellen sich als gleichberechtigte theoretische Alternativen heraus. Damit sieht es nun zunächst so aus, als müßten alle beliebigen Punktidentifikationen und daraus folgende akausale Effekte als durch die Theorie gedeckt hingenommen werden. Diese Konsequenz wird nun durch F. J. Tipler: Causality Violation in General Relativity. op. cit., S. 14. Vgl. B. Kanitscheider: Philosophisch-Historische Grundlagen der physikalischen Kosmologie. Stuttgart 1974, S. 97. 47 48
I. Die Kausalstruktur globaler Lösungen
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die Bedeutungsbedingung (d) verhindert. Aus der Sicht der Forderung zeitlicher Orientierbarkeit der Raumzeit sind die einfach zusammenhängenden Raumzeiten unter den möglichen topalogischen Zusammenhangsformen besonders ausgezeichnet. Einfach zusammenhängende Raumzeiten sind stets zeitlich orientierbar49 , d. h. die einfache Zusammenhangsform garantiert schon allein die Erfüllung der Bedeutungsbedingung (d). Die Umkehrung des Satzes gilt allerdings nicht; es gibt also zeitlich orientierbare Raumzeiten, die nicht einfach zusammenhängend sind. Wir müssen die Aussage, daß die Theorie keine bestimmte Zusammenhangsform auszeichnet, jetzt einschränken: nichts in der Theorie spricht für eine bestimmte Zusammenhangsform, sofern mehrere zeitlich orientierbare Mannigfaltigkeiten für eine Lösung der Feldgleichungen zur Auswahl stehen. Gibt es jedoch nur eine zeitlich orientierbare (nämlich die einfach zusammenhängende) Realisation der Metrik, so ist der Übergang von einer mehrfach zusammenhängenden zu einer einfach zusammenhängenden Mannigfaltigkeit als Wahl der physikalisch "richtigen" topalogischen Struktur des Modells zu interpretieren. Ein Beispiel für eine nicht einfach zusammenhängende Mannigfaltigkeit mit nicht-zeittreuen CTL (die deshalb die zeitliche Orientierbarkeit zerstören) ist das topalogische Produkt R x K aus dem zweidimensionalen Minkowski-Raum R 2 und der Kleinsehen Flasche K, mit einer induzierten Minkowski-Metrik. Die Kleinsehe Flasche kommt zustande, wenn man die Ober-und Unterseite des Rechtecks auf die Art eines Zylinders, die Längsseiten jedoch richtungsverkehrt identifiziert (siehe AbbildungS. 94). Die Kurve pqrp ist eine CTL, deren lokaler Lichtkegel aufwärts zeigt, wenn die Kurve den Punkt P verläßt, aber abwärts, wenn sie nach P zurückkehrt. Ein Beobachter, der auf dieser CTL läuft, wird bei der Rückkehr nach P feststellen, daß er sich, gemessen am Lichtkegel, der für seinen Start in P Geltung hatte, nun in Vergangenheitsrichtung bewegt. Die zeitliche Orientierbarkeit am Punkt P ist zerstört50• Auch exakte Lösungen der Feldgleichungen wie das Oe-Sitter-Universum können durch Punktidentifikationen nicht-orientierbar werden. Die Identifikation der antipodischen zeitlich getrennten Punkte P und P' auf dem Hyperboloid (vgl. Abbildung S. 81) verwandelt den Oe-Sitter-Kosmos in 49 In einfach zusammenhängenden Raumzeiten ist jede geschlossene Kurve "auf einen Punkt" stetig zusammenziehbar (homotop zu einem Punkt). Ein Punkt kann als eine spezielle geschlossene Kurve 'YP durch den Punkt P, nämlich als konstante Abbildung eines reellen Zahlenintervalls auf die Mannigfaltigkeit aufgefaßt werden. Diese besondere Kurve ist trivialerweise zeittreu. Die Eigenschaft der Zeittreue überträgt sich aber nun auf alle geschlossenen Kurven durch P, die zu 'YP homotop sind. Auf diese Weise ist dann jede geschlossene Kurve zeittreu, die Raumzeit also zeitlich orientierbar (vgl. R. Torretti: Relativity and Geometry, op. cit., S. 252). 5° F. J. Tipler: Causality Violation in General Relativity, op. cit., S. II .
94
Kausalstrukturen in relativistischen Weltmodellen
K
Identifikationen q- q und
p
r- r
r (aus: F. J. Tipler: Causality Violation in General Relativity. Ann Arbor 1976, S. II)
eine nicht zeitlich orientierbare Raumzeit. Wächst die Zeit in Richtung des Zeitpfeib ä/at an P, so impliziert die Identifikation mit dem antipodischen Punkt P', daß die Zeit auch in Richtung von ä!at an P' anwachsen muß. Diese Identifikation der Zukunftslichtkegel mit JI at als Zeitachse kann aber nicht kontinuierlich a11f das gesamte Hyperboloid ausgedehnt werden, weil die Zeitrichtungen auf der geschlossenen Kurve durch P == P' nicht stetig an das wirbelfreie, "lineare" (Zeit-)Richtungsfeld ihrer Umgebung angeschlossen werden können. Die Identifikation der Punkte P und P' stellt also eine geschlossene zeitartige Kurve durch P nur auf Kosten der zeitlichen Orientierbarkeil der Raumzeit her. Es ist in diesem Fall einleuchtend, von einer "unphysikalischen" oder wie Tipler von einer "trivialen" Kausalitätsverletzung zu sprechen. Schon durch die Rücknahme der Identifikation von P und P' ist eine einfach zusammenhängende (und damit zeitlich orientierbare) Raumzeit ohne CTL herzustellen, die der gleichen Metrik gehorcht. Die Rücknahme der Identifizierung von P und P' stellt einen sehr einfachen Fall der Konstruktion eines einfach zusammenhängenden" Überdeckungsraums" mit äquivalenter Metrik dar. Im allgemeinen wird ein "Überdeckungsraum" im groben wie folgt hergestellt: man wählt einen beliebigen Punkt P der Raumzeit und betrachtet für jeden Punkt Q alle Kurven von P nach Q. Sind zwei solche Kurven von P nach einem festen Punkt Q homotop, also stetig ineinander überführbar, so gehören sie derselben Homotopieklasse an. Zu dem festen Punkt Q kann es eine oder mehrere Homotopieklassen bezüglich P geben; sind irgend zwei Kurven von P nach Q nicht homotop, so gibt es
I. Die Kausalstruktur globaler Lösungen
95
wenigstens zwei Homotopieklassen. Die Punkte der Überdeckungsraumzeit sind Tupel ( Q, [ y ] 0 ) aus einem Punkt Q der Ursprungsraumzeit und einer zur Kurve y von P nach Q gehörenden Homotopieklasse [ y ]051 • Einem Punkt Q der Ursprungsraumzeit werden also so viele Punkte der Überdeckungsraumzeit zugeordnet, wie Q Homotopieklassen besitzt. Zu einer CTL, die die Orientierbarkeit der Raumzeit verletzt, d. h. nicht zeittreu ist oder die wie in der durch Punktidentifikation zeitlich nicht orientierbar gemachten De-Sitter-Raumzeit dazu führt, daß andere geschlossene Kurven nicht-zeittreu werden, gehören mindestens zwei Homotopieklassen. Wählt man nämlich als "Bezugspunkt" für die Homotopieklassen einen Punkt P auf der CTL y, so gibt es wenigstens einen Punkt Q auf y, an dem ein bei P zeitartiger zukunftsgerichteter Vektor, der von P nach Q entlang y parallelverschoben wurde, in eine Richtung außerhalb des Zukunftslichtkegels zeigt. Eine Folge davon ist, daß y, die Kurve von Püber Q nach P, nicht homotop zur konstanten Kurve y' von P nach P (konstante Abbildung eines reellen Zahlenintervalls auf den Punkt P) sein kann. Denn ein Homöomorphismus, der y homotop auf y' abbildet, müßte y kontinuierlich auf den Punkt P zusammenziehen. Homöomorphismen aber lassen als topalogische Transformationen die lokale topalogische Struktur an jedem Punkt ungeändert, im besonderen die Zuordnung von Vektoren zu zeit-oder raumartigen Richtungen. Die gestrichelten Linien in der Abbildung repräsentieren Homöomorphismen und transportieren daher die lokalen Vektorkörper an den Punkten von y zeittreu nach P (Vektoren des lokalen Vektorkörpers an verschiedenen Punkten durch Parallelverschiebung entlang einer Kurve identifiziert). Die Folge geschlossener zeitartiger Kurven, die durch das Zusammenziehen von y entsteht, reproduziert also das nichtzeittreue Verhalten von y und kann daher als ihren Endpunkt nicht die trivialerweise zeittreue konstante Kurve y' haben. y und y' sind folglich nicht homotop; sie gehören verschiedenen Homotopieklassen an. Der Punkt P wird also im Überdeckungsraum durch zwei verschiedene Punkte repräsentiert. Dasselbe gilt für alle anderen Punkte auf der CTL, da P kein ausgezeichneter Punkt ist.
y' 51
Vgl. R. Torretti: Relativity and Geometry, op. cit., S. 252.
96
Kausalstrukturen in relativistischen Weltmodellen
Die "Verdoppelung" der Punkte einer nicht-zeittreuen CTL im Überdeckungsraum bedeutet, daß die CTL im Überdeckungsraum aufgelöst wird: nach einem "Durchlaufen" der Kurve 'Y vonPaus wird die Kurve nicht mehr bei P geschlossen, sondern kann als offene Kurve durch die hinzugekommenen "Dopplungs"-Punkte fortgeführt werden. Gegenüber zeittreuen CTL muß dieser Mechanismus versagen. In einigen Modellen der AR {z. B. TaubNUT-Raumzeit, Gödel-Raumzeit) treten CTL in der einfach zusammenhängenden Form der Mannigfaltigkeit auf, d. h. diese CTL sind zeittreu {wie alle anderen geschlossenen Kurven in diesen Mannigfaltigkeiten). Eine CTL der Gödel-Welt kann nicht durch den Übergang zu einem einfach zusammenhängenden Überdeckungsraum aufgelöst werden. Die zeitlich orientierbare Gödel-Welt ist ihr eigener Überdeckungsraum; sie enthält daher nur nichttriviale CTL. Behandelt man die Singularität der Kerr-Newman-Raumzeit 52 als einen Bereich, der aus der Mannigfaltigkeit "ausgeschnitten" wird, so ist diese Raumzeit nicht einfach zusammenhängend; sie bleibt jedoch zeitlich orientierbar wie die Ursprungsmannigfaltigkeit "ohne Loch". Dies ist ein Beispiel für die Nichtumkehrbarkeit der Implikation: "einfach zusammenhängend zeitlich orientierbar" 53 . Die CTL's der Kerr-Newman-Raumzeit "mit Loch" können durch Übergang zu einem Überdeckungsraum nur aufgelöst werden, wenn sie die Singularität, also das Raumzeitloch "umrunden" und daher nicht auf einen Punkt zusammenziehbar {nicht nullhomotop) sind - man beachte, daß die Nicht-Zusammenziehbarkeit hier durch das Loch bedingt wird, das die CTL auf ihrer Hyperfläche umschließt, nicht durch die fehlende Zeittreue der CTL selbst. Da nicht alle CTL der Kerr-Newman-Raumzeit die Singularität umrunden, enthält dieses Modell nicht-auflösbare, also nichttriviale CTU 4• Zusammenfassend können wir sagen, daß sich CTL als legitime Konsequenz der AR nur vermeiden lassen, wenn sie eine Verletzung der zeitlichen Orientierbarkeit hervorrufen {indem sie selbst nicht zeittreusind oder andere nicht-zeittreueKurven zur Folge haben). In diesem Falllassen die CTL sich in einem einfach zusammenhängenden und zeitlich orientierbaren Überdeckungsraum55 "auflösen". Enthält eine mehrfach zusammenhängende Mannigfaltigkeit nicht-nullhomotope {aber zeittreue) CTL- wie z. B. beim Auftreten von "Löchern" in der Raumzeit -,so lassen sich diese in dem Vgl. Abschnitt 1.2 dieses Kapitels. Ein anderes Beispiel ist die zeitlich orientierbare, aber nicht einfach zusammenhängende Form der Anti-Oe-Sitter-Raum-Zeit (vgl. S. 91). 54 Vgl. B. Carter: Global Structure of the Kerr Family of Gravitational Fields. Phys. Rev. Vol. 174 Nr. 5 (1968), S. 1565/1566. 55 Der Überdeckungsraum einer nicht-einfach zusammenhängenden Mannigfaltigkeit ist i.a. nicht eindeutig bestimmt. Es müssen also u. U. mehrere verschiedene Überdeckungsräume als zugelassene Lösungen der Feldgleichungen angesehen werden. 52 53
97
I. Die Kausalstruktur globaler Lösungen
entsprechenden Überdeckungsraum zwar ebenso auflösen. Der Überdeckungsraum genießt aber dann keine epistemische Vorzugsstellung, weil schon die nicht-einfach zusammenhängende Mannigfaltigkeit zeitlich orientierbar war. Das Auftreten von CTL ist in diesem Fall eine mögliche Konsequenz der Metrik, deren Realisierung von der Wahl zwischen zwei gleichwertigen globalen topologischen Randbedingungen abhängt. Im dritten Fall schließlich erhalten CTL den stärksten epistemischen Status: Sind die CTL zeittreue, aber auch zusammenziehbare (null-homotope) Kurven in einer zeitlich orientierbaren Mannigfaltigkeit, so können sie im Überdeckungsraum nicht aufgelöst werden. Unabhängig von der Wahl der topologischen Randbedingung firmieren sie nun als notwendige Konsequenz oder, wie Tipler56 schreibt, als intrinsische Eigenschaft der Metrik. Als Beispiele solcher Metriken werden wir in Abschnitt I, 10 und 11 die Gödel-Metrik und die Taub-NUT-Metrik behandeln.
6. Der Verlust der globalen Cauchy-Vorhersagbarkeit in der Anti-De-Sitter-Raumzeit
Eine Eigenschaft der Anti-De-Sitter-Raumzeit, die auch im Überdeckungsraum erhalten bleibt, ist der Verlust der globalen Cauchy-Vorhersagbarkeit. Obgleich man- nach Beseitigung der CTL- Familien raumartiger Hyperflächen finden kann, gibt es Nullgeodäten, also Lichtwege, die in den Zukunftsbereich einer bestimmten Hyperfläche eindringen, ohne diese Fläche je berührt zu haben. Anders ausgedrückt, gegeben die Anfangsdaten auf einer beliebigen Hyperfläche, die einen raumartigen Schnitt durch die Raumzeit liefert, gibt es stets Ereignisse in der Zukunft dieser Hyperfläche, die aufgrundder Daten auf der Fläche nicht vorhersagbar sind. Die CauchyEntwicklung bedeckt also nicht den gesamten Zukunftsbereich der Hyperfläche (siehe Skizze S. 98). In der Skizze sind zwei verschiedene Koordinatensysteme (t, x, 0, cp) und (t', r', 0, cp) aufgetragen. Die Schnittpunkte zwischen Flächen {t' = const} und {t=±oo} sind also Koordinatenschnittpunkte. Für r'-
T T
rr laufen alle
Flächen {t = const.} sowie {t = ± oo} zusammen. Die Geodäten (x = const., cp
= const., 0 = const.) von t = 0 bis t = + oo erscheinen für r'Skizze immer stärker zusammengepreßt. Die Punkte r'
rr in der
= Trr repräsentieren
keine üblichen Raumzeitpunkte, sondern Unendlichkeitspunkte, die durch projektive Vervollständigung der Raumzeit adjungiert werden. Die an 56
F. J. Tipler: Causa/ity Violation in General Relativity, op. cit., S. 13.
7 Barteis
98
Kausalstrukturen in relativistischen Weltmodellen
D { t: t
I:
0}
x ,e ,
100 sek. nach dem Urknall(= Beginn der Helium-Synthese) spricht (vgl. D. Barrow/J. Silk: Die Struktur des Universums. Spektrum der Wissenschaft 6 (1980), S. 78-99. 92 J. H. Bird: The Beginning of the Universe, a.a.O., S. 145. 90
91
118
Kausalstrukturen in relativistischen Weltmodellen
Eigenschaften der Terme erhalten bleiben müßten. Der Term "Alter des Universums" kann durch Bezug auf Bestandteile des Universums erläutert werden, hat aber - durch den Bezug auf die Metrik - eine eigenständige Bedeutung unabhängig von den Eigenschaften einzelner physikalischer Objekte. Das Universum liegt als System von Objekten selbst auf der naturalen Ebene und kann deshalb von der Ebene der Objekte durch keinen semantischen Hiatus getrennt sein. Am interessantesten ist Birds Erläuterung zur dritten Argumentklasse. Kant wird seiner Meinung nach zu Unrecht den Kritikern des zweiten Typs zugeordnet. Kant aber lehnt die Rede vom Anfang des Universums nicht deswegen ab, so Bird93 , weil jede Rede über das Universum als Ganzes unhaltbar wäre, sondern weil er bestimmte Wege, Wahrheiten über das Universum zu etablieren, diskreditieren möchte. Das Universum, so versucht er in seiner l. Antinomie zu zeigen, ist kein "Ding an sich", über das Wahrheiten aus rein rationalen Überlegungen zu gewinnen wären (wie über mathematische Gegenstände). Mit seinen vorgefaßten Begriffen gerät das reine Denken an einem Gegenstand wie dem Universum in Paradoxien. Man könnte also entgegen der üblichen Auffassung Kant hier als einen Verteidiger der Wissenschaften gegen die Philosophen sehen: Wir können nur wissenschaftlich-empirisch etwas über unser Universum in Erfahrung bringen, da wir durch reines Nachdenken nichtjene notwendigen Verallgemeinerungen und Einschränkungen finden können, die uns eine paradoxienfreie Rede über das Universum gestatten. Rationalistisches Hantieren mit vortheoretischen Begriffen (im Sinne der zuständigen Theorie), so kann man Kant als Gewährsmann gegen eine rationale Kosmologie geltend machen, führt in die Irre- so z. B. der Glaube an die ~niverselle Anwendbarkeit des Kausalprinzips unabhängig von theoretischen Kontexten. Das Universum ist kein "Ding an sich", dessen Wesen sich schon unmittelbar in deskriptiven Begriffen enthüllt. Das Erkenntnisgrenzen-Argument Kants kann also im Sinne eines pro-Arguments aufgefaßt werden, in dessen Konsequenz es liegt, Anfangssingularitäten als legitime Folgerungen einer empirisch-wissenschaftlichen Theorie des Universums zuzulassen. Wir haben gesehen, daß Anfangssingularitäten als Konsequenzen der AR weder unüberwindliche begriffliche Probleme aufwerfen noch als Verletzung des Kausalprinzips verstanden werden können. Das zweite Ergebnis wird noch deutlicher zu Tage treten, wenn wir Anfangssingularitäten im Kontrast zur kontinuierlichen Materieerzeugung in der SST betrachten. Was bedeuten zunächst die Entstehungsereignisse in der SST für die Kausalstruktur der Welt? Die SST zeigt das Universum als ein perpetuum mobile, das seinen gleichbleibenden Zustand ständig neu stabilisiert. Hoyle 94 hat betont, daß die J . H. Bird: ebd., S. 149. F. Hoyle: Continuous Creation and the Expanding Universe. In: M. K. Munitz: Theories ofthe Universe. New York 1957, S. 419-429. 93
94
I. Die Kausalstruktur globaler Lösungen
119
Vermeidung einer Anfangssingularität ein wesentliches Motiv für die Konstruktion der SST darstellte. Die bigbang-Voraussage schien seinerzeit empirisch sehr schlecht bestätigt95 • Vön der erkenntnistheoretischen Seite erschien Hoyle die kontinuierliche Materieentstehung jedenfalls nicht bedenklicher als das Vorhandensein von Anfangssingularitäten: "Now I do not agree that continuous creation is an additional assumption. It is certainly a new hypothesis, but it only replaces a synthesis that lies concealed in the older theories, which assume, ... , that the whole ofthe matter in the Universe was created in one big bang at a particular time in the remote past. On scientific grounds this big bang assumption is much the less palatable of the two. For it is an irrational process that cannot be described in scientific terms. Continuous creation, on the other band, can be represented by precise mathematical equations whose consequences can be worked out and compared with observation. On philosophical grounds too I cannot see any good reason for preferring the big bang idea" 96 • Daß der SST-Mechanismus Anfangssingularitäten tatsächlich vermeidet, ist zunächst keineswegs zwingend, auch eine gleichmäßig arbeitende Maschine muß nicht ewig gearbeitet haben. Die SST enthält daher kein positives Argument für eine unendliche Laufdauer des Universums. Allerdings verschwindet in ihr der ausgezeichnete Zeitpunkt für ein Anfangsereignis. Man muß also zu dem Schluß kommen, daß das SST-Modell indifferent gegenüber der Existenz von Anfangsereignissen ist. Nicht nur wird damit das von Hoyle angegebene Ziel keineswegs zwingend erreicht, man hat sich mit der kontinuierlichen Materieentstehung zusätzlich einen Mechanismus eingehandelt, der epistemisch durchaus nicht auf gleichem Fuße mit dem big bang steht. Hatten wir für den big bang festgehalten, daß hier das Kausalprinzip lediglich unanwendbar ist, so wird es durch eine Materieentstehung in der Zeit in der Tat verletzt. Denn hier existieren kausal verbindbare Vorgängerereignisse., das Kausalprinzip ist also anwendbar. Die Materieentstehung soll aber gerade unabhängig von einem kausalen 97 Beitrag dieser Ereignisse stattfinden, sie ist ein kausal entkoppeltes Ereignis. Die Tatsache, daß die SST eine Kausalitätsverletzung enthält, schlägt jedoch nicht auf die AR zurück, weil die SST in ihren Grundgleichungen nicht die semantischen Rahmenbedingungen der AR erfüllt und daher als eine getrennte Theorie anzusehen ist. Zum Schluß wollen wir den begrifflichen Unterschied zwischen raumartigen nackten Singularitäten (wie der big bang-Singularität in Friedmanh-Welten mit k = 0, -I) und zeitartigen nackten Singularitäten wie in der Anti-Oe95 Der Hubble-Faktor ergab nach dem Stand Anfang der 50er Jahre eine zu geringe Laufdauer des Universums. 96 F. Hoyle: a.a.O., S. 426. 97 Vgl. S. 84/85: Die Ankoppelung der Entstehungsrate an die vorhandene Materie ist nicht kausal interpretierbar.
120
Kausalstrukturen in relativistischen Weltmodellen
Sitter-Welt noch einmal hervorheben. Davies erläutert den Unterschied wie folgt: "The significance of the difference between timelike and spacelike naked singularities is that the latter, big bang type of singularity does not endure with time. It is in a sense, instantaneous. Whatever unfathomable quirks a spacelike naked singularity gives us, it gives them all in one go. A timelike naked singularity on the other band continues with time and can go on and on infesting the universe with new influences. These differences are crucial when it comes to questions of cause and effect, and the concepts of predictability and lawfulness ofthe physical world"98 • Dem kann zugestimmt werden mit der Einschränkung, daß Fragen von "Ursache und Wirkung" durch zeitartige Singularitäten ebensowenig berührt werden wie durch raumartige Singularitäten, wenn man an eine Verletzung des Kausalprinzips denkt. Die zeitliche Rückverfolgung einer zeitartigen Geodäte bis zu einer zeitartigen Singularität (gleich, ob nun in einem endlichen zeitlichen Abstand wie bei der Kerr-Singularität 99 oder für eine zeitartige Unendlichkeit wie im Anti-Oe-Sitter-Raum) führt genausowenig wie im Fall der raumartig liegenden Singularität auf ein akausales Ereignis innerhalb eines kausalen Netzes. Entscheidend ist, daß es keine Raumzeitpunkte ohne kausale Vorgängerereignisse gibt. Die zeitartige Unendlichkeit der Anti-Oe-Sitter-Welt stellt eine globale Grenze der Zeit dar, wie die Kerr-Singularität eine lokale Grenze der Zeit darstellt. Der Unterschied zwischen raum- und zeitartigen Singularitäten betrifft also lediglich das Problem der Vorhersagbarkeit. Im Gegensatz zu einer raumartigen Singularität können von einer zeitartigen nackten Singularität Wirkungen ausgehen, die den Zukunftsbereich einer raumartigen Hyperfläche S beeinflussen können, ohne daß die entsprechenden Wirkungslinien einen Schnittpunkt mit S bilden; d. h. S ist keine globale Cauchy-Hyperfläche. Anders ausgedrückt: Für jedes Ereignis E und jede zeitlich frühere Hyperfläche SE gilt, daß die zeitliche Rückverfolgung gewisser Wirklinien, die E erreichen, ohne jemals auf SE zu treffen, auf eine -lokale oder globale -Grenze der Zeit führt 100 • Daß der big bang keine Schwierigkeiten für den Kausalbegriff aufwirft, heißt natürlich nicht, daß man keine Antwort auf die Frage erhoffen dürfte: "Was war vor dem big bang?" Dem Zeitbegriff kann zwar jeweils nur bezüglich einer Theorie der Zeit oder der Raumzeit ein präziser Sinn gegeben werden und er ist insofern ein theoretischer Begriff. Seine Anwendungsgrenze fällt aber nicht mit der Anwendungsgrenze einer speziellen Theorie wie der AR zusammen. Der Begriff ist theoretisch, weil er von Theorien überhaupt abhängig ist, aber er ist nicht an eine bestimmte Theorie gebunden. Innerhalb der AR ist es sinnlos zu fragen, was den big bang verursacht, denn P. C . W. Davies: The Edge of lnfinity , op. cit., S. 160. Vgl. Abschnitt li dieses Kapitels. 100 Vgl. Hawking/Eilis: The Large Sca/e Structure of Spacetime, op. cit., S. 132/133.
98
99
I. Die Kausalstruktur globaler Lösungen
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Kausalität impliziert Zeit; es gab aber keine Ereignisse, die der Singularität vorausgingen" 101 . In einer umfassenderen Theorie könnte die Frage durchaus sinnvoll werden. Heute kann man über eine solche Theorie nur spekulieren. Eine solche Spekulation ist z. B. das oszillierende Universum, das nach jeder End-Singularität (big crunch) phoenixartig durch eine Art Rückstoß wiederentsteht102. Thermodynamische Überlegungen von Tolman 103 ergaben, daß die aufeinanderfolgenden Zyklen wegen der ansteigenden Gesamtentropie einen stets etwas größeren Weltradius erreichen müssen als die jeweils vorangegangenen. Doch selbst, wenn die Zyklen sich völlig gleich sähen, könnte ein oszillierendes Modell als eine Abfolge von Zyklen, als Reproduktion identischer Welten in der Zeit, interpretiert werden. Die mathematische Strukturgleichheit der Welten (und daher ihre apriori-Ununterscheidbarkeit) impliziert keineswegs, daß die Zyklen sich, wie Ludwig 104 vermutet, in Wahrheit auf ein und dasselbe Universum beziehen müssen.
10. CTL in Universen mit räumlicher Rotation
In der Anti-De-Sitter-Lösung war das Auftreten von CTL mit einer "ungewöhnlichen", d. h. mehrfach zusammenhängenden Topologie verbunden. In Universen mit räumlicher Rotation können CTL zur "Grundausstattung" der Raumzeit gehören, d. h. sie sind nicht durch den Übergang zu einem Überdeckungsraum eliminierbar. Die für die FRW-Welten charakteristische Auszeichnung einer kosmischen Zeit ist in CTL-Welten 105 nicht möglich. Denn die geschlossene Eigenzeit auf einer CTL läßt sich nicht stetig auf eine offene Zeitachse so abbilden, daß in Zukunftsrichtung auf der CTL für die sukzessiven Werte der Eigenzeit die entsprechenden Werte auf der offenen Zeitachse streng monoton ansteigen. Um hier eine stetige Abbildung zu ermöglichen, müßte die CTL aufgeschnitten und spiralenartig ausgedehnt werden, d. h. der Eigenzeitparameter müßte die Werte einer offenen Gerade durchlaufen. Zählt man, nach Durchlaufen einer CTL wieder am Ausgangspunkt angekommen, linear mit 21r, ... , 47T ... weiter, ohne 0, 27T, 47T ... zu identifizieren, so wählt man jedoch nicht einfach eine andere Koordinatenkonvention, sondern man konstruiert eine neue, empirisch von der CTL unterscheidbare Weltlinie mit anderen topologischen Eigenschaften. Die Existenz von CTL macht sich als empirisch signifikante globale Eigenschaft P. C. W. Davies: The Edge of lnfinity. London 1981, S. 167. Vgl. E. R. Harrison: Cosmology. Cambridge 1981, S. 299. 103 R. C. Tolman: Models of the physical Universe. Science 75 (1932), S. 367-373. 104 G. Ludwig: Einführung in die Grundlagen der theoretischen Physik. Band II, op. cit., S. 432/433. 105 Vgl. Kapitell, S. 55, Anm. 66. 101
102
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Kausalstrukturen in relativistischen Weltmodellen
offene Weltlinie
CTL
der Raumzeit durch die Nichtexistenz einer kosmischen Zeit bemerkbar. In den FRW-Welten war es die mittlere Bewegung der homogen verteilten Materie, die die Auszeichnung einer kosmischen Zeit ermöglichte. Auch die Gödel-Welt ist durch einen homogenen Materiefluß Tab = pu•ub gekennzeichnet. Die mittlere Bewegung u• der Materie muß hier also durch eine Störungsbewegung so stark konterkariert werden, daß die Auszeichnung einer universellen Zeitordnung verschwindet. Mit dem Gödeluniversum wurde 1949 106 zum ersten Mal eine Lösung präsentiert, in der die Materie, die wie in den FRW-Welten durch eine perfekte Flüssigkeit (mit Druck p = 0) dargestellt wird, relativ zum Trägheitskompaß rotiert. Ein Trägheitskompaß kann in einem lokalen Lorentzsystem durch ein frei beweglich aufgehängtes Pendel (Foucault-Pendel) realisiert werden 107 • Die Gödel-Lösung widerspricht dem Machsehen Prinzip, dem zufolge eine kosmische Rotation prinzipiell nicht feststellbar sein dürfte, da der Trägheitskompaß eine Mitführung durch die Rotation des Raumes (und damit der auf Geodäten laufenden Materie) erfahren sollte. Diese Mitführung des Trägheitskompasses existiert jedoch beim Gödel-Universum nicht. Das Gödelsehe Linienelement besitzt die folgende Form:
ist die Winkelgeschwindigkeit, mit der ein Teilchen, das sich auf einer Geodäte bewegt, um die t-Achse rotiert (t ist keine kosmische Zeit!). Das Auftreten des gemischten Terms dcp dt in der Metrik zeigt, daß es sich im wörtlichen Sinne um eine Rotation des Raumes handelt, der ein Probekörper w
106 Kurt Gödel: An example of a new type ofCosmological Salutions of Einstein's Field Equations of Gravitation. Reviews of Modern Physics, Vol. 21 , Nr. 3 (1949), S. 447-450. 107 Vgl. E. R. Harrison: Cosmology, Cambridge 1981, S. 182.
I. Die Kausalstruktur globaler Lösungen
I23
folgen muß. Der Geschwindigkeitsvektor ü für die Materiebewegung auf Geodäten ist gegeben durch: ü=
w a J2 at'
w>O
Die Konstante w > 0 gibt die Stärke des Wirbels an, den ein Teilchen bei der Bewegung auf einer Geodäte erfährt. Die lokalen Lichtkegel neigen sich für wachsenden r-Abstand von der r = 0-Achse allmählich in -Richtung, mit dem Effekt, daß das für r < log (I + J2) zeitartige Killing-Vektorfeld alat an r = log (I + J2) nullartig und jenseits dieses kritischen Radius raumartig wird. Der Radius r = log (I + J2) stellt daher die Grenze für mögliche Geodätenbahnen in der Gödel-Welt dar. Durch die Auszeichnung der Rotationsrichtung aI a des Raumes wird die räumliche Isotropie gebrochen, die Materieverteilung ist jedoch aufgrundder Gleichförmigkeit der räumlichen Rotation homogen: p = w 2I 4rr = const. Der Ausdruck A = 4rrp = w 2 kann als Betrag eines gegen die Gravitationskraft wirkenden Drehmomentes interpretiert werden. F. J. Tipler 108 hat berechnet, wie groß das Drehmoment der Rotation sein muß, um CTL zu erzeugen. Eine näherungsweise gültige Bedingung für das Auftreten von CTL ist nach Gödel 109 : w > ciR, wobei R der Skalenfaktor ist. Nach Hawking 110 liefern die Messungen des Mikrowellenhintergrundes eine obere Grenze für die mögliche Rotation der Materie in unserem Universum: w < 10- 14 radl Jahr. Mit R =eH (H die Hubble-Zeit) und H= 2 x 10 10 Jahre erhält man
T
ciR= x 10- 10 • Es gilt also sicher, daß w < c/R, d. h. die Materie unseres Universums rotiert auf jeden Fall zu langsam, um CTL zu erzeugen.
Wie die räumliche Rotation für das Entstehen von CTL sorgt, kann man sich in relativ anschaulicher Weise an einem z = 0-Schnitt durch die GödelWelt verdeutlichen (siehe Abbildung 111 S. 124). In der Abbildung sieht man, wie die Lichtkegel auf den konzentrischen Kreisen um die Rotationsachse t immer weiter in Rotationsrichtung ala umkippen, je weiter man "nach außen kommt", also für wachsende r. Die kosmische Flüssigkeit, deren Flußlinien die Geodäten sind, wird durch die Wirkung der räumlichen Rotation "zentrifugiert". Denn für wachsende r wächst bei konstanter Winkelgeschwindigkeit die Bahngeschwindigkeit eines Probeteilchens und damit der
w
108 109
110 111
F. J. Tipler: Causality Violation in General Relativity. Ann Arbor 1976, S. 16. Ebd., S. 16. Ebd., S. 16. Aus Hawking/ Ellis: The Large Scale Structure of Spacetime, op. cit., S. 169.
124
Kausalstrukturen in relativistischen Weltmodellen
....-MaterieWeltlinie (r,tP= const. )
Photonen werden nach p' hin refokussiert
Lichtkegel schließt die Kreislinie t= 0 ein
r> log(l + VZ) geschlossene zeitartige Kurve r < 1og( 1 + 1/'l) geschlossene raumartige Kurve
Zwang, der vor_gegebenen Rotationsrichtung zu folgen. Der kritische Radius r = log ( 1 + '1/2) ist sozusagen der maximale äquatoriale Radius für die Flüssigkeit in der kosmischen Zentrifuge. An diesem kritischen Radius halten sich Zentrifugal- und~ravitative Fokussionskraft gerade die Waage. Die Kreislinie r = log ( 1 + '1/2) stellt eine geschlossene Geodäte für Lichtteilchen dar. In der Abbildung ist zu erkennen, wie Nullgeodäten auf dem Mantel der zentrifugierten Flüssigkeit von einem PunktPausgehend bis zum kritischen Radius ausschwärmen und schließlich in einem Punkt P' auf der t-Achse refokussiert werden. Die zeitartigen Geodäten liegen innerhalb des durch den Verlauf der Nullgeodäten aufgespannten Mantels. Geschlossene zeitartige Kurven können nur außerhalb des kritischen Radius existieren. Im Bereich r > log (1 + J2) werden die Kurven (t, z, r) = const., also die konzentrischen Kreise der Abbildung, zu geschlossenen zeitartigen Kurven. Die kosmische Rotation hat hier die Lichtkegel so weit in äI o-Richtung verschoben, daß das Killing-Vektorfeld äI ot raumartig, das Vektorfeld älo aber zeitartig geworden ist. Geodäten können in den Bereich der CTL niemals eindringen, d. h. in der Gödel-Welt gibt es keine geschlossenen zeitartigen Geodäten 112 • Jede geodätische Materieweltlinie ist eine offene Kurve mit unendlicher affiner Länge. Um ein Teilchen auf eine CTL zu schicken, muß man es durch äußere differentielle Kräfte aus seiner Trägheitsbahn reißen. 112 Vgl. S. Chandrasekhar/J. P. Wright: The Geodesics in Gödel's Universe. Proc. ofthe National Academy of Science 47 (1961), S. 341-347.
I. Die Kausalstruktur globaler Lösungen
125
Aus dieser Beschreibung können wir nun zwei wichtige Ergebnisse herausfiltern: Das erste Ergebnis betrifft die Semantik der Zeit im Gödel-Modell. Räumliche Rotation bedeutet Auszeichnung einer räumlichen Richtung, die Auszeichnung von Richtungen aber beeinflußt die Lage der lokalen Lichtkegel. Denn wenn eine Bewegungsrichtung bevorzugt ist, verspürt ein frei fallender Körper einen Zwang, sich in (bzw. gegen) diese Richtung zu bewegen. Eine zunehmende Rotation verschiebt also das Spektrum der zugelassenen Richtungen. Im Grenzfall r- oo bleibt einem Körper nichts anderes mehr übrig, als sich in Rotationsrichtung ä;acj> zu bewegen. Genau eine solche unfreiwillige Bewegungsrichtung, die ein Körper ohne eigenes Zutun in der Raumzeit verfolgen muß, ist in unserer Alltagserfahrung die Richtung der Zeit. Bleiben wir passiv an einem Ort, so lassen wir uns im Raum-ZeitBild in eine Richtung parallel zur Zeitachse treiben. Für r - oo kippt der lokale Lichtkegel so weit in die Horizontale um, daß die Rotationsrichtung ä!acj> sich der Parallelen zur lokalen Zeitachse durch den Lichtkegel annähert, d. h. die Richtung der räumlichen Rotation gewinnt lokal die Bedeutung der Zeitrichtung. Das zweite Ergebnis betrifft die Kausalstruktur der Gödel-Welt. Durch jeden Punkt der Gödel-Welt führt eine geschlossene zeitartige Kurve. Solche geschlossenen zeitartigen Weltlinien gehorchen der lokalen Kausalität, verletzen aber die globale Irreflexivität der Kausalrelation. Um die Konsequenz von CTL durch jeden Punkt der Raumzeit zunächst plausibel zu machen, betrachten wir die Gödel-Metrik in einer veränderten Form:
=dt2 - dr2 - di + g(r) dq/ + 2h(r) dcptit mit g(r) =sinh 4 r- sinh 2r und h(r) = J2 sinh 2r di
Für einen Radius R, der größer ist als der kritische Radius Rk =log (1 + .J2), gilt sinh 4 R- sinh 2 R > 0, also g (r) > o. Betrachten wir in dem z = 0-Schnitt durch die Gödel-Welt die t = 0-Fläche. Abstände auf dieser Fläche mißt das Linienelement di =- dr 2 + g (r) dc/>2 • Der durch r = R in dieser Ebene definierte Kreis ist eine überall zeitartige Kurve, wenn man als positive Zeitrichtung die Richtung wachsender Koordinate cf> wählt. Für hinreichend kleine a > 0 ist dann auch jede Kurve y (z = 0, r = R, t = - acf>) zeitartig. y läuft in Richtung abnehmender t auf dem Mantel eines Zylinders mit der t-Achse als Symmetrieachse und dem Radius r = R. Auf dem Zylindermantel können also die Punkte Q = ( z = 0, r = R, cf> = 0, t = 0) und P = (z = 0, r = R, cf> = 21r, t = -21ra) mithilfe von y kausal verbunden werden; dabei liegt P bezüglich y in der kausalen Zukunft von Q:
126
Kausalstrukturen in relativistischen Weltmodellen
__ r.eitarti,jer krers (r.. P.,
t=O) t:. -o)
Auf der Parallelen zur I-Achse auf dem Zylindermantel (r = R) ist dagegen Pein Vorgänger von Q 113 • Die I-Linie auf dem Zylindermantel stellt jedoch keine mögliche kausale Verbindung von P und Q dar, weil das Vektorfeld JI a1 für den Bereich r > Rk nicht mehr zeitartig ist. Auf diese Weise kann die Kurve y also nicht zu einer CTL durch Qvervollständigt werden. Es gibt aber stets kausale Kurven, die Punkte mit r < Rk mit Punkten des CTL-Bereichs r > Rk verbinden. Voneinem Punkt der inneren Region r < Rk kann man also mittels einer kausalen Kurve (die nicht durchgehend geodätisch ist) auf einen Zylindermantel mit r > Rk gelangen und auf diesem Mantel spiralenartig in Richtung abnehmender I-Werte absteigen. Danach kann man ebenfalls auf einer kausalen Linie wieder in Richtung abnehmender rund zunehmender 1 zum Ausgangspunkt zurückkehren. Ein Zylindermantel im Abstand r > Rk von der I-Achse kann also als eine Zeitmaschine verwendet werden: der Zeitgewinn im Bereich r > Rk ermöglicht dem Zeitreisenden, an einen Raumzeitpunkt im Innenbereich r < Rk zurückzukehren. In dem eben geschilderten Sinne ist es also in einer Gödel-Welt möglich, "in die Vergangenheit zu reisen". Ist damit überhaupt die eindeutige Unterscheidbarkeit von Vergangenheit und Zukunft noch gewährleistet, die doch bei der Anwendung der Prädikate "früher" und "später" auf die Ereignisse P und Q unterstellt werden muß? Hier muß man beachten, daß auch die Gödel-Welt zeitlich orientierbar ist, d. h. entlang einer jeden Weltlinie kann 113 Vgl. K. Gödel: An Example ofa New Type ofCosmological Salutions ofEinstein's Field Equations of Gravitation. Reviews ofModern Physics, Vol. 21, Nr. 3 (1949), S. 447450, hier: S. 449.
I. Die Kausalstruktur globaler Lösungen
127
in eindeutiger und überall stetiger Weise an jedem Punkt eine Zukunfts- und eine Vergangenheitsrichtung definiert werden. Für P und Q ist es also bezüglich jeder verbindenden Weltlinie eindeutig bestimmt, welcher von beiden Raumzeitpunkten der frühere ist. Nur kann eben bezüglich zweier verschiedener Weltlinien y und y' zwischen P und Q einmal P früher als Q und das anderemal Q früher als P sein. Dies ist der lokale Ausdruck der Nichtexistenz einer kosmischen Zeit, die simultan für jede Weltlinie, die in positiver Zeitrichtung durchlaufen wird, anwachsen müßte. Bei einer "Zeitreise" im Sinne von G. Wells' Zeitmaschine 114 sind diese beiden Sachverhalte gerade vertauscht: Die Zeitmaschine soll eine Zeitreise in die Vergangenheit in einem absoluten Sinne ermöglichen, also in der Gegenrichtung einer vorhandenen kosmischen Zeit. Dabei wird eine Weltlinie, die schon einmal in Zukunftsrichtung durchlaufen wurde, noch einmal in Gegenrichtung benutzt. Der eindeutige Richtungssinn für das Durchlaufen von Weltlinien, der durch die zeitliche Orientierung erzeugt wird, ist hier also verletzt. Die AR läßt nur kausale Einbahnstraßen zu, allerdings mit der Möglichkeit eines Ringverkehrs. Bei der Wellsschen Zeitmaschine ist die zeitliche Orientierbarkeit verletzt, das Vorhandensein einer kosmischen Zeit aber vorausgesetzt; in der Gödel-Welt gibt es keine kosmische Zeit, aber die zeitliche Orientierbarkeit ist erhalten. Durch eine klare begriffliche Trennung von zeitlicher Orientierbarkeit und Existenz einer kosmischen Zeit wird auch deutlich, was CTL in Bezug auf unsere alltägliche Zeit- und Kausalerfahrung bedeuten. CTL zerstören nicht die erlebbare Symmetrie von Vergangenheit und Zukunft. In die Zukunft wird man nach wie vor "gezogen", hinter der Vergangenheit fällt nach wie vor "die Tür zu". Jeder Beobachter in einer CTL-Welt kann zu jeder Zeit diese Unterscheidung genauso intuitiv vornehmen, wie wir in unserer Alltagserfahrung es gewohnt sind. Die Nichtexistenz einer kosmischen Zeit ändert nicht die Qualität unseres zeitlichen Erlebens, sondern bedeutet eine Einschränkung für die auf gewissen Weltlinien erlebbaren Sachverhalte. Selbst wenn man unser zeitliches Erleben zur apriorischen Basis des Kausalbegriffes erhebt, ist man also keineswegs genötigt, die Ereignisfolgen auf CTL aus dem Anwendungsbereich der Kausalrelation auszugrenzen. Die CTL-Welten verdeutlichen, welche globalen Konsequenzen unser lokal gewonnener Kausalbegriff ermöglicht, wenn die AR eine korrekte Theorie ist. Theorien sind Netze, in die unsere gewohnten - aber durchaus nicht "untheoretischen" Begriffe- eingefügt werden 115 • Die Struktur dieses Netzes bestimmt, welche Rolle ein Begriff als Bestandteil des Netzes spielen, d. h. welche Bedeutung er darin annehmen kann. Die Paradoxie, daß eine Theorie, deren grundlegende 114 Herbert George Wells: The Time Machine. Works. Unwin, London 1924; deutsch: Die Zeitmaschine. Harnburg 1960. 11 5 Vgl. Bas van Fraassen: The Seienlifte Image. Oxford 1980, v. a. S. 198 ff.
128
Kausalstrukturen in relativistischen Weltmodellen
Gleichungen nirgendwo akausale Mechanismen einschließen, in den Modellen von der üblichen Kausalordnung abweicht, kann durch eine begriffliche Verallgemeinerung der Kausalität in fruchtbarer Weise aufgelöst werden. Es wäre unvernünftig, auf Herausforderungen, die uns zwingen, bekannte Begriffe in einem neuen theoretischen Rahmen neu zu präzisieren, mit einem Verzicht auf die gewohnte Begrifflichkeit zu reagieren. Damit wäre etwa die Möglichkeit zerstört, das lokale Verhalten eines Teilchens, das auf einer CTL läuft, kausal zu verstehen. Da, wie gesehen, die Veränderung im numerischen Wert eines kosmischen Parameters (Materierotation)- der im Rahmen der Theorie ein kontingentes Faktum darstellt- zugleich darüber entscheiden kann, ob die Weltlinie eines Teilchens offen oder geschlossen ist, wäre die Anwendbarkeit eines fundamentalen naturphilosophischen Begriffs von einem kontingenten Parameter-Wert abhängig. Bei Überschreiten eines kritischen Wertes könnte nicht mehr von kausalen Prozessen gesprochen werden - obgleich die Bewegung eines Teilchens in jedem Augenblick alle gewohnten kausalen Eigenschaften zeigt. Um diese absurde Konsequenz zu vermeiden, sollte man also CTL nicht als echte Verletzung der Kausalität betrachten, sondern sie als Hinweis benutzen, wie sorgfältig man bei der globalen Ausdehnung lokal gewonnener Begriffe sein muß. Von einer echten Kausalitätsverletzung kann nur dann die Rede sein, wenn wie im Fall der SST die lokalen Kausalitätsforderungen der AR gebrochen werden. So seltsam eine geschlossene Weltlinie als "Lebenslinie" eines Teilchens auch erscheinen mag, dem Teilchen selbst wird nichts seltsam erscheinen, um es einmal so anthropomorph auszudrücken. Denn überall auf der CTL erfahrt es die üblichen lokalen Eigenschaften der Zeit. Irgendwann dringt es in den Rückwärtslichtkegeleines Teilchens ein, das mit ihm identisch ist. Sein Zustand wird jenem dieser identischen Kopie am Ort P immer ähnlicher und wird diesem Zustand schließlich sogar gleich. Es ist jetzt dieses Teilchen am OrtP. Der Eindruck, es müsse sich hier um eine Art Teilchenvernichtung am Ort P handeln, da doch unmittelbar vor P zwei Teilchen, in P aber nur noch eines vorhanden ist, beruht auf einer Täuschung, die dadurch entsteht, daß man die CTL sozusagen von außen unter stillschweigender Verwendung eines offenen Zeitparameters betrachtet. Wie wir wissen, existiert ein solcher Parameter aber gerade nicht. Ihn "wegzudenken" macht hier ebensolche Schwierigkeiten wie das "Wegdenken" der absoluten Gleichzeitigkeit in der SR. In Wirklichkeit ist ja die ganze CTL dicht, also in der kontinuierlichen Weise des reellen Zahlraums, mit identischen "Kopien" des Teilchens zu verschiedenen Zeitpunkten besetzt. Wir haben gesehen, daß uns das Auftreten von CTL zur Differenzierung der folgenden globalen Eigenschaften der Raumzeit zwingt: Auftreten von geschlossenen Kausalkurven (CTL), Existenz einer kosmischen Zeit (TK), Überdeckung der Raumzeit durch eine Familie raumartiger Hyperflächen (H) und kosmische Rotation (R). Fassen wir die oben festgestellten materia-
I. Die Kausalstruktur globaler Lösungen
129
Jen Implikationen zusammen, die zwischen diesen Eigenschaften bestehen: TK - l (CTL) TK-H
R (w > c/R)- CTL
Die Existenz der Anti-Oe-Sitter-Lösung zeigt, daß im allgemeinen CTL - R nicht erfüllt ist. Materierotation ist nicht der einzige mögliche Mechanismus für CTL. Möglicherweise aber gilt: Tab =E 0"' CTL- R 116 . (Bisher sind keine nicht-leeren CTL-Welten ohne Rotation bekannt.) Neuerdings sind verallgemeinerte Gödel-Lösungen untersucht worden, die eine interessante Abfolge von CTL-Regionen und kausal regulären Regionen zeigen. N ovello und Reboucas 11 7 betrachteten Metriken, in denen das Linienelement die Form der Gödel-Metrik besitzt, jedoch mit einer allgemeineren Funktiong(r), die i. a. mehrere Wurzeln fürdie verschiedenen r- Werte rt, r2, . .. r . hat: g (r,) = g (rz) = ... = g (r.) = 0 mit r, < r2 < ... < r •. Der dieser verallgemeinerten Gödel-Metrik entsprechende Materietensor Tab = p5~o~ -pg.b + rrab enthält nicht nur einennichtverschwindenden isotropen Druck p, sondern zusätzlich noch einen anisotropen Druckterm 7rab· Dieser anisotrope Druck entspricht dem Auftreten von Grenzschichtkräften an den Grenzen der Bereiche g (r) < 0 zu solchen Bereichen mit g (r) > 0, an denen Materie mit verschiedener Rotationsgeschwindigkeit aufeinandertrifft. Die Grenzschichtkräftewirken in Richtung des Gradienten des Geschwindigkeitsfeldes der kosmischen Materie, d. h. in Normalenrichtung zur Grenzfläche. Im Bereich 0
r
< r < rt
ist g (r) positiv definit, die Kreise (z = 0, t = 0,
= const.) sind zeitartig; daher enthält dieser Bereich analog zur Gödel-Welt
für R > Rk geschlossene zeitartige Kurven. Im darauf folgenden Bereich '' < r < r2 ist g (r) überall negativ, was zur Folge hat, daß alle geschlossenen
Kurven raumartig sind; in diesem Bereich gibt es also keine CTL. So folgen sukzessive CTL- und Nicht-CTL-Regionen aufeinander und erzeugen eine zwiebelartige Struktur mit CTL-Schalen, die voneinander durch kausal reguläre Schalen getrennt sind. D. Soares 118 hat gezeigt, daß die CTL von Rotationslösungen nicht notwendig wie in der Gödel-Welt in einem von den Materiegeodäten abgetrennten Bereich liegen müssen. Die von ihm präsentierten inhomogenen Lösungen (unter Einschluß elektromagnetischer Felder) enthalten geschlossene 116 D. Soares: Inhomogeneaus rotating universes with closed timelike geodesics of matter. J. Math. Phys. 21 (3), März 1980, S. 521-525, hier: S. 521. 117 M. Novello, M. J. Reboucas: Rotating universe with successive causaland noncausal regions. Phys. Rev. D, Vol. 19, Nr. 10 (1979), S. 2850-2852. 118 D. Soares: Inhomogeneaus rotating universes with closed timelike geodesics of matter, J. Math. Phys. 21 (3), (1980), S. 521-525.
9 Barteis
130
Kausalstrukturen in relativistischen Weltmodellen
zeitartige Geodäten. Die Topologie dieser Lösungen ist S 3 X Rund die CTL bilden geschlossene Kurven auf den 3-er-Sphären S 3• Das Auftreten geschlossener Kausalkurven ist nicht notwendig an das Vorhandensein einer räumlichen Rotation geknüpft. In der Taub-NUTRaumzeit, die keine Materie enthält, tritt ein kausal völlig irregulärer Bereich auf, in dem jeder Punkt mit jedem beliebigen anderen Punkt durch eine geschlossene Kausalkurve verbunden werden kann. Kennzeichnend für Welten mit geschlossenen zeitartigen Weltlinien ist aber in jedem Fall das Fehlen einer kosmischen Zeit.
11. Die Taub-NUT-Raumzeit Das Beispiel einer leeren CTL-Welt, bei der das Vorhandensein von CTL weder auf das Verhalten der Materie zurückgeführt werden kann, noch durch die topalogische Zusammenhangsform der Raumzeit erzeugt wird (keine Elimination der CTL in einem covering space!), stellt der Taub-NUT-Raum dar. Diese Lösung von der Topologie R X S 3 (einfach zusammenhängend) zeigt, daß CTL nicht nur in recht anschaulicher Weise durch eine bestimmte Materiekonfiguration oder durch anisotrope Materieflüsse hervorgebracht werden können, sondern auch in leeren Universen als innere globale Eigenschaft einer autonomen metrischen Struktur auftreten, ohne durch topalogische Punktidentifikationen erzwungen worden zu sein. Das Linienelement der Taub-Welt 119 hat folgende Form:
0, c/J und 1/J sind Euter-Koordinaten auf S 3 , 0 :S 1/1 :S 4rr, 0 :S 0 :S rr, 0 :S c/J :S 2rr, und t ist eine offene Koordinate- oo < t < + oo, mit U (t) =- 1 + 12) •• + 2 (mt , m und 1 posrtrve Konstanten. 12 + 12 Diese Metrik erfüllt die leeren Binstein-Gleichungen (T'b = 0). An den Stellen T± m ± (m 2 + 12 ) 112 ist U (t) 0, also di singulär. Es handelt sich jedoch hier um keine Krümmungssingularität; eine geeignete Koordinatentransformation zeigt sogar, daß die geschlossene, leere Taub-Welt metrisch flach ist 120 • Obgleich es also keine inneren Unendlichkeiten der Raumzeit gibt, führt die Eingabe einer beliebig kleinen Materiemenge zu solchen Unendlichkeiten 121 • Die nichtsinguläre Natur der Taub-Welt (im Sinne von
=
=
Vgl. Hawking/Ellis: The Large Sca/e Structure of Spacetime, op. cit., S. 170. C. W. Misner: Absolute Zero ofTime. Phys. Rev. Vol. 186(5) 1969, S. 1328-1333. 121 C. W. Misner/A. H. Taub: A Singularity-free empty Universe. Soviet Physics JETP, Vol. 28(1) 1969, S. 122-133, hier: S. 127. 119 120
I. Die Kausalstruktur globaler Lösungen
131
Krümmungssingularitäten) hängt also an der exakten Erfüllung von Tab= 0. Taub hatte die Metrik für ein Koordinatensystem angegeben, das nur den Bereich U ( t) > 0 abdeckte (Taub-Raum) und in dem die t = const.-Hyperflächen raumartig sind. Newman, Unti und Tamburino 122 (NUT!) erweiterten die Lösung auf den Bereich U (t) < 0 (NUT-Raum), in dem die I/I-Linien ( t, 8, 1> const.) zeitartig sind 123 • Die Flächen U ( t) = 0 spielen in dieser erweiterten Lösung (maximale analytische Extension) die Rolle von Cauchy-Horizonten H+ (S) und H - (S). Die Eigenschaften des zwischen den Horizonten liegenden Bereichs sind vollständig durch die Daten auf einer raumartigen Hyperfläche S bestimmt. Die Bereiche jenseitsH+(S) undH- (S) sind von S aus nicht mehr vorhersagbar bzw. retrodizierbar (siehe Skizze).
jt
---s
Ta.v4-Bereich
CTL in der Vergangenheit von H-(s) NUT- ßereicfa
Ein Teil derzeit- und nullartigen Geodäten des Taub-Raumes windet sich in der Zukunft von S unendlich oft um den Zylindermantel, der die räumliche Erstreckung der Raumzeit in diesem Gebiet darstellt, und strebt asymptotisch gegen H+ (S). Eine Unterklasse dieser Geodäten erreicht H+(S) in E. Newman/ L. Tamburino/T. Unti: J. Math. Phys. 4 (1963), S. 915-923. Vgl. Misner: Taub-Nut-Space as a Counterexample of Almost Anything. In: Ehlers (Ed.): Re/ativity Theory and Astrophysics, Bd. I, Providence 1967, S. 160-169. 122
123
9•
132
Kausalstrukturen in relativistischen Weltmodellen
endlicher Zeit ihres affinen Parameters, ohne noch weiter in die NUT-Region fortgesetzt werden zu können. Die Taub-NUT-Raumzeit ist also geodätisch unvollständig. Ein anderer Teil der Geodäten durchschneidet H+(S) und erreicht die NUT-Region 124 • In dieser Region beginnen die Lichtkegel umzukippen; es treten CTL auf, und zwar in einer Weise, daß die gesamte Raurnzeitregion dadurch involviert ist: jeder Punkt kann mit jedem anderen Punkt mithilfe einer geschlossenen kausalen Geodäten verbunden werden 125 • Deshalb enthält die NUT-Region auch überhaupt keine vernünftig definierbaren raumartigen Hyperflächen. Nach einer endlichen Laufzeit entwickelt sich die Taub-Welt von selbst von einer kausal völlig normalen Welt mit wohldefinierter kosmischer Zeit in eine Welt, in der die Zeitordnung im strengsten Sinne von den Weltlinien abhängt, so daß sich die füreine Weltlinie definierte Eigenzeit-Richtung auf keine noch so kleine Umgebung der Weltlinie mehr übertragen läßt. Die maximale analytische Extension der Taub-Metrik ist allerdings nicht eindeutig; es gibt eine zweite Erweiterung, bei der im Vergleich zur ersten die geodätisch vollständigen und die geodätisch unvollständigen Weltlinien gerade permutiert werden. Im folgenden soll nun das kausale Verhalten der Taub-NUT-Welt im einzelnen betrachtet werden. Dies kann immer in besonders anschaulicher Weise geschehen, indem man sich die Lage der Lichtkegel in der Raumzeit klar macht.
Zeigen noch auf der Cauchy-Fläche S die Normalen auf der t = const.-Fläche in zeitartige Richtung, so sind für die Wurzeln der Funktion V ( t), t1 und t2, die Hyperflächen t = const. bereits nullartig. Die wesentlichen kausalen Eigenschaften der Taub-NUT-Raumzeit können durch eine zweidimensionale zylinderförmige Projektion der vierdimensionalen Metrik dargestellt werden 126 • Die Bedeutung der Koordinaten t und 1/J als mehr zeit-oder mehr raumartige Richtungen hängt davon ab, in welchem Teil des Zylinders man sich befindet. Auf S vertritt t noch die Richtung der Zeit, 1/J ist eine rein räumliche Richtung. Für t .... t 1 bzw ..... t 2 kippen die Lichtkegel allmählich in I/I-Richtung um, die Richtung der Zeit erhält nichtverschwindende t- und I/I-Komponenten. Die Raumzeit bleibt topologisch S 3 X R, doch R vertritt nicht mehr unangefochten die zeitliche Komponente.
Der unten skizzierte Raum hat die Topologie S 1 X R; um ihn zum TaubNUT-Raum zu vervollständigen, müßte manjeden Punkt des Zylindermantels auf eine zweidimensionale Kugelfläche S 2 abbilden (Koordinaten 0, ~ ). Siehe Hawking/Ellis: The Large Sca/e Structure of Spacetime, op. cit., S. 171 ff. Siehe Skizze S. 133. 126 Beispiele von CTL sind die Kurven mit (I, 0 tf>) = const. und 0 < 1/J < 4rr. Das sind geschlossene und im Bereich U(t) < 0 zeitartige Geodäten. Alle Geodäten dieser Art sind also im NUT-Bereich CTL. 124 125
I. Die Kausalstruktur globaler Lösungen
133
Die Metrik auf dem Zylinder wird gegeben durch di =- if 1dt + 4f U ( dl./1) 2121 • Der analytische Anschluß zur Taub-Metrik zeigt für die Bereiche t > tz und t < t1 ein weiteres Umkippen der Lichtkegel. Für t = ± oo kippen sie schließlich ganz in !./I-Richtung um, d. h. t wird ganz zur räumlichen, 1./J ganz zur- geschlossenen- zeitlichen Koordinate. Für t1 < t < t 2 war der Raum topalogisch = S 3 ;je weiter man im Zylinder auf- oder absteigt (dies ist nicht eindeutig eine zeitliche Reise!), desto mehr geht die Raumtopologie über in S 3 X R, denn 1./J = S 1 wird ja zunehmend zur zeitlichen Koordinate, t = R zur räumlichen Koordinate 128 •
+oo
,
t t
-OD
0
,~ ....
~ l-
~
~
Projektion der Zukunftslichtkegel auf die t,~-Fläche: die t=const •..:Hyperfläche verändert ihre Lage kontinuierlich von zeitartig an t = :too zu raumartig an t = 0 (an t = t 1 und t = t 2 ist sie nullartig).
n 2n 3n 4n = 0 ~
~
(aus: Misner/Taub: A Singularity-free empty universe, op. cit., S. 125)
Man kann sich den Raum also für wachsende (bzw. abnehmende) t zigarrenartig abgeflacht vorstellen. Der aktuale Übergang von der Topologie S 3 zu S 2 X R würde aber ein Verlassen der kontinuierlichen Transformationsgruppe bedeuten, die für die zeitliche Entwicklung einer Riemannschen Mannigfaltigkeit zuständig ist. Der Raum bleibt deshalb abgeschlossen, obgleich er sich asymptotisch der Form S 2 X R annähert. Dadurch wird einsichtig, warum die Komponenten des Riemannschen Krümmungstensors für t - 00 asymptotisch mit 0 (l/r3 ) gegen Null gehen, der Raum also "asymptotisch flach" wird und dennoch kein ausgedehntes rechtwinkeliges Koordinatensystem in diesem Raumzeit-Bereich eingeführt werden kann 129 • Die Raumzeit verhält sich also so, als existiere in Richtung wachsender t ein sich verstärkender Raumwirbel, der die zeitartigen Geodäten in !./I-Richtung abHawking/ EIIis: The Large Scale Structure of Spacetime, op. cit., S. 175. C. W. Misner: The Flatter Regions ofNewman, Unti, and Tamburino's Generalized Schwarzschild Space. Journal ofMathematical Physics Vol. 4, No. 7, 1963, S. 924-937, hier: S. 934. 129 C. W. Misner: The Flatter Regions ofNewman, Unti, and Tamburino's Generalized Schwarzschild Space. Journal of Mathematical Physics Vol. 4, No. 7 (1963), S.924-937, hier: S. 934. 127
128
134
Kausalstrukturen in relativistischen Weltmodellen
lenkt und sie schließlich in geschlossene Kurven verwandelt. Dabei klingt die "Ablenkung der Zeit" anders als in asymptotisch flachen Räumen mit Gravitationssingularitäten nach außen hin nicht ab, sondern verstärkt sich, je "flacher" der Raum wird (bezüglich der Komponenten des Riemannschen Krümmungstensors ). Die Koppelung dieser beiden Sachverhalte verbietet es, die in I/I-Richtung anwachsende Ablenkung der Lichtkegel als Einfluß einer gravitativen (z. B. rotierenden) Quelle zu interpretieren. Eine solche Quelle kann nicht in derselben Richtung anwachsende Wirkungen und abnehmende Riemann-Krümmung hervorrufen. Der Taub-NUT-Raum läßt sich also nicht als Außenraumlösung einer Krümmungssingularität bei t = t1, bzw. t = 12 verstehen. Misner 130 hatte aus dieser Tatsache die Konsequenz gezogen: "This excludes then any interpretation of NUT space as the gravitational field produced by a localized source introduced into a previously flat part of the universe .... Unless it is interpretable as ·a cosmological model, it must be similarly rejected in general relativity theory". Zu dieser Ablehnung der NUT-Lösung als kosmologisches Modell gelangt Misner durch eine Analogie zur gewöhnlichen Interpretation der Schwarzschild-Lösung als Außenraumlösung einer punktförmigen Singularität (die Schwarzschild-Metrik erhält man aus der NUT-Lösung für 1 = 0). Die wesentlichen Eigenschaften des Taub-NUTRaumes sind aber unabhängig vom Wert des Parameters 1 > 0; zwischen den Lösungen 1 = 0 und 1 > 0 gibt es daher keine erkennbare semantische Kontinuität. Die wesentlichen Eigenschaften des Taub-NUT-Raumes zeigen sich in der Lage der Lichtkegel, die von t = 0 (raumartige Hyperfläche) über t =t1 (t2) bist=± oo in die ~/!~Richtung umkippen (t = ± 00 sind zeitartige Hyperflächen). Es ist aber schwer zu sehen, weshalb die Nicht-lnterpretierbarkeit als Außenraumlösung dazu führt, daß die Taub-NUT-Raumzeit nicht als kosmologisches Modell in Frage kommt. Vielmehr zeigt sich hier, daß ein "Raumwirbel" nicht durch starke Gravitationsfelder verursacht werden muß, sondern eine rein strukturale Eigenschaft der Entität Raumzeit sein kann. Eigenschaften der Raumzeit müssen eben nach der AR nicht als relationale Eigenschaften zwischen Materie und Raumzeit rekonstruierbar sein; sie können der Raumzeit in einem "absoluten" Sinne zukommen. Daß die Entwicklung der Taub-Raumzeit in die NUT-Region nicht durch einen äußeren Faktor (wie Materieverteilung) erklärbar ist, involviert übrigens keine Verletzung des Kausalprinzips. Denn die Anwesenheit von Gravitationswellen in leeren Räumen garantiert einen Mechanismus der Energieübertragung, der Ereignisse kausal verbindet. Die Evolution des Taub-Raumes ist also völlig kausal verstehbar. Sie entspricht einer anisotropen Expansion des Raumes und ist nicht weniger kausal als die Bewegung eines Gletschersaufgrund seines Strömungsfeldes. 130
Ebd. S. 934.
135
I. Die Kausalstruktur globaler Lösungen
Zum Schluß soll noch auf die besondere Natur der Singularitäten an 1 = 1t und 1 12 eingegangen werden. Wenn diese, wie bereits erwähnt, keine Krümmungssingularitäten darstellen, was sonst? (Der Krümmungstensor bleibt an den Grenzen U (t) = 0 regulär.) Lifshitz und Klalatnikow 131 kamen zu dem Schluß, diese Singularitäten müßten fiktiver Natur sein. Die Entdeckung der NUT-Extension der Taub-Metrik, die den U- 1-Faktor zum Verschwinden bringt, zerstörte jedoch diese InterpretationsmöglichkeiL Denn die affine oder geodätische Unvollständigkeit einer bestimmten Geodätenklasse an U (1) = 0 blieb bei der Extension bestehen. Der Taub-NUTRaum ist ein Beispiel eines kompakten Raumes, der nicht geodätisch-vollständig ist. Zeigt aber nun das reguläre Verhalten der Krümmungskomponenten an U ( 1) = 0, daß es sich hier um keine "echten" Singularitäten handelt, an denen ein Teilchen definitiv zum Abbruch seiner Weltlinie gezwungen wird? Dieser Schluß ist ungerechtfertigt, denn ein in die Taub-Welt eingeführtes Testteilchen erfahrt an U ( t) 0 eine unendliche Krümmung. Die Taub-NUT-Singularitäten sirid also sozusagen virtuelle Krümmungssingularitäten, die schon durch Einbringen eines Testteilchens in die zuvor leere Welt "aktualisiert" werden können.
=
=
In der zweidimensionalen Projektion (siehe Skizze S. 136) kann man erkennen, daß die Geodäte q
=;
+
/u a: (q = ~ I, 1
Nullgeodäte) 132
geodätisch unvollständig ist. Eine geodätische Parallelverschiebung des ijVektorfeldes auf der (U(t) = 1, 1 = 0)-Hyperfläche verschiebt q in der Null-Richtung I. Damit bleibt aber qfür jede Hyperfläche bis U (t) = 0 eine Null-Richtung und kann den Bereich U(1)>0 wegen der Lage der Lichtkegel an U (1) = 0 nicht mehr verlassen. Für 1- 12 beschreibt q Spiralen auf dem
Zylindermantel, die wegen 11U (I/I-Anteil von q)- oo für 1- 12 sich immer enger wickeln. Bei kleiner Materiestörung der Lösung wird für 1 - 12 der Skalar r•brab = 2p 2 (k · q)2 = 8p2 U-2 beliebig groß. Der Materietensor an U (1) = 0 wird unendlich, die affine Unvollständigkeit zur Krümmungssingularität. Auf qlaufend erreicht ein Probeteilchen die Krümmungssingularität allerdings erst nach unendlicher Eigenzeit.
n= U112 • (
;
ua: )
+ 211
ist ein zeitartiges Vektorfeld (gab n. nb = -1); es liegt also in Normalenrichtung zu den raumartigen 1 = const.-Hyperflächen. braucht im Gegensatz zu qnur endliche Eigenzeit, um die Hyperfläche U(1) = 0 zu erreichen; dennoch ist das Vektorfeld nicht in den Bereich U (1) < 0 fortsetzbar; d. h. die auf geführten Probeteilchen erfahren einen Endpunkt ihrer Weltlinie.
n
n
131 Vgl. Misner/Taub: A Singularity-free empty universe, JETP 28 (1969), S. 122-133, hier: S. 129. 132 Vgl. Misner/Taub: A singu1arity-free empty universe. JETP 28 (1969), S. 124 f.
136
Kausalstrukturen in relativistischen Weltmodellen
Die Nullgeodäten, die durch Parallelverschiebung von k =
=
~
entstehen,
durchstoßen dagegen den Horizont U (t) 0; sie sind geodätisch vollständig 133 ( t = - oo ... + oo, if> = 0 = 1/J = const. ). Im Gegensatz zum Verhalten der Krümmungsskalare ist die geodätische Unvollständigkeit an U (t) = 0 eine gegen kleine Störungen der Anfangsdaten an t = 0 stabile Eigenschaft der Raumzeit Misner 134 hat die Taub-Singularitäten als "fast verborgene" Singularitäten bezeichnet, da die meisten zeitartigen Geodäten ihnen entgehen; die Singularitätengleichen punktförmigen Löchern im Horizont H+ (S).
t
Verhalten der Vektor- -+ felder n, t q in der TaubNUT-Raumzeit
U(t) = 0
t t=
0
U(t)
=1
II. Kausalstruktur und Singularitäten 1. Überblick
Im folgenden wird uns eine speziellere Lösungsklasse der Feldgleichungen beschäftigen. Diese Lösungen beschreiben die Metrik des Außenraums massiver Objekte, also z. B. das Gravitationsfeld eines Sternes. Die früheste Außenraumlösung wurde 1915, schon wenige Monate nach Formulierung der Feldgleichungen, von Schwarzschild gefunden. Sie beschreibt die Metrik, die ein sphärischer, ungeladener und nicht rotierender Stern um sich verbreitet. Inzwischen ist die Familie der Außenraumlösungen um die ReissnerNordstr4>m-Lösung (geladener, nicht rotierender Stern) und die Kerr~Lö sung (ungeladener, rotierender Stern) erweitert worden. Den allgemeinsten Fall, unter Einschluß von Masse, Ladung und Drehimpuls, stellt die KerrNewman-Lösung dar 135 • 133 Die Nullgeodäte k läuft für wachse!)de t "gegen den Strudel" in immer stärker raumartige Richtung. Vor dem Photon auf köffnet sich sozusagen der Raum immer mehr, während die Zeit, verglichen mit anderen Weltlinien, immer langsamer geht. 134 Misner/Taub: op. cit., S. 129. 135 Vgl. Misner/Thorne/Wheeler: Gravitation, op. cit., S. 878.
II. Kausalstruktur und Singularitäten
137
Erkenntnistheoretisch brisant wird diese spezielle Lösungsklasse dadurch, daß die Außenraum-Metriken nicht nur für statische Himmelskörper anwendbar sind, sondern das Gravitationsfeld auch dann noch korrekt wiedergeben, wenn der Körper unter der Wirkung seiner Gravitationsmasse zu kollabieren beginnt und schließlich in ein schwarzes Loch zusammenstürzt. Die Außenraumlösungen sind also zugleich Lösungen für das Gravitationsfeld schwarzer Löcher 136 • Nach dem Birkhoff-Theorem wirdjeder sphärisch symmetrische Sternkollaps durch einen Teil der Schwarzschild-Metrik dargestellt137. In den letzten zehn Jahren wurde eine ganze Reihe von Sätzen gefunden, die die Vermutung bestärken, daß die Lösungen der Kerr-Newman-Klasse alle möglichen Gravitationsfelder umfassen, die schwarze Löcher um sich verbreiten können. Aufgrund der Ergebnisse von Hawking, Robinson und Carter 138 beschreibt die Kerr-Newman-Familie aber sicher alle stationären black hol es der AR, d. h. alle black hol es mit äußeren Feldern, in denen ein Beobachter in eine zeitartige Richtung reisen kann, in der die räumliche metrische Struktur unverändert bleibt. Die ursprünglichen Außenraumlösungen werden nun an jener Fläche singulär, die den sichtbaren Bereich des black hole vom unsichtbaren Bereich trennt. Kein Signal eines Beobachters, der diese Fläche, den Ereignishorizont, nach innen überschritten hat, wird jemals wieder den Außenraum erreichen. Auch dieser Innenraum der schwarzen Löcher läßt sich mit den Kerr-Newman-Metriken untersuchen, wenn man zu neuen, geeigneten Koordinaten übergeht. In den neuen Koordinaten stellen die ursprünglichen singulären Stellen sich als mathematische Artefakte ("Koordinatensingularitäten") heraus; es gibt keinen physikalischen Grund, nach oem Geodäten an diesen Stellen abbrechen müssen, weil in keiner Einlaufrichtung die Komponenten des Riemannschen Krümmungstensors divergieren. Stellen unendlicher Krümmung, also echte physikalische Singularitäten treten in den neuen Koordinaten jedoch im Innenraum derblackhol es auf. Alle Geodäten, die in Innen- und Außenraum der durch die neuen Koordinaten beschriebenen Metrik laufen, sind entweder in unendliche Werte ihres affinen Parameters fortsetzbar oder erreichen nach endlicher affiner Länge eine echte Singularität. Aufgrund dieser Eigenschaft besitzen die neuen Koordinaten einen hervorragenden Status bezüglich der Metrik. Die neuen Koordinaten stellen eine "maximale analytische Ausdehnung" der Metrik dar. Die maximale analytische Ausdehnung verwandelt die ursprünglichen Außenraumlösungen zu vollständigen Raumzeiten, in denen die gleichen 136 Bzw. nackter Singularitäten, sofern der Kollapsvorgang direkt oder mittelbar zur Bildung einer Singularität ohne Horizont führt. 137 Birkhoff-Theorern (1923), vgl. Misner/Thorne/Wheeler: Gravitation, op. cit.,
S. 843. 138
Vgl. R. M. Wald: Space, Time and Gravity. Chicago 1973, S. 86.
138
Kausalstrukturen in relativistischen Weltmodellen
Typen "seltsamer Kausalstrukturen" auftreten, die uns schon bei der Diskussion der Lösungen für eine globale Darstellungsmaterie begegnet sind: geodätische Unvollständigkeit der Raumzeit (impliziert eine partielle Unanwendbarkeit des Kausalprinzips) Ereignishorizonte (implizieren die Nichtexistenz einer globalen CauchyVorhersagbarkeit) nackte Singularitäten (implizieren den Zusammenbruch sogar der partiellen Cauchy-Vorhersagbarkeit der Raumzeit) geschlossene zeitartige Weltlinien (implizieren eine veränderte Kausalstruktur der Raumzeit) Besonderes erkenntnistheoretisches Interesse verdienen die "seltsamen" Kausalstrukturen der Kerr-Newman-Familie aufgrundder in ihnen realisierten Verknüpfung verschiedener Typen von "Kausalitätsverletzungen". So treten in der Umgebung einer nackten Singularität zugleich CTL auf; ist die Singularität dagegen hinter einem Horizont verborgen, dann erfüllt dieser Horizont eine Doppelrolle, indem er nicht nur eine partielle Cauchyfläche darstellt, die die Auswirkungen der nackten Singularität für die Vorhersagbarkeit des Außenraums begrenzt, sondern zugleich der Benutzung von CTL für Zeitreisen, die im Außenraum beginnen und enden, einen Riegel vorschiebt. Das Auftreten von Ereignishorizonten in der Kerr-Newman-Raumzeit führt zunächst zum Verlust einer Eigenschaft, die man qualitativ als "kausale Homogenität" der Raumzeit kennzeichnen kann: die Horizonte wirken als kausale Einwegmembranen; sie erlauben die Durchquerung in nur einer Richtung. Ein Durchgang durch einen Horizont kann daher bedeuten, daß eine Weltlinie nicht bis in die Zukunftsunendlichkeit- das ist die Menge der als ideale Punkte zur Raumzeit hinzugenommenen unendlich fernen Zukunftsereignisse - verlängert werden kann. Als Konsequenz einer beliebig kleinen Energiedifferenz in den Anfangsbedingungen kann sich für einen Körper also eine völlig verschiedene kausale Zukunft ergeben. Eine überraschende Konsequenz von Ereignishorizonten liegt auch im Zusammenbruch der globalen Cauchy-Vorhersagbarkeit der Raumzeit: Es läßt sich kein räumlicher Schnitt durch die Raumzeit legen, mit dessen Datenmenge alle Zukunftsereignisse bezüglich der Schnittfläche vorhersagbar wären. In dieser Tatsache zeigt sich deutlich, daß Aussagen über ontologische Kausalverhältnisse von Aussagen über die epistemische Vorhersagbarkeit begrifflich streng getrennt werden müssen. Nimmt man die quantenmechanischen Berechnungen von Hawking über die thermische Strahlung schwarzer Löcher mit hinzu, so verschärfen sich die Konsequenzen für die Nicht-Vorhersagbarkeit von Lösungen der Feldgleichungen dramatisch. Wenn man den begrifflichen Unterschied zwischen Determinismus (als
li. Kausalstruktur und Singularitäten
139
ontischer Eigenschaft) gegenüber Voraussagbarkeil (als epistemischer Eigenschaft) im Auge behält, wird man daraus jedoch keine Folgerungen für irgendwelche adeterministischen Effekte ziehen können, die der AR entspnngen. Ein weiterer Unterschied in der epistemischen Situation, verglichen mit den Lösungen für eine globale Darstellungsmaterie, besteht darin, daß die Kerr-Newman-Raumzeiten Singularitäten und CTL in endlicher Entfernung von einer asymptotisch flachen Außenregion präsentieren, gemessen in der Eigenzeit eines Probeteilchens. Die "seltsamen" Kausalstrukturen treten also auf in einer Welt, die wie unsere "gebaut" ist, in einer Region, deren Metrik aus einem physikalisch realen Prozess hervorgegangen ist. Wären die inneren Bereiche von Kerr-Newman-Lösungen realistische Beschreibungen von Kollapsvorgängen, so gehörte der eine oder andere Typ von Kausalitätsverletzungen zu unserer Welt. Die Innenraum-Teile der Kerr-Newman-Metriken stellen aber nicht in gleicher Weise glaubwürdig die Raumzeitstruktur schwarzer Löcher bzw. nackter Singularitäten dar, wie dies für die Außenraum-Teile gilt. Es ist fraglich, ob ein kollabierendes Objektjene Raumzeitregionen als materiefreie Bereiche übrigläßt, in denen die seltsamen Kausalstrukturen auftreten. Unabhängig von einer möglichen Realisierung durch materielle Quellen können wir aber die Kerr-Newman-Raumzeiten auf gleichem Fuß wie die Lösungen für globale Darstellungsmaterien behandeln, also unabhängig von materiellen Quellen, die die Singularitäten erzeugt haben können, einfach als mögliche Lösungen der Feldgleichungen. In dieser quellenunabhängigen Interpretation wird besonders deutlich, daß die Parameter Masse, Ladung und Drehimpuls nicht mehr ihre übliche semantische Rolle als physikalische Charakteristiken kollabierter Quellen des Gravitationsfeldes bzw. des elektromagnetischen Feldes besitzen 139 • Genauso wie die Eigenschaften der Taub-NUT-Welt nicht mit realistischen Anfangsdaten für unser Universum verknüpft werden können, läßt sich die Raumzeitstruktur, die die quellenunabhängigen Singularitäten umgibt, nicht mehr mit einem physikalisch realistischen Entstehungsprozeß verbinden. In dieser Sicht, die von der Entstehung der Quellen abstrahiert, wird auch die extremste Form einer maximalen analytischen Ausdehnung der KerrNewman-Metrik zu einer betrachtenswerten Konsequenz dieser Lösungen. Bei der extremsten Form handelt es sich um eine unendliche Folge wabenartig ineinandergeschachtelter Raumzeitregionen, die es einem Beobachter nach Überschreiten des Ereignishorizontes eines black hole gestatten, in eine andere asymptotisch flache Region zurückzukehren. Durch eine Kette kausaler Einwegmembranen kann der Beobachter unendlich viele Singularitäten sehen und zu unendlich vielen asymptotisch flachen "Universen" gelangen. 139 Sie beziehen sich statt dessen aufRaumzeitregionen, die durch Horizonte abgetrennt sind, also auf geometrische Objekte.
Kausalstrukturen in relativistischen Weltmodellen
140
Ohne daß wir diese exotischen Vervielfaltigungen von Universen in Anspruch nehmen müssen, konfrontieren uns die Kerr-Lösungen mit einer erstaunlichen Konsequenz des relativistischen Energiebegriffs. Im physikalisch "realistischen" Teil der Kerr-Newman-Metrik werden wir auf den Prozeß der "Energieextraktion" aus einem schwarzen Loch treffen, der unsere intuitive Vorstellung von der kausalen Relation als Transfer eines positiven Energiequantums in Frage zu stellen scheint. Innerhalb eines Kerr-black hol es wird die Zeitkoordinate des asymptotisch flachen Außenraums zu einer räumlichen Koordinate. Dieser semantische Rollentausch hat Konsequenzen für die vom Außenraum aus gemessene Energie eines Teilchens, das in das schwarze Loch gefallen ist. Die Energie des Teilchens wird auf bestimmten Bahnen negativ und führt so zu einer Verringerung der Rotationsenergie des black holes. Es wird zu untersuchen sein, ob dieser Transport einer negativen Energie kausal interpretierbar ist.
2. Die Innenstruktur der Kerr-Newman-Metrik
Die allgemeine Kerr-Newman-Lösung beschreibt das gravitative Feld eines geladenen, rotierenden Körpers. In den Koordinaten von Boyer und Lindquist (1967) nimmt das Linienelement die folgende Form 140 an:
+ :
2
dr2 + /d0 2; .1. = r 2 - 2mr + a 2 +
l , p2 = r 2 + a 2cos20
Dabei steht m für die Masse, q für die Ladung und a für das Drehmoment pro MasseneinheiL Die Kerr-Newman-Metrik besitzt einen Horizont und beschreibt somit ein schwarzes Loch genau dann, wenn m2 ~ l + e2 • Es ist wahrscheinlich, daß ein kollabierender Stern, der diese Bedingung verletzt, durch die dann auftretenden Zentrifugalkräfte bzw. die elektrostatischen repulsiven Kräfte nicht über den Ereignishorizont hinaus kollabiert. Wir werden uns daher zunächst mit der Metrik für den Fall m2 ~ l + e2 beschäftigen. Die wichtigste Eigenschaft der Kerr-Newman-Metrik für schwarze Löcher besteht in der Existenz zweier Horizonte. Die Horizont-Flächen werden durch die Nullstellen der Funktion Ll gegeben: 140
Vgl. Misner/Thorne/Wheeler: Gravitation, op. cit., S. 878.
141
li. Kausalstruktur und Singularitäten
_ _ +vm -
r- r. - m
2
q2 -
a2
Die Boyer-Lindquist-Koordinaten werden an diesen Horizonten singulär. Ein Teilchen oder ein Photon benötigen unendliche Koordinatenzeit, um durch den Horizont r. nach innen zu fallen, d. h. t- oo, wenn r- r•. Durch das Drehmoment des black hole tritt überdies an den lokalen Inertialsystemen ein Mitführungseffekt auf, der die Teilchen nahe des Horizont~s r r. zwingt, das schwarze Loch mit einer Winkelgeschwindigkeit lwl = id:i
=
>0
zu umrunden. Für r - rk gilt also auch - oo, d. h. bevor das Teilchen durch den Horizont fallen kann, muß es den Horizont unendlich oft in einer Spirale umrundet haben. Um die Metrik über die Horizonte erweitern zu können, müssen daher neue Koordinaten eingeführt werden, die die unendliche Koordinatenzeit auf ein endliches Intervall transformieren und die unendlich in ausgedehnten Weltlinien in Bahnen endlicher -Distanz bis zur Erreichung des Horizontes verwandeln. Diese Aufgabe erfüllen die KerrKoordinaten (r, 0, ±, u±) mit den Transformationen 141 dc/>. bzw.
du- = dt- (r2 + i) .1- 1 dr
= dcf> + a-1-
1
dr
dcf>- = dcf>- a-1- 1 dr
Wir werden im folgenden von den Kerr-Koordinaten in einer dieser beiden Formen ausgehen, statt u. und +jedoch weiter die Benennungen t und verwenden. In neuen Koordinaten kann die Kerr-Newman-Metrik auf den Bereich - oo< t< + oo,- oo und 0 konstant). Die folgende Abbildung zeigt eine Projektion der Kerr-Newman-Mannigfaltigkeit auf einet= const.-Fläche senkrecht zur Symmetrieachse 0 = 0 des rotierenden black hole.
141
Vgl. Hawking/Ellis: The Large Sca/e Structure of Spacetime, op. cit., S. 163.
142
Kausalstrukturen in relativistischen Weltmodellen
Schwarzes
(aus: C. V. Vishveshwara: Black holes for bedtime. In: A. R. Prasanna et al (Eds.): Gravitation, Quanta and the Universe. New Delhi 1980, S. 161)
Man sieht in der Abbildung anschaulich, wie der Raum im Außenbereich des Kerr-Newman-black hole in -Richtung rotiert. Dies stellt den schon erwähnten "Mitführungseffekt" dar, den die lokalen Inertialsystemeinfolge der Rotation des black hole erfahren. Für den Außenbereich des black hole wird die Metrik durch das Boyer-Lindquist-Linienelement wiedergegeben; die Unabhängigkeit der metrischen Koeffizienten von den Koordinaten t und
m 2 bzw. e2 > m 2) die kausal bösartige Menge die kausale Struktur der gesamten Raumzeit berührt; in diesem Fall stellt die ganze Raumzeit eine kausal bösartige Menge dar. Aufgrund der letzten Überlegungen ist damit klar, daß es in Raumzeiten mit nackten zeitartigen Singularitäten keine, auch keine partielle Cauchy-Vorhersagbarkeit geben kann. In der Zukunft einer jeden raumartigen Hyperfläche S der Raumzeit gibt es Punkte, durch die Weltlinien laufen, dieS in ihrer Vergangenheit niemals berührt haben.
Die Einschränkung der Cauchy-Vorhersagbarkeit in Kerr-NewmanRaumzeiten wird in vielen Darstellungen mit dem physikalisch ungeklärten Status der Singularitäten in Zusammenhang gebracht. In dieser Sicht reduziert sich das Problem auf die epistemische Unbestimmtheit des Endzustandes eines Kollapses innerhalb der AR. So schreibt z. B. Sex!: "... das Zustandekommen von nackten zeitartigen Singularitäten wäre allerdings für eine Theorie, die Vorhersagbarkeit anstrebt, äußerst peinlich. Die tatsächliche Form der physikalischen Gesetze nahe einer Singularität der klassischen Theorie ist nämlich völlig unbekannt, und dadurch ist das Geschehen in Gebieten, deren kausale Vergangenheit eine Singularität enthält, zunächst völlig unvorhersagbar" 166 • Man könnte danach vermuten, daß eine Aufklä166 R. U. Sexl/H. K. Urbantke: Gravitation und Kosmologie, S. 277; vgl. Darstellung bei R. M. Wald: Space, Time and Gravity, S. 53.
II Barteis
ein~
ähnliche ·
162
Kausalstrukturen in relativistischen Weltmodellen
rung des Schicksals der Materie jenseits des Ereignishorizontes die CauchyVorhersagbarkeit der Kerr-Newman-Raumzeiten wiederherstellen könnte. Dies ist aber nicht der Fall. Eine Materietheorie, die stabile physikalische Gesetze für die von der AR vorhergesagten extremen Bedingungen liefert, kann uns sagen, welche Teilchen in welcher Verteilung vonder Singularität in die Raumzeit einlaufen; sie ist imstande, uns darüber zu informieren, wie die fraglichen Weltlinien physikalisch realisiert werden, die aus dem Rücken einer raumartigen Hyperfläche unvorhersagbar in deren Zukunftsbereich eindringen. Unter Umständen könnte das Ergebnis sogar sein, daß solche Weltlinien überhaupt nicht durch Teilchen besetzt werden. Es ändert sich aber sicher nichts an der Situation, daß Weltlinien an jeder raumartigen Hyperfläche vorbei in die Vergangenheit zurückgeführt werden können. Der Grund für den Verlust der globalen (und bei der nackten Singularität sogar der partiellen) Vorhersagbarkeit liegt in der geometrischen Struktur der Raumzeit und wird durch ein verbessertes Wissen über die Materie nicht außer Kraft gesetzt. Wie schon im Fall der Voraussage von Singularitäten durch die AR, die unabhängig von der materiellen Realisierung der Geodäten erfolgt (und in der rein "geometrischen" Definition der geodätischen Unvollständigkeit kulminiert) kann eine Konsequenz der Theorie von geometrischer Natur nicht mit Hinweis auf mögliche Eigenschaften nichtgeometrischer Objekte in Frage gestellt werden. Die partielle Cauchy-Fläche r = r(für a 2 < m2 ) ist keineswegs nur ein "Provisorium bis zum Verständnis der Singularität", das der Beobachter "zwischen sich und die Singularität" legt, um vorläufig festen Boden zu gewinnen, von dem aus "das Geschehen wohldeterminiert und vor weiteren Überraschungen sicher wäre" 167 • Sie ist vielmehr eine stabile Konsequenz der AR, die ganz gegen die ursprüngliche Intention einer möglichst kompletten Vorhersagbarkeit der Welt geht, gleichwohl aber mit dem harten Kern der Theorie fest verbunden ist.
10. Ereignishorizonte und Vorhersagbarkeif
Wir haben gesehen, daß die Einschränkung der epistemischen Möglichkeiten in Kerr-Newman-Raumzeiten, die in dem Verlust der Cauchy-Vorhersagbarkeit besteht, auf eine irreduzible ontologische Eigenschaft der Raumzeit, das Auftreten von (u. U. nackten) Singularitäten, zurückgeht. Eine andere epistemische Konsequenz, die Einschränkung der Kenntnis, die wir von entfernten Raumzeitpunkten nehmen können, geht mit der Existenz von Ereignishorizonten einher. Erkenntnistheoretisch interessant ist, daß die ontologische Eigenschaft der "Existenz von Ereignishorizonten" in Termini kausaler Eigenschaften ausgedrückt werden kann und die aus ihnen folgende 167
Sexi/Urbantke: a.a.O., S. 277.
II. Kausalstruktur und Singularitäten
163
epistemische Beschränkung (des Wissens von Ereignissen) sich begrifflich von der kausalen Charakterisierung abheben läßt. Wir können diese Tatsache als ein weiteres Argument gegen eine Identifizierung des ontologischen Kausalbegriffs mit epistemischen Begriffen (wie der Vorhersagbarkeit) verwenden. Worin besteht nun zunächst die "kausale" Charakterisierung von Raumzeiten mit Ereignishorizonten? Betrachten wir dazu die kausale Struktur der Schwarzschild-Metrik (in Kruskal-Koordinaten). Bezüglich ihrer kausalen Struktur zerfällt diese Metrik in zwei Teile, den Bereich, aus dem zukunftsgerichtete kausale Kurven in Richtung der Zukunftsunendlichkeit entkommen können (asymptotisch flache Region) und den Bereich jenseits des Ereignishorizontes r =2m für die zwei asymptotisch flachen Gebiete. Aus diesem zweiten Teil können keine Wirkungen in die Unendlichkeit gelangen. Mit anderen Worten: Bezüglich ihrer kausalen Struktur ist die Raumzeit inhomogen: ein Kausalprozeß a, der in einem Punkt P der asymptotisch flachen Regionen gestartet wurde, besitzt im allgemeinen jenseits der Horizonte kein Analogon. Läßt man im Bereich r < 2m vom Punkt Q einen identisch präparierten Vorgang a' ablaufen, so wird die kausale Zukunft der bei diesen analogen Vorgängen beteiligten Teilchen i. a. verschieden aussehen. Durch diese Überlegung wird einer Auffassung der Boden entzogen, die in der Geometrisierung der Gravitation lediglich eine Darstellung der Gravitationskraft mittels einer anderen mathematischen Sprache erblicken möchte. Die kausale Inhomogenität von Raumzeiten als Konsequenz der AR zwingt uns, das geometrische Objekt "Raumzeit" selbst als ein principium individuationis anzuerkennen. In der kausalen Eigenschaft, die aus der Existenz von Ereignishorizonten folgt, tritt ein wesentlicher Teil der in der AR implizierten Revolution des physikalischen Weltbildes anschaulich in Erscheinung: die Etablierung der Raumzeit als Entität sui generis, die nicht mehr nur Wirkungen vermittelt, sondern selbst als "Ursache" aufzufassen ist. Diese begriffliche Revolution wird zwar in speziellen Lösungen der AR besonders anschaulich demonstriert, aber natürlich ist sie von Anfang an in die Theorie "eingebaut": "Die Gravitationskraft ist kein tätiger Akteur, der gegen das passive Bestreben der Trägheit ankämpft. Gravitation und Trägheit sind eins .... Ob der natürliche Weg gerade oder gekrümmt ist, ob die Bewegung gleichförmig oder veränderlich ist, eine Ursache muß es in jedem Fall geben. Diese Ursache ist in allen Fällen die Vereinigung Trägheit-Gravitation"168. Wir wollen nun betrachten, wie die Existenz von Ereignishorizonten Einfluß auf das für Beobachter in der Raumzeit erreichbare Wissen nimmt. Ein Horizont ist, so Rindler 169 , eine "Grenze zwischen Dingen, die beobachtbar, und solchen, die nicht beobachtbar sind". Für den vagen Ausdruck Sir A. Eddington: Space, Time and Gravitation. Cambridge 1920, S. 137. Rindler: Visua1 horizons in world models. Month. Not. Roy. Astr. Soc. 116 (1956), S. 662-677, hier: S. 663. 16 8
169
II'
164
Kausalstrukturen in relativistischen Weltmodellen
"Dinge" können zum einen Ereignisse in der Raumzeit, zum anderen Teilchen stehen. Ein Ereignishorizont, gegeben bezüglich eines Fundamentalbeobachters A, wird definiert als eine Hyperfläche in der Raumzeit, die alle Ereignisse in zwei nicht-leere Klassen teilt: solche, die von A beobachtbar waren, sind oder sein werden, und jene, die für immer außerhalb der prinzipiellen Beobachtungsmöglichkeiten für A bleiben. Nun bedeutet die Existenz eines Ereignishorizontes für A ganz entgegen der ersten Intuition keineswegs, daß A kein detailliertes Wissen von den Ereignissen haben kann, die jenseits dieses Ereignishorizontes stattfinden. Denn, so Swinburne 170 , Ereignisse jenseits des Horizontes können kausal durch Ereignisse diesseits beeinflußt werden. In einem expandierenden Universum kann ich auf der Erde in diesem Moment Lichtsignale erhalten, die von einem Fundamentalteilchen P viele Jahre vorher emittiert wurden. Der gegenwärtige Zustand von P mag vielleicht jenseits des Ereignishorizontes liegen, d. h. Lichtsignale, die jetzt von P ausgesandt werden, können mich niemals erreichen. Trotzdem ist mir dieser Zustand zugänglich: zwar nicht unmittelbar experimentell, aber auf dem Umweg über die Theorie; er kann berechnet werden, indem man vom vergangeneo Zustand durch Anwendung der bekannten physikalischen Gesetze auf den zukünftigen schließt. Die Unterstellung, diese Gesetze seien auch jenseits des Horizontes gültig, ist dadurch gerechtfertigt, daß sie Teile jenes theoretischen Netzwerkes sind, in dem die Existenz eines Ereignishorizontes überhaupt erst vorausgesagt werden kann. Die Ausdehnung des Kausalnexus über den Ereignishorizonthinaus ist alles andere als eine gewagte Extrapolation im Sinne einer Übertragung von aus der Empirie gewonnenen Prinzipien auf empirisch ungesichertes Gebiet. Denn die Existenz dieses ungesicherten Gebietes ist ganz im Gegenteil eine theoretisch abgeleitete Struktureigenschaft eines bestimmten - durch die AR zugelassenen - Kausalnexus. Immerhin nötigt uns das Auftreten von Ereignishorizonten die Benutzung theoretischer Brücken zur Bestimmung zukünftiger Zustände auf, deren Tragfähigkeit sich nicht durch direkten Vergleich mit später vorgenommenen Messungen ermitteln läßt.
=
Die Kerr-Lösung enthält, wie gesehen, zwei Ereignishorizonte, r± m ± (m 2 - a2 ) 112• Anders als bei der Schwarzschild-Singularität bewirken diese
aber keine unüberwindliche kausale Abkoppelung der Innenbereiche gegenüber der Zukunftsunendlichkeit des asymptotisch flachen Raumes. Die Einwegmembrane r = r+ führt hier nicht notwendig in eine kausale Sackgasse, zwingt aber zum Verlassen des durch eine raumartige Hyperfläche in der Vergangenheit wenigstens prinzipiell vorhersagbaren Bereiches. Die Fläche r = r- besitzt die Bedeutung einer Vorhersagegrenze, von der an unvorhersehbare Wirkungen aus der zeitartigen Singularität die Weltlinie des Teil170
R. Swinburne: Cosmological horizons. Phi!. Sei. 33, Nr. 3 (1966), S. 210-214, hier:
s. 210.
165
Il. Kausalstruktur und Singularitäten
chens kreuzen können; d. h. r = r- bildet einen Cauchy-Horizont der Raumzeit. Es muß betont werden, daß die mit Cauchy-Horizonten verbundene epistemische Einschränkung nichts mit Verletzungen des Kausalprinzips zu tun hat. Sie ist Folge einer besonderen (inhomogenen) Kausalstruktur, die als Eigenschaft der Raumzeit ontologisch verankert ist (und mit dem Kausalprinzip vereinbar ist). Siehe dazu die Skizze.
Kausalprinzip
ontologisehe Ebene epistemisehe Ebene
/! l\"'
mögliche Raumzeitstrukturen
/
mögliche
//ll,{fli I\\\\'\~,
1 \
II \"" Kausalstrukturen
1
;~
3
Typen von Vorher} sagbarkeit
Hier wird einsichtig, auf welch engen Voraussetzungen eine Kausalitätsauffassung fußt, wie sie etwa in dem bekannten Satz Carnaps zum Ausdruck kommt: "Causal relation means predictability" 171 • Durchgängig kausal interpretierbare Theorien müssen nach dieserVoraussetzungeine globale Cauchy-Vorhersagbarkeit ermöglichen. Daß diese Auffassung so lange die Literatur zum Kausalitätsproblem beherrschte, zeigt, wie wenig eine Aufteilung der Raumzeit in Zonen der Vorhersagbarkeit als mögliche Konsequenz einer kausalen Feldtheorie in Betracht gezogen wurde. Tatsächlich stellt diese Einschränkung der epistemischen Möglichkeiten ja im Gegensatz zur kausalen Inhomogenität alles andere dar als die Demonstration eines in der AR von Anfang an angelegten Zuges. Die Identifizierung von Kausalität und Vorhersagbarkeit hätte im Falle der Kerr-Newman-Singularität die drastische Folge, daß eine Verletzung des Kausalprinzips für Wirkungen postuliert werden müßte, die aus der zeitartigen Singularität austreten. Dafür aber gibt es kein Argument aus der Theorie, sofern man die Identität von Kausalität und Vorhersagbarkeil nicht voraussetzt.
17 1
R. Carnap: Foundations of Physics. New York 1966, S. 192.
DRITTES KAPITEL
Die physikalische Realisierung des Energie-Transfer-Modells I. Die Diskussion um die Anwendbarkeit des Transfer-Modells in der Physik
1. Probleme einer nomologischen Konzeption der Kausalität Zu Anfang des 1. Kapitels ordneten wir das physikalistische Kausalkonzept in das Spektrum philosophischer Kausalbegriffe ein. Im folgenden sollen nun die wesentlichen Merkmale des Energie-Transfer-Modells gegenüber der bislang in der Philosophie der Physik einflußreichsten Konzeption der Kausalität hervorgehoben werden: der Rückführung der Kausalität auf gesetzesartige Beziehungen. Durch die Kausalrelation soll dabei entweder eine besondere Art gesetzesartiger Beziehungen' (z. B. lineare, Nahewirkungsbeziehungen) ausgezeichnet werden oder die Kausalrelation wird als koextensiv mit gesetzesartigen Beziehungen der allgemeinsten Form aufgefaßt2. In der ersten Version wird die Kausalität auf die Geltungsgrenzen eines bestimmten (z. B. mechanistischen) physikalischen Weltbildes eingeengt und dadurch in ihrem ontologischen Gehalt relativiert: nur in Näherung und nur in idealen Situationen passen danach physikalische Prozesse in das von uns konstruierte vereinfachende kausale Modell. Die zweite Version hingegen macht den Kausalbegriff physikalisch inhaltslos. Durch die Identifizierung von Kausalität mit Gesetzesartigkeit schlechthin steuert sie auf einen absoluten, d. h. von physikalischen Theorien unabhängigen Kausalbegriff zu. Das Charakteristische kausaler Prozesse soll invariant gegenüber allen denkbaren Änderungen der nomologischen Struktur sein. Um den Kausalbegriff in ontischer Sprechweise zu formulieren, müßte man also alle physikalisch möglichen Alternativwelten, auch solche mit völlig anderer nomologischer Struktur, antizipieren können. Die Unangemessenheit dieser Forderung wird klar, wenn man sich vor Augen hält, daß 1 Vgl. H. Feig!: Notes on Causality, in: H. Feig!, M. Brodbeck (Hrsg.): Readings in the Philosophy of Science. New York 1953, S. 408-418. 2 Vgl. z. B. die Auffassung von J. Earman in: Causation. A Matter of Life and Death. Journal of Philosophy 73 (1976), S. 5-25.
I. Diskussion um die Anwendbarkeit des Transfer-Modells in der Physik
167
im Alltag ein sinnvolles Reden über die Welt kein Wissen über Sachverhalte in denkmöglichen Alternativwelten erfordert - höchstens ein Wissen von den mit unserer Alltagstheorie der Welt verträglichen Welten. Um zu wissen, was es heißt, auf Löwenjagd zu gehen, muß man nicht in der Art des Mr. Tompkins 3 das Verhalten von Löwen in einer mesokosmischen Quantenwelt antizipieren können. Andererseits könnte sich eine vollständige Beherrschung des Ausdrucks "Löwe" z. B. darin ausdrücken, daß man sich den Verlauf einer Löwenjagd in den Alpen, also unter abweichenden "Randbedingungen" vorstellen kann. Analog dazu sind im wissenschaftlichen Bereich die überschaubaren und für ein vollständiges Verständnis der verwendeten Terme relevanten Alternativwelten eingegrenzt durch die Eigenschaft, Modelle der geltenden physikalischen Theorien zu sein. Beachtet man diese Eingrenzung nicht, so führt dies zu einer für die Kausalität begriffszerstörenden Konsequenz, die von einigen Vertretern der nomologischen Konzeption, wie z. B. J . Earman, als die ersehnte Beerdigung des längst überfälligen metaphysischen Kausalbegriffs begrüßt wird. Betrachten wir nun näher, worin die systematische Wurzel des "absoluten" nomologischen Kausalbegriffes liegt und wie die erwähnte Destruktion der Kausalität zustande kommt. Machen wir uns klar, unter welchen Bedingungen ein Reden über und ein Wissen von möglichen Welten steht! Zunächst kann unser Reden über die Welt aufalljene denkmöglichen Sachverhalte ausgedehnt werden, für die eine gewisse Familienähnlichkeit zu bekannten Sachverhalten besteht unabhängig davon, ob sie einer unserer gegenwärtigen Theorien gehorchen. Bei einem Billardstoß, bei dem die stoßende Kugel ihren Impuls ganz auf die gestoßene Kugel überträgt und doch nach dem Stoß mit der gleichen Geschwindigkeit wie zuvor weiterrollt, sind wir z. B. geneigt, von einem kausalen Vorgang zu sprechen. Dies rührt daher, daß der geschilderte Sachverhalt ganz den geradezu paradigmatischen Beispielen von Verursachung entspricht, die wir beobachten, wenn wir Billard spielen. Diese Übertragung kausaler Begriffe funktioniert ohne Angabe expliziter Kriterien, die festlegen, unter welchen Bedingungen ein Vorgang kausal zu nennen ist. Die Kenntnis solcher Kriterien ist keine Voraussetzung kausaler Sprachkompetenz. Es sind jedoch vage, intuitive Kriterien im Spiel, z. B.: die eine Kugel war für die Bewegung der anderen "verantwortlich". Ohne den Impuls der einen Kugel wäre die Bewegung der anderen nicht zustande gekommen. Man kann unterstellen 4 , daß es die Erfüllung einer sine qua non-Bedingung5 durch die Partner einer kausalen Beziehung ist, die für Earman das entscheidende 3 G. Gamov: Mr. Tompkins' seltsame Reisen durch Kosmos und Mikrokosmos. Vieweg Braunschweig 1980. 4 Diese Unterstellung erscheint durch die im folgenden dargestellte Argumentation Earmans gerechtfertigt. 5 Das Ursacheereignis ist notwendig für das Auftreten des Wirkungsereignisses.
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Die physikalische Realisierung des Energie-Transfer-Modells
Kriterium der Familienähnlichkeit kausaler Prozesse darstellt: physikalische Gesetze sind kausal interpretierbar, wenn die repräsentierten physikalischen Größen in einer sine quanon-Beziehungzueinander stehen. Verschafft man sich Zugang zum Kausalproblem über eine Analyse der Verwendung kausaler Rede, so wird die Grenze, bis zu der die Betrachtung von Alternativwelten relevant ist, durch jenen Aspekt bestimmt, bezüglich dessen kausale Begriffe auf mögliche Situationen übertragen werden. Unter gewissen Umständen (z. B. eben bei Zugrundelegen des sine qua non-Aspektes) würden wir auch in möglichen Welten, in denen Billardstöße die Impulserhaltung verletzen, weiterhin von kausalen Vorgängen sprechen, z. B. wenn die Verletzung des Erhaltungssatzes selbst Regeln folgt. Aber selbst wenn das Verhalten der Billardkugel vollkommen a-deterministisch würde, z. B. die Kugel sich zuweilen auch unvorhersehbar von selbst in Bewegung setzen würde oder der Stoß mit einer anderen Kugel zu den unterschiedlichsten Ergebnissen führte, der einzelne Stoß behielte eine Familienähnlichkeit zum gewohnten Verhalten von Billardkugelntrotz einer Abweichung, deren Grad man etwa durch ein Maß für die Menge von Zusatzhypothesen bestimmen könnte, die notwendig sind, um das "abweichende" Verhalten vom Standpunkt der "normalen Kausalität" zu erklären. (Bei einer Gesamt-ImpulsVernichtung der Billardkugeln wäre eine solche Erklärung etwa: die gestoßene Kugel wurde nach dem vollkommen Unelastischen Stoß durch eine unbekannte Rückstellkraft in Ruhe gehalten.) Obgleich der Impuls der stoßenden Kugel A im a-deterministischen Fall weder hinreichend noch notwendig ist für das individuelle Verhalten der gestoßenen Kugel B, würden wir beim einzelnen Stoß wahrscheinlich von Verursachung sprechen, weil Kugel A nach unserem Eindruck irgendwie für das Verhalten der Kugel B (mit-) "verantwortlich" war (es mit-"hervorgebracht" hat, auch wenn sie das zu einem späteren Zeitpunkt vielleicht nicht mehr tun würde). Wesentlich scheint nur zu sein, daß B sich nicht so verhalten hätte, hätte A nicht zu dieser Zeit diesen bestimmten Impuls an B vermittelt. A's Verhalten war notwendig für B's Verhalten in diesem Fall und für diesen Zeitpunkt. Die Art der Erfüllung der sine qua non-Bedingungdurch kausale Vorgänge hängt also von den faktischen Gegebenheiten der Welt ab. Was ein notwendiger Bestandteil in der Menge der Anfangsbedingungen für das Eintreffen eines Ereignisses ist, ist nur relativ zu einem bestimmten Verlaufsgesetz bzw. nur relativ zu einem Einzelvorgang bestimmt. Ihre Anwendbarkeit für alle möglichen "states of affairs" macht sine qua non-Bedingungen zur Analyse kausaler Beziehungen gerade untauglich. Nehmen wir einmal mit Leibniz an, die Koppelungen von Sachverhalten in unserer Welt seien nicht nur zum Teil nomologischer (zum anderen Teil aber kontingenter) Art, sondern es bestehe eine strenge logische Beziehung zwischen allen Einzeltatsachen, so daß an irgendeiner entfernten Ecke unserer
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Welt sich ein Einzelobjekt in keinem seiner Parameter verändern kann, ohne zugleich an allen anderen Einzelobjekten der Welt instantan Veränderungen hervorzubringen. Dann hätten wir es off~nbar mit sine qua-non-Beziehungen von Einzelobjekten an endlich entfernten Punkten zu tun, die rein logisch begründet wären und daher keines Vermittlungsmechanismus bedürften. Es genügte bereits, daß Veränderungen an entfernten Punkten instantan mit der geforderten Intensität eintreten, um die einen als notwendige Bedingungen der anderen aufzufassen. Dennoch hätte sich nichts ereignet, was wir unseren üblichen Vorstellungen nach kausal nennen wollten. Der Aspekt kausaler Beziehungen, der in der Erfüllung von sine qua non-Bedingungen besteht, trägt an dieser Stelle nicht mehr, weil er mit einem anderen Aspekt von Verursachung, der Vermittlung von Wirkungen durch physikalische Mechanismen, kollidiert. Sine qua non-Bedingungen eignen sich als ausschließliche Kriterien für die Übertragung kausaler Begriffe auf hypothetische Sachverhalte deshalb nicht, weil es Beziehungen gibt, die einer sine qua non-Bedingung genügen, aber keinesfalls kausal sind. Das Dilemma besteht hier in folgendem: Einerseits legt eine semantische Analyse kausaler Beziehungen keinen engeren Begriff von Verursachung nahe als den in der sine qua non-Bedingung ausgedrückten, andererseits ist dieser Begriff schließlich doch viel zu weit. Koppelungen über endliche Distanzen, die keiner Vermittlung bedürfen, können zwar vielleicht noch metaphorisch in kausaler Sprechweise beschrieben werden. Mit dieser kausalen Sprechweise sind aber offenbar keine Hypothesen über einen natürlichen Ablauf von Prozessen verbunden. Die Welt könnte unsere naturalistischen Überzeugungen ganz beliebig verletzen und dennoch "kausal" sein. Läßt man sich auf die Reduktion des Kausalbegriffs auf gesetzesartige Beziehungen, "die eine sine qua non-Bedingung erfüllen, ein, so kann man mit diesem Kausalbegriff nichts mehr darüber aussagen, wie die Dinge in der Welt physikalisch zusammenhängen. Unser intuitiver Kausalbegriffwird dadurch verfehlt, denn im intuitiven Begriff sind definitive - wenn auch vielleicht falsche- Vorstellungen über das Zusammenwirken von Einzeldingen enthalten, die das Vorhandensein magischer Fernwirkungen ausschließen. Ein solcher Kausalbegriffwäre aber auch in dem Sinne destruktiv, daß er den intuitiven Kausalbegriff (der modifikationsbedürftig sein kann) nicht einmal zu erklären vermag. Da das "kausale Band" gar nicht thematisiert wird, kann auch nicht geklärt werden, wie unsere Vorstellung eines "kausalen Bandes" zustande kommt. Wir haben gesehen, daß Earmans "nomologischer" Kausalbegriff aus systematischen Gründen von physikalischer Gehaltlosigkeit bedroht ist, und dabei unterstellt, daß Earman als entscheidendes Kriterium der kausalen Interpretation physikalischer Gesetze eine sine qua non-Bedingung Verwendet. Es drängt sich sofort die Frage auf, ob nicht andere Merkmale physikalischer Gesetze geeignete Kriterien dafür abgeben könneri, daß die im Gesetz repräsentierten physikalischen Größen kausal verbunden sind.
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Daß man Ursachen nicht umstandslos mit Anfangsbedingungen von Gesetzen identifizieren kann, läßt sich schnell einsehen. Nicht alle Gesetze beschreiben Abhängigkeiten von Größen, die wir als kausale Abhängigkeiten verstehen können. Man denke etwa an die Abhängigkeit von Schwingungsdauer und Pendellänge beim ebenen Pendel. Wie aber findet man heraus, welche Gesetze kausalen Gehalt haben, d. h. daß bestimmte Terme in ihnen kausal verbundenen Referenzobjekten zuordenbar sind? Stegmüller6 hat solche Kriterien zur Aussonderung kausaler Gesetze angegeben. Es ist allerdings schwer einzusehen, worauf solche Kriterien wie etwa die räumliche Kontiguität der fraglichen Objekte zu stützen sein könnten, wenn nicht auf vermutete allgemeine physikalische Eigenschaften der Kausalrelation- Eigenschaften also, die begrifflich unabhängig von den sie realisierenden Gesetzesstrukturen sind. Das Problem ist, wie man wissen kann, was ein kausal interpretierbares physikalisches Gesetz ist, also ein Gesetz, das sich auf kausal verknüpfte physikalische Entitäten bezieht, ehe man weiß, was eine Kausalrelation ist, eine Relation also, die die sie erfüllenden Ereignispaare als kausal verknüpft ausweist. Voraussetzung einer kausalen Interpretation von Gesetzen scheint zu sein, daß bereits ein davon unabhängiger Kausalbegriff zur Verfügung steht. In der kausalen Interpretation eines Gesetzes unternimmt man dann den Versuch, das Verhältnis der im Gesetz auftretenden Terme zu physikalischen Größen zu klären und diese physikalischen Größen schließlich an Ereignispunkten zu lokalisieren, die aufgrunddes Inhalts der Kausalrelation kausal verbindbar sind. Gesetze, bei denen für wenigstens zwei der auftretenden Terme ein solches Verhältnis aufgedeckt werden kann, sind dann als Kausalgesetze zu bezeichnen. Kennzeichnend für diese Art der "nomologischen" Analyse der Kausalität ist, daß die Kausalrelation als ein von physikalischer Gesetzesartigkeit unabhängiges Faktum angesehen wird. Die Suche nach einem Kriterium für kausale Gesetze ist also der Klärung der physikalischen Natur der Kausalrelation logisch nachgeordnet Darin drückt sich die Überzeugung aus, daß es keinen genuin nomologischen Zugang zur Lösung des Kausalproblems geben kann. Betrachten wir den dazu entgegengesetzten nomologischen Kausalbegriff
J. Earmans nun noch einmal unter seinen eigenen Voraussetzungen. Für J.
Earman 7 ist Verursachung im Sinne einer generellen physikalischen Beziehung unabhängig von nomologischen Kontexten "a matter of death". Mit seiner Konzeption zielt Earman gerade auf die Destruktion eines allgemeinen Kausalbegriffes ab. Nach Earman8 kann es einen wohlbestimmten Kausalbe6 W. Stegmüller: Das Problem der Kausalität, in: L. Krüger (Hrsg.): Erkenntnisprobleme der Naturwissenschaften. Köln 1970, S. 157-173; vgl. H. Feig!: Notes on Causality, op. cit., S. 408-418. 7 J. Earman: Causation: A Matter of Life and Death. Journal of Philosophy 73 (1976), s. 5-25. 8 J. Earman: wie oben.
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griff zunächst nur bezüglich eines nomologischen Kontextes (z. B. gravitative oder schwache Wechselwirkung) geben. Mögliche Vereinheitlichungen für die verschiedenen kausalen Konzepte besitzen einen physikalisch kontingentenStatusund können daher philosophisch nicht antizipiert werden. Um die verschiedenen Kausalbegriffe als Formen der Verursachung identifizieren zu können, benötigt man natürlich irgendein identifizierendes Kriterium. Inhaltliche Kriterien, d. h. solche, die sich auf physikalische Eigenschaften realer Systeme beziehen, kommen nicht in Frage; könnten sie doch gerade geeignet sein, einen allgemeinen Kausalbegriff zu konstituieren. Was bleibt, sind Kriterien, die sich auf die logische Struktur der Gesetzesterme beziehen. Wie bereits erwähnt, spielen sine qua non-Bedingungen für Earman die Rolle kausaler Kriterien. Die inneren Schwierigkeiten dieser Position zeigen sich an Earmans kausaler Deutung der Abraham-Lorentz9-Gleichung der klassischen Elektrodynamik. Um nämlich zunächst einmal geeignete Kandidaten zu finden, auf die die sine quanon-Bedingungangewendet werden kann, müßte man schon Auswahlkriterien für kausale Agentien in der Hand halten. Denn diese bloß formale Bedingung ist, wie wir schon bemerkten, nicht auf kausale Prozesse spezifiziert. Wäre das anders, müßte die Kausalrelation sich in eine rein logische Beziehung auflösen lassen. Earman deutet die AbrahamLorentz-Gleichung als einen Fall von Retro-Kausalität, weil eine Variation der Kraft zu einem späteren Zeitpunkt mit einer Variation in der Beschleunigung zu einem früheren Zeitpunkt logisch verknüpft ist. In seiner Kritik dieser Deutung zielt Grünbaum 10 nun gerade auf Earmans Willkür in der Auswahl der kausalen Agentien. Über ein kausales Wissen muß man schon verfügen, um erkennen zu können, welche Terme eines Gesetzes als kausal verbunden überhaupt in Frage kommen. Wegen der Vielfalt epistemischer Funktionen eines Gesetzes - Erklärung, Retrodiktion, Vorhersage, Beschreibung realer Prozesse - bei der jeweils Paare von Termen in einen spezifischen Bezug gesetzt werden, sind kausale Bezugsgrößen auch keineswegs schon aufgrund ihrer physikalischen Standardsemantik aus einem Gesetz "abzulesen". "Kraft" und "Beschleunigung" stehen nicht in jedem Gesetz und unter allen Umständen in einer kausalen Beziehung. Umgekehrt können auch Größen, die lediglich in retrodiktivem Sinn miteinander verbunden sind, eine sine qua non-Bedingung erfüllen. Fassen wir zusammen, was sich über die Eignung der sine qua non-Bedingung im Zusammenhang einer Rekonstruktion des physikalischen Kausalbegriffs sagen läßt. In der formalen sine qua non-Bedingung kommen nicht die charakteristischen Eigenschaften der Kausalrelation zum Ausdruck; diese müssen von außen als kausales Wissen eingeführt werden. Erst mithilfe dieses Wissens kann eine Gesetzesstruktur darauf untersucht werden, ob und Vgl. z. 8.: J . D. J ackson: Classical Electrodynamics. New York 1962, S. 786 ff. A. Grünbaum: ls Pre-acceleration of Particles in Dirac's Electrodynamics a Case of Backward Causation? Philosophy of Science Vol. 43, No. 2 (1976), S. 165-201. 9
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welche kausalen Aussagen sich mit ihr verbinden lassen. Die Rolle der sine qua non-Analyse ist eher die der Bestätigung für eine schon aufgedeckte kausale Beziehung. Denn sie präsentiert zwar kein hinreichendes, ja im Prinzip nicht einmal notwendiges Merkmal der Kausalrelation, deckt aber in der Praxis oft ein wichtiges Indiz kausaler Beziehungen auf. Die bisherigen Bemerkungen zur Kausalanalyse betrafen eher die epistemische Seite. Wie aber stellt sich etwa Earman nun die Ontologie der Kausalrelation(en) vor, wenn ihre Eigenschaften vollständig von dem jeweiligen Gesetzeskontext bestimmt werden? Mit dem Satz "Ereignis A ist die Ursache von Ereignis B" ist für Earman durchaus ein objektiver Sachverhalt verknüpft. Die kausalen Prädikate entsprechen hier keiner fa to fehlen. Überträgt jedoch B zur Zeit t = to seinen Impuls vergangenheitsgerichtet an A, so kann man nicht analog schließen, daß B dieses Impulsquantum zu Zeiten t > to fehlen wird. Denn in diesem Fall ist B's Besitz des Impulsquantums zu einer Zeit 11 > to notwendige Bedingung dafür, daß B dieses Impulsquantum auch zur Zeit t = to besitzt und an A übertragen kann (Ebenso wie im Fall der üblichen Kausalität A's Besitz des Impulses zu einer Zeit t-1 < to notwendige Bedingung für die Übertragung an B zur Zeit t = to ist). Die
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kinetische Energie besitzen. Es werden durch die beiden beschriebenen Situationen verschiedene kontrafaktische Sätze über das zukünftige Verhalten der Agentien bestätigt. Dies markiert einen ontologischen Unterschied der beiden Situationen, ohne daß man automatisch in der Lage sein müßte, sie isoliert für sich genommen epistemisch zu unterscheiden. Retrokausalität ist also im Prinzip empirisch identifizierbar. Dadurch macht es objektiv Sinn, im Falle eines rückwärts gerichteten Energieflusses von b nach a nicht von der Ursache a und der Wirkung b zu reden, sondern b als Ursache und a als Wirkung zu bezeichnen. Man kann der Retrokausalität die begriffliche Möglichkeit nicht absprechen anders als einem Energiefluß ohne zeitliche Gerichtetheit- aber sie wird eben in den gegenwärtigen Theorien nicht realisiert. E.: Eben diese begriffliche Möglichkeit ist doch das Entscheidende. Wie gesagt, Sie machen Ihren Kausalbegriff von der faktischen Geltung von Gesetzen abhängig, während ich dafür plädiere, alle begrifflichen Möglichkeiten in unsere naturphilosophischen Begriffe aufzunehmen. F.: Gegen ein solches Vorgehen möchte ich zusammenfassend vier Punkte einwenden: I. Es ist in einem ganz praktischen Sinn unrealistisch. Unsere naturphilosophischen Begriffe entstehen nicht unabhängig von geltenden Theorien, sondern fassen deren allgemeinste Züge zusammen und sind mit ihnen fallibel. 2. Bei aller Vorläufigkeit, eine physikalische Normierung des Kausalbegriffs hat denselben Status wie eine Normierung des Temperaturbegriffs in der statistischen Thermodynamik. Sie kann sich als adäquat herausstellen, d. h. man kann die Identität der Eigenschaften bestätigt finden, die der normierte und der normierende Begriff beinhalten. In diesem Fall muß mit "metaphysischer Notwendigkeit" (im Sinne Kripkes) gelten, daß Kausalität wesentlich als ein zeitlich gerichteter Energie-Impuls-Transfer zwischen benachbarten Ereignispunkten bestimmt ist. 3. Die Fallibilität dieser Rekonstruktion besteht darin, daß man u. U. den Begriff des Energie-Transfers noch verallgemeinern kann, um damit kausale Prozesse zu kennzeichnen, die gewisse Eigenschaften jener kausalen Prozesse nicht teilen, die zunächst bei der Rekonstruktion berücksichtigt wurden. Es würde sich dann um eine Art kontrollierter Begriffsmodifikation handeln -die zum einen darin bestehen kann, alle von der gegenwärtig verfügbaren Theorie zugelassenen Prozesse einzubeziehen (ein Beispiel sind die CTL in der AR), und zum anderen darin, Eigenschaften des Normierungsmodells abzutrennen, die zwar nicht theoretisch ausgeschlossen, aber nicht begrifflich im Modell enthalten sind (Beispiel: Energieerhaltungssatz). 4. Davon ist die von Ihnen geforderte unkontrollierte Begriffserweiterung zu unterscheiden. Wenn Sie fordern, daß der Kausalbegriff nicht so stark spezifiziert werden darf, daß er nicht mehr in allen Welten anwendbar ist, die man sich vorstellen kann, so machen Sie ihn epistemisch unkenntlich -denn wie erkennen Sie dann noch, was in Ihren Gedankenexperimenten ein kausaler Prozeß ist? - und Sie entwerten ihn ontologisch. Am Ende sind Sie da angelangt, wo schon Hume stand: Kausalität als nomologische Beziehung, bei der der eine Teilnehoben diskutierten Sachverhalte zeigen also keinen Unterschied auf der Phänomenebene; man muß sich darauf verlassen, daß die empirisch gestützte zeitliche Orientierung der Welt die Richtung der Kausalrelation auszeichnet. Es bleibt aber richtig, daß die Gerichtetheit der Kausalrelation ontologisch objektivierbar ist; sie ist jedoch nicht schon auf der episte>mischen Ebene gegenüber möglicher Retrokausalität identifizierbar.
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mer notwendige Bedingung für das Auftreten des anderen ist. Die Schwierigkeiten mit einer adäquaten Präzisierung dieser Notwendigkeit und mit der Unterscheidung von nichtkausalen nomischen Beziehungen sind ja hinlänglich bekannt. Entweder kann man darauf bestehen, unsere Begriffe sollten anwendbar bleiben in allen denkmöglichen Welten; oder man versucht, innerhalb unseres Theorienhorizonts Sinn aus ihnen zu machen, d. h. sie ontologisch- vermittelt über unsere Theorien - zu deuten. R. 37 : Mit scheint, die Diskussion hat sich festgefressen, weil sie auf metaphysische Grundsatzentscheidungen geführt hat: Kausalbegriff für alle denkmöglichen Welten oder nur für den Geltungsbereich unserer Theorien, Anwendbarkeit des Kripke-Arguments ja oder nein, Vorzüge und Tücken von Kripkes Begriff der wesentlichen Eigenschaften, die Behandlungall dieser Fragen hängt zu sehr von unserer Einschätzung des Funktionierens der theoretischen Erkenntnis und unserer Sicht der ontologischen Verfassung der Welt ab, als daß hieraus mehr deutlich werden kann als die philosophischen Hintergründe von Fairs Zustimmung und Earmans Ablehnung des Transfer-Modells. Es sollte doch aber ursprünglich geklärt werden, ob das Energie-Transfer-Modell durchführbar ist oder nicht, und ob es einen Erkenntnisvorteil gegenüber früheren Analysen der Kausalrelation bietet. Die Antwort daraufhätte dann indirekt bestätigende oder destruierende Implikationen für die jeweiligen philosophischen Hintergrundstheorien. Um das Diskussionsschiffwieder flott zu bekommen, schlage ich daher vor, sich jetzt darum zu kümmern, worin die Anwendung des Transfer-Modells besteht. Es sollte also um folgende Frage gehen: Wenn ich einen physikalischen Vorgang phänomenologisch gegeben habe, welche begriffliche Arbeit leistet das Transfer-Modell dann an diesem Material, welches Wissen wird dabei schon vorausgesetzt und auf welche Weise wird durch die Anwendung des Modells unser Wissen über den betrachteten Vorgang vertieft? Zunächst möchte ich mich der Frage zuwenden, was das Transfer-Modell leistet, um den kausalen Charakter von phänomenal gegebenen Prozessen aufzudecken. Ich werde dies, wie ich von vorneherein zugebe, von einer Position der Skepsis tun, von der aus zweifelhaft ist, daß es hier überhaupt etwas aufzudecken gibt. Oder anders ausgedrückt: mit dem Argwohn, daß alles, was wir da aufdecken können, nichts anderes ist als unser eigener begrifflicher Beitrag, der irreduzibel in die Transfer-Analyse und alle anderen "Lösungen" des Kausalproblems einfließt.
TEIL II: KAUSALONTOLOGIE ODER EPISTEMISCHE RELATIVITÄT DER KAUSALITÄT? (A. ROSENBERG KONTRA J . ARONSON) R.: Ich behaupte: Ihr Modell des Energie-Transfers 38 bietet keine Lösung des Kausalproblems, die über Humes Analyse hinausginge. Denn wie bestimmen Sie denn die Richtung der Verursachung? Doch nicht anders als durch Identifizieren 37 Diese Anknüpfung Rosenbergs ist frei erfunden, wenn auch, wie ich hoffe, kohärent zu seiner Position. 38 Bezieht sich auf den Aronson-Text: Untangling Ontology from Epistemology in Causation. Erkenntnis 18 (1982), S. 293-307.
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eines Objektes, das eine ausgezeichnete Größe, die Transfergröße, zu einem früheren Zeitpunkt besitzt als ein benachbartes Objekt. Es gibt aber Fälle, in denen diese Größe selbst nur identifiziert werden kann aufgrund ihrer Eigenschaft, eben dem Ursache-Objekt zu einem früheren Zeitpunkt anzugehören. Sie müssen dann schon ein kausales Urteil gefällt haben, ehe Sie jene Eigenschaft feststellen können, die Ihnen erlauben soll, die Richtung der kausalen Beziehung anzugeben. So ist es z. B. bei zwei miteinander verbundenen Zahnrädern in der Bewegung unmöglich, zu bestimmen, daß Zahnrad a kinetische Energie an Zahnrad b transferiert, ohne schon vorausgesetzt zu haben, daß a die Ursache von b's Bewegung ist. Dieses Beispiel zeigt, daß Ihr Transfer-Modell nichts zur Erkennung einer Kausalrelation beiträgt - Sie können damit bestenfalls das Vorliegen einer Kausalrelation nachträglich bestätigen. A.: In dem von Ihnen genannten Beispiel ist es nicht nur im Prinzip möglich (was ausreich,end wäre), sondern sogar praktisch möglich, die Richtung des Transfers ohne vorherige kausale Annahmen zu bestimmen. Wir brauchen nur zu zwei verschiedenen Zeitpunkten t1 und t2 der Bewegung die Zahnräder voneinander zu trennen und das Drehmoment der beiden Zahnräder zu messen. Wenn wir das Trägheitsmoment der Zahnräder kennen und den Drehimpuls-Erhaltungssatz anwenden, so sind wir damit in der Lage, zu bestimmen, welches Zahnrad welchen Drehimpuls an das andere abgegeben hat 39 • Aber selbst wenn wir in einigen Fällen tatsächlich nicht fähig wären, die Richtung des Transfers ohne vorheriges kausales Wissen festzustellen, so betrifft das doch nur die epistemische Situation. Sie erwarten von dem Transfer-Modell, daß es die Rolle des Detektors kausaler Beziehungen spielen soll. Sie denken an das Rumesche Problem der Kausalität, das ein epistemisches Problem ist. Das Transfer-Modell soll aber einen Vorschlag bezüglich der Ontologie der Kausalrelation darstellen und dieser Vorschlag enthält nicht von vorneherein eine Lösung für die Frage, nach welcher Methode wir kausale Beziehungen feststellen können. R.: Gut, aber dann müßte Ihr Transfer-Modell doch wenigstens eindeutig die kausale Richtung festlegen, so daß wir- jenseits aller epistemischen Schwierigkeiten- wenigstens im Prinzip davon Kenntnis nehmen könnten, wenn der Energietransfer statt von a nach bin Zukunftsrichtung in Wirklichkeit von b nach a in Vergangenheitsrichtung liefe. Hier aber scheint es eine prinzipielle Wissensgrenze zu geben, die jede Ihrer ontologischen Aussagen zur Kausalrichtung mithilfe des Transfer-Modells mit einem Willkür-Moment belastet. In jedem Fall, in dem Sie sagen, daß in der Realität das Ereignis a das Ereignis b verursacht - durch einen Energietransfer in Zukunftsrichtung nach b, könnten Sie ebensogut sagen, a verursache b durch einen Energietransfer von b nach a in Vergangenheitsrichtung40 • Ihre ontologischen Aussagen enthalten also ein irreduzibles konventionelles Element, das auf dem selbst nicht empirisch testbaren Vorurteil aufruht, die kausale Wirkungsübertragung geschehe in Richtung von der Vergangenheit in die Zukunft. Nicht daß ich die Berechtigung dieses Vorurteils in Zweifel ziehen möchte, aber in diesem wesentlichen Punkt ist doch der empirische Charakter Ihrer Transfer-Analyse nur scheinbar. 39 Eine Identifizierung des" wirkenden" Zahnrades ist auch ohne Trennung der Zahnräder möglich, wenn es zwischen den Zahnrädern ein Spiel gibt. Das "wirkende" Zahnrad nutzt das Spiel in Drehrichtung aus. 40 Ein vergangenheitsgerichteter Photonenstrahl, der in einem "rückwärts laufenden Film" von meinem Auge zur Sonne läuft, liefert für jeden Raumzeitpunkt dieselbe Energie wie der üblich gerichtete Vorgang.
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A.: Nun, auch in diesem Argument vermischen Sie wieder die epistemische und die ontologische Ebene. Es mag schon sein, daß mir die Tatsache, daß in Wirklichkeit ein vergangenheitsgerichteter Energiefluß von b nach a stattfindet, irgendwie verborgen bleibt und ich weiter davon spreche, a verursache b. Aber in diesem Fall habe ich mich dann eben getäuscht; in Wahrheit hat dann eine kausale Wirkungsübertragung von b nach a, also eine Rückwärtsverursachung stattgefunden, auch wenn ich vielleicht nie davon wissen werde- z. B. weil ich so fest an dasVorurteilder vorwärtsgerichteten Kausalität glaube. Das liegt aber nicht an einem, wie Sie sagen, konventionellen Element des Transfer-Modells. Nach dem Transfer-Modell haben wir hier nicht eine, sondern zwei Transfer-Situationen vor uns, nämlich den Transfer von a nach bundjenen von b nach a. Es ist nicht zutreffend, daß wir Paaren von Objekten oder Ereignissen verschieden gerichtete Energie-Transfers zusprechen können, ohne damit zugleich auch verschiedene physikalische Sachverhalte zu beschreiben. Für den Fall der Verursachung durch positiven vorwärts gerichteten oder positiven rückwärts gerichteten Energietransfer kann man das daran erkennen, daß (wie bereits Fair gegenüber Earman feststellte) beide Beschreibungen verschiedene kontrafaktische Sätze bestätigen. b wird sich in der Zukunft verschieden verhalten, je nachdem, ob dieses Objekt einen positiven Kraftstoß erhalten oder aber Energie in die Vergangenheit nach a abgegeben hat41 . Ein Zusprechen verschieden gerichteter Energietransfers bedeutet also ein Urteilen über ontologisch verschiedene Sachverhalte. R.: Ich möchte meinen Einwand noch einmal ganz unabhängig von der Frage formulieren, was wir von kausalen Beziehungen wissen oder wissen können. Ist es nicht so, daß Sie einem Paar von Objekten (a, b) einen Transfer so zuschreiben, daß dieser Transfer in Zukunftsrichtung weist? Wo liegt nun der empirische Gehalt bei diesem Zuschreiben der Transfer-Größe? Könnten Sie nicht ebensogut, wie Sie dem Paar (a, b) einen Transfer von positiver kinetischer Energie in Zukunftsrichtung zuordnen, demselben Paar auch einen Transfer negativer kinetischer Energie in Vergangenheitsrichtung zuschreiben42? Alle kontrafaktischen Sätze über die Zukunft von b, die beim "üblichen" Transfer positiver Energie wahr sind, würden dann wahr bleiben. Ihr Argument, das sich auf eine prinzipielle Unterscheidbarkeit der Situationen beruft, wäre hinfallig. Um Ihr Modell anzuwenden, müssen Sie also vorher eine Unterteilung physikalischer Größen getroffen haben in solche, deren Transfer die Richtung kausaler Wirkungsübertragungen festlegen kann, und solche, die dafür nicht geeignet sind. Im Kriterium dieser Unterteilung steckt Ihr nichtphysikalisches kausales Wissen. Die Beschreibung eines kausalen Vorganges durch eine Transfergröße ist daher nur eine nochmalige Bestätigung der schon vorher begrifflicherfaßten UrsacheWirkungs-Relation. Es ist nicht nur nicht leichter, den kausalen Transfer zu entdecken, als die Ursache eines Ereignisses zu finden, sondern die Zuschreibung eines solchen Transfers ist begrifflich gar nichts anderes als eine Reformulierung eines schon anderswie getroffenen kausalen Urteils. A.: Ich akzeptiere, daß Sie Ihrem Einwand jetzt eine nicht-epistemologische Wendung gegeben haben. Sie sind der Meinung, daß sich schon immer eine geeignete Vgl. die Analyse von Kline, die zeigt, daß Aronson in diesem Punkt irrt. Das Gedankenexperiment beschränkt sich hier auf den Moment der Impulsübertragung. Für alle übrigen raumzeitlichen Stellen läuft der Film, der die Billardkugeln in Bewegung zeigt, in dieser Version vorwärts ab. 41
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Transfergröße werde finden lassen, die in das Schema vorwärtsgerichteter Verursachung hineinpaßt. Dazu ist zunächst zu sagen, daß negative Größen (wie die von Ihnen beschworene negative kinetische Energie) in der Physik nicht rein willkürlich eingeführt werden können, sondern sich nach bestimmten methodologischen Regeln als reale Größen bewähren müssen; ich erwähne nur stichwortartig das Beispiel der Einführung des Positrons43 . Es liegt bei Ihnen, zu zeigen, daß negative kinetische Energie eine respektable, eigenständige physikalische Größe sein kann. Anderenfalls beruht die Ununterscheidbarkeit der Situationen, mit der Sie argumentieren, auf einem bloßen sprachlichen Trick. D. 44 : Der Angriffspunkt bei R 's Argument war doch der folgende: Die Spezifikation einer physikalischen Größe als Transfergröße in Ihrem Modell setzt bereits kausales Wissen voraus. Ohne dieses Wissen, so versuchteR. zu zeigen, hätte man eine ganze Reihe von Transfergrößen gleichberechtigt zur Verfügung. Die Symmetriebrechung zwischen ihnen erfolgt aufgrund der im Transfer-Modell apriorisch enthaltenen Zukunftsgerichtetheit der Kausalrelation. Diese Gerichtetheit- soweit bestätigt R. Humes Kausalanalyse- wird niemals eigentlich "entdeckt". Ich habe nicht vor, R's Argumente zu wiederholen. Sie waren zwar nicht falsch, konnten sich aber in der Diskussion nicht durchsetzen, weil sie zu wenig intern ansetzten, d. h., nicht die physikalisch tatsächlich für den Transfer in Frage kommenden Größen unter die Lupe nahmen. Aronson hatte nur deshalb leichtes Spiel, weil er seine favorisierte Größe der positiven kinetischen Energie nur gegen Alternativgrößen in Gedankenexperimenten zu verteidigen hatte, ohne daß die Adäquatheit der von ihm beanspruchten Transfergröße überhaupt zur Debatte stand. Doch die entscheidende Frage ist, ob es überhaupt physikalische Größen der Art gibt, wie sie Aronson umstandslos voraussetzt. Er tut so, als sei die Physik von vorneherein verpflichtet, Größen auszuzeichnen, die in sein so plausibles Kausalmodell hineinpassen. R's richtiges, aber schlecht gestütztes Argument des apriorischen oder Vorurteils-Charakters des Transfer-Modells möchte ich nun durch eine interne Kritik verschärfen. Um die These vorwegzunehmen: Es gibt gar keine kausalen Transfergrößen im Sinne Aronsons. Die Physik ist in ihren funktionalen Bezügen viel subtiler, als es das Transfer-Modell ahnen läßt; sie bestätigt unsere grobsinnlichen kausalen Vorstellungen nur unter besonderen Bedingungen und in beschränktem Ausmaß. Als Beispiel werde ich den Poynting-Vektor wählen, den "Energiefluß"Vektor der Elektrodynamik. Ich werde zeigen, daß diese Größe sich dem Versuch, mittels des Transfer-Modells kausale Vorgänge der Elektrodynamik mit ihr zu erklären, lebhaft widersetzt.
TEIL III: PASST DER PHYSIKALISCHE ENERGIEFLUSSVEKTOR AUF UNSEREN KAUSALBEGRIFF? (D. DIEKS KONTRA KOMMENTATOR45) D.: Ich möchte Sie darauf aufmerksam machen, daß der Energiefluß in der Physik im allgemeinen in seinen formalen Eigenschaften nicht immer dem genügt, was N. R. Hanson: The Concept of the Positron. Cambridge 1963. (D) = Dennis Dieks. 45 Kommentator (K) trägt die Gegenargumente des Verfassers auf Dieks' Einwände' gegen die Energietransfer-Analyse vor. Diese Gegenargumente entstammen nicht der Literatur. 43 44
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K.:
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Die physikalische Realisierung des Energie-Transfer-Modells man aufgrund der allgemeinen Auffassung von Verursachung nach Ihrem Transfer-Modell von ihm erwarten müßte. Eine Reduktion der Kausalrelation auf Energietransfer muß deshalb stets teilweise inadäquat bleiben. In der Transfer-Analyse können wir daher nur eine Alternativformulierung der kausalen Sprechweise für einige geeignete Fälle erblicken. Der ontologische Anspruch, der mit ihr verknüpft wird, ist ein Relikt aus der Zeit, in der Naturphilosophen vom grünen Tisch aus die Physik interpretierten. Ich vertrete dagegen einen internen Standpunkt: die physikalischen Terme in den modernen Theorien haben spezifische technische Bedeutungen, die sich nicht in vorgefertigte naturphilosophische Konzepte einfügen lassen. Bevor Sie Ihre Behauptungen zu belegen versuchen, möchte ich Sie meinerseits darauf aufmerksam machen, daß theoretische Rekonstruktionen keineswegs alle möglichen common-sense-Urteile, Eigenschaften, die wir in gewissen kausalen Urteilen als selbstverständlich voraussetzen, bestätigen müssen. Was sie leisten müssen, ist die Bereitstellung eines Rahmens, innerhalb dessen wir z. B. verstehen können, weshalb wir im Alltag gewisse Beziehungen mit kausalen Begriffen beschreiben, obgleich sie im strengen Sinne nicht kausal sind. Statt einer Widerrede das erste Beispiel. Es wird zeigen, daß der physikalische Energiefluß in wenigstens einem Fall nicht als Explanans der Kausalrelation in Frage kommt: es ist der Fall des Massenspektrographen, bei dem sich zwei statische Felder überlagern, ein elektrisches (E-Feld) und ein magnetisches (11-Feld), die räumlich homogen und nicht parallel sind. Aufgrund des nichtverschwindenden Winkels zwischen den E- und den 11-Feldvektoren ergibt sich für den Poynting-VektorS= EX 11 an jedem Punkt ein nicht-verschwindender Betrag. Der Poynting-Vektor aber gibt in der Elektrodynamik die in einem Volumen durch die Oberfläche ein- oder ausfließende Feldenergie wieder, d. h. er repräsentiert den "Energiefluß" im technischen Sinne der Physik. Das NichtVerschwinden des Poynting-Vektors bedeutet also einen Energiefluß im Bereich der überlagerten Felder, obgleich doch offenbar in diesem völlig statischen Fall keine Änderung des Energieinhalts in irgendeinem Volumen auftritt. Der Detektor "Energie-Transfer" schlägt also an, ohne daß ein kausaler Transfer in irgendeinem vernünftigen Sinne vorhanden wäre. Der Poynting-Vektor ist also nur in einer begrenzten Klasse von Fällen tatsächlich ein "Energiefluß-Vektor"; seine Identität erhält er nicht als Repräsentant der anschaulichen Vorstellung des "Energieflusses", sondern durch seine Rolle im mathematischen Gebäude der Theorie. Gerade Sie habenjetzt-ganz gegen Ihren Anspruch auf eine "interne" Behandlung physikalischer Terme- die Sorgfalt verletzt, die man bei physikalistischen Rekonstruktionen aufbringen muß. Daß der Poynting-Vektor in gewisser Weise "der" Energieflußvektor der Elektrodynamik ist, heißt noch nicht, daß er in jedem Fall die kausale Transfergröße darstellt. Was er tatsächlich repräsentieren kann, läßt sich nur aus seiner Herleitung, d. h. aus seiner formal hergeleiteten Rolle in der Theorie ersehen. Nicht alles, was "Energiefluß" genannt werden kann, ist schon eo ipso der Kandidat für die Rolle der "Transfergröße" im Transfer-Modell der Kausalität. Zu Ihrem Beispiel: Freilich gibt es hier keine zeitliche Änderung der Feldgrößen, also keine Feldschwingungen und daher offensichtlich keinen Energiefluß. Sie behaupten nun, das Nicht-Verschwinden des Poynting-Vektors zeige einen Energiefluß an. Beachten Sie aber einmal die Herleitung des Poynting-Theorems aus den Maxwell-Gieichungen46 ; Sie werden sehen, daß der Poynting-Vektor S - Vgl. J. D. Jackson: Classical Electrodynamics. New York 1962, 2. Aufl., S. 236.
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nur mit seiner Divergenz als Term in die Gleichungen eingeht. Man kann dem Ausdruck S also stets ohne Änderung der Gleichung- und damit ohne Änderung des durch die Gleichung beschriebenen Sachverhalts- die Rotation eines beliebigen Vektors hinzufügen. Die Divergenz der Rotation eines Vektors verschwindet ja bekanntlich und so ändert sich durch Hinzufügen der Rotation eines Vektors nichts an der Divergenz des Poynting-Vektors. Da der PoyntingVektor also selbst sozusagen nur bis auf Divergenz bestimmt ist, kann man ihm im besonderen jeden homogenen Feldfluß hinzufügen, ohne an der beschriebenen physikalischen Situation etwas zu ändern. Anders gesagt: ein homogener
Fluß S = i X ii, der ja ein verschwindendes Oberflächenintegral f SJ F = F f div S- dv besitzt, hat keine physikalisch-referentielle Bedeutung. Nur der Term V
D.:
K.:
D.:
div (EX ii) stellt eine physikalische Größe dar. Verschwindet dieser Term nicht, so existiert in einem Volumen eine echte Inhomogenität der Feldenergie, ein Netto-Abfluß oder -Zufluß; EX H=I=O bedeutet also auch in Punkto Kausalität solange nichts, wie Div (EX ii) = 0, und dies ist genau der Fall beim statischen Massenspektrographen. Da nicht E X ii, sondern div (E X ii) der relevante Detektor ist, zeigtE X ii =I= 0 in diesem Fall keinen physikalischen Energiefluß an, was damit übereinstimmt, daß im Feld kein kausaler Vorgang übermittelt wird. Was aber soll der AusdruckE X ii in einem Fall darstellen, in dem tatsächlich Kräfte durch das Überlagerungsfeld ausgeübt, d. h. geladene Teilchen im Feld beschleunigt werden? In diesem Fall muß doch E X ii eine kausale Rolle übernehmen. Wird es damit nicht fallabhängig, ob der Poynting-Vektor kausal interpretierbar ist oder nicht?47 Bringt man in das überlagerte E- und ii-Feld Ladungen ein, so werden diese spiralartig beschleunigt bewegt; sie erfahren eine Driftbewegung48 mit der Geschwindigkeit Ü=E X HIB 2 , d. h. die an die Teilchen übertragene Bewegungsenergie entspricht dem durch den Poynting-Vektor EX ii gegebenen Feldenergie-Verlust. E X ii beschreibt die Feldschwingung, die durch die lokalen Inhomogenitäten der Feldenergie aufgrunddes Energietransfers an die Teilchen hervorgerufen wird. EX ii kompensiert sozusagen an jedem Punkt das lokale Feldenergieloch, das der Transfer Feld - Materie hinterläßt. EX ii spielt jetzt nur deshalb eine kausale Rolle, weil das Feld Inhomogenitäten enthält, also div (E X ii) =1=0 ist, d. h. die kausale Interpretation des Poynting-Vektors ist nicht fallabhängig. Sie wollen, für div S =1=0, S als fallunabhängige kausale Transfergröße verwenden. Nun, wenn das durchführbar ist, so muß doch in einem stromführenden Leiter, in dem Wärme durch Reibung der Leitungselektronen am Material entsteht, S E X ii die nach außen durch die Oberfläche des Leiters als Wärmeenergie hinaustretende, "verlorene" Feldenergie darstellen. Aber ganz gegen diese Erwartung zeigt S bei einem stromführenden Leiter von außen auf die Leiteroberfläche hin. Und dies läuft unserer kausalen Intuition für diesen Fall doch ganz zuwider! Der Konflikt mit der Intuition tritt nur dann auf, wenn man S als Repräsentanten der abfließenden Wärmeenergie auffaßt. Im Fall des stromführenden Leiters müssen wir einsehen, daß diese Interpretation voreilig war. Natürlich entsteht
=
K.:
47 Diese Einwendung geht nicht auf eine Äußerung von Dieks zurück, sondern erscheint an dieser Stelle lediglich plausibel. 48 Vgl. J. D. Jackson: Classical Electrodynamics, op. cit., S. 583.
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Die physikalische Realisierung des Energie-Transfer-Modells die Wärme durch Reibung der Leiterelektronen am Material. Man kann also den Vorgang in der Form ,.Feldenergie - kinetische Energie der Elektronen + Wärmeenergie" beschreiben. Für diese Bilanz spielt der Poynting-Vektor offenbar keine Rolle. In einer anderen Bilanz kann man die an den Ladungen geleistete Arbeit in Bezug zur gesamten elektromagnetischen Feldenergie setzen. Darin beschreibt S den Teil des Feldenergie-Flusses, der nicht als Arbeit an die Ladungen vermittelt wird, sondern als Wärme im Leiter in Erscheinung tritt. Die Wärme ist innerhalb dieser Bilanz also die in den Leiter transportierte elektromagnetische Feldenergie. Wie im Fall des statischen Massenspektrographen kompensiert die dem Poynting-Vektor entsprechende Feldschwingung die Inhomogenitäten der Feldenergie, die im Leiter durch den Transfer in Bewegungsenergie von Elektronen auftreten. Bei einem vollkommen homogenen Transfer wie bei der Supraleitung, bei der keine Reibung mehr auftritt, muß daher S = 0 sein; es entsteht dann keine Wärme. Wie in Ihrem ersten Beispiel zeigt sich der Poynting-Vektor nicht als Repräsentant ,.des" elektromagnetischen Energieflusses. Ganz allgemein wird der kausale Transfer ja durch den Energie-Impuls-Tensor, multipliziert mit einem zeitartigen Killing-Vektor, bewerkstelligt. Der Poynting-Vektor nimmt lediglich die gemischten raumzeitlichen Komponenten des elektromagnetischen Energie-Impuls-Tensors ein. Diese sind nur dann ungleich Null, wenn es zeitlich veränderliche Feldgrößen gibt, also elektromagnetische Strahlung oder, wenn ein statisches Feld in einem beschleunigten Bezugssystem beschrieben wird - was gleichbedeutend ist mit dem Auftreten eines H-Feldes in diesem Bezugssystem. Ob es Poynting-Energieströmung (Feldimpuls) gibt, ist also nicht in jedem Fall bezugssystemunabhängig, nämlich dann nicht, wenn das I:i-Feld "wegtransformiert" werden kann. Für den Transfer von Feldenergie in Bewegungsenergie von Ladungsträgern kommt der Poynting-Vektor nicht in Betracht, sondern die räumlichen Komponenten des Energie-Impulstensors, die im Spannungstensor zusammengefaßt sind. Aus alldem wird klar, daß der Poynting-Vektor nicht ,.der" Energiefluß-Vektor der Elektrodynamik ist. Er ist statt dessen ,.der unmittelbare Ausdruck für die Möglichkeit einer Energieübertragung in Form von Strahlung" 49 • Kausale Intuitionen und Transfergrößen können nur da auseinanderklaffen, wo der Geltungsbereich dieser Transfergrößen nicht deutlich abgegrenzt wird und nicht geklärt ist, was genau durch sie beschrieben wird. Es mag aber sein, daß auch nach der Klärung intuitiv unplausibel erscheint, daß die Wärme im Leiter eine Wirkung der von außen einströmenden Feldenergie ist. In diesem Fall müssen wir unsere kausalen Intuitionen aufgrund des Aussagegehalts der Gleichungen zurechtrücken lassen. Die Gleichungen besagen hier eben nicht, daß die gesamte Feldenergie in kinetische Energie verwandelt wird - worauf diese dann in Bewegungsenergie und dissipierte Wärmeenergie aufspaltet- sondern, daß ein Teil der Feldenergie in kinetische Energie übergeht, der andere Teil aber als Wärmeenergie am Ladungsträger ankommt. Sie haben also ein Beispiel angeführt, in dem die Energietransfer-Analyse der Kausalität kausale Intuitionen zu modifizieren vermag.
49
Becker/Sauter: Theorie der Elektrizität. Band I. Stuttgart 1973, S. 148.
I. Diskussion um die Anwendbarkeit des Transfer-Modells in der Physik
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SCHLUSSKOMMENTAR
In dem dreiteiligen Dialog sollten drei wesentliche Thesen zur physikalistischen Kausalanalyse verdeutlicht werden: l. Die Forderung nach Ausweitung des Kausalbegriffs auf alle (denk-) möglichen Welten sprengt jeden Kriterienkatalog zur Fixierung einer Kausalrelation. Kausalität wird hier als synonym mit beliebigen Arten gesetzesartiger Koppelungen verwendet. Dies ist Ausdruck eines ontologischen Agnostizismus. Konsequenz ist einerseits, daß mit dem Verlust einer Kausalontologie die kritische Instanz gegenüber unserem kausalen Sprachgebrauch hinfällig wird und andererseits, daß auf Erklärungen der kausalen Besonderheiten unserer Welt verzichtet werden muß. Das heißt, es gibt keine Antwort auf die Frage, wie die spezifischen kausalen Eigenschaften durch raumzeitliche Merkmale unserer Welt zustandekommen.
2. In der Transfer-Analyse der Kausalität kommen keine apriorischen Urteile bezüglich der Kausalrelation zum Ausdruck, die sie für ontologisch abweichende Kausalbeziehungen (z. B. zeitlich umgekehrter Energiefluß) blind machen würde. Ein vergangenheitsgerichteter Energiefluß ist im Modell prinzipiell als ontologisch eigenständiger Sachverhalt identifizierbar -Retrokausalität. Davon zu unterscheiden ist die Frage der epistemischen Leistung der Transfer-Analyse. Das Modell stellt keine allgemeine Methode zur Entdeckung von Kausalbeziehungen bereit, fügt also dem Rumeschen Kausalproblem keinen neuen Gesichtspunkt bei. Im allgemeinen wird man zur Feststellung einer kausalen Beziehung auf die üblichen kausalen "Intuitionen" oder auf nomische Beziehungen angewiesen bleiben. Andererseits gibt es keine prinzipiellen Argumente dagegen, daß man durch Messung einer kausalen Transfergröße die Richtung einer kausalen Beziehung entdecken kann. 3. Auch aus "internen" physikalischen Gründen lassensich keine Barrieren gegen die Transfer-Analyse aufrichten. Die Nicht-Eignung einer Energieflußgröße zur Beschreibung eines kausalen Prozesses zeigt nur an, daß dieser Prozeß kausale Eigenschaften besitzt, die von der ursprünglichen kausalen Intuition abweichen. Nur wenn man der Auffassung ist, "Kausalität" sei lediglich ein Sammelname für gewisse anthropozentrische Vorstellungen über die Manipulierbarkeit von Systemen, Vorstellungen, denen die physikalische Wirklichkeit in einigen Fällen (z. B. quasi-abgeschlossene Systeme)50 recht und schlecht nachkommt, macht es Sinn, darauf zu bestehen, daß kausale Transfergrößen diese Vorstellungen in jeder Weise bestätigen müssen, denn nach dieser Auffassung gibt es keine objektiven Wahrheiten über die Kausalrelation zu entdecken. ~o
Vgl. D. Dieks: Studies in the Foundations of Physics. Diss. Utrecht 1981 ; S. 79.
13 Barteis
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Die physikalische Realisierung des Energie-Transfer-Modells
Die Ausführungen von D. Dieks, die am schärfsten gegenjeden objektiven und ontologisch fundierten Status der Kausalrelation gerichtet sind, schmücken sich durch das Prädikat "intern". Interne Argumente können aber nicht, wie dies bei Dieks geschieht, eo ipso jedes ontologische commitment ausschließen, da ein solches commitment nie aus der Theorie "folgt", sondern zur Analyse der Theorienstruktur hinzutreten muß. Dieks' subjektivistisch-epistemische Auffassung des Kausalbegriffs jedenfalls "folgt" in keiner Weise aus physikalischen Theorien. Wenn objektive Eigenschaften des physikalischen Ereignisraumes - wie z. B. die zeitliche Orientierbarkeit- in die kausalen Transfergrößen mit eingehen, so spiegelt dies den faktischen Charakter der Kausalrelation, ihre begriffliche Anhindung an die Welt, ohne die sie zu einem leeren Begriff wird. "Abweichendes" Kausalver halten, wie die Retrokausalität, wird dadurch keineswegs zur begrifflichen Unmöglichkeit. Gerade die physikalistische Verknüpfung des Kausalbegriffs mit den kausalen Eigenschaften unserer Welt, die das Prädikat "intern" verdient, wird von Dieks mit einer metaphysisch argumentierenden, vorurteilsbelasteten Naturphilosophie in Zusammenhang gebracht. Denkbar wäre neben einem ontologischen auch ein objektiv aufgefaßter epistemischer Kausalbegriff, ein solcher müßte aber auch irgendwie aufreale Eigenschaften unserer Welt bezogen sein- nicht nur im Sinne notwendiger Bedingungen, wie dem Vorhandensein "quasi-abgeschlossener" Systeme. Man käme an einer ontologischen Auszeichnungjener Prozesse nicht vorbei, die in objektiv-epistemischem Sinne als kausal gelten sollen. Ein Verzicht auf Aussagen über die ontologische Verfassung der Welt (Dieks: "nicht sehr relevant von einer physikalischen Sicht der Dinge")51 würde bedeuten, nicht mehr von der "Einwirkung eines äußeren Agens auf ein System" sprechen zu können, auch nicht, wenn man damit nur eine bestimmte Weise meint, in der wir Kenntnis von diesem System erhalten, die Aussage also in epistemische Terme aufgelöst wird. Anspruchsvolle Aussagen wie jene, daß "jede beliebige Größe zur Ursache jeder anderen werden kann" ,52 besagen ohne ein ontologisches commitment lediglich, daß in physikalischen Gesetzen alle Größen funktional in Beziehung stehen. Erst wenn man die Frage zuläßt, welche objektiven Eigenschaften die Kausalrelation in unserer Welt wesentlich (oder: notwendig) besitzt, kann man sinnvoll die weitere Frage stellen, welche Eigenschaften sie denn bei Geltung anderer Gesetze oder in nomologisch völlig abweichenden Welten haben könnte. Der Begriff "interne Naturphilosophie" kann sinnvoll nur so aufgefaßt werden, daß naturphilosophische Rekonstruktionen durch die inneren Eigenschaften physikalischer Systeme gestützt sind. Gegen den Standpunkt von Dieks, nach dem qualitative Beschreibungen der Natur aus dem Formalismus förmlich "herausgelesen" 51
52
D. Dieks: Studies in the Foundations of Physics. Diss. Utrecht 1981, S. 107.
Vgl. ebd., S. 77.
I. Diskussion um die Anwendbarkeit des Transfer-Modells in der Physik
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werden müssen, ist einzuwenden, daß eine solche Problemstellung hoffnungslos unterbestimmt ist, wie nicht nur die Interpretationsvielfalt für den quantenmechanischen Formalismus zeigt. Ohne ein realistisches commitment kann man u. U. auskommen, ohne einen klaren Begriff von Rekonstruktion jedoch nicht. "Vorurteilsfrei" wird eine Analyse dadurch, daß sie ihre Voraussetzungen präzis benennt.
4. Zur Entwicklung der Beziehung von Energiefluß-Begriff und Kausalbegriff
In den vorangegangenen Abschnitten dieses Kapitels sollte gezeigt werden: es gibt eine philosophisch akzeptable, weil in ihrem Empirismus kohärente, physikalische Rekonstruktion der Kausalrelation; diese Rekonstruktion weist begriffliche Vorteile gegenüber konkurrierenden nicht-empirischen Rekonstruktionen auf; die Einwände gegen eine mögliche Anwendbarkeit der Rekonstruktion in modernen physikalischen Theorien können zurückgewiesen werden. Dem soll nun ein weiterer Punkt hinzugefügt werden: die Rekonstruktion liefert gleichzeitig ein kreatives Instrument zur Durchleuchtung der begrifflichen Verknüpfungen moderner Theorien mit ihren Vorgängertheorien. Wenn die Rekonstruktion von Kausalität durch Energietransfer in diesem Abschnitt historisch eingebettet wird, so geschieht dies vor allem unter der folgenden Fragestellung: Läßt sich eine parallel zur Entwicklung der modernen Physik verlaufende naturphilosophische Begriffsentwicklung nachweisen, die durch Verallgemeinerungsschritte vom intuitiven Kausalbegriff des Alltags bis zum Kausalbegriff via Energietransfer (in seiner in der AR realisierten abstrakten Form) aufsteigt? Das Energietransfer-Modell hätte dann auf der naturphilosophischen Ebene denselben Status wie die AR auf der physikalischen: den Status einer erfolgreichen Verallgemeinerung einer erfolgreichen Theorie. Im folgenden wird also kein historischer Abriß der Genese des Kausalbegriffes versucht. Wir wollen lediglich Momente in der Geschichte der Physik aufgreifen, die die Verbindung zwischen der Entwicklung der modernen physikalischen Theorien und der Entwicklung des kausalen Denkens belegen. Zunächst sollen Argumente entwickelt werden, die dazu geeignet sind, die von Bunge53 vorgetragene Dekausalisierungsthese zu entkräften. ll
Vgl. Mario Bunge: Causa1ity. Dover-Edition 1979, S. 110 ff.
196
Die physikalische Realisierung des Energie-Transfer-Modells
Nach dieser These ist die Genese der modernen Physik zugleich der Abgesang des kausalen Denkens in der Physik. Den Platz des zu einfachen, weil linearen Kausalmodells haben danach Wechselwirkungsmodelle und innere System-Determinanten eingenommen- gegenüber "äußeren" kausalen Determinanten. Dagegen soll hier nun die Auffassung entwickelt werden, daß die AR nicht etwa eine begriffliche Auflösung, sondern eine physikalische Lösung des kausalen Problems der Gravitation darstellt- eines Problems, das durch den Begriff der Gravitationskraft in der Newtonsehen Theorie aufgeworfen worden war. Skizzieren wir zunächst kurz den Gedankengang, der diese Auffassung belegen soll: Die Lösung des kausalen Problems der Gravitation führt zu einer Abänderung des mechanistischen Kraftbegriffs; die in ihr präsentierten "Ursachen" zeigen Eigenschaften, die von den Eigenschaften Newtonscher Kräfte - den zunächst für die neuzeitliche Physik paradigmatischen Ursachen - erheblich abweichen. Der Newtonsehe Kraftbegriff, so soll gezeigt werden, war ein Versuch zur Externalisierung von Ursachen. Als Desiderat der kausalen Analyse von Vorgängen bleibt dabei die Trägheitsbewegung zunächst ausgeklammert; sie kann schließlich erst integriert werden, nachdem die Identifikation von "Kraft" und "Ursache" aufgehoben ist. Entscheidend für die Lösung des kausalen Problems der Graviatation wird die Ausarbeitung von Feldtheorien im 18. und 19. Jahrhundert, in denen der Gedanke des Energieflusses als Ursache entwickelt wird. Zunächst noch als ein materialer Fluß verstanden, kann in der Maxwellsehen Elektrodynamik die Übertragung von Wirkungen nur mehr durch Einführung einer autonomen nicht-materialisierten Feldenergie realisiert werden. Mit der Rekonstruktion der Kausalität als Fluß von Feldenergie sind die begrifflichen Voraussetzungen geschaffen, den Kausalbegriff von seiner Bindung an die Eigenschaften der Externalität, Superponierbarkeit und Lokalität - die von der Identifizierung Ursachen= Kräfte herrührt- zu befreien. Erst durch diese begriffliche Verallgemeinerung wird es möglich, das Gravitationsfeld als kausal wirksames Feld zu verstehen. Ein anderes Bild ergibt sich, wenn man die kausale lnterpretierbarkeit von Theorien "at face value" beurteilt. So wird häufig die Tendenz zur Eliminierung kausaler Begriffe in den physikalischen Theorien des 20. Jahrhunderts nicht bloß mit der Notwendigkeit einer Präzisierung allgemeiner Ausdrücke wie "Ursache" und "Wirkung" durch wissenschaftliche Terme wie "Ereignispunkt", "Feldenergie" etc. erklärt, sondern vielmehr mit einer nichtkausalen Natur dieser Theorien selbst in Verbindung gebracht. Danach sind die kausalen Begriffe unmodern geworden, weil sie inhaltlich inadäquat geworden sind; sie lassen sich bestenfalls noch grob popularisierend anwenden, wenn es darum geht, die funktionalen Beziehungen der Theorie in eine bildhafte qualitative Sprache zu übersetzen. Kausale Begrifflichkeil stellt danach einen
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anthropomorph gefärbten Sprachrahmen dar, dessen Passung mit den physikalischen Theorien in der mechanistischen Phase der Physik noch vorhanden war, danach aber immer stärker verlorenging, bis schließlich Quantenmechanik und allgemeine Relativitätstheorie diesen Rahmen endgültig als antiquiert hinter sich zurückließen. Zum Ausdruck kommt diese Auffassung in Mario Bunges Dekausalisierungsthese, auf deren Widerlegung wir uns im folgenden konzentrieren wollen. Hat Mario Bunge recht, so hat auf dem Weg der neuzeitlichen Gravitationstheorien von Galilei über Newton bis Einstein eine ständige "Dekausalisierung" stattgefunden. Der Kausalgedanke hätte seinen Part in der physikalischen Semantik damit weitgehend ausgespielt und wäre in derselben Weise wie die älteren Theorien nur mehr als spezielle Idealisierung bzw. im Grenzfall in Kraft. Wir werden jedoch sehen, daß sich eine solche Sicht der Dinge nur ergibt, wenn man die begrifflichen Konsequenzen nicht beachtet, die sich aus der historischen Abnabelung des Kausalbegriffs vom Begriff der Kraft ergeben. Da Bunges These sich auf ein Szenario der Entwicklung des Kausalbegriffs in der Physik stützt, wird zunächst eine Kritik an diesem Szenario notwendig sein. Es wird sich zeigen, daß der Entwicklungsgang des Kausalbegriffs der Physik in ein kausales Verständnis der modernen physikalischen Theorien einmünden kann, die "Dekausalisierung" also keineswegs das notwendige begriffliche Endprodukt sein muß. Bereits der Ausgangspunkt von Bunges Rekonstruktion der Entwicklung des Kausalbegriffs erscheint problematisch: So bezeichnet der "Kausalismus" bei Bunge eine Phase der Physik, in der kausale Begrifflichkeit in höchster Blüte stand. Offenbar denkt Bunge hier aber an die Physik vor Galilei, wenigstens aber vor Newton, denn das Trägheitsprinzip stellt für ihn die erste erfolgreiche Durchbrechung des "Kausalismus" dar. Vom Standpunkt des "Kausalismus" sind alle Bewegungen - unabhängig vom Galileischen Relativitätsprinzip - erklärungsbedürftig. Ihre Ursachen aufdecken heißt, die Kräfte zu finden, die die Bewegung hervorbringen. Die Trägheitsbewegung muß in dieser Sicht also aufinnere Bewegungskräfte von Körpern zurückgeführt werden. Durch den Verzicht auf solche inneren Bewegungskräfte tragen die mechanistischen Theorien, so Bunge, den Keim der Dekausalisierung seit dem 17. Jahrhundert bereits in sich. Ihr entscheidendes akausales Element liegt im Trägheitsbegriff, darin also, daß sie Bewegungen als real zulassen, die von keiner äußeren Kraft und somit überhaupt nicht verursacht sind: 54 " •••• modern mechanics and mechanism transcend causalism, by the fact that they employ a category of determination that makes 54 In Bunges Werk The Mind-Body-Problem fungiert die angebliche Akausalität der Trägheitsbewegung als Beleg, daß die von Bunge postulierten akausalen, spontanen Prozesse im mentalen Bereich Vorgänger auf der physikalischen Ebene besitzen (vgl. Mario Bunge: The Mind-Body-Problem. Pergarnon Oxford 1980, S. 184).
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Die physikalische Realisierung des Energie-Transfer-Modells
room for change (of place) even in the absence of causes (forces)." 55 Dieser akausale Zug sei es, der sich in denneueren mechanischen Theorien erhalten und noch verstärkt habe: ".... modern mechanics, whether classical, relativistic, or quantal, does not regard matteras inherently passive, inert stuff; it asserts, instead, that the motion of material systems (relative to a given reference system) need not be caused, that is, mechanical motion need not be elicited by agents external to the system itself and summarized in the force concept." 56 Worin die Akausalität des Trägheitsprinzips besteht, faßt Bunge schließlich so zusammen: ".... the principle of the mechanical self-movement of matter - that is, the principle of inertia - enunciated by Galileo, Descartes, and Newton, is openly noncausal, for it states that a certain type of change, the simplest of all, requires no efficient (extrinsic and motive) cause, that is, no force or external compulsion to proceed". 57 •••• "Aristoteles' law of motion is then an entirely causallaw, whereas Newton's law has only a causal range. " 58 Die Genese der neuzeitlichen Physik kann nun gerade als Überwindung innerer Bewegungskräfte zugunsten des Konzeptes der äußeren Kräfte verstanden werden, die dann für alle erklärungsbedürftigen Bewegungen von Körpern verantwortlich sein sollen. Der Kraftbegriff - von Kepler über Galilei zu Newton- erhält seine physikalische Präzisierung als Repräsentant der äußeren Einwirkung der Umgebung auf einen Körper. Kräfte aber werden synonym mit Ursachen für die gravitativen Wirkungen verwendet, die im 17. Jahrhundert die physikalische Diskussion am stärksten fesseln. Kräfte gelten als paradigmatische Ursachen. Von hier entspringt das Verständnis der Kausalität als externe Verursachung in Entgegensetzung zu inneren .,natürlichen" Bewegungstendenzen, die selbst keiner Ursache bedürfen. So schreibt Kepler 1605: .,Gravitation ist keine Tätigkeit, sie ist etwas, das ein Stein erleidet, wenn er geworfen wird ... die Bewegung des Steines besitzt nicht die Macht, ihn zu veranlassen, der Erde zu folgen. "59 Die Planetenbewegungen führte Kepler auf die Wirksamkeit äußerer Kräfte zurück. Allerdings bezeichnete er diese noch in Mysterium Cosmographicum als "anima motrix", als ein beseelendes Vermögen eines ausgedehnten Körpers. 60 Die Anziehung der Körper wird auch noch nicht als universelle, wechselseitige M. Bunge: Causality, op. cit., S. 108. Ebd., S. 110. 57 Ebd., S. 110. 58 Ebd., S. 112. 59 J. Kepler an Herwart von Hohenburg in München, Prag 28. März 1605; Gesammelte Werke (Hrsg. v. W. van Dyck und M. Caspar). München 1937. Bd. XV: Briefe 1604-1607, S. 184: "gravitas non est actio sed passio lapidis, qui trahitur ... Violentus enim motus lapidis non opus habet lapidem movere ut sequatur Terram . . .". 60 J. Kepler: Mysterium Cosmographicum. Tübingen 1956. Vgl. dazu: M. Jammer: Concepts of Force. Cambridge Mass. 1957, S. 86. 55
56
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Wirksamkeit verstanden, sondern besonders einander zugeneigte K-ö rper ziehen sich mit einer jeweils spezifischen Kraft an. Später wandelt sich Keplers Auffassung der Kraft in Richtung eines mechanischen, nicht von anthropomorphen Charakteristika der Himmelskörper abhängigen Agens, das selbst nicht materiell verkörpert ist ("species immateriata")61 • Wesentlich für die Verwendung der Kraft als Ursache der Planetenbewegungen ist, daß sie ein äußeres und absolutes, d. h. nicht auf räumliche Relationen reduzierbares Agens darstellt. So kann die bloße Änderung des Abstandes von der Sonne für sich allein keine Änderung der Umlaufgeschwindigkeit eines Planeten bewirken. Zu einer solchen Änderung bedarf es vielmehr der Wirksamkeit einer bewegenden Substanz (auch wenn diese keine eigenständige materielle Existenz führt). Die "bewegenden Ursachen" 62 werden damit zu absoluten Eigenschaften der kraftausübenden Körper. Später, in der Einleitung der Astronomia nova, 63 führt Kepler an, daß der Mond ebenso von der Erde angezogen wird wie die Erde vom Mond. Es gib,t also eine Reziprozität der Gravitationskraft, was ihrer Zugehörigkeit zu allein einem Objekt widerspricht. Die Erkenntnis der wechselseitigen Anziehung macht jetzt, wenn auch nicht ausdrücklich, aus dem Kraftbegriff einen relationalen Begriff, nicht im Sinne einer Auflösung in räumliche Relationen, sondern als substantielle relationale Eigenschaft von Körpern. Mit der halbanimistischen "anima motrix" hat dieser Begriff nichts mehr gemein. Galilei wandte sich den terrestrischen Schwere- und Trägheitsbewegungen zu und bereitete damit das Newtonsehe Programm einer universellen Gravitationskraft vor. Der Begriff einer externen Anziehungskraft aber erscheint bei ihm nicht. Die Schwerebewegung bleibt Ausdruck einer natürlichen inneren Bewegungstendenz. Wie wirken bei Galilei z. B. Schwerebewegung und aufgewendete Muskelkraft bei einem in die Luft geworfenen Körper zusammen? Eine implizite Verwendung des Trägheitsprinzips kann man bei Galileis Behandlung des Problems darin erblicken, daß er die Wirkungen der "Schwerkraft" (im Sinne der "Tendenz" des Körpers zur Schwerebewegung) mit der graduellen Abnahme der Geschwindigkeit des Körpers in Zusammenhang bringt. In Ermangelung einer klaren Formulierung des Trägheitsprinzips64 muß Galilei allerdings weiter davon ausgehen, daß zur Fortsetzung der Bewegung eines Körpers eine innere wirksame Kraft, ein Impetus erforderlich ist; der Körper muß die Ursache seiner Bewegung "mit sich tragen". Da die Schwerkraft nicht als externe Kraft erfaßt ist, wird auch die AufwärtsJ. Kepler: Astronomia nova. 1609, Ges. Werke, op. cit. , Bd. III. S. 240. J . Kepler: Mysterium Cosmographicum, Joannis Kepleri Opera omnia, op. l. Hrsg. Frisch (Frankfurt und Erlangen 1858-1871). S. 176. 63 J . Kepler: Astronomia nova. Ges. Werke, op. cit. , Bd. III. vgl. Jammer: op. cit., S. 91. 64 Hätte Galilei über einen klaren Begriff der Masse verfügt, so hätte er schon ganz auf die Verwendung der Kraft als inhärente Qualität eines bewegten Körpers verzichten können (vgl. M. Jammer: Concepts of Force. op. cit. , S. 101). 61
62
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bewegung als innere Bewegungstendenz des Körpers, als Nachwirken des übermittelten Impulses verstanden. Die klare Abtrennung der äußeren bewegenden Ursachen von der Trägheitsbewegungbleibt der Newtonsehen Konzeption vorbehalten. Die Durchführung dieser Konzeption wird vor allem durch einen neuen Massebegriff ermöglicht. Newton unterschied das Gewicht eines Körpers als Funktion der Entfernung vom Erdmittelpunkt von der charakteristischen Invariante des Körpers bei der Schwerebewegung, der Masse. Mit Hilfe dieses Massebegriffes konnte die Bewegungsgröße, der Impuls eines Körpers, klx B) dv unmittelbar auf den Teilchenimpuls. Was diese Wirkungsüberv tragungen Feld/Teilchen relativ unproblematisch macht, ist die Tatsache, daß die elektromagnetischen Feldgrößen ursprünglich über ihre mechanischen Wirkungen eingeführt wurden. Es ist deshalb nicht schwierig, die entsprechenden Feldgrößen für die jeweiligen mechanischen Wirkungen zu bestimmen. Offener erscheint von vorneherein, welche Feldgröße ausge116 Eine Flüssigkeit in einem Volumen V mit der Anzahl N von Baryonen enthält die Entropie S = N · s = n · s · V, n = Baryonenzahldichte, s = Entropie pro Baryon im Ruhesystem (vgl. Misner/Thorne/ Wheeler: op. cit., S. SS9). 117 Vgl. Becker/Sauter: Theorie der Elektrizität. Band I. Stuttgart 1973, S. ISS. 118 Vgl. D. Fair: Causation and the Flow ofEnergy. Erkenntnis 14 (1979), S. 219-2SO, hier: S. 230.
I I. Die Anwendung des Transfer-Modells in der AR
223
zeichnet werden kann, um die Wirkungsübertragung in einem als autonom betrachteten Feld zu beschreiben. Losgelöst von mechanischen Analoga kann die Behandlung des Feldes überraschende Eigenschaften der Kandidaten für den kausalen Transfer zu Tage fördern, die uns im Fall des Gravitationsfeldes sogar zur Modifikation des Transfer-Modells zwingen werden. Während bei der Wechselwirkung Feld/Materie der physikalische Gehalt darin besteht, daß die den mechanischen Analoga entsprechenden Feldgrößen tatsächlich Erhaltungssätzen genügen, liegt das Problem der Feld-FeldWechselwirkung zunächst darin, überhaupt Feldgrößen zu finden, die kausale Übertragungen repräsentieren können. Als "Leitfaden" dienen dabei Kontinuitätsgleichungen, die schon in der Hydrodynamik die intuitive Vorstellung des (hier noch materialisierten!) Feldflusses in die physikalische Sprache übersetzten. Eine solche Kontinuitätsgleichung läßt sich in der kla~sis:hen Elektrodynamik für die Größen "innere Feldenerg~e: (u = {{E_dD + H dB} dv), an den Ladungen geleistete "Arbeit" (w = dt g E dv, mit g = Stromdichte) und die Größe div J(EX ii) dv aufstellen: v
J
V
- u = dtfdiv (EX ii) dv + w V
oder als partielle Differentialgleichung: - au!at = div (E X ii) +JE
(J =Strom)
Die Idee zur Interpretation von dt Jdiv (EX ii) dv ist folgende: Der Transfer V von Feldenergie in kinetische Energie der Ladungsträger ist nicht vollkommen homogen, es treten kleine Dichteschwankungen der Feldenergie auf, die ihrerseits einen "glättenden" Energiefluß im Feld hervorrufen. dt (EX ii) ii df gibt den Energiebetrag an, der in der Zeit dt durch das Flächenelement dfder Oberfläche F des Bereichs V in Richtung der _Normalen hindurch tritt. S= E X fi wird Poynting-Vektor genannt und vertritt die nicht an Ladungen abgegebene, frei im Feld vermittelte Energieströmung (den "Feldimpuls"). Schon die Rolle der Terme -au!at und J Einnerhalb einer Kontinuitätsgleichung, die ja einen Fluß von Energie zwischen Feld und Materie beschreiben soll, legt es nahe, div (EX H) als "Flußgröße" zu interpretieren. Wir haben bereits erörtert, daß die Tatsache, daß S=EX fi mit seiner Divergenz in die obige Gleichung eingeht, zu nicht trivialen Konsequenzen für die Verwendung von S = EX fi als Feldtransfergröße führt. Energiefluß im Feld, beschrieben durch S, ist dann vorhanden, wenn es Dichteschwankungen der Energie gibt, d. h. wenn div S nicht verschwindet. Von der Struktur her wird durch den Poynting-Vektor die Wirkungsübertragung der Kontinuumsmechanik nachgebildet; S erfüllt die tradierten Vorstellungen von Energiefluß, wenn man von der physikalischen Unwirklichkeit einer homogenen Energie-
n
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Die physikalische Realisierung des Energie-Transfer-Modells
strömung S mit div S = 0 absieht. Aufgrund der besonderen Rolle in der Kontinuitätsgleichung ist die Verwendung des Poynting-Vektors als kausale Transfergröße bei der Ausbreitung eines Feldes und Wechselwirkungen zwischen Feldern eindeutig. Diese Auszeichnung bestätigt sich durch die Rolle, die Sals Repräsentant der Energieströmung bei elektromagnetischenWeilen spielt. Der Begriff der kausalen Wechselwirkung ist sozusagen modulo des quasi-mechanischen Bildes "Dichteschwankungen-Fluß des Mediums" auf die Klasse der elektromagnetischen Erscheinungen im Vakuum übertragen worden. Bezüglich seiner Eigenschaft, die Struktur der Wirkungsübertragung in kontinuierlichen Medien nachzubilden, ist der Feldimpuls bis auf Proportionalität eindeutig bestimmt. Da unser Hauptinteresse der relativistischen Gravitationstheorie gilt, liegt nun die Frage nahe, ob der elektrodynamische Begriff des Energietransfers auf die Gravitation übertragen werden kann. Diese Frage ist prinzipiell zu bejahen; es wird jedoch darauf zu achten sein, wo die besondere Struktur der AR, der Feldtheorie der Gravitation, dazu zwingt, bestimmte Merkmale des aus der Elektrodynamik vertrauten Energieflußbegriffes aufzugeben. Anderenfalls wird diese Übertragung zu einer inadäquaten Interpretation der AR führen. Wir müssen hier einen wesentlichen Unterschied zwischen elektromagnetischer und gravitativer Feldenergie beachten: letztere ist im Gegensatz zur ersten nicht lokalisierbar. Das liegt daran, daß die Repräsentanten der lokalen Krümmung, die affinen Zusammenhangskomponenten stets lokal "wegtransformierbar" sind, der Raun also lokal als asymptotisch flach zu behandeln ist. "Gravitationsenergie" ist ein Ausdruck, der sich nur auf Gebiete mit endlicher Ausdehnung anwenden läßt. Nun ist aber die Interpretation von Div S = 0 als Verschwinden des Flusses der Feldenergie im Falle der Elektrodynamik an die Betrachtung infinitesimaler Volumina gebunden. Für endliche Volumina kann es auch bei Div S = 0 einen Energiefluß im Volumen geben, es findet eben nur kein Netto-Energiefluß aus dem oder in das Volumen statt. Überträgt man diese Überlegungen auf den Fall des Gravitationsfeldes, so sieht man sofort, daß die Nichtlokalisierbarkeit der Feldenergie der zu Div S = 0 analogen Interpretation von Div G = 0 hier einen Riegel vorschiebt. Zwar war das identische Verschwinden der kovarianten Divergenz ein Auswahlkriterium für den Einstein-Tensor 119 • Leitgedanke dabei war, daß das Verschwinden der kovarianten Divergenz eine Energieerhaltung für das Gravitationsfeld bedeuten sollte. Tatsächlich gewährleistet aber nur die übliche Divergenz einen Erhaltungssatz. Da Gab;b = 0 in lokalen Lorentzsystemen in G•b.b = 0 übergeht, ist Gab;b = 0 also nur mit einer lokalen Energieerhaltung, gemessen in speziellen Lorentzsystemen, verbunden. Es gibt jedoch keine kovariante bezugssystemunabhängige 119 Vgl. z. B. J. C. Graves: The Conceptual Foundations of Contemporary Relativity Theory. Cambridge Mass. 1971, S. 222.
II. Die Anwendung des Transfer-Modells in der AR
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Größe, die dem Poynting-VektorS entspricht, d. h. die Erhaltung der Feldenergie für jedes kleine Volumen ist keine absolute Eigenschaft des Gravitationsfeldes. Die Entsprechung zwischen dem lorentzinvarianten PoyntingVektor Sund dem kovarianten Einsteintensor G kann sich also nur auf ausgedehnte Volumina beziehen. In endlichen Volumina bedeutet aber, wie schon bemerkt, Div S = 0 bzw. Div G = 0 i. a. keinen verschwindenden Energiefluß.
Somit läßt sich die Analogie zwischen Div S = 0 und Div G = 0 nicht zur Stützung der Behauptung verschwindenden Energieflusses des Gravitationsfeldes verwenden. (Vgl. den Abschnitt über die Theorie Törnebohms, II. l.) Der Energiefluß im Gravitationsfeld wird durch Gravitationswellen T 1GW) dargestellt, die im Vakuum divergenzfrei sind und im allgemeinen Fall ebenso zur Hintergrundskrümmung beitragen wie die anderen Druck-Energie-Terme T(Materie) und T(andere Felder)I20: G
= 8 rr (
T(GW)
+ T(Materie) + T(andere Felder) )
Im Vakuum und bei Anwesenheit anderer Felder (z. B. des elektromagnetischen Feldes) besorgen allein die Gravitationswellen die Krümmung der Mannigfaltigkeit: G = 8 rr T(GWl. Wie aber kann man nun die kovariante Divergenzfreiheit von Gin anderer Weise als Törnebohm deuten? Die Krümmung der Mannigfaltigkeit ist eine Eigenschaft, die ihr nicht durch "äußere" Quellen aufgeprägt wird, die nirgendwo erzeugt und nirgendwo absorbiert wird. Man kann dabei an ein elastisches Medium denken (Elastizität ist hier allerding~ nur ein Bild, sie kann keinesfalls explanativ verwendet werden). Die Existenz der Vakuumlösungen zeigt, daß die aus der Kontinuumsmechanik in die Elektrodynamik abgebildete kausale Ontologie insofern abgeändert werden muß, als das energieerfüllte Fluidum nicht mehr nur als Vermittler zwischen Quellen und Senken fungiert; es "überträgt" nicht mehr absolute, lokalisierbare Wirkungsquanta, sondern schließt selbst den gesamten kausalen Prozeß inklusive der" Ursachen" und "Wirkungen" ein. Das Feld selbst repräsentiert den kausalen Wirkungsfluß, ebenso, wie die periodischen Hebungen und Senkungen der Wasseroberfläche den gesamten Wellenvorgang darstellen. Genau wie der lokale gravitative Energieinhalt ist auch der lokale Abfluß von Gravitationsenergie ein bezugssystemabhängiger Effekt, der lokal "wegtransformiert" werden kann. Ein lokales (auf ein infinitesimales Volumen beschränktes) Auftreten einer Divergenz G"b.b ~ 0 hat also keine absolute physikalische Bedeutung. Nur der gesamte gravitative Energiefluß aus einem oder in ein endliches Volumen ist ein bezugssystemunabhängiger, physikalisch realer Effekt. Die Gleichung G"b;b = 0 liefertjedoch keinen Erhaltungssatz für die Gravitationsenergie in endlichen Volumina. 120
Vgl. z. B. Misner/Thorne/Wheeler: Gravitation. San Francisco 1973, S. 969 ff.
15 Barteis
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Die physikalische Realisierung des Energie-Transfer-Modells
Es stellt sich nun das Problem, wie die Vorstellung des Energietransfers für das Gravitationsfeld aufrecht erhalten werden kann, wenn es keinen (kovarianten) infinitesimalen Energiefluß gibt. Die Gravitationswelle stellt nicht den räumlichen Transport eines Energiequantums von der Quelle zum Absorber dar. Die Energie, die z. B. ein materieller Körper zur Krümmung beisteuert, bleibt sozusagen "im ganzen Raum verschmiert" ,sie modifiziert das Führungsfeld des Universums, das ein anderer Körper während seiner Geschichte erfährt. Eine Lösung dieses Problems haben 1962 Bondi, Metzner, Van der Burg und Sachs 121 vorgeschlagen: Zur Berechnung der von der Gravitationswelle transportierten Energie betrachteten sie nicht mehr die auf raumartigen Hyperflächen repräsentierte Masse-Energie. Da raumartige Hyperflächen zu späteren Zeiten die Gravitationswelle wiederum schneiden, die Masse-Energie der Hyperfläche also die Energie der Gravitationswelle stets mitenthält, konnte auf ihrer Grundlage keine Energiebilanz gezogen werden. Bondi, Metzner, Van der Burg und Sachs verwendeten statt dessen nun nullartige Hyperflächen, also solche dreidimensionalen Unterräume der RaumzeitMannigfaltigkeit, die durch Nullgeodäten aufgespannt werden. Man kann sich diese nullartigen Hyperflächen als glockenförmig in die Zukunft verlaufende Schnitte durch die Raumzeit vorstellen, die wie Schalen aneinandergereiht und bis ins Unendliche schnittpunktfrei sind. Da Gravitonen auf Nullgeodäten laufen, ist die Gravitationswelle in der Weise auf einer Nullhyperfläche "lokalisiert", daß die Geschichte der von einem Punkt ausgehenden Gravitationswelle sich auf einer solchen Hyperfläche abspielt. Unter der Bedingung, daß die Raumzeit im Unendlichen asymptotisch flach ist, kann man die Gesamtenergie auf einer nullartigen Hyperfläche durch einen Punkt P berechnen, an dem sich eine Gravitationsstrahlung aussendende Quelle zur Zeit to befindet. Hat die materielle Quelle zur Zeit li den Punkt Q erreicht, so kann man wiederum die Gesamtenergie auf der nullartigen Hyperfläche durch Q berechnen. Die Energiedifferenz zwischen den beiden Hyperflächen stellt dann gerade die von der Quelle in der Zeit von to bis li ausgestrahlte und ins Unendliche entkommene Gravitationsenergie dar. Der Vorteil der Verwendung von Nullhyperflächen für die Energiebilanz besteht darin, daß die zwischen to und li ausgestrahlte Energie die Hyperfläche durch den Punkt Q nicht mehr schneidet. 121 H. Bondi/F. R. Sachs/M. G . J. van der Burg/A. W. K. Metzner: Gravitational waves in general relativity. Proc. of the Roy. Soc. London, Ser. A 269 (1962), S. 21-48. - Vgl. auch R. Penrose: Conserved Quantities and Conforma1 Structure in General Relativity. In: C. Misner (Ed.): Relativity Theory and Astrophysics. Providence 1967, S. 147-159, und: W. B. Bonnor, M. A. Rotenberg: Transport ofmomentum by gravitational waves: the linear approximation. Proc. of the Roy. Soc. London, Ser. A 265 (1962), S. 109-117.
li. Die Anwendung des Transfer-Modells in der AR
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Zum Nachfolger der Lokalisierbarkeit der Energie ist die Koinzidenz einer Welle mit einer Nullhyperfläche geworden; interpretiert man die Abnahme der Energie zwischen zwei aufeinander folgenden Null-Flächen als transportierte Energie, so gewinnt man also einen Begriff von "Energietransfer", der nicht mehr an die Lokalisierbarkeit der Energie gebunden ist. Das Verhalten von Gravitationswellen, so sehen wir hier, läßt sich im Energie-TransferModell erst nach einer begrifflichen Neufassung von "Energie-Transfer" verstehen. Die Suche nach einer kausalen Interpretation der Gravitationswellen wurde also gleichzeitig zu einer kreativen Methode, um eine begriffliche Anschlußstelle zwischen Elektrodynamik und AR aufzudecken. Diese "Anschlußstelle" ist eine Art begrifflicher Schleuse, an der der Begriff des "Energietransfers" von der Elektrodynamik auf das Niveau der AR gehoben wird. Daran zeigt sich, daß ein Beharren auf der "kausalen Frage" der Gravitation nicht nur ästhetische Ansprüche an Theorien befriedigt, sondern unser physikalisches Wissen vertiefen kann. Wir lernen auf diesem Weg, was "Energie-Transfer" in der AR bedeutet.
3. Zum Verhältnis von Ontologie und Methodologie Überlegungen zur Strategie der kausalen Interpretation der AR
Zwei Gesichtspunkte, die bei den Überlegungen der letzten beiden Abschnitte eine wichtige Rolle spielten, sollen jetzt noch einmal gesondert hervorgehoben werden. Der erste Punkt betrifft das Verhältnis von realistischer methodologischer Einstellung und kausaler Interpretation der Physik. Es wurde deutlich, daß die Frage nach Ursachen (kausalen Agentien) der physikalischen Erscheinungen sich auf die Unterscheidung von physikalisch realen und nur scheinbaren oder relativen Phänomenen stützt 122 • Nur was als realer Effekt gilt, bedarf einer äußeren Ursache. Umgekehrt können die hypothetischen Agentien, die zur Beantwortung der kausalen Frage eingeführt werden, nur dann einen realen Status erhalten, wenn sie selbst in einen Verursachungszusammenhang eingeordnet werden können, d. h. wenn es einen kausalen Mechanismus gibt. Auf kausale Fragen kann man nur verzichten, wenn man schon zuvor auf eine realistische Interpretation der Physik verzichtet hat, und die Frage nach dem ontologischen Status theoretischer Entitäten kann nur insofern und solange zurückgestellt werden, wie ein Verständnis des kausalen Mechanismus unerreichbar erscheint. Kausales Denken kann so gleichzeitig als notwendige Folge wie als Heuristik einer realistischen methodologischen Einstellung betrachtet werden. Der zweite Punkt bezieht sich auf den Geltungsanspruch der in den beiden letzten Abschnitten präsentierten Kombination historischer und systemati122
15•
Man denke an die Rolle des absoluten Raumes in Newtons Theorie.
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Die physikalische Realisierung des Energie-Transfer-Modells
scher Argumente. Historisch gesehen, hat der Begriff des Energieflusses die Rolle der Darstellung kausaler Wirkungsübertragung erhalten. Die ,.Feldenergie" hatte sich als geeignet herausgestellt, kausale ,.Flüsse" in einer einheitlichen Form so darzustellen, daß sowohl die intuitive Forderung an die Kontinuierlichkeil dieses Flusses (durch Kontinuitätsgleichungen und Erhaltungssätze) als auch die quantitative lokale Identifizierbarkeit der transferierten Größen erfüllt wurden. Unbeschadet der Nichtlokalisierbarkeit der Gravitationsenergie konnte schließlich in der AR in modifizierter Form eine Energiebilanz 123 für die transferierten Größen aufgestellt und damit ein wesentliches Kennzeichen des Energieflußbegriffes erhalten werden. Zunä