Denken wie ein Neandertaler (German Edition) 3805346042, 9783805346047

The Neanderthal was more similar to us modern man than we think, he was not a primitive Caveman. He had his own language

135 10 11MB

German Pages 288 [289] Year 2013

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD PDF FILE

Table of contents :
Front Cover
Titel
Impressum
Inhalt
Vorwort
1 Echte Kerle
2 Ernährung à la Höhlenmensch
3 Zen und die Kunst, einen Speer herzustellen
4 Familien im Brennpunkt
5 Rein symbolisch
6 (In) Zungen sprechen
7 Kommt ein Neandertaler in eine Kneipe
8 Von Schläfern und Träumern
9 Eine Frage der Persönlichkeit
10 Denken wie ein Neandertaler
Glossar
Register
Zum Weiterlesen
Informationen zum Buch
Informationen zu den Autoren
Back Cover
Recommend Papers

Denken wie ein Neandertaler (German Edition)
 3805346042, 9783805346047

  • 0 0 0
  • Like this paper and download? You can publish your own PDF file online for free in a few minutes! Sign Up
File loading please wait...
Citation preview

Für unsere Brüder Tim Wynn und Tom Coolidge, die uns unser ganzes Leben lang inspiriert, ermutigt und ertragen haben.

Thomas Wynn und Frederick L. Coolidge

Denken wie ein Neandertaler

Aus dem Englischen von Cornelius Hartz

Originalausgabe: How To Think Lika A Neandertal, First Edition was originally published in English in 2012. This translation is published by arrangement with Oxford University Press. Copyright © 2012 by Oxford University Press Inc.

Deutsche Ausgabe © 2013 Verlag Philipp von Zabern, Darmstadt/Mainz ISBN: 978-3-8053-4604-7 Gestaltung: Vollnhals Fotosatz, Neustadt a.d. Donau Umschlaggestaltung: Katja Holst, Frankfurt am Main Umschlagabbildung: Kopf eines Neandertalers © Nick Hewetson; Die Evolution des Menschen © akg/Johann Brandstetter Druck: CPI books GmbH, Ulm Alle Rechte vorbehalten. Printed in Germany on fade resistant and archival quality paper (PH 7 neutral) · tcf Weitere Publikationen aus unserem Programm finden Sie unter: www.zabern.de

Lizenzausgabe für die WBG (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt ISBN: 978-3-534-25965-6 Umschlaggestaltung: Peter Lohse, Heppenheim Umschlagmotiv: Homo neanderthalensis/Rekonstruktion © akg-images/Hess. Landesmuseum www.wbg-wissenverbindet.de Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich: eBook (PDF): 978-3-8053-4660-3 (Buchhandel) eBook (epub): 978-3-8053-4661-0 (Buchhandel) eBook (PDF): 978-3-534-27998-2 (für Mitglieder der WBG) eBook (epub): 978-3-534-27997-5 (für Mitglieder der WBG)

Inhalt

Vorwort

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1 Echte Kerle

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

2 Ernährung à la Höhlenmensch

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

3 Zen und die Kunst, einen Speer herzustellen 4 Familien im Brennpunkt 5 Rein symbolisch

. . . . . . . . .

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

6 (In) Zungen sprechen

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

7 9

36 70

103 136 166

. . . . . . . . . . . . .

178

8 Von Schläfern und Träumern

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

192

9 Eine Frage der Persönlichkeit

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

211

10 Denken wie ein Neandertaler

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

227

Glossar

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

246

Register

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

260

7 Kommt ein Neandertaler in eine Kneipe

Zum Weiterlesen

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

276

Vorwort Dies ist kein Buch mit Verhaltensregeln für heranwachsende Jungen und Mädchen (ganz gleich, welches Alters), und es ist kein Handbuch für Über­ lebenskünstler, die sich auf die Apokalypse vorbereiten. Es ist auch keine ­Satire über eine bestimmte politische Partei, Person oder Ideologie, wie sehr diese es auch immer verdient hätte. Vielmehr ist es ein ernsthafter Versuch, das Denken eines verschwundenen und oft geschmähten prähistorischen Volks zu beschreiben: der Neandertaler. Die Neandertaler zeichnen sich dadurch aus, dass sie die einzigen fossilen Menschen sind, deren Name es bis in unsere Umgangssprache geschafft hat. Jeder, der den modernen Medien ausgesetzt ist, hat ihren Namen schon einmal gehört oder gelesen, und die meisten Menschen haben eine gewisse Vorstellung davon, wer die Neandertaler waren, auch wenn diese Vorstellung meist durch Kino oder Fernsehen verzerrt ist: Rückkehr aus einer anderen Welt, Steinzeit Junior, Caveman – Der aus der Höhle kam oder Am Anfang war das Feuer (unser persönlicher Favorit). Es gibt eine Menge guter wissenschaftlicher Abhandlungen zum Thema Neandertaler, von denen einige durchaus für ein breiteres Publikum verfasst sind. Sie sind zwar sorgfältig recherchiert, aber oft auch ein wenig langweilig. Wenn man nicht gerade ein Spezialist in diesem Bereich ist, verlieren alte Knochen und Steinwerkzeuge schnell ihren Reiz. Was ernsthaften Darstellungen der Neandertaler indes oft fehlt, ist eine Beschäftigung mit den Themen, die viele Menschen eigentlich am interessantesten finden: Wie war es, ein Neandertaler zu sein? Wie unterschied sich sein Leben von unserem? Wo gab es Ähnlichkeiten? Dies ist die Aufgabe, die wir uns gestellt haben: eine Darstellung des geistigen Lebens der Neandertaler, soweit wir es heute anhand von Fossilien und archäologischen Funden rekonstruieren können. Wir, das sind ein Archäo­ loge (TW) und ein Psychologe (FLC), arbeiten seit zehn Jahren im Bereich 7

der Kognitionsevolution zusammen. Unser Ansatz macht sich etablierte Konzepte der Kognitionswissenschaft zunutze, um paläoanthropologische Überreste zu deuten. Dazu beschreiben wir spezifische archäologische Funde, verwenden explizite Beschreibungen kognitiver Fähigkeiten und bitten den Leser hin und wieder, uns bei Gedankenexperimenten zu begleiten. Wie wir zu zeigen hoffen, ist es tatsächlich in gewissem Umfang möglich zu ­beschreiben, wie die Neandertaler gedacht haben und wie sie ihre Welt wahrgenommen haben. Im Laufe dieses Prozesses werden wir einige interessante, aber bislang wenig gewürdigte allgemeine Einblicke in den Bereich der Ko­ gnition präsentieren. Schließlich soll unsere Darstellung, wie die Neander­ taler dachten, zu einem neuen Blick auf uns selbst führen – und auf unser Denken, das viel mit dem der Neandertaler gemein hat, das aber durchaus auch Unterschiede aufweist.

8

1 Echte Kerle Wer waren die Neandertaler? Die Neandertaler waren ein prähistorisches Volk in Europa, das seine kulturellen Blüte vor etwa 200.000 bis 30.000 Jahren hatte. Dieser Satz mag ganz unschuldig klingen, aber schon sind wir mittendrin in der Kontroverse: Die Neandertaler als Volk zu bezeichnen, ist ziemlich riskant. Einige Anthropologen und Psychologen benutzen den Begriff Volk und vor allem den Begriff Mensch ausschließlich für Individuen und Gruppen, die sich in keiner Hinsicht von den heute lebenden Menschen unterscheiden, zumindest biologisch. Sie würden es vorziehen, dass wir Hominini oder Hominiden sagen; das sind Begriffe, die uns heutige Menschen sowie unsere Vorfahren und eine Reihe auf zwei Beinen gehender Verwandter miteinschließen, bis zurück zu unserer evolutionären Abspaltung vom Menschenaffen vor etwa acht Millionen Jahren. Diese Wissenschaftler haben nicht ganz unrecht: Die Begriffe Mensch und Volk sind natürlich voller Implikationen über Verhalten und Kognition. Und das ist genau der Punkt, warum wir sie verwenden möchten. Die Neandertaler waren uns anatomisch und genetisch so ähnlich, dass wir glauben, dass unsere Ausgangsposition in der Diskussion (die Nullhypothese, für Leser, die mit wissenschaftlicher Methodik vertraut sind) sein sollte, dass die Neandertaler sich von uns nicht unterschieden. Von hier ausgehend müssen wir stichhaltige Argumente für etwaige Unterschiede präsentieren. Unser ­allererster Satz birgt aber noch einen zweiten Streitpunkt: „Neandertal“ oder „Neanderthal“? Als der Neandertaler in den 1850er Jahren ­entdeckt und beschrieben wurde, da schrieb man das deutsche Wort „Tal“ noch mit „th“; somit war der Fundort das Neanderthal und der Fund der Neanderthaler. Anfang des 20. Jahrhunderts änderte man die deutsche 9

Rechtschreibung, ­fortan hieß es „Tal“. Gemäß der Linnéschen Regeln zur biologischen Benennung bleiben manche Forscher lieber bei der OriginalSchreibweise. Diejenigen, die die Meinung vertreten, dass die Neandertaler eine eigene Spezies sind, schließen sich dieser Haltung oft an, denn die ­formale Bezeichnung für die Neandertaler als eigene Spezies lautet Homo neanderthalensis, eine Bezeichnung, die im 19. Jahrhundert eingeführt ­wurde. Andere halten dagegen, dass „Neandertaler“ keine formalwissenschaftliche Bezeichnung ist und dass wir dem aktuellen deutschen Sprachgebrauch folgen sollten. Entscheiden Sie sich, wie Sie möchten. Die Neandertaler entwickelten sich in Europa aus einem früheren Hominiden, den man als Homo heidelbergensis kennt. Wir „modernen“ Menschen sind ebenfalls Nachfahren des Homo heidelbergensis, haben uns aber in ­Afrika entwickelt. Fossile und genetische Beweise zeigen, dass sich diese beiden Gruppen vor etwa einer halben Million Jahren voneinander trennten. Das ist lange genug, dass sich Unterschiede entwickeln konnten, aber vielleicht doch nicht lange genug dafür, sie in verschiedene Spezies zu unter­ teilen, was verlangen würde, dass sie nicht in der Lage gewesen wären, sich miteinander fortzupflanzen und zeugungsfähige Nachkommen zur Welt zu bringen. Zunächst lebten die Vorfahren der Neandertaler nur auf dem europäischen Kontinent, doch zur Zeit, als der Neandertaler auf den Plan trat, vor etwa 200.000 Jahren, hatten sie begonnen, sich in Richtung Westasien auszubreiten. Schließlich zogen sie bis ganz nach Usbekistan (nördlich von Afghanistan) und besiedelten weite Teile des Nahen Ostens. Die letzten Neandertaler lebten offenbar ausschließlich auf der Iberischen Halbinsel, wo sie vor etwa 30.000 Jahren ausstarben. Der moderne Mensch, der sich in Afrika entwickelt hatte, zog vor etwa 60.000 Jahren nach West­ asien und kam vor 40.000 Jahren nach Europa. Die meisten Paläoanthropologen glauben, dass der moderne Mensch irgendwie in das Verschwinden der Neandertaler verwickelt war, aber wie genau das passiert sein soll, ist unklar, und auch hier gibt es wiederum manche Kontroverse. Wie sahen die Neandertaler aus? Wenn sie uns so ähnlich waren, wie es die Beweislage vermuten lässt, könnte man dann überhaupt einen Neandertaler erkennen, wenn er (oder sie) in moderner Kleidung an einer Bushaltestelle stünde? Die Antwort ist: ja, aber vielleicht müsste man so genau hinsehen, dass es zu einer etwas peinlichen Situation käme. Als Erstes würde man das Gesicht 10

bemerken. Unser ÖPNV-Nutzer hätte ein großes Gesicht, das von der Stirn bis zum Kinn gemessen ziemlich lang wäre (der Einfachheit halber bezeichnen wir ihn im Folgenden als er; die äußerlichen Merkmale gelten aber genauso für weibliche Neandertaler). Er hätte zudem ausgeprägte Überaugenwülste, das sind Schwellungen der Knochen direkt über den Augenhöhlen, und seine Nase wäre länger und breiter, als es für den modernen Menschen typisch ist. In der Tat würde der ganze mittlere Teil des Gesichts aussehen, als sei er nach vorne gezogen. Er hätte kein vorstehendes Kinn, vor allem weil seine Zähne im Durchschnitt größer wären als unsere und seine Zahnreihen länger. Wenn er lächelte, würde man wahrscheinlich feststellen, dass seine Schneidezähne stark abgenutzt wären. Es gäbe noch einige weitere Besonderheiten seines Gesichts, die Anthropologen an seinem Schädel erkennen würden, aber bei einer lebenden Person könnte man diese nicht so leicht ent­ decken, z. B. einen retromolaren Raum zwischen seinem dritten Backenzahn und dem aufsteigenden Teil seines Kiefers. (Apropos dritter Backenzahn: In seinem großen Kiefer wäre für die Weisheitszähne viel Platz.) Solche Merkmale helfen Anthropologen dabei, fragmentarische Überreste als diejenigen eines Neandertalers zu klassifizieren, und sie können in paläoanthropologischen Kreisen zu technischen Diskussionen darüber beitragen, wer mit wem verwandt ist; aber für unser Thema hier sind sie nicht besonders relevant. Eine Besonderheit, die man bei unserem Bushaltestellen-Neandertaler nicht bemerken würde, wären die Größe und Form jenes Teils seines Schädels, der das Gehirn enthält. Er wäre groß, wahrscheinlich größer als unserer, und er wäre am breitesten in der Mitte zwischen der Unter- und Oberkante, so dass er von hinten rund aussähe. (Bei uns sitzt die breiteste Stelle viel weiter oben.) Wenn man sich versehentlich seinen Hut aufsetzte, würde er einem vermutlich über die Augen rutschen. Das Gehirn des Neandertalers war im Durchschnitt etwa 10 % größer als unser heutiges Gehirn, und entsprechend war natürlich auch sein Kopf größer. Im Großen und Ganzen hätte unser ­Neandertaler also ein ungewöhnliches Gesicht und einen ungewöhnlichen Kopf, aber wahrscheinlich doch wieder nicht so ungewöhnlich, dass man bis zur nächsten Haltestelle zu Fuß gehen würde.1–4 Unterhalb des Kopfes würde uns unser Neandertaler an der Bushaltestelle überhaupt nicht ungewöhnlich erscheinen. Aber wenn man ihm ins Fitnessstudio folgte, würde man wahrscheinlich einige eindrucksvolle Unterschiede bemerken. Von der Körperhöhe her wäre er ziemlich klein (etwa so groß wie 11

Nicolas Sarkozy oder Tom Cruise), aber er wäre viel massiger gebaut. Sein Oberkörper wäre breit, seine Hüften und sein Brustkorb ebenso. Er hätte starke Muskeln und sähe wahrscheinlich aus wie ein Bodybuilder oder vielleicht eher noch wie ein professioneller Gewichtheber. Aber er müsste bei Weitem nicht so viel Zeit und Mühe investieren, um so auszusehen; er wäre von Natur aus sehr muskulös. Seine Muskeln an Hals, Schultern, Brust, Rücken, Armen und Beinen wären gut entwickelt – sie sähen vielleicht nicht so „aufgepumpt“ aus wie die eines professionellen Bodybuilders, aber auf jeden Fall wäre die Muskelmasse die gleiche. Seine Arme und Beine wären ein wenig zu kurz geraten für seine Statur, insbesondere seine Unterarme und Unterschenkel. Dieser Körpertyp ist ein idealer Kraftspeicher. Falls unser Neandertaler schließlich bemerken würde, dass Sie ihn anstarren, und er Sie zum Bank- oder Armdrücken herausfordern würde, sollten Sie die Herausforderung besser nicht annehmen. Wahrscheinlich könnten es nicht einmal die stärksten Exemplare des modernen Menschen mit ihm aufnehmen (Abb. 1-1). Wie im Falle von Kopf und Gesicht besaßen die Neandertaler auch in ihren Knochen eine Reihe weniger offensichtlicher Merkmale, die Anthropologen zur Identifizierung verwenden, die uns an dieser Stelle aber nicht interessieren müssen. Einzeln betrachtet, wäre keines der erwähnten Merkmale so absonderlich, dass man es nicht auch bei dem einen oder anderen modernen Menschen fände. Es gibt moderne Menschen mit langen Gesichtern, andere mit großen Nasen und großen Köpfen und wiederum andere, die relativ kurz sind, aber einen massigen Körper haben (man denke nur an die Mannschaft der bulgarischen Gewichtheber bei den letzten Olympischen Spielen). Einige anatomische Einzelheiten finden sich nur bei den Neandertalern, aber das sind überraschend wenige. Einer von uns beiden (TW) schickte früher hin und wieder seine Erstsemester los, um bei Vertretern der ehrwürdigen Professorenschaft neandertalerhafte Merkmale zu sammeln – eine Übung, die immer wieder für Heiterkeit sorgte. (Und ja: TW und FLC tauchten gelegentlich auch auf der Liste auf.) Was die Neandertaler und uns anatomisch trennt, sind nicht die einzelnen Merkmale, sondern ihre Kombination – das Gesamtpaket, wenn man so will.5 Aber halt: Unser Fitnessstudio-Beispiel mag eine weitere sehr wichtige Frage aufwerfen. Wenn Arnold Schwarzenegger in ein Fitnessstudio gehen kann, um sich starke Muskeln und eine kraftvolle Physis zu erarbeiten, inwiefern war es dann bei den Neandertalern anders? Vielleicht bedingte ihr tägliches Leben ja, dass sie viel schwere, körperliche Arbeit verrichteten (und das 12

Abb. 1-1: Neandertaler in moderner Pose. ddp images/dapd/Sebastian Willnow.

tat es) – vielleicht ist es ja das, was wir an ihren Skeletten sehen, und gar kein angeborener biologischer Unterschied? Die Anatomie und Physiologie eines Erwachsenen sind das Ergebnis eines komplexen Zusammenspiels von Genen und der Umwelt während seiner Entwicklung, und es ist selten der Fall, dass der eine oder der andere Faktor der einzig entscheidende ist. Die Töchter eines von uns beiden (TW) sind eineiige Zwillinge, die jedoch alles andere als identisch sind. Schon bei der Geburt gab es feine anatomische Unterschiede. Doch sie hatten die gleichen Gene und hatten sich in derselben Gebärmutter entwickelt. Tatsächlich ist 13

die Genexpression ein komplexes Phänomen. In diesem Fall erhielten die Mädchen, obwohl sie sich eine Plazenta teilten, nicht genau die gleiche Nahrung. Außerdem ist die Genetik keine so strikt deterministische Wissenschaft, wie man es einst dachte. Selbst die Transkription von DNA nach RNA, der erste Schritt in der Proteinsynthese, wird durch Merkmale der nuklearen Umwelt von außen beeinflusst, u. a. durch die Gegenwart von Proteinen, die von außen in den Nukleus eingedrungen sind. Die Zellumgebung kann tatsächlich die Art und Weise ändern, wie die DNA transkribiert wird, das heißt, die äußere Umgebung kann die Genexpression auf dieser tatsächlich grundlegenden Ebene verändern, und die Wirkung kann dann durch mehrfache Zellteilung weitergegeben werden, ein Verfahren, das man epigenetische Vererbung nennt. Einige dieser epigenetischen Faktoren funktionieren auf probabilistische Weise, so dass es sein kann, dass eine identische DNASequenz in getrennten Gruppen von Zellen oder Individuen einen unterschiedlichen Ausdruck findet. So ist es kaum verwunderlich, dass eineiige Zwillinge unterschiedlich aussehen können. Noch relevanter für ihre Anatomie (und für unser Neandertaler-Thema) sind die unterschiedlichen Erfahrungen, die sie als Kind durchleben. Eines der beiden Mädchen ging zum Fußball, das andere zum Ballett. Ihre Muskeln wurden unterschiedlich ausgebildet, ihre Knochen unterschiedlich beansprucht, und dieser Unterschied hatte einen dauerhaften Effekt darauf, wie sich ihr Körper entwickelte. Wenn wir also beschreiben, welche Unterschiede es gab zwischen dem Körpertyp des Neandertalers und dem des modernen Menschen, müssen wir anerkennen, dass dieser Unterschied eine komplexe Folge verschiedener physischer Umgebungen, unterschiedlicher Erfahrungen bei der Entwicklung als Kind und Jugendlicher sowie von Unterschieden in den Genen ist.6 Und was ist nun mit dem Neandertaler? Betrachten wir einmal seinen Brustkorb. Es gibt Menschen in der heutigen Zeit, deren Brustkorb eine ganz ähnliche Form hat wie der des Neandertalers. Das sind Leute, die ihr ganzes Leben lang in über 3.000 Metern Höhe leben. Aufgrund der niedrigeren ­Sauerstoffkonzentration in großer Höhe entwickeln diese Menschen eine größere Lungenkapazität und haben eine größere Brust (und sogar ein etwas größeres Herz). Dies wird kaum, wenn überhaupt, durch die Gene bestimmt. Stattdessen haben sich ihre Körper verändert, um sich den örtlichen Gegebenheiten anzupassen. Wenige Neandertaler (wenn überhaupt welche) lebten jedoch in großer Höhe, so dass uns diese spezifische Erklärung hier nicht 14

weiterhilft. Aber vielleicht führten sie ein Leben, das sich durch große körperliche Anstrengung auszeichnete, zu einer Erweiterung des Brustkorbs; immerhin bedeutet eine große körperliche Belastung auch eine Verminderung der ­Fähigkeit eines Individuums, Sauerstoff zu verarbeiten. In ähnlicher Weise könnte die Größe des Kiefers des Neandertalers etwas mit seiner Nutzung zu tun haben. Viele Neandertaler hatten stark abgenutzte Schneidezähne, was auf ständige Beanspruchung hinweist, vielleicht sogar um Objekte zu greifen oder zu tragen. Eine solche Verwendung gepaart mit schwerem Kauen würde den Kiefer im Wachstum massiver werden lassen. Heutige Menschen, die viel und schwer kauen, haben größere Kiefer (und brauchen weniger oft einen Kieferorthopäden) als solche, die das nicht tun. Das ist kein genetischer Unterschied, sondern ein Unterschied im Lebenswandel. Mithin können wir manche Merkmale des Neandertalers durch seine Lebensweise erklären. Doch wie können wir unterscheiden, welche Merkmale angeboren waren und welche sich durch seine Lebensweise entwickelten? Es gibt da durchaus Hinweise. Zum einen: Wenn alle Neandertaler (Männer, Frauen und Kinder, vor allem Kleinkinder) eine gemeinsame Besonderheit aufweisen, hätten sie alle das Gleiche tun müssen, mit der gleichen Intensität und Anstrengung. Und wenn dann auch noch die Neandertaler aus ganz unterschiedlichen Gegenden, z. B. aus Europa und aus dem Nahen Osten, dieses Merkmal besitzen, dann hätten alle Neandertaler überall das Gleiche tun und erleben müssen, mit der gleichen Intensität. Eine einfachere Lösung ist in diesen Fällen die Schlussfolgerung, dass das betreffende Merkmal, z. B. die Form des Brustkorbs, vererbt wurde.

Gene Tatsächlich kennen wir einige sehr spezifische Einzelheiten der NeandertalerGene, denn der Wissenschaft ist es gelungen, aus Knochen, die nicht ­vollständig versteinert waren, viele dieser Gene zu gewinnen. Die Fossilisa­ tion ist ein Prozess, bei dem Mineralien aus dem Erdreich die Chemikalien in den Knochen (oder, seltener, im Gewebe) ersetzen; so wird der Knochen buchstäblich zu Stein. Aber das ist ein Prozess, der Tausende Jahre dauern kann; bei vielen Neandertaler-Skeletten ist die Fossilisation noch nicht vollständig abgeschlossen, und in den Knochen befindet sich noch organisches Material. 15

Mit der richtigen Technik können Paläoanthropologen aus diesem Material die DNA extrahieren, eigentlich sogar zwei verschiedene Arten der DNA. Die häufigste Art der DNA und zugleich die, die am einfachsten zu extrahieren ist, ist nicht die DNA, die die Vererbung kontrolliert und die sich im Kern einer jeden Zelle findet, sondern die DNA in den Mitochondrien außerhalb des Kerns im Zytoplasma einer Zelle (daher mitochondriale DNA oder mtDNA). Mitochondrien sind organische Strukturen in der Zelle ­(Organellen), mit deren Hilfe die Zellen Energie erzeugen, und jedes Mitochondrium hat seine eigene DNA, die seine Funktion reguliert. Das Merkwürdige an den Mitochondrien ist, dass die Spermien keine haben. Alle unsere Mitochondrien kommen letztendlich von der Mutter, ihre von ihrer Mutter und so weiter. Natürlich haben auch Männer Mitochondrien; sie geben sie nur nicht an ihre Kinder weiter. Die sexuelle Reproduktion ändert nichts an der DNA der ­Mitochondrien (anders als die Kern-DNA, die während der Bildung von ­Eizellen oder Spermien neu gemischt wird), so dass Ihre mitochondriale DNA identisch ist mit der Ihrer Mutter, sofern es keine Mutation gibt. Mutationen sind richtungsunabhängige, zufällige Veränderungen der DNA. Manchmal sorgt eine Mutation der mitochondrialen DNA dafür, dass die Mitochondrien nicht mehr effektiv Energie verarbeiten können, aber oft hat eine Mutation überhaupt keine physiologische Wirkung und wird zusammen mit den Mitochondrien einer Frau an die Söhne und Töchter weitergegeben und an deren Söhne und Töchter und so weiter. Wenn zwei Töchter ein und derselben Frau getrennte Wege gehen und sich jede von beiden erfolgreich fortpflanzt und ihre Töchter sich wieder erfolgreich fortpflanzen und so weiter, reichern sich im Laufe der Zeit in beiden verwandten Linien verschiedene A ­ rten von Mutationen in der mtDNA an, und je länger sie voneinander entfernt sind, desto unterschiedlicher wird ihre mtDNA. Wenn wir die mtDNA aus Neandertalerskeletten mit derjenigen des modernen Menschen vergleichen, finden wir etwa dreimal so viele Unterschiede (27 Mutationen im Vergleich zu acht), wie wir finden würden, wenn wir die zwei unterschiedlichsten modernen Menschen überhaupt miteinander vergleichen würden. Daraus können wir ein paar sehr interessante Schlüsse ziehen. Erstens: Die Neandertaler unterschieden sich von uns (im Hinblick auf die mtDNA) mindestens drei Mal so sehr, wie sich jeder von uns von jedem anderen modernen Menschen unterscheidet. Zweitens: Wenn wir eine Mutationsrate, das heißt die Häufigkeit, in der Mutationen auftreten, anwenden, dann können wir ab16

schätzen, vor wie langer Zeit wir uns von den Neandertalern abgespalten haben. Sie können sich vorstellen: Das Berechnen einer Mutationsrate ist schwierig, und es gibt dabei viele verschiedene Meinungen. Aber die meisten Paläoanthropologen sind sich einig, dass wir eine Mutationsrate anwenden können, nach der diese Abspaltung vor etwa 500.000 Jahren geschehen ist.7 Im Jahr 2010 hat Svente Pääbo mit seinen 55 Kollegen vom Neandertal Genome Analysis Consortium den ersten Entwurf des Versuchs veröffentlicht, das komplette Neandertaler-Genom (die „genetische“ DNA im Zellkern) zu entschlüsseln. Sie stützten ihre Analyse auf archaische DNA aus den Knochen dreier weiblicher Neandertaler, die vor ungefähr 45.000 Jahren in Kroatien gestorben sind, und verglichen ihre DNA mit derjenigen moderner Menschen aus Europa, Asien und Afrika. Das Ergebnis war eine ziemliche Überraschung: Das primäre Ergebnis besagte, dass 1–4 % der Gene von ­modernen Asiaten und Europäern ihren Ursprung bei den Neandertalern hatten. 1–4 % mag als Zahl nicht nach sehr viel klingen, aber es bestätigt den Verdacht vieler Paläoanthropologen, dass Neandertaler und moderne Menschen zusammen Nachkommen gehabt haben könnten – und dass das in der Tat auch geschehen ist. Zwei weitere Ergebnisse waren ähnlich interessant: Moderne Afrikaner haben gar keine Neandertaler-Gene in ihrem Genom, und das asiatische Genom besaß genauso viele Neandertaler-Gene wie das europäische Genom. Die wahrscheinlichste Erklärung hierfür ist, dass diese Kreuzung geschah, nachdem der moderne Mensch aus Afrika ausgewandert war, aber bevor er in Europa und Asien breiten Raum einnahm. Dies fand, laut Pääbo und seinen Kollegen, höchstwahrscheinlich vor 60.000 bis 80.000 Jahren statt. Eine solche Datierung stellt die Paläoanthropologie jedoch wiederum vor ein Rätsel. Es gibt Spuren der Neandertaler aus diesem Zeitraum im Nahen Osten, aber noch keine Spuren anatomisch moderner Menschen. Es gibt Spuren moderner Menschen, die älter als 80.000 Jahre sind, und dann wieder welche, die jünger sind als 60.000 Jahre. Angesichts der Ungenauigkeit der genetischen Datierung mittels angenommener Mutationsraten sollte uns diese Inkonsistenz nicht beunruhigen. Wichtig ist, dass es einen Genfluss zwischen den Neandertalern und unseren Vorfahren gab, und zwar vor unserer Expansion in Europa und Ostasien. Aber dieser Genfluss (ein Fachbegriff der Genetik für den Austausch genetischen Materials) ging nur in eine Richtung; im Neandertaler-Genom hat man keine spezifischen Gene des modernen Menschen identifizieren können.8 Dieser offenbar einseitige ­Genfluss wirft die 17

Frage auf, wie er im tatsächlichen Leben der Neandertaler und der modernen Menschen zum Tragen kam. Wie haben sie interagiert? Gab es gemischte Gruppen? Oder ist eine gewalttätige Interaktion wahrscheinlicher? Wir werden im letzten Kapitel auf diese Fragen zurückkommen. Pääbo konnte in seiner Analyse auch 78 Gene im modernen Genom identifizieren, die sich bei drei Neandertalerinnen nicht fanden. Es ist wichtig, dies im Hinterkopf zu behalten: Das Neandertaler-Genom und das moderne Genom waren zu 99,84 % identisch. Aber wir haben gesehen, dass die Neandertaler sich vom modernen Menschen anatomisch unterscheiden und dass einige dieser Unterschiede wahrscheinlich genetisch bedingt sind. Zwar hat man ­einige der 78 einzigartigen modernen Gene mit bekannten Funktionen in ­Verbindung gebracht, aber hier müssen wir vorsichtig sein. Wie wir gesehen haben, ist die Genexpression in der Anatomie ein komplexer Prozess, bei dem das Gen an sich ebenso eine Rolle spielt wie auch andere regulatorische Gene und die Umgebung, in der sich das Individuum entwickelt. Kurioserweise gibt es bei den 78 fraglichen Genen die größten DNA-Unterschiede bei den Genen, die etwas mit der Haut zu tun haben. Und einige der anderen genetischen ­Unterschiede betreffen den Energiestoffwechsel, u. a. solche, die in fehlerhafter Anzahl zu Diabetes mellitus führen. Aber für unsere Zwecke hier bestehen die interessantesten Unterschiede in Genen, die in der kognitiven Entwicklung wichtig sind. Der moderne Mensch besitzt mindestens ein paar Gene, die mit der kognitiven Entwicklung im Zusammenhang stehen und die der Neandertaler nicht besaß. Leider ist nicht ganz klar, was die genaue Funktion dieser Gene ist. Es gab auch ein paar kuriose Entdeckungen: Beispielsweise besaß einer der durch Pääbo getesteten Neandertaler das Gen für rotes Haar. Diese Entdeckung war eine Überraschung, aber vielleicht ist sie dennoch ganz einfach zu erklären: Das Gen für rotes Haar ist verlinkt mit den Genen, die die Hautpigmente steuern, und Anthropologen ist schon lange bekannt, dass die reduzierte UV-Strahlung in den höheren Breiten (z. B. in Europa) dafür sorgt, dass der Prozess der natürlichen Selektion dort einer reduzierten Pigmentierung der Haut den Vorrang gibt. Die Neandertaler haben mehrere Hunderttausend Jahre lang in solchen höheren Breiten gelebt, viel länger als der moderne Mensch in Europa; von daher sollten Hinweise auf eine geringere Pigmentierung eigentlich niemanden überraschen. Ein in diesem Zusammenhang interessanteres beim Neandertaler identifiziertes Gen heißt FOXP2. Man weiß, dass eine Variante des FOXP2-Gens einen Sprachfehler verursacht sowie 18

Schwierigkeiten beim Lernen und bei der Verwendung bestimmter Arten von Grammatik. Der Neandertaler besaß jedoch die normale Variante. Bedeutet das, dass die Neandertaler genauso sprechen konnten wie Sie und ich? Vielleicht, aber nicht notwendigerweise. FOXP2 ist kein Gen für Sprache oder sprachliche Äußerungen; vielmehr ist es ein Gen, das an der modernen Sprache beteiligt ist. Zweifellos gibt es noch viele weitere Gene, die etwas mit der modernen gesprochenen Sprache zu tun haben und die noch nicht identifiziert worden sind. Vielleicht besaßen die Neandertaler sie, vielleicht auch nicht. Aber dass sie das Gen FOXP2 besaßen, regt sicherlich zur Diskussion an. Letzten Endes hilft uns die Kenntnis einiger oder sogar vieler Neander­ taler-Gene nicht wirklich weiter, wenn wir ihr Leben verstehen wollen – zumindest heute noch nicht. Archaische Neandertaler-DNA ist äußerst nützlich dafür, zu dokumentieren, wie eng wir mit den Neandertalern verwandt sind, und um einschätzen zu können, wie lange wir schon von ihnen getrennt sind. Es gibt keine einzelnen Gene für Überaugenwülste oder große Nasen oder eine breite Brust, zumindest nicht, soweit wir das heute einschätzen können. Solche Merkmale entstehen aus dem Zusammenspiel und dem ­Timing vieler verschiedener Gene im Laufe eines Lebens, vor allem, während wir jung sind. Also selbst wenn Paläoanthropologen einmal das gesamte ­Neandertaler-Genom entschlüsselt haben (und das ist nur eine Frage der Zeit), werden die meisten unserer Fragen über das Leben der Neandertaler immer noch unbeantwortet sein. Was können wir also sonst noch tun, um ihr ungewöhnliches Aussehen zu verstehen?

Der Hominid, der aus der Kälte kam Christian Bergmann und Joel Allen sind zwei Biologen des 19. Jahrhunderts (ein Deutscher und ein Amerikaner), die sich als Entdecker von zwei „Regeln“ verewigt haben, die etwas mit den Körperformen von Säugetieren zu tun haben. Die Bergmann’sche Regel besagt, dass bei Exemplaren derselben Spezies die Körpermasse mit dem Breitengrad zunimmt: Diejenigen, die in kalten Klimazonen angesiedelt sind, haben kompakte, massige Körper, und diejenigen in wärmeren Klimazonen weisen eine eher schlanke Körperform auf. Das ist ein ganz einfaches physikalisches Gesetz: Die ideale Form zum Zurückhalten von Wärme ist eine Kugel, denn sie hat die geringste Ober­ 19

fläche im Vergleich zur Masse. Säugetiere sind endotherm, das bedeutet, sie erzeugen ihre eigene Körperwärme; daher können Personen, die einen eher kugelförmigen Körper haben, in kalten Klimazonen die Wärme besser speichern. Sie verbrauchen weniger Energie, um die Körpertemperatur zu halten, und in der Konsequenz ist ihre Reproduktionsrate höher. Und das ist mehr als Physik, das ist ganz einfach natürliche Selektion. Die Allen’sche Regel ­besagt, dass Säugetiere in kalten Klimazonen im Vergleich zur Torsolänge ­kürzere Gliedmaßen haben als solche, die in warmen Klimazonen leben. Weil Arme und Beine schmal und schlank sind, geben sie schneller Wärme ab als der Oberkörper, also verliert ein Körper mit kurzen Armen und Beinen weniger Wärme als einer mit langen Armen und Beinen. Der moderne Mensch entspricht beiden Regeln: Die Inuit im Norden Kanadas haben kurze, kompakte Körper mit relativ kurzen Armen, und die Einwohner des Sudan im tropischen Afrika sind groß und dünn mit relativ langen Armen und Beinen. Auch für die Neandertaler galten diese Regeln. Sie entwickelten einen Körpertyp, der ideal ist zum Speichern von Wärme: relativ kurz und kompakt, mit kurzen Armen und Beinen. Diese Erklärung ist so überzeugend, dass Paläoanthropologen versucht haben, andere Eigenheiten der Neandertaler in sie zu integrieren – so hieß es, die Nase der Neandertaler hätte sich so entwickelt, weil sie dadurch besser kalte Luft erwärmen und befeuchten konnte. Neuere Untersuchungen jedoch weisen darauf hin, dass die ungewöhnlichen Gesichtszüge der Neandertaler wahrscheinlich eher auf das schwere Kauen zurückzuführen sind. Der aufmerksame Leser mag außerdem einwenden, dass gegen die KälteTheorie spricht, dass nur wenige moderne Europäer den Inuit ähneln. Tatsächlich weisen viele Nord- und Mitteleuropäer, z. B. die Niederländer, sogar einen eher tropischen Körpertyp auf. Noch wichtiger: In Europa ist es nicht besonders kalt, auf jeden Fall nicht so kalt wie in der Arktis. Warum also sollten die Neandertaler einen Körper gehabt haben, der dem der modernen Inuit ähnelte? Die Antwort ist ganz einfach: In Europa war es nicht immer so warm wie heute.

Eiszeit Die globale Erwärmung ist heute in aller Munde – zumindest im Munde ­derer, die aufmerksam das Weltgeschehen verfolgen. Die meisten Forscher haben sich mittlerweile der Meinung angeschlossen, dass diese Erwärmung 20

auf menschliches Einwirken zurückzuführen ist. Es gibt noch ein paar Skeptiker (auch wenn es unter den Klimaspezialisten nur noch sehr, sehr wenige sind), die argumentieren, dass die momentane Erwärmung nur eine weitere in einer langen Reihe von natürlichen Klimaschwankungen ist, die die Erde in den letzten Millionen Jahren erlebt hat. In gewisser Weise haben sie natürlich recht: Das Klima der Erde geht schon seit eineinhalb Millionen Jahren auf und ab, und wenn überhaupt, dann sind die Schwankungen bis heute extremer geworden, nach oben wie nach unten. Wir befinden uns derzeit in einem Zeitraum mit eher wärmeren Umweltbedingungen, und der dauert schon etwa 10.000 Jahre an. (Und wenn wir nur diesen Verlauf zugrunde ­legen, sollten wir eher eine Abkühlung erwarten als eine dramatische Erwärmung.) Aber vor gerade einmal 20.000 Jahren befanden sich Europa und Nordamerika im festen Griff einer Eiszeit. Riesige Gletscher, groß wie Kontinente, Tausende Meter dick, lagen über Skandinavien und der Hudson Bay, und das Gewicht des Eises schob ihre Ränder weiter in Richtung Süden, bis ins heutige Deutschland bzw. Illinois. Die Auswirkungen dieser riesigen Mengen Eis waren aber noch weit über die Gletscherränder hinaus zu spüren. Durch die Kälte über den Gletschern entstand ein hoher atmosphärischer Druck, der die „normalen“ Klimazonen nach Süden verschob. Als Ergebnis wurde es in fast ganz Europa nicht nur kälter, sondern auch trockener. Das Wasser, das als Schnee auf die Gletscher fiel, blieb dort liegen, und der Meeresspiegel auf der ganzen Welt fiel um ganze 120 m, was die Form der Kontinente veränderte. Vor etwa 20.000 Jahren hätte man von Paris nach London laufen können oder von Alaska nach Sibirien. Die europäischen Laubwälder verschwanden und machten baumlosen, kalten Steppen Platz, an die die Gletscher stießen; Nadelbäume verbreiteten sich in Richtung Süden. Und auch die Tiere veränderten sich. Statt im Wald ansässiger Säugetiere wie Hirsche und Elche gab es Rentiere, Moschusochsen, Mammuts und Wollnas­ hörner, wie sie im kalten Grasland zu Hause waren. Es gab auch andere Raubtiere – Löwen und Hyänen gesellten sich zu den üblichen Wölfen und Bären. Das Europa der Eiszeit war vollkommen anders als das heutige.9, 10 Vor 20.000 Jahren waren die Neandertaler schon längst verschwunden, aber diese jüngste größere Eiszeit war nur die letzte in einer langen Reihe von Eiszeiten. Sie begann vor etwa 30.000 Jahren und endete vor etwa 12.000 Jahren. Eine etwas weniger intensive Eiszeit ging dieser voraus: Sie begann vor 70.000 Jahren und endete vor 60.000 Jahren – und diese erlebten die Neander21

taler definitiv noch mit. (In der Tat lassen sich viele unserer besterhaltenen europäischen Neandertaler auf diesen Zeitraum datieren.) Vor 180.000 bis 128.000 Jahren gab es eine sehr lange, sehr intensive Eiszeit, und eben zu dieser Zeit entwickelte sich die „klassische“ Neandertaler-Anatomie. Davor gab es noch mehrere weitere Eiszeiten, bis ganz zurück in die Zeit des unmittelbaren Vorfahren des Neandertalers, des Homo heidelbergensis. Während dieser Eiszeiten und der dazwischenliegenden Warmzeiten war es nicht immer gleich kalt oder warm; das Klima schwankte stark, von extrem kalt bis zu ­extrem warm, oft über Intervalle von nur ein paar Tausend Jahren hinweg. Die durchschnittliche Temperatur während der Eiszeiten war niedriger als heute, und in jeder gab es kältere Intervalle und auch kurze Zeiten extremer Kälte, die nur ein paar Tausend Jahre dauerten. Wir wissen, dass die Neandertaler während der Eiszeiten in Europa blieben, aber archäologische Hinweise deuten darauf hin, dass sie manche Gegenden infolge extremer Kälte verließen; das tat der moderne Mensch allerdings ebenfalls, als er schließlich vor 40.000 Jahren nach Europa kam. Klar ist, dass sich die Neandertaler in Europa in einer Zeit der schwankenden Klimabedingungen entwickelten, mit mehreren langen kalten Phasen, die Zehntausende Jahre dauerten – reichlich Zeit für eine natürliche Selektion nach den Regeln von Bergmann und Allen. Wie gut passten sich die Neandertaler denn nun der Kälte an? Ihre Anatomie weist darauf hin, dass sie sich der Kälte womöglich nicht besser anpassten als manche moderne Menschen, z. B. die Inuit. Leslie Aiello und Peter Wheeler haben eine differenzierte Analyse des Körpertyps der Neandertaler durchgeführt, um festzustellen, wie viel Kälte ein Neandertaler aushalten konnte.11 Aufgrund der Kenntnis von Körperbau und Bemuskelung der Neandertaler (auf die man durch Skelettüberreste schließen kann) sowie einer Schätzung der basalen Stoffwechselrate, die ihre starke Abhängigkeit von Fleisch berücksichtigte (dazu später mehr), waren sie in der Lage, eine „minimale nachhaltige Umgebungstemperatur“ zu errechnen – das ist die niedrigste Lufttemperatur, bei der man vollkommen nackt und ohne Feuer überleben kann. Das Ergebnis: 8 °C. Die gleiche Berechnung für den modernen Europäer ergab 10,5 °C. Dies ist nur ein geringer Vorteil; wir erfahren dadurch, dass die Neandertaler wahrscheinlich besser an kalte Umgebungen angepasst waren als moderne Europäer, aber nicht viel. Ohne die Hilfe zweier kultureller Mechanismen zum Warmhalten wären sie niemals in der Lage gewesen, die Eiszeit in Europa zu überleben: Feuer und Kleidung. 22

Auch die Nase der Neandertaler hat man mit der Anpassung an die Kälte in Verbindung gebracht. Moderne Menschen, die in kalten Klimazonen leben, neigen zu einer langen, hoch angesetzten Nase. Anthropologen glauben, dass dadurch die Luft ein bisschen besser erwärmt und befeuchtet wird, bevor sie in die Lunge eintritt. Doch die Nasen dieser Menschen sind zwar lang, aber auch schmal, nicht breit wie die Nasen der Neandertaler. Andere An­ thropologen glauben daher, dass die Nasengröße der Neandertaler eher auf ihr hohes Niveau körperlicher Anstrengung zurückzuführen ist, bei dem die ­Fähigkeit, größere Mengen Luft durch die Nase ein- und auszuatmen, ein Vorteil sein kann.12 Es scheint, dass die Anpassung an eine kalte Umgebung einige markante Merkmale der Neandertaler erklären kann, aber bei Weitem nicht alle. Die Größe von Schädel und Gehirn, das vorstehende Mittelgesicht, das fliehende Kinn und die allgemeine Robustheit der Knochen haben nichts mit der Kälte zu tun. Woher also stammen sie? Wie halfen sie dem Neandertaler, sich an seine Umgebung anzupassen? So langsam scheint sich herauszustellen, dass dies die falsche Fragestellung ist. Die eben erwähnten körperlichen Merk­ male des Neandertalers ähneln nämlich denen mehrerer prähistorischer ­Hominiden, einschließlich des Homo heidelbergensis, seines unmittelbaren Vorfahren im Stammbaum. Sie sind bei vormodernen Hominiden ganz ­normal und finden sich bei diversen archaischen Erscheinungsformen des prähistorischen Menschen in Afrika, Asien und in Europa. Erst der moderne Mensch sah anders aus. Bisher haben wir die Anatomie des Neandertalers mit unserer eigenen verglichen und versucht, die Besonderheiten des Neandertalers zu erklären. Aber die meisten dieser Besonderheiten sind gar nicht so ungewöhnlich, wenn wir sie mit anderen Hominiden derselben Zeit oder früher vergleichen. Unsere Perspektive geht stets von unserer eigenen Anatomie aus; dadurch sind wir blind geworden – nicht etwa für die Absonderlichkeiten der Neandertaler, sondern für die Absonderlichkeiten unserer eigenen Anatomie. Erik Trinkaus (dem wir in diesem Buch noch oft begegnen werden), eine echte Kapazität im Bereich der Neandertaler-Forschung, machte sich im Jahr 2006 daran, eine möglichst erschöpfende Liste der markanten Merkmale der ­Neandertaler ­anzufertigen. Er destillierte aus der schier unermesslichen Literatur über die Neandertaler und die moderne menschliche Anatomie 75 mögliche Merk­ male heraus und machte sich dann einige ausgefeilte statis­tische Methoden 23

zunutze, um diejenigen zu identifizieren, die den Neandertaler am meisten vom modernen Menschen abheben. Er fand heraus, dass nur 25 % davon für den Neandertaler charakteristisch waren. Doppelt so viele, nämlich 50 %, waren charakteristisch für den modernen Menschen. Die restlichen 25 % ­kamen bei beiden vor. Und so ist es selbstverständlich der Homo sapiens ­sapiens, der anatomisch sozusagen aus der Reihe tanzt.

Neandertalergehirne Dies ist ein Buch darüber, wie die Neandertaler dachten, und das Körperteil, das man zum Denken in erster Linie braucht, ist natürlich der Kopf, genauer: das Gehirn. Seit Jahrhunderten weiß der Mensch, dass das Gehirn das Organ ist, mit dem man denkt, aber erst in den letzten paar Jahrzehnten hat die Wissenschaft begonnen, zu verstehen, wie das Gehirn eigentlich funk­ tioniert. Und das ist gar nicht so einfach, wie man denken könnte. Vor etwa 150 Jahren begannen Wissenschaftler, Dinge über das menschliche Gehirn zu entdecken, die heute noch Gültigkeit besitzen. Etwa um 1860 wusste man, dass der äußere und obere Teile des Gehirns, die Großhirnrinde (auch Kortex genannt), einen großen Spalt aufweist (die Fissura longitudinalis), der das Gehirn von vorne nach hinten in zwei Hemisphären teilt. Forscher vermuteten, dass die linke Hemisphäre mehr Verantwortung für wichtige sprachliche Funktionen besitzt als die rechte. Man wusste, dass die beiden Hemisphären durch den sogenannten Balken (Corpus callosum) miteinander kommunizieren. (Tatsächlich wird bei „Split Brain“-Patienten das Corpus callosum durchgeschnitten, ein Verfahren, das immer noch angewendet wird, um die Schwere epileptischer Anfälle zu verringern.) Wissenschaftler fanden außerdem heraus, dass der rechte Teil der Großhirnrinde die linke Seite des Körpers zu kontrollieren scheint – und umgekehrt. Es zeigte sich auch, dass der vordere Teil des Gehirns (linker und rechter Frontallappen) für unsere argumentativen Fähigkeiten verantwortlich ist, für Fantasie, Planungsvermögen und Entscheidungsfindung. (Bei der frontalen Lobotomie werden geringe Mengen von Hirngewebe in beiden Frontallappen zerstört. Dieses Verfahren wird heute noch angewendet – auf freiwilliger Basis! –, um bei Geisteskranken extreme Aggressionen zu mindern.) Es wurde ­bekannt, dass der Hirnstamm, der das Rückenmark mit dem Gehirn ver­bindet, der24

jenige Bereich ist, der für unsere grundlegenden Vitalfunktionen wie Herzschlag, Atmung und Blutdruck zuständig ist, und dass diese Funktionen auch ohne Kortex funktionieren – von daher bezeichnet man manche Patienten als hirntot, auch wenn sie weiterhin aus eigener Kraft atmen, sogar im Koma: Bei diesen Patienten, so sagt man, ist die Großhirnrinde tot, nicht aber der Hirnstamm. Man fand zudem heraus, dass die Großhirnrinde eine kleine Furche (Sulcus centralis) aufweist, die von einem Ohr zum anderen reicht, und der Streifen des Kortex vor der Furche scheint für körperliche Bewegungen zuständig zu sein (man nennt ihn den Motorkortex), während die Oberfläche hinter der Furche offenbar für die Integration unserer physischen Sinne mit der Außenwelt verantwortlich ist, insbesondere unseres Tastsinns (dieser Streifen wird als somatosensorischer Kortex bezeichnet, die gesamte Gegend als Scheitellappen). Wir haben keine lebendigen Neandertalergehirne, ja wir haben sogar überhaupt keine Neandertalergehirne. (Ob Sie es glauben oder nicht: Unter ganz besonderen Umständen können Gehirne fossilisieren, oder es kann zumindest sein, dass ihre äußere Form erhalten bleibt, und Anthropologen besitzen sogar einen Abdruck des Gehirns eines viel früheren Hominiden.) Aber das bedeutet nicht, dass wir hier ganz und gar im Dunkeln tappen. Wir besitzen Hirnschädel von Neandertalern, anhand derer wir die Gesamtgröße und auch die ungefähre Form des Gehirns bestimmen können. Vom Säuglingsbis zum Erwachsenenalter dehnt sich der obere Teil des Hirnschädels aus, wobei das wachsende Gehirn Druck auf das Schädelinnere ausübt. In gewissem Sinne drückt das Gehirn gegen das Schädeldach, und daher bewahrt die innere Form des Schädels die Form des Gehirns. Neandertalergehirne unterschieden sich von unseren modernen Gehirnen in der Größe und in der Form. Werfen wir zunächst einen Blick auf die Größe. Die Gehirne der Neandertaler waren größer als unsere modernen Gehirne, etwa um 10 %. Das moderne Gehirn misst durchschnittlich etwa 1.300 cm³, das der Neandertaler durchschnittlich 1.427 cm³. Allerdings müssen wir hier vorsichtig sein. Uns steht keine allzu große Anzahl an Neandertalerschädeln zur Verfügung, nur 28 sind so vollständig erhalten, dass wir zuverlässig ihr Volumen messen können, und es ist durchaus möglich, dass wir durch Zufall ein paar extrem große Exemplare gefunden haben. (Der Amud-Neandertaler z. B. hatte eine Kranialkapazität von 1.740 cm³, etwa 400 cm³ größer als der Durchschnitt beim modernen Menschen.) Auch waren die Neandertaler sehr 25

muskulös, und die Zunahme der Gehirngröße könnte zumindest zum Teil mit ihrer Körpermasse zu tun haben, auch wenn uns das angesichts ihrer kurzen Statur und ihres Körpergewichts (80–90 kg) doch eher unwahrscheinlich erscheint. Die meisten Anthropologen sind sich einig, dass die ­Neandertaler im Durchschnitt etwas größere Gehirne als die modernen Menschen hatten. Aber waren sie auch 10 % schlauer? Wahrscheinlich nicht. Erstens gibt es beim modernen Menschen keine klare Korrelation zwischen der Größe des Gehirns und der Intelligenz (wie auch immer man diese misst). Und zweitens sagt das Gehirnvolumen noch nichts über die genaue Anzahl von Neuronen aus – geschweige denn über die Größe der anderen Funktions­ einheiten des Gehirns. Es ist nur die Größe. Zwar gibt es, wenn wir Tiere miteinander vergleichen, durchaus eine ­Korrelation zwischen der relativen Größe des Gehirns und dem Abschneiden bei Intelligenztests. Aber wir müssen die Körpergröße ausklammern, da große Tiere größere Gehirne brauchen, um die Funktion ihrer größeren Organe und eine höhere Anzahl an Nervenenden zu überwachen. Bei jeder Messung der Größe eines Gehirns muss man die Größe des Körpers berücksichtigen. Aber wenn wir den Faktor Körpergröße außer Acht lassen, haben einige ­Tiere (Fische, Reptilien) immer noch ziemlich kleine Gehirne und andere (Säugetiere, Vögel) eher große. Wie Sie sich vielleicht schon denken können, schneiden Fische und Reptilien bei Intelligenztests eher schlecht ab. (Der Sohn von TW hat zu Hause eine Eidechse, die in ihrem Leben nur eine ein­ zige Sache gelernt hat: Wenn sich der Deckel des Terrariums öffnet, fallen Grillen vom Himmel. Mäuse würden das in etwa zwei Studiendurchläufen lernen.) Wenn wir Säugetiere miteinander vergleichen, haben einige relativ kleine Gehirne (Pferde, Maulwürfe) und andere große (Primaten, Delfine), und auch hier scheint es eine gewisse Korrelation zur Intelligenz zu geben. Aber wenn wir Primaten miteinander vergleichen, funktioniert die Gleichung groß = ­intelligent nicht mehr ganz so gut. Alle haben relativ große Gehirne, und alle sind ziemlich schlau. (In Indien z. B. tun sich Affen zusammen, um die ­Menschen auf der Straße abzulenken und zu bestehlen.) Aber es gibt einen Primaten, bei dem das ganz anders ist: den Menschen. Unser Gehirn ist etwa dreimal größer, als es für unseren Körper sein sollte, und wir können Tests ausarbeiten, die kein anderer Primat zu bestehen in der Lage ist. Mithin ist die Größe des Gehirns an sich nicht irrelevant. Abgesehen davon ist ein so großes Gehirn aber auch ziemlich kostspielig im ­Unterhalt. 26

Über 20 % unseres Stoffwechsels – unserer Kalorienzufuhr sozusagen – dienen dazu, unser Gehirn am Laufen zu halten.13 Und die Neandertaler? Sie hatten große Gehirne, was, grob gesagt, darauf hindeuten könnte, dass sie klüger waren als wir. Gibt es aber Hinweise darauf, dass das stimmt? Auf der Basis archäologischer Funde sind die meisten An­ thropologen heute der Meinung, dass die Neandertaler nicht intelligenter oder dümmer waren als wir. In diesem Buch werden wir zu einem etwas ­anderen Schluss kommen: Die Neandertaler waren sowohl intelligenter als auch dümmer. Mit anderen Worten: Die Frage bringt uns nicht wirklich weiter. Die Neandertaler unterschieden sich von uns in intellektueller Hinsicht – doch sie waren nicht mehr oder weniger intelligent, ihre Intelligenz war lediglich eine andere. Das verrät uns aber nicht die Hirngröße. Unser erster Anhaltspunkt ist die Form des Gehirns. Neandertalergehirne waren länger und breiter als unsere, und wenn man sie von hinten betrachtet hätte, wären sie in der Mitte am breitesten gewesen.14 Ihr Frontallappen hatte ungefähr das gleiche Volumen wie unserer – das mag überraschen, wenn man sich ein wenig mit Gehirnen auskennt. Die Frontallappen, die sich an der Vorderseite des Gehirns befinden, hinter den Augen und der Stirn, steuern viele der sogenannten höheren Hirnfunktionen wie Argumentieren, Planen und Emotionsregulation. Wenn der Neandertaler also einen genauso großen Frontallappen besaß wie wir, muss er doch genauso geschickt im Argumentieren und Planen und im Regulieren seiner Emotionen gewesen sein wie der moderne Mensch, oder? Ganz so einfach ist es leider nicht. Die ähnliche Größe lässt durchaus vermuten, dass die Neandertaler darin nicht ganz anders waren als wir, das heißt aber nicht, dass sie uns darin ebenbürtig waren. Die verschiedenen Hirnlappen sind in komplexer Weise miteinander vernetzt, und man darf hier Unterschiede anderswo im Gehirn nicht außer Acht lassen. Das Volumen der Scheitellappen der Neandertaler war beispielsweise geringer als unseres.15 Diese Lappen befinden sich oben an den Seiten und an der Rückseite des Gehirns, und in ihnen ist eine wahrhaft verwirrende Vielfalt kognitiver Systeme und Fähigkeiten angesiedelt, von der Wahrnehmung über das räumliche Denken und das Verstehen von Sprache bis zur Erzeugung mentaler Weltmodelle. Nach unserem momentanen Verständnis können wir jedoch von dieser Information ausgehend – dass Neandertaler kleinere Scheitellappen hatten – auf keinen einzigen Unterschied im Verhalten 27

schließen. Deshalb sind archäologische Überreste weitaus wichtiger für die Interpretation der Denkweise der Neandertaler, und sie bilden die Grundlage für den Großteil unserer Thesen.

Ein hartes Leben Shanidar Nr. 1 lebte und starb vor etwa 50.000 Jahren im kurdischen Irak. Für einen Neandertaler ist er ziemlich berühmt: Nicht nur, dass sein Skelett unter Paläoanthropologen als eines der am vollständigsten erhaltenen Neandertalerskelette gilt – er führt zudem ein literarisches Eigenleben, als Vorbild für die Figur Creb in Jean M. Auels Roman Ayla und der Clan des Bären. Der Roman beruht weitgehend auf den Details der persönlichen Biografie von Shanidar Nr. 1, denn er führte ein hartes Leben. Das wissen wir durch seine Knochen. Ähnlich wie die glanzvollen forensischen Anthropologen in beliebten TV-Dramen sind Paläoanthropologen tatsächlich in der Lage, die ­Details der Lebensgeschichte eines fossilisierten Individuums zu rekonstruieren. Viele dieser Details sind banal: wie alt die Person war, welches Geschlecht sie hatte, wie groß sie war, wie schwer usw. Das Becken von Shanidar Nr. 1 teilt uns mit, dass er männlich war (es ist schmaler als ein weibliches Becken), dort, wo die Knochen des Schädels zusammengewachsen sind, erfahren wir, dass er zwischen 30 und 40 Jahre alt war, als er starb (eher Richtung 40), und seine Arm- und Beinknochen zeigen an, dass er ungefähr 1,72 m groß war – einer der größten bekannten Neandertaler. Das ist alles natürlich nicht besonders exotisch. Aber Paläoanthropologen, in diesem Fall Erik Trinkaus, können an Knochen physische Traumata erkennen – zu Lebzeiten aufgetretene Verletzungen oder Krankheiten.16 Und Shanidar Nr. 1 war ganz schön übel zugerichtet! Sein rechter Arm war schon mehrere Jahre vor seinem Tod vollkommen nutzlos, ja es scheint sogar, als habe er seinen gesamten Unterarm verloren: Keiner der Knochen des rechten Unterarms wurde beim Skelett gefunden, und der abgeheilte Stumpf des Oberarms (Humerus) weist auf eine Amputation knapp oberhalb des ­Ellenbogens hin, entweder durch eine direkte Verletzung oder vielleicht auch durch ein anderes Individuum, das den verstümmelten Unterarm entfernte. Auf der rechten Seite sind der Oberarm, das Schulterblatt und das Schlüsselbein etwa 10 % kleiner als auf der linken, und die oberen Knochenschichten 28

sind viel dünner. Dies könnte an einer Unterbrechung des Wachstums liegen, z. B. durch Lähmung als Kind oder durch eine posttraumatische Knochenatrophie als Erwachsener. Ebenfalls von einer Verletzung betroffen waren sein rechter Fuß und sein rechtes Bein. Einer seiner Mittelfußknochen des rechten Fußes (derjenige, der zu seinem kleinen Zeh führte) war gebrochen, und die Fraktur hatte zu einer arthritischen Degeneration des rechten Knöchels geführt, wahrscheinlich, weil Shanidar Nr. 1 auch trotz des Bruchs weiterhin zu Fuß ging. Von der Arthritis war sogar das Knie betroffen, das eine schwerwiegende arthritische Degeneration aufweist. Links sind Fuß, Bein und Knie ganz normal. Offenbar muss Shanidar Nr. 1 auf der rechten Seite etwas Schlimmes widerfahren sein. Und als ob eine fast nutzlose rechte Seite nicht genug wäre, hat Shanidar Nr. 1 einen heftigen Schlag gegen die linke Seite seines Gesichts erfahren – einen Schlag, der ihm den Augenhöhlenknochen brach (wodurch er wahrscheinlich auf diesem Auge erblindete) sowie das linke Jochbein und die linke Seite seines Schädels. Wie die Verletzung an seiner rechten Seite war dieses Gesichtstrauma ganz lange, bevor Shanidar Nr. 1 starb, ausgeheilt. Und dann hat er auch noch rechts am Kopf eine Schnittwunde erlitten, durch einen Schnitt, der so tief war, dass er bis in den Knochen ging. Auch diese hat er überlebt. An jeder dieser Verletzungen, mit Ausnahme des gebrochenen Fußes vielleicht, hätte Shanidar Nr. 1 sterben können, aber er hat sie überlebt. Doch wie kamen sie zustande? Da gibt es eine ganze Reihe von Möglichkeiten. Trink­ aus hat hierzu, in dem ihm eigenen vorsichtig-wissenschaftlichen Stil, drei mögliche Szenarien vorgeschlagen: 1. Shanidar Nr. 1 hatte einen Unfall. Vielleicht gab es in der Shanidar-Höhle einen Steinschlag, der zu den Verletzungen an seiner rechten Seite führte und eventuell auch sein Gesicht in Mitleidenschaft zog. 2. Der vermeintliche Schlag ins Gesicht und an seinen Kopf verletzte den linken Motorkortex des Gehirns, der die rechte Seite des Körpers steuert. Dieser neuronale Schaden führte zu einer Lähmung der rechten Körperhälfte und schließlich zur Atrophie des Arms. (Wir halten dies eher für unwahrscheinlich. Ein Schlag auf die linke Seite des Kopfes führt nämlich durch den sogenannten Contre-coup-Effekt eher zu Schäden an der rechten Seite des Gehirns, da es dabei gegen die rechte Schädelwand prallt.) 29

3. Shanidar Nr. 1 erfuhr eine Verletzung an der rechten Schulter, bei der der Arm aus dem Gelenk gerissen wurde, was eine Lähmung der Schulter und des Arms mit nachfolgender Atrophie zur Folge gehabt hätte. Die Verletzungen am rechten Fuß und der linken Gesichtshälfte hatten demnach nichts miteinander zu tun. Die vielleicht wichtigste Erkenntnis ist, dass Shanidar Nr. 1 überlebt hat, und zwar nicht nur ein paar Tage lang, sondern mehrere Jahre. Und das kann er allein niemals geschafft haben. Jemand pflegte ihn gesund, und nach seiner Genesung nahm er wieder am Leben der anderen Neandertaler teil. Dies ist unser erster wirklicher Hinweis auf die Funktionsweise des Geistes der ­Neandertaler. Wahrscheinlich rühren die Blessuren der rechten Seite daher, dass Shanidar Nr. 1 einen Unfall hatte. Die Verletzungen in seinem Gesicht sind jedoch weniger deutlich als Folge eines Unfalls auszumachen, und in der Tat könnten sie daher stammen, dass ihm jemand einen heftigen Schlag ins Gesicht verpasst hat. Paläoanthropologen schreiben prähistorischen Menschen nur ungern und sehr zögerlich zwischenmenschliche Gewalt zu, es sei denn, es gibt klare Beweise dafür; aber hier können wir fast sicher sein, dass es dazu kam. Immerhin ist eine gewalttätige Interaktion kein ausschließliches Merkmal des modernen Menschen, sondern auch bei vielen modernen Primaten zu finden, unter anderem bei unseren nächsten Verwandten, den Schimpansen. Es wäre ein Fehler, zwischenmenschliche Gewalt bei Neandertalern auszuschließen, nur weil sie einem etwas unglücklichen Stereotyp entspricht. Falls Shanidar Nr. 1 tatsächlich bei einer körperlichen Auseinandersetzung verletzt wurde, steht er damit nicht alleine da. Shanidar Nr. 3 wurde ermordet. Das Skelett von Shanidar Nr. 3, der kein direkter Zeitgenosse von Nr. 1 war, ist insgesamt nicht so gut erhalten, aber sein Brustkorb schon, und dieser würde mit dem, was er einem Forensiker verrät, glatt in eine Folge von CSI passen. Die obere Kante der neunten Rippe links (wenn man von oben herunterzählt) weist eine tiefe Kerbe auf, die den Knochen beinahe in der Mitte durchtrennt. Das einzige Objekt im Leben der Neandertaler, das in der Lage gewesen wäre, ihm eine entsprechende Wunde beizubringen, war ein Werkzeug aus Stein – entweder die Kante eines Messers oder, was wahrschein­ licher ist, die Spitze eines Speers. Die Ränder der Wunde hatten bereits begonnen zu heilen, aber Shanidar Nr. 3 starb, bevor die Heilung abgeschlossen 30

war. Beim verletzten Knochen hatte jedoch noch keine Heilung eingesetzt, was darauf hindeutet, dass die Speerspitze in der Wunde verblieb, bis Shanidar Nr. 3 starb. Trinkaus schätzt, dass Shanidar Nr. 3 noch mehrere Wochen gelebt haben könnte, bevor er an seiner Wunde starb, vielleicht aufgrund ­einer starken Infektion. Die Speerspitze hatte wahrscheinlich das Lungenfell durchstoßen, und obwohl eine solche Wunde nicht notwendigerweise tödlich sein musste, war sie es in diesem Fall. Einige (vielleicht eher pazifistisch angehauchte) Anthropologen haben vorgeschlagen, Shanidar Nr. 3 könnte ein wenig ungeschickt gewesen und auf seinen Speer gefallen sein, wie eine Art Inspektor Clouseau der Neandertaler. Das erscheint uns dann doch allzu weit hergeholt. Viel wahrscheinlicher ist, dass ihn jemand mit dem Speer getötet hat. Aber wer? Steven Churchill hat vor Kurzem diese inzwischen berühmt gewordene neunte Rippe noch einmal untersucht und festgestellt, dass die Wunde durch einen Wurfspeer entstanden sein muss und nicht durch den üblichen Speer der Neandertaler, der gestoßen wurde.17 Churchill führte dazu ein Experiment durch, mit toten Schweinen (diese ähneln in Größe und Muskulatur dem menschlichen Brustkorb) und rekonstruierten NeandertalerStoßspeeren. Dabei richteten die Speere einen weitaus größeren Schaden an den Rippen der Schweine an, als man ihn bei Shanidar Nr. 3 findet. Aber als Churchill einen Speerwerfer einen modernen Speer werfen ließ, ähnelte das Ergebnis stark der Wunde von Shanidar Nr. 3. Soweit wir wissen, haben die Neandertaler jedoch niemals Wurfspeere verwendet. Shanidar Nr. 3 wurde also nicht nur getötet, es könnte sogar sein, dass er durch einen Homo sapiens sapiens getötet wurde. Archäologische Funde legen nahe, dass der moderne Mensch sich zum ersten Mal vor 50.000 Jahren oder etwas später im Nahen Osten niederließ (es gibt keine Skelette aus dieser Zeit), somit wäre dieses Szenario zumindest nicht unmöglich; allerdings haben viele Anthropologen hier Einwände und vermeiden es lieber, die Existenz von Aggressionen zwischen Neandertalern und modernen Menschen auf der Basis eines einzigen (zumal rätselhaften) Beispiels zu konstatieren. Dennoch wirft es die unvermeidliche Frage auf: Wie lange schon töten die Menschen im Nahen Osten einander aufgrund unüberbrückbarer Differenzen? So melodramatisch dieses Szenario auch ist, es dient hier in erster Linie dazu, das Thema, mit dem wir uns gerade beschäftigen, zu illustrieren. Die Neandertaler aus der Höhle Shanidar führten ein hartes, gefährliches Leben, im Laufe dessen sie schwere Verletzungen erwarteten oder solche Verletzungen zumin31

dest nicht unüblich waren. Von den sechs einigermaßen vollständig erhaltenen Skeletten erwachsener Neandertaler, die in der Höhle Shanidar ausgegraben wurden, wiesen vier schwere Verletzungen auf, die sie überlebten. Alle älteren Neandertaler (älter heißt hier 35 bis 40) hatten Verletzungen erlitten. Verletzungen waren einfach ein Teil ihres Lebens. Ebenso litten alle erwachsenen Neandertaler von Shanidar an degenerativen Gelenkerkrankungen – betroffen davon waren ihre Knie, Schultern, Ellbogen, Sprunggelenke, Füße und Rücken. Zumeist waren diese wohl nicht sonderlich hinderlich, außer in Fällen wie Shanidar Nr.  1, bei dem diese Erkrankungen eine indirekte Folge äußerer Verletzungen waren. Aber sie waren schmerzhaft. Die Shanidar-Neander­ taler bekamen die Arthritis in ihren Gelenken aufgrund konstanter, schwerer Belastung. Und sie wurden nicht älter als 45. Um ihr Leben waren die Neandertaler wahrlich nicht zu beneiden. Die Shanidar-Neandertaler waren keine Ausnahme. Das Muster von Verletzungen und degenerativen Gelenkerkrankungen, das ihre Skelette auf­ weisen, wiederholt sich überall dort, wo Neandertaler gefunden werden. Der Alte Mann von La Chapelle-aux-Saints, vielleicht der berühmteste Neandertaler überhaupt, litt ebenfalls an schwerer Arthritis, hatte eine degenerative Hüftpfanne und eine ausgeheilte gebrochene Rippe; außerdem verlor er die meisten seiner Zähne, einschließlich aller Zähne, die er zum Kauen benötigte. Und als er vor etwa 50.000 Jahren starb, war er auch nicht sehr alt, wahrscheinlich zwischen 30 und 40 Jahre. Die Verletzungen, der Zahnverlust und die degenerativen Erkrankungen beeinflussten seine Anatomie so stark, dass sie sogar einer genauen Rekonstruktion im Weg standen. 1910 beschrieb der französische Anatom Marcellin Boule den Alten Mann von La Chapelle-auxSaints und seinen gebückten Gang und seine Beine, die er nicht durch­strecken konnte – ein Bild, das sich umgehender Beliebtheit erfreute und weitgehend für das falsche Bild verantwortlich ist, das die meisten Menschen heute vom Neandertaler in ihrem Kopf mit sich herumtragen. Ein neueres Bild vom Neandertaler ist realistischer, wenn auch durchaus verblüffend: der Neandertaler als Rodeo-Cowboy. Erik Trinkaus ist seit Langem vom Muster der Verletzungen, die sich an den Skeletten der Neandertaler finden, fasziniert (das verwundert jetzt nicht weiter, bedenkt man seine detaillierte Untersuchung der Skelette von Shanidar). In den frühen 1990er Jahren machten er und Thomas Berger sich daran, nachzuforschen, ob sie bei Skeletten moderner Menschen ähnliche Muster finden konnten. 32

Sie untersuchten sieben Gruppen von Skeletten: drei mit Skeletten moderner Menschen, drei mit archäologischen Funden prähistorischer Menschen und eine Gruppe mit Sportverletzungen unter Rodeo-Cowboys. Wenn Sie schon einmal ein Rodeo gesehen haben oder bei einem vor Ort waren, wissen Sie, dass die Cowboys dort gegen wirklich große Tiere antreten: Pferde, Rinder und, am gefährlichsten von allen, Stiere. Diese Tiere werden eigens für ihre Fähigkeit gezüchtet, junge Männer abzuwerfen, die versuchen, auf ihnen zu reiten. Verletzungen sind hier so allgegenwärtig, dass die Professional Rodeo Cowboys Association, die zwischen 1981 und 1990 alle von ihren Mitgliedern erlittenen Verletzungen verzeichnet hat, auf 2.593 Verletzungen kommt. Es waren die Skelette solcher Rodeo-Cowboys, die Berger und Trink­aus die Augen öffneten.18 Das bei den Neandertalerskeletten entdeckte Ver­letzungsmuster war dem der Rodeo-Reiter sehr ähnlich: „Es gibt lediglich ­unwesentliche Unterschiede zwischen den diversen Läsionstabellen der ­Neandertaler und denen der Rodeo-Reiter.“ Bei beiden gab es einen extrem hohen Anteil an Kopf- und Halsverletzungen, doppelt so hoch wie bei den normalen Skeletten. Berger und Trinkaus kamen zu dem Schluss, dass der Neandertaler „viele unschöne Begegnungen“ mit großen Tieren gehabt haben muss. Die meisten Verletzungen scheinen aufgetreten zu sein, während die Neandertaler „in ihren besten Jahren“ waren, soll heißen: junge Erwachsene. Und 87 % der Kopf- und Halsverletzungen der Neandertaler kamen bei männlichen Exemplaren vor – eine Tatsache, auf die wir in einem späteren Kapitel noch zurückkommen werden. Wir nehmen zwar nicht an, dass die Neandertaler Stiere ritten oder Willie Nelson hörten, während sie in zerbeulten alten Pickup-Trucks herumfuhren. Vielmehr sind wir der Meinung, dass ein fester Bestandteil ihres Lebens eine ziemlich brutale Art der Jagd war – gefährlich genug, dass diejenigen, die lange genug überlebten, um das Erwachsenenalter zu erreichen, damit rechnen mussten, sich schwere körper­liche Verletzung zuzuziehen. Nicht nur, dass die Neandertaler ein gefährliches Leben mit einem hohen Maß an körperlicher Anstrengung führten, sie waren zudem einer regelmäßig wiederkehrenden Nahrungsmittelknappheit ausgesetzt. Auch dies verraten uns ihre Skelette, in diesem Fall die Zähne. Bleibende Zähne beginnen ihr Wachstum im Kiefer bereits kurz nach der Geburt. Dort, wo sich später die Zahnkrone befindet, wird Zahnschmelz abgelagert, wobei schließlich viele Zahnschmelzschichten übereinanderliegen, die älteste zuunterst. Falls ein Säugling in dem Zeitraum, in dem sich der Schmelz bildet, unter Mangel­ 33

ernährung leidet, wird die Zahnschmelzbildung gestört; solche Störungen sind später dauerhaft am erwachsenen Zahn zu erkennen, als Rillen oder ­Furchen, ein Zustand, den man Hypoplasie nennt. Es gab bereits mehrere Studien zu den Zähnen der Neandertaler, die nach Beweisen für eine solche ­Hypoplasie suchten, und alle wurden fündig, und zwar in signifikanten Frequenzen. Debbie Guatelli-Steinberg und ihre Kollegen identifizierten eine Zahn-Hypoplasie in 39 % der untersuchten Neandertaler, eine Zahl, die denen anderer Studien ähnelt. In anderen Worten: Fast 40 % der Neandertaler erfuhren als Säugling über längere Zeiträume hinweg eine mangelhafte Ernährung.19 Und da sie an diesem Punkt in ihrem Leben ziemlich sicher gestillt wurden, bedeutet das zugleich, dass ihre Mütter unter Stress litten; Hunger scheint an der Tagesordnung gewesen zu sein. Aber wir müssen dies im größeren Zu­sammenhang sehen, bevor wir daraus schließen, dass die Neandertaler sich schlecht um ihre Angehörigen kümmerten. Als Guatelli-Steinberg dieselben Techniken auf die Kiefer von Inuit aus dem Norden Kanadas anwendete, die ein paar Hundert bis ein paar Tausend Jahre alt waren, wiesen diese fast dieselbe Zahl auf: 38 % trugen Anzeichen für Hypoplasie. Wir lernen daraus also nicht, dass die Neandertaler keine guten Jäger und Sammler waren, sondern vielmehr, dass das Jagen und Sammeln in kalter, feindlicher Umgebung immer eine riskante, unberechenbare Angelegenheit ist. Wie wir in den folgenden ­Kapiteln sehen werden, waren die Neandertaler technologisch nicht so fortschrittlich wie die Inuit; dass sie es aber mit viel einfacheren Werkzeugen auf ein vergleichbares Ernährungsniveau brachten, ist ein Beweis für den Erfolg ihrer eher körperlichen Annäherung an das gefährliche tägliche Leben.

Kognition Was enthüllt unser düsteres Porträt der Neandertaler über ihr Denken? Hat ihr hartes, gefährliches Leben sie die Welt auf eine ganz bestimmte Weise wahrnehmen lassen? Die folgenden Kapitel enthalten noch viel mehr Informationen über die Neandertaler, und im Zuge dessen werden sich einige ­ihrer Denkweisen herauskristallisieren. An dieser Stelle können wir nur ein paar Verallgemeinerungen über das Leben der Neandertaler bieten, die etwas darüber aussagen, was und wie sie dachten: 34

1. Neandertaler besaßen die Fähigkeit, Schmerzen, Beschwerden, Müdigkeit und Hunger auszuhalten – all das war Teil ihres Alltags. 2. Der Tod war für sie ein ewiger Begleiter; Neandertaler waren Tag für Tag mit ihrer eigenen Sterblichkeit konfrontiert. Später in diesem Buch werden wir zeigen, dass die Neandertaler ein Konzept vom Tod besaßen, und wir werden darlegen, dass sie über den Tod nachdachten. 3. Aufgrund der hohen Sterblichkeitsrate (wenige wurden älter als 40) bestanden Neandertalerfamilien nie aus mehr als drei Generationen. 4. Sie kannten zwischenmenschliche Gewalt. 5. Aber sie zeigten auch Mitgefühl und kümmerten sich um beeinträchtigte Individuen. Diese fünf Verallgemeinerungen sind auf den ersten Blick nicht viel, aber sie sind immerhin ein Anfang. Wir können daraus auf ein paar kognitive und persönlichkeitsbildende Merkmale schließen: 1. Hartnäckigkeit: Neandertaler mussten in der Lage sein, ihre Aufgaben auch bei Schmerzen oder verminderter Leistungsfähigkeit zu vollbringen. 2. Vorsicht: Sie mussten von Natur aus vorsichtig sein und waren wahrscheinlich eher intolerant gegenüber Fremden. Das war die einzig sichere Art der Interaktion. Wir werden diesen Punkt in späteren Kapiteln weiter ausführen. 3. Liebe: Sie pflegten emotionale Bindungen zu Familienmitgliedern und anderen Individuen, die ihnen nahestanden. Irgendjemand muss Shanidar Nr.  1 gesundgepflegt haben, und irgendjemand bemühte sich mehrere ­Wochen lang, Shanidar Nr. 3 am Leben zu halten, wenn auch ohne Erfolg. Angesichts der harten Bedingungen des Lebens der Neandertaler ist dies ein Beweis für starke emotionale Bindungen. Diese Eigenschaften sind nicht Neandertaler-spezifisch. Sie und ich besitzen sie auch. Es handelt sich dabei um grundlegende Denkprozesse, die wir alle miteinander teilen und die Zeugnis ablegen von unserer gemeinsamen Menschlichkeit. Nach Unterschieden müssen wir also woanders suchen.

35

2 Ernährung à la Höhlenmensch Im Schlachthaus Es war ein Gemetzel, buchstäblich. Die geschlachteten Kadaver von elf Mammuts und drei Wollnashörnern füllten die Schlucht, die eigentlich nichts ­weiter war als ein riesiger Riss in einer Landzunge aus Granit. Die Kadaver waren zerschnitten worden und die Knochen an der Wand aufgestapelt, nachdem man das Fleisch von ihnen abgeschabt hatte. Alles war voll mit Körperteilen, Eingeweiden, Blut und anderen Körperflüssigkeiten; man musste aufpassen, dass man nicht ausrutschte. Die Neandertaler, die sich hier als Schlachter betätigten (denn es handelte sich zweifellos um Neandertaler), müssen buchstäblich durch Eingeweide und Blut gewatet sein, während sie systematisch die Überreste dieses grausigen eiszeitlichen Schlachtfests ver­ arbeiteten. Obwohl man bei den geschlachteten Tieren keine Waffen und an ihren Überresten auch keine Wunden von Waffen entdeckt hat, weisen doch die Umstände darauf hin, dass hier Neandertaler bei der Jagd gewesen waren. La Cotte de St. Brelade ist ein Felsen, der an einem Strand an der Südküste der Insel Jersey im Ärmelkanal über das Meer ragt (Abb. 2-1). Auch heutzutage ist es hier im Sommer oft windig, regnerisch und kalt. Zu Beginn der vorletzten Eiszeit, vor etwa 160.000 Jahren, war es natürlich noch kälter, und aufgrund des sinkenden Meeresspiegels war Jersey keine Insel, sondern die Spitze einer Halbinsel im Westen der Normandie. Der Felsen von La Cotte markierte das abrupte Ende eines Felsplateaus mit einer 50 m hohen Klippe. Die elf Mammuts und drei Nashörner sprangen anscheinend alle auf einmal hier hinunter, bei einem einzigen schrecklichen, chaotischen Vorfall. Anders kann man sich nicht erklären, wie sie hierhin gelangt sind, in eine Schlucht am Fuße einer Klippe. Dort halten sich normalerweise weder ­Mammuts noch 36

Abb. 2-1: La Cotte de St. Brelade.

Nashörner auf. Und der Zustand der Knochen und ihre Nähe ­zueinander zeigen, dass es sich nicht um eine allmähliche Ansammlung einzeln herabgefallener Tiere handelt. Die heutigen Elefanten geraten gelegentlich in Panik, und es gibt historische Beispiele, wie Afrikaner Elefanten und Nashörner in Panik versetzten und so in eine Fallgrube jagten (die oft mit spitzen Pfählen versehen war). Im heutigen Afrika suchen Nashörner gelegentlich am Rande von Elefantenherden nach Futter – beide Arten zusammen zu finden, wie in La Cotte, ist also nichts Ungewöhnliches. Etwas muss diese Tiere so erschreckt haben, dass sie vor lauter Angst in ihr Verderben liefen, als diejenigen Tiere der Herde, die die Klippe als Erste erreichten, anhalten wollten, aber von den nach ihnen Kommenden einfach hinübergestoßen wurden. Die einzelnen Tiere waren jung, aber keine Babys mehr. Bestimmt wurden einige von ihnen beim Aufprall sofort getötet, aber sicherlich verletzten die meisten sich lediglich schwer, so schwer, dass sie nicht mehr laufen konnten, wanden sich in ­Todesqualen am Fuße der Klippe und verletzten sich selbst dabei noch mehr – und alle, die dumm genug waren, sich ihnen zu nähern. In der ­Gegend von La Cotte gab es sowohl Löwen als auch Hyänen, aber weder Löwen noch ­Hyänen würden auf diese Weise jagen. Das tun nur Menschen. Und der gefährlichste Fleischfresser der Gegend war zu dieser Zeit der Neandertaler.1 37

Ernährung Ein durchschnittlicher Neandertaler benötigte etwa 3.000 bis 5.500 Kalorien pro Tag. Paläoanthropologen haben diese Zahl anhand des Körpergewichts und anhand von Schätzungen der körperlichen Aktivität auf Basis der Robustheit der Knochen und des ausgeprägten Muskelgewebes errechnet. Und wie wir in Kapitel 1 gesehen haben, brachte die Notwendigkeit, die ei­gene Körpertemperatur aufrechtzuerhalten, metabolische Anforderungen mit ­ sich, die den täglichen Kalorienbedarf zusätzlich erhöhten. Die geschätzten 3.000 bis 5.500 Kalorien sind eine ganze Menge, etwa so viel wie ein Leistungssportler im Training verbraucht. Männliche wie weibliche Neander­ taler benötigten gleich viele Kalorien; aber woher haben sie sie bekommen? Einen Großteil ihrer Zeit im Nordwesten Eurasiens verbrachten die Neandertaler in einem Lebensraum, der in puncto pflanzliche Nahrung wenig zu bieten hatte. In den Tropen und Subtropen gab es reichlich Obst, Wurzeln, Nüsse, essbare Blätter usw. – in den nördlichen Breiten waren diese eher rar gesät. Selbst unter modernen Jägern und Sammlern gibt es eine starke Korrelation zwischen Breitengrad und Ernährungsweise. In den Tropen ernährt man sich hauptsächlich pflanzlich, in gemäßigten Breiten bevorzugt man eine Mischung aus pflanzlicher und tierischer Nahrung. Die Bewohner der Arktis, wie z. B. die Inuit, holen sich die meisten ihrer Kalorien aus tierischen Produkten (Meeres-/Landsäugern und Fischen). Angesichts der geografischen Verteilung der Neandertaler im Nordwesten Eurasiens würden wir auf eine Ernährung schließen, bei der tierische Produkte eine große Rolle spielten. Vor allem galt dies für die Eiszeiten. In Europa war es kälter, die gemäßigten Wälder wurden nach Süden gedrängt. Während dieser Kaltzeiten muss der Lebensraum Europa ganz anders ausgesehen haben als heute – und zwar so sehr anders, dass es heute kein Äquivalent dazu gibt. Es war kälter, aber anders als in der tatsächlichen Arktis war es im Winter nicht monatelang dunkel. Die Sonne schien damals genauso lange wie heute. Das Ergebnis: eine Landschaft, die über mehr Vegetation verfügte als die heutigen arktischen und subarktischen Regionen, vor allem in Form von Gräsern und Riedgrasgewächsen.2–7 Allerdings waren die meisten dieser Pflanzen für die Neandertaler gar nicht genießbar; nur ein paar konnten sie essen und taten das auch, z. B. die Wurzeln bestimmter Pflanzen und einige Grassamen, die sie kochten. Aber diese Ressourcen reichten für die Neandertaler Nord­ 38

europas nicht aus. Allein deshalb würde man erwarten, dass tierische Erzeugnisse einen großen Teil ihrer Ernährung ausmachten. Was Paläoanthropologen allerdings überrascht hat, war, wie groß dieser Anteil tatsächlich war.8,9 Schuld waren die Archäologen, die die Paläoanthropologen hinsichtlich der Ernährung der Neandertaler (ohne es zu ahnen) auf eine falsche Fährte geführt hatten. In den Wohnstätten von Neandertalern, die sich häufig im Eingangsbereich von Höhlen oder unter Felsüberhängen befanden, entdeckten Archäologen diverse Abfälle, vor allem Steinwerkzeuge und Tierknochen. Die Knochen waren zumeist ziemlich kaputt, aber Archäologen konnten ­viele der Spezies identifizieren – es waren vor allem Knochen mittelgroßer bis großer Säugetiere wie Pferde, Bisons, Wildrinder, Hirsche und Rentiere. ­Archäologen kamen zum nicht ganz von der Hand zu weisenden Schluss, dass dies Überreste von Tieren waren, die von den Neandertalern verspeist worden waren. Ende des 20. Jahrhunderts gab es ein paar Jahrzehnte lang eine Kontroverse, wie sich die Neandertaler dieser Tiere bemächtigt hatten, ob durch Einfangen oder Jagd; um 1990 herum hatte sich die Archäologie weitgehend auf eine opportunistische Jagdweise geeinigt. Doch dann trat die Chemie auf den Plan und sorgte für eine große Überraschung. Viele Überreste der Neandertaler und die mit ihnen in Zusammenhang stehenden Tierknochen enthalten eine Menge organisches Material. Mit geeigneten Analyseverfahren ist es möglich, die chemische Zusammensetzung eines Knochens und dadurch die Komponenten zu identifizieren, aus denen die Nahrung des getesteten Individuums bestand. Insbesondere die Verhältnisse bestimmter Isotope von Kohlenstoff und Stickstoff sind gute Indikatoren für verschiedene Eiweißquellen. Die isotopische Signatur eines Pflanzenfressers unterscheidet sich stark von der eines Fleischfressers, und die isotopischen Signaturen von Fleischfressern unterscheiden sich je nach der Art der Tiere, die konsumiert werden (z. B. haben fleischfressende Meeres­ tiere wie Seelöwen eine andere Signatur als terrestrische Aasfresser und ­Jäger). Als man die Knochen der Neandertaler analysierte, wurde schnell klar, dass diese Fleischfresser gewesen waren. Das war natürlich keine Überraschung. Aber als man die Ergebnisse mit denen von Hyänen verglich, den dort lebenden Aasfressern und opportunistischen Jägern, waren die Neandertaler viel höher auf der Fleischfresser-Skala angesiedelt. Sie scheinen nicht besonders viel Aas verzehrt zu haben, was man so nicht erwartet hatte. Wenn die Vergleichsdaten zu örtlichen Pflanzenfressern gut genug sind, kann man 39

manchmal jedoch feststellen, welche Pflanzenfresser es waren, die die Neandertaler hauptsächlich gegessen haben. Und es zeigte sich: Die beiden wichtigsten Quellen tierischen Eiweißes für Neandertaler in Nordwesteuropa ­waren das Mammut und das Wollnashorn – genau die Tiere, die unterhalb der Klippe von La Cotte geschlachtet wurden.10, 11 Wie konnte es sein, dass den Archäologen das entgangen war? Schuld daran war der sogenannte Schlepp-Effekt: Archäologen hatten nur diejenigen Körperteile von Tieren identifiziert, die die Neandertaler in ihre Wohnstätte mitgebracht hatten. Mammut- und Nashornknochen waren in der Regel zu groß, um sie herumzutragen. Ziemlich sicher trugen die Neandertaler lediglich das Fleisch der Mammuts zu ihren Höhlen, aber in Form von Filets, die keine Spuren hinterließen. Es war der Archäologie also gelungen, eine wichtige Nahrungsquelle der Neandertaler zu identifizieren, aber eben nur eine sekundäre. Zusammen­ genommen zeigen die archäologischen und chemischen Daten, dass die Neandertaler mehr waren als Fleischfresser: Sie waren erfolgreiche Jäger, die an der Spitze der Nahrungskette standen. Sie erlegten die größten und gefährlichsten Pflanzenfresser, die es in Europa gab. Wir wollen uns jetzt damit beschäftigen, wie sie das taten, denn das ist ein wichtiger Hinweis auf ihre Denkweise.

Elefant am Spieß Die Mbuti-Pygmäen des Ituri-Regenwalds im Kongo jagten Elefanten mit kurzen Speeren. Wie man sich vorstellen kann, ist es ziemlich schwierig, einen erwachsenen Elefanten mit einem einzigen Speerstich zu töten oder auch nur bewegungsunfähig zu machen. In einem dokumentierten Beispiel warf ein Mbuti-Jäger seinen Speer und verwundete den Elefanten in der Seite. Die Jäger folgten der Blutspur, verwundeten den Elefanten erneut und warteten dann einfach ab, bis er durch den Blutverlust so geschwächt war, dass sie ihn töten konnten, ohne sich selbst zu gefährden. Der Lohn für solche Mühe war mehr Fleisch, als die Jäger effektiv zu nutzen in der Lage waren. Also schlugen die Mbuti normalerweise mit ihren Frauen und Kindern in der Nähe ­eines solchen Kadavers ein neues Lager auf, um das Potenzial der Nahrungsquelle zu maximieren. Dennoch kann man dieses Modell der Mbuti nicht auf die Mammuts jagenden Neandertaler übertragen. Denn erstens benutzten 40

die Mbuti Speere mit Metallspitzen, die dünner waren und eine Oberfläche leichter durchdringen als ein Speer mit steinerner Spitze. Und zweitens, was noch wichtiger ist, jagten die Mbuti in einem geschlossenen Lebensraum ­inmitten eines Waldes, wo man viel einfacher Schutz suchen und sich ver­ stecken kann; dadurch kamen sie näher an die Elefanten heran und hatten viel mehr Möglichkeiten, einen einzelnen isolierten Elefanten zu finden. Und diese Isolierung war ein wichtiger Faktor. Elefanten machen nämlich Jagd auf Jäger, wenn die Herde bedroht wird. Mammuts waren die Elefanten der Eiszeit, und obgleich es einige anatomische Unterschiede zwischen Mammuts und den heutigen afrikanischen und asiatischen Elefanten gibt (Mammuts hatten z. B. viel kleinere Ohren), muss dies nicht bedeuten, dass sich ihr soziales Verhalten deutlich voneinander unterschied. Die heutigen Elefanten leben in der Regel nicht in gemischten Gruppen, denen erwachsene Männchen und Weibchen angehören. Stattdessen suchen die Weibchen nach Nahrung und ziehen mit anderen erwachsenen Weibchen und ihren Kälbern umher. Angeführt werden diese Gruppen von einer ausgewachsenen Matriarchin, die sich Bedrohungen und unerwünschten Männchen aggressiv entgegenstellt. Männchen leben in gesonderten Gruppen oder als isolierte Individuen. Zur Paarungszeit tolerieren die Elefantenweibchen die Anwesenheit von erwachsenen Männchen, aber ansonsten sind gemischte Gruppen selten. Dieses soziale Arrangement stellt für Jäger ohne Hightech-Gewehr ein ernsthaftes Hindernis dar. Aus leicht ersichtlichen Gründen war das opti­ male Ziel ein Jungtier. Allerdings war es unter normalen Umständen so gut wie unmöglich, ein Kalb von seiner Mutter, den anderen erwachsenen Weibchen und der Matriarchin zu trennen. Ein isoliertes Männchen auszuwählen war aus anderen Gründen riskant: Erwachsene männliche Mammuts waren sehr groß und sehr gefährlich. Ohne das Mammut irgendwie bewegungsunfähig zu machen, war es einfach zu riskant, es zu jagen. Archäologen waren jedoch in der Lage, eine Gruppe erfolgreicher Mammutjäger aus der Steinzeit zu dokumentieren: die Paläoindianer, die vor 11.000 Jahren in den Ebenen Nordamerikas lebten. Dies waren moderne Menschen mit einer ein wenig besser durchdachten Technik als der der ­Neandertaler, aber sie sahen sich den gleichen Herausforderungen gegenüber. Ihre Speere bestanden aus einem langen gefiederten Schaft mit einem abnehm­ baren Vorschaft, an dem eine dünne Steinspitze befestigt war. 41

­ aläoindianer warfen diese Speere mit Hilfe von Speerschleudern, mit P ­Haken versehenen Stöcken, die als Verlängerung des Wurfarms dienten. Mit Hilfe einer Speerschleuder kann ein Jäger die Geschwindigkeit, Reichweite und Durchschlagskraft eines Speers drastisch erhöhen. Aber selbst mit ­diesem fortschrittlichen Gerät vermieden es die Paläoindianer offenbar, Mammuts im offenen Feld anzugreifen. Alle Orte, wo man Überreste von Mammuts entdeckt hat, die durch Paläoindianer getötet wurden, weisen bestimmte Auffälligkeiten hinsichtlich des Geländes auf. Einmal waren mehrere Mammuts immobilisiert oder zumindest verlangsamt worden, indem man sie durch den weichen Untergrund eines Bachbetts trieb. In einem anderen Fall gingen mehrere Mammuts offenbar in einem ausgetrockneten Flussbett in die Falle. Wie alle Elefanten hatten Mammuts ein relativ geringes Sehvermögen, und nachdem die Jäger durch solcherlei Maßnahmen das Risiko minimiert hatten, dass die Tiere ihnen hinterherliefen, töteten sie sie mit ihren Speerschleudern. Die Paläoindianer verfügten gegenüber den ­Neandertalern aber noch über einen weiteren Vorteil: Die Evolution des nordamerikanischen Mammuts war ganz ohne die Gegenwart von menschlichen Feinden vor sich gegangen, so dass es wahrscheinlich einfach keine geeigneten Abwehr­mechanismen entwickeln konnte.12 Natürlich waren die Paläoindianer keine Neandertaler, aber einige As­ pekte ihres Ansatzes bei der Mammutjagd finden wir in Stätten wie La Cotte wieder. Wie die Paläoindianer setzten die Neandertaler offenbar auf landschaftliche Elemente, um sich vor Ort einen Vorteil zu verschaffen. Im Fall von La Cotte machten sie die Mammuts nicht nur bewegungsunfähig, sondern verletzten sie schwer. Aber anders als die Paläoindianer hatten die ­Neandertaler auch keine Wurfgeschosse mit großer Reichweite und konnten den Mammuts daher auch nicht aus sicherer Entfernung Schaden zufügen. Stattdessen verwendeten sie Stoßspeere mit steinerner Spitze. Kann es einen da verwundern, dass die Neandertaler bei der Jagd vielfach Verletzungen am Oberkörper davontrugen? Die Verwendung landschaftlicher Elemente weist darauf hin, dass die Neandertaler erfolgreiche taktische Jäger waren, die beurteilen konnten, welche natürlichen Vorteile ihnen zur Verfügung standen, und jene dann in ihre Strategie einbauten. Die brutale Tötung aus kurzer Distanz zeigt eine Missachtung der persönlichen Sicherheit jenseits dessen, wie der moderne Mensch in der Regel handelt. Entweder das, oder sie waren äußerst selbstbewusst. 42

Rentier, Tur und Gazelle Natürlich jagten die Neandertaler nicht ausschließlich Mammuts und Nashörner. Tatsächlich traf die Ausrichtung auf das Mammut vielleicht nur auf Neandertalergruppen zu, die während der Eiszeit in den Ebenen von Nordwesteuropa lebten. An anderen Stätten war auf dem Weg an die Spitze der Nahrungskette eine vielseitigere Herangehensweise üblich. Die Neandertaler in Salzgitter-Lebenstedt im heutigen Niedersachsen machten Jagd auf Rentiere, und nicht irgendwelche Rentiere: Sie konzentrierten sich auf ausgewachsene männliche Tiere. Auch sie verwendeten das Gelände, um ihre Beute in der Bewegung zu behindern. In diesem Fall manö­ vrierten die Neandertaler eine Rentierherde oder den Teil einer Herde in ein steiles, enges Tal, so dass die Rentiere nicht fliehen konnten, und töteten sie mit Speeren. (Archäologen haben dort eine einzigartige Speerspitze gefunden, die aus Mammutknochen geschnitzt ist.) Die Stätte birgt die Überreste von mindestens 86 einzelnen Rentieren. Sie wurden jedoch unter Umständen nicht alle sofort getötet, es ist sogar wahrscheinlicher, dass die Neandertaler diesen Ort häufiger benutzten, immer im Frühherbst (wie man dem Alter der wenigen Jungtiere zum Zeitpunkt ihres Todes und dem Zustand der Geweihe entnehmen kann). Obwohl die Jäger auch einige Weibchen und Jungtiere erlegten, waren sie doch am meisten an den erwachsenen männlichen Tieren interessiert. Weibchen und Jungtiere wurden nicht sehr häufig geschlachtet, die Männchen schon. Dabei war das Verfahren, das die Neandertaler beim Schlachten anwendeten, immer dasselbe; z. B. hatten sie eine Technik, mit der sie ein Ende des Mittelfußknochens (einen der langen unteren hinteren Beinknochen) entfernten, den Knochen vorne öffneten und über die gesamte Länge des Knochens den Markraum freilegten. Knochenmark ist reich an Fett und sehr nahrhaft. Rentiere sind freilich nicht so groß und gefährlich wie Mammuts und Nashörner, aber die in Salzgitter-Lebenstedt gefundenen Überreste weisen auf einen ähnlichen Ansatz bei der Jagd hin: die natür­ lichen Gegebenheiten des Geländes zum eigenen Vorteil zu nutzen. Salz­ gitter-Lebenstedt ist mindestens 100.000 Jahre jünger als La Cotte, und das bedeutet, dass die Taktiken, die die Neandertaler im eiszeitlichen Europa verwendeten, über einen sehr langen Zeitraum gültig blieben.13 Der Kaukasus liegt von La Cotte und Salzgitter-Lebenstedt aus gesehen am anderen Ende Europas, und doch funktionierte die Jagd bei den dortigen 43

­ eandertalern ganz ähnlich. Die Fundstätte Ortvale Klde ist eine Halbhöhle N in den südlichen Ausläufern des Kaukasus mit Blick auf ein Flusstal, etwa 530 m hoch gelegen. Hier konzentrierten die Neandertaler sich auf eine lokale Bergziegenart, den Tur, auch Kaukasischer Steinbock genannt. Erwachsene männliche Exemplare wiegen an die 100 kg, die Weibchen etwas mehr als die Hälfte. Die Neandertaler machten Jagd auf beide. Wir können hier wieder ­beobachten, dass die Neandertaler primär ausgewachsene Tiere jagten, aber diesmal Männchen und Weibchen. Die Ture haben einen jahreszeitlich bedingten Migrationszyklus, im Sommer zieht es sie in höhere Lagen, im Winter in niedrigere. Männchen und Weibchen versammeln sich in getrennten Herden, im Herbst schließen sich einzelne Männchen den weiblichen Herden an, wenn sie männliche Konkurrenten erfolgreich abwehren. Aber die Ture haben noch eine andere Gewohnheit, und diese machten sich die Neandertaler zunutze: Sie verwenden Jahr für Jahr dieselben Pfade. Als Ortvale Klde bewohnt war, vor etwa 50.000 Jahren, befand sich die Stätte in der Nähe des Aufenthaltsorts der Ture im Winter. Die Neandertaler mussten sich lediglich ein Versteck in der Nähe eines der Pfade suchen, die die Ture immer zur Migration benutzten, und sie aus dem Hinterhalt angreifen, wenn sie vorbeiliefen.14 Unser bisheriges Bild zeigt den Neandertaler als jemanden, der sich ausschließlich vom Fleisch der Tiere ernährt, die er gejagt hat, und das ist ziemlich sicher irreführend. Neandertaler, die in den kalten Gletscherregionen in Europa lebten, konsumierten viel, vielleicht sogar ausschließlich Fleisch, da es in ihrem Lebensraum nur wenige essbare Pflanzen gab. Aber nicht alle Neandertaler lebten unter solch extremen Bedingungen. Die Neandertaler von Ortvale Klde im Südkaukasus verfügten ziemlich sicher über eine ganze ­Reihe essbarer Pflanzen. Wir haben keine Überreste davon finden können, denn Pflanzen hinterlassen in solch alten archäologischen Stätten zumeist keine Spuren. Aber es gibt Ausnahmen. Eine von ihnen ist Kebara in Israel. Kebara ist eine Höhle auf dem Berg Karmel, nahe der Mittelmeerküste. ­Neandertaler lebten in dieser Höhle vor etwa 60.000 bis 48.000 Jahren, etwa zur selben Zeit wie in Ortvale Klde. Die Umgebung war indes ganz anders als die des Kaukasus oder Nordeuropas. Die Kebara-Neandertaler waren, wie alle Neander­ taler, gute Jäger. Hier machten sie vor allem Jagd auf Gazellen, die für Paarhufer relativ klein sind, ganz ähnlich wie die Ture, und auf Damwild. Gazellen und Damwild machen etwa 80 % der tierischen Überreste aus, was auch auf eine Anpassung der Jagdstrategie hindeutet. Gelegentlich jagten die Kebara44

Neandertaler auch Wildrinder und Wildschweine, potenziell gefährliche Gegner, was erneut auf die Bereitschaft der Neandertaler hinweist, sich wilden Tieren entgegenzustellen. Zudem sammelten sie Landschild­kröten, die wahrscheinlich nicht ganz so wild waren. Auch wenn das Klima in Kebara ein wenig kühler und trockener war als heute, war es dennoch mediterran und sorgte für eine größere Vielfalt essbarer Pflanzen. Und die Kebara-Neandertaler verschmähten diese nicht. Hier hatten die Archäologen Glück. Viele pflanzliche Überreste waren in von den Neandertalern in der Höhle errichteten Feuerstellen verkohlt worden, und verkohlte Überreste haben eine viel bessere Chance, bewahrt zu werden. Archäologen bargen mehr als 4.000 verkohlte Samen, und 75 % davon waren Hülsenfrüchte (zumeist Erbsen). Daneben gab es in großer Zahl Pistazien und ein paar Eicheln. Hülsenfrüchte sind eine gute Proteinquelle, genau wie Nüsse, die gute Fettlieferanten sind. Es ist fast unmöglich zu bestimmen, wie wichtig diese für die Ernährung der dort lebenden Neandertaler waren, aber immerhin wissen wir so, dass Pflanzen durchaus auf dem Speiseplan der Neandertaler standen (wenn sie denn verfügbar waren). Die meiste Zeit nutzten die Neandertaler Kebara als Basis­lager im Winter und Frühjahr, als Wohnstätte, von der aus sie auf Nahrungssuche gingen und mit ihrer Beute heimkamen – ganz anders als die Situation in La Cotte, aber ebenso typisch für die Lebensweise der Neandertaler.15

Die Beschaffenheit des Geländes Um erfolgreich zu sein, müssen Jäger und Sammler mobil sein, und die ­Entscheidungen darüber, wann sie wie oft wohin gehen, sind ein wichtiges Element ihrer Lebensweise. Natürlich ist dabei von großer Wichtigkeit, was sie jagen und sammeln. In der jüngeren Vergangenheit haben einige Jäger und Sammler z. B. Techniken entwickelt, die sich die jährlichen Laichzüge von Wanderfischen wie Lachsen zunutze machen. Binnen weniger Wochen konnten so einzelne Gruppen genug fangen, um Vorräte anzulegen, die für ein ganzes Jahr reichten. Sie brauchten nicht mehr weiterzuziehen und lebten in dauerhaften, ganzjährig bestehenden Siedlungen. Andere Jäger und Sammler jüngeren Datums im tropischen Afrika ernährten sich von einer Vielzahl kleiner Tiere und von Pflanzen und mussten sich öfter von einem Ort zum anderen bewegen, um den übermäßigen Abbau lokaler Ressourcen zu verhindern. 45

Aber die Mobilität von Jägern und Sammlern hängt auch von sozialen Dingen ab – das können so einfache Faktoren wie zwischenmenschliche Konflikte sein oder auch das Bestreben, die Paarungsmöglichkeiten zwischen einzelnen Gruppen zu maximieren. Wir werden diese sozialen Aspekte in einem spä­ teren Kapitel behandeln. Im Moment soll es darum gehen, wie sich die Neandertaler als Jäger in ihrer jeweiligen Landschaft bewegten. Archäologisch erschlossene Neandertalerstätten bestehen aus Abfällen, die Individuen oder Gruppen zurückgelassen haben, die sich ein paar Stunden, Tage oder Wochen an einem bestimmten Ort aufgehalten haben. Können wir diese Orte irgendwie so miteinander verbinden, dass sich ein Muster ergibt? Die Antwort ist: ja – zumindest bis zu einem gewissen Grad und für Regionen wie Westeuropa, die man schon intensiv untersucht hat. Der Schlüssel dazu sind Rohstoffe, genauer: bestimmte Arten von Stein, die die Neandertaler bei der Herstellung von Steinwerkzeugen verwendeten (sehr viel mehr dazu in Kapitel 3). Verschiedene Arten von Stein – Feuerstein beispielsweise – besitzen unterschiedliche strukturelle, farbliche, ja sogar chemische Eigenschaften, und das bedeutet, dass man oftmals den geografischen Ursprungsort des zur Herstellung eines bestimmten Werkzeugs verwendeten Rohmaterials bestimmen kann. Und das wiederum liefert konkrete Hinweise darauf, wohin die­ jenigen, die diese Werkzeuge anfertigten, gingen – und wie oft. Neandertaler gingen niemals sehr weit von den Orten weg, an denen sie ihre Rohstoffe fanden. In den meisten Fällen konnte der Ursprung von 80–99 % des verwendeten Gesteins innerhalb von 6 km Entfernung von der Stätte lokalisiert werden. Dieser Radius entspricht der Strecke, die man etwa binnen einer Stunde zu Fuß zurücklegt. Steine sind schwer, und sicherlich wollten die Neandertaler sie nicht weiter als nötig mit sich herumschleppen. Daraus können wir schließen, dass sie wussten, wo die besten Steine zu finden waren. Das fanden sie heraus, indem sie eigens an einen bestimmten Ort gingen, um die Steine zu holen, oder, was wahrscheinlicher ist, sie fanden sie unterwegs, als sie auf der Reise an einen anderen Ort waren, zu anderen ­Zwecken. Dadurch erfahren wir nicht viel Überraschendes; wir würden von jedem großen Säugetier erwarten, vor allem im eiszeitlichen Europa, dass es mit einem Territorium von über 100 km² vertraut ist. In vielen Neandertalerstätten hat man einen kleinen Anteil von Rohstoffen gefunden, deren Ursprungsort über 20 km weit entfernt war, und gelegentlich gibt es kleinere Stücke, die von noch weiter weg stammen, mitunter sogar 250 km, aber das ist 46

äußerst selten. Stets ist das verwendete Gestein von hoher Qualität (das heißt es ist gut geeignet für die Herstellung von Werkzeugen), und es ist auch stark bearbeitet und im Volumen reduziert, was bedeutet, dass daraus hergestellte Werkzeuge mehrfach überarbeitet wurden, bis sie zu klein waren, um weiter verwendet zu werden. Dies verrät uns, dass sich Neandertaler regelmäßig außerhalb des lokalen Radius ihrer Wohnstätten bewegten, aber wahrscheinlich nicht sehr oft. Für einen Marsch von 20 km war man den ganzen Tag unterwegs – unter Zeitdruck schaffte man es gegebenenfalls auch hin und zurück an einem Tag –, und es ist wenig wahrscheinlich, dass ein Neandertaler eine solche Reise auf sich genommen hätte, nur um ein paar schöner Steine willen. Aber wenn er auf dem Weg an einen anderen Ort solchen Steinen begegnete, dann war es sicherlich eine gute Idee, ein paar davon mitzunehmen.16 Am Muster der Beschaffung von Rohstoff lassen sich weitere Einblicke in die Mobilität der Neandertaler gewinnen. Sie überquerten fast nie große Hindernisse wie Berge oder breite Flüsse. Die meisten ihrer lokalen Reiserouten verliefen durch Flusstäler. Längere Reisen, also über 20 km, führten sie oft in benachbarte Flusstäler, in der Regel aber in Gebiete, die ihrem heimatlichen Tal in puncto Umweltbedingungen (und Jagdwild-Verteilung) ganz ähnlich waren. In Osteuropa sah das indes ein wenig anders aus. Die meisten der verwendeten Rohstoffe stammten auch hier aus lokalen Quellen, was die Vorliebe der Neandertaler für örtliche Ressourcen zunächst einmal bestätigt. Aber wenn sie unterwegs waren, legten sie längere Strecken zurück, einige Rohstoffe lassen sich über 100 km weit zurückverfolgen. Auch hier ist es eher unwahrscheinlich, dass sie diese Reisen eigens zur Beschaffung von Roh­ stoffen unternahmen. Höchstwahrscheinlich mussten die Jäger dieser kälteren Regionen ihre Beute über weitere Strecken verfolgen (die Beutetiere hatten ihrerseits größere Territorien), und gelegentlich fanden sie dabei Quellen hochwertigen Gesteins. Auch möglich, wenngleich weniger wahrscheinlich, ist, dass die Behausungen einzelner Neandertalergruppen weiter voneinander entfernt lagen, und wenn es gelegentlich zum Austausch von Sexualpartnern kam, mussten exogame Individuen (also junge Männer oder junge Frauen, die sich außerhalb einen Partner suchten, mehr dazu später) weiter reisen.17 Was die Neandertalerstätten betrifft, kennen wir drei Grundtypen: Orte, an denen Tiere geschlachtet wurden, kleine Lager und größere Wohnstätten. Einige dieser Orte, die zumeist in Halbhöhlen entdeckt wurden, wo ein 47

­ atürlicher Überhang Schutz bot (der auch dazu beitrug, die Fundorte zu n bewahren), sind so klein, dass sie nur ein paar Individuen Platz boten; ziemlich sicher wurden sie von Untergruppen einer regulären Wohngruppe frequentiert, vielleicht einer Gruppe, die sich auf Nahrungssuche befand und dabei abseits ihres Stammplatzes für eine Nacht eine Art Lager aufschlug. Die größeren Wohnstätten scheinen zentrale Standorte gewesen zu sein, die als Basis für diverse Operationen dienten. Kleinere Gruppen verließen sie für die Nahrungssuche und kehrten mit ihrer Beute zurück, die dann von der gesamten Gruppe konsumiert wurde. Solche Stätten beherbergen oft die Überreste von Teilen erlegter Tiere wie Pferde, Bisons oder Rentiere (bzw. Ture im Kaukasus, Gazellen in der Levante). Die kleineren Kadaver (z. B. Gazellen) konnte man im Ganzen transportieren, größere Kadaver in leichter transportierbaren Einzelteilen wie Hinterbeinen o. Ä. Dennoch finden sich nur selten Überreste von Mammuts oder Nashörnern an solchen Standorten. Stattdessen reisten die Neandertaler, wenn sie so große Tiere getötet hatten, mit der gesamten Gruppe dem Kadaver hinterher. Von einem Schlachtfest wie dem in La Cotte konnte eine Gruppe Neandertaler wochenlang leben, wenigstens so lange, bis die toten Tiere verdarben. Wir besitzen keine Hinweise auf Lagerung.

Zurück nach La Cotte Im Lichte dessen, was wir jetzt schon ganz allgemein über die Neandertaler wissen, können wir noch einmal nach La Cotte schauen. Die Neandertaler, die die Mammuts und Nashörner in La Cotte schlachteten, waren ganz klar erfahrene Jäger. Aber wir müssen dabei keine übermenschlichen Fähigkeiten oder Kräfte bemühen oder auch nur irgendwelche speziellen Fähigkeiten im Zusammenhang mit der Mammutjagd. Die Neandertaler verfolgten ­einen flexiblen Ansatz bei der Suche nach Nahrung. Sie passten sich an das an, was ihnen vor Ort zur Verfügung stand, und sie waren sogar in der Lage, ihr Territorium auszudehnen oder zu verkleinern, je nach den jeweils verfügbaren Ressourcen. Die Landzunge von La Cotte war für die dort ansässige Neandertalergruppe, die auf Nahrungssuche das benachbarte Tal (heute unter Wasser) durchstreifte, ein ganz offensichtliches Ziel. Auf dem Plateau der Landzunge versammelte sich gelegentlich eine Mammutherde. Eines 48

­ ages hatte eine Gruppe Neandertaler sehr viel Glück: Die Mammutherde T weidete mit ein paar Nashörnern zusammen direkt am Rand des Plateaus, gefährlich nah an der Klippe, und die sich nähernden Jäger befanden sich dem Wind zugewandt. Irgendwie gelang es den Neandertalern, die Herde in Panik zu versetzen; vielleicht erlaubte es ihnen das Gelände, sich unbemerkt zu nähern, oder es gab Nebel, in dem sie sich verbergen konnten. Wie auch immer: Im anschließenden Chaos stürzten elf Mammuts und drei Nas­ hörner über die Klippen. Dann wurde die Situation für die Neandertaler gefährlich: Sie mussten sich bis zum Fuß der Klippen vorarbeiten, um die Tiere, die noch am Leben waren, zu töten. Und sie töteten sie mit Stoßspeeren. Höchstwahrscheinlich warteten sie ab, bis die verletzten Tiere müde wurden. Aber es war immer noch eine gefährliche Aufgabe. Währenddessen kehrte ein anderer Teil der Gruppe nach Hause zurück, um die anderen Mitglieder der Gemeinschaft um sich zu sammeln, und dann zogen sie allesamt um, an einen Ort in der Nähe der Kadaver. Das Schlachtfest konnte beginnen. Wenn das Wetter kalt genug war, hielt das Fleisch der geschlachteten Tiere, in kleine Stücke zerteilt, vielleicht eine Weile vor und konnte die gesamte Gemeinschaft ernähren. Aber es gab noch ein weiteres Problem: Aasfresser, insbesondere Hyänen. Es gibt keine Anzeichen dafür, dass Hyänen die Knochen zwischen die Zähne bekamen. Vielleicht gab es in der Nähe auch gar keine, aber der Geruch der toten Tiere war sicherlich meilenweit zu riechen und wird alle möglichen ungebetenen Gäste angelockt haben. Wahrscheinlicher ist, dass die Neandertaler diese mittels Feuer und Wachsamkeit in Schach hielten; vor Ort hat man verkohltes Holz gefunden. Und Hyänen hatten Neandertaler zweifellos als besonders gefährliche Feinde kennen­ gelernt. Nach vielen Tagen, vielleicht sogar Wochen, zogen die Neandertaler weiter, vielleicht zurück zu ihrer ursprünglichen Wohnstätte, und über­ ließen La Cotte dem Wind und der Kälte.

Was fehlt in diesem Bild? Neandertaler waren erfolgreiche Jäger und Sammler, aber sie unterschieden sich von allen Jägern und Sammlern der modernen Welt, ja sogar von allen, die in den vergangenen 20.000 Jahren gelebt haben. Verglichen mit Gruppen moderner Menschen, die auf Nahrungssuche gehen, nutzten die Neander­ 49

taler eine viel geringere Auswahl von Ressourcen und waren vor allem auf mittelgroße Pflanzenfresser spezialisiert. Natürlich jagten und aßen sie auch kleinere Tiere und sammelten essbare Pflanzen, aber nicht in dem Maße wie die Jäger und Sammler der jüngeren Menschheitsgeschichte. In Gegenden wie dem Nahen Osten enthalten die archäologischen Funde neuerer, moderner Jäger und Sammler (aus den letzten 20.000 Jahren) zahlreiche Beweise für den Verzehr von Pflanzen (vor allem Nüssen, aber auch einigen Getreidearten), kleinen Säugetieren (u. a. Mäusen) und Vögeln. Die Knochen von kleinen Säugetieren und Vögeln sind gut erhalten, und man hätte solche Knochen auch in Neandertalerstätten wie Kebara gefunden, wenn die ­Neandertaler diese Tiere gegessen hätten. Stattdessen haben wir sehr wenige Belege dafür, dass kleine Säugetiere oder Vögel auf dem Speiseplan standen, und die Hinweise auf den Verzehr von Pflanzen sind minimal. Die Neandertaler von Kebara konzentrierten sich auf Gazellen und Damhirsche und nahmen auf dem Weg nach Hause gelegentlich eine Schildkröte mit. Und die Neandertaler höherer Breiten konzentrierten sich sogar noch stärker auf Säugetiere. Man könnte jetzt argumentieren, dass die Neandertaler hinsichtlich ihrer Ernährungsweise den modernen Inuit ähnelten. Immerhin spielen tierische Produkte eine wichtige Rolle in der Ernährung der Inuit, vor allem Rentiere und Meeressäuger. Aber es gibt erhebliche Unterschiede zwischen diesen beiden Gruppen, auch wenn sie beide Jäger und Sammler sind. Die Ernährung der Inuit ist ein wenig vielfältiger und bezieht Meeressäuger und gelegentlich auch Fisch mit ein, aber der größte Unterschied ist technischer Natur: Die Inuit verfügen über eine ausgereifte Technik, zur der komplexe Gerätschaften (z. B. Harpunen), Boote, Schlitten und genähte Kleidung gehören und noch viel mehr. Die Neandertaler waren als Jäger ausschließlich zu Fuß unterwegs und nur mit einfachen Stoßspeeren bewaffnet. Es gibt in der modernen Welt einfach nichts, was dem Lebensstil der Neandertaler entspricht, und seine relative Einfachheit (zumindest im Bereich der Nahrung) hat eine interessante Konsequenz: Den Neandertalern fehlte wahrscheinlich eine deutliche Arbeitsteilung auf der Basis von Geschlecht und Alter. Diese These haben zuerst die Archäologen Mary Stiner und Steven Kuhn aufgestellt, und auch wenn es dem Leser zunächst unwahrscheinlich erscheinen mag, erklärt sie doch einen Teil der relativen Monotonie der ­archäologischen Zeugnisse zu den Neandertalern.18 Unter den modernen 50

J­ägern und Sammlern in den Tropen und den gemäßigten Breiten sorgen Frauen für die Deckung eines Großteils des Kalorienbedarfs, indem sie Pflanzen und kleine Tiere sammeln. Die Männer jagen, und auch wenn alle das Fleisch großer Tiere schätzen, liefert es langfristig weniger Kalorien als die Nahrung, die von den Frauen gesammelt wird. Natürlich jagen gelegentlich auch die Frauen und die Männer sammeln, aber die primäre Rollenverteilung der Jäger und Sammler sieht anders aus. Und bei vielen Gruppen von Jägern und Sammlern unterstützen die Kinder ihre Mütter beim Sammeln (auch wenn ihr Beitrag eher gering ist). In der Arktis, z. B. bei den Inuit, sind die Frauen für die Herstellung und Pflege eines Großteils der aufwendigen Technik zuständig, ohne die die gesamte Gruppe untergehen würde. Für ­Archäologen ist es ein Leichtes, Beweise für diese Art der Arbeitsteilung bei Jägern und Sammlern zu finden, in Form von Geräten zur Verarbeitung von Pflanzen (z. B. Schleifsteinen), Knochen von kleinen Säugetieren und Vögeln oder, im Falle der Jäger und Sammler der Arktis, aufwendiger Technologie. Die Stätten der Neandertaler haben nichts davon. Entweder taten die ­Frauen und Kinder bei den Neandertalern nichts, um zur Beschaffung von Nahrung beizutragen, was eher unwahrscheinlich ist – oder sie nahmen ebenfalls an der Jagd teil. Dies könnte auch gewisse Auffälligkeiten der Neander­taleranatomie erklären: Neandertaler zeigen deutliche Anzeichen schwerer körperlicher Belastung schon in sehr jungen Jahren. Falls alle ­Neandertaler an der Jagd teilgenommen haben, ist dies nicht weiter verwunderlich. Die Oberkörper erwachsener männlicher Neandertaler weisen indes oft Verletzungen auf, die bei den erwachsenen weiblichen Neandertalern nicht in diesem Umfang zu finden sind. Das deutet darauf hin, dass Frauen und Kinder bei der Jagd andere und weniger gefährliche Rollen übernahmen. Stiner und Kuhn glauben, dass die Frauen und Kinder dabei mitgeholfen ­haben könnten, die Jagdtiere vor sich her zu treiben oder auf das Buschwerk zu schlagen, um Tiere aufzustöbern. Doch selbst wenn Frauen und Kinder nur dabei ­halfen, das Fleisch zurück nach Hause zu tragen, hätte diese Anstrengung an ihren Körpern Spuren hinterlassen. Eine geschlechtsspezifische Arbeits­teilung ist unter modernen Jägern und Sammlern allgegenwärtig, ja unter modernen Menschen überhaupt. Dies soll keine chauvinistische Generalisierung sein, und wir wollen auch nicht behaupten, dass dies so sein sollte; es ist nur eine Feststellung darüber, wie sich der moderne Mensch entwickelt hat. Bei den Neandertalern war dies offenbar anders. 51

Kognitive Implikationen Jetzt, wo wir wissen, auf welche Weise die Neandertaler jagten und sammelten, können wir beginnen, uns mit dem Denken der Neandertaler zu beschäftigen. Wie haben sie ihr Wirtschaften organisiert? Wie schmiedeten sie Pläne? Wie fanden sie sich zurecht? Was und wie dachten sie über Tiere? ­Natürlich lassen sich Gedanken nicht überliefern, zumindest wenn es keine Schrift gibt oder eine andere Möglichkeit, Gedachtes festzuhalten. Daher ist alles, was wir hier über die Kognition der Neandertaler schreiben, das Ergebnis von Rückschlüssen und Inferenzen. Die Beweise, die wir vorgestellt ­haben, sind echt. Die archäologischen Strukturen und anatomischen Merkmale, die wir beschrieben haben, sind kein Produkt unserer Fantasie, sie sind tatsächliche Anhaltspunkte, die aus einer dunklen, weit zurückliegenden Vergangenheit überlebt haben. Unsere Aufgabe ist es, diese Hinweise zu ­einem Bild des geistigen Lebens der Neandertaler zu verdichten, mittels der Erkenntnisse der modernen Psychologie und Anthropologie. Dabei folgen wir ein paar allgemeinen Richtlinien. Erstens können wir, weil die Neandertaler genetisch und zeitlich von allen Hominiden uns modernen Menschen am nächsten sind, davon ausgehen, dass die Ähnlichkeiten zwischen uns die Unterschiede bei Weitem über­ wiegen. Die Ausgangsbasis, die Nullhypothese, wenn man so will, ist dabei, dass Neandertaler und moderne Menschen sich auf kognitiver Ebene nicht unterschieden. Zweitens werden wir versuchen, uns nicht allzu weit vom archäologisch oder anatomisch Beweisbaren zu entfernen. Obgleich es auch aufschlussreich sein kann, zu versuchen, die spärlichen Befunde zu den Neandertalern mit detaillierten Szenarien auszumalen (siehe z. B. den Nebel im Falle von La Cotte), können wir ein solches Szenario nicht als tatsächlichen Beweis für die Kognition der Neandertaler verwenden. Drittens legen wir unseren Darstellungen ein etabliertes Verständnis der Kognition zugrunde, das aus der Psychologie und der Anthropologie abgeleitet ist. Wir werden versuchen, allgemeine Bezeichnungen wie Intelligenz und Kultiviertheit zu vermeiden, zugunsten besser definierbarer Begrifflichkeiten. Viertens werden wir unserer Fantasie nicht allzu freien Lauf lassen – eine ganz reale Versuchung, wenn es um Neandertaler geht. Allerdings können wir die Fantasie auch nicht ganz abstellen. Es wäre auch viel zu einfach, sich hinter einer stumpfen Wieder­gabe von Fakten zu verstecken, um die unvermeidliche Kri52

tik zu umgehen, der sich jeder aussetzt, der ein kognitives Profil bestimmter Personen zu ­präsentieren versucht. Wir werden gelegentlich auf Gedankenexperimente zurückgreifen, eine altehrwürdige Technik, bei der ein Wissenschaftler imaginäre Szenarien aufbaut, die dabei helfen, das Zusammenwirken komplexer Faktoren zu erklären. Unser La-Cotte-Szenario ist ein solches Gedanken­experiment auf der Basis archäologischer Beweise, ausgeschmückt durch uns bekannte allgemeine Fakten über Elefanten und über Jäger und Sammler. Wenn wir Neandertaler mit modernen Menschen vergleichen, verwenden wir dabei eine ganze Menge Beispiele, von Jägern und Sammlern der heutigen Zeit bis zurück zur Eiszeit in Europa vor 25.000 Jahren. Wir wollen ­archäologische Beispiele vermeiden, deren Urheberschaft oder Status unsicher oder umstritten ist. Unsere Neandertaler-Beispiele stammen ebenfalls aus verschiedenen Zeiten und von verschiedenen Orten. Unser Ziel ist es, die Kognition der Neandertaler so gut, wie wir es vermögen, zu beschreiben und sie mit der unsrigen zu vergleichen. Was wir nicht versuchen wollen, ist, langjährige Kontroversen in der Paläoanthropologie zu schlichten. Tiere zu jagen war nichts, was ausschließlich die Neandertaler taten, also verrät uns die bloße Tatsache, dass sie es taten, fast nichts über die Kognition der Neandertaler. Es gibt viele verschiedene Arten, wie man jagen kann. Denken Sie nur einmal an die Unterschiede zwischen Wölfen und Jagdhunden, Hauskatzen und Löwen, Geparden und Hyänen. Wir haben gesehen, dass die archäologischen Beweise darauf hindeuten, dass die Neandertaler an der Spitze der Nahrungskette standen, also sollten wir sie vielleicht am ehesten mit Löwen vergleichen, um einen Einblick in ihr Denken zu gewinnen. Aber das wäre keine gute Wahl. Wir (und die Neandertaler) sind nur sehr entfernt mit den Löwen verwandt, von denen uns mindestens 65 Millionen Jahre Evolution trennen, und während dieser Zeit haben sich bei den Raubkatzen ein extrem auf die Jagd ausgerichtetes Gehirn und ein Denken durchgesetzt, das ganz anders ist als unseres. Die Neandertaler waren Primaten, und es gibt durchaus einige Primatenarten, die auf die Jagd gehen. Und an diesem Punkt können wir ansetzen, wenn wir untersuchen wollen, wie und was die Neandertaler dachten, während sie auf der Jagd waren. Schimpansen jagen andere Affenarten und gelegentlich auch andere kleine Säugetiere, und die Art und Weise, wie sie dies tun, ähnelt in mehrfacher Hinsicht dem, was wir auch beim modernen Menschen als Jäger und Sammler wiederfinden. Erstens: Schimpansen jagen im Verbund; sie nutzen die 53

Funktion einer Gruppe kooperierender Individuen, um ihre Beute zu umzingeln und zu töten – genau wie der moderne Mensch bei der Jagd. Und der Neandertaler. Zweitens: Die männlichen Schimpansen haben den größten Anteil an der Jagd. Sie sind größer und kräftiger als die Weibchen, aber dies scheint nicht der einzige Grund zu sein; es ist auch eine soziale Komponente dabei, und ein Stück weit spielt männliche Dominanz eine Rolle.19 Dies gilt auch für moderne Jäger und Sammler und wahrscheinlich auch für die Neandertaler. Die wichtigste Erkenntnis für kognitive Zwecke, die uns die jagenden Schimpansen bieten, ist die Rolle, die die Kooperation spielt. Wie haben die Neander­ taler kooperiert? Unsere zweite Vergleichsgruppe sind die modernen Jäger und Sammler.20 Auf der Grundlage dessen, was wir über diese modernen Menschen wissen und was uns die Archäologie über die Neandertaler erzählt, können wir hier bereits eine Liste von Gemeinsamkeiten aufstellen: • • • • • • •

kooperatives Jagen in Gruppen Verwendung von Eigenarten des Geländes Zurücktragen von Fleisch zur Wohnstätte der Gemeinschaft Zerteilen von Kadavern (zum Aufteilen untereinander) Kochen unterschiedliche Taktiken für verschiedene Arten Wild Reisen von mehr als einem Tag, um zu jagen

Der Vergleich mit modernen Jägern und Sammlern vermittelt uns aber auch Unterschiede, von denen einige kognitive Implikationen haben können: • Neandertaler verwendeten weniger vielfältige Ressourcen • Neandertaler verwendeten eine gefährlichere Technik beim Töten • Neandertaler änderten ihr Beuteschema je nach Jahreszeit, aber planten nicht innerhalb von Jahreszeiten • Neandertaler verwendeten fast ausschließlich ein „Hin und zurück“-­ Muster • Neandertaler legten kürzere Entfernungen zurück • Bei den Neandertalern gab es keine klaren geschlechtsspezifischen Unterschiede bei der Nahrungssuche 54

Wo geht’s lang? Neandertaler mussten in der Lage sein, Beute zu lokalisieren und wieder zurück nach Hause zu finden. Bei den meisten Tieren ist die Fähigkeit, sich zu orientieren, ein wichtiger Teil ihres kognitiven Repertoires; nur wenige Tiere wandern ziellos umher. Tiere haben zahlreiche äußerst beeindruckende ­Navigationstechniken entwickelt, einige verlassen sich auf visuelle landschaftliche Kennzeichen, andere folgen bestimmten Gerüchen und wieder andere orientieren sich sogar am Magnetfeld der Erde. Aber die Neandertaler waren Primaten, und Primaten verlassen sich auf ihre Augen, ihr Gedächtnis und ihr Verständnis räumlicher Verhältnisse – hier müssen wir also an­ setzen, wenn wir untersuchen wollen, wie die Neandertaler sich im Gelände zurechtfanden. Stellen Sie sich kurz vor, Sie müssten jemandem, der Sie zu Hause oder im Büro besuchen möchte, den Weg beschreiben. Welche Informationen ­w ürden Sie ihm geben? Im Prinzip gibt es hier zwei Möglichkeiten, und für ­welche von beiden Sie sich entscheiden, hängt davon ab, was Sie über die Ortskenntnis des Besuchers wissen. Wir wollen mit der häufiger verwendeten Variante beginnen. Zunächst würden Sie den Besucher natürlich fragen, wo genau er sich befindet. Dann würden Sie einen Weg bzw. eine Route beschreiben, z. B.: „Vom Parkplatz aus links abbiegen. Dann fahren Sie bis zur zweiten Ampel und biegen rechts ab. Nach etwa 4 km müssen Sie direkt hinter dem großen Bankgebäude links abbiegen. Dann biegen Sie rechts auf den zweiten Parkplatz ein. Mein Büro befindet sich in der ersten Etage des ­Jugendstil-Gebäudes.“ An dieser Stelle werden einige Leser, vor allem Männer, sicherlich widersprechen und sagen: „Nein, ich würde Himmelsrichtungen angeben und sagen: ‚Hinter dem Bankgebäude nach Norden abbiegen.‘“ Aber würden Sie einem Fremden gegenüber Himmelsrichtungen angeben, vor allem in der Nacht? Himmelsrichtungen sind ein etwas anderer Ansatz, denn sie beruhen auf einem externen räumlichen Rahmen, aber es ist immer noch ein System, das auf der Beschreibung einer sequenziellen Route von Ort zu Ort beruht, mit Entscheidungen an jedem Ort. Die zweite Möglichkeit, Anweisungen zu geben, wäre, Ihre Position in Bezug auf einen permanenten räumlichen Rahmen zu beschreiben, den der Besucher kennt und zu nutzen weiß: „Meine Position ist 38° 49,22’ N und 104° 43,91’ W.“ Wenn der Besucher ein GPS-Gerät besitzt oder eine entsprechende 55

Karte, wird er Sie und Ihr Büro finden. Beide Methoden der Wegbeschreibung funktionieren gut, aber wir vermuten, die meisten von Ihnen verwenden die erste Methode. Diese Art der Orientierung stützt sich auf den Aufbau einer Abfolge von Punkten, die Erinnerung und Beschreibung markanter Orte sowie qualitative räumliche Entscheidungen (links abbiegen, erster Stock usw.). Nichts davon erfordert ein umfassendes räumliches Bild, an das man sich erinnern muss, also eine „mentale Landkarte“. Stattdessen, so der Anthropologe Tim Ingold, stellt sich der Reisende bzw. der, der die Route beschreibt, eine Folge von Wegpunkten entlang der Route vor. Diese Wegpunkte sind markante Objekte oder Details der Szenerie, an die man sich erinnert und die dann für die gewählte Route in der richtigen Reihenfolge aktiviert werden. Von einer enger gefassten kognitiven Perspektive aus gesehen (von deren Nutzung Ingold uns vielleicht eher abhalten möchte), stützt sich ein Reisender auf die erinnerte Szenerie und die Fähigkeit, bestimmte Wegpunkte aneinanderzureihen und grundlegende qualitative räumliche Beziehungen zu verstehen, die Geometer als topologisch bezeichnen (z. B. ­hinein/hinaus, links/rechts, oben/unten usw.). Solche Streckenkenntnis ist tatsächlich eine sehr effektive Art der Fortbewegung von A über B nach C und ist bei Weitem die häufigste Art und Weise, wie Menschen sich orientieren. Aber was, wenn Sie von C direkt zurück nach A möchten, ohne Zeit zu verschwenden, indem Sie zuerst nach B müssen? Oder was, wenn es keine markanten Punkte an der Strecke gibt? Im April 1916 segelte Ernest Shackleton mit fünf Begleitern auf einem umgebauten Rettungsboot von Elephant Island in der Nähe des Polarkreises nach South Georgia Island, eine Reise von 1.500 km auf einem der stürmischsten Meere der Welt. Es gab keine Punkte, an denen man sich hätte orientieren können, und abgesehen von ein paar flüchtigen Momenten konnte man keine Sterne sehen, geschweige denn die Sonne; die ganze Zeit hatte die Besatzung mit Sturmböen und starken Strömungen zu kämpfen. Natürlich hatten sie einen Sextanten, einen Kompass und eine Uhr, und sie konnten hin und wieder anhand der Sonne einigermaßen akkurat ihre aktuelle Position bestimmen. Trotzdem war es eine bemerkenswerte Leistung, dass sie ihr Ziel erreichten. In kleinerem Maßstab, aber ganz ohne Sextant und Kompass, fuhren mikronesische Seefahrer von den Karolinen aus mit ihren Auslegerkanus mehr als 200 km weit über den offenen Pazifik; ihr Ziel: winzige Atolle, nur wenige Kilometer breit und ein paar Meter hoch. Und angeb56

lich legten sie kürzere Strecken sogar des Nachts zurück, und das auch noch nach starkem Alkoholkonsum. Wie haben sie das geschafft? Auf diese Art und Weise die richtige Route zu finden, wird in der wissenschaftlichen Literatur als Überblickswissen bezeichnet. Ein solches Überblickswissen basiert auf einer Vielzahl künstlicher Konstrukte, die den geografischen Raum ­organisieren und einen Rahmen bilden, der alle zugänglichen (und oft auch nicht zugänglichen) Orte umfasst. Shackleton, sein Steuermann und seine Crew waren allesamt mit dem geografischen Standard der westlichen Welt vertraut, nach dem jeder Punkt auf dem Globus eine feste, zweidimensionale Beziehung zu jedem anderen Punkt hat. Wenn Sie wissen, dass Sie am Punkt A sind, und zum Punkt B reisen wollen, ist es relativ einfach, beide Punkte mit einer Linie zu verbinden, und voilà: Schon haben Sie eine Route. Die mikronesischen Seeleute verwendeten ein siderisches System, in dem die Sterne und der Weg der Sterne über den Himmel den äußeren Rahmen darstellen, mittels dessen man sich auf dem Weg von einem Ort zum anderen orientieren kann (z. B. liegt Truk unterhalb des Punkts, an dem der Stern Altair aufgeht, wenn man vom Pulawat-Atoll ablegt). Beide Systeme schaffen einen allgemeinen Rahmen, der unabhängig von spezifischen, individuellen Routen als Konzept existiert. Ein mikronesischer Steuermann musste nicht einmal darauf warten, dass der Stern Altair aufging, um diesen Rahmen zu verwenden. Er existierte in ­seinem Kopf. (Und ja, die mikronesischen Steuermänner waren tatsächlich ausschließlich Männer.)21–23 In der Wissenschaft wurde die Orientierung an Wegpunkten früher für einfacher gehalten als das Überblickswissen, und daher war man der Meinung, dass diese Art der Orientierung wahrscheinlich älter sei. Können wir deshalb annehmen, dass sich die Neandertaler auf diese Weise orientierten? Es ist durchaus verlockend und bestätigt vielleicht auch unser Vorurteil, dass die Neandertaler primitiv waren. Aber so einfach ist es nicht. Wie sich herausgestellt hat, entwickeln sich beide Orientierungssysteme schon im Kindesalter. Das eine ist nicht der Vorläufer des anderen, es sind leidglich zwei unterschiedliche Systeme. Und der moderne Mensch verwendet mal dieses, mal jenes. Unsere mikronesischen Seeleute sind ein gutes Beispiel. Wenn sie zu fernen Inseln (jenseits des Horizonts) paddeln, verwenden die Steuer­ männer Wegpunkte wie Unterwasserriffe und Sandbänke, die die Beschaffenheit der Wasseroberfläche beeinflussen. Nachts spüren die Steuermänner 57

diese veränderte Beschaffenheit sogar, durch die Bewegung des Kanus. Die Mikronesier versuchen lange Fahrten, auf denen sie sich allein an den Sternen ­orientieren können, möglichst zu vermeiden, denn wenn sie den Überblick darüber verlören, wo sie sich gerade befinden (z. B. aufgrund von Wolken oder Sturm), wären sie buchstäblich verloren. Solche gemischten Systeme gibt es nicht nur in der Seefahrt. Auch die Aborigines in Australien verwenden ein System aus Himmelsrichtungen und Wegpunkten, wenn sie weite Strecken über Land zurücklegen. Aber die Aborigines fügen dem Ganzen noch eine Komponente hinzu, die für sie von äußerster Wichtigkeit ist: Überall in ihrer Landschaft gibt es Orte mit großer symbolischer Bedeutung, die mit der „Traumzeit“ in Zusammenhang stehen – Schauplätze und Spuren mächtiger Vorfahren und Kreaturen. Diese bilden die Wegpunkte, an denen sich die Menschen unterwegs orientieren. Interessanterweise nutzten die ­Mikronesier, bevor sie christianisiert wurden, ebenfalls einen Großteil ihres symbolischen, rituellen Wissens in der Seefahrt, aber da sie ein praktisch orientiertes Volk sind, gaben sie die meisten der komplexen Seefahrtsrituale auf, sobald sie nicht mehr religiös motiviert waren. Welche spezifischen kognitiven Fähigkeiten benötigt man also für ein solches gemischtes System aus Streckenkenntnis und Überblickswissen? Weiter oben haben wir festgestellt, dass die Streckenkenntnis dreierlei erfordert: dass man sich an bestimmte Wegpunkte erinnert, dass man solche Erinnerungen in die benötigte Reihenfolge bringt und dass man ein paar grundlegende topologische Beziehungen versteht. Beim Überblickswissen kommt noch eine Fähigkeit hinzu: die sogenannte allozentrische Wahrnehmung. Die Streckenkenntnis geht komplett von der Perspektive dessen aus, der sich eine Route vorstellt oder sie beschreibt, sie ist egozentrisch. Aber wenn man einen unabhängigen räumlichen Rahmen vorstellen und verwenden will, ist es notwendig, sich von der eigenen Perspektive zu lösen und die Landschaften aus einer anderen Sicht wahrzunehmen. Und zwar nicht aus der Sicht einer anderen Person: Es muss eine unabhängige, stabile Perspektive sein, die jeder benutzen kann. Ein Beispiel ist, eine Landschaft aus der Vogelperspektive zu betrachten. Wie die Menschen dies tun, darüber sind sich die Kognitionswissenschaftler noch uneins. Manche Menschen erstellen offenbar mentale Landkarten, das heißt, sie erschaffen eine Art inneres visuelles Bild davon, wie die Landschaft auf allozentrische Weise aussieht. Aber andere tun das nicht. Es scheint hier große individuelle Unterschiede zu geben. Solange 58

man sich einen stabilen Rahmen vorstellen und ihn auch aufrechterhalten kann, sollte man, selbst wenn dieser nicht aus Bildern besteht, in der Lage sein, sich mittels Streckenkenntnis in einer Landschaft zurechtzufinden. Wir sind nun endlich an dem Punkt, wo wir fragen können, wie die Neandertaler sich in ihrer Landschaft orientierten. Wir wissen, dass sie nur selten weite Strecken zurücklegten, zumeist entfernten sie sich von ihrer Wohnstätte nicht weiter als ein paar Kilometer. Wir wissen auch, dass sie eher direkt an einen Ort gingen und wieder zurück, als dass sie kreisförmige Strecken wählten. Soweit wir über die Methoden der Neandertaler, sich zu orientieren, informiert sind, könnten diese auch allein auf ihrer Kenntnis von Wegpunkten basieren. Aber wir wissen, dass die Neandertaler auch zu einer allozentrischen Wahrnehmung fähig waren. Hinweise darauf bieten uns nicht per se das Jagen und Sammeln, sondern ihr Werkzeug, das wir im nächsten Kapitel genauer untersuchen wollen. Viele Neandertaler stellten Steinwerkzeuge her, die die Fähigkeit erforderten, alternative Perspektiven einzunehmen. Ein Beispiel dafür ist ein Werkzeug, das wir als Faustkeil kennen und das eine dreidimensionale Symmetrie aufweist. Selbst die Querschnitte dieser Werkzeuge waren symmetrisch. Um solche Querschnitte zu konzipieren und herzustellen, muss man bedenken, dass man ja nicht in den Stein hineinsehen kann. Dadurch wissen wir, dass die Neandertaler allozentrische Fähigkeiten besaßen. Und es spricht nichts dagegen, dass sie diese Fähigkeiten auch zur Orientierung nutzten. Schließlich sollten wir noch einen weiteren Punkt erwähnen: das Geschlecht. Viele Leser werden wissen, dass es signifikante und zuverlässige ­Unterschiede zwischen Männern und Frauen gibt, wenn man sie bestimmten Tests zur räumlichen Wahrnehmung unterzieht. Der Grund für diese Unterschiede und auch ihre Relevanz (oder mangelnde Relevanz) ist nach wie vor umstritten, aber das Ergebnis selbst ist eindeutig. Der Evolutionspsychologe Irwin Silverman hat die These aufgestellt, dass diese geschlechtsspezifischen Unterschiede daher rühren, dass Männer früher das Überblickswissen verwendeten, um ihren Weg nach Hause zu finden, und Frauen sich eher an bestimmte Orte erinnerten, an denen sie Pflanzen oder Kleintiere sammeln konnten.24 Sie, der Leser, sollten an dieser Stelle die metaphorische rote Fahne schwenken: Die Neandertaler verfügten zwar, wie wir gesehen haben, über allozentrische Wahrnehmung, aber nicht über die Arbeitsteilung, die der These von Silverman zugrunde liegt. Natürlich waren die Neandertaler nicht 59

unsere Vorfahren, Silvermans Hypothese könnte also immerhin auf uns ­zutreffen. Aber man sieht dabei, wie tatsächliche evolutionäre Beweise Hypothesen verkomplizieren können, die ausschließlich auf modernen Experimenten beruhen.

Gedächtnis Mit dem Gedächtnis und der Erinnerung ist es so eine Sache. Im Englischen hat sich schon vor Jahrzehnten die Informatik des Begriffs memory bedient, um die Speicherung und den Abruf von Daten zu bezeichnen, und dann wurde er mit Bits, Bytes und RAM aufgepeppt. Wenn Wissenschaftler heute von memory sprechen, auch im Sinne des menschlichen Gedächtnisses, denkt jeder sofort an eines: den Abruf von Daten. Die Metapher ist zur Bedeutung geworden. Der menschliche Datenspeicher funktioniert aber ganz anders als der des Computers. Zunächst einmal ist er alles andere als akkurat. Immer wenn wir eine Erinnerung abrufen, ist sie ein klein wenig anders als beim vorigen Mal. Deshalb sind Zeugenaussagen so unzuverlässig. Beim Gedächtnis kann man außerdem nicht vorhersagen, wie schnell es funktionieren wird; einige Erinnerungen sind sofort verfügbar, andere bekommt man einfach nicht richtig zu fassen (z. B. wenn einem etwas „auf der Zunge liegt“), und hin und wieder wissen wir, dass wir etwas wissen müssten, kommen aber einfach nicht darauf. Es gibt außerdem verschiedene Arten des Gedächtnisses, und aus kognitiver und neurologischer Sicht unterscheiden sie sich sehr stark voneinander. Ein wichtiger Unterschied ist der zwischen Kurzzeitgedächtnis (oder Arbeitsgedächtnis) und Langzeitgedächtnis. Hierbei bedeutet kurz wirklich kurz, nämlich nur wenige Sekunden – ein klassisches Beispiel für das Kurzzeitgedächtnis ist das Nachschlagen einer Telefonnummer, an die man sich nur bis zur Eingabe ins Telefon erinnert. Wenn man diese Nummer nicht mehrmals im Geiste wiederholt, vergisst man sie. In gewisser Weise ist dies gar keine Erinnerung, sondern nur eine Information, der kurzzeitig Aufmerksamkeit geschenkt wird. Dieses Phänomen werden wir noch gesondert behandeln, wenn es um das Planen geht. Für Informationen, die nach einem längeren Intervall abgerufen werden (nach Minuten, Tagen oder sogar Jahren), ist das Langzeitgedächtnis zuständig. Hier unterscheidet man wieder60

um nach semantischem und prozeduralem Gedächtnis. Das semantische Gedächtnis speichert Fakten, die man theoretisch auch mit Worten ausdrücken kann, z. B.: „Abraham Lincoln und Charles Darwin wurden am selben Tag geboren, am 12. Februar 1809.“ Die Erinnerungsspur existiert unter Umständen gar nicht in dieser Form, aber die Information selbst kann verbal ausgedrückt werden. Das prozedurale Gedächtnis speichert Erinnerungen darüber, wie man etwas tut: wie man eine Schraube anzieht, wie man auf dem Fagott eine F-Dur-Tonleiter spielt, wie man Auto fährt. Solche Erinnerungen kann man nicht einfach mit Worten ausdrücken, sie sind aber für die alltäglichen Abläufe unseres Lebens genauso wichtig, vielleicht noch wichtiger. Die Neandertaler nutzten zweifellos beides, wie alle Primaten, aber die Beschaffenheit und das Gleichgewicht beider sahen vielleicht ein bisschen ­anders aus als bei uns. Es gibt noch eine dritte Art Langzeitgedächtnis, die man manchmal zum semantischen Gedächtnis dazuzählt: das episodische Gedächtnis. Es speichert nicht nur Erinnerungen an bloße Tatsachen, sondern an bestimmte Ereignisse der eigenen Vergangenheit. Man bezeichnet es manchmal auch als autobiografisches Gedächtnis. Die Erinnerungen, die im episodischen Gedächtnis gespeichert werden, bestehen aus Tatsachen und bestimmten Bildern, aber auch aus dem Bewusstsein für die eigene Position im Kontext der Zeit (Autonoese) und der Wiederherstellung der mit dem Ereignis verbundenen Emotionen.25 Das episodische Gedächtnis kann man im Labor des Psychologen nur schwerlich untersuchen, aber es ist für den Menschen sehr wichtig, und es kann durchaus sein, dass seine Entwicklung bedeutende Konsequenzen für die menschliche Evolution hatte. Wir wissen, dass die Neandertaler ein semantisches Gedächtnis besaßen. Wir werden im Moment noch darauf verzichten, in die Diskussion einzusteigen, ob die Neandertaler auch über Wörter verfügten (wir sind der Meinung: ja), und uns auf das eigentliche Gedächtnis konzentrieren. Die Neandertaler verfügten ganz offensichtlich über Erinnerungen wie „Nashörner = Beute“ ­ otte und „Kaninchen = Beute, aber kaum der Mühe wert“ und „Es gibt in La C eine Klippe“. Tatsächlich vermuten wir, dass die Neandertaler über eine ­große Menge solcher Informationen verfügten, die ihre direkte Umwelt betrafen – Informationen, die allen Neandertalern vermittelt wurden, während sie heranwuchsen und mit den Eltern und der Gruppe umherzogen. Es ist gut möglich, dass sie das meiste davon aus erster Hand lernten, durch Beobachtung und Erfahrung, anstatt durch verbale Vermittlung. Dass die Kinder der 61

­ eandertaler ein ebenso anstrengendes Leben führten wie ihre Eltern, lässt N vermuten, dass sie mit ihnen mitzogen, sobald sie laufen konnten. Es gab bei den Neandertalern keine Spielgruppen und auch keine Schulen. Aber das ­bedeutet nicht, dass die Neuronen der Neandertaler vor der Verarbeitung dieser Informationen ein unbeschriebenes Blatt waren. Der Mensch, und somit (weitergedacht) vermutlich auch der Neandertaler, weist von Natur aus bestimmte Tendenzen in der Art und Weise auf, wie er wahrnehmungsspezifische Informationen organisiert. Eine Tendenz, die wahrscheinlich auf frühe Primaten zurückgeht, ist die Fähigkeit, Gesichter zu erkennen und voneinander zu unterscheiden. Wir sehen Gesichter in so ziemlich allem, was vage einem Gesicht ähnelt (z. B. die Jungfrau Maria in einem verbrannten Toast), und wir tun dies schon sehr bald nach der Geburt. Unser Gehirn ist so beschaffen, dass wir dies können (mit den unteren Temporal­ lappen am sogenannten Gyrus fusiformis). Aber Gesichter sind nicht alles. Unser Gehirn ist außerdem so beschaffen, dass es lebende von unbelebten ­Objekten unterscheiden kann. Wir nehmen Tiere ganz selbstverständlich als eine ganz bestimmte Kategorie von Objekten wahr, das brauchen wir nicht erst zu lernen. Und, was ein wenig kontroverser diskutiert wird, es scheint, als teilten wir Tiere (und Pflanzen) ganz selbstverständlich in taxonomische Gruppen ein. Die Taxonomie ist ein Klassifikationsschema, bei dem ein Objekt als Teil einer übergeordneten Gruppe von Objekten angesehen wird, z. B. {[(Löwe) – Fleischfresser] – Tier}. Die Menschen verwenden nicht alle dieselbe Taxonomie, aber sie verwenden alle irgendeine Form der Taxonomie. Offenbar sorgt unser Gehirn für die grundlegende Struktur, wenn wir über Tiere nachdenken, und durch Lernen füllen wir das Gerüst auf. Wir vermuten, dass sich dieses kognitive Element schon vor langer Zeit entwickelt hat, und vieles spricht dafür, dass es bei den Neandertalern besonders stark ausgeprägt war. Fast überall, wo wir gute Belege für Neandertaler bei der Jagd haben, hatten es Neandertalergruppen auf ein oder zwei Arten von Huftieren abgesehen, ­zumindest dort, wo dies möglich war. Dabei ging es ihnen nicht nur um die Größe der Tiere, sie konzentrierten sich generell auf eine kleine Auswahl von Spezies. Sie klassifizierten Huftiere ganz klar in einer bestimmten Art und Weise, die uns nicht unbekannt ist: {[(Tur) – essbares Huftier] – Tier} oder {[(Gazelle) – essbares Huftier] – Tier}. Eine der bemerkenswertesten Tatsachen bei den Neandertalern ist, wie wichtig ihnen diese Kategorien waren, viel mehr, als wir es vielleicht von modernen Jägern erwarten würden.26 62

Wir haben zahlreiche Belege für das prozedurale Gedächtnis der Neandertaler. Unsere besten Beispiele entstammen der Technologie, und wir werden diese ausführlicher in Kapitel 3 behandeln. Aber auch viele Aspekte des ­Jagens und Sammelns verweisen auf das prozedurale Gedächtnis der Neandertaler: wie man mit einem Speer zustößt und einen Kadaver zerlegt; wie man Tierkörper in einzelnen Teilen transportiert; wie man einer bestimmten Route folgt. Die genaue Kenntnis ihrer Umgebung speicherten die Neandertaler in ihrem semantischen Gedächtnis ab, aber das Wissen darüber, wie sie sich das Gelände zunutze machen und seine Ressourcen ausbeuten konnten, besaß eine stark prozedurale Komponente. Episodische Erinnerungen nachzuvollziehen, ist um einiges schwieriger. Schließlich sind dies Erinnerungen an bestimmte Ereignisse, oft mit autobiografischem Charakter. Wir sind der Meinung, dass die Neandertaler, die in La Cotte die Mammuts über die Klippe trieben, sich daran wahrscheinlich ihr ganzes Leben lang erinnerten. Es war zweifellos ein dramatisches Erlebnis, voll Aufregung und sogar Angst – eben ein Erlebnis, wie man es schnell im episodischen Gedächtnis ablegt. Aber das können wir natürlich nicht beweisen. Später hat der Homo sapiens, wie wir durch archäologische Funde wissen, Dinge in Malereien festgehalten, die aussehen, als könnten es solche Erlebnisse gewesen sein. Die Neandertaler haben nichts produziert, was dem gleichkäme.

Vorausplanen Planung ist leider ein sehr vager Begriff, und die ihm innewohnende Ungenauigkeit hat zu einer umstrittenen und letztlich vergeblichen Diskussion in der Paläoanthropologie geführt, was das Vermögen der Neandertaler betrifft, Pläne zu schmieden. Sehen Sie sich einmal die folgenden drei Szenarien an: 1. Vier Schimpansenmännchen sitzen auf dem Waldboden und bemerken im Baum über sich einen einzelnen Stummelaffen. Sie tauschen Blicke aus, und dann klettern drei von ihnen benachbarte Bäume empor, während der vierte den Baum besteigt, auf dem sie den unglückseligen Stummelaffen entdeckt haben. Sie jagen ihn, umzingeln ihn, töten ihn und fressen ihn auf. 63

2. Vier Inuit sind einen Tag lang mit dem Schlitten unterwegs, bis sie zu ­einem bestimmten Pass in den Bergen kommen, wo sie abwarten. Zwei Tage später erscheint eine Karibuherde und beginnt, den Pass zu durchqueren. Die Inuit töten viele von ihnen. 3. Gegen Ende der Regenzeit setzen vier australische Aborigines eine bewaldete Fläche in Brand, damit das Gras ein zweites Mal „ergrünt“. Dies wiederum zieht Kängurus an, die ein wichtiger Bestandteil des Speiseplans der Aborigines sind. Im nächsten Jahr brennen sie eine andere Fläche ­nieder; eine bereits verwendete nehmen sie sich erst wieder nach zehn oder zwölf Jahren vor. Dies sind alles Beispiele für durchdachtes Vorausplanen, aber sie gleichen sich nicht, weder hinsichtlich des Aufwands der Aufgaben noch hinsichtlich des Zeitraums, für welchen im Voraus geplant wird. Was meinen wir mit Vorausplanen? Sicherlich planen die Schimpansen in Beispiel 1 voraus, und doch ist ihr Plan ganz anders geartet als der der australischen Jäger. Auch die Neandertaler planten voraus, das bestreitet niemand. Aber diese Tatsache allein erzählt uns noch nicht sehr viel über die Neandertaler oder ihr Planen. Wir müssen den Vorgang des Planens in einzelne Komponenten unterteilen; danach wird es uns möglich sein, näher zu untersuchen, wie die Neandertaler planten, und diesen Vorgang mit dem beim modernen Menschen zu vergleichen. Damit eine Handlung wie geplant abläuft, muss sie auf der Vorausberechnung eines bestimmten zukünftigen Zustands beruhen, und diese Voraus­ berechnung hat eine Auswahl bestimmter Handlungsweisen zur Grundlage. Wenn ein Löwe am späten Nachmittag erwacht, sich aufmacht und ein Zebra verfolgt und tötet, ist das dann schon ein umgesetzter Plan? Wir glauben: nein. Diese Handlungsweise ist einfacher als Ergebnis von Hunger und gut antrainierten Reaktionen zu deuten, es gibt keinen Grund zur Annahme, dass der Löwe ein bestimmtes Tötungsszenario vorausberechnet. Was ist nun mit den Schimpansen in Beispiel 1? Vielleicht klettern Gruppen von Schimpansenmännchen dann, wenn sie Stummelaffen bemerken, immer benachbarte Bäume empor – in diesem Fall wäre das Szenario ganz ähnlich dem mit dem Löwen. Aber es scheint, als sei hier mehr am Werk. Die Schimpansen berechnen die spezifischen Fluchtoptionen des Affen voraus, und obwohl es möglich ist, dass dies nur eine gut antrainierte Routine ist, erscheint es doch 64

wahrscheinlicher, dass die Schimpansen vorausplanen, dass sie ihre Handlungsweise auf den zu erwartenden Zustand ausrichten. Wie schwierig ist dies, in kognitivem Sinn? Eine Voraussetzung für erfolgreiche Planung ist die Autonoese – das subjektive Empfinden von Zeit, von Vergangenheit und Zukunft, und die Fähigkeit, sich selbst in dieser Vergangenheit und Zukunft zu verorten. Und um sich irgendwo zu verorten, benötigt man ein Konzept davon, sich selbst als unabhängigen Agens zu begreifen. Schimpansen haben tatsächlich ein Konzept von sich selbst als Individuum – die meisten können lernen, sich selbst im Spiegel zu erkennen – und scheinen auch ein subjektives Gefühl für Vergangenheit und Zukunft zu haben. Man kann daraus durchaus schließen, dass sie über ein gewisses Maß an Autonoese verfügen. Aber ihre Vorausberechnung eines bestimmten zukünftigen Zustands muss nicht annähernd so detailliert sein wie die der Inuit oder der Aborigines, es muss also noch zusätzliche kognitive Komponenten geben. Eine Möglichkeit ist, dass menschliche Jäger viel mehr und viel kompliziertere Erinnerungen an Jagd-Szenarien in ihrem Langzeitgedächtnis speichern können. Durch ihr semantisches und prozedurales Gedächtnis haben sie einfach ein viel größeres Spektrum an Lösungen für jedes zu erwartende Szenario parat. Und sicherlich speichert ihr episodisches Gedächtnis Erinnerungen an vergangene Jagderlebnisse. Die Projektion solcher episodischer Erinnerungen auf die Zukunft gibt ihnen einen fertigen Aktionsplan an die Hand. Wir glauben, dass die Neandertaler dies genauso taten, nach dem Motto: Was früher funktioniert hat, wird in Zukunft wieder funktionieren. Ein weiterer Unterschied zwischen der Planung bei Schimpansen und bei Menschen liegt in der Kommunikation. Schimpansen kooperieren, wenn sie jagen, und sie scheinen ihr gemeinsames Ziel durch Blicke zu kommunizieren – aber danach senden sie keine Botschaften mehr aus, mit denen sie einander helfen würden, ihre Handlungen zu koordinieren. Sie vokalisieren ihren emotionalen Zustand (z. B. Erregung), und andere Schimpansen können sie auf diese Weise lokalisieren, aber sie benutzen ihre Stimme nicht (und auch keine Zeichen), um Handlungen zu koordinieren. Menschen tun das, und wir sind der Meinung, dass die Neandertaler dies ebenfalls taten. Eine effektive Jagd im Maßstab, wie die Neandertaler sie praktizierten, bedarf ­einer gewissen Koordination durch die Kommunikation von Informationen. Dies ist nur einer der Gründe, weshalb wir vermuten, dass die Neandertaler eine Sprache besaßen. 65

Sind Autonoese, Langzeitgedächtnis und Kommunikation taktischer Informationen alles, was man zum Vorausplanen braucht? Nein, etwas fehlt noch, und es ist vielleicht sogar der wichtigste Punkt, um Unterschiede in der Planungsfähigkeit zu verstehen. Es ist die Menge relevanter Informationen, denen ein Individuum seine Aufmerksamkeit widmen kann und über die es zur selben Zeit nachdenken kann. Psychologen bezeichnen diese Fähigkeit als Arbeitsgedächtnis, auch wenn Arbeitsaufmerksamkeit es vielleicht noch besser treffen könnte.27, 28 Um Ihnen eine bessere Vorstellung von dem zu geben, was der Begriff Arbeitsgedächtnis bezeichnet, folgt nun eine klassische Aufgabenstellung für das Arbeitsgedächtnis: Erinnern Sie sich beim Lesen dieses Absatzes jeweils an das vorletzte Wort in jedem Satz, in der richtigen Reihenfolge, und sagen Sie am Ende alle Wörter auf, ohne in den Text zu sehen. Es ist ein wenig mühsam, vor allem, weil man sich dabei ziemlich konzentrieren muss, das heißt einen Großteil seiner Aufmerksamkeit dieser Aufgabe widmen muss. Sie können die Sätze zählen, mit denen Sie dies schaffen – das ist eine der Möglichkeiten, die Kapazität Ihres Arbeitsgedächtnisses zu messen. Beachten Sie, dass Sie dabei mehrere Dinge auf einmal tun müssen: Erstens müssen Sie lesen. Zweitens müssen Sie das vorletzte Wort in jedem Satz identifizieren. Drittens müssen Sie sich an die Wörter erinnern. Wir würden darauf wetten, dass diejenigen von Ihnen, die sich dieser Heraus­ forderung tatsächlich gestellt haben, die Sequenz mehrmals laut wiederholen mussten, während sie versuchten zu lesen. Dieser Einübungsmechanismus ist eine von mehreren Komponenten des Arbeitsgedächtnisses. Im Allgemeinen assoziiert man das Arbeitsgedächtnis mit den höchsten Stufen der Kognition. Die Kapazität des Arbeitsgedächtnisses eines Individuums korreliert stark mit exekutiven Funktionen wie dem Leseverständnis und dem Abschneiden bei Intelligenztests. Das Arbeitsgedächtnis ist nicht einfach nur die Menge an Informationen, denen man seine Aufmerksamkeit widmen kann. Es enthält auch eine exekutive Komponente, die uns dabei hilft, darüber nachzudenken, was es ist, dem wir Aufmerksamkeit schenken. Zwei der exekutiven Funktionen, die für die Planung von Bedeutung sind, sind die Reaktionsinhibition und das Ausblenden von Ablenkungen. Ihr ­prozedurales Gedächtnis und die Evolution versorgen Sie mit einer riesigen Palette automatischer Reaktionen auf Situationen, mit denen Sie Ihr täg­ liches Lebens konfrontiert. Ein gutes Beispiel ist die Flucht-oder-Kampf-­ Reaktion. Aber manchmal müssen Sie eine solche automatische Reaktion 66

unterdrücken. Sie können schwerlich ein Nashorn töten, wenn Sie schon beim bloßen Anblick eines Nashorns vor lauter Angst die Flucht ergreifen. Es ist die exekutive Komponente des Arbeitsgedächtnisses, die einen den Fluchtreflex unterdrücken lässt. Auch Ablenkungen können bei der Planung und Durchführung von Aktionsplänen ein ernstes Hindernis sein. (Die meisten Leser werden dies bestätigen.) Menschen mit einem Arbeitsgedächtnis von besonders hoher Kapazität sind besser in der Lage, Ablenkungen auszublenden und sich auf ihre jeweilige Aufgabe zu konzentrieren. Wenn man diese exekutiven Funktionen mit der Autonoese kombiniert, ermöglicht dies besonders elaborierte Pläne für künftige Handlungsweisen. Schauen wir noch einmal auf unsere Beispiele mit der Jagd. Sie alle unterscheiden sich voneinander hinsichtlich der Anforderungen an die Kapazität des Arbeitsgedächtnisses. Die Schimpansen müssen ihre natürliche Reaktion unterdrücken, die darin bestünde, den Affen sofort zu jagen. Die Aborigines indes müssen viel mehr tun als das: Nicht nur, dass sie ihre Angst vor dem Feuer verdrängen müssen, sie treiben eine ganze Menge Aufwand und ­verbringen viel Zeit ­damit, ihre Handlungen zu organisieren, in Erwartung einer Belohnung, die sie erst Wochen oder sogar Monate später erhalten, während sie zur selben Zeit über die Konsequenzen ihrer Handlungen für die folgenden Jahre nachdenken müssen. In solchen Situationen können einen kurzfristige Ziele oder Wünsche ziemlich einfach von den langfristigen Plänen ablenken und deren erfolgreichen Abschluss verhindern. Unsere primären Belege dafür, wie die Neandertaler planten, stammen von dem, was wir über ihre Jagd rekonstruieren können. Die Neandertaler haben zukünftige Ereignisse vorausgesehen und mit diesem Wissen im Hinterkopf ihre Entscheidungen getroffen. Die Jagd im Kaukasus mittels Hinterhalt an der Wanderroute des Wilds ist ein schlüssiger Hinweis darauf, dass die Neandertaler nicht ziellos ihre Territorien durchstreiften. Aber es ist auch klar, dass sie nicht so weit im Voraus planten wie viele moderne Jäger und Sammler. Wir haben keine Beweise für eine Anpassung der Taktik an die Jahreszeit, wie wir sie beim modernen Menschen sehr häufig finden, und schon gar keine Beweise dafür, dass sie mehrere Jahre vorausdachten wie die modernen Jäger und Sammler in Australien. Die Taktiken der Neandertaler waren sehr effektiv und Teil einer gut antrainierten Strategie. Aber wir haben keine Hinweise auf langfristige Prognosen oder die Art Reaktionsinhibition, die moderne Jäger und Sammler und auch Landwirte verwenden, um für die 67

Zukunft zu planen. Im Moment sieht es also so aus, als deute alles auf kleine, aber doch sehr reale Unterschiede zwischen Neandertaler und modernem Mensch hin, was das Planen betrifft. Zusammenfassend können wir feststellen: Die Neandertaler standen dort, wo sie lebten, an der Spitze der Nahrungskette. Sie konzentrierten sich bei der Jagd auf einige wenige Arten großer Säugetiere und bedienten sich weiter unten in der Nahrungspyramide nur dann, wenn sie es wirklich mussten. In einigen Regionen, z. B. in Nordeuropa, jagten sie Mammuts und Nashörner, und vielleicht waren sie sogar die einzigen prähistorischen Menschen, die sich jemals auf diese gefährlichen Tiere konzentriert haben. Aber die Neandertaler waren auch anpassungsfähig und in der Lage, ihren Fokus auf die­ jenigen großen Säugetiere zu richten, die die jeweilige Region zu bieten hatte. Ihre Taktik beruhte auf einer genauen Kenntnis des örtlichen Geländes, der Fähigkeit, ihre Beute zu überraschen und aus dem Hinterhalt anzugreifen, und dem Mut, sie aus nächster Nähe mit Stoßspeeren zu töten. Sie jagten in kleinen Gruppen, denen auch Frauen und Kinder angehörten. Es gab keine wirkliche Arbeitsteilung, außer in Bezug darauf, welche Aufgabe jemand bei der Jagd übernahm. Auch wenn sie sich auf ein paar wenige Tierarten konzentrieren, legten sie niemals lange Strecken zurück, um diese Tiere zu verfolgen. Ihre Jagdreviere waren relativ klein, selten über 1.000 km2, oft einfach ein bestimmtes Flusstal. Nur selten reisten sie außerhalb ihrer heimatlichen Territorien. Sie kannte jeden Stein, jede Klippe, jeden Hohlweg, und sie machten sie sich zunutze. Aber die Konzentration auf wenige Arten und die relativ kleinen Jagdreviere bedeuteten auch, dass sie bei der Jagd oft nicht erfolgreich waren und tagelang hungerten. Wenn sie jedoch ein Tier erlegten, mussten sie möglichst viel in sich hineinschlingen, um die 3.000 bis 5.500 Kalorien zu sich zu nehmen, die sie zum Überleben pro Tag benötigten. Gemessen an unseren Verhältnissen hatten sie ein hartes, brutales Leben. Die Art und Weise, wie die Neandertaler jagten, setzt bestimmte Denk­ weisen voraus, und sie begünstigt bestimmte Persönlichkeitstypen. Sehr wichtig war dabei das Langzeitgedächtnis – für Erinnerungen an gute Standorte für die Jagd; daran, welche Arten Jagdwild zur Verfügung standen; an Orte zum Verstecken, an Klippen und Hohlwege, an Rohstoffquellen usw. Sie mussten in der Lage sein, in ihrem Territorium den Weg von einem Punkt zum anderen zu finden, und dazu orientierten sie sich an Wegpunkten und 68

verwendeten wahrscheinlich auch Überblickswissen. Sie planten voraus, wenn auch nicht sehr weit, zumindest aber für die Dauer der Jagd. Sie hielten Schmerzen aus und waren in der Lage, Situationen zu überstehen, bei denen ­jeder von uns aufgeben würde. Sie waren wahrscheinlich schweigsam und nicht leicht zu begeistern. Und sie waren sehr erfolgreich – sie eroberten eine Vielzahl von Lebensräumen im Nordwesten Eurasiens, einschließlich der rauen, kalten Gebiete Westeuropas. Die Neandertaler besaßen ein beeindruckendes kognitives Profil, aber es unterschied sich von dem der modernen Jäger und Sammler. Einen großen Anteil am Erfolg der Neandertaler bei der Jagd hatte ihre Technologie, insbesondere ihre Speere mit steinernen Spitzen. Über dieses Thema weiß die Archäologie einiges zu berichten; es steht im nächsten ­Ka­pitel im Mittelpunkt.

69

3 Zen und die Kunst, einen Speer herzustellen Wie stellt man einen Speer mit steinerner Spitze her? Was muss man wissen, und welche Fähigkeiten muss man besitzen? Oberflächlich betrachtet, scheint das ziemlich einfach zu sein, aber ist es das tatsächlich? Als wir beide Kinder waren, spielten wir oft Cowboy und Indianer (es war eine Zeit, in der es alles andere als politisch korrekt zuging), und dabei versuchten wir, selbst Pfeile und Bogen herzustellen. Vieles ging schief, unter anderem wurden wir schier wahnsinnig, als wir versuchten, dreieckige Steine an unseren Pfeilen zu ­befestigen. Die Schnur hielt nicht, zumindest nicht lange, Klebstoff ebenso ­wenig und auch kein Draht; die Kräfte, die selbst an unseren albernen kleinen Bögen wirkten, waren einfach zu stark. Als Zehnjährige dachten wir, das sei eine ganz einfache Aufgabe, aber das war es nicht. Tatsächlich ist es eine kleine Ingenieursleistung, verschiedene Materialien mit unterschiedlichen physischen Eigenschaften so zu kombinieren, dass sich die Kräfte mit minimalem Drehmoment linear verteilen. Die Neandertaler lösten das Konstruktionsproblem der Befestigung von Spitzen an Stöcken, und das Ergebnis war die vielleicht erste echte Erfindung der Technologiegeschichte – eine Waffe, mit der sie nicht nur leichter große Tiere töten konnten, sondern auch einander, wie das Skelett von Shanidar Nr. 3 eindrucksvoll bezeugt. Über welche Kenntnisse mussten die Neandertaler also verfügen, um einen Speer mit Steinspitze anzufertigen?

Speere Die Neandertaler benötigten Speere, oder genauer gesagt: das Konzept des Speers – ein Objekt, das die eigene Reichweite verlängerte und in die Haut 70

eines Tieres eindringen konnte. Dieses Stück Steinzeit-Technologie ist eigentlich viel älter als die Neandertaler, vielleicht geht es sogar bis auf unsere ­frühesten Vorfahren zurück. Wozu man einen spitzen Stock benutzen kann, das verstehen durchaus auch Schimpansen, die mit solchen Stöcken gelegentlich Buschbabys (kleine nachtaktive Halbaffen) aufspießen und aus ihren Schlafnestern holen. Zwar schärfen die Schimpansen ihre Stöcke nicht, um ihre Wirksamkeit zu erhöhen, aber es kann gut sein, dass unsere frühen Vorfahren das bereits taten, insbesondere frühe Vertreter der Gattung Homo erectus. Der Archäologe Manuel Dominguez-Rodrigo hat die Kanten von etwa 1,4 Millionen Jahre alten Steinwerkzeugen aus Peninj in Tansania analysiert und Rückstande von Akazienholz daran entdeckt: Der Homo erectus hat diese Werkzeuge dazu verwendet, Holz abzukratzen oder zurechtzuschnitzen, und Dominguez-Rodrigo vermutet, er habe Speere hergestellt.1 Speere an sich hat er nicht gefunden, aber das ist keine Überraschung. Speere sind aus Holz, und Holz wird in archäologischen Fundstellen selten länger als ein paar Hundert Jahre bewahrt. Es gibt ein paar Ausnahmen von dieser Regel, wo sich solche Artefakte im Moor oder im Sumpf erhalten haben (geschützt vor der Sauerstoffzirkulation, die in erster Linie am Verfall schuld ist). Einer der spektakulärsten solchen Fundorte ist Schöningen. Schöningen ist ein riesiges Kohlebergwerk, ein Tagebau nahe Hannover, wo man mit schwerem Gerät Kohle fördert. Die Umweltrichtlinien des Kohle-­ Unternehmens schreiben vor, dass alle Bereiche, die der Grube hinzugefügt werden sollen, zunächst von Archäologen untersucht werden, und in den frühen 1990er Jahren machten diese Archäologen einen sensationellen Fund: die Überreste von drei Speeren sowie Skeletten von Pferden. Später fanden sie noch vier weitere Speere. Diese Speere sind fast 400.000 Jahre alt und wurden vom Vorfahren des Neandertalers, dem Homo heidelbergensis, hergestellt.2,3 Die Speere sehen aus wie riesige Zahnstocher, sie sind ca. 2 m lang und an beiden Enden angespitzt. Für die Herstellung hatten die HeidelbergensisHand­werker Äste von jungen Fichten abgeschnitten, Seitenäste und Zweige entfernt und die Rinde und die äußeren Holzschichten abgetragen, all das mit Steinwerkzeugen. Dann schnitzten sie die Speere so zurecht, dass ihr Schwerpunkt im hinteren Drittel lag, eine Gewichtung, die der bei modernen Wurfspeeren ähnelt. Hartmut Thieme, der zuständige Archäologe, glaubt, dass die Speere auf die Pferde geworfen wurden. Einige Archäologen bezweifeln dies jedoch; wie viel Schaden könnte man einem Pferd mit einem riesigen Zahn71

stocher schon zufügen – selbst wenn ihn ein starker Arm wirft? Genug, um das Tier zu fällen? Indes bezweifeln nur wenige Forscher, dass Jäger die Speere benutzten, um die Pferde abzustechen und schließlich zu töten, um sie hinterher zu schlachten. Schöningen ist einer jener seltenen Fundorte, die nicht nur an sich interessant sind, sondern dazu noch ein Rätsel lösen, das viele Jahre bestand: Die Archäologie kennt viele Fundorte aus derselben Zeit, in denen man Steinwerkzeuge und Tierknochen zusammen fand, aber dieses gemeinsame Auftreten von Knochen und Werkzeugen konnte auch durch weniger gefährliche Vorgänge als die Jagd mit dem Speer erklärt werden, durch den Verzehr von Aas zum Beispiel. Die Speere von Schöningen beendeten diese minimalistischen Erklärungsversuche ein für alle Mal: Die Vorfahren der Neandertaler haben große Tiere mit Speeren gejagt. Als sich die Neandertaler entwickelten, war diese Form der Jagd und der Technologie ganz eindeutig bereits etabliert. Irgendwann später, vielleicht schon vor 200.000 Jahren, spitzte sich das Wettrüsten der Prähistorie zu – als die Neandertaler am Ende ihrer Speere einen scharfen Stein befestigten. Zu Zeiten der Neandertaler war die simpelste (aber nicht die am einfachsten herzustellende!) Speerspitze ein flaches, dreieckiges Steinwerkzeug mit zwei scharfen Kanten – Archäologen nennen das eine Levallois-Spitze (Abb. 3-1). Sie war wirksam, aber sehr schwierig herzustellen. Wenn Sie wie ein Neandertaler denken wollen, müssen Sie lernen, in Stein zu denken.

Steinbearbeitung für Anfänger In seiner bahnbrechenden Fernsehserie Cosmos schwärmte der leider verstorbene Carl Sagan von einem Universum mit Milliarden Sternen und ­Galaxien, einer riesigen und quasi unerschöpflichen Datenquelle für Astronomen. Archäologen, die die menschliche Evolution untersuchen, sind bescheidener, aber nur ein wenig. Uns stehen buchstäblich Millionen und Abermillionen von Steinwerkzeugen zur Verfügung – es sind so viele, dass selbst die zahlenmäßige Erfassung mitunter ein Problem darstellt. In den 1970er Jahren ergrub der Archäologe Michael Mehlman eine Stätte in der SerengetiSavanne in Tansania, um Werkzeuge aus der afrikanischen mittleren Steinzeit (Middle Stone Age oder MSA, vor etwa 200.000 bis 40.000 Jahren, also zeitgleich mit den Neandertalern) zu untersuchen. Aber bis er sich endlich 72

Abb. 3-1: Eine Levallois-Spitze (nach Mellars6).

zur MSA-Ebene durchgegraben hatte, hatte er bereits mehr als 200.000 jüngere Steinwerkzeuge ans Licht gebracht. So gern er diese ignoriert hätte, es hätte jeder archäologischen Ethik widersprochen. Er musste alle 200.000 ­(zumindest kursorisch) untersuchen und die Ergebnisse niederschreiben. Dazu brauchte er mehrere Jahre. Steinwerkzeuge sind tatsächlich ein bisschen wie Galaxien: Auf den ersten Blick erscheint einem alles ziemlich ähnlich. Aber je länger und je näher man hinschaut, desto mehr Unterschiede entdeckt man und desto mehr Muster kann man identifizieren – und alle wollen erklärt sein. Für 99,7 % der Dauer der menschlichen Evolution waren Steinwerkzeuge die Grundlage der Technologie.4,5 Sie haben uns auf unserem Weg begleitet, ab der Zeit vor 2,6 Millionen Jahren, als wir nichts weiter waren als Affen auf zwei Beinen im tropischen Afrika, bis zur Erfindung der Metallurgie vor 6.000 Jahren. Die Steinwerkzeuge haben sich im Laufe jener Zeit stark verändert, was seinerseits Auswirkungen auf die evolutionäre Entwicklung der Ernährung, der sozialen Interaktion und der Kognition hatte. Und natürlich waren sie auch ein wesentlicher Bestandteil des Lebens der Neandertaler.6,7 Die grundlegende Idee hinter Steinwerkzeugen ist von trügerischer ­Einfachheit: Wenn man Steine zerbricht, erhält man scharfe Kanten. Steine zu zerbrechen hat man Schimpansen und Orang-Utans (und Studenten) 73

­ eigebracht, die Grundidee allein erforderte also keine großartigen intellekb tuellen Fähigkeiten seitens unserer Vorfahren. Man musste dafür kein Gehirnchirurg sein, zumindest zu Beginn nicht. Die grundsätzliche Vorgehensweise beim Steinabschlagen ist, einen Stein mit einem stabilen anderen Stein zu schlagen („Abschlagen“ ist der Fachausdruck für die Herstellung von Steinwerkzeugen). Der Abschläger hält einen Stein in einer Hand (ein Rechtshänder in der linken) und schlägt auf den Rand dieses Steins mit ­einem anderen, härteren Stein, den er in der anderen Hand hält. Den abgeschlagenen Stein nennt man Kern oder Steinkern, den Schlagstein Hammer. Wenn der Schlag stark genug ist und nahe der Kante des Kerns landet, bricht ein Stück vom Stein ab, das wir dann als Splitter bezeichnen. Steinsplitter können sehr scharfe Kanten haben, manchmal schärfer als ein Skalpell. Nicht alle Steinarten sind gleich gut für das Abschlagen geeignet. Weiches, körniges Gestein wie Sandstein ergibt keine Kante; harte, kristalline Gesteine wie ​​ Granit wiederum sind zu hart, und ihre kristalline Struktur behindert das Abschlagen. Die frühesten bekannten Steinwerkzeuge stammen aus einem Ort namens Gona in Äthiopien, und bereits hier wählten die Abschläger die besten örtlich verfügbaren Rohstoffe aus, auch wenn sie nicht am häufigsten vorhanden waren. Selbst die einfachsten Steinwerkzeuge sind für eine Vielzahl von Aufgaben verwendbar. Zunächst verwendeten unsere auf zwei Beinen gehenden Vorfahren sie nur für zwei Dinge: scharfe Splitter zum Schneiden und Kerne zum Zuschlagen. Wir wissen, dass sie die Steinsplitter verwendeten, um Fleisch von bereits toten Tierkadavern abzuschneiden, und die Kerne, um Knochen aufzubrechen, damit sie an das Knochenmark kamen (auch die Kerne haben scharfe Kanten, dort, wo die Splitter entfernt wurden); Archäologen wie Selesi Semaw haben bei Ausgrabungen in Gona in der Nähe von Steinwerkzeugen solche Knochenfragmente gefunden. Wir vermuten, dass sie auch ­andere ­Dinge geschnitten und geschlagen haben, aber solche Produkte sind nicht e­ rhalten.8 Die erste Million Jahre in der Technikgeschichte finden wir ausschließlich Hämmer, Kerne und Splitter, die dazu verwendet wurden, Aas und eventuell auch andere Nahrung zu bearbeiten. Aber vor etwa eineinhalb ­Millionen Jahren gab es einige technische Neuerungen. Ab hier dominieren in der Geschichte der Steinwerkzeug-Technologie zwei Motive: Die Kanten der Steinsplitter erfuhren immer mehr Veränderungen, und das Volumen der Kerne ebenso, damit diese mehr oder bessere Steinsplitter lieferten. 74

Die Kanten eines frisch abgeschlagenen Steinsplitters können extrem scharf sein, vor allem bei hochwertigem Gestein wie Obsidian oder Feuerstein. Manchmal ist eine messerscharfe Kante für eine bestimmte Aufgabe jedoch gar nicht das beste Werkzeug. Angenommen, Sie möchten von einer Tierhaut das Fett abkratzen. Ein Steinsplitter mit einer rasiermesserscharfen Kante würde die Haut durchschneiden, wenn man ihn nicht äußerst vorsichtig ­verwendet und sehr langsam arbeitet. Auch sind scharfe Kanten dünn und brechen leicht. Allerdings kann man die Kante ein wenig stabiler und etwas weniger scharf machen, indem man eine Reihe kleinerer Splitter von der Kante abschlägt. Archäologen nennen die so bearbeiteten Kernsteine Schaber, nach ihrer mutmaßlichen Funktion. Schaber tauchten in heute archäologisch erschlossenen Stätten das erste Mal vor rund 1,8 Millionen Jahren auf. Etwa zur selben Zeit entstanden auch noch andere Varianten, u. a. Steinsplitter mit Vorsprüngen, die vielleicht dazu verwendet wurden, Löcher zu stanzen. Die folgenden 1,3 Millionen Jahre lang produzierten Steinabschläger Splitter mit immer unterschiedlicheren Kanten, so dass den Neandertalern vor rund 200.000 Jahren eine reichliche Auswahl zur Verfügung stand. Der zweite Trend ist aus kognitiver Sicht noch interessanter. Steinabschläger entwickelten Möglichkeiten zur effizienteren Nutzung der Steinkerne. Wenn Sie auf einem Kern nur herumschlagen, um Splitter zu erhalten, wird der Kern sehr schnell mehr oder weniger kugelförmig, ohne scharfe Kanten, von denen man weitere Splitter abbrechen kann. Solche abgerundeten Kerne produzieren Schimpansen, wenn man ihnen das Steinabschlagen beibringt. Wenn man diesen Kern aber sorgfältig untersucht und einen geeigneten Ansatzpunkt zum Abschlag findet, kann man den Kern noch weiter verwenden. Und das taten die frühen Hominiden, die sich als Steinabschläger betätigten. Wenn man mit dem Kern noch mehr anfangen möchte, dann kostet es zwar einige Mühe, aber schließlich kann man mit gezielten Abschlägen die gesamte Form des Kerns bestimmen, während er kleiner wird. Diese Art Technik bezeichnet man als Kernaufbereitung, und sie tauchte das erste Mal vor etwa einer halben Million Jahre auf. Aber wozu einen Kern aufbereiten? Warum nicht einfach einen anderen Stein nehmen und noch einmal mit dem Abschlagen anfangen? Die Antwort ist: Qualitativ hochwertige Steine waren ­selten und nicht unbedingt in der Nähe, wenn man ein Werkzeug benötigte. Man musste sie oft von anderswoher herbeischleppen, und Steine sind schwer. Es war durchaus sinnvoller, das vorhandene Material effizienter zur nutzen, 75

als sich weiteres Material zu beschaffen, wofür man mehrere Stunden oder sogar Tage benötigte. Mit sehr wenigen Ausnahmen, die erst sehr spät in der Prähistorie auf­ tauchen, waren Steinwerkzeuge nicht (wie z. B. Kreuzschlitzschraubenzieher) nur für eine einzige Funktion gedacht. Scharfe Steinsplitter dienten einer Vielzahl von Aufgaben, und man konnte sie leicht modifizieren, damit sie wieder andere Aufgaben erfüllen konnten. Einen einzelnen Steinsplitter ­herzustellen, erforderte viel Mühe (wenn wir im Moment einmal von der Kernaufbereitung absehen), und er war kein wertvoller Besitz. Die meisten wurden bald nach dem Gebrauch weggeworfen. Was die Archäologen vor ein größeres Problem stellt, ist, dass ein Abschläger, der mehrere Tausend Jahre später lebte, ein altes Werkzeug nehmen konnte, eine neue Kante hineinschlug, und schon war er wieder im Geschäft. Hominiden trugen wahrscheinlich nicht viele scharfe Splitter mit sich herum; es war einfacher, einen Steinkern dabeizuhaben, vielleicht einen Hammer und, wenn nötig, Steinsplitter zu produzieren. Wir haben heute eine andere Beziehung zu Werkzeugen; wenn wir einen 2005er Volkswagen tunen wollen und nicht das dafür nötige Werkzeug besitzen, haben wir eben Pech gehabt.

Steinbearbeitung für Fortgeschrittene Sehen wir uns jetzt noch einmal die Speerspitzen an. Wie schlägt man einen dünnen, flachen, scharfen Steinsplitter ab, der spitz zulaufende Seiten hat? Die Neandertaler wandten dazu zwei ganz unterschiedliche Strategien an. Bei einer modifizierten sie einen großen Steinsplitter, indem sie kleinere Steinsplitter von den Seiten abschlugen, bis er die entsprechende spitze Form hatte. Bei der anderen bereiteten sie einen Kern so auf, dass sie einen dreieckigen Steinsplitter abschlagen konnten, bei dem keine weitere Modifika­ tion mehr nötig war. Die letztere Variante ist um einiges interessanter, daher wollen wir sie näher untersuchen. Der erste Schritt bestand darin, ein paar ordentliche Steine zu besorgen, und das war für Neandertaler mitunter ein Problem. Sie legten nicht gern weite Strecken zurück. Wie wir in Kapitel 2 gesehen haben, verfügten die Neandertaler über intime Kenntnisse ihrer Umgebung und verwendeten ­etablierte Routen und Pfade, um Beutetiere aufzuspüren; aber nur selten, 76

wenn überhaupt, verließen sie ihre angestammten Gebiete. Dasselbe galt für Rohmaterial: Sie wussten, wo in ihrem Gebiet die qualitativ hochwertigsten Steine zu finden waren. Aber wie bei Tierkadavern konnte man nicht unbegrenzte Mengen tragen; niemand wollte über weite Strecken viele schwere Steine tragen. Soweit es die Archäologie nachvollziehen kann, verwendeten sie fast durchweg Steine, die sie innerhalb weniger Kilometer von dem Ort sammelten, wo sie sie verarbeiteten. Ganz, ganz selten trugen sie Steine von sehr hoher Qualität bis zu 250 km weit. Und in diesen Fällen verschwenden sie kein Material; Archäologen haben in diesen Fällen nur sehr kleine Stücke gefunden, die nach wiederholtem Gebrauch weggeworfen wurden. Die kompliziertesten und fortschrittlichsten Techniken sparten sie sich für die hochwertigsten Steine auf, genau wie ein heutiger Schreiner Maha­goni oder Kirsche mehr Zeit und Aufwand widmet als Kiefer. Und die be­eindruckendste Abschlagtechnik jener Zeit war die Levallois-Technik.9, 10 Die Levallois-Technik ist eine Technik zur Aufbereitung eines Steinkerns, bei der der Abschläger das Volumen und die Form eines Kerns bearbeitet, um Größe und Gestalt ein paar weniger Splitter beeinflussen zu können. Bei der einfachen Levallois-Technik entfernt der Abschläger zunächst Steinsplitter aus einem größeren Gesteinsbrocken (in der Regel Feuerstein), um einen Kern zu erhalten, den man manchmal auch als Schildkrötenkern bezeichnet, weil er einem umgedrehten Schildkrötenpanzer ähnelt (Abb.  3-2). Wenn er geschickt genug ist, kann der Abschläger den Großteil der Oberseite des Kerns (also des Bodens des Schildkrötenpanzers) als einen einzigen großen, flachen Splitter abschlagen. Der Abschläger konnte dann diesen ovalen Splitter zu einer Spitze zurechthauen. Einige Neandertaler verwendeten jedoch eine noch raffiniertere Form der Levallois-Technik. Sie bereiteten die obere Oberfläche des Kerns in einer Art und Weise auf, dass die resultierenden Splitter eine dreieckige Form besaßen, mit zwei konvergierenden scharfen Kanten, eine Art natürliche Speerspitze (Abb. 3-1). Hier bedurfte es keiner weiteren Modifikation, bevor man die Spitze am Schaft eines Speers anbringen konnte.

Schäftung Die vielleicht erste Ingenieursleistung in der Geschichte der Technik war die Schäftung einer Steinspitze mit einem hölzernen Stab. Denken Sie darüber eine 77













Abb. 3-2: Die einzelnen Schritte bei der Vorbereitung des Steinkerns nach der ­Levallois-Technik (nach Mellars6). Der Pfeil bei Bild 5 zeigt die Schlagfläche an, die Stelle, wo der letzte Schlag ansetzen muss, damit der Steinsplitter wie in Bild 6 abfällt. Ziel der Levallois-Technik war es, eine oder mehrere große, dünne Steinsplitter zu produzieren, die dann entweder direkt verwendet oder weiter modifiziert werden können.

Sekunde lang nach: Dies war keine neue Abschlagtechnik, über die jemand zufällig gestolpert war Ziel der Levallois-Technik, oder die er zufällig entdeckte, indem er (oder sie) eine bestehende Technik ein wenig abwandelte. Dies war eine echte, neue Idee. Jemand hatte sich dazu entschieden, ein Steinwerkzeug an einem hölzernen Schaft zu befestigen, und dann experimentierte er mit verschiedenen Möglichkeiten, wie dies funktionieren konnte. Dieser Jemand hatte keine Präzedenzfälle vor Augen, noch nie hatte jemand so etwas getan. Wir nennen es eine Ingenieursleistung, denn der Erfinder musste dabei einige gnadenlose Gesetze der Physik überwinden. Die Kraft, die auf die Spitze einwirkt, muss über den Schaft linear kanalisiert werden, mit minimalem Drehmoment. Alle horizontal angreifenden Kräfte müssen dabei gehemmt werden, ansonsten bricht die Spitze vom Schaft ab. Und wenn man auf ein Mammut ­einsticht, 78

­ irken eine ganze Menge Kräfte. Bei den angespitzten Fichtenästen in Schöninw gen war dies kein Problem, hier bestand der Speer aus einem einzigen Stück. Aber sie waren nicht sehr scharf und nicht annähernd so lebens­bedrohlich wie ein Speer, an den ein scharfer, spitzer Stein montiert ist. Wie bekamen die Neandertaler das hin? Die Archäologie hat direkte Hinweise auf eine mögliche Lösung gefunden. Von einem Fundort in Syrien stammt eine Spitze, deren Basis mit Bitumen überzogen war, einer Art natürlichem Asphalt.11 Die Neandertaler dort klebten die Spitze einfach an. Natürlich ist das nicht so einfach, wie es klingt. Erstens mussten sie das Bitumen wahrscheinlich erhitzen, um es zu verwenden; dann mussten sie die Spitze so anbringen, dass das Bitumen die einwirkenden Kräfte ausschließlich auf den Schaft kanalisierte – die Spitze wäre nicht stark genug gewesen, die direkte Kraft auszuhalten. In Westeuropa verwendeten die Neandertaler Pech, das sie aus Birkenrinde herstellten.12 Andere Neandertaler versuchten möglicherweise, die Spitze am Schaft festzubinden, aber es gibt keine direkten Überreste des dafür verwendeten Materials. Archäologen haben zwar dreieckige Steinsplitter gefunden, die in einer bestimmten Form zurechtgehauen waren, die darauf hindeutet, dass sie an Schäften montiert waren, aber es wurde kein Klebstoff an ihnen entdeckt.13 Diese Spitzen könnten tatsächlich angebunden gewesen sein (Abb. 3-3). Wie auch immer die Neandertaler dieses Konstruktionsproblem lösten, wichtig ist, dass sie es lösten und so die Effektivität ihrer Hauptwaffe um ein Vielfaches steigerten.

Innovationen Die Schäftung war eine beeindruckende Leistung, aber sie war wohl nicht gerade typisch für die Neandertaler. Es war eine neue Lösung für ein altes Problem – wie macht man Speere tödlicher und zuverlässiger? –, aber solche Innovationen waren in der Neandertaler-Technologie eher selten. Tatsächlich sorgten die Neandertaler im Laufe der rund 200.000 Jahre, die sie in Europa und Westasien lebten, für nur wenige technische Innovationen. Bei den Steinwerkzeugen waren es über diesen ganzen Zeitraum vielleicht eine Handvoll Innovationen, und sie stellten allesamt nur geringfügige Variationen bereits bestehender Verfahren dar (z. B. die Herstellung dreieckiger Splitter mit der Levallois-Technik). Die Neandertaler stellten die ganze Zeit über die gleichen Werkzeuge her. 79

Abb. 3-3: Ein Neandertaler-Speer mit geschäfteter Spitze, in diesem Fall durch Anbinden am Schaft befestigt.

Wie sehr das auf eine bestimmte Art Werkzeug zutrifft, variiert je nach Zeit und Ort, aber im Prinzip sind 40.000 Jahre alte Werkzeuge kaum von 200.000 Jahre alten Werkzeugen zu unterscheiden. Wir haben keinen Grund anzunehmen, dass dies bei archäologisch nicht nachweisbaren Materialien (Fasern, Kleidung usw.) anders war. Dieser Mangel an technologischer Innovation ist einer der größten Unterschiede zwischen den Neandertalern und den modernen Menschen. Er weist darauf hin, dass bei den Neandertalern entweder die Kultur ganz anders funktionierte als bei uns – oder das Denken.

Denken in Eisen und Stein Weiter oben haben wir gesagt, wenn Sie die Neandertaler verstehen möchten, müssen Sie „in Stein denken“. Was meinen wir damit? Es klingt ein bisschen nach New Age und Kristallkugeln und weniger nach Wissenschaft bzw. Archäologie und Psychologie. Aber wir haben ein ernsthaftes Ziel – das tech­ nische Denken zu verstehen –, und traditionelle Labor-Experimente lassen 80

e­ twas ganz Wichtiges vermissen, wenn es darum geht, wie Werkzeuge tatsächlich funktionieren. Hier ist ein Beispiel dafür, was wir meinen: In einer kürzlichen TV-Sendung auf dem History Channel über Waffen der Barbaren führte ein Schmied vor, wie ein keltisches Schwert angefertigt wird. Dabei sagte er: „Sie selbst müssen zusammen mit dem Schwert im Feuer sein.“ Dies klingt erst einmal seltsam. Er kletterte nicht ins Schmiedefeuer oder stand auch nur besonders nah daneben. Was meinte er bloß? Er versuchte, auf die ihm eigene Weise etwas sehr Wichtiges auszudrücken: Für einen erfahrenen Handwerker sind Werkzeuge Erweiterungen ihrer Wahrnehmung und damit Erweiterungen ihres Geistes. Dies mögen viele Leser besonders poetisch ­finden oder im besten Fall als merkwürdige Metapher ansehen, aber das rührt daher, dass die meisten gebildeten Menschen (zumindest in der westlichen Welt) ein dualistisches Verständnis von Körper und Geist haben. Vereinfacht besagt dieses dualistische Verständnis, dass Geist und Körper zwei getrennte Dinge sind. Denken ist das, was der Geist tut; natürlich ist das Gehirn etwas Physisches, aber es ist lediglich das Organ der Gedanken, die ­ihrerseits Teil des Geistes sind. Der Körper ist dem Geist untertan und nicht am Denkprozess beteiligt. Mit einem solchen dualistischen Verständnis ist es schwierig zu beschreiben, was der Schmied meinte – ganz abgesehen von dem, was wir alle täglich tun. Vielleicht hilft ein etwas bekannteres Beispiel: Erfahrene Autofahrer lernen, die Straße durch die Lenkung ihres Fahrzugs zu fühlen. Wenn sie im Winter auf eisiger Fahrbahn fahren, spüren sie die Veränderung in der Traktion und fahren langsamer oder ergreifen andere Maßnahmen, und zwar bevor sie diese Veränderungen bewusst wahrnehmen („Oh, Sch…!“). Bei diesen Fahrern sind Wahrnehmung und Bewusstsein verlängert und schließen die mechanischen Verbindungen einer Maschine mit ein. Solche Entscheidungen umgehen das Bewusstsein; der Körper reagiert auf die mangelnde Traktion vor der bewussten Erkenntnis, dass eine Gefahr besteht. In solch einem Fall darf man nicht zu dem Schluss kommen, dass alles, was von Interesse ist, im Kopf vor sich geht. Das Gehirn steuert einen Teil dieser Reaktion, aber periphere Nerven und trainierte Muskelgruppen sind dabei ebenfalls wichtig. Erst in letzter Zeit haben Psychologen damit begonnen, solche Phänomene ernst zu nehmen, und um sie zu untersuchen, ist ein neues Konzept entstanden, das Embodiment heißt. Die Psychologen haben sich dabei noch nicht sehr eingehend dem Gebrauch von Werkzeugen gewidmet – die Anthropologen schon. 81

Charles und Janet Keller haben beschrieben, wie ein moderner Schmied denkt, während er mit Eisen arbeitet.14 Ihre Darstellung erfasst viel von den Empfindungen technischen Denkens und beschreibt auch einige der wichtigsten organisatorischen Funktionen des Gebrauchs von Werkzeugen. Jede technische Herausforderung bedingt eine bestimmte Abfolge von Schritten; so viel ist wahrscheinlich jedem klar. Denken Sie nur an die einzelnen ­Schritte beim Kuchenbacken oder beim Zusammenbauen eines IKEA-Regals (haben Sie auch die Anleitung gelesen?). Interessant ist hierbei, wie ein erfahrener Handwerker diese Schritte konzipiert. Nach Charles und Janet Keller entwirft der Schmied zunächst einen ganz allgemeinen Plan, sozusagen einen geistigen Entwurf der gesamten Aufgabe unter Berücksichtigung der Zeitvorgabe, der vorhandenen Materialien und Werkzeuge, bereits gesammelter Erfahrungen und natürlich seines grundlegenden Verständnisses dessen, was er erreichen will und welche Schritte dafür erforderlich sind. Gemäß diesem geistigen Entwurf legt sich der Schmied dann Werkzeuge und Mate­ rialien zurecht und beginnt. Jeder Schritt ist für sich eine weitgehend abgeschlossene, auf ein unmittelbar erreichbares Ziel ausgerichtete Aktivität (z. B. das Drehen einer Eisenstange für ein Geländer). An diesem Punkt wird es schwieriger, technisches Denken in Worte zu fassen. Ein großer Teil des für einen solchen Schritt nötigen Denkens geschieht durch Materialien und Werkzeuge. Das Wissen darüber, wie man diesen Schritt vollendet, hängt von den verfügbaren Werkzeugen, dem zu bearbeitenden Material und dem unmittelbaren Ziel ab. Werkzeuge und Materialien lösen Bilder aus, aber nicht unbedingt Wörter oder Sätze. Diese Bilder sind keine simplen visuellen Darstellungen, sondern ein komplexes Zusammenspiel aus Bild, Ton, Körperhaltung und Muskelspannung. Und es sind keine statischen mentalen Bilder, sondern dynamische, kontinuierliche Aktionen. Nach Beendigung eines Schritts geht der Schmied zum nächsten Schritt über, und so weiter, bis er fertig ist. Solch ein technisches Verfahren besteht aus voneinander relativ unabhängigen Segmenten, die aus Einzelaktivitäten zusammengesetzt sind und in einer bestimmten Reihenfolge durchgeführt werden. Im Nachhinein ist es oft möglich, die Aktivität als Hierarchie über- und untergeordneter Handlungen zu beschreiben, aber dies zeigt nicht, was der Schmied bei der Arbeit denkt, und sicherlich nicht die Art und Weise, wie er diese Aktivität gelernt hat. Jede solche Hierarchie basiert auf einer nachträglichen Analyse. John Gatewood, ein Anthropologe, der eine Zeitlang auf dem Boot eines 82

Lachsfischers arbeitete, beschrieb die technischen Verfahren dort als „Perlenkette“, und dies ist eine ganz passende Metapher für das technische Denken.15 Die Interaktion zwischen Werkzeugen, Materialien und Handwerker sorgt für flexible Reaktionen. Technisches Denken ist nicht die routinemäßige Wiederholung einer in der Erinnerung gespeicherten Sequenz. Der Schmied überwacht kontinuierlich den Zustand seiner Werkzeuge und Materialien; dabei orientiert er sich komplett daran, was er fühlt, hört und sieht, und auf Basis dieser Informationen passt er sein Verfahren in kleinen oder größeren Details an. Dabei muss er das Rad nicht neu erfinden. Stattdessen bedient sich der Schmied (oder welcher Handwerker auch immer) zahlreicher Alternativen, die er im Laufe der Zeit gelernt hat. Jedes Mal, wenn ein Handwerker etwas fertigstellt, ist das Ergebnis zumindest geringfügig anders, aufgrund unterschiedlicher Materialien und unterschiedlicher Bedingungen, die immer zu leicht unterschiedlichen Ergebnissen führen. Wenn Handwerker die gleiche Aufgabe ständig wiederholen, werden die einzelnen Entscheidungen zur Routine, und auch die Reaktionen auf oft auftretende Probleme erhalten einen mehr oder weniger automatischen Charakter. Aber um auf dieses ­Niveau zu kommen, braucht es Zeit.

Azubis Wie lernte Antonio Stradivari, eine Geige herzustellen? Wie lernte Ihr Großvater, wie man einen Verbrennungsmotor optimiert? Keiner von beiden besaß ein Lehrbuch dafür. Überhaupt waren dabei kaum verbale Anweisungen im Spiel. Sie lernten, indem sie anderen zusahen und es nachzumachen versuchten, vielleicht hin und wieder mit einem unfreundlichen Wort ihres Mentors. Als junger Mann verbrachte Stradivari mehrere Jahre in der Werkstatt des Geigenbaumeisters Nicolo Amati. Sein Großvater lernte wahrscheinlich von seinem Vater oder vielleicht von einem älteren Bruder – ein weniger formelles Verhältnis, aber ansonsten war es dem bei Stradivari in den meisten wichtigen Punkten ganz ähnlich. Noch immer lernen Menschen im Rahmen einer Ausbildung, wie man Werkzeuge benutzt. Eine Bekannte von ­einem von uns fuhr in den 1970er Jahren nach Japan und ging bei einem Schreiner in die Lehre, im Rahmen der Recherche für ihre Dissertation. Zu ihrer großen Enttäuschung musste sie feststellen, dass die Lehrlinge die 83

Werkzeuge in ihrem ersten Lehrjahr nicht einmal anfassen durften. Sie durften lediglich die Werkstatt ausfegen und zuschauen. Dass man zu Beginn eher niedere Aufgaben verrichtet, ist in der Tat ganz typisch für eine Berufsausbildung und findet sich in vielen literarischen Darstellungen. (Denken Sie nur an den glücklosen Micky Maus in der „Zauberlehrling-Episode“ in Fantasia.) Außerdem war es und ist es gar nicht ungewöhnlich, dass eine Ausbildung bis zu zehn Jahre dauert – mehr als genug Zeit, um eine Dissertation zu verfassen. Sprechen lernen wir nicht im Rahmen einer Ausbildung. Eigentlich wird uns überhaupt nicht beigebracht zu sprechen. Kleinkinder erwerben Sprache, wenn sie in einer Umgebung aufwachsen, wo gesprochen wird, auch wenn die betreffende Sprache in linguistischem Sinne verarmt ist. Hin und wieder helfen Eltern ihren Kindern beim Sprechenlernen, aber das ist gar nicht notwendig. Der große Unterschied zwischen der Art und Weise, wie wir den Umgang mit Werkzeugen lernen, und der Art und Weise unseres Spracherwerbs suggeriert, dass eine jeweils andere Form des Denkens angesprochen wird. Die Verwendung von Werkzeugen stützt sich auf viele Arten von Wissen, wovon nur wenig verbal ausgedrückt wird. Aber es gibt einen noch grundlegenderen Unterschied: Die Verwendung und Herstellung von Werkzeugen bedingt kognitive Fähigkeiten, die nur oberflächlich der Sprache ähneln und sich früher entwickelt haben als Sprache. Im Rahmen einer handwerklichen Ausbildung werden diese älteren Fähigkeiten angesprochen – und sie spielen auch bei vielen unserer liebsten Freizeitbeschäftigungen eine Rolle: Musik, Sport, bildende Kunst und Tanz.

Expertenwissen Mag sein, dass experimentelle Psychologen dem praktischen technischen Denken noch nicht viel Aufmerksamkeit geschenkt haben, aber sie haben zwei Arten von Tätigkeiten untersucht, die, wie wir glauben, dieselben kognitiven Fähigkeiten beanspruchen. Diese Aktivitäten sind Sport und fachliche Leistungen. Der Hochleistungssport fasziniert schon seit Langem nicht nur Teilnehmer und Fans, sondern auch Physiologen und Psychologen. Die meisten Leser werden mit der Sportphysiologie vage vertraut sein, und sei es auch nur durch Doping-Skandale. Die Sportpsychologie indes ist wahrscheinlich 84

weit weniger bekannt, aber im Wettbewerb doch ebenso wichtig. Wir verfügen beide über Erfahrungen im Bereich des Amateur-Leistungssports – einer von uns im Tennis, der andere im Fechten – und wissen aus erster Hand, was man braucht, um erfolgreich zu sein, genau wie sicherlich viele unserer Leser. Was braucht man, in psychologischer Hinsicht, um ein Champion zu sein oder auch nur gute Ergebnisse zu erzielen? Lesen und Sprechen stehen nicht sehr weit oben auf der Liste der notwendigen Fähigkeiten; Lehrbücher und Ratgeber bieten meist nicht viel Hilfe, und Profisportler sind nicht gerade für ihren virtuosen Umgang mit der Sprache bekannt. Da hilft ein Trainer – aber wie? Was tut ein guter Trainer? Es ist tatsächlich nicht ganz klar, was ein ­erfolgreiches Training ausmacht. Klar, ein Trainer lässt Sie trainieren, was sehr wichtig ist, und er motiviert Sie auch (indem er Sie einschüchtert oder aufbaut), aber was Ihre tatsächlichen motorischen Fähigkeiten betrifft, so kann er nicht wirklich viel tun – das müssen Sie schon selbst erledigen. Training ist in jeder Sportart wichtig, um Erfolg zu haben. Fragen Sie einen Profi oder einen versierten Amateur-Sportler, und er wird Ihnen versichern, dass er mehrere Tausend Stunden trainiert hat und einzelne Übungen vielleicht Zehntausende Mal wiederholt hat. Warum? Wenn man weiß, wie etwas geht, warum tut man es dann nicht einfach? Die Antwort ist, dass motorische Aktivitäten eine Art des Denkens ansprechen, die man motorisches Gedächtnis nennt und die eine Variante des prozeduralen Gedächtnisses ist. Man trainiert sein motorisches Gedächtnis buchstäblich, indem man die Muskelgruppen sowie die für sie zuständigen Nerven und Hirnregionen trainiert. Und das geht nur durch Wiederholung; das System ist fast vollständig von der bewussten Kontrolle abgekoppelt. Wie weiß man nun aber, welches Muster man wiederholen soll? Das könnte einem jemand verbal erklären (aber versuchen Sie einmal, einen Aufschlag beim Tennis allein mit Worten zu ­beschreiben), oder jemand könnte es einem zeigen – und das ist wesentlich effektiver. Menschen haben (wie alle Primaten) bestimmte Motoneuronen, die anspringen, wenn man beobachtet, wie jemand etwas tut. Diese heißen Spiegelneuronen, und sie helfen uns, motorische Aktivitäten durch Kopieren zu erlernen. Dennoch müssen wir das beobachtete Muster immer und immer wieder wiederholen, bevor wir es selbst gut können. Sicherlich kann der Leser leicht nachvollziehen, dass sich ein Großteil des technischen Denkens – einen Nagel einzuschlagen, ein keltisches Schwert zu hämmern, einen Stein abzuschlagen – auf das motorische Gedächtnis stützt. 85

Wie der Sportler benötigt der Handwerker Tausende Stunden und Zehntausende Wiederholungen, um eine gewisse Kompetenz zu erreichen. Und auch für den Handwerker ist es schwierig, auf das entsprechende Wissen bewusst zuzugreifen. Er benutzt bei der Arbeit oft Visualisierungstechniken. (Denken Sie an den Schmied, der sich zusammen mit seinem keltischen Schwert im Feuer befand.) Aber der geneigte Leser wird wahrscheinlich bereits signifikante Unterschiede zwischen Sportler und Handwerker erkannt haben. Seine Tätigkeit in einzelnen Schritten zu organisieren, wie es ein Handwerker tut, wäre für einen Sportler eher ungewöhnlich. Um dies ein wenig besser zu verstehen, sollten wir die Leistung von Experten anderer Bereiche untersuchen. Ein Experte ist jemand, der in einem eng gefassten Tätigkeitsfeld eine hohe Leistungsstufe erreicht hat.16 Die von der Psychologie am meisten untersuchten Experten sind die Mnemoniker. Das sind Menschen, die sich lange Zahlen­ reihen schnell einprägen können, die manchmal Hunderte Ziffern lang sind. Dazu gehören auch Schachmeister, Menschen, die mit verbundenen Augen mehrere Schachpartien auf einmal spielen können und jede einzelne davon gewinnen. Es handelt sich dabei nicht um Autisten mit bemerkenswerter Erinnerung oder Rechenbegabung, die ansonsten Probleme im sozialen Umgang haben. Experten sind ganz normale in einem bestimmten Fachgebiet ausgebildete Menschen. Nehmen wir Schach als Beispiel: Was genau tut eigentlich ein Schachmeister, wenn er mehrere Spiele mit verbundenen Augen spielt? 1. Er verschafft sich sehr schnell einen Überblick über das anstehende Problem – in diesem Fall das Schachbrett. Wie? Teilweise durch eine Art kognitiver Kurzschrift. Standard-Schacheröffnungen haben eigene Namen. Es reicht, dass sich der Experte daran erinnert, dass Spiel Nr. 1 mit der Sizilianischen Verteidigung begann, und er erinnert sich sofort an die Position aller 32 Schachfiguren auf den 64 Feldern. Von da an muss er sich nacheinander an alle einzelnen Züge erinnern. In anderen Worten: Der Experte aktiviert sein Langzeitgedächtnis und ruft dort gespeicherte Muster ab. 2. Er ist in der Lage, schnell zu reagieren und sich sehr schnell für eine alternative Lösung zu entscheiden, wenn nötig. 3. Seine Reaktionen sind fast fehlerfrei und weisen einen sehr hohen Grad an Genauigkeit und Zuverlässigkeit auf. 4. Man könnte ihn von der Aufgabe ablenken, und wenn er später zu ihr zurückkehrt, hätte er keine relevanten Informationen verloren. Irgendwie 86

kann er relevante Informationen ohne Verlust wiederherstellen. Wenn wir uns eine Zahlenreihe wie beispielsweise eine Telefonnummer merken wollen und dabei unterbrochen werden, z. B. weil uns unser Ehepartner eine Frage stellt, hätten die meisten von uns die Telefonnummer anschließend wieder vergessen. Ein Experte in Mnemotechnik würde sie nicht ­vergessen. So ähnlich kann auch unser Schach-Experte seine Aufmerksamkeit auf eine andere Partie lenken und dann ohne Verlust von Informationen wieder zur ersten Partie zurückkehren. 5. Aber die Fähigkeit unseres Schachmeisters ist auf Schach beschränkt. Bei einer Partie Go oder Dame wäre er uns gegenüber nicht im Vorteil. 6. Unser Schachexperte benötigt Jahre, um diese Fähigkeiten zu erlangen. Die entsprechende Fachliteratur nennt zumeist einen Zeitraum von zehn Jahren als Entwicklungsspanne vom Anfänger zum Experten. Diese Zahl gilt für alle Fachgebiete, nicht nur für das Schachspielen. Wie lange hat es gedauert, bis Tiger Woods ein so guter Golfspieler oder Anne-Sophie ­Mutter eine so gute Violinistin wurde? Sicherlich gibt es immer wieder Wunderkinder, aber selbst die benötigen jahrelange Praxis, um ihre Fähigkeiten voll zu entwickeln. Wie schaffen diese Experten das? Welche Form des Denkens verwenden sie dazu? Ist ihr Denken ungewöhnlich und findet es sich nur bei wenigen wirklich talentierten Individuen, oder ist es etwas, das wir alle besitzen? Tatsächlich handelt es sich hierbei um eine Form des Denkens, das wir alle benutzen. Alles, was ein Fachmann weiß, ist im neuronalen Netzwerk des Langzeit­ gedächtnisses gespeichert. Die Psychologie legt sich nicht wirklich fest, was beim Langzeitgedächtnis lang bedeutet, aber im Allgemeinen ist damit jeder Zeitraum gemeint, der länger ist als ein paar Sekunden. Die meisten Informationen, die uns unsere Sinne vermitteln, gehen nach ein paar Sekunden verloren, nur selten gibt es einen Grund, sie zu speichern. Manchmal, vor allem, wenn sensorische und emotional aufgeladene Erfahrungen zur selben Zeit auftreten, werden sie einfacher im Langzeitgedächtnis gespeichert. (Wo waren Sie, als Sie von 9/11 erfuhren?) Aber meistens müssen wir Informationen ein paar Mal wiederholen, damit sie im Langzeitgedächtnis Einzug halten. Experten bauen in ihrem Fachgebiet über Jahre riesige Mengen an Informationen und Verfahrensabläufen auf. Sie verwenden dabei zwei Techniken, die man manchmal Zerstückelung und Verkettung nennt. Bei der Zerstücke87

lung werden große Mengen an Informationen in kleinere, leichter zu ver­ arbeitende Abschnitte aufgeteilt, und bei der Verkettung werden diese Abschnitte miteinander verbunden, indem das letzte Stück einer bestimmten Information dazu verwendet wird, die Erinnerung an die folgende Information zu stimulieren. Angenommen, Sie müssen ein Musikstück auswendig lernen. Wie machen Sie das? Entweder Sie spielen oder singen es Hunderte Male, bis Sie es können, oder Sie teilen es sich in kleinere Abschnitte auf, lernen einen Abschnitt auswendig, dann den nächsten und so weiter, und Sie merken sich das Ende des vorangegangenen Abschnitts als Überleitung. Beim Sport funktioniert es ähnlich. Ein Fechter lernt einen neuen Angriff, indem er sich die einzelnen Elemente einprägt, sie zu einer zusammenhängenden Sequenz bindet und dann kontinuierlich wiederholt, bis er die einzelnen Elemente nicht mehr bewusst ausführen muss. Fechten ist ein viel zu schneller Sport, als dass man daran denken kann, welche Aktion man als Nächstes durchführt – so schnell kann man keine bewussten Entscheidungen fällen, außer auf der höchsten strategischen Ebene. Es ist die hohe ­Anzahl an praktischen Wiederholungen, die für die hohe Zuverlässigkeit des Expertenwissens sorgt. Die Verbindungen einer solchen Kette sind so stark, dass sie so gut wie nie versagen, wenn sie einmal etabliert sind. Während der Experte mehr und mehr Abschnitte zu immer längeren Ketten aneinanderreiht, beginnt er, sie in Routinen und Subroutinen zu organisieren und so eine Hierarchie der ­Informationen aufzubauen. Auch dies erleichtert das Memorieren. Aber ist das Langzeitgedächtnis nicht in der Regel unzuverlässig? Und ist es nicht sehr langsam? Wenn wir gefragt würden, wann genau Theodore Roosevelt Präsident der Vereinigten Staaten war, wie viele von uns wüssten sofort die richtige Antwort? Vielleicht erinnert sich der eine oder andere daran, aber er müsste erst ein paar Sekunden überlegen. Das Expertenwissen indes ist nicht langsam. Seine Informationen sind sofort verfügbar. Wie kann das sein? Experten setzen auf Verknüpfungen. Z. B. belegt der Schachmeister alle Informationen über eine bestimmte Eröffnung (wie die Sizilianische Verteidigung) mit bestimmten Etiketten (der psychologische Begriff ist Cue), und indem er sich an diesen Cue erinnert, kann er auf alle im Langzeitgedächtnis dazu abgespeicherten Informationen zugreifen und muss nicht mühsam danach suchen. Ebenso ist es im Sport: Hier löst eine bestimmte Haltung oder Handlung eines Gegners eine im motorischen Gedächtnis 88

a­ bgespeicherte Reaktion aus, die sofort einsetzbar ist. Dennoch muss der ­Experte diese Erinnerungen jahrelang einüben, um eine geeignete Anzahl von Cues aufzubauen und diese mit den entsprechenden im Langzeitgedächtnis gespeicherten Reaktionen zu vernetzen. Was Expertenwissen ist, macht man am besten anhand von Experten in den Bereichen Kunst, Sport und Handwerk deutlich, auch wenn wir alle täglich diese Art des Denkens benutzen. Ein beliebtes, in den Augen mancher schon überstrapaziertes Beispiel ist die Fahrt zur Arbeitsstelle. Die meisten von uns fahren jeden Tag zur Arbeit und denken wenig darüber nach. Dabei ist es eine motorische Expertenleistung. Sie steuern dabei ein Gerät, das eine Tonne oder mehr wiegt, das 100 km/h fährt und auf den kleinsten Lenk­ fehler reagiert, indem es mit einem Baum oder einem anderen Fahrzeug kollidiert. Die meisten von uns sind so geschickt darin, dass ihre mentalen Cues und Abläufe funktionieren, ohne dass ihnen das überhaupt bewusst ist. Den meisten Lesern wird es schon einmal passiert sein, dass sie bei der Arbeit oder zu Hause angekommen sind und ihnen auf einmal klar wird, dass sie sich gar nicht an die Fahrt erinnern können, und sie fragen sich, wie sie es geschafft haben, überhaupt lebendig angekommen zu sein. Das Expertenwissen funktioniert ohne bewusste Kontrolle, durch visuelle oder akustische Cues, die auf prozedurale und motorische Reaktionen zugreifen. Dass es ­automatisch funktioniert, macht es nicht weniger beeindruckend – das macht es überhaupt erst so erfolgreich. Und das gilt nicht nur fürs Autofahren: ­Kochen, Gartenarbeit, sogar Videospiele nutzen Expertenwissen. Die US Air Force hat festgestellt, dass man einen Teil des bei Videospielen erworbenen Expertenwissens leicht auf das Lenken ferngesteuerter Drohnen übertragen kann. (Sagen Sie das nicht Ihren heranwachsenden Kindern!) Expertenwissen ist nicht auf Experten beschränkt. Es ist in der Art und Weise, wie wir heutzutage denken, allgegenwärtig. Experten haben ihre Fähigkeiten lediglich weiter ausgebaut und ihr Expertenwissen auf die Spitze getrieben. Alles technische Wissen ist Expertenwissen. Die Verfahren und Techniken, die ein Schmied einsetzt, sind im Langzeitgedächtnis gespeichert und durch Zerstückelung und Verkettung erlernt worden. Der Schmied verwendet Cues, um entsprechend den Problemen, die es bei einer bestimmten Aufgabe zu lösen gilt, Reaktionen abzurufen. Es sind diese Cues, die ein schnelles Umschalten zwischen alternativen Verfahren ermöglichen und die für die notwendige Flexibilität sorgen, die für eine effektive Handwerkskunst nötig 89

ist. Vielleicht das deutlichste Anzeichen dafür, dass jegliches technisches Wissen Expertenwissen ist, liegt in der Art und Weise, wie es erlernt wird: durch Ausbildung. Genau wie es Jahre der Übung braucht, um Schachmeister oder Geigenvirtuosin zu werden, benötigt man viele Jahre, um Schmied, Schreiner oder professioneller Steinabschläger zu werden.

Technisches Wissen bei den Neandertalern Wir haben uns aus zwei Gründen so lange beim technischen Wissen auf­ gehalten: Erstens ist es ein ebenso kaum erforschter wie unterschätzter ­Bestandteil unseres Geistes, den wir besser verstehen lernen müssen; und zweitens ist es die eine Komponente der Kognition der Neandertaler, die wir am deutlichsten nachvollziehen können. Archäologen verfügen buchstäblich über mehrere Millionen Steinwerkzeuge der Neandertaler. Wir wissen, wie die Neandertaler sie hergestellt haben, wofür sie sie verwendeten und wo sie die Rohstoffe für sie fanden. In einigen Fällen können wir sogar nachvollziehen, wie ein Neandertaler begann, einen Steinkern abzuschlagen, und wann er seine Arbeit daran abbrach. Wir haben genügend Informationen, um die technischen Leistungen der Neandertaler mit ­denen moderner Handwerker zu vergleichen und zu fragen, ob sie ihr Wissen in der gleichen Art und Weise organisierten, umsetzten und erlernten. Und wir werden feststellen, dass die Ähnlichkeiten gegenüber den Unterschieden überwiegen.

Marjories Kern Hin und wieder haben Archäologen das Privileg, einen Ort zu ergraben, wo die Artefakte und ihre räumliche Verteilung in den dazwischenliegenden Jahren nur wenig durch natürliche Prozesse gestört worden sind. Bei Stätten, die mehrere Zehntausend oder gar Hunderttausend Jahre alt sind, ist das äußerst ungewöhnlich; mechanische, chemische und biologische Prozesse haben einfach viel zu viel Gelegenheit gehabt, solche Überbleibsel zu verändern und zu bewegen. Aber manchmal sind Archäologen doch erfolgreich, wie zum Beispiel in Schöningen und auch in Maastricht-Belvédère in den Niederlanden. Hier forschten Wil Roebroeks und andere Vertreter der Universität von Leiden.17 Ihre Funde waren nicht ganz so spektakulär wie 90

die Speere von Schöningen, aber immerhin gruben sie die Überreste mehrfachen Steinabschlagens aus. Da es eine offene Stätte war und keine Höhle, waren die Funde eher im Raum verteilt, als dass sie in Schichten übereinanderlagen, und weil die Artefakte nur sehr wenig durch natürliche Prozesse bewegt worden waren, konnten die Archäologen bei einigen der Kerne ein Refitting vornehmen. Refitting nennt man in der Archäologie einen Vorgang, bei dem man die einzelnen Teile z. B. eines Steinabschlags wieder ­zusammensetzt, wie ein dreidimensionales Puzzle: Der Archäologe nimmt alle Steinsplitter, die von einem einzelnen Kern abgeschlagen wurden (man identifiziert sie weitgehend anhand von Farbe und Textur des Steins, in diesem Fall Feuerstein), und setzt sie wieder an den ursprünglichen Kern. Nur sehr selten kann man so einem Steinkern mehr als zehn Splitter zuordnen, was meist nur den Teil eines Kerns ergibt, aber in Maastricht-Belvédère waren Archäologen (u. a. Marjorie) in der Lage, einem klassischen LevalloisKern mittels Refitting 38 Steinsplitter zuzuordnen. Der wiederhergestellte Kern war fast komplett, und so vermochte der Archäologe Nathan Schlanger eine lange Reihe von Handlungen zu beschreiben und in diversen Schritten den Entscheidungsprozess des Neandertalers zu analysieren, der den Stein abschlug.18 Der Abschläger bereitete zunächst den Kern vor, indem er an den Seiten, oben und unten Splitter abschlug, um die klassische Schildkrötenform zu erhalten (Abb.  3-4). Er nahm diese vorbereitenden Maßnahmen allerdings anderswo vor; keinen dieser ersten Steinsplitter hat man in Maastricht-Belvédère gefunden. In der ersten von Schlanger dokumentierten Phase suchte der Abschläger zunächst die Oberseite des Kerns nach einer möglichen distalen Ausbuchtung ab. Das ist der Ansatzpunkt an der gekrümmten Ober­fläche des Kerns, der am Ende die Unterseite des Levallois-Splitters bildet. Dann bereitet der Abschläger auf der gegenüberliegenden Seite des Kerns eine Schlagfläche vor. Hier setzt der Abschläger an, um den Levallois-Splitter zu entfernen. Es ist wichtig, dass der Winkel zwischen der Fläche und der Oberseite des Kerns möglichst spitz ist, ansonsten kann der Schlag das obere Stück des Kerns nicht richtig lösen. Schlanger stellte fest, dass der Abschläger in dieser ersten Phase nur einen einzelnen, großen Levallois-Splitter abhob, der einen Großteil des oberen Stücks des Kerns ausmachte. Dann drehte er den Kern seitlich um 90 Grad und suchte die gerade abgeplatzte Oberfläche nach einer neuen benutzbaren distalen Ausbuchtung ab (Abb. 3-5). Der Kern war 91

(a)

Oberfläche

Schlagfläche dorsale Seite

(b)

Endstück

(c) seitliche Ausbuchtungen

distale Ausbuchtungen

Abb. 3-4: Eine detailliertere Darstellung eines Levallois-Kerns. Sie zeigt die ­wichtigsten Merkmale (und visuellen Signale), die die Größe und Form des ­endgültigen S­ teinsplitters bestimmen (nach Chazan10). Die distalen Ausbuchtungen waren besonders wichtig für die Herstellung von Marjories Kern.

92

Abb. 3-5: Marjories Kern, verschiedene Ansichten und eine Zeichnung (nach Roebroeks17). 93

nun gedreht, die neue distale Ausbuchtung war also vorher eine seitliche Ausbuchtung gewesen. Dann entfernte er quer zur Oberseite des Kerns drei kleinere Steinsplitter, wodurch neue seitliche Ausbuchtungen entstanden, so dass im Endeffekt wieder die klassische Schildkrötenform entstand. Als Nächstes bereitete er eine neue Schlagfläche vor, gefolgt von einem heftigen Schlag, mit dem er einen weiteren Levallois-Splitter abschlug. Diesmal jedoch war der Abschläger nicht so erfolgreich, und den größeren Teil der Oberseite des Kerns konnte er nicht loslösen. Er schlug einen zweiten Steinsplitter von der gleichen Fläche ab, dann drehte er den Kern wieder um 90 Grad und begann von Neuem. Schlanger gelang es, sieben solcher Phasen zu dokumentieren. Natürlich wurde der Kern mit jeder Phase kleiner und kleiner, aber Schlanger fiel etwas sehr Interessantes dabei auf: Die LevalloisSplitter selbst wurden nicht kleiner. Der Abschläger konnte seine Technik so ­anpassen, dass die Splittergröße gleich blieb. Marjories Kern enthüllt eine Reihe wichtiger Einzelheiten darüber, wie der Abschläger dachte.19 Erstens: Der gesamte Ablauf war in einzelne Phasen oder Schritte unterteilt. Zweitens: Jede Phase wurde durch einen deutlich wahrnehmbaren Cue eingeleitet – die distale Ausbuchtung, an der sich die Handlungen jeder Phase orientierten. Drittens: Der Abschläger reagierte auf die sich verändernden Bedingungen des Kerns und passte seine Technik an, um die Größe der Levallois-Splitter zu maximieren und den Kern produktiv zu halten. Viertens: Es gab beim ganzen Prozess eine übergeordnete Hierarchie, mit ­einem Endziel (Levallois-Splitter), Subroutinen (einzelne Phasen) und SubSubroutinen (Verortung der distalen bzw. seitlichen Ausbuchtung, Vorbereitung der Fläche, Abschlagen des Levallois-Splitters). Dies machte man nicht nebenbei, und es war auch keine rein mechanische Handlung. Es war eine flexible Strategie zur Kernverkleinerung, ganz ähnlich Kellers geistigem Entwurf. Der Abschläger folgte dabei mindestens einer Regel: den Kern um 90 Grad zu drehen, bevor man nach einer neuen distalen Ausbuchtung sucht. Marjories Kern ist ein klares Beispiel für Expertenwissen. Der Abschläger reagierte auf sich ändernde Bedingungen durch subtile Anpassung seiner Herangehensweise, und das tat er, indem er auf wahrnehmbare Cues achtete, die entsprechende im Langzeitgedächtnis gespeicherte Reaktionen abriefen. Was Marjories Kern uns zeigt, ist, dass das technische Denken der Neandertaler in seiner Grundstruktur und seiner Organisation nicht anders war als das moderne technische Denken. 94

Schäftung Archäologen sind nicht in der Lage, den Prozess der Schäftung in der gleichen Ausführlichkeit zu beschreiben wie den des Steinabschlagens, denn die meisten der dazu verwendeten Komponenten haben nicht überlebt. Unsere Erkenntnisse hierzu verdanken wir vor allem dem Versuch, den Prozess nachzustellen. Lyn Wadley hat dies für südafrikanische Speere des Middle Stone Age getan.20 Die Speermacher erhitzten das in Akazien enthaltene Gummi arabicum, mischten Ockerpulver (mineralische Pigmente, über die wir in einem späteren Kapitel noch ausführlicher reden werden) und vielleicht etwas Bienenwabe dazu und verwendeten diese Masse als Kleber, um steinerne Widerhaken an Schäften anzubringen. Ganz offensichtlich wussten sie, dass Feuer den Zustand von Stoffen verändert. Und der Prozess dauerte mehrere Tage, mit vielen einzelnen Schritten – ein deutliches Beispiel für ­Expertenwissen. Doch diese MSA-Speermacher waren keine Neandertaler. Es waren moderne Menschen. Neandertalerartefakte weisen Spuren von Pech auf, das aus Birkenrinden gewonnen wurde, und diesen Werkstoff ­findet man nicht in der Natur, man muss ihn künstlich herstellen (anders als z. B. Bitumen). Wir ­wissen also, dass die Neandertaler sich in geringem Umfang als Chemiker betätigten, wenn sie ihren Klebstoff herstellten. Leider hat noch niemand für ­diese Neandertaler-Klebstoffe eine experimentelle Untersuchung durchgeführt, die vergleichbar mit Wadleys wäre. Oberflächlich betrachtet, scheint beides miteinander vergleichbar, zumindest braucht man bei beiden Verfahren Feuer. Auch wenn die Schäftung bei den Neandertalern nicht so komplex war wie die im MSA, war die Kombination eines Steinwerkzeugs mit einem Holzschaft dennoch eine technologische Errungenschaft. Aber wie sind die Neandertaler überhaupt auf diese Idee gekommen?12, 21

Innovationen Woher kommen neue Ideen? Macht Not wirklich erfinderisch, oder ist das nur ein Sprichwort unserer hochtechnisierten Zeit? Hat eine Art Thomas Edison der Neandertaler mit 1 % Inspiration und 99 % Transpiration den Speerschaft erfunden? Und spielt das überhaupt eine Rolle? Sie als Leser könnten jetzt argumentieren, dass wir niemals wissen ­können, wie das Ganze vor sich gegangen ist, und dass es daher sinnlos ist, darüber zu 95

spekulieren. Und Sie hätten auch durchaus recht – zumindest zur Hälfte. Wir werden niemals wirklich wissen können, was genau geschah, aber wir können aus dem, was wir über moderne Innovationen und über die Technologie der Neandertaler wissen, doch immerhin ein wahrscheinliches Szenario ableiten. Wir sind der Meinung, dass Erfindungsreichtum eine Rolle dabei spielt und dass der Erfindungsreichtum der Neandertaler uns einen wichtigen Hinweis auf ihr Denken liefert. Aber wir müssen hier vorsichtig sein, damit wir keinem Zirkelschluss erliegen; wenn wir argumentieren, dass die Neandertaler bestehende technische Systeme zu neuen Lösungen kombinierten, weil dies für Expertensysteme typisch ist, dann können wir diese Form der Innovation nicht zugleich als Beweis für Expertenkognition an­sehen! Unseren Beweis für Expertenwissen müssen wir woanders suchen. Wir folgen einer eher konservativen Definition des Begriffs Innovation, wie wir sie im Duden finden: eine geplante und kontrollierte Neuerung durch Anwendung neuer Ideen und Techniken. Es gibt in einigen Bereichen der Wissenschaft (zumeist unter Wirtschaftswissenschaftlern) eine fast bizarr strittige Debatte über die Definitionen von Innovation und Erfindung; diese wollen wir vermeiden. Wir wollen den Begriff Innovation für Neuerungen verwenden, die sich jemand in gewissem Sinne „ausgedacht“ hat. Dies ist eine engere Definition, die Implikationen hinsichtlich Aufmerksamkeit und Design miteinschließt, die bei einem breiter gefassten Konzept der Innova­tion nicht inbegriffen sind. Viele technische Innovationen entstehen beim täglichen Gebrauch von Werkzeugen. Mag sein, dass ein Steinabschläger einen Kern in der falschen Richtung abschlägt und durch einen glücklichen Zufall ein unerwartetes, aber brauchbares Ergebnis erzielt. Falls er bemerkt, dass dieses Ergebnis brauchbar ist (falls!), falls er den Fehler wiederholen kann (wiederum: falls!) und falls er die neue Technik seinem technischen Repertoire hinzufügt und andere sie kopieren (und wieder: falls!), dann hat eine Innovation stattgefunden. Wir sind der Meinung, dass viele, vielleicht die meisten Innovationen im Steinabschlagen im Laufe der über 2,6 Millionen Jahre dauernden Steinzeit genau so entstanden sind. Eine zweite Form der Innovation erfolgt durch das Herumprobieren mit bereits erlernten Techniken. Wenn unser Steinabschläger einen Tag lang ausprobiert, den Kern anders zu halten oder ein anderes Material als Hammer zu verwenden und ein interessantes Ergebnis auftritt, kann auch das zu einer Innovation führen – mit den gleichen Vorbehalten 96

wie oben genannt. Weder ein solcher glücklicher Zufall noch das Herum­ probieren gilt als Erfindung, und weder das eine noch das andere kann eine Technologie auf dramatische Weise verändern. Aus archäologischer Sicht beobachten wir Modifikationen bestehender Technologien, aber nichts völlig Neues. Allerdings kann das Tempo der Veränderungen, die per Zufall bzw. durch Herumprobieren entstehen, signifikant unterschiedlich sein, denn das eine ist ein passiver, das andere ein aktiver Vorgang. Beide sprechen bestimmte Komponenten des Expertenwissens an, aber das Herumprobieren verlangt unter Umständen im Schema des prozeduralen Gedächtnisses eine größere Toleranz gegenüber Alternativen. Wer nur starre Verfahren verwendet, egal, wie gut er oder sie diese erlernt hat, wird wohl kaum viel herumprobieren. Die Erfindung unterscheidet sich von der Innovation dadurch, dass man sich dabei etwas „ausdenken“ muss. Einfach gesagt: Ein Erfinder muss zuerst an etwas denken, und dazu ist weder ein glücklicher Zufall noch ein Herumprobieren erforderlich. Es gibt viele Möglichkeiten, wie man etwas erfinden kann. Eine ganz einfache Möglichkeit besteht darin, zwei bisher voneinander getrennte Techniken zu kombinieren, um ein Problem auf neuartige Weise zu lösen. Eine etwas anspruchsvollere Möglichkeit ist, allgemeine Grundsätze hinsichtlich Kraft, Widerstand usw. (also bestimmte physikalische Eigenschaften) zu erstellen und diese dann zu benutzen, um ein neues Werkzeug zu konstruieren. Könnte die Schäftung durch einen glücklichen Zufall oder durch Herumprobieren entstanden sein? Die Idee, eine Speerspitze an einem Schaft zu befestigen, könnte durch Herumprobieren entstanden sein, falls man bereits früher irgendetwas anderes geschäftet hätte, aber das wälzt unsere Fragestellung lediglich auf einen anderen Bereich ab. Die Schäftung ist eine Erfindung; irgendein Neandertaler hat sie sich ausgedacht. In Ermangelung konkreter Belege vermuten wir, dass die Neandertaler bereits vorher eine Klebetechnik besaßen, dass sie also natürliches Bitumen oder Birkenpech verwendet haben, um verschiedene Dinge aneinanderzukleben. Vielleicht hatten sie auch eine Anbindetechnik, mag sein, dass sie Holzbündel oder Stücke von Kadavern zusammenschnürten. Schließlich wendete irgendein Neandertaler eine dieser Technologien an, um seinen Stoßspeer zu verbessern. Für eine solche Erfindung muss man in der Lage sein, sich alle relevanten Informationen zu merken und zu manipulieren. In der Kognitionswissenschaft bezeichnet man dies als Arbeitsgedächtnis. Alle Säugetiere haben ein Arbeits­gedächtnis, aber die 97

Menge an Informationen, die dieses verarbeiten kann, ist sehr unterschiedlich. Eine Erfindung erfordert ein Arbeitsgedächtnis mit höherer ­Kapazität als das bloße Herumprobieren, denn dabei müssen separate technische Verfahren koordiniert werden, und das geschieht allein durch das Arbeitsgedächtnis. Daher weist das aktive Erfinden einer Technik wie der Schäftung auf ein Arbeitsgedächtnis mit größerer Kapazität hin als das von früheren Hominiden wie dem Homo heidelbergensis. Bevor wir unseren Neandertaler mit Wernher von Braun vergleichen, müssen wir den Leser an eine Tatsache erinnern: Die Neandertaler haben sich so gut wie nie etwas Neues einfallen lassen. Genauso wichtig wie zu verstehen, auf welche Weise die Neandertaler etwas erfanden, ist die Einsicht, dass sie dies fast nie taten. Und dieses weitgehende Fehlen von Innovationen ist der vielleicht wichtigste Unterschied zwischen dem technischen Denken der Neandertaler und dem unseren.

Lernen und Sprache Die Neandertaler lernten höchstwahrscheinlich den Umgang mit Werk­ zeugen und ihre Herstellung, wie wir es tun: indem sie jemanden beobachteten, dessen Handlungen kopierten und es noch einmal versuchten, wenn es schiefging. Sicherlich gingen die Neandertaler nicht nach formellen Maß­ stäben bei jemandem in die Lehre, dazu waren ihre sozialen Gruppen zu klein und zu wenig spezialisiert. Außerdem wussten alle Neandertaler, wie man Steine abschlägt. Einige stellten sich dabei sicher geschickter an als ­andere, aber wie wir im nächsten Kapitel sehen werden, ist es unwahrscheinlich, dass die Kinder der Neandertaler von mehr als einer Handvoll aktiver Erwachsener lernen konnten, und einen guten Ausbilder bekam man sonst nirgendwo her. Ein Neandertalerkind lernte mit ziemlicher Sicherheit, indem es einem nahen Verwandten zusah. Der kognitive Kontext des technischen Lernens wird fast vollständig durch den Körper bestimmt, das heißt, Hände, Muskeln und periphere Nerven sind wichtige Komponenten dabei. Das gilt für uns ebenso, wie es für die Neandertaler galt. Durch ständige Wiederholung von Einzelhandlungen baute ein Neandertaler immer längere prozedurale Ketten auf und erweiterte (was ebenso wichtig ist) seine Wahrnehmung, um einen immer größeren Teil der 98

Aufgabe in Zeit und Raum zu erfassen. Diese Erweiterung umfasste Sehen (das Erkennen und die Verarbeitung relevanter sichtbarer Informationen), Hören (die Beurteilung eines Kerns anhand des Klangs, der entsteht, wenn man auf ihn schlägt), Fühlen (die Textur von Rohstoffen) und motorisches Empfinden (das Wissen, wie sich eine bestimmte Muskelgruppe anfühlt, wenn man einen Schlag in der richtigen Stärke anbringt). Diese Informationen werden kaum verbalisiert. Die Neandertaler hätten sicherlich genauso große Probleme gehabt, ihre einzelnen Handlungen mit Worten zu beschreiben, wie moderne Handwerker. Neandertaler-Lehrlinge mussten sich keine stundenlangen, langweiligen Vorträge über die Theorie der Levallois-Technik anhören. Für sie galt: learning by doing. Aber für die schwierigsten Verfahren reichte das passive Beobachten wahrscheinlich nicht aus; es kann durchaus sein, dass es auch eine aktive Komponente der Lehre gab. Z. B. mag die Bedeutung der distalen Ausbuchtung als Ansatzpunkt bei der Levallois-Technik für den flüchtigen Betrachter nicht offensichtlich genug gewesen sein. Jemand musste die Aufmerksamkeit des Betrachters eigens auf diese Besonderheit lenken. Diese Art geteilter Aufmerksamkeit bedarf keiner Sprache. Auf die Gefahr hin, den Leser zu langweilen, wollen wir noch einmal das Beispiel des Fechtsports bemühen, um das Potenzial nonverbaler Instruktionen zu illustrieren. Fechtmeister verwenden gelegentlich eine Technik für fortgeschrittene Schüler, die man leçon muet nennt. Der Fechtmeister erklärt dabei überhaupt nichts. Stattdessen präsentiert er in Fechtposition seine Klinge in einer bestimmten Art und Weise (üblicherweise in einer Abfolge von Bewegungen), um den Schüler zu einer Reaktion zu bewegen. Wenn der Schüler korrekt reagiert hat, bestätigt der Fechtmeister ihm das mit einem Nicken, wenn nicht, beginnt er von Neuem – oder er schlägt (wenn er besonders verärgert ist) dem Schüler mit seiner Klinge an die Seite der Maske. Der Schüler muss sich auf alle Feinheiten der Aktionen des Meisters konzentrieren, um die neue Reaktion zu erlernen. Manchmal vergeht dabei eine ganze Stunde, ohne dass ein Wort gesprochen wird. Durch Umgehung des Verbalen (auch des verbalen Denkens) setzt die leçon muet genau da an, wo es wichtig ist: beim motorischen Gedächtnis und der situativen Reaktion. Natürlich ist Steinabschlagen nicht das Gleiche wie Fechten, aber es ist ebenfalls eine komplexe motorische Aufgabe mit subtilen Veränderungen und situativen Signalen. Man muss einen Neuling auf bestimmte Signale hinweisen, aber das funktioniert auf ganz unterschiedliche 99

Weise: durch Zeigen, Wiederholung, durch positive und negative Laute. ­Sicherlich können ein paar Worte hier und da den Austausch erleichtern, aber die wirklich wichtigen Informationen werden so nicht vermittelt. Geteilte Aufmerksamkeit beruht auf einer Fähigkeit, die die Kognitionswissenschaft als Theory of Mind bezeichnet – die Fähigkeit, sich vorzustellen, was ein anderes Individuum sieht und weiß. Eine minimale Form der Theory of Mind ist die Fähigkeit, dem Blick eines anderen zu folgen, um zu sehen, was er oder sie gerade ansieht. Eine erweiterte Form der Theory of Mind ist die Fähigkeit, mehrere Ebenen von Intentionalität zu begreifen: Ich weiß, dass Fred weiß, dass ich weiß, dass er sich zurzeit in Spanien amüsiert, während ich diesen Absatz hier schreibe. Einer der interessantesten Trends in der Kognitionsevolution bei Primaten ist der Trend hin zur Theory of Mind. Schimpansen z. B. können lernen, sich selbst in einem Spiegel zu erkennen (das Konzept des Selbst ist auf einer niedrigen Ebene der Intentionalität angesiedelt), aber Gorillas anscheinend nicht. Menschen können in der Regel vier oder fünf Intentionalitätsebenen, wie sie das obige Beispiel mit Fred in Spanien beinhaltet, handhaben. Geteilte Aufmerksamkeit hat ebenfalls mit der Theory of Mind und verschiedenen Intentionalitätsebenen zu tun. Der Lehrmeister bedient sich der Theory of Mind genauso wie der Lehrling. Beim Lernen durch Beobachtung hat ein Lehrling, der sich vorstellen kann, was der Meister sieht und weiß, einen Vorteil gegenüber einem Lehrling, der das nicht kann. Bei der geteilten Aufmerksamkeit muss der Meister in der Lage sein, sich vorzustellen, was der Lehrling sieht und versteht, um ihn richtig anzuleiten. Die besten Meister werden außerdem in der Lage sein, sich vorzustellen, welche Vorstellungen sich der Lehrling darüber macht, was der Meister wiederum weiß – eine weitere Ebene der Intentionalität. Für eine moderne Ausbildung trifft all das sicherlich zu, aber was ist mit den Neandertalern? Es ist durchaus möglich, dass die Vermittlung von Fertigkeiten bei den Neandertalern ohne diese letzte Intentionalitätsebene effektiv funk­ tionierte; möglicherweise hat sich bei den Neandertalern der Meister also nicht vorgestellt, was der Lehrling über sein Wissen wusste. Aber es hätte sicherlich das Erlernen komplexer Techniken wie der Levallois-Technik erleichtert. Zusammenfassend können wir feststellen, dass Technologie für die Neandertaler lebenswichtig war. Ihr Erfolg und ihr Wohlbefinden hingen von ihrer Fähigkeit ab, Werkzeuge anzufertigen und zu verwenden. Es wird kaum 100

überraschen, dass sie darin sehr gut waren. Am deutlichsten wird dies beim Steinabschlagen, bei dem sie eine der schwierigsten Techniken meisterten und perfektionierten: die Levallois-Technik. Aber sie waren nicht darauf festgelegt, alles nur auf eine bestimmte Art und Weise zu tun. Sie variierten ihre Abschlagstechnik je nach der Beschaffenheit und Verfügbarkeit von Rohstoffen und maximierten immer wieder die Nutzbarkeit ihrer Werkzeuge, indem sie sie zu diversen Gerätetypen umarbeiteten. In diesem Kapitel haben wir das Steinabschlagen untersucht, weil es der­ jenige technische Bereich ist, über den die Paläoanthropologie das meiste weiß. Wir sind der Meinung, dass es nur folgerichtig wäre, anzunehmen, dass die Neandertaler bei anderen Technologien ähnliche Prozesse angewendet ­haben. Wir haben außerdem mehrere Arten des Denkens vorgestellt, die bei der Verwendung von Werkzeugen zum Einsatz kommen: körperbezogene Kognition, Expertenwissen (motorisches und prozedurales Gedächtnis, Zerstückelung und Verkettung usw.), Ausbildung, geteilte Aufmerksamkeit (und Theory of Mind) und Arbeitsgedächtnis. Heutzutage verwenden wir diese Arten des Denkens immer noch, und zwar mehr, als es die meisten Menschen ahnen. Sie sind die Grundlage vieler unserer wertvollsten Errungenschaften in Sport, Handwerk, Kunst und Musik. Und nicht weniger wichtig: Wir alle nutzen sie Tag für Tag, wenn wir zur Arbeit fahren, kochen, den Rasen mähen oder ein Videospiel spielen. Und während wir diese Dinge tun, denken wir wie ein Neandertaler. Der einzige echte Unterschied zwischen dem Umgang der Neandertaler mit Technologie und dem unseren liegt im Bereich der Innovation. Die Technologie des modernen Menschen ist gekennzeichnet von einem schnellen, kumulativen technologischen Wandel – ein Phänomen, das mit dem Vorgang der Innovation zusammenhängt. Neandertaler haben so gut wie nichts erfunden. Es gibt nur ein nachgewiesenes Beispiel für eine Erfindung der Neandertaler: die Schäftung (wir vermuten, dass es noch weitere Beispiele gibt, sie sind nur noch nicht entdeckt worden). Die Neandertaler waren durchaus in der Lage, neue technische Verfahren zu erfinden, und gelegentlich taten sie das auch, wenngleich selten. Sie haben eine Menge Feintuning an etablierten Techniken vorgenommen und sie geringfügig verändert, aber das aktive ­Erfinden neuer Techniken war ihre Sache nicht. Zehntausende Jahre lang waren sie mit ihrer Technologie im Großen und Ganzen zufrieden. Warum? Vielleicht hatte die etwas geringere Kapazität ihres Arbeitsgedächtnisses 101

e­ twas damit zu tun, aber der einzige Faktor wird dies unserer Meinung nach kaum gewesen sein. Kumulativer technologischer Wandel erfordert auch gesellschaftlichen Transfer von Kenntnissen und Expertenwissen. Neue Informationen müssen verbreitet werden, wenn sie sich etablieren sollen, und dies erfordert ein ­wirksames soziales Netzwerk. Doch die sozialen Netzwerke der Neandertaler ­sahen ganz anders aus als unsere und die unserer jüngsten Vorfahren. Das Sozialverhalten und die gesellschaftliche Organisation der Neandertaler – das sind die Themen von Kapitel 4.

102

4 Familien im Brennpunkt Der Alte Mann von La Chapelle-aux-Saints, ein Neandertaler, den wir bereits in Kapitel 1 kennengelernt haben, war eigentlich gar nicht so alt. Aktuelle Schätzungen legen sein Alter zum Zeitpunkt des Todes auf etwas über 30, gerade einmal alt genug, um fertig studiert zu haben. Die Anthropologen vor hundert Jahren haben seinen körperlichen Zustand – Zahnverlust, Arthritis usw. – als Ausdruck fortgeschrittenen Alters fehlinterpretiert. Aber wie wir in Kapitel 1 gesehen haben, rührten die meisten Verschleißerscheinungen am Skelett von Neandertalern von den Strapazen her, denen sie im Laufe ihres Lebens ausgesetzt waren. Es war weniger eine Frage des Alters als vielmehr eine Frage der Laufleistung, wie ein Autobesitzer sagen würde. Der Alte Mann von La Chapelle hat kein einfaches Leben gehabt. Zunächst konnte er seine Nahrung nicht kauen. Die Ernährung der Neandertaler in Westeuropa zu Lebzeiten des Alten Manns von La Chapelle bestand fast ausschließlich aus tierischen Produkten, und die meisten erfordern zumindest ein wenig Kauen. Der Verschleiß und die Kratzer an den Schneidezähnen von Neandertalern legen nahe, dass sie üblicherweise große Stücke Fleisch mit den Vorderzähnen hielten, während sie mit einem steinernen Messer kleinere Stücke davon abschnitten. Das hätte der Alte Mann von La Chapelle vielleicht noch hinbekommen, aber die Fleischbrocken hätte er nicht kauen können. Vielleicht hackte er das Fleisch in noch kleinere Stücke, aber diese hätten schon sehr klein sein müssen. Vielleicht hat jemand anderes das Kauen für ihn übernommen, wie es der moderne Mensch oft macht, wenn er dieses Problem hat. Auch bei der Jagd wäre er keine große Hilfe gewesen. Er war sicherlich nicht sehr schnell und auch nicht mehr so kräftig, dass er dabei viel hätte ausrichten können. Und doch überlebte er mit diesen Handicaps noch mehrere Jahre. Er benötigte 103

­ ilfe, und irgendjemand gab sie ihm. Und als er starb, wendete jemand Zeit H und Mühe auf, um eine flache Vertiefung in den Höhlenboden zu graben, ihn dort hineinzulegen und seine Leiche abzudecken.1–4 Das Leben der Neandertaler war ein Leben in Gemeinschaft. Wie die ­modernen Menschen und alle anderen Primaten verbrachten die Neander­ taler ihr Leben in sozialen Gruppen. Und ebenfalls wie bei modernen Menschen und allen anderen Primaten entwickelte sich ein großer Teil ihrer Denkweise, um den Herausforderungen des sozialen Lebens zu begegnen. Aus Knochen und Abfällen das soziale Leben der Neandertaler zu rekonstruieren ist ein wenig schwieriger, als ihre Ernährung oder Technologie zu untersuchen, aber es ist nicht unmöglich. Die Neandertaler hinterließen viele Hinweise und Rätsel, die es uns ermöglichen, ihr Gemeinschaftsleben und ihre Kognition mit unserer zu vergleichen.

Familien Neandertaler verbrachten ihr tägliches Leben in sehr kleinen face-to-faceGruppen – so nennt die Soziologie Gruppen von Einzelpersonen, die in mehr oder weniger direktem Kontakt miteinander stehen, wenn nicht in körper­ lichem Kontakt, dann doch in Sicht- und Hörweite. Feldstudien über nichtmenschliche Primaten haben zahlreiche Lösungen für das Problem, wie viele einzelne Primaten sich auf einmal versammeln können, zutage gefördert, und es sind sowohl ökologische als auch auf die Fortpflanzung bezogene F ­ aktoren, 5 die die Größe einer face-to-face-Gruppe bestimmen. Orang-Utan-Männchen verbringen die meiste Zeit allein, während Savannenpaviane oft in großen Gruppen von mehr als einhundert Tieren aller Altersgruppen und Geschlechter zusammenleben und zusammen weite Strecken zurücklegen. Die modernen Menschen der Prähistorie zeigen nicht ganz so unterschiedliche Gruppengrößen. Eine Gruppe Jäger und Sammler bestand in der Regel aus einer Reihe von Familien, die wiederum aus einem Mann, einer Frau, ihren Nachkommen und oft ihren Eltern oder Geschwistern bestanden. Die Familien waren in der Regel miteinander verwandt oder verschwägert (oder durch ein fiktives Verwandtschaftsverhältnis verbunden, wie wenn Kinder in der west­lichen Kultur enge Freunde der Familie als Tante oder Onkel bezeichnen) und besaßen in der Regel auch soziale Bindungen zu Personen in anderen face-to-face-­ 104

Gruppen. Die Gesamtzahl der Individuen, die zu einer face-to-face-Gruppe gehörten, variierte von etwa 30 bis 200. Oft taten sich bei den Jägern und Sammlern einzelne face-to-face-Gruppen einen Teil des Jahres mit verwandten Gruppen zusammen, was weitgehend ökologische Gründe hatte.6 Wir betonen die Gruppengrößen hier vor allem, weil sie ein sozialer Faktor sind, den wir archäologisch belegen können. Und wie war das bei den Neandertalern? Die Grotte du Lazaret in der Nähe von Nizza an der französischen Riviera war während eines kühleren Zeitabschnitts zum Beginn der vorletzten Kaltzeit von Neandertalern bewohnt. Diese Höhle ist etwa 100 m über dem Meeresspiegel gelegen und 500 m von der Mittelmeerküste entfernt. Es ist eine lange, enge Höhle, die in den Berg hineinragt, mit einer Fläche von etwas mehr als 300 m². Die Neandertaler bewohnten jedoch nur eine etwa 35 m² große Fläche in der Nähe der Höhlenmündung. Eine Gruppe von Archäologen unter der Leitung von Henry de Lumley ergrub diesen Wohnbereich und verzeichnete die präzise Lage eines jedes Knochens, Steinsplitters und Holzkohlebrockens; zusammengenommen ergaben diese Hinterlassenschaften ein Muster, das die Aktivitäten der Neandertaler in der Höhle ziemlich gut widerspiegelt.7 Wie in Abbildung 4-1 sichtbar wird, verwendeten die Neandertaler viel Zeit und Mühe darauf, die Felsen am Höhlenboden umzuarrangieren. Sie beförderten große Steine ​​aus dem Wohnbereich hinaus und stapelten sie am Höhlenrand auf. De Lumley hat die These aufgestellt, dass diese Steine ​​eine Art Wand oder Windschutz gebildet haben, aber hier sind viele Archäologen skeptisch, denn es gibt dort keine Pfostenlöcher, also Stellen, an denen sich die Erde verfärbt hätte – dort, wo Holzpfosten verrottet sind. Klar ist, dass die Neandertaler einiges taten, um ihren Lebensraum zu verbessern, selbst wenn sie nur lästige Steine entfernten. Sie errichteten außerdem zwei Feuerstellen an einer Höhlenwand (mehr dazu später). Abfälle vom Steinabschlagen sind überall verstreut, ebenso aufgebrochene Tierknochen, aber die wirklich interessanten Funde hier sind die Überreste kleiner mariner Weichtiere. Sie waren zu klein, als dass sie als Nahrung gedient hätten – was aber taten sie dann in einer Höhle 100 m über dem Meer? De Lumley meint, sie können an Meeresalgen gehaftet haben, die die Neandertaler für ihre Schlafplätze verwendeten, und das klingt durchaus vernünftig. Er weist in diesem Zusammenhang auf die ebenfalls dort gefundenen Knochen von Füchsen und Wölfen hin, deren Felle die Neandertaler ebenfalls benutzt haben könnten, um ihre Schlafstätten gemütlicher zu machen. Die deutlichste Implikation der Überreste in Lazaret 105

östliche Feuerstelle

westliche Feuerstelle fa Ab

ere

N

rB ere

ng

i nn

D ur chga

ich

ll

Abfall

vorderer Bereich

WSW 0

östlicher Ausgang

Abfall

sc westlicher in d Ausgang W

hu

an tzw

1m

d

Abb. 4-1: Der Fußboden in der Lazaret-Höhle (nach de Lumley 7).

ist, dass die hier lebende Neandertaler-face-to-face-Gruppe sehr klein war, wahrscheinlich etwa fünf bis zehn Personen. Dabei ist Lazaret im Vergleich eine eher große Neandertaler-Behausung. Der bewohnte Bereich an der Fundstätte Abric Romani in Spanien, die wir in Kapitel 5 besprechen werden, erstreckt sich über 150 km2, aber viele gut dokumentierte Neandertalerhöhlen im eiszeitlichen Westeuropa waren kleiner als die 35 m² von Lazaret. Dies waren also nur kleine Höhlen. Es ist schon möglich, wie wir meinen, dass die bislang entdeckten Neandertalerstätten eine eher untypische Stichprobe darstellen, weil Höhlen an sich eher zweitrangig waren. Aber die Funde im offenen Gelände sprechen eine ähnliche Sprache. Höhlen haben Wände, die die Menge der Abfälle, die eine Besiedlung mit sich bringt, auf natürliche Weise einschränken. Oft finden sich archäologisch verwertbare Überreste auch noch vor dem Eingang der Höhle oder Halbhöhle, aber bei den Neandertalern spielte eine solche Erweiterung des Höhlenbereichs keine große Rolle. Fundstätten im offenen Gelände haben weniger natürliche Begrenzungen, und die Verbreitung der dort hinterlassenen Abfälle im Raum lässt die Gebrauchsmuster deutlicher werden, aber dafür ist auch die Wahr106

scheinlichkeit höher, dass natürliche Erosionsprozesse diese Überreste bewegen und verändern. Archäologen verfügen über relativ wenige gut erhaltene Neandertaler-Fundstätten im offenen Gelände, aber die wenigen, die existieren, weisen ein kohärentes Muster auf: Dort sind im ganzen bewohnten Bereich Steinwerkzeuge, Abfälle vom Steinabschlagen und (bei gutem Erhaltungszustand) Tierknochen verstreut. Oft gibt es Rückstände von Asche oder Holzkohle, die auf die Verwendung von Feuer hinweisen, aber nur selten findet sich so etwas wie ein eigens errichteter Kamin. Meistens bieten die Überreste kein kohärentes Muster. Eine Ausnahme ist die ukrainische Fundstätte Molodova 1, die vor etwa 45.000 Jahren bewohnt war (Abb. 4-2).8 Die Fläche, in der hier in Molodova 1 archäologische Überreste gefunden wurden, beträgt etwa 1.200 m², sie ist also mehr als 30-mal so groß wie die in Lazaret. Zu den Ab­ fällen gehören Tierknochen, Steinwerkzeuge, Mammutstoßzähne und Asche. Dabei gibt es hier ein paar deutliche Muster: Konzentrationen von Steinwerkzeugen und Knochenfragmenten sind eingefasst von dichteren Konzentrationen großer Knochen und Mammutstoßzähnen. Eine dieser Ansammlungen barg in ihrer Mitte die Überreste einer Feuerstelle. Sowjetische Archäologen glaubten, dass dies Überreste von Hütten waren, aber wie in Lazaret gibt es keinerlei Pfostenlöcher, die diese Theorie stützen würden. Die meisten Archäologen sind der Meinung, dass diese Muster auf bestimmte Konstruktionen hindeuten, die wahrscheinlich als Windschutz dienten. Was ihre Größe betrifft, so sind beide der deutlicheren Konstruktionen ein bisschen größer als die in Lazaret. Falls die Konstruktionen und Abfälle in Molodova von einer einzelnen hier hausenden face-to-face-Gruppe stammen, dann war diese um ein Vielfaches größer als die Gruppe, die Lazaret bewohnte. Falls jeder Windschutz fünf bis zehn Personen Schutz bot, und es gab (großzügig interpretiert) vier solche Konstruktionen, dann gehörten der hiesigen face-to-face-Gruppe 20 bis 40 Personen an. Aber es bleibt ein ziemlich großes Fragezeichen: Es kann ebenso gut sein, dass die Konstruktionen von einer einzelnen kleineren Gruppe herrühren, die diesen Ort mehrmals aufsuchte. Nach momentaner Beweislage können wir dies einfach nicht mit Sicherheit sagen, auch wenn vieles auf eine größere Gruppe hindeutet. Keine direkten archäologischen Überreste in Neandertalerstätten weisen darauf hin, dass es face-to-face-Gruppen gab, die größer waren als die in ­Molodova. Und doch gibt es einige indirekte Hinweise darauf: Fundstätten wie La Cotte. Ein einziges Mammut hätte leicht eine ­Gruppe von der Größe 107

ringförmige Anordnung größerer Knochen

0

5m N

Mammutstoßzähne Mammutbackenzähne Andere Tierknochen Knochen mit Schnittmarken von Steinwerkzeugen

Feuerstelle Natürliche Mulde, angefüllt mit Knochen Kerne andere Feuersteinobjekte

Abb. 4-2: Die Verteilung von Werkzeugen, Knochen, Feuerstellen und mögliche Strukturen von Molodova 1 (nach Hoffecker8).

108

wie in Molodova ernährt. Von elf geschlachteten ­Mammuts wurden weit mehr Individuen satt. Erinnern Sie sich daran: Alle Tiere in La Cotte wurden geschlachtet. Vielleicht brachte ein regelrechtes Schlachtfest wie das in La Cotte mehrere Neandertalergruppen zusammen, zumindest solange das Fleisch der Tiere genießbar war. In der Summe zeigen die archäologischen Funde, dass die Neandertaler die meiste Zeit ihres Lebens in kleinen face-to-face-Gruppen von fünf bis zehn Individuen verbrachten, die vielleicht gelegentlich in größeren Gruppen von 20 bis 40 zusammenkamen, in Ausnahmefällen noch mehr. Welche ­sozialen Modelle passen dazu? Die sozialen Modelle der Neandertaler unterschieden sich ein wenig von denen moderner Jäger und Sammler. Aber ­zumindest oberflächlich betrachtet ähnelt ihr Muster dem der heutigen Schimpansen;9 diese leben in ständigen Gemeinschaften von 20 bis 80 Tieren, die sich um mit ihnen verwandte Männchen gruppieren. Die einzelnen Gemeinschaften vereinen sich jedoch fast nie zu einer einzigen Gruppe, sondern streifen in Kleingruppen von fünf bis zehn Tieren auf Nahrungssuche umher, und diese Kleingruppen haben wechselnde Mitglieder. Dennoch gibt es gute Gründe, mit solchen Vergleichen vorsichtig zu sein. Zunächst einmal waren die Territorien der Neandertaler viel größer als die der Schimpansen. Schimpansengemeinschaften besetzen üblicherweise ein Gebiet von 12 bis 25 km² (in offenen Lebensräumen sind sie mitunter um einiges größer). Ein solcher Bereich ist klein genug, dass die einzelnen kleinen Gruppen bei der Beschaffung von Nahrung regelmäßig aufeinandertreffen. Einige Laute der Schimpansen, vor allem diejenigen, die etwas Essbares anzeigen, sind über weite Strecken zu hören, so dass Gruppen, die weiter weg nach Nahrung suchen, dazustoßen können, wenn besonders viel Nahrung verfügbar ist. Durch die Lokalisierung von Rohstoffen wissen wir, dass die Territorien der Neandertaler oft zehnmal so groß waren wie die der Schimpansen. Solche großen Gebiete verhindern eine häufige Durchmischung der einzelnen Kleingruppen, wie sie für die Schimpansen typisch ist. Und die akustische Kommunikation wird kaum so weit gereicht haben, dass einzelne Neandertalergruppen auf Nahrungssuche miteinander in Kontakt bleiben konnten; allein mit lautem Rufen hätten die Jäger in La Cotte keine andere Gruppe angelockt. Wir sollten an dieser Stelle darauf hinweisen, dass solche großen Territorien ein sehr altes Merkmal der Hominiden sind, die man bis zu den frühesten Vertretern der Gattung Homo zurückverfolgen kann. 109

Zweitens basierte die soziale Organisation der Neandertaler, wie die aller Hominiden, ziemlich sicher auf der Versorgung mit Nahrungsmitteln. Menschen verwenden ein System des regelmäßigen, vorsätzlichen Teilens, bei dem einzelne Individuen Essbares besorgen und anderen Individuen bereitstellen. Bei den modernen Jägern und Sammlern bringen die erwachsenen Frauen und Männer Nahrung zurück zum Lager, um sie mit Familienmitgliedern und Verwandten zu teilen. In dieser Hinsicht sind die Menschen unter den Primaten einzigartig. Wie Anthropologen glauben, hat sich die Paarbindung ­zwischen erwachsenen Männern und Frauen entwickelt, um die Bereitstellung von Nahrung so effizient wie möglich zu machen. Männer und Frauen versorgen ihre Partner und ihre Nachkommen – dieses System reduziert männliche Aggressionen hinsichtlich des Zugriffs auf Frauen (mehr dazu später). Fast alle Forscher sind sich einig, dass dies auch für die Neandertaler galt – und dies ist ein großer Unterschied zu den Schimpansen, die nicht über ein solches Versorgungssystem verfügen und auch nur selten ihre Nahrung mit anderen teilen.10 Drittens unterschied sich die Jagd der Neandertaler sehr von der Nahrungssuche der Schimpansen. Schimpansen müssen in kleinen Gruppen nach Futter suchen, denn ihre primäre Nahrungsquelle, reifes Obst, ist jeweils nur in relativ geringer Menge verfügbar, mehr als fünf bis zehn Tiere werden davon zumeist nicht satt. Wie wir in Kapitel 2 gesehen haben, hatten die Neandertaler bei der Beschaffung von Nahrungsmitteln ganz andere ­Probleme. Wenn sie Nahrung fanden, gab es reichlich davon – allein sie zu finden war schwierig. Ein Feigenbaum bewegt sich nicht von der Stelle, ein Schimpanse muss sich also nur merken, wo er steht; bei Mammuts war das ganz anders. Die Verteilung von Nahrungsquellen ist eine wichtiges Kriterium nicht nur für die Territoriumsgröße, sondern auch für die soziale Organisation. Die kleinen, mobilen Gruppen waren ein effizientes Mittel, um Jagdwild aufzuspüren, aber nicht das effizienteste Mittel, um es zu konsumieren. Wir vermuten, dass die Neandertaler irgendeine Möglichkeit gehabt­ ­haben müssen, sich zu einer größeren Gemeinschaft zu vereinigen. Auch wenn die typische Größe der face-to-face-Gruppen bei Schimpansen und Neandertalern ganz ähnlich war, so waren die zugrunde liegende öko­ logische und soziale Dynamik dennoch sehr unterschiedlich. Wie sah eine Neandertalergruppe aus hinsichtlich Alter und Geschlecht? Wer einer Neandertaler-face-to-face-Gruppe angehörte, wurde teilweise durch wirtschaftliche Notwendigkeiten bestimmt – die Suche und Verarbei110

tung von Nahrungsmitteln –, aber auch durch die jeweilige Lebensgeschichte und die Bevölkerungsstruktur. „Lebensgeschichte“ bezieht sich auf die Zeitpunkte der wichtigsten Stationen der persönlichen Entwicklung – Abstillen, Geschlechtsreife, Vergreisung.11 Diese Zeitpunkte sind ein wichtiger Faktor für den evolutionären Erfolg, denn sie stehen in unmittelbarem Zusammenhang mit der Fähigkeit einer Spezies, durch geschlechtliche Fortpflanzung fortzubestehen. Z. B. können Frauen, wenn sie in ihrer Entwicklung später geschlechtsreif werden und früher das postreproduktive Alter erreichen, weniger Nachkommen gebären. Und bei hoher Kindersterblichkeit kann es sein, dass es zu wenige Nachkommen gibt, um eine lebensfähige Population aufrechtzuerhalten. Veränderungen in der Lebensgeschichte waren ein wichtiger Faktor in der Evolution von Primaten und Menschen. Z. B. haben Menschen kürzere natürliche Geburtenintervalle als Menschenaffen, eine Frau kann in ihrem Leben öfter schwanger sein als ein Affenweibchen. Aber eine höhere Anzahl von Nachkommen stellt große Anforderungen an eine Frau, was die Versorgung dieser Nachkommen mit Kalorien betrifft, sei es durch Stillen oder durch Beschaffen von Nahrung. Menschen lösten dieses Problem durch ein Versorgungssystem; der Partner oder eine Großmutter halfen der Mutter, indem sie ihr Nahrung brachten. Diese evolutionäre Entwicklung trat lange vor dem Auftauchen des Neandertalers und des frühen modernen Menschen ein, die beide ein solches Versorgungssystem besaßen. Um die Muster einzelner Lebensgeschichten zu rekonstruieren, muss man das Alter der Geschlechtsreife und andere Stationen der Entwicklung anhand von Fossilien dokumentieren können. Das funktioniert am besten über die Zähne. Dabei kann man nicht nur die einzelnen Sequenzen des Zahndurchbruchs dokumentieren (z. B. der bleibenden Schneidezähne im Vergleich zu den Backenzähnen), sondern auch die Chronologie dieser Entwicklungen anhand von Wachstumslinien im Zahnschmelz (Perikymatien). Hinsichtlich ihrer Zahnentwicklung scheinen die Neandertaler den modernen Menschen ganz ähnlich gewesen zu sein. Es gibt einige Hinweise, dass sie ihre Zahn­reife (den Durchbruch der Weisheitszähne) etwas früher erreichten als wir, etwa mit 15 Jahren, aber das liegt im Prinzip auch noch im Rahmen der Schwankungen beim modernen Menschen.12, 13 Paläoanthropologen haben auch die Skelette von ein paar sehr jungen Individuen ausgegraben (u. a. eines Neugeborenen), und deren Hirngröße und Knochenalter entsprechen der Entwicklung beim modernen Menschen. Es gibt also nichts, was wir über die Lebens111

geschichte einzelner Neandertaler wissen, das stark von der Lebensgeschichte moderner Menschen abweicht: Weder entwickelten sie sich viel schneller, noch erreichten sie früher das gebärfähige Alter. Welcher face-to-face-Gruppe jemand angehörte, hing auch von der Bevölkerungsstruktur ab, der relativen Anzahl von Männern und Frauen und vor allem der Anzahl alter und junger Individuen. Wir haben keinen Grund anzunehmen, dass das Geschlechterverhältnis zum Zeitpunkt der Geburt bei den Neandertalern anders war als bei den modernen Menschen (fast 50:50, mit einer leichten Tendenz in Richtung männlicher Nachkommen). Und weibliche Neandertaler scheinen auch nicht weniger von den Strapazen des täglichen Lebens betroffen gewesen zu sein als männliche (oder umgekehrt). Das Wenige, das wir bei den Neandertalern über die Vorgänge bei der Geburtshilfe rekonstruieren können, lässt vermuten, dass weibliche Neandertaler es bei der Geburt etwas leichter hatten als moderne Frauen. Ihr Beckeneingang war ein bisschen größer, der Kopf eines Neugeborenen nicht. (Allerdings haben wir nur ein einziges Neugeborenes zum Vergleich.) Abgesehen von der Geburt, die den weiblichen Neandertalern trotz allem mit ziemlicher Sicherheit einiges abverlangte, wiesen die männlichen Neandertaler wahrscheinlich eine höhere Sterblichkeitsrate auf, aber das gilt für moderne Menschen ebenso. Wo es allerdings einen signifikanten Unterschied gibt, ist bei der Zahl älterer Individuen; es gab einfach weniger alte Neandertaler als alte Menschen. Wenn wir die erwachsene Bevölkerung unterteilen in eine ältere Gruppe, die mindestens doppelt so alt ist wie zum Zeitpunkt der Geschlechtsreife (beispielsweise 30 Jahre = 2 x 15 Jahre), und eine jüngere Gruppe im Alter zwischen dem der Geschlechtsreife und dem der anderen Gruppe, ergibt sich ein signifikantes Muster.14 Nur etwa ein Drittel der erwachsenen Neandertaler gegenüber zwei Dritteln der modernen Menschen gehörten zum Zeitpunkt ihres Todes der älteren Gruppe an (nach Skelettproben von modernen Menschen, die vor 20.000 Jahren lebten). Angesichts der Gefahren, die das tägliche Leben für die Neandertaler bereithielt, ist dieser Unterschied vielleicht nicht wirklich überraschend, aber er wird Auswirkungen auf das soziale Leben der Neandertaler gehabt haben. Erstens: Viele erwachsene Neandertaler starben jung, in einem Alter, als ihre Kinder noch klein waren. Zweitens: Es gab nur ein paar ältere Individuen, und die meisten von ihnen waren wahrscheinlich in ähnlich übler körper­ licher Verfassung wie der Alte Mann von La Chapelle oder Shanidar Nr. 1 – kaputt, krank und kaum noch produktiv. In anderen Worten: Das Wissen, 112

die Erfahrung und die Arbeitskraft von Älteren waren Mangelware, zumindest verglichen mit den modernen Menschen, die ihnen nachfolgten. In dieser Beziehung unterschieden sich die Neandertaler nicht sehr von unseren Vorfahren.15 Das Leben im Paläolithikum war hart. Aber der Mangel an ­älteren Erwachsenen war für die Neandertaler unter Umständen von weiterreichender Bedeutung, da sie, wie wir weiter unten sehen werden, die meiste Zeit ihres Lebens in kleinen face-to-face-Gruppen verbrachten.

Männer sind vom Mars, und Frauen sind … vom Mars Wenn Naturwissenschaftler Listen von Verhaltensweisen erstellen, die charakteristisch für uns Menschen sind und uns von anderen Primaten unterscheiden, ist die Paarbindung zwischen erwachsenen Männern und Frauen immer ganz oben mit dabei. Paarbindung nennt man die Etablierung einer langfristigen Gemeinschaft zweier Menschen, bei der ein männliches und ein weibliches Individuum mehr oder weniger exklusiven sexuellen Zugang zueinander haben und täglich zusammen sind. Die Paarbindung selbst hat eine emotionale Komponente: Die Individuen entwickeln eine starke emotionale Bindung zu ihrem Partner. Dabei sind Menschen nicht die einzigen Primaten, die Paarbindungen aufbauen. Die Siamangs und Gibbons, kleine Menschenaffen, die in Südostasien leben, etablieren lebenslange Paarbindungen; sie sind die einzigen wirklich monogamen Primaten. Aber Affen und unsere nahen Verwandten unter den Menschenaffen bilden keine solchen festen Bindungen aus, sondern haben mehrere Sexualpartner, und der sexuelle Zugang wird weitgehend durch Dominanz bestimmt. Paarbindung ist eine Lösung für ein ewiges Problem, mit dem alle sich geschlechtlich fortpflanzenden Organismen konfrontiert sind: die Suche nach Sexualpartnern. Ohne Sexualpartner kann man sich nicht fortpflanzen. Die natürliche Selektion spricht da eine ganz klare Sprache; wenn man sich nicht fortpflanzt, kann man seine Gene nicht weitergeben. Primaten ­haben eine Vielzahl sozialer Lösungen für das Problem des sexuellen Zugangs entwickelt. Meistens spielt bei Paarungsmustern Aggression oder das An­drohen von Aggression (Dominanz) eine Rolle. Aber Aggression ist eine kostspielige Angelegenheit, wenn man sie in Kalorien umrechnet, und die natürliche ­ Selektion sucht, wenn möglich, nach energieeffizienteren 113

­ ösungen. Paarbindung beseitigt keine Aggressionen, aber sie kann ihre L ­Frequenz erheblich reduzieren. Dies ist der Grund dafür, dass männliche und weibliche Gibbons fast gleich groß sind – eine monogame Paarung beseitigt die Selektion größerer Männchen, da diese nicht mehr täglich miteinander konkurrieren müssen. Dennoch ist Paarbindung unter Säugetieren ziemlich ungewöhnlich. Oft ist es eine bessere Strategie für die Männchen einer Spezies, sich mit so viele Frauen wie möglich zu paaren – und das führt natürlich zwischen den Männchen zu Aggressionen. Nun sind auch die Menschen nicht gegen solcherlei Konkurrenz unter Männern immun, warum also die Paarbindung? Das scheint damit zu tun zu haben, dass es bei der menschlichen Paarbindung nicht nur um Sex geht: Sie ist auch ein wichtiger wirtschaftlicher Faktor. Die Männer versorgen die Frauen und ihre Nachkommen mit Nahrung, wodurch die Versorgung der Frauen mit Kalorien erhöht wird, was für einen größeren Erfolg bei der Fortpflanzung sorgt. Und wenn beide eine ­erfolgreiche Paarbindung eingehen, ist ihr Erfolg zugleich sein Erfolg. Wenn Sozialwissenschaftler das Thema sexueller Zugang und Reproduk­ tion behandeln, vermeiden sie den eher analytischen Begriff der Paarbindung zugunsten des Begriffs Ehe.16 Und anstatt die evolutionären Konsequenzen zu betonen, konzentrieren sie sich auf den Charakter dieser Interaktion an sich, einschließlich ihrer emotionalen und kognitiven Komponenten. Wenn die soziokulturelle Anthropologie in den vergangenen 150 Jahren irgendetwas über den Menschen gelernt hat, dann geht es dabei um die Ehe. Auf der ganzen Welt haben die Menschen eine Vielzahl von Mustern entwickelt, wenn es um die Ehe geht, und keines dieser Muster ist in irgendeiner Weise typisch, geschweige denn richtig. Aber alle haben sie mehrere Dinge gemeinsam. Erstens: Eine Ehe ist ein Vertrag, in dessen Rahmen die Parteien sich auf bestimmte Rechte und Pflichten einigen, oft im Rahmen einer rechtlich bindenden Vereinbarung. Zweitens: Bei der Ehe geht es immer um Kinder, um die Möglichkeit des Kinderkriegens und darum, wem diese Kinder im Endeffekt „gehören“ (mit wem sie verwandt sind). Drittens: Die Ehe ist eine wirtschaftliche Vereinbarung, bei der es um Arbeit und Eigentum geht. Die Partner einigen sich nicht nur darauf, miteinander Sex zu haben, sondern stellen zum Wohle des anderen auch ihre Arbeitskraft und ihre wirtschaftlichen Mittel zur Verfügung. Für die meisten Menschen bedeutet diese wirtschaftliche Vereinbarung heute wie im Laufe der jüngeren menschlichen Evolution überhaupt eine 114

­ rbeitsteilung. Der Mann liefert bestimmte Dinge und leistet bestimmte A ­Tätigkeiten, während die Frau andere Dinge liefert und bestimmte andere Tätigkeiten leistet. Bedenken Sie dabei, dass die romantische Liebe, eine emotionale Basis für die Paarbindung, kein notwendiger Bestandteil der Ehe ist. Sozialwissenschaftler leugnen nicht ihre Existenz oder ihre Bedeutung für den Menschen, aber sie ist schlicht und einfach für die Ehe nicht erforderlich, und in Wirklichkeit ist sie sogar oft ein Handicap. (Ältere Erwachsene wissen das, und deshalb arrangieren sie Ehen für ihre Kinder, die es noch nicht begriffen haben.) Die Ehe ist eine zu wichtige Angelegenheit, als dass man sie der romantischen Liebe überlassen dürfte. Wir sind ziemlich sicher, dass die Neandertaler über eine Paarbindung verfügten, auch wenn sich die Paläoanthropologen darüber streiten, wann genau im Laufe unserer Vergangenheit sich dieses charakteristische Verhalten entwickelt hat. Einige meinen, es sei im Zuge jener Entwicklung entstanden, dass wir, vor über 4 Millionen Jahren, lernten auf zwei Beinen zu laufen; andere, es habe sich erst bei frühen Vertretern der Gattung Homo entwickelt, vor etwa 2 Millionen Jahren.17 Im Zentrum der Debatte steht der Energieverbrauch weiblicher Hominiden. Weibchen benötigen während der Schwangerschaft und Stillzeit mehr Kalorien als Männchen. Daher sind Weibchen in der Regel kleiner als Männchen, die die Kalorien nur zur Selbsterhaltung brauchen – und zur Abwehr anderer Männchen. Dieser Geschlechtsdimorphismus hinsichtlich der Körpergröße gilt für alle anthropoiden Primaten außer Siamangs und Gibbons, die, wie Sie sich erinnern werden, monogam sind und eine lebenslange Paarbindung aufbauen. Wenn Paläoanthropologen also einen Punkt ausmachen könnten, an dem sich der Geschlechts­ dimorphismus bei unseren Vorfahren verringerte, wäre dies ein guter Anhaltspunkt für das Vorhandensein einer Paarbindung. Auf Fossilien des Homo erectus trifft dies zu, da sind sich die Paläoanthropologen einig – die Debatte betrifft frühere Hominiden. Die Neandertaler wiesen einen ähn­ lichen ­Geschlechtsdimorphismus auf wie die modernen Menschen, und somit liegt es auf der Hand, dass die Paarbindung verbunden mit einer Versorgung mit Nahrungsmitteln ein wesentlicher Bestandteil ihres sozialen Lebens war. Aber kannten die Neandertaler die romantische Liebe? Die sexuelle An­ ziehung beim Menschen hat sowohl kognitive und als auch physiologische Elemente. Viele sind ganz klar das Ergebnis natürlicher Selektion oder, genauer gesagt, sexueller Selektion. Merkmale, die das eine Individuum für das 115

andere Geschlecht attraktiver machen und erfolgreicher um Sexualpartner werben lassen, werden im Laufe der Zeit häufiger. Aber es gibt auch kognitive und physiologische Merkmale, die dafür sorgen, dass man eine mehr oder weniger exklusive Bindung aufbaut, wenigstens für eine gewisse Zeit. Die ­romantische Liebe scheint in diese letztere Kategorie zu fallen. Die Evolutionspsychologie hat zum Sturm auf diejenigen Komponenten des menschlichen Geistes geblasen, die im Laufe unserer Entwicklung unsere Fähigkeit maximiert haben, einen Partner zu finden, zu behalten und sogar ihn zu betrügen. Tatsächlich ist die romantische Liebe in so vielfacher Hinsicht etwas so Ungewöhnliches, dass man sie nur mit einer ebenso ungewöhnlichen Theorie erklären kann. Die Evolutionspsychologie geht in ihrer Argumentation von einer riesigen Diskrepanz aus: Theoretisch kann ein Mann Millionen von Kindern zeugen, auch wenn das Guinness-Buch der Rekorde Dschingis Khan als Rekordhalter aufführt. Letzterer soll rund 10.000 Kinder in die Welt gesetzt haben (moderne genetische Studien belegen das sogar). Frauen hingegen sind schon durch die Anzahl der Eizellen eingeschränkt, die sie im Laufe ihres Leben produzieren (etwa 360). Der aktuelle Rekord einer Frau im Kinderkriegen ist etwas zweifelhaft, aber er scheint zwischen 64 und 69 Kindern zu liegen (darunter diverse Mehrlingsgeburten). Evolutionspsychologen folgern, dass sich angesichts dieser großen Diskrepanz beim Produzieren von Nachkommen die erfolgreichsten Strategien von Frauen und Männern drastisch voneinander unterscheiden müssten. Wie Dschingis Khan herausfand, stellen Männer am besten dadurch ein Überleben ihrer Gene sicher, dass sie so viele Frauen schwängern wie nur irgend möglich. In diesem Szenario sorgt der Mann nicht für das Wohl seiner Kinder, so dass deren Überleben weniger wahrscheinlich ist; stattdessen sorgt die schiere Anzahl an Nachkommen dafür, dass die Wahrscheinlichkeit relativ hoch ist, dass seine Gene überleben, denn einige dieser Kinder überleben sicherlich. Für eine Frau wäre dies indes keine gute Strategie – sie sorgt am besten dafür, dass ihre Kinder überleben und wiederum selbst Kinder kriegen, indem sie sich gut um die wenigen Kinder, die sie bekommen kann, kümmert. Aber Evolutionspsychologen argumentieren, dass sie Hilfe braucht, um Nahrung und andere lebenswichtige Dinge bereitzustellen – und hier kommt der Mann ins Spiel. Wenn sie einen Mann dazu bringen kann, bei ihr zu bleiben und ihr zu helfen, für die gemeinsamen Kinder zu sorgen, ist es um einiges wahrscheinlicher, dass diese Kinder bis ins Erwachsenenalter überleben. 116

Und was bietet sie dem Mann im Gegenzug? Sigmund Freud wusste die Antwort: Sex. Nach der Meinung der Evolutionspsychologie tauschen Frauen Sex gegen Kinderversorgung. Warum gibt es roten Lippenstift (bzw. roten Ocker, den die Neandertaler, wie wir sehen werden, für irgendetwas benutzten)? Evolutionspsychologen glauben, dass es weniger wahrscheinlich war, dass ein Mann bei einer Frau blieb, wenn er genau wusste, wann sie schwanger werden konnte. Sie sind der Meinung, dass Frauen ihren monatlichen Zyklus entwickelten, um es für die Männer schwieriger zu machen, zu wissen, wann eine Frau schwanger werden konnte und wann nicht. Schließlich kann eine menschliche Eizelle pro Monat nur etwa 48 Stunden lang befruchtet werden. Wenn ein Weibchen nur während dieser 48 Stunden im Intimbereich knallrot wird, wie es bei einigen Affenarten der Fall ist, dann kann es sein, dass das Männchen dem Weibchen nur während dieser zwei Tage pro Monat seine Aufmerksamkeit widmet, ein ­wenig wie es bei Hunden der Fall ist. Weibliche Hominiden könnten also eine Strategie entwickelt haben, die die Männer darüber im Unklaren ließ, wann genau sie schwanger werden konnten. Allerdings ist eine Lüge weitaus effektiver, wenn der Lügner sie tatsächlich glaubt. Daher sorgte die natürliche ­Selektion dafür, dass es eine Frau selbst nicht mehr wusste, wann sie schwanger werden konnte. Wenn sie es selbst nicht weiß, muss sie auch nicht lügen. Warum also erfand der Mensch etwas so Seltsames wie roten Lippenstift? Die Evolutionspsychologie sagt, dass dies ein unbewusstes Lockmittel für den Mann ist. Es erinnert ihn an den roten, angeschwollen, zur Befruchtung bereiten Intimbereich der Frau vor Millionen und Abermillionen von Jahren. Und was hat die Liebe damit zu tun? Wenn wir das Ganze mit ökonomischen Begriffen ausdrücken wollen, gibt es Tausende und Abertausende Männer mit Milliarden und Abermilliarden Spermien. Dies macht Spermien billig. Es gibt Tausende und Abertausende Frauen, aber es gibt viel, viel weniger Eizellen, und das macht Eizellen sehr teuer. Beachten Sie: Die beste reproduktive Strategie für eine Frau ist es, dafür zu sorgen, dass der Mann ihr nicht davonläuft, nachdem er sie geschwängert hat, und stattdessen für sie und ihr Kind sorgt. Deshalb können Frauen es sich leisten, wählerisch zu sein. Und Evolutionspsychologen glauben, dass eine Frau deshalb einen Mann danach beurteilt, ob er einen guten Vater abgeben wird. Sicherlich sucht ein Mann auch eine gute potenzielle Mutter, aber zugleich sucht er nach fruchtbaren jungen Frauen, und zwar nach möglichst vielen. Wie kann die 117

Frau den Mann also davon überzeugen, ein guter Vater zu sein, bei ihr zu bleiben und sie (und sein Kind) zu versorgen, wenn dies nur teilweise in ­seinem Interesse liegt und es in seiner Nähe noch viele weitere Frauen im gebärfähigen Alter gibt? Die Antwort: durch romantische Liebe mit Schmetterlingen im Bauch und allem Drum und Dran. Die romantische Liebe ist durch natürliche Selektion entstanden – damit der Mann nicht nur die Frau davon überzeugen kann, dass er sie für immer lieben und niemals verlassen wird, sondern auch sich selbst davon überzeugen kann, dass er sie für immer lieben und niemals verlassen wird. Auch wenn diese Argumentation manchen Menschen sauer aufstoßen wird, führt die Evolutionspsychologie eine ganze Reihe indirekter Beweise dafür an. Warum z. B. zeigen Umfragen unter verheirateten Männern und Frauen verlässlich an, dass mehr Männer ihre Frauen betrügen als umgekehrt? Weil dies im Einklang steht mit einer der grundlegenden evolutionären Reproduktionsstrategien der Männer. Wie wir bereits festgestellt haben, hilft es einer Frau nicht, wenn sie fremdgeht. Ihre beste Reproduktionsstrategie ist es, sicherzustellen, dass ihre Kinder überleben. Ein Mann aber kann beide Strategien zugleich verfolgen: Er kann vorgeben, ein guter Vater und Ehemann zu sein, und gleichzeitig fremdgehen und weitere Kinder zeugen. Und bitte bedenken Sie, dass Evolutionspsychologen diese Hypothesen nicht aufstellen, um das Verhalten solcher Männer zu rechtfertigen! Sie verteidigen oder rechtfertigen solche Verhaltensweisen nicht, und sie beurteilen auch nicht die dahinterstehende Moral. Sie versuchen einfach nur zu erklären, warum Frauen roten Lippenstift tragen, warum Menschen sich verlieben und warum Menschen heiraten und versprechen, sich treu zu sein, bis dass der Tod sie scheidet. Ja, auch die Neandertaler verliebten sich, ganz zweifellos. Aber um zu klären, ob es auch bei den Neandertalern Romeo und Julia hätte geben können, müssen wir noch andere ­Themen untersuchen, unter anderem die Ehe. Wenn die Neandertaler so etwas wie eine Ehe hatten, dann wurde sie ­anders praktiziert als bei den modernen Menschen. Die Arbeitsteilung war nicht die gleiche. Wie in Kapitel 2 erwähnt, haben bei modernen Jägern und Sammlern Männer und Frauen unterschiedliche, einander ergänzende wirtschaftliche Rollen. In den Tropen ist es die primäre ökonomische Rolle der Frauen, Pflanzen und Kleintiere zu sammeln, und die primäre Rolle der erwachsenen Männer, mittelgroße bis große Tiere zu jagen. Gemeinsam sorgen 118

diese einander ergänzenden Aufgaben für eine ausreichende Kalorienzahl und für eine abwechslungsreiche Ernährung der gesamten Gruppe. Nun ­waren die Neandertaler ja aber nicht in den Tropen angesiedelt, also ist der Vergleich vielleicht nicht so gut geeignet. Die Inuit leben in der Arktis und ernähren sich von Karibus, Meeressäugern und Fischen, das ist etwas näher an der Ernährung der Neandertaler dran, doch haben die Inuit eine deutliche Arbeitsteilung, vielleicht sogar deutlicher als bei den tropischen Jägern und Sammlern üblich. Anstatt essbare Pflanzen zu sammeln, von denen es in der Arktis nur sehr wenige gibt, sind die Frauen für die Pflege eines großen Teils der aufwendigen materiellen Kultur zuständig, die für die Inuit überlebenswichtig ist. Dies ist ein Fulltime-Job, der die Männer direkt bei ihrer Jagd unterstützt. Die Neandertaler demonstrieren ein ganz anderes Muster, was die Arbeitsteilung betrifft – wie wir in Kapitel 2 gesehen haben, ist es schwierig, in den archäologischen Funden überhaupt Hinweise für eine Arbeitsteilung auszumachen.18 Für europäische Neandertaler gibt es wenige Hinweise für den Einsatz von Pflanzen und Kleintieren, die auf wirtschaftliche Aktivitäten hindeuten, die die Jagd auf größere Tiere komplementieren würde. Es gibt auch keine Belege für die Herstellung oder Instandhaltung aufwendiger Ausrüstung oder Kleidung wie bei den Inuit. Die Ausrüstung der Neandertaler war so ziemlich überall gleich, und sie verfügten über keine Technologien, die stundenlange Herstellung und Wartung erforderten. Wie wir gesehen haben, gibt es ein paar Hinweise dafür, dass die Neandertaler Pflanzen verwendeten, aber das eher im Nahen Osten als in Europa und auch nicht in dem Maße, wie es die modernen Menschen taten, die vor 20.000 Jahren in derselben Gegend lebten. Die archäologischen Funde weisen stattdessen ­darauf hin, dass alle Neandertaler an derselben wirtschaftlichen Aktivität beteiligt waren: der Jagd auf ­große Säugetiere. Mag sein, dass sie dabei leicht unterschiedliche Rollen innehatten. Die Skelette weiblicher Neandertaler weisen viel weniger schwere Verletzungen auf als die ihrer männlichen Pendants, was darauf hindeutet, dass sie nicht daran beteiligt waren, die Tiere aus nächster Nähe zu töten. Stattdessen könnten sie viele andere Rollen übernommen haben – vielleicht trieben sie die Tiere in bestimmte Richtungen oder lenkten sie ab. Und ziemlich sicher waren sie am Schlachten und am Abtransport der Tiere beteiligt. Dennoch verfügten die Neandertaler verglichen mit modernen Jägern und Sammlern über eine sehr geringfügige Arbeitsteilung. 119

Aus Sicht der Naturwissenschaft mit ihrem Fokus auf Reproduktionsstrategien und Partnerwahl ergeben sich aus der fehlenden Arbeitsteilung bei den Neandertalern einige interessante Folgerungen. Wie erwähnt, hat die Evolu­ tionspsychologie eindeutig festgestellt, dass Männer und Frauen unterschied­ liche Strategien bei der Partnerwahl haben und Attraktivität nach unterschiedlichen Kriterien definieren. Männer bevorzugen junge Frauen auf dem Höhepunkt ihrer Fruchtbarkeit; Frauen fühlen sich zu jungen, kräftigen Männern hingezogen, aber auch zu Männern, die für sie und ihre Kinder sorgen können.19 Es gibt gute Gründe für diesen Unterschied, und er hat eindeutig etwas mit der modernen Arbeitsteilung zu tun, zumindest was die Frauen betrifft. Könnten die Neandertaler ähnliche geschlechtsspezifische Unterschiede gehabt haben in dem, was sie attraktiv fanden, bedenkt man ihre wenig ausgeprägte Arbeitsteilung? Das ist eine interessante Frage. Wir vermuten, dass die geschlechtsspezifischen Unterschiede hier etwas anders waren. Auch bei den Neandertalern fühlten sich die männlichen Exemplare mit ziemlicher Sicherheit zu weiblichen hingezogen, wenn diese jung und fruchtbar waren – das ist eigentlich fast immer eine gute männliche Strategie. Aber die weiblichen ­Neandertaler hatten wahrscheinlich wenig Grund, sich zu älteren, etablierten männlichen Exemplaren hingezogen zu fühlen. Zum einen gab es von diesen nicht sehr viele. Und zum anderen waren die älteren männlichen Neandertaler wohl eher weniger in der Lage, für Frau und Kind zu sorgen, als die jüngeren und gesünderen Individuen. In anderen Worten: Männliche und weibliche Neandertaler besaßen wahrscheinlich ganz ähnliche Attraktivitätskriterien. Aus Sicht der Sozialwissenschaft mit ihrem Fokus auf der Ehe sind die ­Implikationen einer geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung weniger klar. Angesichts dessen, was wir über die Neandertaler wissen, gibt es da überhaupt einen Grund zur Annahme, dass sie eine Art Ehe hatten, eine vertragliche Vereinbarung über Kinder und wirtschaftliche Absicherung? Dies ist eine Fangfrage. Alle modernen Menschen haben irgendeine Art Ehe. Wenn wir sie den Neandertalern absprechen, erscheinen sie sofort weniger menschlich. Wie können wir das überhaupt feststellen? Wie können wir Ehe und Paarbindung voneinander unterscheiden? Eine Möglichkeit ist anhand der Arbeitsteilung, einem der Kernelemente jedes einer Ehe zugrunde liegenden Vertrags. Diese Komponente eines Eheabkommens scheint für die Neandertaler weitgehend unnötig gewesen zu sein, denn sie alle waren an denselben Aktivitäten zur Sicherung der Nahrungsmittelversorgung beteiligt. Bleibt die 120

Kinder-Komponente der Ehe, insbesondere die Möglichkeit des Kinderkriegens und die Zugehörigkeit von Kindern. Aber das ergibt sich daraus, wer in einer ­sozialen Gruppe mit wem verwandt ist – ein Problem, das wir noch gar nicht angesprochen haben.

Partnersuche Evolution verhindert Inzucht, oder besser gesagt: Inzucht verhindert Evolution. Wenn sich eng miteinander verwandte Individuen fortpflanzen, hat das mehrere negative Folgen. Zunächst einmal steigt die Wahrscheinlichkeit, dass die hieraus entstehenden Kinder einen genetisch bedingten Geburts­ fehler erben, dramatisch. Die Paarung an sich hat damit natürlich nichts zu tun, aber eng miteinander verwandte Individuen verfügen über eine große Anzahl gemeinsamer Gene, und wenn beide ein unschönes rezessives Gen haben (das bei keinem von beiden ausgeprägt ist), ist dies im Durchschnitt bei einem Viertel ihrer Kinder ausgeprägt. Daher sind eng miteinander verwandte Paare langfristig weniger erfolgreich bei der Reproduktion als entfernt verwandte Paare. Zweitens reduziert Inzucht die Vielfalt der Genpools. Die Nachkommen werden sich im Laufe der Zeit genetisch immer ähnlicher, weil sich Individuen miteinander paaren, die sich in genetischer Hinsicht bereits sehr ähnlich sind. Die natürliche Selektion setzt auf Vielfalt, und wenn ein Genpool wenig Vielfalt aufweist, ist er nicht in der Lage, sich veränderten Bedingungen anzupassen. Dieses zweite Problem wird im Zusammenhang mit dem endgültigen Schicksal der Neandertaler eine große Rolle gespielt haben. Diese zwei biologischen Probleme bedeuten, dass Organismen, die sich geschlechtlich fortpflanzen, im Allgemeinen Mechanismen entwickeln, um Inzucht zu reduzieren. Affen lösen das Inzuchtproblem durch soziale Mechanismen, oft durch ­Abwanderung. Erreichen sie das gebärfähige Alter, verlassen entweder die Männchen oder die Weibchen die Gruppe, der sie seit Geburt angehören, oder sie werden vertrieben. Dann müssen sie eine andere Gruppe finden, bei der sie leben können, oder sie sterben über kurz oder lang. Affen (auch Menschen­ affen) können nicht lange alleine überleben; tatsächlich ist der einzige ­menschenähnliche Primat, der längere Zeit allein verbringt, das Orang-UtanMännchen. Bei Altweltaffen wie den Pavianen sind es die männlichen Jung121

tiere, die fortgehen. Sie müssen sich einer benachbarten Gruppe anschließen, und dort müssen sie sich in der Dominanzhierarchie emporkämpfen, wenn sie die Chance haben wollen, sich fortzupflanzen. (Das klingt ein wenig sehr nach amerikanischer High School, wir bitten dafür um Verzeihung.) Weil es nur die Männchen sind, die fortgehen, sind die übrigen Weibchen alle miteinander verwandt – Mütter, Töchter, Schwestern ​​und Cousinen. Primatenforscher verwenden für solche Gruppen den Begriff weibliche Philopatrie; bei Schimpansen ist dafür die männliche Philopatrie zu beobachten, das heißt, die Männchen einer Gemeinschaft sind miteinander verwandt, die Weibchen verlassen die Gruppe, wenn sie heranwachsen, und schließen sich einer anderen Gemeinschaft in der Nähe an. Wie genau die Abwanderung funktioniert, ob die Männchen die Jungtiere vertreiben (Paviane) oder die Weibchen Männchen bevorzugen, die von anderswoher stammen (der Javier-BardemEffekt), ist bei den einzelnen Primatengruppen ganz unterschiedlich, aber die biologische Wirkung ist die gleiche: Auf diese Weise wird Inzucht vermieden. Es gibt noch ein drittes Problem, das durch Inzucht entsteht und das das Leben der Menschen verkompliziert, aber für Affen nicht von Bedeutung ist: Moderne Jäger und Sammler pflegen soziale Kontakte zu entfernten Verwandten, um die Folgen temporärer örtlicher Probleme in der Nahrungsmittelversorgung abzuschwächen. Wenn wichtige Pflanzen oder Tiere nicht mehr im gewohnten Maße zur Verfügung stehen, ganz gleich aus welchem​​ Grund, können Jäger und Sammler soziale Verpflichtungen nutzen, die zwischen ihnen und ihren entfernten Verwandten bestehen, und umgekehrt. Aber wenn jemand Schwester oder Bruder heiratet, entsteht keine Verbindung mit sozialer Verpflichtung. Inzest ist unser Begriff für das gesellschaftliche Verbot sexueller Beziehungen mit nahen Verwandten. Es ist ein subtileres und komplexeres Konzept als die Inzucht, gerade weil es nicht allein auf der Grundlage biologischer Nähe definiert ist. In einigen Gesellschaften darf man z. B. Cousins bzw. Cousinen heiraten, wenn sie über die Schwester des Vaters mit einem verwandt sind, aber nicht, wenn es die Kinder des Bruders des Vaters sind. In biologischer Hinsicht sind diese komplett gleichwertig, aber nicht in gesellschaftlicher Hinsicht; die Verpflichtungen gegenüber einer Schwester des Vaters können ganz andere sein als die gegenüber einem Bruder des Vaters. Moderne Menschen, so auch Jäger und Sammler, machen sich viele Gedanken darum, wer wen heiraten darf, weil dies in wirtschaftlicher und sozialer Hinsicht äußerst wichtig ist, denn dadurch wird ein wider122

standsfähiges soziales Netzwerk aufgebaut. Das universelle Inzesttabu ist ebenso sehr durch wirtschaftliche Zusammenhänge begründet wie durch das Bestreben, sich erfolgreich fortzupflanzen. Was können wir aus dem Ganzen denn nun (wenn überhaupt) über die Paarung und Ehe bei den Neandertalern schlussfolgern? Sie waren Primaten, die in Gruppen zusammenlebten, also müssen sie irgendeine Art von Abwanderung praktiziert haben, um die negativen Folgen von Inzucht zu vermeiden. Wenn sie geschlechtsreif wurden, verließen entweder die männlichen oder die weiblichen Neandertaler ihre Geburtsgemeinschaft. Und wer von beiden nun genau? Wenn die Neandertaler ein Muster praktizierten, wie es für afrikanische Menschenaffen typisch ist (und alle Hominiden stammen letztlich aus Afrika), dann herrschte bei ihnen eine männliche Philopatrie vor, das heißt die heranwachsenden weiblichen Neandertaler schlossen sich umliegenden Gemeinschaften an. In einem solchen System waren die männlichen Vertreter einer Gruppe allesamt Väter und Söhne, Brüder und Cousins und somit natürliche Verbündete, die kooperativ handelten. So weit das wohl wahrscheinlichste ­Szenario. Männliche Philopatrie scheint eine tiefsitzende, phylogenetisch eingeschränkte soziale Anpassung afrikanischer Menschenaffen und Hominiden zu sein, die sich in der natürlichen Selektion aufgrund von kognitiven und behavioristischen Dispositionen durchgesetzt hat. Etwas weniger fachsprachlich ausgedrückt: Bei afrikanischen Menschenaffen neigen die Männchen dazu, zusammenzubleiben, und die Weibchen fühlen sich zu fremden Männchen hingezogen. Außerdem hätte die männliche Philopatrie deutliche Vorteile, wenn die Männchen für die Gruppe die Nahrung besorgen. Weil die Männchen genetisch miteinander verwandt sind, bringen Aggressionen zwischen einzelnen Männchen in evolutionärer Hinsicht keinerlei Vorteile. Stattdessen verlässt man sich auf Zusammenarbeit und Austausch untereinander. Wenn Sie von der Jagd mit leeren Händen heimkehren, aber Ihr Bruder Erfolg hatte und seine Beute mit Ihnen teilt (und Sie diese dann mit Ihrer Partnerin), dann führt Ihre enge genetische Verwandtschaft zu ­einem größeren Fortpflanzungserfolg für Ihre gemeinsamen Gene. Kürzlich veröffentlichte Ergebnisse der Untersuchung der DNA mehrerer Neander­ taler, die an einem Ort zusammenlebten, zeigen, dass die männlichen ­Exemplare miteinander verwandt waren, die weiblichen hingegen nicht.20 Dies ist ein deutlicher Hinweis auf männliche Philopatrie. Es gibt jedoch auch gute Gründe dafür, anzunehmen, dass alles ganz anders war. 123

Eine der großen Überraschungen, wenn man moderne Jäger und Sammler im tropischen Afrika untersucht, ist, dass der Anteil der durch Männer erlegten Jagdtiere an der Versorgung der Frauen und Kinder mit Kalorien eher gering ist. Die Männer sind bei der Jagd nämlich eher selten erfolgreich. Und wenn doch einmal, dann wird das Fleisch gleichmäßig auf die gesamte Gruppe verteilt. Das ist alles andere als eine zuverlässige Quelle für die täglich benötigten Kalorien. Für diese sorgen die Frauen, durch das, was sie sammeln. In einer berühmt gewordenen Studie über die Hadza, die im ­Norden Tansanias leben, haben der Anthropologe James O’Connell und ­seine Kollegen gezeigt, dass die Männer gar nicht die wichtigsten Versorger ihrer Ehepartner und Kinder waren. Das war die Mutter der Partnerin.10 Es stellte sich heraus, dass Großmütter eine viel effektivere und zuverlässigere Stütze für junge Mütter waren als die eigenen Ehemänner. Die Mutter einer Mutter verfügt über eine Fülle von Kenntnissen darüber, wo man Nahrung findet und wie man sie sich besorgt. Sie ist in der Lage, viel mehr Kalorien zu sammeln, als sie selbst benötigt, und wenn sie selbst keine kleinen Kinder mehr hat, kann sie diese Kalorien ihren Enkeln zukommen lassen. Das funktioniert indes am besten, wenn Mütter und Töchter zusammenbleiben, also in einem System der weiblichen Philopatrie. Wenn ein Mädchen jemanden in einer fremden Gruppe heiratet, wird sie nicht länger mit ihrer Mutter zusammenleben, sondern mit der Mutter ihres Mannes, der es weniger um das Wohlergehen der Partnerin ihres Sohns geht als um das ihrer eigenen Kinder. (Wie ihr Sohn kann auch sie sich niemals zu 100 % sicher sein, dass ihr Sohn wirklich der Vater ihrer Enkel ist.) Wenn Sie dieses Szenario allzu sehr an eine Szene vorm Scheidungsrichter erinnert, dann liegt das daran, dass die Themen Versorgung und Vaterschaft noch immer von allergrößtem Interesse für uns sind. Viele Leser werden bemerkt haben, dass wir die Beantwortung einer wichtigen relevanten Frage bislang geschickt vermieden haben: Gibt es beim modernen Menschen die männliche oder die weibliche Philopatrie? Die Antwort ist: beides. Anthropologen beschäftigen sich seit über 150 Jahren mit Verwandtschaft und Ehe beim Menschen und haben dabei eine beinahe verwirrende Vielfalt von Lösungen für das Problem, einen Ehepartner zu finden, dokumentiert. Bei manchen Menschen (z. B. diversen Gruppen in Australien) wird das Spektrum der potenziellen Ehepartner durch auf­ wendige Regeln kontrolliert, die manchmal so restriktiv sind, dass es nur 124

wenige, gelegentlich sogar gar keine geeigneten Partner gibt. Bei anderen sind fast alle Vertreter des anderen Geschlechts für die Ehe geeignet (und seit Kurzem sogar die des eigenen Geschlechts). Anthropologen haben vergeblich versucht, kausale Zusammenhänge zwischen verschiedenen Ehesystemen und Versorgungssystemen (Jagen und Sammeln, Landwirtschaft, Schafehüten usw.) zu entdecken. Es gibt einige Trends, aber keiner ist so deutlich, dass er als stichhaltiges evolutionsbezogenes Argument durch­ gehen würde. Was wir aus dieser Vielfalt schlussfolgern können, ist Folgendes: Die Menschen verfügen nicht mehr wie selbstverständlich über ein System der männlichen oder der weiblichen Philopatrie, und das Aufgeben der Philopatrie muss zu irgendeinem Zeitpunkt im Laufe unserer Evolution stattgefunden haben. Aber geschah es bereits beim Homo heidelbergensis, dem gemein­ samen Vorfahren von uns und den Neandertalern? Wenn ja, stünde zu ­erwarten, dass die Neandertaler sich ebenfalls eine Vielzahl von Lösungen ausgedacht haben. Diese Frage ist auch für den Homo sapiens von großer Wichtigkeit: Wenn die Neandertaler einen einheitlichen Philopatrie-Status besaßen, würde das bedeuten, dass sich der Mensch erst nach der evolutionären Trennung von der Philopatrie verabschiedete. Wir können nicht mehr feststellen, ob die Neandertaler eine weibliche oder männliche Philopatrie praktizierten, aber die verfügbaren Hinweise lassen vermuten, dass es entweder das eine oder das andere war. Die Archäologie zeigt, dass die Gemeinschaften der Neandertaler relativ klein und dünn über die Landschaft verteilt waren. Es gibt keine Beweise für eine regelmäßige Interaktion zwischen benachbarten Gruppen, auch wenn es Hin­weise auf einen gelegentlichen Kontakt gibt – die seltenen hochwertigen Rohstoffe. Eine so sporadische Interaktion spricht gegen ein formales vertragsähnliches System eines Austauschs zwecks Ehe, obgleich eine Abwanderung heranwachsender männlicher wie weiblicher Neandertaler als wahrscheinliches Szenario gelten kann. Auf der Basis dessen, was wir durch archäologische Funde und durch Vergleiche zwischen nichtmenschlichen Primaten und menschlichen Jägern und Sammlern wissen, finden wir das folgende Szenario der sozialen Gruppen bei den Neandertalern am wahrscheinlichsten: Die Neandertaler lebten in ­Gemeinschaften von weniger als 100 Individuen, vielleicht 10 bis 20 Familien, die über die männliche oder die weibliche Linie miteinander verwandt waren 125

(männliche oder weibliche Philopatrie). Wie wir durch die Verteilung von Rohstoffen wissen, besetzten Neandertalergruppen in Westeuropa ein Gebiet von vielleicht 2.000 km²; die Neandertaler Osteuropas hatten größere Territorien, vielleicht weil dort die Verbreitung des Jagdwilds anders war als im Westen. Familien bestanden aus einem männlichen und einem weiblichen Neandertaler, die durch Paarbindung miteinander verbunden waren, ihren Nachkommen und vielleicht noch einem überlebenden älteren Verwandten. Diese Familien waren als Einheit für die Beschaffung von Nahrung zuständig, und alle Familienmitglieder gingen mit auf die Jagd. Es mag durchaus sein, dass mehrere Familien zugleich auf Nahrungssuche gingen. Die einzelnen Familien, die einer Gruppe angehörten, kamen zusammen, wenn es um größere Mengen erlegter Tiere ging (wie in La Cotte), und sie blieben zu­ sammen, solange das Fleisch reichte. Mitglieder der Gemeinschaft hatten ­regelmäßigen Kontakt miteinander, aber wenig Kontakt mit benachbarten ­Gruppen. Sie waren exogam – heranwachsende männliche oder weibliche Neandertaler verließen ihre Geburtsgemeinschaft, um sich einer Nachbargruppe anzuschließen. Wie dies genau vor sich ging, ist unmöglich zu ­bestimmen. Die einzig möglichen Spuren solcher Abwanderungen sind die ­geringen Mengen qualitativ hochwertiger Rohstoffe, die aus Gegenden stammen, die weit von dort entfernt liegen, wo sich die Gruppe gewöhnlich aufhielt; vielleicht brachten abwandernde junge Neandertaler solche Rohstoffe mit, um die natürlichen Aggressionen zu entschärfen, die das Auftauchen eines Fremden mit sich bringt.

Soziale Rollen Neben Alter und Geschlecht gibt es kaum Anzeichen für soziale Rollen bei den Neandertalern. Wir haben keine Hinweise darauf, dass sich erwachsene Frauen oder Männer voneinander in Hinblick auf Status oder Aktivitäten unterschieden. Wahrscheinlich unterschieden sich einzelne Individuen untereinander hinsichtlich ihrer Dominanz, aber solche Unterschiede haben sich in keiner Weise manifestiert, die für die Archäologie heute noch sichtbar wäre – wenn sie sich überhaupt irgendwie manifestiert haben. In solchen kleinen Gemeinschaften ist jeder eng mit jedem anderen vertraut, und da muss man seinen Rang nicht markieren. 126

Soziale Kognition Die Neandertaler lebten in sozialen Gruppen. Dass paläoanthropologische Befunde eher in Richtung Werkzeuge und Beschaffung von Nahrung tendieren, darf uns nicht den Blick für die Bedeutung der sozialen Interaktion in ihrem Leben verstellen. Tatsächlich waren soziale Interaktionen jeglicher Art für die Neandertaler – wie für die modernen Menschen und alle nichtmenschlichen Primaten – von allergrößter Wichtigkeit. Folglich muss das Denken der Neandertaler größtenteils auf ein erfolgreiches Sozialleben ausgerichtet gewesen sein. Aber wie bekommen wir dieses Denken zu fassen? Archäologische Hinweise auf das Sozialleben der Neandertaler sind weniger zahlreich und weniger direkt als Hinweise auf Technologie und Lebensunterhalt, und unsere Rekonstruktion der sozialen Kognition der Neandertaler muss deshalb vor allem auf unser Verständnis der sozialen Kognition des modernen Menschen und, in geringerem Maße, nichtmenschlicher Primaten zurückgreifen. Wir werden versuchen, Komponenten der sozialen Kognition der Neandertaler aufzuspüren, indem wir danach fragen, was die Neandertaler wissen und verstehen mussten, um diejenigen sozialen Interaktionen zu leisten, die durch archäologische Funde belegt sind. Wie immer werden wir ganz konservativ vorgehen und nur die minimalen kognitiven Fähigkeiten bestimmen, die für eine bestimmte Interaktion erforderlich sind. Und konservativ werden wir auch in anderer Hinsicht sein: Unsere Interpretationen werden sich an dem orientieren, was wir bereits über die Kognition der Neandertaler in puncto Technologie und Lebensunterhalt herausgefunden haben. Wir werden uns zunächst mit den kognitiven Anforderungen der face-to-face-Gruppen beschäftigen, und danach werden wir zusätzliche Anforderungen untersuchen, die die territoriale Gemeinschaft an die Neandertaler stellte. Die wahrscheinlichste Zusammensetzung einer Gruppe Neandertaler, die zusammen auf Nahrungssuche ging, war eine Großfamilie, und der Kern dieser Familie waren ein männliches und ein weibliches Individuum, die durch Paarbindung miteinander verbunden waren. Einer von beiden, wahrscheinlich eher das weibliche Exemplar, war in einer benachbarten territorialen Gemeinschaft aufgewachsen und als Herangewachsene von dort abgewandert. Wie konnten diese beiden einander vollkommen fremden Individuen eine auf Vertrauen gründende soziale Bindung aufbauen, wie sie notwendig ist, um als Team zu funktionieren? Zunächst wird diese Bindung auf sexueller und 127

romantischer Anziehung beruht haben. Sexuell-romantische Attraktion ist eine kraftvolle Triebfeder im Leben moderner Menschen, und sie weist eine starke kognitive Komponente auf, für die wir diverse eindrucksvolle Metaphern haben: „Liebe macht blind“, „Die Liebe ist ein seltsames Spiel“ usw. Wie bei uns wird es zunächst die sexuelle Anziehung gewesen sein, die erwachsene Neandertaler zusammenschweißte. Zweifellos waren alle Mitglieder einer Neandertaler-Großfamilie emotional miteinander verbunden, auch die Kinder und alle zugehörigen Erwachsenen, die mit einem Teil des Paars verwandt waren. Die archäologischen Beweise deuten noch auf eine zweite Komponente der Paarbindung bei den Neandertalern hin: Empathie. Die ­Neandertaler pflegten verletzte Familienmitglieder und kümmerten sich um ihre Toten. Dies deutet auf die Fähigkeit hin, den Schmerz einer anderen Person nachzuempfinden, die Bedürfnisse des anderen zu ahnen und zu ver­ suchen, diese zu befriedigen. Dies erfordert Theory of Mind und steht völlig im Einklang mit dem, was wir bereits über die Intentionalität im Zusammenhang mit der technischen Kognition der Neandertaler herausgefunden haben. Schließlich müssen wir dieser Mischung aber auch noch einen Schuss Dominanz beifügen – immerhin waren die Neandertaler Primaten und ­ähnelten uns. Einige der sozialen Interaktionen innerhalb der Neandertalerfamilien basierten auf Macht, auf der Androhung von Gewalt und gelegent­ lichen tatsächlichen gewalttätigen Handlungen. In kognitiver Hinsicht beschwört dies emotionale Reaktionen wie Angst und Reue herauf. Zweifellos verloren Neandertaler mitunter die Beherrschung und schlugen Familienmitglieder, aber sicherlich hatten sie auch Möglichkeiten, Aggressionen abzubauen und wieder für Harmonie zu sorgen. Gemäß dieser kurzen Beschreibung scheinen die Neandertaler uns sehr ähnlich gewesen zu sein, und das waren sie auch. Die kognitive Grundlage solcher hochsensiblen face-to-faceInteraktionen hing bei den Neandertalern wie bei uns eng mit dem Gebrauch ihrer Körper zusammen und weit weniger mit Symbolen und Sprachen, als man vielleicht annehmen könnte. Ein Großteil der geringeren Kognition hat etwas mit dem Körper zu tun.21 Wir haben im vorherigen Kapitel den Begriff des Embodiment eingeführt, als es um die Technologie der Neandertaler ging; dort haben wir die These aufgestellt, dass der Körper ebenso wie ein Werkzeug eine Erweiterung des Geistes ist – nicht nur bei den Neandertalern, sondern auch bei uns. Auch in der ­sozialen Interaktion dient der Körper sozusagen als verlängerter Arm des 128

Geistes; ein Großteil unserer ständigen, alltäglichen sozialen Interaktionen geschieht über unser Gesicht, unsere Hände, die Körperhaltung usw. Wir ­haben alle schon einmal die Erfahrung gemacht, dass wir einen Raum voller Menschen betraten und sofort wussten, dass etwas nicht stimmte. Wie konnten wir das wissen? Weil ein großer Teil unseres Wissens über soziale Situa­ tionen von der Körperhaltung und dem Gesichtsausdruck anderer (und un­ serer selbst) herrührt. Als Primaten haben wir neuronale Mechanismen entwickelt, die diese Fähigkeit unterstützen. Dazu gehört das motorische ­Mimikry: Bei der Interaktion mit anderen neigen wir dazu, die gleiche ­Körperhaltung und Mimik einzunehmen und die Handlungsmuster unseres Gegenübers nachzuahmen. Wir können gar nicht anders. Was passiert, wenn in einer Gruppe jemand gähnt? Fast immer verspüren auch andere in dieser Gruppe den Drang zu gähnen. Dies ist ein trivialer, bekannter Effekt, oft aber ist das Nachahmen von Haltung oder Bewegungen alles andere als trivial. Wenn Sie eine aggressive, drohende Haltung einnehmen und die Person, mit der Sie interagieren, ebenfalls, führt dies zu einer feindseligen Eskalation. (Und wenn Sie angetrunken sind und dadurch enthemmt, kann es auch zu gewalttätigen Handlungen führen.) Alternativ könnten Sie auch eine offene, verletzliche Haltung einzunehmen, was die potenziell gewalttätige Situation entschärfen kann. Aber die körperbezogene soziale Interaktion kann auch um einiges subtiler vor sich gehen. Sie können eine soziale Dynamik ganz einfach verändern, indem Sie etwas an Ihrer Mimik ändern. Wir alle können so tun, als seien wir überrascht, gelangweilt oder sogar verliebt, wenn die ­Situation dies erfordert. Und dazu brauchen wir keine Worte. Anders aus­ gedrückt: Wir reagieren mit unserem Körper auf soziale Situationen und können mit unserem Körper soziale Interaktionen manipulieren. Über Mimik und Körperhaltung miteinander zu interagieren, müssen wir nicht erst lernen. Ebenso wenig, wie Wut aussieht, Zuneigung oder überhaupt das gesamte Spektrum menschlicher Emotionen. Was wir lernen müssen, ist, Ausdruck und Haltung zu unterdrücken oder zu übertreiben und wann wir das tun sollten, und interessanterweise variieren die gesellschaftlichen Konventionen diesbezüglich stark – nicht aber die Körperhaltungen an sich. Sie sind das Produkt von Millionen Jahren Evolution von Primaten und Hominiden, und sie sind sehr wirksame Werkzeuge sozialer Interaktion. Zweifellos besaßen auch die Neandertaler diese Werkzeuge, und sie benutzten sie. Die Paarbindung erfolgte bei den Neandertalern über die gleichen Haltungen und 129

Ausdrücke, die wir verwenden; dazu gehören Berührungen, Lächeln, Umarmen sowie einladende Gesten und Gesichtsausdrücke. Die Neandertaler ­demonstrierten Dominanz durch Einnehmen aggressiver Haltungen, Verringern der persönlichen Distanz und gewalttätige Handlungen (Werfen von Gegenständen usw.), genau wie wir und wie die Primaten. Am effektivsten sind diese sozialen Fähigkeiten in genau demjenigen sozialen Umfeld, in dem die Neandertaler den Großteil ihres Lebens zubrachten: kleinen face-to-faceGruppen enger Verwandter. Die interessante Frage ist hier also nicht: Hatten die Neandertaler eine körperbezogene soziale Kognition? Vielmehr muss sie lauten: War das alles, was sie hatten? Um dies zu beantworten, müssen wir einen Blick auf die territorialen Gemeinschaften der Neandertaler werfen. Wir wissen, dass sich Gruppen auf Nahrungssuche gelegentlich zu größeren Gemeinschaften zusammentaten, die wahrscheinlich andere Mitglieder einer territorialen Gemeinschaft mit einschlossen, die entweder über die männliche oder die weibliche Linie mit ihnen verwandt waren. Die archäologischen Funde verraten uns nicht, wie oft dies passierte, aber sie geben uns Hinweise auf die Umstände dabei. Diese größeren Gruppen kamen dort zusammen, wo ­Tiere getötet und geschlachtet wurden, also an Orten wie La Cotte und Salzgitter-Lebenstedt. Es gibt wenig verwertbare Hinweise darauf, dass sich so große Gemeinschaften auch zu anderen Gelegenheiten versammelten. Die größte Wohnstätte ist Molodova, wo vielleicht 20 bis 40 Neandertaler lebten, falls alle dort vermuteten Hütten oder windgeschützten Bereiche zur selben Zeit bewohnt waren – aber das war ziemlich sicher nicht die gesamte Gemeinschaft. Die meiste Zeit scheinen Gruppen, die gemeinsam auf Nahrungssuche gingen, getrennt voneinander gelebt zu haben. In anderen Worten: Neandertaler kamen selten, wenn überhaupt, zusammen, außer gelegentlich, wenn sie einander beim Schlachten von Tieren halfen. Es gibt keine Hinweise darauf, dass sich territoriale Gemeinschaften bei den Neandertalern auch aus anderen Gründen zusammenfanden. Es gab keine gesellschaftlichen Ereignisse, bei denen alle Mitglieder einer territorialen Gemeinschaft hätten anwesend sein müssen – weder Hochzeiten noch Beerdigungen noch Initiationsfeste. Große gesellschaftliche Zusammenkünfte bergen kognitive Herausforderungen, auch (oder vielleicht sogar gerade) wenn alle miteinander verwandt oder gut bekannt sind. Deshalb bieten Hochzeiten in der modernen Welt so viel Stoff für Komödien und Tragödien. Je mehr Menschen anwesend sind, desto mehr Beziehungen müssen gemanagt werden, vor allem, wenn 130

bestimmte Anwesende eine „Vorgeschichte“ miteinander haben. Und in einer territorialen Gemeinschaft unter Neandertalern traf das für alle Beteiligten zu. Wenn man moderne Jäger und Sammler befragt, gelten zwischenmenschliche Konflikte als wichtigster Grund, warum Gruppen auseinanderfallen. Doch werden moderne Jäger und Sammler durch die Anforderungen, die gemeinschaftliche Anlässe wie Hochzeiten, Initiationen usw. mit sich bringen, auch zusammengeschweißt. Eine solche Zentripetalkraft kannte die Neandertalergesellschaft nicht. Je größer eine Gruppe ist, die miteinander interagiert, desto schwieriger ist es für die Ressourcen der körperbezogenen Kognition – Haltung, Blick, Berührung usw. –, soziale Bindungen aufrechtzuerhalten. Der Primatologe Robin Dunbar ist der Meinung, dass dies ein wichtiger Grund für die Entwicklung von Kognition und Sprache bei Hominiden war.22,23 Große Gruppeninteraktionen waren teils eine Herausforderung für das Langzeitgedächtnis, teils eine Herausforderung für das Arbeitsgedächtnis. Wir vermuten, dass sich das Langzeitgedächtnis der Neandertaler leicht an alle Angehörigen ihrer territorialen Gemeinschaft und die besonderen Beziehungen untereinander erinnern konnte. Das Arbeitsgedächtnis, genauer gesagt die Theory of Mind, benötigt man für die Überwachung und Aufrechterhaltung aller dieser Beziehungen in einer Gruppensituation. (Stellen Sie sich vor, Sie sind auf einer Party und versuchen sich daran zu erinnern, was Sie zu wem gesagt haben, ob der- oder diejenige, mit dem oder der Sie sich gerade unterhalten, bereits mit jemand anderem gesprochen hat, mit dem Sie sich wiederum unterhalten haben.) Dass die Neandertaler sich nur selten in so großen Gruppen versammelten, mag damit zu tun haben, dass sie nur ungern ihr Arbeitsgedächtnis dermaßen stark beanspruchten. An diesem Punkt mag der Leser einwenden, dass viele Primaten, z. B. Paviane, ­ständig in Herden zusammenleben, die noch größer sind als die territorialen Gemeinschaften der Neandertaler, obwohl sie kein so umfangreiches Arbeitsgedächtnis besitzen. Das stimmt zwar, aber dies geschieht vor allem aus umweltrelevanten Gründen – zur Erkennung und Bekämpfung natürlicher Feinde; zudem verfügen sie über strikte Dominanzhierarchien, mittels derer sie ihre Interaktionen größtenteils organisieren. Die Umweltbedingungen der Neandertaler begünstigten keine großen zusammenhängenden Gruppen, und in Ermangelung einer solchen Zentripetalkraft mag die kognitive Herausforderung einer großen sozialen Zusammenkunft so schwerwiegend gewesen sein, dass sie sich dies für Ereignisse wie ein gemeinsames Schlacht131

fest aufhoben. In anderen Worten: Wir vermuten, dass sich die Neandertaler ihre Ressourcen körperbezogener sozialer Kognition größtenteils für Aufbau und Pflege wirksamer sozialer Beziehungen in der Kleingruppe aufsparten – und das war durchaus effektiv. Sie verließen sich auf diese Ressourcen aber ebenfalls, wenn sie sich in größeren Gemeinschaften versammelten, wo es um bestimmte Ziele ging, die die Möglichkeit der sozialen Interaktion vorübergehend ausschalteten. Aber die Neandertaler waren nie wirklich genötigt, aufwendigere Formen der sozialen Kognition zu verwenden.24

Was fehlt? Das Bild, das uns die Archäologie von der sozialen Kognition der Neandertaler präsentiert, ist eines mit niedrigschwelligen, intimen Interaktionen und den dafür benötigten kognitiven Fähigkeiten. Moderne Menschen leben in größeren face-to-face-Gruppen und interagieren außerdem regelmäßig mit Menschen aus anderen face-to-face-Gruppen. Wir verbringen unser Leben nicht nur im Kreise unserer erweiterten Familien, sondern auch mit Bekannten und sogar mit Fremden. Und wir scheinen kognitive Fähigkeiten entwickelt zu haben, die mit solchen Interaktionen fertig werden. Die evolutionäre Psychologie und die kognitive Sozialpsychologie sind gerade erst dabei, diese Fähigkeiten zu erkennen und ihre Existenz zu bestätigen, aber zwei von ihnen stechen ­bereits heute als wichtige Bestandteile des modernen Geistes hervor.

Kosten-Nutzen-Analyse Im Laufe der vergangenen 20 Jahre hat der Anthropologe Alan Page Fiske ein komplexes Modell sozialer Kognition entwickelt, auf der Basis relationaler Modelle.25,26 Seine vier relationalen Modelle gründen auf einem etablierten Werkzeug – der Faktorenanalyse, die kovariierende (das heißt sich gemeinsam verändernde) Persönlichkeitsmerkmale identifiziert, was auf eine gemein­same Quelle hinweist, in diesem Falle eine gemeinsame kognitive Basis. Fiske argumentiert (und diverse Studien bestätigen seine Sicht), dass diese vier r­ elationalen Modelle getrennte kognitive Möglichkeiten der Organisation gesellschaftlichen Verhaltens darstellen und dass sie die Grundlage 132

praktisch aller menschlichen sozialen Interaktionen bilden. Er argumentiert weiter, dass alle modernen Menschen über sie verfügen und dass Kleinkinder ganz automatisch erwarten, dass sie bei jeder sozialen Interaktion mit im Spiel sind. Diese vier Modelle sind: das gemeinschaftliche Teilen, das weitgehend über körperbezogene Prozesse funktioniert, die Autoritätsreihung, die Dominanzbeziehungen aushandelt, die Gleichheitsherstellung, ein Prozess, durch den das Gleichgewicht in Beziehungen hergestellt wird, und die Marktpreisbildung. Die ersten drei haben allesamt ihre Wurzeln in der sozialen Kognition nichtmenschlicher Primaten und waren zweifellos allesamt Komponenten der sozialen Kognition der Neandertaler. Nur die vierte kann man eindeutig ausschließlich dem modernen Menschen zusprechen. Marktpreisbildung nennt man die Fähigkeit, proportionale Transaktionen durchzuführen, bestimmte Waren gegen andere Waren einzutauschen. In den meisten Fällen tut man dies heute durch das abstrakte, symbolische Medium Geld, das keinen Eigenwert hat, aber beträchtlichen symbolischen Wert. Natürlich verwenden Menschen nicht nur Geld, um an bestimmte Dinge zu kommen. Doch jedes Mal, wenn wir irgendeine Sache gegen eine andere tauschen – Geld gegen Essen, Arbeit gegen Lebensmittel, Glasperlen gegen Land usw. –, müssen wir ein Wertverhältnis ausrechnen und eine ­Kosten-Nutzen-Analyse anstellen. Diese Art des Denkens ist die Grundlage von Verträgen und jeglichem wirtschaftlichen Austausch. Am effizientesten funktioniert das mit Zahlen und Rechensystemen, aber man braucht sie dazu nicht unbedingt. Was man indes braucht, ist die Fähigkeit, in Proportionen zu denken. Und gemäß Fiske sind wir in kognitiver Hinsicht recht gut darin geworden. Die kleinen, intimen Gruppen der Neandertaler benötigten kein Kosten-Nutzen-Denken. Man braucht es eher bei Transaktionen mit Fremden, und soweit wir wissen, kam dies bei den Neandertalern nicht vor. Der Umgang mit Fremden erhöht außerdem drastisch die Gefahr, betrogen zu werden – aber auch dafür haben wir bestimmte Fähigkeiten entwickelt.

Betrugserkennung Stellen Sie sich vor, Sie sind ein Jugendschützer, der dafür sorgen will, dass niemand im Alter von unter 16 Jahren Bier trinkt. Sie kommen auf eine Party, wo ein paar Jugendliche Bier trinken und einige nicht. Wie beurteilen Sie, 133

ob jemand gegen das Gesetz verstößt? Ganz klar: Sie überprüfen das Alter derer, die Bier trinken, und wenn welche jünger als 16 sind, verstoßen sie gegen das Gesetz – sie haben „betrogen“. Die logische Struktur, die dem zugrunde liegt, ist eine klassische Bedingung nach dem Muster „Wenn P, dann Q“: Wenn Sie Alkohol trinken, dann müssen Sie mindestens 16 Jahre alt sein. Beachten Sie, dass es auf der Party vier Arten von Menschen gibt: solche, die Bier trinken und 16 oder älter sind; solche, die kein Bier trinken und unter 16 sind; solche, die 16 oder älter sind und kein Bier trinken; und solche, die unter 16 sind und trotzdem Bier trinken. Die meisten, denen man dieses Szenario vorstellt, haben keinerlei Schwierigkeiten, herauszufinden, dass es die letztere Gruppe ist, die identifiziert werden muss, um zu zeigen, dass die Party gegen das Gesetz verstößt. Wenn Sie dieselbe Situation allerdings als rein logische Denkaufgabe darstellen, sieht das Ergebnis ganz anders aus. Lassen wir einmal die Party und den Alkohol weg und präsentieren wir das logische Problem in der klassischen „Wenn P, dann Q“-Form. Jede der folgenden Karten hat eine P-Bedingung und eine Q-Bedingung (P, nicht P, Q, nicht Q), eine steht auf der sichtbaren Seite, die andere auf der Rückseite:

P

nicht P

Q

nicht Q

Wenn Sie zwei Karten auswählen dürfen, welche nehmen Sie, um die Regel (Wenn P, dann Q) zu testen? Das ist jetzt gar nicht mehr so leicht. Tatsächlich identifizieren nur 5–25 % „P“ und „nicht Q“ als richtige Antwort. Wie kommt das? Die logische Struktur ist doch dieselbe wie vorher. Es stellt sich heraus, dass das Problem, wie der Evolutionspsychologe Leda Cosmides eindeutig festgestellt hat, inhaltsabhängig ist.27 Wenn es in der Form eines Gesellschaftsvertrags präsentiert wird – um P zu bekommen, muss man Q –, dann haben die meisten Menschen in der Regel keine Schwierigkeiten damit, das logische Problem zu lösen. Aber in anderen Situationen, z. B. in der formalen Logik, können sie dies nicht so gut. Bilden diese experimentellen Ergebnisse lediglich eine Eigenart des menschlichen Denkens ab, oder steckt mehr dahinter? Cosmides ist der Auffassung, dass die Evolution diese inhaltsabhängige Form des Denkens gegenüber einer allgemeineren Fähigkeit, Probleme anhand bestimmter Bedingungen zu lösen, bevorzugt hat. Unser Leben ist voll von Vereinbarungen, die wir mit anderen Menschen eingehen, und wer in der Lage ist, Betrüger zu erkennen, ist zugleich in der Lage, kostspielige 134

Entscheidungen (im wörtlichen wie auch metaphorisch Sinne) zu vermeiden, entweder indem er sich in Zukunft vor Betrug schützt oder indem er einen Betrug sofort ahndet. Die allgemeine, bedingungsbezogene Schlussfolgerung verfügt über keinen ähnlich praktischen Nutzen, also muss sie im begrenzten Bereich der sozialen Kognition entstanden sein. Aber wann? Wir vermuten, dass die Neandertaler diese Fähigkeit nicht besaßen. Die Fähigkeit, einen Betrug zu erkennen, ist vor allem nützlich, wenn man Vereinbarungen mit Fremden trifft. In den territorialen Gemeinschaften, in ­denen sich das Leben der Neandertaler abspielte, kannte jeder jeden. Und selbst wenn es einzelne Neandertaler gab, die zur Faulheit neigten oder nicht ihren Teil zum Gemeinwohl beitragen wollten, wusste bald jeder darüber ­Bescheid. Darüber hinaus waren die wirtschaftlichen Abhängigkeiten bei den Neandertalern ganz anders als die vertraglichen und auf Regeln basierenden Verpflichtungen unserer modernen Welt. Die Neandertaler mussten sich auf ihre Fami­lien verlassen und auf die emotionalen Bindungen, die sie zusammenhielten. Es gab keine Notwendigkeit für Betrugserkennung – diese kam erst auf, als sich nicht-emotionale und vertragsähnliche Vereinbarungen mit entfernten Bekannten oder sogar Fremden durchzusetzen begannen. Aber wenn die ­Neandertaler diese Fähigkeit nicht besaßen, was mag dann passiert sein, wenn sie Fremden begegneten, die geschickt im Aushandeln sozialer und wirtschaftlicher Verträge waren? Wir vermuten, dass die Neandertaler durch ihre direkte, emotionale, körperbezogene soziale Kognition einen ausgesprochenen Nachteil hatten. Es könnte sogar sein, dass dies eine Rolle bei ihrem endgültigen Verschwinden spielte. Der moderne Mensch, der vor 40.000 Jahren begann, Mittel- und Westeuropa zu besiedeln, lebte in größeren face-to-face-Gruppen als die Neandertaler, hatte regelmäßige soziale Kontakte mit Bekannten, die Hunderte von Kilometern entfernt lebten, und besaß ziemlich sicher die Fähigkeit, mit Fremden Verträge auszuhandeln. Die Neandertaler hätten gar nicht gewusst, wie sie auf ihn reagieren sollten. Zur Kultur dieser modernen Menschen gehörte die ausgiebige Verwendung von Symbolen, und der Kontrast zwischen der Art und Weise, wie die Neandertaler Symbole verwendeten und wie die modernen Menschen dies taten, kann beim Schicksal der Neandertaler ebenfalls eine Rolle gespielt haben.

135

5 Rein symbolisch Anthropologen sagen, dass unser modernes Leben von Symbolen bestimmt ist. Was meinen sie damit? Für Semiotiker, die Wissenschaftler, die sich mit diesen Dingen beschäftigen, ist ein Symbol eine bestimmte Art Zeichen, und ein Zeichen ist etwas, das „für etwas stehen“ kann.1 Stellen Sie sich vor, Sie fahren auf der Autobahn und sehen ein dreieckiges Stück Metall, das auf ­einen Pfosten montiert ist, mit rotem Rand und der Silhouette eines springenden Hirschs darauf. Was bedeutet es? Sie wissen, dass es Sie vor Wildwechsel warnt; das Stück Metall „steht für“ Wild. Aber das Straßenschild ist kein echtes Symbol im semiotischen Sinn, denn die Referenz des Zeichens funk­tioniert über ein Faksimile, eine Ähnlichkeit des Referenten (Hirsch). Es ist ein Piktogramm. Bei einem echten Symbol muss die Referenz beliebig sein – das heißt, es darf keine natürliche Verbindung geben zwischen dem Zeichen und dem, worauf es sich bezieht. Das Wort „Hirsch“ ähnelt einem tatsächlichen Hirsch nicht, es ist ein echtes Symbol. Irgendwie steht ein Wort wie „Hirsch“ aber trotzdem für einen realen Hirsch. Es gibt noch eine dritte Art Zeichen: den Index, der eine Referenz durch Assoziation produziert; Rauch ist ein ­Index für (= steht für) Feuer, und ein Hufabdruck kann ein ­Index für einen Hirsch sein. Anthropologen verwenden oft und gerne diese verschiedenen semiotischen Definitionen, aber gelegentlich vermengen sie sie auch alle und nennen den ganzen Haufen dann Symbolik. Wenn Anthropologen sagen, dass unser modernes Leben von Symbolen bestimmt ist, meinen sie normalerweise das ganze Paket. In der modernen Welt sind wir ständig und überall von Symbolen umgeben.2 Am offensichtlichsten sind Wörter (mehr dazu im nächsten Kapitel), aber es gibt viele andere Arten von Symbolen. Wir besuchten einmal einen Empfang im Hause des Rektors unserer Universität. In seiner Begrüßungs­ 136

rede merkte er an, er wisse allein deshalb, dass es ein Empfang für die Fakultät sei, weil „alle Autos vor der Tür zehn Jahre alte Toyotas sind“. Wir sind sicher, die meisten von Ihnen werden diesen Witz verstehen, aber was hat das Ganze mit Symbolik zu tun? Es kann sein, dass die Entscheidungen, die Menschen treffen, „für sie stehen“ – in diesem Fall die Kaufentscheidung für einen Toyota und die Entscheidung, ihn zehn Jahre lang zu fahren – so etwas tun halt Professoren. In einem gewissen Sinn sind diese Toyotas Indizes; die wirtschaftliche Stellung von Professoren in den USA legt nahe, dass ein To­ yota im Rahmen dessen liegt, was sie sich leisten können, und die Zuverlässigkeit ­eines Toyotas macht ihn zu einer guten langfristigen Investition. Hier besteht eine natürliche Verbindung; aber daneben besteht auch eine symbolische: Wenn man ein Auto kauft, sendet man damit auch eine Botschaft aus, die der Umgebung, oft ganz bewusst, mitteilt, wie man sich selbst sieht. Nur wenige Professoren entscheiden sich für einen Ford F250 Pickup-Truck mit Lift-Kit und Monsterreifen, selbst wenn sie in einer Gegend wohnen, wo die Wege schlammig sind. Ein Pickup vermittelt einfach die falsche Botschaft. Es ist diese Rolle von Symbolen (im allgemeinen Sinn) als Botschaft, die den Kern dessen bildet, wovon die oben zitierten Anthropologen sprechen. Wir empfangen ständig Botschaften und senden welche aus – durch die Kleidung, die wir tragen, den Ort, wo wir wohnen, die Werkzeuge, die wir verwenden, den Job, den wir ausüben, usw. Viele dieser Botschaften sind uns bewusst – das meiste dessen, was wir sagen, Werbung, Geschichten –, aber viel passiert auch weitgehend unbewusst. Nicht nur, dass überall um uns herum Symbole sind, sie sind auch zu ­einem der wichtigsten Vehikel des Lernens geworden. Am offensichtlichsten sind hier wieder die Wörter der Sprache und, in der Welt von heute, geschriebene Wörter und mathematische Symbole. Subtilere und tiefgründigere Informationen liefern Erzählungen – Geschichten und Parabeln – und mit Bedeutung aufgeladene visuelle Symbole. Denken Sie nur an das christliche Kruzifix und die Informationen und Emotionen, die es birgt. Es ist zugleich ein Piktogramm (ein Bild für Jesus), ein Index (der auf die Passion Christi hinweist) und ein Symbol (für Auferstehung, Hoffnung auf ewiges Leben usw.). Letzteres stellt noch eine weitere Möglichkeit dar, wie Anthropologen oft den Begriff Symbol benutzen. Solche Symbole sind die einzige Möglichkeit, über abstrakte Begriffe und Ideen zu denken und zu reden. Die Referenzen auf eine Person (Jesus) und ein Ereignis (Kreuzigung) sind ziemlich 137

­ nkomplizierte Zeichen – sie stehen für ein Individuum, das nicht anwesend u ist, und ein Ereignis, das der Vergangenheit angehört. Aber „Auferstehung“ ist keine so einfache Referenz. Was soll das überhaupt sein, „Auferstehung“? Auf jeden Fall gehört es nicht der greifbaren, sichtbaren Welt an. Es ist eine abstrakte, immaterielle Idee, und man kann über solche Dinge nur anhand von Symbolen nachdenken oder reden. Wenn Anthropologen (und Archäologen) über die symbolische Kultur sprechen, meinen sie fast immer ein Wissenssystem, das abstrakte Begriffe enthält. Alle modernen Menschen haben Symbole, die genauso subtil sind wie das christliche Kruzifix. Aber wie war es bei den Neandertalern? Einige Paläontologen vermuten, dass die Welt der Neandertaler nicht so voll mit Symbolen war. Betrachten wir für einen Moment den Löwenmenschen vom HohlensteinStadel (Abb. 5-1).3 Was sehen Sie? Die meisten Menschen sehen die Darstellung eines imaginären Wesens mit dem Körper eines Menschen und dem Kopf eines Löwen. Ein solches Wesen ist ein reines Fantasieprodukt; es ­existiert in der realen Welt nicht und hat niemals existiert. Die Statuette ist die Darstellung einer Abstraktion. Interessanterweise glauben die meisten Menschen, denen man diese Figur zeigt, sie habe eine religiöse Bedeutung, und zwar in erster Linie, weil solche Kreaturen in unserer Welt oft eine religiöse Bedeutung haben. Aber nicht immer. Denken Sie an den Werwolf – nicht wirklich ein religiöser Begriff (auf jeden Fall kein christlicher), aber doch etwas Abstraktes, das Menschen einen sehr realen Schrecken eingejagt und vielleicht auch bestimmte Anweisungen gezeitigt hat („Geh nachts nicht in den Wald, wenn Vollmond ist“). Der Werwolf ist also ein Symbol, und das war der Löwenmensch vom Hohlenstein-Stadel für denjenigen, der ihn ­hergestellt hat, auch. Wir wissen nicht, wofür er stand, aber wir wissen, dass er für irgendetwas gestanden haben muss. Diese Figur ist etwa 32.000 Jahre alt und wurde im heutigen Deutschland durch moderne Menschen angefertigt. Sie zeigt uns, dass ihre Macher Symbole in einer Art und Weise verwendeten, die der unseren sehr ähnlich ist, wenn nicht sogar identisch mit ihr. Die archäologischen Funde von Neandertalern bieten nichts, was mit der Statuette aus Hohlenstein-Stadel vergleichbar wäre, aber in aller Fairness müssen wir auch beachten, dass solche eindeutigen Beispiele von Symbolen für moderne Menschen noch bis weit nach 30.000 Jahren vor unserer Zeit ebenfalls ziemlich selten sind. Und falls Neandertaler Symbole aus vergäng­ lichem Material (z. B. Holz) hergestellt haben, werden wir sie wahrscheinlich 138

Abb. 5-1: Die „Löwenmensch vom Hohlenstein-Stadel“ genannte Statuette, ein Objekt, das mit ziemlicher Sicherheit ein Artefakt mit ­abstrakter, symbolischer Bedeutung war (nach Wynn u. a.3). Es wurde vor etwa 32.000 Jahren durch moderne Menschen hergestellt.

nicht mehr finden können. Wie man so schön sagt: Abwesenheit von Beweisen ist kein Beweis für Abwesenheit. Andererseits können wir den Neandertalern auch keine symbolische Kultur zuschreiben, nur weil es fair wäre. Es muss Beweise geben, auch wenn es indirekte Beweise sind. In den archäologischen Zeugnissen der Neandertaler finden sich drei verschiedene Arten solcher Beweise, die mögliche Implikationen für eine symbolische Kultur bergen: Bestattung, Verwendung von Feuer und Körperverzierungen. 139

Umgang mit Toten Was macht man mit jemandem, der tot ist? Wenn Menschen tot sind, sind sie dann immer noch Menschen? Gewiss wecken kürzlich Verstorbene (man kann nicht umhin, hier an Marty Feldman im Labor in Frankenstein Junior zu denken) emotionale Reaktionen seitens der Lebenden, die genauso intensiv oder sogar intensiver sind als die, die sie weckten, als sie noch am Leben waren. Ihr veränderter Status hinterlässt, zumindest für eine gewisse Zeit, eine sehr reale soziale Lücke. Man könnte sogar sagen, dass ein paar bestimmte soziale Rollen nach dem Tod weiterbestehen, vor allem durch das Geflecht sozialer Beziehungen, die andere Menschen über die verstorbene Person miteinander verbinden. Der Tod ist für den modernen Menschen ein ernstes Problem, aber galt das auch für die Neandertaler? Begräbnisse gehören (wie auch die Ehe) zu jenen Themen, die seit mehr als eineinhalb Jahrhunderten die Anthropologen faszinieren. Das gilt auch für Archäologen, die in ihren Ausgrabungen gelegentlich verschiedene Methoden der Leichen­ behandlung entdecken, und für Psychologen, die der Rolle des Todes in der Entwicklung der modernen Psyche eine große Bedeutung beimessen. Es gibt, wie Sie sich sicherlich vorstellen können, eine unüberschaubare Masse an ­Literatur über den Tod, und wir werden nicht versuchen, sie zusammenzufassen. Aber zumindest aus anthropologischer Perspektive gibt es mehrere Funktionen des Todes und des Umgangs mit Toten, die bei allen modernen Menschen gleich sind und die als Rahmen dafür dienen können, die Prak­ tiken der Neandertaler zu bewerten. Erstens: große emotionale Bedeutung. Der Tod ist eine emotional traumatisierende Angelegenheit. Da ist die Angst, die wir alle vor unserem eigenen Tod haben. Wir können diese Angst vor allem in unserem täglichen Leben „verdrängen“ (um einen alten Begriff aus der Psychoanalyse zu verwenden), aber in unserem Hinterkopf ist sie immer präsent. In evolutionärer Hinsicht ist diese Angst sehr alt, und sie ist wichtig für viele vorbewusste Reaktionen wie Verteidigung oder Flucht. Zwar beschäftigen sich viele Menschen aktiv mit ihrem eigenen Tod und binden ihn in einen hochentwickelten symbolischen oder religiösen Kontext ein, aber doch ist die Angst vor dem Tod i­ mmer noch da. Der Verlust eines engen Verwandten löst Trauer aus – ein Gefühl, das so stark ist, dass es physiologische Reaktionen hervorruft, die über das Gehirn hinausgehen. Und je enger die emotionale Bindung, desto stärker ist 140

die Trauer. Da moderne Menschen oft Paarbindungen eingehen, löst der Verlust von Ehefrau oder Ehemann ebenso große Trauer aus. Zweitens: soziale Störung. Der Tod hinterlässt ein Loch im sozialen Gefüge. Insbesondere der Tod eines Erwachsenen erfordert eine Neuausrichtung sozialer und wirtschaftlicher Beziehungen. Die Aufgaben, die in der Arbeitsteilung der Ehepartner erledigt hat, muss nun jemand anderes erledigen. Oft gibt es auch Probleme im Umgang mit den überlebenden Familienmitgliedern, nahen wie fernen Verwandten. Und in einigen Fällen kann der Tod sogar erhebliche politische Konsequenzen haben. Drittens: emotionale Ambivalenz. Der Tod eines Erwachsenen ist für die Überlebenden oft ein schwerer Schlag, aber zugleich ein Segen.4 Kinder oder Geschwister können vom Verstorbenen Reichtum und Macht erben oder sich aus emotionalen und familiären Verpflichtungen befreien, die sie über Jahre belastet haben. Diese Kombination aus Trauer und Freude macht den Tod eines Erwachsenen zu einem Quell komplexer Gefühle und Reaktionen. Viertens: Fortbestehen. Mit ganz wenigen Ausnahmen glauben moderne Menschen an das Fortbestehen einer Person über den Tod hinaus. Dieses nimmt viele Formen an, von der Idee, dass die Seele vom Körper getrennt ist und nach dem Tod weiterlebt, über den Glauben an Geister, Zombies und andere in unserer Welt existierende Geisteswesen bis hin zum Konzept der Reinkarnation. Fünftens: rituelle Schadensbegrenzung. Ohne Ausnahme bewältigen Menschen das emotionale und soziale Trauma, das der Tod darstellt, durch bestimmte rituelle Handlungen. Die Anthropologie nennt solche Handlungen, die die wichtigsten Übergänge im Leben eines Menschen und in seiner Rolle in der Gemeinschaft markieren, Übergangsriten.5 Übergangsriten ­folgen oft sehr strikten Regeln und geleiten die Teilnehmer durch den emotionalen Prozess eines Übergangs. Todesrituale können aufwendig, zeitraubend und teuer sein oder auch einfach, kurz und billig, aber sie sind immer auf die eine oder andere Weise vorhanden. Selbst in unserer heutigen zynischen Zeit begegnen wir dem Tod durch Rituale in Form von Gedenkfeiern, Momenten der Stille, Spenden an wohltätige Organisationen oder dem Verstreuen von jemandes Asche, denn die emotionalen und sozialen Störungen, die der Tod verursacht, sind nicht verschwunden. Todesrituale erfüllen oft zwei scheinbar widersprüchliche Funktionen: Trennung und Integration. Die Toten müssen von den Lebenden getrennt werden; alle (einschließlich 141

des Verstorbenen) müssen wissen, dass er oder sie wirklich verschwunden ist und nicht mehr wie früher in der Welt handeln kann. Zur selben Zeit erfordert diese dramatische Statusveränderung, dass der Verstorbene entweder in veränderter Präsenz (als Ahne) in die Welt den Lebenden reintegriert oder über den Tod hinaus in eine andere Existenz integriert wird. Todesrituale bringen oft mit sich, dass die Überlebenden über einen langen Zeitraum (Tage, Wochen, manchmal auch länger) einen vorübergehenden Sonder­ status besitzen – den der Trauernden –, der bestimmte Regeln umfasst, die die emotionale Wirkung des Todesfalls abschwächen. Sechstens: Transformation des Leichnams. Niemand trägt einen Leichnam einfach hinters Haus und wirft ihn auf den Müll. Die Behandlung des toten Körpers ist ein wichtiger Bestandteil des Todesrituals und steht oft in Verbindung mit Konzepten des Fortbestehens, der Trennung und der Integration.6 Für viele Menschen ist die vollständige Trennung des Leichnams von den Lebenden unerlässlich; daher liegen Friedhöfe meist abseits von Wohngebieten, und auch die Feuerbestattung greift diesen Gedanken auf. Aber für viele Menschen ist es auch wichtig, dass ein transformierter Leichnam in die Gemeinschaft reintegriert wird. In Orkney praktizierten Menschen in der Jungsteinzeit, vor gerade einmal 5.000 Jahren, die Dekarnation – dabei legte man die Toten im Freien aus, bis Aasvögel alle Knochen abgefressen hatten; ­danach wurden die Knochen in steinerne Gemeinschaftsgräber überführt, die zu Schauplätzen wiederkehrender Rituale wurden.7 Die Bewohner von Orkney versuchten offenbar, eine gewisse Verbindung aufrechtzuerhalten. Ein anderes Beispiel findet sich im Südwesten der USA, wo die Navajo-Indianer ihre Toten aus den Siedlungen und Häusern fortschleppten und an äußerst schwer zugänglichen Stellen entsorgten. Hier ging es vor allem um Trennung. Manchmal errichten Menschen aufwendige visuelle Markierungen zur Erinnerung an Individuen (gelegentlich sogar ganz ohne Leichnam), und manchmal erhalten die Toten gar keine besondere Kennzeichnung; nach der Trennung von den Lebenden werden sie „vergessen“ und nie wieder erwähnt. Für viele Menschen in der modernen Welt ist der Tod nicht endgültig eingetreten, bis die endgültige Transformation des Leichnams erreicht ist. Siebtens: Variabilität. Der moderne Mensch hat eine Vielzahl von Todes­ ritualen und Möglichkeiten, mit Toten umzugehen, entwickelt. Sie sind so vielfältig, dass man nicht einmal bestimmte Ausprägungen mit bestimmten Überzeugungen über den Tod in Verbindung bringen kann. Einige Arten der 142

Einäscherung z. B. markieren die vollständige Trennung des Leichnams und des Toten von den Lebenden, aber mitunter wird die Asche auch liebevoll eingesammelt und unter den Lebenden aufbewahrt. Die einzigen gemein­ samen Nenner sind, dass es immer irgendeine Art Ritual gibt und eine bestimmte Art und Weise, wie man mit den Toten verfährt.

Götter, Gräber und Gelehrte Eine der wenigen allgemein bekannten Tatsachen über die Neandertaler ist, dass sie ihre Toten begruben. Bereits bei einigen der allerersten Neandertaler, die man jemals fand, vor über einem Jahrhundert im Südwesten Frankreichs, hieß es, sie hätten in Gräbern gelegen, dazu gehörte auch der Alte Mann von La Chapelle-aux-Saints. Für die damaligen französischen Archäologen implizierte eine Bestattung einen rituellen Umgang mit dem Leichnam, und dieser wiederum implizierte religiöse Sensibilität, vielleicht auch ein Konzept des Lebens nach dem Tod. In anderen Worten: Sie schlossen daraus, dass die Neandertaler genau wie wir einen Sinn für das Übernatürliche hatten. Wie viele Binsenweisheiten haben diese Erkenntnisse über die rituellen Gräber der Neandertaler einen unguten Einfluss auf unser Verständnis vom Leben der Neandertaler ausgeübt und schienen eine emotionale und religiöse Ähnlichkeit mit uns zu implizieren, die zumindest überbewertet ist und ­vielleicht sogar ganz unberechtigt. Beide Begriffe, „Ritual“ und „Grab“, sind irreführend. Wir haben keine Beweise, dass die Bestattung der Leichname mit irgendwelchen Zeremonien einherging, und das wenige an weggekratzter Erde dort qualifiziert nur in einem sehr technischen Sinne als Gräber. Was also machten die Neandertaler mit ihren Leichen? Die vielleicht berühmteste Begräbnisstätte der Neandertaler ist die Höhle von La Ferrassie im Südwesten Frankreichs. Zwischen 1909 und 1921 entdeckten Archäologen die Überreste von sieben Neandertalern, darunter zwei nahezu vollständige Skelette, die anderen fünf Teilskelette. Lehrbücher zur Einführung in die menschliche Evolution nehmen immer noch Bezug auf die Neandertaler von La Ferrassie und die Gräber, in denen man sie fand, und zeigen häufig ein Foto von La Ferrassie Nr. 1 (einem Neandertaler mit einer riesigen Schädelkapazität von 1.700 cm³). Aber eine genaue Überprüfung der Quellen offenbart ein seltsames Detail: La Ferrassie Nr. 1 fand man nicht in einem Grab. Er lag in einer 143

Senke nahe der Rückwand der Höhle, den Kopf und die Schultern von drei Kalksteinblöcken bedeckt. La Ferrassie Nr. 7 befand sich ganz in der Nähe, und hier sah es ähnlich aus. Die Beine und Arme der zwei Skelette waren halb gebeugt, aber nicht gebeugt genug, dass man behaupten könnte, die Leichname wären in eine bestimmte Position gebunden gewesen. Tatsächlich waren die einzig möglichen Gräber in La Ferrassie zwei flache Gruben, in denen man Nr. 3 und Nr. 4 fand. Die Gruben waren sehr klein, etwa 30–70 cm tief, und die Skelette in ihnen nur teilweise erhalten (Nr. 3 hatte nur seine Arme und einen Kopf; Nr. 4 bestand eigentlich aus zwei fragmentarischen Skeletten, dem eines 10 Monate alten Säuglings und eines Neugeborenen). In anderen Worten, in La Ferrassie wurde nicht ein einziger intakter Neandertaler bestattet. Die kompletten Skelette Nr. 1 und Nr. 2 wurden nicht begraben, und die in den möglichen Gräbern, Nr. 3 und Nr. 4, waren unvollständig. Dies sind kaum überzeugende Hinweise auf eine Totenzeremonie. Allerdings wurde La Ferrassie vor langer Zeit ergraben, als die Ausgrabungsstandards ein wenig lockerer waren als heute (wenn auch nicht sehr). Vielleicht ergibt eine jüngere Ausgrabung eindeutigere Ergebnisse. Die Höhle Kebara in Israel, bereits im Zusammenhang mit der Jagd und dem Essen von Pflanzen erwähnt, bietet das beste kürzlich ausgegrabene Beispiel eines Neandertalergrabs.8 Insgesamt enthielt Kebara die Überreste von mindestens 23 erwachsenen und jugendlichen Neandertalern; von den meisten fand man Zähne, die in der Höhle verstreut waren. Aber zwei Neandertaler dort scheinen tatsächlich begraben worden zu sein. Das bessere der beiden Beispiele ist Kebara Nr. 2 (Nr. 1 war ein Kleinkind, das man in den 1960erJahren ausgrub). Kebara Nr. 2 lag auf dem Rücken in einer flachen, beckenförmigen Grube, die frühere Lagerstätten beschnitt. Diese Tatsache ist wichtig, denn sie zeigt, dass die Grube in Sediment ausgehoben wurde, das schon früher bestand – eines der Kennzeichen eines Grabs (Abb. 5-2). Als einer von uns beiden (TW) vor Jahren zum ersten Mal diese Schnittzeichnung sah, sagte er: „Das sieht für mich aus wie ein Grab.“ Aber eine nähere Betrachtung weist einige Merkwürdigkeiten auf. Erstens ist das Grab sehr flach, nur 20 bis 25 cm tief. Zweitens fehlte der Schädel, und er hätte auch gar nicht in die flache Grube gepasst. Aber der Kiefer war da. Entweder wurde der Leichnam so begraben, dass der Kopf aus dem Grab ragte, und der Schädel später entfernt, oder er wurde gar nicht begraben. Drittens fehlte das rechte Bein komplett, wie auch ein Großteil des linken. Und v­ iertens konn144

L 20

X

Grund

7.00

a XI b

c

7.50

d

8.00 XII

XIII Abb. 5-2: Diese Profilzeichnung der Kebara-Höhle zeigt die stratigraphische Position des Skeletts Kebara Nr. 2 in einer flachen Mulde (nach Bar Yosef u. a.8). Die schwarzen und schraffierten Flächen markieren die Positionen der Feuerstellen. 145

ten Archäologen eine Seite der Grubenwand nicht nachweisen, was darauf hindeutet, dass die „Grube“ einfach nur eine Einsenkung aufgrund von Erosion sein könnte. Das wäre vielleicht auch nicht allzu schlimm, wäre Kebara Nr. 2 nicht das beste Beispiel für ein Neandertalergrab, das die Paläoanthropologie zu bieten hat. Vor 20 Jahren warf der Archäologe Rob Gargett einen kritischen Blick auf die Funde im Zusammenhang mit Neandertalerbegräbnissen und fand sie äußerst unzureichend.9 Stattdessen fand er heraus, dass die Gräber an Stätten wie La Ferrassie, La Chapelle-aux-Saints, Shanidar und ein paar andere allesamt als natürliche Prozesse, nicht als vorsätzliche Bestattungen erklärt werden können. Die Reaktion der Wissenschaft auf dieses sorgfältige Stückchen Forschung kam schnell und war unfreundlich. Man hätte denken können, Gargett hätte die Gültigkeit des Doppelhelix-Modells der DNA in Frage ­gestellt. Seine Gegner argumentierten, er lege zu hohe Standards an und könne nicht gut genug Französisch, weshalb er die besten Beispiele gar nicht in Betracht gezogen habe. Außerdem könne man kaum erwarten, dass die frühesten Zeugnisse für Beerdigungen eindeutig seien. Aber Gargett blieb bei seiner These, und im Jahr 1999 reagierte er auf seine Kritiker mit einem zweiten Artikel, in dem er Fundstätten untersuchte, die er in seiner ersten Publikation ausgelassen hatte.10 Seine Schlussfolgerung war die gleiche: Es gibt keine überzeugenden Beispiele für Bestattungen bei Neandertalern. Nur Indizien hindern uns (und andere) daran, uns Gargetts Schlussfolgerung insgesamt anzuschließen; es gibt dafür einfach zu viele relativ vollständige und teilweise erhaltene artikulierte Neandertalerskelette. Artikuliert bedeutet, dass die Knochen des Skeletts in ihrer natürlichen anatomischen Position lagen (oder zumindest sehr ähnlich). In anderen Worten: Die Leichname waren intakt, bevor sie mit Sediment bedeckt wurden. Gargett erklärt in allen Fällen ganz schlüssig, wie natürliche Sedimentationsprozesse die Leichen begraben haben könnten, aber es bleibt die Tatsache, dass die schiere Anzahl der Skelette und Teilskelette in scharfem Gegensatz steht zu Funden früherer Hominiden und sogar zeitgenössischer Homo sapiens in anderen Teilen der Welt. Irgendetwas war anders bei den Neandertalern. Vielleicht ist es wirklich so, wie Gargett sagt, dass die Neandertaler einfach häufiger in Höhlen lebten als andere und damit auch öfter in Höhlen starben oder dass es in der Nähe der gefundenen Gräber keine Aasfresser (z. B. Hyänen) gab. 146

Wir sind der Meinung, dass eine dritte Interpretation die Funde besser erklärt: Warum sollte die Ambiguität ihrer Begräbnispraxis nicht den Umgang der Neandertaler mit den Toten genau widerspiegeln? In diesem Szenario hätten die Neandertaler durchaus Todesrituale gehabt, wenn sie auch minimal waren – so minimal, dass nur 15 bis 20 Skelette den Zahn der Zeit halbwegs intakt überstanden haben. Die archäologischen Befunde stützen diese Sichtweise. Es gibt nur wenige, vielleicht auch gar keine, Gräber in unserem modernen Sinne. In den meisten Fällen nutzten Neandertaler einfach natürliche Senken wie in La Ferrassie und erweiterten sie vielleicht noch, indem sie ein wenig Erde aushoben. Dann legten sie den Leichnam hinein, beugten die Glieder ein wenig, wenn es nötig war, und vielleicht bedeckten sie sie mit etwas Erde oder Schutt. Das ist alles. Man kann leicht nachvollziehen, dass die meisten solcher Behandlungen nicht lange Bestand hatten. Wir vermuten, dass z. B. alle 23 Neandertaler in Kebara auf diese Art und Weise bestattet wurden und dass 21 von ihnen kurz darauf wieder gestört wurden, von Tieren oder geomorphologischen Prozessen. Durch schieres Glück überlebte das Skelett von Kebara Nr. 2, wenn auch ohne Kopf und untere Extremitäten. Neandertaler ließen Leichname nicht einfach dort liegen, wo sie starben. Sie bewegten sie und investierten viel Mühe, sie zu schützen, aber es gibt keinen Grund zu schlussfolgern, dass sie mehr taten als das. In Moula-Guercy, einer Höhle an der Rhône in Südfrankreich, praktizierten Neandertaler eine ganz andere Form des Umgangs mit Toten: Kanni­ balismus.11 Die Stätte war vor etwa 100.000 Jahren bewohnt, während einer relativ warmen klimatischen Phase. In Größe und Aufbau ähnelt sie den meisten anderen gefundenen Neandertalerhöhlen, sie war ein Ort, an dem hin und wieder eine kleine Gruppe lebte, die Feuer machte und Tiere tötete, schlachtete und zubereitete. Aber unter den geschlachteten Kadavern fanden sich neben Rotwild und Ziegen auch die Überreste von sechs Neandertalern. Ihre Knochen weisen die gleichen Anzeichen des Schlachtens auf wie die der Tiere. U. a. fand man Schnittmarken dort, wo die Schulter vom Rumpf ­getrennt wurde; bei einem hatte man die Achillessehne durchgeschnitten, bei anderen den Ellbogen; bei einem war die Zunge herausgeschnitten, bei einem anderen der Musculus temporalis vom Schädel getrennt. Die Oberschenkelknochen waren zertrümmert worden, um das Knochenmark herauszuholen, und die Schädel, um an das Gehirn zu gelangen. Es waren effiziente Schlachter am Werk, und ihr Ziel war es, Essen zuzubereiten. Von 147

den sechs geschlachteten Neandertalern waren zwei Erwachsene, zwei im Teenageralter und zwei Kinder, zwischen 6 und 7 Jahre alt – möglicherweise die Überreste einer ganzen oder eines Großteils einer zusammenlebenden Gruppe Neandertaler. Es ist eher unwahrscheinlich, dass eine solche Gruppe eines natürlichen Todes starb, und führt man diesen Gedanken weiter aus, ist es ebenso unwahrscheinlich, dass dies eine Form der rituellen Bestattung war. Es gibt mehrere gut dokumentierte Beispiele des rituellen Kannibalismus beim modernen Menschen in der anthropologischen Literatur, und moderne ­ ­Kannibalen bieten eine Vielzahl von Gründen für ihr Tun, z. B. als ultimative Be­leidigung eines Feindes oder als Möglichkeit, sich bestimmte Kräfte zu verschaffen – oder als Möglichkeit, es einem Individuum zu erlauben, in ­seinen Angehörigen fortzuleben. Natürlich kann es sein, dass eine Neandertalergruppe eine andere tötete und aß, um sich die Kraft oder die spirituelle Energie seiner Feinde einzuverleiben, dennoch ist eine praktische Erklärung wahrscheinlicher: Eine Gruppe tötete und aß die andere, weil sie Hunger hatte. Es kann sein, dass die Opfer Fremde waren und nicht Mitglieder der eigenen Gemeinschaft vor Ort und daher sozusagen Freiwild. Vielleicht überfiel eine Gruppe fremder Neandertaler, die auf der Jagd war, die Gruppe in Moula-­Guercy in ihrer Wohnhöhle. Dies würde die Altersverteilung der ­Opfer erklären. Archäologen kennen mehrere Beispiele für solchen ernährungsbezogenen Kannibalismus durch Fremde bei modernen Menschen in der jüngsten Prähistorie,12 es wäre also keine allzu große Überraschung, wenn es dies bei den Neandertalern auch gab. Es gibt noch ein paar andere, wenn auch weniger eindeutige Beispiele für Kannibalismus bei Neandertalern, das bekannteste stammt von der kroatischen Fundstätte Krapina. Die Stätte wurde vor mehr als einem Jahrhundert ausgegraben, bevor es die modernen Extraktions- und Konservierungstechniken gab; dennoch ist klar, dass zu den Funden die fragmentarischen Knochen mehrerer Neandertaler gehörten (möglicherweise sogar mehr als 40, auch wenn es hier keinen Grund zur Annahme gibt, dass dies Überreste ­einer einzelnen Gruppe waren) und dass einige dieser Knochen Schnittmarken aufwiesen und einige verbrannt worden waren. Neue Analysen weisen darauf hin, dass wir vorsichtig sein müssen, hier Kannibalismus zu erkennen. Nur sehr wenige Knochen weisen Brandspuren auf, und die Frakturmuster und Anordnung der Körperteile könnte das Ergebnis natürlicher Prozesse sein, 148

vor allem wenn den Leichnamen eine ähnliche wenig aufwendige Behandlung zuteilwurde wie an anderen Standorten. Dass ein paar Knochen Spuren von Verkohlung aufweisen, könnte daran liegen, dass Neandertaler in die Höhle zurückkehrten und Feuer machten. Statt auf Kannibalismus hinzuweisen, könnten die Funde von Krapina einfach die These von der minimalen Bestattung untermauern; es könnte durchaus sein, dass spätere Bewohner der Bestattungshöhle auf die verstreuten Skelettreste einfach nicht achteten, selbst wenn sie mit den Toten verwandt waren. Anhand dieser Beweise können wir unsere Liste der Funktionen moderner Todesrituale überprüfen und herausfinden, ob und wie sie auf die Neandertaler zutrafen. Große emotionale Bedeutung: Es gibt keinen Grund zu der Annahme, dass die Neandertaler den Tod weniger fürchteten als wir. Es ist eine uralte Reaktion, die der Selbsterhaltung dient und den Fortpflanzungserfolg maximiert. Sicherlich verhielten sich Neandertaler regelmäßig in einer Weise, die wir als unglaublich gefährlich ansehen würden (z. B. Mammuts mit Speeren zu töten), aber das heißt nicht, dass sie keine Angst vor dem Tod hatten. Vielleicht beurteilten sie Risiken ein wenig anders als wir, was uns einen Hinweis auf ihre Persönlichkeit geben kann (mehr dazu später), aber sie waren nicht furchtlos. Neandertaler spürten auch Trauer über den Verlust eines geliebten Menschen. Zu dieser Schlussfolgerung können wir auch ohne Beweise für Bestattungsriten kommen. Schimpansenweibchen erleben ein Gefühl wie Verzweiflung, wenn sie ein Kind verlieren, und erwachsene Schimpansen scheinen den Verlust eines nahen Begleiters zu betrauern. Zweifellos verspürten auch Neandertaler Trauer, und ziemlich sicher erstreckte sich diese auch auf den Verlust eines Partners. Ihr Umgang mit Toten weist darauf hin, dass sich ein solches Gefühl des Verlusts über Stunden oder Tage erstreckte. Eine mögliche Motivation für das Verstecken eines Leichnams ist es, den emotionalen Schmerz zu reduzieren, den es bedeutet, zuzusehen, wie jemand verwest, der einem nahestand. Tatsächlich bietet dieses Szenario die geringstmögliche Erklärung für die Art und Weise, wie die Neandertaler mit ihren Toten umgingen: Sie sollte den Kummer mildern. Soziale Störung: Aufgrund der geringen Größe der face-to-face-Gruppen und Gemeinschaften der Neandertaler riss jeder Verlust eines Erwachsenen ein großes Loch in das soziale Gefüge. Wenn die grundlegende für die Nahrungssuche zuständige Einheit, wie wir dargelegt haben, die Kleinfamilie 149

war, dann müssen die territorialen Gemeinschaften der Neandertaler in der Lage gewesen sein, die Überlebenden in eine andere Einheit zu integrieren. Am einfachsten funktionierte dies bei Verwandtschaften. Aber im Vergleich zu den modernen Menschen war der Tod für die Neandertaler weniger disruptiv. Zum einen besaßen sie keine signifikante geschlechtsspezifische ­Arbeitsteilung, und selbst eine Kleinfamilie verlor einfach nur ein Mitglied einer Gruppe von mehr oder weniger austauschbaren Akteuren. Zweitens verfügten die Neandertaler über keine weitreichenden sozialen Verpflichtungen außerhalb ihrer territorialen Gemeinschaft. Sie besaßen einfach ins­ gesamt weniger im Gemeinschaftsleben relevante Rollen, was die soziale ­Störung, die der Tod mit sich brachte, verringerte. Emotionale Ambivalenz: Es ist unwahrscheinlich, dass die Neandertaler auf den Tod eines ihnen nahestehenden Individuums genauso ambivalent reagierten wie die modernen Menschen. Die überlebenden Familienmitglieder hatten wenig zu gewinnen und viel zu verlieren. Trauer war sicherlich die vorherrschende Emotion. Aber eine gewisse Ambivalenz gab es sicherlich. Wenn ein erwachsener männlicher oder weiblicher Neandertaler starb, stand der überlebende Partner anderen zur Verfügung, und solche Gefühle sind oft alles andere als trivial. Aber andere Vorteile wird der Tod eines Erwachsenen nicht gehabt haben – ohne Reichtum und mit nur wenig Macht. Fortbestehen: Glaubten die Neandertaler an irgendeine Art Weiterleben nach dem Tod? Gab es bei den Neandertalern Geister oder Reinkarnation? Dies können wir nur darüber herausfinden, wie sie ihre Toten behandelten. Rituelle Schadensbegrenzung: Neandertaler bewegten Leichname und versteckten sie oft unter Steinen oder legten sie in Vertiefungen ab, gelegentlich hoben sie auch flache Gruben aus. Waren dies Todesrituale? Waren solche Handlungen nicht in gewisser Hinsicht eine Möglichkeit, um die emotionale Wirkung und die sozialen Störungen des Todes zu mildern? Viele Paläoanthropologen sind dieser Meinung, aber wir glauben, hier sollte man vorsichtig sein. Was die Neandertaler mit ihren Toten anstellten, war minimal und entsprang, was noch bezeichnender ist, im jeweiligen Augenblick getroffenen Entscheidungen. Soweit wir es aus den Befunden rekonstruieren können, verfügten die Neandertaler beim Umgang mit Toten über keine wiederkehrenden Techniken. Meistens versteckten sie sie einfach, mit leicht zugänglichen Mitteln. Ohne wiederkehrende Handlungsmuster ist es schwierig, sich für ein traditionsgebundenes, an Regeln orientiertes Ritual stark zu 150

machen, auch wenn ein solches Ritual angesichts der wenig umfangreichen Stichproben schwer auszumachen wäre. Es gab keine Grabbeigaben und keine Standardausrichtung. Wir halten es für möglich, dass die Neandertaler aufwendige Riten praktizierten, die wir in den paläoanthropologischen Befunden einfach nicht entdecken können. Wir halten es aber für unwahrscheinlich. Transformation des Leichnams: Neandertaler kümmerten sich um ihre Toten, und das müssen wir erklären. Wir sehen zwei Möglichkeiten, die eine (Minderung der Trauer) haben wir bereits erwähnt. Die zweite Möglichkeit ist, dass die Neandertaler die Toten aktiv von den Lebenden absonderten. Aus irgendeinem Grund hielten sie es für nötig, sich von den Toten physisch zu trennen. Eine solche Trennung ist ein gängiger Bestandteil des modernen Umgangs mit den Toten, die modernen Menschen haben eine Vielzahl Beweggründe dafür (Angst vor Geistern, den Verstorbenen auf die Reise schicken usw.), und die meisten davon hängen mit einer bestimmten Vorstellung des Weiterlebens nach dem Tod zusammen. Vielleicht glaubten auch die Neandertaler, dass es nach dem Tod irgendwie weiterging. Aber wenn, dann sicherlich nicht lang. Funde aus Stätten wie Krapina und Kebara deuten darauf hin, dass Neandertaler in diese Bestattungshöhlen zurückkehrten, und oft lebten sie inmitten der Gebeine früher verborgener Leichname, deren Überreste sie genauso beiseiteschoben, wie sie es mit allen Knochen machten. Wenn sie glaubten, dass irgendein Element des Verstorbenen den Tod überdauerte, dann glaubten sie offenbar nicht, dass dies für eine lange Zeit galt. Variabilität: Angesichts der den Neandertalern eigenen Spontaneität würden wir bei ihrem Umgang mit den Toten eine große Vielfalt erwarten, und genau die finden wir auch. Die einzige Gemeinsamkeit scheint der niedrige Aufwand zu sein. Sehr wenige solcher Handlungen überdauerten mehr als ein paar Jahre. Es ging lediglich um einen vorübergehenden Schutz. Angesichts dessen, was wir über das Leben der Neandertaler wissen und darüber, wie sie mit ihren Toten umgingen, sind wir der Meinung, dass man die Bestattungsaktivitäten der Neandertaler mit den zeremoniellen Todes­ ritualen der modernen Menschen keinesfalls gleichsetzen kann. Es gibt klare Unterschiede, was Ausmaß und Inhalt betrifft. Die Neandertaler trafen Maßnahmen zur sehr kurzfristigen Minderung der emotionalen und sozialen Auswirkungen des Todes. Groß angelegte Rituale, an denen die ganze Gemeinschaft teilnahm und die sozialen Verbindungen neu ausrichtete und 151

verstärkte, können wir nicht ausmachen. Auch scheint es keine irgendwie gearteten religiösen oder symbolischen Komponenten gegeben zu haben. Allenfalls hatten die Neandertaler eine gewisse Vorstellung von einem Fortbestehen nach dem Tod, aber wenn, dann eine, die die Lebenden nur kurzzeitig betraf. An dieser Stelle sollten wir die Leser daran erinnern, dass die Neandertaler nicht unsere Vorfahren waren, zumindest nicht in nennenswertem Umfang. Wir müssen den Umgang der Neandertaler mit ihren Toten nicht als ersten Schritt in Richtung moderner Bestattungszeremonien sehen – und sollten dies wahrscheinlich auch gar nicht tun. Es war vielmehr ein bei den Neandertalern gängiges Phänomen, das höchstens Parallelen zu den Entwicklungen unserer eigenen Vergangenheit aufweist; wir müssen es nicht in der gleichen Weise verstehen. Aber die zwei getrennten Bestattungssysteme können ihre Wurzeln im Verhalten des Homo heidelbergensis haben. Die Stätte Sima de los Huesos im spanischen Atapuerca (etwa 400.000 Jahre alt) besteht aus ­einem vertikalen Schacht in einer Kalkstein-Höhle, in dem die Knochen von mindestens 32 Homo heidelbergensis und von diversen Tieren gefunden wurden.13 Die Knochen sind vollkommen durcheinander, und es gibt keine artikulierten Skelette, aber die schiere Anzahl an Individuen und ihre Lage in einer gewundenen Höhlenkammer machen es schwierig, wenn nicht unmöglich, ihr Vorhandensein allein aufgrund natürlicher Prozesse zu erklären. Viele Paläontologen glauben, dass jemand die Leichen, oder einfach nur ihre Knochen, hier platziert hat. Man hat sogar einen schönen Faustkeil zwischen den Knochen gefunden. Wie immer müssen wir darauf achten, keine modernen Verhaltensweisen in diese Funde hineinzulesen. Wir sehen es als Hinweis darauf an, dass der Homo heidelbergensis seine Toten an einen geschützten Ort beförderte. Wenn das stimmt, war es eine Behandlung, die der, die wir nur für die Neandertaler beschrieben haben, sehr ähnelte. Erneut sehen wir hier die Neandertaler als direkte Nachkommen einer früheren europäischen Lebensweise. Vor 160.000 Jahren, einen Kontinent weiter, behandelten unsere Vorfahren ihre Toten bereits anders. In Herto in Äthiopien entdeckten Tim White und seine Kollegen die Schädel zweier früher Homo sapiens sapiens.14 Die Formen der Schädel und Gesichter waren eindeutig nicht die von Neandertalern. Aber was am erstaunlichsten ist: Irgendjemand hat die Köpfe nach dem Tod modifiziert. Mehrere Schnittmarken zeigen deutlich, dass von den Schädeln 152

mit Steinwerkzeugen das Fleisch entfernt wurde. Und dieses Mal handelte es sich nicht um Kannibalismus. Einer der Schädel war mit einem weicheren Material, möglicherweise Leder, abgerieben worden. Irgendjemand hat diesen Schädel in einer Tasche mit sich herumgetragen. Das ist etwas ganz ­an­deres als bei den Neandertalern, wo alle Funde in Bestattungshöhlen auf eine physische Trennung der Lebenden von den Toten hinweisen. Wenn das, was mit den Herto-Schädel geschah, irgendwie typisch war (und es ist durchaus nicht ungefährlich, solche Einzelfälle zu verallgemeinern), dann tat der Homo sapiens sapiens etwas ganz anderes mit den Toten als der Neander­ taler; vielleicht betonte er mehr die Kontinuität als die Trennung.

Feuer Seltsamerweise hat die jüngere Anthropologie das Thema Feuer ziemlich stark vernachlässigt, obwohl es für das moderne Leben eine so immense Bedeutung hat. Die Beherrschung des Feuers und seiner Hitze ist das Herzstück der modernen industriellen Volkswirtschaften – die Nutzbarmachung von Hitze durch Verbrennung von Kohle hat die industrielle Revolution auf den Weg gebracht, und der Umgang mit den Nebenprodukten dieser Verbrennung hat sich zu einem regelrechten Fluch unserer Zeit ausgeweitet. Ohne gekochte und gebackene Lebensmittel, vor allem Getreide, könnte man die Erde mit ihren 7 Milliarden Menschen nicht ernähren (und auch kein Bier brauen). Und ohne Feuer als Wärmequelle wären wir Menschen, die wir aus den Tropen stammen, nicht in der Lage gewesen, in Europa, Nordamerika oder in den meisten asiatischen Ländern zu überleben. Doch eine umfassende anthropologische Studie über die Entwicklung der Pyrotechnologie hat noch niemand verfasst, und das ist wirklich ein Rätsel. Wenn sich die Paläoanthropologie mit Feuer beschäftigt, dann geht das selten über die Dokumentation seiner bloßen An- oder Abwesenheit hinaus. Die Neandertaler verwendeten Feuer, oft und effektiv, aber das Anwendungsspektrum unterschied sich leicht vom bei uns üblichen, und dieser Unterschied mag auf Unterschiede im Denken hinweisen. Stellen Sie sich für einen Moment eine europäische Familie vor, die vor 600 Jahren um ihren Herd herum sitzt. Was tun die Familienmitglieder? Sie halten sich warm und essen vielleicht auf dem Herd zubereitetes Essen, aber 153

sie unterhalten sich auch. Diese Unterhaltungen waren wahrscheinlich vor allem Klatsch und Tratsch, aber man erzählte auch Geschichten, wie die mündliche überlieferten Erzählungen von Hänsel und Gretel oder Rumpelstilzchen. Denken Sie nun an die große Festhalle Hrothgar in Beowulf, wo die Taten der Helden besungen wurden – oder an eine Truppe Pfadfinder am Abend, nachdem sie den ganzen Tag gewandert sind. Sie sitzen ums Lagerfeuer herum, das mehr ist als nur ein warmer Ort. Es ist der Mittelpunkt der Interaktion. Alle blicken ins Feuer oder in die glühenden Kohlen, und wenn jemand etwas erzählt, konzentriert man sich dabei wunderbar auf die Handlung und die Figuren der Geschichte. Es ist ein beeindruckendes Erlebnis, vor allem für junge Menschen. Und auch das Feuer selbst ist oft ein Element dieser Erzählungen: Prometheus gibt das Feuer den Menschen, Hänsel und Gretel stoßen die Hexe in den Ofen. Natürlich ist dies nicht auf Europa oder europäische Volksmärchen und Mythen begrenzt. Es ist eine universelle Komponente menschlicher Erfahrung. Hitze und Kochen waren sicherlich die ersten Rollen, die das Feuer in der menschlichen Evolution spielte, aber irgendwo und irgendwann erhielt es die soziale, symbolische Rolle, die es für uns heute noch hat. Hominiden nutzten das Feuer schon lange, bevor der Neandertaler auf der evolutionären Bühne erschien. Wer als Erstes Feuer verwendete, bleibt umstritten, vor allem weil die meisten direkten Hinweise auf den Einsatz von Feuer, verkohltem Holz oder Holzkohle selten länger als ein paar Hunderttausend Jahre überleben. Der älteste allgemein akzeptierte direkte Hinweis auf die Verwendung von Feuer stammt aus der israelischen Fundstätte Gesher Benot Ya’aqov, wo die Überreste von verbrannten Samen und verbranntem Holz im Sediment erhalten blieben, die allesamt mit Steinwerkzeugen in Verbindung standen. Die Stätte ist über 790.000 Jahre alt, das ist so alt, dass der, der hier Feuer machte, ein Homo erectus gewesen sein muss.15 Umstrittenere Hinweise verschieben die Verwendung von Feuer noch einmal um etwa 1,2 Millionen Jahre weiter in die Vergangenheit. Die südafrikanische Fundstelle Swartkrans barg die Überreste verbrannter Knochen geschlachteter Tiere.16 Es gibt dort aber keine Kohle, keine mögliche Feuerstelle und kein durch Hitze verändertes Sediment, und einige Paläontologen haben darauf hingewiesen, dass die Verfärbung der Knochen entweder auf chemische Prozesse zurückzuführen ist oder irgendwie das Ergebnis eines natür­ lichen Brennvorgangs. 154

Indirekte Beweise stützen jedoch die Verwendung von Feuer zu diesem früheren Zeitpunkt. Paläoanthropologen sind sich jetzt größtenteils darüber einig, dass die Zunahme der Gehirngröße im Rahmen der Evolution der frühen Vertreter der Gattung Homo durch einen Anstieg des Fleischkonsums aktiviert oder in die Wege geleitet wurde. Fleisch versorgt den Körper mit den notwendigen Kalorien und Proteinen, um Nervengewebe zu erweitern, aber nur, wenn es auf effiziente Weise verdaut werden kann. Und wie der Primatologe Richard Wrangham aus Harvard argumentiert, ist rohes Fleisch zäh, und man kann Fleisch nur schwer kauen und verdauen, wenn es nicht weichgeklopft, gekocht oder gebraten wird. Fleisch mit Steinen weichzuklopfen mag die erste Lösung unserer Vorfahren für dieses Problem gewesen sein, aber zur Zeit (und angesichts der Hirngröße) des Homo erectus muss es die Zubereitung über dem Feuer gegeben haben.17 Zur Zeit der Neandertaler waren die Verwendung von Feuer und das Kochen längst ein Teil des Lebens der Hominiden geworden. Die Neandertaler hätten in der Kälte des eiszeitlichen Europas niemals überlebt, hätten sie kein Feuer gehabt – und sie hätten auch nicht diese enormen Mengen an Fleisch verzehren können, die ihr Hauptnahrungsmittel darstellten. Auf jeden Fall wussten sie, wie man ein Feuer unterhält, und wir vermuten, dass sie auch wussten, wie man es durch Reibung herstellt, vielleicht sogar durch Erzeugen von Funken mit meteoritischem Eisen und Feuerstein. Unseres Wissens hat noch niemand die kognitiven Implikationen der Herstellung und Verwendung von Feuer erforscht, aber das Feuermachen passt in die Reihe der gut dokumentierten Beispiele für Technologien, die die Neandertaler verwendeten.

Neandertaler am Herd Zu den am akribischsten dokumentierten Feuerstellen der Neandertaler gehören die in Abric Romani, einer Halbhöhle etwa 50 km nordwestlich von Barcelona.18 Die Fundstätte selbst bietet über 17 Höhenmeter an Ablagerungen aus der Zeit vor 40.000 bis 70.000 Jahren. Diverse Ebenen enthalten mehrere Bereiche, in denen jemand etwas verbrannt hat, und deren sorgfäl­tige Ausgrabung bietet uns zweifellos den besten Einblick in die Pyrotechnik der Neandertaler überhaupt. 155

Abbildung 5-3 ist eine Karte von den verbrannten Bereichen einer Ebene in Abric Romani. Auf den ersten Blick scheint es mindestens zwei verschiedene Größen von Feuern gegeben zu haben: kleine Feuer (mit 1 bis 5 gekennzeichnet) und größere Feuer (z. B. 8, 13, 16). Jedoch ergaben vorsichtige Ausgrabungen, dass die größeren verbrannten Flächen von kleineren Feuern herrührten, die mehrmals neu entfacht wurden. Die kleinen verbrannten Flächen sind die Überreste von einfachen, flachen Feuerstellen auf dem Boden der Halbhöhle von weniger als 0,28 m² Größe. Der Zustand des umgebenden Sediments zeigt niedrige Brenntemperaturen von unter 300 ° C an. Die größeren, später wiederverwendeten Feuerstellen ​​lassen sich mit einzelnen Aktivitäten in Verbindung bringen – so schlug jemand nahe der Feuerstelle einen Steinkern ab, und zwischen den Feuerstellen 9 und 12 wurde ein Reh geschlachtet. Einige der kleinen Bereiche 1 bis 5 waren kleine Einzel­ feuer, denen sich kaum Aktivitäten in Form von Abfällen zuweisen lassen. Vielleicht waren dies Schlafbereiche. Abfälle, die auf bestimmte Tätigkeiten hinweisen, findet man oft nur auf einer Seite des Feuers in kleinen Bereichen, wie sie einer Person, die eine bestimmte Tätigkeit ausübt, entsprechen. Alles in allem ergibt sich in Abric Romani ein Bild, das vom Einsatz kleiner Feuer zeugt, die gelegentlich wiederbenutzt wurden und weder sehr lang noch sehr heiß brannten. Die Neandertaler benutzten solche Feuer, um sich zu wärmen und Nahrung zuzubereiten, in Tätigkeits- wie in Schlafbereichen. Die meisten Feuerstellen der Neandertaler glichen denen in Abric Romani. Das einzige gute Beispiel für etwas mehr Organisation stammt aus der ­Kebara-Höhle in Israel.8 Abbildung 5-4 ist ein Foto der Stratigraphie aus dem Mittelteil der Höhle. Die dunklen und hellen Streifen bestehen aus Asche und verbranntem Sediment von mehreren Feuerstellen, die einander überlagern. Auch hier ähneln die meisten Feuerstellen denen in Abric Romani: flache, nicht befestigte Feuer, 20 bis 80 cm im Durchmesser. Bei einigen scheint es, als hätten die Neandertaler absichtlich Asche verteilt. Ein paar der Feuerstellen jedoch waren größer als die in Abric Romani, darunter eine mit über 1 m Durchmesser, 30 cm dick. Es ist nicht klar, ob dies auf einen langen, kontinuierlichen Brennvorgang zurückzuführen ist oder auf ein mehrfaches Ent­ fachen desselben Feuers, aber sicher ist, dass diese Feuerstelle größer war, als es für die meisten Feuerstellen der Neandertaler typisch war. Es gibt auch Hinweise darauf, dass die Neandertaler aus ein paar Brandstellen die Asche heraussammelten und an anderer Stelle in der Höhle verteilten. 156

N

Grube 14 8

9

1 2

10 12

3

4

5

6

15 16 11

17 13

18

19

s

h sc hi p ra le t ig ä u tra S

e

7

Abb. 5-3: Verteilung der auf einer Ebene liegenden Feuerstellen am ­Neandertaler-Fundort Abric Romani (nach Vallverdu u. a.18).

Prähistorische Jäger und Sammler auf der ganzen Welt verfügten über Feuerstellen, die denen der Neandertaler ähnlich waren – sie wurden ad hoc von Individuen errichtet, zur Zubereitung von Nahrung und um sich zu wärmen. Dieser pragmatische Gebrauch der Pyrotechnik ist für mehrere 100.000 Jahre oder noch länger ein Teil der menschlichen Anpassungs­ mechanismen. Wie ihre Vorfahren verwendeten die Neandertaler Feuer als praktischen Bestandteil ihres täglichen Lebens. Neandertaler waren in ­dieser Hinsicht weder besonders fortschrittlich noch rückständig. Mit Feuer hielten sie sich in kalten Gegenden warm und brachten ihre Nahrung in eine leichter verdaubare Form. Unter Umständen verwendeten sie das Feuer ­sogar dazu, die Eigenschaften von Stein zu verändern, um ihn besser bearbeiten zu ­können. Wie wir es schon bei diversen Tätigkeiten beobachten konnten, war es nicht der Neandertaler, der hier aus der Reihe tanzte: Es war der Homo ­sapiens sapiens. Die meisten der Feuerstellen, die die Archäologie dem prähistorischen modernen Menschen zuschreibt, ähneln denen der Neandertaler, aber nicht alle. Vor etwa 23.000 Jahren hoben moderne Menschen in der Halbhöhle Abri Pataud im Südwesten des heutigen Frankreich flache Gruben aus und legten Flusskiesel drumherum.19 Es gab hier auch größere Feuerstellen, mit 157

Abb. 5-4: Dieses Foto der Stratigraphie bei der Kebara-Höhle zeigt einander überlagerende Feuerstellen (nach Bar Yosef u. a.8).

über 1 m Durchmesser. Der etwas früher datierte tschechische Fundort Dolní Věstonice birgt die Überreste großer Feuerstellen mit über 2 m Durchmesser und über 40 cm hohen Ablagerungen, was von wiederholter, intensiver Nutzung zeugt.20 Außerdem hat man einigen der Feuerstellen in Dolní Věstonice zerschlagene Tonfiguren und Tonstückchen zugeordnet, die sich offenbar im Feuer rasch ausbreiten und explodieren sollten. Dolní Věstonice verfügte ­sogar über zwei Öfen aus Ton, die sehr hohe Temperaturen erzeugten, um Tonfiguren herzustellen. Das Feuer war hier viel mehr als ein praktisches Werkzeug zur Erzeugung von Wärme und zum Kochen. Es war zu einem Schwerpunkt sozialer Aktivität geworden. Stellen Sie sich einen Moment lang vor, was rund um eine solche Feuer­ stelle in Dolní Věstonice geschah. Die kaputten Figurinen und Tonstücke verweisen auf soziale Interaktion, nicht nur auf gemeinsames Aufwärmen und Kochen. Irgendjemand platzierte diese Dinge im Feuer und sah zu, wie sie zerbrachen und explodierten. Wir vermuten, es könnten vorpubertäre 158

Jungen gewesen sein, die mit steinzeitlichen Feuerwerkskörpern herumspielten, aber es gibt eigentlich viel zu viele solcher Tonstücke, als dass dies die wahrscheinlichste Erklärung ist. Wir schließen uns Clive Gamble an, der der Meinung ist, jemand habe Geschichten erzählt und die Tonfigurinen und Tonstücke bei seiner Performance als Requisiten benutzt. Feuerstellen waren zu einem Schwerpunkt des gesellschaftlichen Lebens geworden. Nachdem das Essen zubereitet war, ­saßen die Menschen noch lange um das Feuer und redeten, erzählten sich Mythen und vollführten Rituale. Diese Art des Umgangs mit Feuer kennen wir aus dem 21. Jahrhundert, und genauso war es vor mindestens 25.000 Jahren. Und es ist genau dieser Umgang mit dem Feuer, den man bei den Neandertalern niemals entdeckt hat. Dies ist ein wichtiger sozialer Unterschied zwischen den Neandertalern und uns, und es ist möglicherweise auch ein Unterschied im Hinblick auf das Denken und die Sprache. Der Psychologe Matt Rossano glaubt zu wissen, warum die modernen Menschen größere, länger brennende und intensivere Feuer errichteten: Sie waren ein Teil ihrer Rituale.21 Mit Ritual meint Rossano etwas, das mehr umfasst als die gewöhnliche Vorstellung vom religiösen Ritual, und zugleich etwas enger Definiertes. Rituale sind einfach durchzuführende Aktivitäten und Handlungen, die sich nach bestimmten formalisierten Regeln richten. Nach dieser Definition ist jede sich wiederholende Abfolge von Handlungen, die jemand stets auf dieselbe Art und Weise durchführt, ein Ritual – wenn beim Baseball ein Schlagmann mit seinem Schläger dreimal auf das Home Plate klopft, ihn zweimal langsam durchschwingen lässt und dann erst die Schlaghaltung einnimmt, so ist das ein Ritual. Warum er das tut? Meistens sagt man, es helfe ihm, „ins Spiel zu kommen“ und zu „fokussieren“. In kognitiver Hinsicht bedeutet beides, dass er seine Aufmerksamkeit auf das Spiel lenkt, was ihm hilft, bessere Leistung zu erzielen. Solche Rituale sind wichtige Bestandteile von Expertenleistungen jeglicher Art, auch jenen, die das Leben der Neandertaler bestimmten. Was war dann so anders bei den Ritualen des Homo sapiens sapiens? Moderne Menschen haben ihre rituellen Handlungen mindestens auf zweierlei Weise intensiviert. Erstens verbesserten sie den Fokus ihrer Aufmerksamkeit durch bewusstseinsverändernde Meditation (manchmal unterstützt durch bewusstseinsverändernde Chemikalien). Zweitens erdachten sie Gruppenrituale, bei denen viele Menschen zusammen ihre Aufmerksamkeit koordinierten. Beide hatten kurz- und langfristige Folgen für das Gehirn. 159

Studien mit Elektroenzephalographie (EEG) und funktioneller Magnet­ resonanztomographie haben deutlich gezeigt, dass Meditation die Gehirn­ aktivität verändert. Eine EEG-Studie hat demonstriert, dass erfahrene Meditierende im Stande sind, die neuronalen Aktivitäten der Stirn- und Scheitel­ lappen ihres Gehirns zu koordinieren – zu einem Grad, der weit über die Fähigkeiten normaler Individuen hinausgeht. Es gibt sogar Hinweise darauf, dass eine langjährige Erfahrung mit Meditation dauerhafte Veränderungen induziert. Einige Meditierende weisen deutlich dickere Bereiche des präfrontalen Kortex auf. Dies ist nicht allzu überraschend: Neurowissenschaftler wissen schon lange, dass das Gehirn eine gewisse Verformbarkeit aufweist und dass sich stark genutzte Bereiche leicht ausdehnen können (z. B. ist bei Streichern derjenige Bereich des motorischen Kortex, der für die Finger­ spitzen zuständig ist, größer als bei Nichtmusikern). Und welche Bereiche des Gehirns vergrößern sich bei Meditierenden? Vor allem die Bereiche des prä­ frontalen Kortex, die das Arbeitsgedächtnis, die Konzentration und die Aufmerksamkeit steuern. Meditation ist eine Art ritualisierten Denkens; indem er einer Reihe von Handlungs- und Denkmustern folgt, steuert der Meditierende seine neuronalen Ressourcen, um sich auf ein paar wenige externe oder interne Reize zu konzentrieren. Das Ziel ist ein veränderter Bewusstseins­ zustand. Man braucht einiges an Übung dazu, einfach ist es nicht. Gruppenrituale funktionieren ein bisschen anders. Das Ziel hierbei ist, dass eine Gruppe gemeinsam ein bestimmtes Maß an Bewusstseinsveränderung erreicht. Die meisten modernen Religionen weisen Gruppenhandlungen auf, bei denen einige oder alle Teilnehmer ein Gefühl der körperlosen Freude (oder des Entsetzens) erreichen wollen: die Ekstase. In Zungen zu sprechen, „errettet“ zu werden und Wunderheilungen sind nur ein paar Beispiele dafür. Psychologen und Ärzte wissen seit Langem, dass Rituale der Heilung einen sehr realen psychischen und physischen Effekt haben können. Wie wirksam ein solches Ritual ist, hängt von der Hypnotisierbarkeit des Betreffenden ab, von seiner Fähigkeit, auf die durch rituelle Performanz induzierten Suggestionen zu reagieren, und oft wird diese Fähigkeit aktiv von einem religiösen Praktiker manipuliert – einem Schamanen, einem Priester oder einem charismatischen Prediger. Die kognitiven und neurologischen Effekte sind vergleichbar mit denen bei der Meditation, und wie bei der Meditation verbessert Übung die Performanz. Der Zustand der Bewusstseinsveränderung wird von den meisten Teilnehmern einer rituellen Handlung hoch geschätzt. Seine evolu­ 160

tionäre Bedeutung ist nicht ganz so offensichtlich. Rossano weist auf die Gruppenselektion als Erklärung hin, wobei das Ritual die Gruppensolidarität und den gemeinsamen Erfolg der Gruppe steigert, aber das muss uns im ­Moment nicht kümmern. Im Moment geht es ums Feuer. Welche Rolle, wenn überhaupt, spielte bei der Entstehung dieser bewusstseinsverändernden Aktivitäten das Feuer? Vielleicht ist die Antwort ganz ­banal: Gruppenrituale fanden oft nach Einbruch der Dunkelheit statt, und die einzige Lichtquelle, die man hatte, war das Feuer – und die einzige Wärmequelle, wenn es kalt war. Aber irgendwie scheint diese banale Erklärung nicht ganz auszureichen. Warum spielt das Feuer auch eine Rolle bei Ritualen, die bei Tageslicht durchgeführt werden, an warmen Tagen oder in den Tropen? Feuer ist auf seltsame Weise lebendig. Es flackert und tanzt, und seine Kohlen scheinen zu zucken, als lebten sie. Wir vermuten, dass das Feuer Individuen und Gruppen dabei hilft, sich zu konzentrieren. Es ist visuell ­dynamisch. Es verändert sich ständig, aber es bewegt sich nicht von der Stelle, und je leichter beeinflussbar jemand ist, desto effektiver ist es. Deshalb haben die Menschen so viel Mühe darin investiert, Feuerstellen zu bauen, in denen das Feuer möglichst lange brennen konnte. Der Homo sapiens sapiens verwendete das Feuer für mehr als nur zum Kochen – er schaffte sich damit ein spirituelles Leben. Das scheint der Neandertaler nicht getan zu haben. Und das ist einer der wirklich großen Unterschiede zwischen ihm und uns.

Geschickt, aber so geschickt nun auch wieder nicht Die meisten Menschen haben schon einmal von Höhlenmalereien gehört: naturalistischen Darstellungen von Tieren auf Höhlenwänden tief unter der Erde. Diese eindrucksvollen Darstellungen haben in Kunstgeschichte-Seminaren oft den Ehrenplatz der frühesten künstlerischen Darstellungen inne. Sie gehören zu dem wenigen, das in den allgemeinen Wissenskanon der west­ lichen Kultur Einzug erhalten hat. Neandertaler malten nicht; das taten die modernen Menschen. Allein dieser Unterschied – Kunst: moderner Mensch, keine Kunst: Neandertaler – ist mitverantwortlich für das Bild vom ungehobelten, primitiven Neandertaler, das die meisten Menschen in ihren Köpfen haben. Das ist nicht fair, und zwar nicht weil die Neandertaler doch ihre ­Höhlen bemalt hätten, sondern weil nur sehr, sehr wenige moderne Menschen 161

(heute wie früher) in dunkle Höhlen kriechen, um auf nasse Höhlenwände Bilder zu malen. Die frankokantabrische Höhlenkunst, um einen Fachbegriff zu verwenden, ist ein Phänomen, das auf eine sehr kleine Region in West­ europa beschränkt ist.22 Man sollte diese Malereien nicht als notwendiges Merkmal modernen Verhaltens ansehen, obwohl zweifellos moderne Menschen ihre Urheber waren. Aber man darf fragen, ob die Neandertaler etwas Ähnliches produzierten, etwas, das man als bildliche Darstellung, Dekoration oder Ornamentik ansehen könnte, denn irgendetwas in dieser Art findet man mit nur ganz wenigen Ausnahmen bei allen modernen Menschen. Neandertaler produzierten keine bildlichen Darstellungen. Es gibt in den umfangreichen archäologischen Funden zu den Neandertalern absolut nichts, das man in irgendeiner Weise als Abbild eines Tieres oder eines Menschen interpretieren könnte – oder als Abbild von sonst irgendetwas. Dieser Mangel an Bildern ist aber unter Umständen gar kein ernstes Defizit; viele moderne menschliche Gesellschaften verfügen über keinerlei Tradition gegenständlicher Abbildungen, und einige verbieten diese sogar rundheraus. Aber praktisch alle modernen Gesellschaften verfügen über irgendeine Art der Dekoration – der äußerlichen Veränderung von Objekten, Werkzeugen und auch des menschlichen Körpers. Die Gründe für eine solche Dekoration sind vielfältig, einige demonstrieren Eigentumsverhältnisse, einige sozialen Status und Gruppenzugehörigkeit, einige sollen das andere Geschlecht anziehen, und einige dienen einfach nur der Ästhetik. Was auch immer der Grund dafür ist: Dekorationen finden sich praktisch überall in der materiellen Kultur des modernen Menschen. Und Dekorationen können archäologische Spuren hinterlassen, in Gestalt dekorierter Objekte und in Gestalt der Mittel, die zur Dekoration verwendet wurden. Die Archäologie der Neandertaler hat in diesem Zusammenhang mehrere bezeichnende Gegenstände ans Licht gebracht.23 An einigen Standorten haben Archäologen Bergkristalle geborgen, die die Neandertaler offenbar aufgehoben und nach Hause mitgenommen hatten. In der ungarischen Fundstätte Tata fanden Archäologen einen runden Flusskiesel, der einmal quer über die Oberflache einen geraden Spalt aufwies; ein Neandertaler hatte senkrecht zu diesem natürlichen Spalt einen zweiten hineingekratzt. Von zwei Fundstellen in Spanien, der Cueva de los Aviones und der Cueva Antón, kennen wir durchbohrte Muschelschalen, die höchstwahrscheinlich als ­Anhänger dienten.24 Solche Artefakte weisen darauf hin, dass die Urheber 162

einen Sinn für Muster besaßen und vielleicht auch für ihr eigenes Aussehen, aber es gibt so wenige, dass man hier kaum verallgemeinern kann. (Bis man in der Cueva de los Aviones die Anhänger fand, gab es im gesamten archäologischen Befund keinerlei eindeutige Beispiele für Neandertaler-Ornamentik.) Die Verwendung mineralischer Pigmente war weit verbreitet. Das sind Mineralien wie Hämatit und Mangandioxid, die eine deutliche Farbspur hinterlassen, wenn man sie über eine Oberfläche reibt oder zu farbigen Pulvern zermahlen kann. Das häufigste Mineral kennt man als Ocker (Hämatit), und es weist Farbtöne von Rot über Orange bis Gelb auf. Es findet sich in zahlreichen prähistorischen Fundstätten auf der ganzen Welt, und seine früheste belegte Verwendung war vor 300.000 Jahren in Afrika, zur Zeit des Homo heidelbergensis. Auch die Neandertaler verwendeten Ocker und noch häufiger Mangandioxid. In mehr als 40 europäischen Neandertaler-Stätten hat man Stücke von Mangan gefunden; von den meisten hatte man etwas abgeschabt, um ein schwarzes Pulver herzustellen, und einige waren zu spitzen Formen verarbeitet, vielleicht als eine Art Stift. Was taten die Neandertaler mit diesen Pigmenten? Es gibt zwei Möglich­ keiten, eine banale und eine provokante. Die banale Erklärung ist, dass das Pulver Teil einer bestimmten Technologie der Neandertaler war. Im südlichen Afrika mischten moderne Menschen, Jäger und Sammler, Ockerpulver mit Pflanzenabsonderungen und Bienenwachs, um einen Klebstoff herzustellen, mit dem sie Spitzen und Widerhaken an ihren Speeren befestigten. Rückstände davon finden sich an einigen solcher Werkzeuge, die über 70.000 Jahre alt sind. Vielleicht verwendeten die Neandertaler Manganpulver als Bindemittel für ihre eigenen Klebstoffe, aber es gibt keinerlei Beweis für eine solche These. Die provokativere Erklärung ist, dass die Neandertaler Manganpulver verwendeten, um etwas zu bemalen, vielleicht ihren eigenen Körper – eine Interpretation, die durch die seltenen Anhängerfunde gestützt wird. Aus kognitiver Sicht ist die zweite Erklärung sicherlich interessanter. Unser Wissen über die Technologie der Neandertaler hat bereits einiges über die Verwendung von Mehrkomponenten-Werkzeugen ergeben, und die Zugabe pulverförmiger Bindemittel passt in dieses Bild. Aber falls die Neandertaler ihre Körper bemalten und Ornamentik verwendeten, hätte das interessante Implikationen. Allgemein gesprochen ändert man sein Aussehen nicht für sich selbst; man tut es im Hinblick darauf, wie andere einen wahrnehmen. Dies erfordert zumindest eine Theory of Mind („Ich weiß, dass du mich 163

siehst“), aber es demonstriert auch die bewusste Entscheidung, seine Beziehung gegenüber anderen zu verändern. Dies beinhaltet nicht notwendiger­ weise eine bestimmte Symbolik, Schwarz und Rot müssen nicht für irgend­ etwas gestanden haben; aber es weist auf eine bewusste Kennzeichnung oder Manipulation der eigenen Rolle hin. Wir wissen es einfach nicht. Wie auch immer man dies alles einordnet – wir sollten beachten, dass dies eine uralte Verhaltensweise von Neandertaler und modernem Menschen ist, die bis auf den Homo heidelbergensis zurückgeht, der als Erster Pigmente verwendete, und zwar nicht nur in Afrika, sondern auch in Europa. Es ist etwas, das ­Neandertalern und modernen Menschen gemeinsam war. Für die Neander­ taler ging es aber nicht darüber hinaus; für die modernen Menschen kann dies die Grundlage für eine Vielzahl anderer Formen der Dekoration gewesen sein, von geometrischen Markierungen bis hin zu Perlen. Erneut erscheinen uns die Neandertaler hier eher konservativ, die modernen Menschen innovativ.

Symbole oder nicht? Wir haben uns mit Hinweisen auf Bestattungen, sozialen Gebrauch von Feuer, Ornamentik und Körperbemalung beschäftigt, weil dies alles oft ins Feld geführt wird, um auf eine gemeinsame Menschlichkeit zwischen Neandertalern und modernen Menschen hinzuweisen. Aber wenn man diese Interpretation genau unter die Lupe nimmt, ist sie nicht stichhaltig. Sicher, es gibt Ähnlichkeiten. Die Neandertaler widmeten sich mit einiger Sorgfalt ihren Toten; sie benutzten Feuer, um sich zu wärmen und Nahrung zuzubereiten; sie verwendeten Pigmente und, zumindest gelegentlich, persönliche Ornamente. Aber die Unterschiede sind frappierend. Die Behandlung ihrer Leichname war bei den Neandertalern minimal; sie nutzten Feuer nicht für erweiterte soziale Interaktionen; und sie hatten keine aufwendige Ornamentik-Tradition. Aus kognitiver Perspektive stimmen die dürftigen Beweise, die wir für die Verwendung von Symbolen bei den Neandertalern haben, mit unserem Bild der klein angelegten, körperbezogenen sozialen Kognition überein, die wir in Kapitel 4 vorgestellt haben. Der Umgang mit Leichnamen zur Minderung von Trauer und die Bemalung des eigenen Körpers passen gut zu einem Lebensstil, der auf face-to-face-Interaktion basiert, auf Gesten, Berührungen und emotionaler Vokalisierung. Das Nichtvorhandensein großformatiger 164

Feuer ist ein Hinweis darauf, dass die Neandertaler über keine narrative Tradition verfügten und über keine symbolträchtigen Rituale. Wie wir es schon in anderer Hinsicht bemerkt haben, scheint das Denken der Neandertaler auch in diesem Zusammenhang eher konkret und im Hier und Jetzt verankert gewesen zu sein. Sie dachten auch an die Zukunft (warum sollten sie sich sonst mit ihren Toten beschäftigen?), aber dieses Denken war in seinem Umfang stark begrenzt. Ihre Tendenz, sich auf Expertensysteme zu verlassen, bedeutet, dass sie ihre kognitiven Ressourcen echten Lösungen realer, materieller Probleme widmeten. Das Leben der Neandertaler war nicht von Symbolen bestimmt. Vielleicht besaßen sie ein paar wenige Komponenten symbolischer Kultur, z. B. könnte es sein, dass sie Pigmente für bewusste Abbildungsprozesse verwendeten. Aber hierauf haben wir nur sehr wenige Hinweise. Die Belege für Symbolik bei den Neandertalern passen am besten in ein soziales Modell, bei dem eine wichtige Komponente die persönliche Erscheinung war. Das wiederum bestärkt uns auch in dem Glauben, dass die Neandertaler eine funktionierende Theory of Mind („Ich weiß, dass du weißt, dass ich weiß“) besaßen. Doch dies allein stellt keinen ausgiebigen Gebrauch von Symbolen dar. Ein äußerst wichtiges Puzzleteil des symbolischen Lebens der Neander­ taler haben wir indes bisher ausgeklammert: die Sprache. Sie steht im folgenden Kapitel im Mittelpunkt.

165

6 (In) Zungen sprechen Als wir beide vor über zehn Jahren begannen, zusammenzuarbeiten, meinte der Archäologe von uns beiden (TW), zunächst einmal zwei Dinge klarstellen zu müssen: Neandertaler „mache“ er nicht, und er „mache“ auch keine Sprachevolution. Es war mitnichten so, dass er hier aufgrund eines Mangels an Hintergrundwissen Aversionen hegte (immerhin hatte er sich im Studium mit anthropologischer Linguistik beschäftigt). Er wollte sich ganz einfach nicht auf etwas einlassen, bei dem man sich ziemlich leicht in Themen verzetteln kann, die für viel Diskussion sorgen, aber wenig Erleuchtung bringen. Offensichtlich hat er sich den Neandertalern dennoch nicht entziehen können. Und trotz seiner anhaltenden Bedenken stimmt er mittlerweile zu, dass es für die Zwecke dieses Buchs unerlässlich ist, den Bereich der Sprachevolution anzusprechen. Die Sprache ist und bleibt eine wirklich einzigartige und exklusive menschliche Begabung. Kein anderes Tier – weder Schimpansen noch Schwertwale noch Papageien – nutzt eine Form der Kommunikation, die auch nur vage einer gesprochenen Sprache ähnelt. Viele Wissenschaftler sind sogar der Meinung, dass die Sprache das entscheidende Merkmal ist, das den Menschen zum Menschen macht. Wenn wir die Neandertaler mit modernen Menschen vergleichen wollen bzw. wenn wir dokumentieren möchten, wie menschlich sie waren, müssen wir versuchen, die Sprache der Neandertaler zu dokumentieren. Hatten sie eine Sprache oder nicht? Wenn nicht, haben sie auf eine bestimmte Weise kommuniziert, die der modernen Sprache ähnelte? Diese Fragen zu beantworten ist schwierig, vielleicht sogar unmöglich. Aber bevor Sie glauben, wir wollen uns selbst den Wind aus den Segeln nehmen, müssen wir zunächst einmal definieren, was Sprache ist. Selbst wenn wir uns an dieser scheinbar so einfachen Aufgabe versuchen, werden wir zweifellos viele Sprachevolu­ 166

tionsforscher vor den Kopf stoßen, aber das können wir kaum vermeiden. Sprache an sich ist nämlich ein viel subtileres und komplexeres Gebiet, als den meisten Menschen bewusst ist.

Sprechen für Anfänger Es gibt drei wichtige Komponenten der Sprache sowie einige verwandte kognitive Komponenten, die mit der Sprachübermittlung zu tun haben.

Wörter „TÖTEN – LA COTTE – MAMMUT – DU – ICH“ – jedes dieser Worte ist ein Symbol, es bezieht sich auf etwas ganz Bestimmtes. Wenn Sie das Wort „Mammut“ hören oder es geschrieben sehen, entsteht in Ihrem Geist ein Bild oder eine Idee dieses Tiers. Wie genau das Gehirn dies vollbringt, ist auch eine interessante Geschichte, aber für die aktuelle Diskussion wollen wir einfach akzeptieren, dass es das tut. Mit Wörtern kann man Dinge und Ideen evozieren, die momentan nicht greifbar oder unmittelbar wahrnehmbar sind; damit sollte ihr Nutzen in der Kommunikation klar sein. Natürlich beziehen sich die Wörter in unserem Beispiel nicht auf Dinge derselben Kategorie. „Mammut“ und „La Cotte“ sind ziemlich eindeutig – das eine ist eine Tierart und das andere ein bestimmter Ort; beiden kann man recht einfach ein Etikett aufdrücken (vorausgesetzt, dass man beides kennt). „Töten“ ist in seiner Referenz nicht so spezifisch; das Wort geht davon aus, dass Sprecher und Hörer über den Tod Bescheid wissen. „Du“ und „ich“ besitzen keine permanente Referenz: Wenn ich „ich“ sage, meine ich damit etwas anderes, als wenn Sie „ich“ sagen. Diese Unterscheidungen zwischen verschiedenen ­Arten von Wörtern bedeutet, dass ihre einfache Aneinanderreihung, wie in unserem obigen Beispiel, eine Menge kommunikatives Potenzial birgt. Wir sind nicht die einzigen Tiere, die das können. Grüne Meerkatzen verwenden verschiedene Laute, um andere vor verschiedenen Feinden zu warnen.1 Ein bekannteres Beispiel: Diversen Menschenaffen hat man beigebracht, Wörter zu benutzen (in der Regel in Form von visuellen Mustern, die man Lexigramme nennt), um mit Menschen zu kommunizieren. Sie lernen dabei den Unterschied zwischen Substantiven und Verben und sogar zwischen ­weniger konkreten Referenzen wie „froh“ und „traurig“. Besonders begabte 167

Affen erwerben einen Wortschatz von mehreren Hundert Wörtern. Sie ­können sogar verschiedene Wörter in der richtigen Reihenfolge miteinander verbinden und wissen, dass „Kanzi gibt Bob Trinken“ etwas ganz anderes bedeutet als „Bob gibt Kanzi Trinken“. Die Wortstellung ist kein Merkmal der Wörter selbst, sie ist ein Merkmal der Syntax, und dass die Affen sie verwenden, zeigt an, dass sie lernen können, auch diese zweite Komponente der Sprache zu verstehen. Es gibt jedoch auch ein paar Wörter, mit denen die Affen echte Schwierigkeiten haben: Das sind Wörter wie „der“ und „ein.“2 Diese weisen eine ziemlich außergewöhnliche Referenz auf – zumindest aus der Sicht eines Affen. In gewisser Weise stehen sie nämlich für nichts, aber dennoch beeinflussen sie den Sinn, vor allem durch die Regeln einer Sprache.

Regeln „’Twas brillig and the slithy toves did gyre and gimble in the wabe.“ Die meisten des Englischen Kundigen haben keine Schwierigkeiten, dies als einen akzeptablen Satz in englischer Sprache anzuerkennen, und vermögen sogar einen bestimmten Sinn darin zu erkennen – obwohl es sich um Nonsens handelt. Tatsächlich liegt sein unbestrittener Charme weitgehend am Fehlen einer klaren Referenz seiner Schlüsselwörter. Wie kann dies also Englisch sein – oder überhaupt Sprache? Die Antwort ist: Der Satz folgt den Regeln der englischen Sprache. Sehen wir uns einmal die wichtigsten Wörter an, die Adjektive, Substantive und Verben. Erstens: „slithy“. Wir wissen, dass dies ein akzeptables englisches Wort ist, weil es den Regeln der Laut­ bildung im Englischen folgt, „s“ und „l“, gefolgt von einem Vokal, ist im Englischen eine ganz gewöhnliche Gruppierung (z. B. „slug“, „slippery“), Gleiches gilt für „th“ und „y“. Das Wort „mbwa“ würde nicht funktionieren, denn „m“, „b“ und „w“ finden sich im Englischen niemals hintereinander am Anfang eines Wortes (wohl aber im Swahili). Wir wissen auch, dass ­„slithy“ ein Adjektiv ist, das „toves“ definiert, aufgrund seiner Stellung im Satz und der Tatsache, dass es auf „y“ endet, wie es viele Adjektive tun. Gleiches gilt für „brillig“, „gyre“, „gimble“ und „wabe“ – alle diese Wörter folgen den englischen Regeln zur Bildung von Wörtern, auch wenn sie keine bekannte Referenz aufweisen. (Wir werden an dieser Stelle ignorieren, dass bestimmte Klangkombinationen im Englischen dazu neigen, bestimmte Emotionen zu wecken und sogar ein paar vage Referenzen.) Die kleineren Wörter in diesem Satz – „’twas“, „and“, „the“, „did“, „in“ – sind allesamt 168

Wörter, die diesen Satz, durch Wortstellung, in grammatikalischer Hinsicht zu einem Satz in englischer Sprache machen. Sie geleiten den Leser (oder Hörer) durch diese Abfolge von Wörtern. In diesen ersten zwei Versen seines Gedichts Jabberwocky hat Lewis Carroll ein vollkommen verständliches Stück Nonsens geschaffen, indem er die Regeln des Englischen genutzt hat, ohne bestimmte Referenzen zu erzeugen. Mit anderen Worten: Die Regeln einer Sprache sind mächtig genug, um ohne konkrete Anhaltspunkte jeglicher Art Sinn zu erzeugen. Die Syntax, die Regeln für die Aneinanderreihung von Wörtern, organisieren diese Wörter, und wenn die Regeln der Syntax die über 30.000 Wörter eines typischen Wortschatzes organisieren, ist das Ergebnis ein unglaublich potentes Werkzeug, um sich auszudrücken. Jeder normale menschliche Sprecher ist in der Lage, einen Satz auszusprechen, den noch nie zuvor jemand gesprochen hat – „Der Jazz-Fagottist spielte Bach in einem funky Stil“ –, und das macht ihm keine oder kaum Mühe; Linguisten benennen dies mit dem uninspirierten Begriff Produktivität. Jeder normale Sprecher ist in der Lage, alles in seiner Welt zu beschreiben und sogar Welten, die er sich nur ausgedacht hat.

Verwendung Als ob Wörter und Syntax allein nicht subtil und mächtig genug wären, verfügen alle bekannten Sprachen zudem über verschiedene Modi, mit denen die Sprache bestimmte Dinge ausdrücken kann. Einige sind einfach und unkompliziert, z. B. Ausrufe wie „Mist!“, die ziemlich deutlich den emotionalen Zustand einer Person zum Ausdruck bringen (von daher ähneln sie jeder ­anderen Vokalisierung von Primaten, deren primäre Referenz der eigene emotionale Zustand ist). Mit Hilfe der Sprache können wir Fragen stellen („Wo ist Bruce?“) und Befehle aussprechen („Gib mir zu essen!“), beides relativ unkomplizierte Manipulationen von Informationen. Es geht durchaus subtiler. Sprache kann Aufmerksamkeit auf Dinge lenken („dieses Buch hier“) und Hypothetisches ausdrücken („wenn ich König wäre“). All diese verschiedenen Funktionen werden durch bestimmte Regeln (z. B. ergibt die Kombination von „ich“ und „wäre“ im Deutschen einen Konjunktiv) oder bestimmte Wörter angezeigt oder durch beides, aber die Modi spiegeln auch verschiedene Dinge, die eine Sprache aufgrund ihrer ­Entwicklung zu leisten vermag. Auf einer noch subtileren Ebene ist jeder Muttersprachler in der Lage, seine Wortwahl unzähligen verschiedenen Situationen sozialer 169

­Interaktion ­anzupassen. Einem Polizisten gegenüber verwendet man eine ganz andere Art zu sprechen als ein paar Minuten früher in einer Bar seinen Freunden gegenüber. Linguisten bezeichnen dies als Code Switching, und wir alle tun es weitgehend unbewusst. Jeder Einzelne von uns benutzt viele verschiedene Sprachen, die sich leicht voneinander unterscheiden. Ein kurzes Zwischenfazit: Die Sprache ist eine äußerst raffinierte und subtile Form der Kommunikation. Sie ist für unser modernes Leben von zentraler Bedeutung, ohne sie könnten wir nicht existieren. Und die Neandertaler? Besaßen sie auch ein Vehikel wie die Sprache? Wenn ja, war diese anders als unsere? Dies sind durchaus wichtige Fragen, aber sie sind sehr schwer zu ­beantworten. Wie Sie sich vorstellen können, existiert ein ernsthaftes wissenschaftliches Interesse an der Entwicklung der Sprache allgemein3 und insbesondere der Sprache der Neandertaler. Es gibt einen ganzen Berg Literatur dazu, die vielfach interessant ist, aber selten schlüssig. Es gibt zwei große Hürden, wenn man die Entwicklung der Sprache dokumentieren möchte: Erstens verwendet kein lebendes Tier außer dem Menschen eine Form der Kommunikation, die auch nur im Entferntesten der Sprache ähnelt; und zweitens ist die Sprache an sich weder durch Fossilien noch oder archäologische Funde belegbar, zumindest nicht bis zum Aufkommen der Schrift. Das bedeutet, dass die beiden wichtigsten Methoden der Evolutionsforschung, die Paläontologie und die vergleichende Methode, uns hier nicht wirklich etwas zu bieten haben. Wir können keine Tiere beobachten, die eine Art Prä- oder Protosprache verwenden, und wir haben keine Beispiele für Prä- oder Protosprachen der Vergangenheit. So bleiben uns nur zwei Alternativen: die Entwicklung von Anatomie und Verhalten zu dokumentieren, die irgendwie mit der Sprache in Verbindung stehen, und vom Wesen der Sprache selbst ausgehend ihre Entwicklung zu untersuchen. Keiner dieser beiden Ansätze hat ein klares Bild von der Sprache der Neandertaler ergeben. Die Verwendung gesprochener Sprache hat mit ziemlicher Sicherheit die Selektion bestimmter anatomischer und neurologischer Funktionen begünstigt, deren Evolution im Prinzip wiederum die Evolution der Sprache an sich beleuchten könnte. Es ist z. B. sehr wahrscheinlich, dass der Sprechvorgang zur Entwicklung effizienter anatomischer Details für die Herstellung einer reichen Palette von Klängen und zu einem sensiblen System zur Erkennung 170

von Lauten geführt hat.4,5 Leider ist keines dieser anatomischen Details – Stimmbänder, Kehle, Zunge, Lippen, Hörschnecke – in fossiler Form erhalten. Paläoanthropologen haben ernsthafte Versuche unternommen, Veränderungen in den Knochenstrukturen zu beschreiben, die diese Sprechorgane unterstützen (z. B. das Zungenbein), aber leider war das Ergebnis, ehrlich gesagt, enttäuschend. Wir können nicht genau bestimmen, welche fossile Menschenform als Erste gesprochen hat, und, was für unsere momentane Aufgabe noch relevanter ist, wir können auch nicht bestimmen, inwieweit sich Sprache und Gehör der Neandertaler von unseren unterschieden. Angesichts der Unterschiede zwischen den Gesichtern der Neandertaler und unseren vermuten wir, dass ihre Stimmen ein wenig anders klangen als unsere und dass der Umfang der Konsonanten und Vokale, die sie generieren konnten, anders war; aber nichts, was wir über die Anatomie der Neander­taler wissen, widerspricht der Annahme, dass sie sprechen konnten. Der ­Ausguss fossiler Schädel erbrachte auch keinen weitergehenden Befund. Wir wissen, dass das moderne Gehirn die Sprachproduktion durch einen Bereich des ­unteren linken Frontallappens steuert, den man Brocasche Sprachregion nennt, und dass unsere Brocasche Sprachregion im Vergleich zu der anderer Primaten bei uns vergrößert ist.6 Wenn wir also bei fossilen Schädeln Hinweise auf eine Vergrößerung der Brocaschen Sprachregion feststellen können, ist das doch ein brandheißer Hinweis, oder nicht? Leider ist es wieder nicht ganz so einfach. Bei nichtmenschlichen Primaten steuert dieser Bereich des Gehirns nämlich das Greifen mit den Händen, jene Art motorischer ­Aktion, mit der man auch Werkzeuge herstellt. Und der erste Hinweis auf eine erweiterte Brocasche Sprachregion bei fossilen Hominiden fällt mit dem ersten Auftreten von Steinwerkzeugen zusammen. War es also Sprache oder waren es Werkzeuge? Wir wissen es nicht. Der positive Aspekt ist, dass eine erweiterte Brocasche Sprachregion für alle Hominiden nach dem Homo erectus schlüssig bewiesen worden ist, auch für den Neandertaler. Dies deutet darauf hin, dass der Neandertaler eine Sprache besaß, aber es sagt uns nicht, wie ähnlich diese Sprache der unseren gewesen sein mag. Die Steinwerkzeuge bieten uns hier zumindest ein bisschen Hilfe. Es gab eine verständliche Hoffnung seitens der Archäologie, dass Gesetzmäßig­ keiten in der Herstellung von Steinwerkzeugen ein von Regeln bestimmtes Denken widerspiegeln könnten und dass man von solchen Regeln wiederum auf das Vorhandensein grammatikalischer Regeln schließen könnte. Wenn 171

dem so ist, hätten die Abermillionen Steinwerkzeuge, die Archäologen geborgen haben und die eine Zeitspanne von 2,5 Millionen Jahren umfassen, einiges Interessante zu erzählen. Doch leider ist die technische Kognition, wie wir in Kapitel 3 erläutert haben, weitgehend unabhängig von der Sprache, und die offensichtlichen Gesetzmäßigkeiten der Steintechnologie entstammen einer ganz anderen Denkweise als die Regeln der Syntax. Wie unterschiedlich Technologie einerseits und Sprache andererseits erlernt werden, ist besonders aufschlussreich: Kleinkinder lernen eine Syntax ganz automatisch und ohne jede Mühe, wenn sie in einem sprachlich orientierten Umfeld aufwachsen; aber Kinder wie auch Erwachsene benötigen Jahre engagierten Übens, um eine komplexe Technologie zu verinnerlichen. Dennoch eröffnet uns gerade das Lernen einen möglichen Weg vom Steinwerkzeug zur Sprache: Einige Techniken, z B. die Levallois-Technik, könnten verbale Anweisungen erfordert haben. Dies ist ein ganz vernünftiges Argument (obgleich es stärker wäre, wenn die Befürworter dieser These angeben könnten, was genau dabei solche verbalen Anweisungen erforderte) und bestätigt den Verdacht der Schädel­ausgüsse, dass die Neandertaler irgendeine Form verbaler Kommunikation gehabt haben könnten, die zumindest faktisches Wissen vermittelte. Die Verwendung von Ocker und Mangandioxid hat ebenfalls provokante Thesen gezeitigt.7 Wenn die Neandertaler ihren Körper bemalten und gelegentlich Ornamente verwendeten, um ihr Aussehen anderen gegenüber zu verändern, würde dies nicht nur auf das Vorhandensein der Theory of Mind hindeuten, sondern auch auf eine bestimmte Art der Symbolik. Vielleicht standen die Farben oder Muster (aber vergessen Sie nicht: wir haben keine konkreten Beispiele für Letzteres) für etwas – Wildheit oder Anführerschaft oder sexuellen Status. Dies entspräche der Symbolik von Wörtern, die auch jeweils für etwas anderes stehen (wobei das „andere“ gerade gar nicht in Sichtweite sein muss).8 Aber das ist eine wenig abgesicherte Kette von Annahmen, von einem abgeschabten Klumpen Mangan hin zu einem Wortschatz, und wir vergeben dem Leser, wenn er hier ein wenig skeptisch ist. Der Einsatz von mineralischen Pigmenten weist darauf hin, dass Neandertaler Farben sozusagen als visuelle Informationen verwendet haben, und das ­ähnelt dem Gebrauch von Wörtern. Eine Sprache im modernen Sinn er­ fordert es indes nicht. Für eine allgemeine Untersuchung der Evolution von Sprache ist die Kenntnis der Kommunikationsmittel anderer Spezies von entscheidender 172

Bedeutung. Sie zeigt die Vielfalt der verschiedenen Kommunikationssysteme auf, die sich entwickelt haben, und auch die Umstände ihrer Entwicklung. Die Wissenschaft weiß heute eine Menge über die Kommunikation bei Bienen, Vögeln, Walen, Primaten und vielen anderen Tieren. Und wir wissen, wie bereits erwähnt, dass kein einziges Tier über ein Kommunikationssystem verfügt, das auch nur im Entferntesten unserer Sprache ähnelt. Aber unser Verständnis der Kommunikation bei Tieren, insbesondere Affen und Menschenaffen, bietet uns wertvolles Material, um über die Evolution von Sprache nachzudenken. Dies ist besonders relevant für das Verständnis früher Hominiden. Weniger hilft es uns indes für den Neandertaler, der ein Zeitgenosse des Homo sapiens sapiens war und in evolutionärer Hinsicht genauso weit von den Affen entfernt wie wir. Wir sind also auf die Sprache selbst angewiesen. Die Linguistik hat sich der Evolution der Sprache dadurch genähert, dass sie untersucht hat, wie Kinder Sprache erwerben, wie sich Sprachen voneinander unterscheiden und wie sich neue Sprachen wie Pidgin- und Kreolsprachen entwickeln. Durch solcherlei Studien wissen wir, dass Kinder die angeborene Fähigkeit des Sprach­ erwerbs besitzen: Wenn sie in einem Umfeld aufwachsen, das eine Sprache verwendet, dann erlernen Kinder diese ebenfalls, ohne jegliche Mühe. Diese Fähigkeit muss sich irgendwann im Laufe der menschlichen Evolution entwickelt haben. Die Linguistik weiß auch, dass es keine menschliche Sprache gibt, die komplexer oder weniger komplex ist als irgendeine andere. In letzter Zeit konnte man viel über den südamerikanischen Stamm der Pirahã lesen, und man wusste zu vermelden, dass dessen Sprache diverse syntaktische Funktionen vermissen lässt, von denen man lange dachte, dass alle menschlichen Sprachen sie besäßen (das markanteste Beispiel ist die Rekursion, die Fähigkeit, ein Element in eine andere Instanz des gleichen Elements einzubetten, z. B.: „John sagte, dass Bob sagte, dass …“).9 Selbst wenn dem so ist, lässt sich aus der Sprache der Pirahã nicht notwendigerweise irgendetwas hinsichtlich der Sprachentwicklung ableiten. Die Pirahã sind umgeben von anderen Stämmen, die solche universellen sprachlichen Elemente besitzen, und sie sind mit diesen Stämmen sogar verwandt. Alle südamerikanischen Ureinwohner sind in evolutionärem Sinn Neuankömmlinge (sie sind vor weniger als 15.000 Jahren eingewandert), und ihre Vorfahren besaßen eine Sprache, die bereits all die zu erwartenden syntaktischen Komplexitäten einer modernen Sprache aufwies (und die alle Sprachen außer der der Pirahã 173

immer noch besitzen). Die außergewöhnlichen Merkmale der Pirahã-Sprache stellen eine jüngere Entwicklung dar. Pidginsprachen haben Linguisten schon immer fasziniert, denn sie bilden sich, wenn zwei Sprachen miteinander in Kontakt kommen und zur Interaktion ein funktionierendes Kommunikationssystem bilden müssen. Zumindest anfänglich sind Pidginsprachen in grammatikalischer Hinsicht eher einfach gestrickt. Aber wenn Kinder anfangen, eine Pidginsprache zu ­lernen, werden sie schnell zu Kreolsprachen, die komplette, komplexe Sprachen sind. Mit Hilfe der Erkenntnisse aus Pidgin- und Kreolsprachen hat der Linguist Derek Bickerton ein Modell aufgestellt, wie eine Protosprache hätte aussehen können.10,11 Im Grunde genommen besteht Bickertons Protosprache aus Wörtern ohne Organisation durch syntaktische Regeln. Ohne weitere Hinweise liefert also die Wortfolge „TÖTEN – LA COTTE – MAMMUT – DU – ICH“ die gleichen Informationen wie „MAMMUT – TÖTEN – LA COTTE – DU – ICH“. Ganz klar: Je mehr Wörter eine Protosprache besitzt, desto größer die potenzielle Verwirrung; aber der Kontext und an­dere Indizien können Verwechslungen deutlich reduzieren helfen, und so kann auch eine Protosprache sehr effektiv sein.

Die vokale Kommunikation der Neandertaler Das Kommunikationsvehikel der Neandertaler muss anders ausgesehen haben als die modernen Sprachen. Wir haben schon öfter in diesem Buch darauf hingewiesen, dass die Neandertaler keine Station in der Evolution darstellen, die dem modernen Menschen vorausging. Sie verfügen über eine eigene Evolutionsgeschichte, die sich über mehrere Hunderttausend Jahre erstreckt, und während dieser Zeit entstand eine Reihe abgeleiteter Merkmale, die nicht mit dem Homo sapiens sapiens übereinstimmen. Zur selben Zeit entwickelte sich, einen Kontinent entfernt, der moderne Mensch. Zweifellos besaßen Neandertaler und Homo sapiens sapiens zahlreiche Merkmale, die sie beide von ihren gemeinsamen Vorfahren geerbt hatten, und das waren eben auch bestimmte Merkmale der Kommunikation. Um es anders auszudrücken: Alle Merkmale, die wir mit Sicherheit sowohl dem Neandertaler als auch dem Homo sapiens sapiens zusprechen können, haben beide vom Homo heidelbergensis geerbt. Falls der Homo heidelbergensis über Wörter und 174

S­ yntax im modernen Sinn kommuniziert hat, dann können wir sicher sein, dass der Neandertaler das auch tat. Die meisten Forscher halten dies indes für höchst unwahrscheinlich, vor allem weil das Gehirn des Homo heidelbergensis ein wenig kleiner als unseres und das der Neandertaler war, aber auch, weil die archäologischen Funde zum Homo heidelbergensis viel weniger „modern“ sind. Wir müssen daraus schließen, dass sich die Kommunikation der Neandertaler ganz für sich entwickelte und diese Entwicklung ganz anders war als die bei unseren Vorfahren. Der Unterschied zwischen diesen Kommunikationsmitteln muss viel größer gewesen sein als beispielsweise der zwischen Chinesisch und Englisch oder überhaupt zwei verschiedenen menschlichen Sprachen. Es wird kaum möglich sein, festzustellen, wie genau sich die Kommunikation der Neandertaler von unserer unterschied, zumindest nach unserem derzeitigen Verständnis. Aber wir können immerhin ­versuchen, einige allgemeine Merkmale der Neandertaler-Kommunikation zu bestimmen, auf Basis unserer Erkenntnisse aus vergleichenden fossilen und archäologischen Befunden. Wie wir in den vorangegangenen Kapiteln zu zeigen versucht haben, weisen die paläoanthropologischen Funde darauf hin, dass die Neandertaler zwei Arten des Denkens verwendeten: Expertenwissen und körperbezogene Kognition. Zumindest sind dies die kognitiven Stile, die am besten erfassen, was wir über das täglichen Leben der Neandertaler wissen. Und sie implizieren auch einiges hinsichtlich ihrer Kommunikation. Die Neandertaler waren Experten im Steinabschlagen, verließen sich auf ihre genaue Kenntnis der Landschaft und einen umfassenden Kanon an Jagdtaktiken. Möglich, dass all dieses Wissen als nichtsprachliches Wissen existierte und durch motorische Tätigkeiten erlernt wurde, durch Beobachtung, trial and error. Wir halten das für weniger wahrscheinlich. Mit Wörtern hätte es ein erfahrener Steinabschläger wesentlich leichter gehabt, die Aufmerksamkeit eines Lehrlings zu steuern, damit er die Levallois-Technik lernte. Noch nützlicher wären Wörter gewesen, um landschaftliche Merkmale ihres Territoriums und vielleicht ­sogar bestimmte Routen zu beschreiben, was vor allem für die Jäger nützlich gewesen wäre. Um weit voneinander entfernt lebende Gruppen auf Nahrungssuche an einem bestimmten Ort zu versammeln (wie z. B. in La Cotte), wäre eine Kommunikation durch Wörter sogar fast zwingend erforderlich. Besonders wichtig aber wäre die Möglichkeit gewesen, vor ihrer Ausführung bestimmte Jagdtaktiken anzuzeigen. Irgendeine Art Kennzeichnung müssen 175

sie dafür gehabt haben. Wir vermuten, dass die Wörter der Neandertaler stets in einen größeren sozialen und umweltbezogenen Kontext eingebunden waren, der bestimmte Gesten (z. B. durch Zeigen) und einen emotionsgeladenen Tonfall umfasste, so wie auch ein großer Teil der vokalen Kommunikation des Menschen – eine Funktion der Kommunikation, die beide wohl vom Homo heidelbergensis geerbt haben. Auf die Gefahr hin, uns noch weiter aus dem Fenster zu lehnen, als wir beide es ohnehin dauernd tun, stellen wir folgende Thesen zur Kommunikation der Neandertaler auf: 1. Die Neandertaler verfügten über eine Sprache. Dass ihr Gehirn eine erweiterte Brocasche Sprachregion aufwies und dass sie das menschliche FOXP2-Gen besaßen, legt dies nahe. Die Sprache der Neandertaler basierte wahrscheinlich auf einem großen (vielleicht sogar sehr großen) Wortschatz. Sie hatten Wörter für Orte, Routen, Techniken, Individuen und Emotionen: Wir haben gezeigt, dass sich das Expertenwissen der ­Neandertaler weitgehend des Langzeitgedächtnisses bediente. Ein Großteil dieser Informationen war in Form von Tätigkeiten gespeichert, aber wir vermuten, dass ein ebenso großer Teil dieser Handlungsanweisungen als verbales Wissen existierte, in Form von Wörtern. 2. Viele dieser Wörter bildeten vorgefertigte Phrasen, die ebenfalls im Langzeitgedächtnis gespeichert wurden, ähnlich wie unsere modernen Redewendungen und Sprichwörter (in der Art von: „Wer zuerst kommt, mahlt zuerst“). 3. Die Sprache benötigte umweltrelevante und soziale Informationen, um Mehrdeutigkeiten von Wortclustern zu vermeiden. Kontextbezogene Indizien können sehr effektiv sein. Amerikanische Leser erinnern sich vielleicht an einen TV-Werbespot, in dem fünf junge Leute in einem Auto sitzen und alle nur ein einziges Wort verwenden („dude“) – und dennoch gelingt ihnen eine (für sie selbst und für Außenstehende) verständliche Unterhaltung. 4. Die Sprache der Neandertaler verwendete regelmäßig Fragen, Befehle, Ausrufe und vielleicht auch Richtungsbezüge. Die Unterschiede könnten mittels „Aspekt“-Wörtern oder morphologischen, vielleicht sogar grammatikalischen Regeln markiert worden sein – vielleicht aber auch durch den Kontext oder eine Änderung des Tonfalls oder sogar bestimmte Gesten. 176

5. Mittels ihrer Sprache konnten die Neandertaler neue Situationen beschreiben, z. B. wenn sie die Begriffe für bestimmte Tiere und Orte neu miteinander kombinierten. Zumindest auf diese Weise muss ihre Sprache in der Lage gewesen sein, neue Gedanken auszudrücken (ein Vorgang, den die Linguistik Produktivität nennt). Aber angesichts der Tatsache, dass sie sich vor allem auf ihr Langzeitgedächtnis verließen, war ihre Produktivität wahrscheinlich darauf beschränkt, eine große Anzahl lexikalischer Elemente und Phrasen neu zu ordnen. Ein solches Kommunikationssystem könnte eine sehr große Menge kontextbezogener Informationen aufweisen; dennoch wäre es in Ermangelung geeigneter Signale weniger gut dazu in der Lage, entferntere Referenzpunkte zu beschreiben, als moderne Sprachen dies können. Die Sprache der Neander­ taler war direkt und handlungsorientiert. Sie war in der Lage, sich auf Ereignisse in der Vergangenheit oder in der Zukunft oder auch an entfernten ­Orten zu beziehen, aber nur in Bezug auf einen Kontext, der Sprecher und Hörer miteinander verband. Es gibt keinen Grund zur Annahme, dass die Neandertaler aufwendige Geschichten oder Mythen konstruierten. Erinnern Sie sich daran, dass das Feuer bei den Neandertalern nicht die gleiche soziale Rolle spielte wie bei den modernen Menschen. Außerdem gab es bei ihnen nur wenige Interaktionen mit benachbarten territorialen Gruppen und daher auch wenig Grund dafür, eine Sprache zu verwenden, mittels der sie mit Fremden oder auch nur Bekannten interagieren konnten.12 Das Bild, das wir in diesem Kapitel von der Sprache der Neandertaler entworfen haben, ist äußerst grob und orientiert sich an dem, was wir aufgrund paläoanthropologischer Befunde über ihr Leben wissen. Es kann gut sein, dass die Sprache der Neandertaler komplexer und subtiler war, als es dieses Bild suggeriert. Vielleicht wies sie Funktionen auf, die die Neandertaler seit der Zeit des Homo heidelbergensis entwickelt hatten und die die moderne Sprache gar nicht kennt. Für Funktionen, die über das hinausgehen, was wir hier vorgestellt haben, gibt es aber keine Beweise.

177

7 Kommt ein Neandertaler in eine Kneipe

„Es ist ja nicht nur, dass er aufrecht geht und komplexe Werkzeuge benutzen kann. Er bringt mich auch zum Lachen.“

Konnten die Neandertaler lächeln oder lachen? Haben sie Witze erzählt? Eine der größten Schwierigkeiten bei allen Spekulationen über den Humor der Neandertaler ist, dass ein Großteil des modernen Humors mit bestimmten Eigenschaften der Sprache zusammenhängt (Kalauer, Wortspiele, Malapropismen usw.), und wie wir in Kapitel 6 gesehen haben, unterschied sich die Sprache der Neandertaler ziemlich sicher von unserer. Aber es gibt auch nichtsprachlichen Humor. Zum Lächeln und zum Lachen braucht man keine Sprache; Babys können schon mit 2 Monaten lächeln, und sie lachen (oder kichern) mit 4 Monaten, wenn man mit ihnen Kuckuck spielt (und auch die Erwachsenen dabei lachen). Und wie ist es bei Schimpansen und anderen Affen? Können sie lächeln und lachen? Ja, sie verfügen über einen fröhlichen 178

Gesichtsausdruck, der ganz anders aussieht als ihr wütendes Gesicht.1 Natürlich erzählen sie sich keine Witze, aber sie bringen sich gegenseitig zum ­Lachen – durch Kitzeln, Necken und Spielen. Also muss unsere erste Schlussfolgerung lauten, dass die Neandertaler ziemlich wahrscheinlich lächeln und lachen konnten, und das geschah vermutlich, wenn sie einander kitzelten, neckten oder zusammen spielten. Schimpansen lachen sogar, wenn sie an den gleichen Stellen gekitzelt werden wie Menschen, also lachten vermutlich auch die Neandertaler, wenn sie ­einander in den Achseln, am Bauch und an den Fußsohlen kitzelten. Können Sie sich vorstellen, dass ein Neandertaler einem anderen auf den Bauch blies, um ihn oder sie zum Lachen zu bringen? Und doch ist das ein ganz wahrscheinliches Szenario.

Aber konnten die Neandertaler witzig sein oder Witze erzählen? Die schwierigere Frage ist, ob die Neandertaler absichtlich humorvolle Situationen schufen, um den Betrachter zum Lachen zu bringen (indem sie sich witzig verhielten, aber ohne Kitzeln, Necken und Spielen), und ob sie in der Lage waren, Witze zu erzählen. Ersteres könnte man physischen Humor oder Slapstick nennen, und es würde eher den Späßen der drei Stooges ähneln, die sich gegenseitig stupsten oder schlugen und komische „Unfälle“ verursachten, durch Umfallen oder das Zerstören von Mobiliar. Es gibt so gut wie keine wissenschaftliche Literatur darüber, ob die Neandertaler diese Art von ­Humor verwendeten – mit einer Ausnahme. Der Archäologe Steven Mithen meint, dass die Neandertaler bestimmte Arten humorvoller Geschichten nicht zu schätzen gewusst hätten, weil ihre Erinnerungen an verschiedene Arten von Wissen kognitiv isoliert waren und keinen direkten Vergleich ­zuließen.2 Lassen Sie uns das näher erklären. Kommt ein Känguru in eine Kneipe und bestellt ein Bier. Der Barkeeper stellt ihm das Bier hin und sagt: „Das macht 8 Euro.“ Das Känguru zahlt, sagt aber nichts. Schließlich übermannt den Barkeeper die Neugier, und er sagt: „Es kommen nicht viele Kängurus hierher.“ Sagt das Känguru: „Bei den Preisen ist das auch kein Wunder.“ Wir haben hier einen ganz alten Witz paraphrasiert, den der Anthropologe Elliot Oring 1992 in einem Buch über 179

­ umor nacherzählt hat.3 Oring scheint der erste Wissenschaftler gewesen zu H sein, der die Phrase appropriate incongruities verwendet hat. Was er damit meint, ist, dass bei einem Witz einige Teile normal sind bzw. dem Kontext entsprechen und andere Teile seltsam oder inkongruent (unpassend oder nicht konsistent) sind. Wenn man diese Teile miteinander verbindet, entsteht eine Inkongruenz, die Menschen interessanterweise oft auf natürliche Weise lustig finden. Einige Forscher, die sich mit Humor beschäftigen, weisen darauf hin, dass es das Überraschungsmoment ist, das einen Witz, zumindest anfangs, lustig macht. Dieses Überraschungsmoment könnte mit „Über­ raschungsspielen“ wie dem Kuckuckspiel in Verbindung stehen, über das wir als kleines Kind lachen. Wenn also jemand sagt, ein Känguru gehe in eine Bar, ist der Hörer bereits überrascht, und das Ende des Witzes bietet eine noch größere Überraschung.

Warum mögen Menschen von Natur aus Überraschungen? Dass Menschen Überraschungen zu mögen scheinen, ist eine ziemlich interessante Tatsache. Noch interessanter ist, dass wir, wie es scheint, gerne Angst haben, zumindest wenn wir wissen, dass wir nicht wirklich Gefahr laufen, verletzt zu werden (z. B. wenn wir uns einen Horrorfilm ansehen oder wenn ein Kind auf einen Schachtelteufel reagiert). Psychologen, die sich mit Humor befassen, haben schon früh auf das überraschende Element in Witzen hingewiesen, spekulieren aber weniger oft darüber, warum wir eigentlich Überraschungen mögen. Der Linguist Jean-Louis Dessales hat festgestellt, dass Menschen dazu neigen, andere Menschen zu mögen, wenn sie ihnen aktuelle Nachrichten mitteilen, die sie noch nicht kannten, schlüpfrigen Klatsch erzählen – oder eben auch ­einen Witz.4 Er hat die Hypothese aufgestellt, dass es in unserer evolutionären Vergangenheit wichtig war, nicht überrascht zu werden, und dass wir uns deshalb gerne mit Individuen umgaben, die uns auf Gefahren hinwiesen. Nach Dessalles’ Theorie mögen wir deshalb Menschen, die uns überraschen, weil wir schon diejenigen bevorzugt haben, die uns auf dem Laufenden halten und durch die wir uns gut informiert fühlen. Vielleicht mögen wir Witze, die uns überraschen (und die Leute, die uns diese Witze erzählen), weil wir unbewusst diejenigen mögen, die in der Lage sind, Gefahren vorauszuahnen. 180

Zurück zum Witz mit dem Känguru. Hier gibt es eine Überraschung gleich zu Beginn („Kommt ein Känguru in eine Kneipe …“) und eine Überraschung am Ende („Bei den Preisen …“). Das überraschende Element wird im Laufe des Witzes beibehalten und sogar noch verstärkt: Wir sind überrascht, dass ein Känguru eine Bar betritt (hüpft es hinein?); wir sind überrascht, dass das Känguru Englisch sprechen kann und Bier trinkt; wir sind überrascht, dass das Känguru Geld kennt und sein Bier bezahlt. Aber die größte Überraschung ist nicht, dass das Känguru sprechen, Bier bestellen und bezahlen kann, sondern dass es weiß, dass das Bier mit 8 Euro viel zu teuer ist. Mithen weist darauf hin, dass das Denken der Neandertaler anders organisiert war als unseres, aber er beschreibt diesen Unterschied nicht mit Begriffen aus der modernen Linguistik oder der Hirnanatomie. So berichtet er leider nicht sehr detailliert darüber, warum das Wissen der Neandertaler um Kängurus von ihrem Wissen um andere Dinge kognitiv isoliert gewesen sein soll. Wir wollen schauen, ob wir da etwas genauer sein können.

Moderne Humorforschung Psychologen beschäftigen sich schon lange intensiv mit dem Humor und verweisen hinsichtlich ihres Interesses am Humor gerne auf Sigmund Freud. Freud sammelte jahrelang Witze, aber er beschäftigte sich eigentlich nicht weiter mit ihnen – bis ihn ein enger Freund darauf brachte, dass in vielen Träumen Witze auftauchen (über Träume hatte Freud schon ein Buch geschrieben). Offenbar war Freud das noch gar nicht aufgefallen, und im Jahre 1905 veröffentlichte er seine Gedanken zum Humor in einem Buch mit dem Titel Der Witz und seine Beziehung zum Unbewußten.5 Er teilt darin Witze in zwei Kategorien ein: bösartige Witze (die er tendenziös nennt) und harmlose (nicht-tendenziöse) Witze. Freud scheint ein größeres Interesse an den bösartigen Witzen zu haben; er meint, dass man Witze dieser Kategorie erzählt, um den Hörer hereinzulegen oder eine unbewusste Wut dem Hörer gegenüber auszuleben. Freud glaubte, dass derjenige, der einen Witz erzählt, will, dass sich der Hörer „klein“, dumm, minderwertig oder übertölpelt fühlt, während sich der Erzähler „überlegen“ wähnt. Und natürlich war Freud auch der Meinung, dass „schmutzige“ Witze die sexuellen Triebe des Erzählers offenbaren und den Hörer entweder sexuell demütigen oder ihm einfach die 181

sexuellen Gedanken des Erzählers darlegen sollen, ohne dass dieser ihn ­direkt berührt. Hier ist der früheste schmutzige Witz, an den sich einer von uns beiden (FLC) erinnern kann (und den er gehört hat, als er etwa 7 Jahre alt war): „Soll ich einen schmutzigen Witz erzählen?“ – „Ja.“ – „Ein weißes Pferd fällt in den Matsch.“ Der Hörer erwartet, dass der Erzähler einen sexuellen Gedanken mit ihm teilt. Doch der Hörer wird getäuscht, und der Witz ist enttäuschenderweise überhaupt nicht sexuell. Tatsächlich ist das einzige humorvolle Element dieses Witzes, dass der Hörer vom Erzähler ausgetrickst wird. Freud stellt fest, dass es für den solchermaßen Betrogenen nur eine einzige Möglichkeit gibt, sich dafür zu rächen: indem er den Witz weitererzählt. Indem er so wiederum jemand anderen austrickst, demonstriert er dem neuen Hörer seine Über­ legenheit. Eine weitere Beobachtung über Witze, die Freud vor 108 Jahren ­anstellte, war, dass sie sich sehr schnell verbreiten: „Ein neuer Witz […] wird wie die neueste Siegesnachricht von dem einen dem anderen zugetragen.“

Theory of Mind Zu Beginn dieser Diskussion haben wir bewusst unterschieden, ob jemand witzig ist oder Witze erzählt. Wir haben darauf hingewiesen, dass ein Witz physischen Humor beinhalten kann, z. B. wenn jemand absichtlich hinfällt oder so tut, als lasse er etwas Wertvolles fallen. Wir haben ferner darauf hingewiesen, dass die Neandertaler gelacht haben könnten, wenn Ogg (nehmen wir einmal an, dass die Neandertaler sich Namen gaben) versehentlich ins Feuer trat. Denn wie diverse Psychologen und auch Freud angemerkt haben, lachen wir manchmal über Dinge oder Situationen, aufgrund derer wir uns anderen überlegen fühlen. Aber wäre Ogg auch darauf gekommen, absichtlich so zu tun, als trete er in die heißen Kohlen? Und wäre er dann um das Feuer herumgetanzt, um die anderen Neandertaler zum Lachen zu bringen? Dazu hätte er eine mentale Fähigkeit besitzen müssen, die mit der Sprache in Verbindung steht – nämlich die Theory of Mind. Wie wir in diesem Buch bereits dargelegt haben, ist Theory of Mind die etwas kuriose Bezeichnung der Fähigkeit zu erraten, was jemand anderes denkt. Einige Wissenschaftler nennen das auch mind reading (Gedankenlesen), aber das führt zu eher unerwünschten Assoziationen. Die Theory of Mind ist eine Fähigkeit, die die meisten Menschen haben und ziemlich erfolgreich anwenden 182

können. Menschen mit normaler Theory of Mind sind in der Lage, richtig ­vorauszuahnen, wie eine andere Person reagieren wird, wenn sie sie in einer bestimmten Art und Weise ansprechen. Wenn Menschen darüber nachdenken, wie sie etwas sagen wollen (intrapersonelle Kommunikation), dann stellen sie sich oftmals gleichzeitig vor, wie der Hörer reagieren wird. Daher sagt man normalerweise nicht allzu oft etwas, das das Gegenüber beleidigt, erschreckt oder wütend macht, da man zuvor die möglichen Reaktionen des Hörers auf das, was man sagt und wie man es sagt, vorausberechnet. Normalerweise sagt man etwas so, dass es einen normal, fröhlich und nicht bedrohlich erscheinen lässt. Natürlich muss man sich manchmal auch verteidigen, aber selbst dann spielt man im Kopf verschiedene Möglichkeiten durch, was man sagt und wie man es sagt, um eine bestimmte Reaktion hervorzurufen. Wenn der Sprecher auf den Hörer wütend ist, aber nicht allzu wütend, wird der Sprecher verschiedene Möglichkeiten durchspielen, wie er sich ausdrücken kann, und sich dann für einen bestimmten Satz entscheiden, mit dem er verhindern kann, dass die Situation sich noch weiter verschlimmert. Diese besondere Art zu reden bezeichnet man auch als diplomatische Sprache.6,7

Braucht man, um Witze zu erzählen, die Theory of Mind? Eine ausreichende oder normale Theory of Mind ist wahrscheinlich nicht die einzige psychische Voraussetzung für das Erzählen von Witzen, aber wahrscheinlich ist sie eine sehr wichtige. Man hat festgestellt, dass es für einige Kinder und Erwachsene, die unter Autismus (einer schweren psychischen Störung des Denkens und der Emotionen) oder Schizophrenie (einer psychischen Störung mit Wahnvorstellungen und Halluzinationen) leiden, sehr schwierig ist zu erraten, was andere denken.8,9 Es ist, als ob sie so sehr auf ihre eigenen Welten beschränkt sind, dass sie sich überhaupt nicht vorstellen ­können, was jemand anderes denkt. Menschen mit Autismus und Schizophrenie sagen oft Dinge, die andere zum Lachen bringen, aber leider tun sie dies oft unabsichtlich. Wenn sie Witze erzählen, schätzen sie manchmal die Reaktionen falsch ein, und so sagen sie dabei oft Dinge, die andere für unangebracht halten (z. B. sexuelle Details) oder beängstigend finden. Man hat auch beobachtet, dass ein Großteil der Menschen, die unter Autismus oder Schizophrenie leiden, häufiger als andere ohne offensichtlichen Grund lacht (oder aus einem Grund, den kein anderer verstehen 183

kann). Allerdings gibt es auch ein paar Menschen mit Autismus oder Schizophrenie, die einen hohen IQ aufweisen (z. B. mit Asperger-Syndrom oder HighFunctioning-Autismus) und gar keine oder nur eine gering ausgeprägte Theory of Mind haben, die aber dennoch ganz normalen Humor und sogar anspruchsvolle Wortspiele zu schätzen wissen. Wir wollen keinesfalls andeuten, dass die Neandertaler autistisch waren! Wir spekulieren lediglich, dass das Witze­ erzählen eine kompliziertere oder höher ausgebildete Theory of Mind erfordert als die, über die die Neandertaler verfügten – so wie viele zeitgenössische Menschen, denen die Theory of Mind fehlt, in ihrer Fähigkeit beeinträchtigt sind, bestimmte Arten von Humor zu schätzen und selbst zu kreieren.

Und wie war das bei den Neandertalern? Wie wir in Kapitel 6 erwähnt haben, sind wir der Meinung, dass die Neandertaler eine Sprache besaßen, dass diese sich aber von unserer unterschied. Wir haben behauptet, dass es viele verschiedene Wörter für Orte und Routen, für Techniken zur Herstellung bestimmter Dinge, für andere Individuen und für Emotionen gegeben hat (wenn auch wohl nicht allzu viele Wörter für Emotionen, falls sie so stoisch waren, wie wir es annehmen, und ihr Leben so hart war, wie viele Wissenschaftler es vermuten) – Wörter, die größtenteils im Langzeitgedächtnis gespeichert waren. Wenn das stimmt, dann verleiten einen diese einfachen Wörter für Orte, Routen, Techniken und Individuen nicht gerade dazu, Witze mit ihnen zu erfinden. Natürlich könnten sie in der Lage gewesen sein, sich Wortspiele mit diesen Wörtern auszudenken, z. B. wenn der Name eines üblen oder stinkenden Ortes (oder wenn ein solcher Name falsch ausgesprochen wurde) zugleich der Name eines Individuums war, das sie kannten. Hinsichtlich der Emotionen scheint es, als hätten die Neandertaler durchaus ein Gefühlsleben gehabt (mehr Spekulationen dazu in einem späteren Kapitel); es ist eher die Frage, wie tiefgehend und vielfältig dieses Gefühlsleben war. Ist es möglich, dass sie stoischer waren und weniger Wörter für Emotionen besaßen als der Homo sapiens sapiens und dennoch genauso tiefgehende und vielfältige Emotionen besaßen? Vielleicht waren die Neandertaler einfach nicht so gefühlsduselig wie der Homo sapiens sapiens. Oder vielleicht doch? Wir werden dieses mögliche Gefühlsleben später noch genauer untersuchen. Wir haben weiter oben zudem den Verdacht geäußert, dass ihre Sprache überdurchschnittlich viele vorgefertigte Phrasen enthielt (wie: „Wer zuerst 184

kommt, mahlt zuerst“). Ein Teil unserer Spekulationen dort hat mit dem allgemein eher geringen Niveau ihrer Innovationen zu tun und mit ihrem Schwerpunkt auf der Wiederholung von Technologien. Da es einen gewissen Konsens unter Wissenschaftlern gibt, dass an dieser Hypothese etwas dran ist, glauben wir, dass die Sprache der Neandertaler einen ähnlichen Mangel an Innovationen aufwies. Wenn dieser Mangel an Innovationen zudem mit der Verwendung vorgefertigter Phrasen zusammentraf, so war dies wahrscheinlich nicht gerade hilfreich für das Erfinden und Erzählen von Witzen. Es ist auch möglich, dass die ältere Generation für das Erzählen von Geschichten und Witzen zuständig war, und da es nicht so viele ältere Neandertaler gab, waren vielleicht auch lustige Geschichten Mangelware. Wir haben außerdem darauf hingewiesen, dass die Neandertaler das Feuer nicht in der gleichen Weise benutzten wie die modernen Menschen, die in der Gruppe ums Feuer herumsaßen, Geschichten erzählten, Schöpfungsmythen miteinander teilten usw. Die Neandertaler interagierten nicht ohne Weiteres mit anderen Gemeinschaften in der Nähe oder anderen Hominiden. Und es scheint, als hätten sie auch keinen Handel mit anderen Gemeinschaften getrieben. All dies deutet darauf hin, dass sie entweder Angst vor Fremden hatten oder nicht neugierig genug waren und keine große soziale Notwendigkeit zur Interaktion sahen; vielleicht waren sie auch nur nicht in der Lage, anderen ihre Bedürfnisse und Wünsche zu vermitteln. Lassen Sie uns dies alles nacheinander untersuchen. Es ist kaum wahrscheinlich, dass die Neandertaler körperlich Angst vorm Homo sapiens sapiens hatten, denn wahrscheinlich waren die Neandertaler viel stärker. Denken Sie allerdings an den Neandertaler von Shanidar, der eine Speerspitze zwischen die Rippen bekam.10 Nach der Art der Wunde zu urteilen, war es ein Homo sapiens sapiens, der den tödlichen Speer warf; die Neandertaler besaßen keine solchen Wurfgeschosse und auch keine Atlatls (die Vorrichtung, mit der man den Speer schneller schleudern konnte). Also hatte der Neandertaler vielleicht doch Angst vorm Homo sapiens sapiens – nicht aufgrund seines Aussehens, sondern aufgrund seiner Fähigkeit, über weite Distanzen Speere zu werfen. Es ist auch möglich, dass die Neandertaler nicht mit anderen interagierten oder Handel trieben, weil sie nicht neugierig genug waren. Hier gibt es indes nur sehr wenige Hinweise, auf die man sich stützen kann. Vor Kurzem führten wir eine bislang unveröffentlichte Umfrage durch, in der wir 165 Bachelor185

Studenten zu ihrer Meinung über die Neandertaler befragten (wir wollten damit ursprünglich feststellen, ob die Studenten mit Anthropologie als Hauptfach andere Vorurteile hatten als die Studenten mit Psychologie als Hauptfach; hatten sie nicht). 74 % der Befragten glaubten, der Homo sapiens sapiens sei neugieriger als der Neandertaler gewesen, während nur 7 % glaubten, dass es umgekehrt war.11 Außerdem waren 82 % der Befragten der Meinung, dass der Homo sapiens sapiens gesprächiger war als der Neandertaler, während nur 2 % vom Gegenteil überzeugt waren. Aber was, wenn die Neandertaler ganz einfach nicht in der Lage waren, sich anderen gegenüber verständlich zu machen? Das könnte der Fall gewesen sein, wenn die Sprache einer bestimmten Neandertalergemeinschaft, inklusive Gesichtsausdrücke und Handbewegungen, ausschließlich in dieser Gruppe beheimatet war. Eine aktuelle Studie über gehörlose Kinder, die zusammen aufwuchsen, stützt dieses Argument.12 Diese Kinder, in deren Umfeld niemand eine Gebärdensprache beherrschte (z. B. deutsche Gebärdensprache, American Sign Language, British Sign Language oder Langue des signes française), entwickelten gemeinsam eine eigene Gebärdensprache und eigene Gesten. Der Instinkt für Sprache (oder der Instinkt, mit anderen zu kommunizieren) ist bei den zeitgenössischen Menschen sehr stark ausgeprägt, und das wahrscheinlich seit Hunderttausenden Jahren. Somit ist es möglich, dass diese kleinen, isolierten Neandertalergruppen ihre eigenen Dialekte ausbildeten, die ganz einfache Transaktionen und Interaktionen sogar mit anderen Neandertalergruppen verhinderten. Einige Wissenschaftler haben auf die Möglichkeit verschiedener Dialekte hingewiesen,13 aber nur zwischen Homo sapiens sapiens und Neandertaler, nicht speziell zwischen einzelnen Neandertalergruppen.

Gab es bei den Neandertalern Clowns? Anthropologische Studien über präindustrielle Kulturen, selbst solche ohne Schriftsprache, haben ohne Ausnahme ein Vorhandensein von Lachen, Humor und Witzen ergeben. Auch wenn es wahrscheinlich eine Vielzahl an evolutionären Gründen für das Entstehen von Lachen und Humor gibt, bestand eine der Hauptaufgaben sicherlich darin, das Konflikt- und Aggressions­ potenzial unter den Mitgliedern einer Gemeinschaft zu reduzieren. Viele ­Studien über solche präindustriellen Gesellschaften weisen auf das Vorhan186

densein einer Person hin, die für die Komik zuständig war – eines „StammesClowns“ sozusagen. Normalerweise dient ein Clown als Puffer zwischen zwei Menschen, die sich streiten, sorgt für Ablenkung oder verringert Wut und Spannungen, indem er beide Kontrahenten zum Lachen bringt oder Beobachter zum Lachen animiert. Diese Hypothese erscheint durchaus vernünftig, denn normale Menschen neigen manchmal dazu, zu lachen, wenn sie sich unwohl fühlen, wenn sie Angst haben, sich schuldig fühlen oder um ihr Gesicht zu wahren. Selbst wenn es bei den Neandertalern keine Clowns gab, konnten sie vielleicht doch über bestimmte Dinge lachen, über die man in zeitgenössischen traditionellen Gesellschaften lacht, wie über das Verhalten von Kindern, über andere Leute, die man zu ernst findet, und über Leute, die eine dominante Position innehaben (natürlich hinter deren Rücken).

Weitere kognitive Voraussetzungen für das Witzeerzählen Was außer der Theory of Mind braucht das Gehirn sonst noch, damit man Witze erzählen kann? Viele Humortheoretiker haben darauf hingewiesen, dass es vieler der komplexeren Aspekte moderner menschlicher Sprache und komplexerer Hirnfunktionen bedarf, um einen Witz zu produzieren. Z. B. braucht man, um einen Witz mit appropriate incongruity zu erfinden („Kommt ein Känguru in eine Kneipe …“), ein geistiges Verständnis dafür, dass diese beiden Dinge nicht zusammenpassen (das Känguru und die Kneipe). Angeblich benötigt es eine außergewöhnliche Menge Gehirnschmalz, das, was man über die erste Sache (Känguru) weiß, mit dem, was man über die zweite Sache weiß (was in eine Kneipe gehört), im selben ­Augenblick miteinander zu kontrastieren. Außerdem muss man wissen, dass die Inkongruenz eine Unmöglichkeit schafft, und weil diese so albern ist, ist sie lustig. Interessanterweise sind aber nicht alle Objekte gleich lustig, wenn sie in eine Kneipe kommen. „Kommt der Planet Jupiter in eine Kneipe“ ist nicht so lustig wie „Kommt ein Känguru in eine Kneipe“. Die Person, die einen Witz erzählt, kann also nicht einfach willkürlich Ungereimtheiten produzieren, um andere zum Lachen zu bringen. Ein Papagei, der in eine Kneipe kommt, ist wiederum fast so lustig wie ein Känguru. „Kommt die Verfassung der Vereinigten Staaten in eine Kneipe“ ist hingegen nicht lustig. 187

Erinnern wir uns kurz: Mithen ist der Meinung, dass die Neandertaler nicht in der Lage waren, zwei Arten von Wissen miteinander zu kontrastieren; so konnten sie auch nicht die Komik der Inkongruenz für sich entdecken. Er weist darauf hin, dass die Neandertaler kognitiv unflexibel waren, will aber nicht erklären, inwiefern oder warum sie so waren. An anderer Stelle in diesem Buch haben wir vorgeschlagen, die offenbare kognitive Inflexibilität der Neander­ taler könnte an der begrenzten Kapazität ihres Arbeitsgedächtnisses gelegen ­haben. Als Kapazität des Arbeitsgedächtnisses bezeichnen wir die Menge an Gedanken und Ideen, die man „im Hinterkopf“ behalten und manipulieren kann, während man sich zugleich auf eine Aufgabe konzentriert, trotz innerer und äußerer Interferenzen.14 Wir sind der Meinung, dass das Arbeitsgedächtnis des Homo sapiens sapiens eine größere Kapazität aufwies als das der Neandertaler. Einige der komplexeren Sätze einer Sprache bedienen sich der Rekursion.15 In ihrer einfachsten Form ist die Rekursion die Einbettung einer Phrase in eine andere, z. B.: „Der Junge, dessen Hund fortlief, ging nach Hause“ ist rekursiv, weil „dessen Hund fortlief“ in den Hauptsatz, „Der Junge ging nach Hause“, eingeschoben ist. Einige Humorforscher meinen, dass das rekursive Denken, wenn nicht sogar die rekursive Sprache, eine wichtige Komponente des Witzeerzählens ist. Aus ihrer Sicht werden bei einem Witz über größere Distanz Abhängigkeiten zwischen einzelnen Elementen erzeugt, die man im Kopf behalten muss, bevor man die volle Bedeutung und den Humorgehalt des Witzes erkennt und schätzen kann. „Kommt ein Känguru in eine Kneipe“ schafft demnach eine Abhängigkeit zwischen dem, was man darüber weiß, was Kängurus können, und dem, was man darüber weiß, was Kängurus nicht können, nämlich in eine Kneipe gehen, sprechen, ein Bier bestellen und das Bier bezahlen. Dieses ganze bizarre Nebeneinander von Tatsachen, die man weiß, muss man im Kopf behalten (dafür ist das Arbeitsgedächtnis zuständig) und dann einander gegenüberstellen, um zu sehen, ob das Ganze Sinn ergibt (tut es nicht). Dann müssen wir eine Entscheidung fällen (es ist echt verrückt, aber lustig), und auf Basis dieser Entscheidung müssen wir uns dann noch (bewusst oder unbewusst) entscheiden, ob wir lachen oder nicht. Es spielen in dieser Hinsicht also eigentlich noch zwei weitere Funktionen des Gehirns eine Rolle: erstens das rekursive Denken oder die rekursive Sprache und zweitens die exekutiven Funktionen der Frontallappen. Letztere sind für Aufmerksamkeit und Entscheidungsfindung zuständig. Interessanterweise „entscheiden“ wir uns ja manchmal dafür, nicht zu lachen, auch wenn wir einen Witz lustig 188

finden, da wir demjenigen, der ihn erzählt hat, keinen Gefallen tun wollen. Vielleicht weil wir etwas gegen ihn haben und beschließen, ihm nicht das Vergnügen und die Bestätigung zu gewähren, die unser Lachen ihm bietet. Dieser Unterdrückungsmechanismus beruht auf der Hemmung, einer der wichtigsten exekutiven Funktionen. Wie wir bereits festgestellt haben: Der Humor ist eine wirklich komplexe Leistung des Gehirns!

Wie menschliche Säuglinge Humor entwickeln Eine alte biologische Regel lautet: „Ontogenese rekapituliert Phylogenese.“ Das heißt: Das Wachstum und die Entwicklung eines einzelnen Organismus (Ontogenese) bieten Einblick in die Evolution seiner ganzen Spezies (Phylogenese). Als Wissenschaftler vor über 150 Jahren eine befruchtete menschliche Eizelle beobachteten, glaubten sie, dass sie zunächst aussah wie ein Fisch, dann schon bald wie eine Art Säugetier, und schließlich entwickelte sie sich zu etwas, das immer mehr wie ein Mensch aussah. Die Theorie ist zwar schon lange aus der Mode gekommen, aber manchmal sind die Wissenschaftler immer noch der Meinung, dass die Ontogenese vielleicht doch in gewisser Weise die Phylogenese widerspiegelt. Wir wollen die Theorie einmal auf die Entwicklung des Humors anwenden. Können wir aus der Art und Weise, wie menschliche Säuglinge Humor entwickeln, ableiten, wie sich der Humor in der menschlichen Evolution über Millionen Jahre hinweg entwickelt hat? Auf jeden Fall sind wissenschaftliche Erkenntnisse über die Art und Weise, wie menschliche Säuglinge Humor entwickeln, für sich genommen interessant und wertvoll – ganz gleich, ob dies die Evolution des Humors widerspiegelt. Alle normalen menschlichen Säuglinge können im Alter von 2 Monaten lächeln, mit 6 Monaten lächeln sie immer, wenn sie bestimmte Gesichter sehen (Mutter, Vater usw.). Wie bereits erwähnt, lachen menschliche Säuglinge im Alter von etwa 2 Monaten, wenn man sie am Bauch oder an den Zehen kitzelt, und mit etwa 6 bis 8 Monaten lachen sie, wenn man mit ihnen ­„Kuckuck“ spielt. Ab etwa 8 Monaten bringen Babys ihrerseits vorsätzlich Erwachsene zum Lachen, durch sich wiederholende Handlungsweisen wie Spritzen mit Badewasser, und im Alter von 14 Monaten sind Kleinkinder, wie 100 % der Eltern berichten, in der Lage, den Clown zu spielen und Erwach­ sene zum Lachen zu bringen. Mit 6 Jahren fangen Kinder an, bizarre und auf 189

Inkongruenzen aufbauende Witze zu schätzen, obwohl sie nicht immer erklären können, was genau an ihnen so lustig ist. Mit 7 oder 8 ähnelt ihr ­Humor schon fast komplett dem von Erwachsenen.16 Wenn wir diese Feststellungen mit dem kombinieren, was wir über den Humor von Schimpansen und anderen Affen wissen (vergleichende Methode), können wir einen Einblick in den Humor der Neandertaler gewinnen. Zweifellos konnten die ­Neandertaler schon im frühen Alter lächeln und auch lachen. Wahrscheinlich konnten sie einander auch necken und kitzeln, aber wahrscheinlich beschränkte sich dies auf die jeweilige Altersstufe, auf Geschwister und Vertreter des eigenen sozialen Status. In anderen Worten, Neandertalerkinder neckten oder kitzelten wahrscheinlich keine dominanten Neandertaler (wenn es die denn gab). Mit 7 oder 8 Jahren waren sie durchaus in der Lage, sich die meisten Witze in der Art der Erwachsenen selbst auszudenken oder zu verstehen – falls erwachsene Neandertaler einander denn Witze erzählten. Aber es hätte durchaus auch etwas wie einen designierten Clown bei den Neandertalern geben können – jemanden, der dafür zuständig war, angespannten Situationen auf humorvolle Weise die Spannung zu nehmen, wenn Neandertalergemeinschaften sich versammelten. Wir argumentieren hier ­folgendermaßen: Humor besitzt eine vererbte Komponente, die bei einzelnen Menschen unterschiedlich ausgeprägt ist. Wenn es ihre Hirnfunktionen den Neandertalern erlaubte, Humor zu schätzen (wenigstens das), dann hätte zumindest ein Neandertaler, der eine starke Tendenz dazu aufwies, andere zum Lachen zu bringen (das können sogar Säuglinge), die Rolle des Clowns übernehmen können. Mag sein, dass er sich dabei auf physischen Humor beschränkte, wodurch er alle komplexen Funktionen des Gehirns hätte umgehen können (hoch ausgebildete Theory of Mind, rekursives Denken, exekutive Funktionen der Frontallappen usw.). Unpassende Handlungen, z. B. sich den Nachttopf über den Kopf zu stülpen oder was auch immer im Leben der ­Neandertaler das Äquivalent dazu war, könnten andere Neandertaler zum ­Lachen gebracht haben, ohne dass es des verbalen Humors bedurft hätte. Dieser physische Humor hätte innerhalb einer Gemeinschaft die gleichen Ziele verfolgt wie anspruchsvolle verbale Komik – die Individuen zu beruhigen, Aggressionen zu entschärfen, den Stress des Lebens zu erleichtern, jemanden zu haben, über den man lachen konnte, der so tat, als sei er dümmer als man selbst, sich über dominante Individuen lustig zu machen usw. Natürlich müssen wir an dieser Stelle darauf hinweisen, dass es nicht einmal Beweise für 190

Clowns oder Spaßmacher unter den Homo sapiens sapiens gibt, die zur Zeit der Neandertaler lebten; alles, was wir besitzen, sind anekdotische Hinweise auf solche Clowns bei zeitgenössischen Jägern und Sammlern.

Humor und Gruppengröße Der Anthropologe Robin Dunbar hat darauf hingewiesen, dass die Sprache in ihrer Entwicklung die Fellpflege als Methode der Gemeinschaftsbildung ersetzte und zwischenmenschliche Aggressionen reduzierte, zur Zeit, als die Hominiden von den Bäumen herunterkamen, um auf dem Erdboden zu leben; damals stieg die Größe der einzelnen Gruppen gegenüber denen auf den Bäumen dramatisch an.17 Wir haben bereits festgestellt, dass der Neandertaler in viel kleineren face-to-face-Gruppen lebte als der Homo sapiens sapiens. Wenn es stimmt, dass der Humor (als Aspekt der Sprache) auch dazu beitrug, soziale Bindungen zu verbessern und das Auftreten zwischenmenschlicher Aggressionen zu verringern, dann ist es durchaus möglich, dass Humor in größeren Gruppen viel wichtiger war als in kleineren und somit für den Homo sapiens sapiens wichtiger als für den Neandertaler. Erstens barg eine größere Gruppe ein größeres Potenzial für gewaltsame Auseinandersetzungen. Zweitens hätte ein vor einer Gruppe erzählter oder aufgeführter Witz größeren Nutzen für Individuen, die eine gewisse Tendenz zu Humor besaßen. Drittens ist das ­Lachen über jemandes Witz eine Möglichkeit, Freundschaften zu schließen, und es demonstriert dem Witzeerzähler, dass der Hörer vertrauenswürdig ist. Was also können wir aus all dem schließen? Wir haben eine Reihe von Möglichkeiten untersucht, wie die Neandertaler mit Humor umgingen: • Genau wie die Säuglinge des Homo sapiens sapiens und die Schimpansen konnten die Neandertaler lächeln und lachen, wenn sie gekitzelt oder geneckt wurden, oder beim Spielen mit anderen Neandertalern. • Sie konnten sich aber in der Regel weder witzig verhalten noch Witze erzählen. Es fehlte ihnen entweder die Motivation oder die Fähigkeit, andere zum Lachen zu bringen (was wohl unter anderem bedeutet, dass sie keine gut funktionierende Theory of Mind besaßen). • Sie könnten jedoch Clowns gehabt haben, die andere zum Lachen brachten. 191

8 Von Schläfern und Träumern Stellen Sie sich vor, wie es ist, auf einem Baum zu schlafen. Der Wind weht, es regnet, und gelegentlich schleichen unter Ihnen Raubtiere herum (und heulen hin und wieder). Würden Sie versuchen, mit dem Rücken gegen den Stamm zu sitzen und zu beiden Seiten Ihres Asts die Beine baumeln zu lassen? Solche Überlegungen mussten unsere Vorfahren anstellen, vor Millionen von Jahren. Um das Geheimnis zu lösen, wie die frühen Hominiden auf den Bäumen schliefen, verwenden die Anthropologen heute die vergleichende Methode, das heißt, sie beobachten, wie Tiere schlafen, die eng mit uns verwandt sind. Wie Sie vielleicht wissen, ähneln uns am ehesten die Schimpansen, denn wir hatten einen gemeinsamen Vorfahren vor etwa 6 bis 8 Millionen Jahren. Und wie schlafen heute die Schimpansen? Sie schlafen auf Bäumen und bauen dazu Nester.1 Anthropologen vermuten außerdem, dass unser bekanntester entfernter Vorfahr, der Australopithecus afarensis (Lucy), wahrscheinlich ebenfalls in einem Nest schlief. Und wie bei den modernen Schimpansen spielte sich Lucys Sozialleben wahrscheinlich ebenso in einem Nest ab; ihre Artgenossen spielten zusammen in ihren Nestern und paarten sich auch dort. In einem Nest zu schlafen birgt bestimmte Gefahren, z. B. kann man herausfallen; dies hatte direkte Auswirkungen auf die Entwicklung des Schlafs. Zur Zeit des Homo erectus vor 1,8 Millionen Jahren hatten unsere Vorfahren das Schlafen auf dem Baum ziemlich sicher aufgegeben. Doch dadurch hatten sie die einen Gefahren nur gegen andere eingetauscht.

Schlafphasen Waren Sie schon einmal drauf und dran einzuschlafen (beim Autofahren oder im Bett) und haben dann plötzlich gezuckt, so dass sie wieder wach 192

wurden? Bei fast allen Primaten wird das Einschlafen von diesem Reflex ­begleitet. Man nennt dies Einschlafzuckung (oder hypnagoge Zuckungen). Es handelt sich dabei um einen plötzlichen Muskelreflex, von dem der Einschlafende häufig wieder aufwacht. Niemand weiß, warum die Einschlaf­ zuckungen auftreten, aber einer von uns beiden (FLC) hat angeregt, dass es ein alter Reflex sein könnte, der in evolutionärer und adaptiver Hinsicht zu erklären ist (wer sich anpasst, überlebt): Er teilte dem Schlafenden mit, dass er seine Schlafposition in einem Nest oder auf einem Ast anpassen musste, um nicht herunterzufallen.2 Der Reflex hätte auch adaptiven Wert gehabt, falls er auftrat, wenn der Schlafende tatsächlich im Fallen begriffen war. Vielleicht erlaubt er es ihm, den Sturz aufzuhalten oder sich zu Beginn des Sturzes an irgendetwas festzuhalten. Während dieser ersten Phase des Einschlafens zeigen Menschen wie Schimpansen (und auch viele andere Primaten) rhythmische Gehirnströme, die man „Alpha-Wellen“ nennt. Verglichen mit anderen Gehirnströmen haben Alpha-Wellen eine mittlere Amplitude (die Stärke der elektrischen ­Spannung der Gehirnströme) und eine mittlere Frequenz von 8–12 Hz (die Anzahl der Wellenberge oder Zyklen innerhalb einer Sekunde). Niemand kann sicher begründen, warum sich die Alpha-Wellen entwickelt haben oder was sie eigentlich bedeuten; die Wissenschaft weiß lediglich, dass Alpha-Wellen meistens in der Entspannungsphase kurz vor dem Einschlafen auftreten, wenn ein Mensch oder ein Primat ganz entspannt ist, die Augen geschlossen sind, obwohl er noch wach ist, und kurz davor ist einzuschlafen. Aus den Alpha-Wellen kann man Menschen ganz leicht wecken; jede konzentrierte geistige Anstrengung (z. B. 17 mal 17 im Kopf auszurechnen) und auch schon das Öffnen der Augen scheinen die symmetrischen Alpha-Wellen zu stören. Während der Alpha-Phase und wenn die Alpha-Wellen aufhören und man zu schlafen beginnt, geschieht manchmal noch etwas anderes Merkwürdiges: Man hat ganz seltsame Gedanken und Ideen. Diesen Zustand nennt man Hypnagogie, und wir können uns an diese seltsamen Gedanken oder Ideen erinnern, aber nur, wenn wir direkt nach ihnen geweckt werden (z. B. durch Einschlafzuckungen). Dennoch glauben Forscher, dass der eigentliche Schlaf erst dann beginnt, wenn die Alpha-Wellen weniger werden und die Gehirnströme Anzeichen von Theta-Wellen (4–7 Hz) und manchmal von Wellen mit noch höherer Frequenz (> 15 Hz) aufweisen, die eine geringere Amplitude als die Alpha-Wellen haben. Man bezeichnet diesen Schlafzustand als Stadium I; es ist 193

das erste Stadium des Schlafs ohne REM (rapid eye movement). Dies ist ein leichter Schlaf, und zumeist tritt er zu Beginn einer Schlafperiode auf, auch wenn er im Laufe des Schlafvorgangs noch öfter vorkommt. Aus dem Stadium I kann man leicht geweckt werden, besonders wenn man seinen eigenen Namen hört oder wenn das eigene Kind schreit. Wenn Menschen aus dem Sta­ dium I geweckt werden, berichten sie danach häufig von Gedanken und Ideen, aber nicht unbedingt von lebhaften Träumen mit viel Action und Emotionen. Nachdem der Schlafende etwa 10 Minuten im Stadium I verbracht hat, geht er in Stadium II über, eine weitere Phase leichten Schlafs (in der man leicht geweckt werden kann), und auch hier berichten Menschen, wenn sie geweckt werden, hinterher über Gedanken und Ideen. Diese Schlafphase kann man auch ganz einfach auf einem Elektroenzephalogramm (EEG, eine Maschine, die Gehirnströme misst) erkennen, aufgrund zweier weiterer Funktionen der Gehirnströme: Schlafspindeln und K-Komplexen. Im Sta­ dium II sehen die Gehirnströme im Prinzip genauso aus wie im Stadium I (höhere Frequenz, niedrigere Amplitude), außer dass etwa alle 30 Sekunden eine plötzliche, kurze Welle mit 13–16-Hz und hoher Amplitude auftritt. Dies sind die Schlafspindeln. Sie scheinen unterhalb der Schicht des Kortex zu entstehen, in niederen Hirnstrukturen wie dem Hirnstamm (dort, wo das Rückenmark an das Gehirn anschließt). Auch hier weiß wieder keiner, warum diese Wellen auftreten, nur, dass sie charakteristisch für Stadien leichteren Schlafs sind. Das Stadium II bleibt vom Umfang her das gesamte Leben eines Menschen lang ziemlich gleich und nimmt etwa 50 % des Schlafs ein. Es tritt auch bei fast allen Primaten auf, u. a. bei den Schimpansen. Das zweite Merkmal der Gehirnströme im Stadium II sind die K-Komplexe – vereinzelte negative Ausschläge im Wellenmuster der Gehirnströme von sehr hoher Amplitude. Auch bei den K-Komplexen weiß man nicht, warum sie auftreten, aber sie scheinen ebenfalls in den niederen Hirnstrukturen zu entstehen. Nach 15 bis 45 Minuten erreichen Menschen die tiefsten Schlafzustände, wie man leicht am EEG ablesen kann. Die dabei auftretenden sehr langsamen Wellen (1–3 Hz) mit hoher Amplitude bezeichnet man als Delta-Wellen, und sie sind das Hauptmerkmal der Stadien III/IV des Schlafs. Diese bezeichnet man auch als slow-wave sleep (SWS). Den SWS hat man bei Säugetieren und bei Reptilien beobachtet, ja bei nahezu allen Tieren. Wenn Menschen sich im SWS befinden, ist es schwierig, sie zu wecken, und fast immer geben sie an, in dieser Phase keine Träume, Gedanken oder Ideen gehabt zu 194

haben. Alle ­Primaten haben den SWS. Interessanterweise ist der SWS das einzige Schlafstadium, das sich mit zunehmendem Alter verändert. Wenn man etwa 60 Jahre alt ist, beginnt der SWS nachzulassen, zumindest was die Amplitude der Wellen betrifft. Der Mangel an SWS führt jedoch nicht zu einem Nachlassen geistiger Tätigkeit, es scheint, als verbrächten ältere ­Menschen einfach nur mehr Zeit in den Stadien leichteren Schlafs, also in Stadium I oder Stadium II. Offenbar liegen sie (im Durchschnitt) auch genauso lange im Bett wie jüngere Menschen, wachen aber während des Schlafs öfter für kurze Zeit auf. Nach etwa anderthalb Stunden zeigt das EEG ein ganz seltsames Muster: Die Gehirnströme sehen auf einmal wieder aus wie im Stadium I (ThetaWellen mit ein paar Wellen höherer Frequenz, aber niedrigerer Amplitude dazwischen), und bis 1953 dachten Schlafforscher auch, dass es sich wieder um Stadium I handelte. Als jedoch zwei Schlafforscher an der University of Chicago bei Säuglingen Elektroden an der Haut über und neben den Augen befestigten, entdeckten sie, dass sich die Augen unter den geschlossenen Lidern rasch hin und her bewegten. Dieses Phänomen wurde als REM-Schlaf bekannt. Als man dieses Phänomen bei Erwachsenen untersuchte, fand man heraus, dass in der REM-Phase lebhafte Träume auftreten, die mit starken Emotionen verbunden sind, mit körperlichen Anzeichen sexueller Erregung (aber nicht notwendigerweise psychologischer sexueller Erregung) und sich rasch änderndem Herzschlag und Blutdruck. Bei allen Primaten und ohnehin nahezu allen Säugetieren kann man den REM-Schlaf beobachten. Interessanterweise hat von allen Säugetieren das Schnabeltier in seinem Schlaf mit etwa 33 % die längste REM-Phase. Bei Affen nimmt die REM-Phase etwa 5–15 % des Schlafs ein, bei Schimpansen fast 20 % (zumindest bei Schimpansen in Gefangenschaft, die im Käfig schlafen). Beim Menschen nimmt die REM-Phase das ganze Leben lang an die 25 % des Schlafs ein, außer bei Neugeborenen und Säuglingen, da sind es etwa 50 %.

Was ist so gefährlich am SW-Schlaf? Wenn man ganz normal einschläft, entspannen sich die Muskeln – das allein ist schon gefährlich für jemanden, der auf einem hohen Baum schlafen will, um sich vor Raubtieren zu schützen. Der SWS ist umso gefährlicher, 195

denn es ist ein so tiefer Schlaf, dass wir völlig ahnungslos sind, was um uns herum passiert, und obendrein sehr schwer zu wecken sind. Dennoch haben fast alle Tiere den SWS; und trotz seiner offensichtlichen Gefahren haben diese Tiere Strategien entwickelt, ihn zu überleben. Kann es sein, dass alle älteren Tiere, vor allem ältere Primaten, einen kürzeren oder leichteren SWS haben, damit sie die jüngeren Tiere mit längerem SWS notfalls wecken ­können? Vielleicht ist eine face-to-face-Gruppe deshalb besser zum Über­ leben geeignet, weil die älteren Mitglieder mit ihrem leichteren Schlaf die jüngeren schützen können.

Was ist so gefährlich am REM-Schlaf? Der REM-Schlaf birgt seine ganz eigenen Gefahren. Es ist ein fast schon paradoxer Schlafzustand, denn er weist Merkmale sowohl des tieferen als auch des leichteren Schlafs auf. Eine Besonderheit des REM-Schlafs ist, dass der Schläfer manchmal bewusst selektive Aspekte der Umwelt aufnimmt; wenn z. B. die Heizung nicht geht und es kalt wird im Zimmer, kann es sein, dass er träumt, er befinde sich in einer kalten Höhle. Dieses Phänomen nennt man REM-Inkorporation, weil der Schlafende bestimmte Einzelheiten von dem, was in seiner Umgebung geschieht, in seine Träume inkorporiert. Ein noch gefährlicherer Aspekt des REM-Schlafs ist die Muskellähmung, die beim Einsetzen der REM-Phase auftritt. Um zu verhindern, dass der Schlafende seine Träume während des Schlafs in Bewegungen umsetzt, werden zu Beginn der REM-Phase spezielle Gehirnzellen (inhibitorische Neuronen) aktiviert. Diese Zellen hindern die willkürlichen Muskeln daran, sich während des REM-Schlafs zu bewegen. (Der Herzmuskel ist ein unwillkürlicher Muskel, er ist davon also nicht betroffen.) Diese Muskellähmung nennt man Muskelatonie, und sie tritt bei nahezu allen Tieren mit REM-Schlaf auf. In diesem Zustand ist jeder Organismus hochgradig gefährdet – seine einzige Hoffnung kann sein, aufzuwachen oder geweckt zu werden, bevor ein Raubtier zuschlägt, denn der Schlafende ist buchstäblich gelähmt. Vielleicht haben Sie dieses Phänomen auch schon einmal erlebt: Sie versuchen aufzuwachen, aber müssen feststellen, dass Sie Ihre Muskeln nicht bewegen können. Natürlich sind Sie dabei in der Regel nicht wirklich wach, stattdessen träumen Sie, dass Sie wach sind. Dies ist die REM-Inkorporation: Die ganz reale ­Lähmung 196

wird Teil Ihres Traums. Einer von uns beiden (FLC) hat darauf hingewiesen, dass diese Lähmung der Ursprung der zahlreichen Berichte von Leuten sein könnte, die angeblich von Außerirdischen entführt wurden, die dann in ihrem UFO Experimente an ihnen durchführten, während sie selbst gelähmt waren.2 Erstens fanden diese angeblichen Entführungen fast immer nachts statt (wenn man träumt). Zweitens finden die meisten Menschen, die von UFOs träumen, UFOs auch faszinierend, wenn sie wach sind (und Freud hatte zumindest teilweise recht damit, dass wir manchmal von Dingen träumen, von denen wir uns wünschen, dass sie passieren). Drittens schwören diese Leute, dass das, was sie erzählen, tatsächlich passiert ist; und für sie stimmt das ja auch, denn wenn wir träumen, scheint die geträumte Umwelt real. In unseren Träumen fordern wir eher selten ein Monster oder einen Bösewicht heraus, denn wenn wir träumen, befinden wir uns in der Regel vollständig in der Realität des Traums – daher fliegen wir nicht einfach vom Dach eines ­hohen Gebäudes los, wenn wir einem Verfolger entkommen wollen, gehen nicht durch Wände (obwohl wir solche seltsamen Dinge ansonsten im Traum sicherlich tun), und vor allem erinnern wir uns nicht ständig daran, dass „das hier nur ein Traum ist“. Angesichts dieser gefährlichen Aspekte des Schlafs und der Tatsache, dass der Mensch nicht ohne Schlaf leben kann, müssen wir schlussfolgern, dass diese gefährlichen Schlafzustände, der SWS und der REM-Schlaf, ebenso wichtig sind wie der Schlaf an sich. SWS und REM-Schlaf wurden sicherer, als unsere entfernten Vorfahren begannen, auf dem Erdboden zu schlafen, anstatt auf Bäumen, denn weder überhaupt nicht zu merken, was um einen herum vorgeht (im SWS), noch gelähmt zu sein (im REM-Schlaf) hätte auf dem Boden dieselben üblen Folgen wie auf einem Baum. Wenn diese Annahme richtig ist, dann könnte dies bedeuten, dass es zu einer Zunahme des SWS und des REM-Schlafs kam, im Vergleich zu unseren nächsten Verwandten. Und tatsächlich können wir genau dies beobachten: Menschen haben einen etwa 25 % längeren REM-Schlaf als Schimpansen, obwohl unser Schlaf ähnlich lange dauert (ca. 8 Stunden), und sogar einen zwei- oder dreimal so langen REM-Schlaf wie andere Affen. Für den SWS gibt es nicht ganz so viele Beweise, aber nach derzeitigem Kenntnisstand sieht es so aus, als gebe es beim SWS geringere Unterschiede zwischen Menschen, Schimpansen und anderen Affen als beim REM-Schlaf. Moderne Menschen scheinen etwa 15 % ihres Schlafes im SWS zu verbringen, je nach Alter und Grad der ­körperlichen Anstrengung, denn Letztere 197

erhöht, wie sich herausgestellt hat, den Anteil des SWS. ­Weiter oben haben wir festgestellt, dass die ­Neandertaler mehr Energie verbrauchten als die ­modernen Menschen, weil sie einen gedrungeneren Körper hatten. Ist es möglich, dass der Neandertaler aufgrund dieser größeren Anstrengung einen größeren Anteil SWS hatte als der Homo sapiens sapiens?

Schliefen die Neandertaler ähnlich wie wir? Da Neandertaler und moderne Menschen einen gemeinsamen Vorfahren hatten, der lange, lange nach dem gemeinsamen von Schimpansen und modernen Menschen lebte, und da unser Schlaf dem der Schimpansen ähnelt, gibt es keinen Grund zur Annahme, dass sich die Neandertaler in puncto Schlafverhalten von uns deutlich unterschieden. Immerhin hatten sie aufgrund ihrer gedrungenen Körper einen größeren Energiebedarf als wir. Wenn moderne Menschen mehr Sport treiben, als sie es gewohnt sind, scheint dies den Anteil des SWS zu erhöhen, zumindest eine Nacht lang. Es ist also möglich, dass die Neandertaler mehr SWS hatten als wir jetzt und hier. Doch es gibt keinen Hinweis darauf, dass sie einen anderen REM-Schlaf als wir hatten (ungefähr 25 %). Wovon die Neandertaler träumten, ist weitaus schwieriger zu beantworten; wir wollen zunächst untersuchen, welchen Nutzen es für die Neandertaler und die prähistorischen Homo sapiens sapiens gehabt haben mag, auf dem Erdboden zu schlafen.

Was haben besserer Schlaf und mehr REM-Schlaf mit alledem zu tun? Wir haben bereits darauf hingewiesen, dass es mehrere Vorteile mit sich brachte, dass man auf dem Boden und mit anderen zusammen länger, sicherer und mit weniger Unterbrechungen schlafen konnte als alleine auf einem Baum. Zwei dieser Vorteile kommen direkt vom Inhalt des REM-Schlafs (und vielleicht von den Gedanken und Ideen, die in Stadium I und Stadium II des Schlafs entstehen). Der erste Vorteil entspringt der Tatsache, dass etwa zwei Drittel aller Träume von schlechten oder negativen Dingen handeln. Warum ist das so? Vor über 100 Jahren behauptete Sigmund Freud, dass alle 198

Träume der Erfüllung von Wünschen dienen. (Später änderte er seine Meinung ein wenig und behauptete, dass die meisten Träume der Erfüllung von Wünschen dienen.) Aber wollen wir denn, dass schlimme Dinge passieren? Wohl kaum, also müssen wir, um zu erklären, warum mehr Träume negativen Inhalt haben als positiven, auf eine etwas jüngere Traumtheorie zurückgreifen. Vor einigen Jahren wies der Psychologe Antti Revonsuo darauf hin, dass Träume Gefahren vorwegnehmen, denen wir begegnen könnten, wenn wir wach sind. Er bezeichnete dies im Rahmen seiner Theorie als Gefahrensimulation.3 Er meinte, Träume simulierten bedrohliche Ereignisse, die uns während unserer evolutionären Vergangenheit begegnet sind. Z. B. kam die kleine Tochter eines Kollegen von uns nach einem Nickerchen aus ihrem Zimmer gelaufen und sagte, eine riesige Biene sei durchs Fenster geflogen und habe sie in den Arm gestochen. Ihre Eltern zeigten ihr, dass sie keinen Stich am Arm hatte und dass vor dem Fenster ein Fliegengitter war. Warum sollte sie dann von einer riesigen Biene träumen, die sie sticht? Nach der ­Theorie der Gefahrensimulation spielte sie damit die Bedrohung durch, der sich frühe Hominiden seitens Insekten, Schlangen und anderen Krabbel­ tieren in ihrer Umgebung ausgesetzt sahen. Andere Traumtheoretiker der Gegenwart, darunter die Autoren dieses Buchs, sind der Meinung, dass manche Träume nicht nur widerspiegeln, was früher unser Überleben bedrohte, sondern uns auch helfen, Bedrohungen unserer momentanen Umwelt vorwegzunehmen. Als Beweis mag die Tatsache dienen, dass in vielen der Träume von Kindern, bis zu 50 %, Tiere vorkommen. Aber noch interessanter ist, dass dies Tiere sind, die die Kinder aus ihrem tatsächlichen Leben kennen: Bären, Wölfe, Schlangen, Gorillas, Tiger, Löwen, stechende Insekten und Mischwesen, halb Mensch, halb Wolf – oder 3 m große Roboterkaninchen mit Antennen (FLCs Alptraum als Kind). Aber der sicherlich deutlichste Hinweis darauf, dass in unseren Träumen uralte Bedrohungen herumspuken, liegt in den zwei häufigsten Traummotiven überhaupt: fallen und gejagt werden. Wir fragen manchmal unsere Studenten, wie wahrscheinlich es ist, dass sie in ihrem gegenwärtigen Leben irgendwo herunterfallen und dadurch sterben. Natürlich ist die Antwort (selbst hier im bergigen Colorado), dass es alles andere als wahrscheinlich ist. Und doch träumen die Menschen auf der ganzen Welt davon, dass sie fallen. ­Warum? Ganz klar: Als Primaten verbrachten wir zig Millionen Jahre auf Bäumen, wo wir lebten und schliefen! Die letzten 25 bis 60 Millionen Jahre 199

als Primaten stellte das eine echte Bedrohung für uns dar. Wir können uns daher gut vorstellen, dass frühe Hominiden davon träumten, dass sie fallen. Und wie hätte ein solcher Traum ihnen geholfen, zu überleben? Nun, stellen Sie sich vor, Sie leben und schlafen auf einem Baum, und eines Nachts träumen Sie, dass Sie fallen. Wären Sie nicht am nächsten Tag vorsichtiger, würden Sie nicht Ihr Nest besser absichern und ganz allgemein ein wenig mehr Vorsicht walten lassen, wenn Sie sich in der Nacht darauf schlafen legen? Und wenn der moderne Homo sapiens sapiens vom Fallen träumt, warum sollte der ­Neandertaler nicht auch vom Fallen geträumt haben? Ein weiteres beliebtes Traummotiv ist, gejagt zu werden; es ist auch eines der häufigsten bei Studentinnen. Freudianer würden jetzt sagen, dass sich in diesem Traum ein Wunsch manifestiert und dass Studentinnen unbewusst gejagt werden wollen. Aber wenn wir mit einer nicht ganz so alten Traum­ theorie an die Sache herangehen, können wir die These aufstellen, dass ­Träume über diese uralte Art der Bedrohung (damals, als die kleine Lucy von ­allen möglichen Raubtieren gejagt wurde, die größer und gefährlicher waren als sie selbst) dazu beigetragen haben könnten, dass Lucy besser vorbereitet war auf die Umwelt, in der sie aufwuchs – genau wie dieser Traum heute dazu beitragen mag, eine Studentin für ähnliche Bedrohungen in ihrer derzeitigen Umgebung zu sensibilisieren und nicht mitten in der Nacht alleine zum Wohnheim zurückzugehen oder nur auf sicheren Wegen zu joggen. Sogar männliche Studenten träumen davon, dass sie verfolgt oder gejagt werden. Indem wir in unserem gegenwärtigen Umfeld immer noch diesen uralten Traum haben, sind wir besser gegen reale Bedrohungen gewappnet, gegen Verbrecher (Mörder, Vergewaltiger usw.), die uns verfolgen könnten. Nach Revonsuos Theorie wäre der evolutionäre Vorteil dieser Art von Traum, dass er uns hilft, Bedrohungen zu vermeiden, wenn wir wach sind. Psychologen nennen diese Fähigkeit zur Vermeidung von Bedrohungen auch Priming; wiederholte Praxis (oft diesen Traum zu träumen) bereitet uns besser auf ­tatsächliche Bedrohungen vor, die uns im Wachzutand erwarten. In seinem berühmten 1899 veröffentlichten Buch Die Traumdeutung behandelt Freud zwei Träume, die die Leute heute immer noch haben: den Traum von der Prüfungssituation und den Traum, nackt zu sein. Beim Prüfungstraum merkt der Träumer, dass er sich auf die Prüfung nicht vorbereitet hat. Freud sagt, dieser Traum könne noch viele Jahre, nachdem man eine Schule besucht hat, vorkommen. Beim Traum vom Nacktsein stellt der Träu200

mende fest, dass er das Haus ohne Kleidung verlassen hat. Es scheint, dass diese beiden Träume, im Gegensatz zum Traum, in dem man gejagt wird, Sprachkenntnisse erfordern. Der Traum vom Gejagtwerden erfordert lediglich Bilder, von einem selbst und von jemandem oder etwas, der oder das einen jagt. Aber der Traum mit der Prüfungssituation ist viel anspruchsvoller – dazu braucht es eine Schule, einen Test und noch einiges mehr. Wir sind der Meinung, dass beide Träume, Prüfung und Nacktsein, relativ alte Wurzeln haben, die vielleicht Zehntausende oder sogar Hunderttausende Jahre zurückreichen. Wir wollen zunächst die Wurzeln des Prüfungstraums untersuchen. Man könnte argumentieren, dass es erst einmal eine Schule geben musste, damit dieser Traum entstehen konnte. Aber nehmen wir stattdessen einmal an, dass der Traum ganz alte evolutionäre Wurzeln hat, z. B. die Vorbereitungen für eine Jagd. Stellen Sie sich zwei Träumende vor etwa 160.000 Jahren vor, die sich auf eine große Jagd am nächsten Tag vorbereiten, die vielleicht mehrere Tage dauert. Der eine träumt, dass er (nehmen wir einmal an, dass vor allem die Männer mit Speeren jagten) bereits bei der Jagd ist, und auf einmal braucht er seinen Speer. Er langt nach seinem Speer, und … ups! Er ist nicht da! Der Jäger braucht den Speer, genau jetzt! Das gejagte Tier dreht sich um, und jetzt greift es den Jäger an! Der Träumer wacht auf, in heller Panik, aber er merkt, dass es nur ein Traum war. Meinen Sie nicht, dass der Jäger jetzt erst recht daran denken wird, seinen Speer einzupacken, wenn er am nächsten Morgen auf die Jagd geht? Nun stellen Sie sich den zweiten Träumenden vor, der ganz friedlich schläft und ebenso angenehme wie nichtssagende Träume hat. Wer von beiden denkt wohl eher daran, alles mitzunehmen, was für eine erfolgreiche Jagd notwendig ist? Natürlich der Jäger, der den Angsttraum hatte! Wir sehen also: Der moderne Prüfungstraum könnte viel ältere Wurzeln haben als Schulen und Prüfungen. Und der Traum sorgt dafür, dass der Träumer am nächsten Tag besser vorbereitet und erfolgreicher ist. Wir nehmen an, dass das Gleiche für den Traum gilt, in dem man nackt aus dem Haus geht. Stellen Sie sich zwei prähistorische Träumerinnen vor, bei denen am nächsten Tag eine Wanderung oder eine Jagd ansteht. Die eine (wir wollen selbstverständlich nicht implizieren, dass nur Frauen den Nackttraum haben) träumt, dass sie nackt unterwegs ist und es zu schneien ­beginnt. „Oh nein, ich habe die Höhle ohne mein Hirschfell verlassen! Ich werde ­erfrieren“, denkt sie. Die andere schläft friedlich und hat angenehme, nichts201

sagende Träume. Wer von beiden wird am nächsten Morgen wohl eher daran denken, sich warm anzuziehen und alles mitzunehmen, was sie für eine ­erfolgreiche Wanderung oder Jagd braucht? Somit könnten beide Träume dazu dienen, den Träumenden auf das vorzubereiten, was anschließend ­passieren wird, wenn er oder sie wach ist.

Kreativität und Innovation Ein weiterer Vorteil des längeren REM-Schlafs beim modernen Menschen ist, dass die Träume in dieser Schlafphase mitunter besonders kreativ, ungewöhnlich oder innovativ sind.4 Es ist interessant zu beobachten, dass die Verbindung zwischen Kreativität und Träumen fast so alt ist wie die frühesten schriftlichen Aufzeichnungen. Die früheste Schrift ist fast 5.000 Jahre alt,5 und von Anfang an ging es immer wieder um Träume. Ein sumerischer König ließ im Jahre 2200 v. Chr. mindestens zwei seiner Träume auf Tontafeln verewigen. Die Tafeln zeigen, wie der König einen höchst rätselhaften Traum hat und eine Göttin anruft, die ihm helfen soll, den Sinn dieses Traums zu ergründen. Diese Aufzeichnungen sind eines der ersten in einer langen Reihe von Beispielen für den Zusammenhang zwischen Kreativität und Träumen, sie zeigen, wie Träume von göttlichen Mächten inspiriert sind und dass man in Träumen Antworten auf ganz reale Probleme finden kann. In Mesopotamien und im alten Ägypten gab es eine lange Tradition der Trauminkuba­ tion; man ging zur Inkubation in einen bestimmten Tempel, schlief und träumte, und anschließend interpretierte ein Experte die Träume. In Träumen suchte man nach Lösungen für Probleme und sogar nach Behandlungsweisen für Krankheiten, und man nahm an, dass man Träume dazu verwenden konnte, Unheil abzuwenden und drohendes Unglück zu verhindern. Es gibt zahlreiche moderne Beispiele für die Verbindung von Kreativität und Träumen. Künstler wie Dürer, Goya, Blake, Rousseau, Dalí und Magritte und Komponisten wie Mozart, Wagner und Billy Joel haben sich allesamt von Träumen inspirieren lassen. Der Geiger Tartini aus dem 18. Jahrhundert berichtete einmal, dass er die Inspiration für sein berühmtestes Violinenwerk, die Teufelstrillersonate, in einem Traum gefunden habe, in dem der Teufel ihm eine bestimmte Phrase auf der Violine vorspielte. Als er erwacht sei, habe er ganz aufgeregt versucht, diesen „Teufelstriller“ nachzuspielen. 202

Von der Charlie Daniels Band gibt es einen Song, The Devil Went to Georgia, in dem ebenfalls ein Geige spielender Teufel auftaucht. Man hat lange Zeit behauptet, dass Rolling-Stones-Gitarrist Keith Richards das Gitarrenriff von (I Can’t Get No) Satisfaction im Traum zugeflogen sei; vor Kurzem schrieb er, er sei eines Morgens aufgewacht und habe festgestellt, dass das Riff auf ­seinem Kassettenrekorder aufgenommen worden war, obwohl er sich nicht daran habe erinnern können, es gespielt zu haben.6 Unzählige Schriftsteller haben behauptet, die Inspiration für das eine oder andere Werk in einem Traum gefunden zu haben. Robert Louis Stevenson schrieb, er sei eingeschlafen, während er über die allen Menschen innewohnende Dualität nachdachte, und habe die komplette Geschichte von Dr. Jekyll und Mr. Hyde geträumt, in einem einzigen Traum. In einem der bekanntesten Fälle behauptete Samuel Taylor Coleridge, sein Gedicht Kubla Khan sei im Traum zu ihm gekommen, und nach dem Aufwachen habe er mehr als 40 Zeilen geschrieben, bevor er von jemandem unterbrochen wurde – so ist das Gedicht unvollendet geblieben. Über zwei Chemiker des 19. Jahrhunderts gibt es Anekdoten, sie seien durch Träume auf die Spur ihrer berühmtesten Entdeckungen gekommen. Der russische Chemiker Dmitri Mendelejew sagte, er habe das Periodensystem im Traum konzipiert. Friedrich Kekulé erzählte, er habe sich in einer wissenschaftlichen Sackgasse befunden, weil ­weder eine Kettenverlängerung noch eine gerade Anordnung die chemischen Eigenschaften der Sechs-Kohlenstoff-Struktur eines Benzol-Moleküls erklären konnte. Dann hatte er einen lebhaften Traum: Er sah Schlangen, die sich umeinander wanden. Plötzlich biss sich eine der Schlangen in den eigenen Schwanz: „Höhnisch wirbelte das Gebilde vor meinen Augen. Wie durch einen Blitzstrahl erwachte ich“ – und er notierte sogleich seine berühmt gewordene Lösung für das Problem des Benzol-Rings. Ebenfalls im 19. Jahrhundert berichtete der amerikanische Erfinder Elias Howe, wie er fünf Jahre lang versuchte, eine automatische Nähmaschine zu entwickeln, und noch immer nicht darauf gekommen war, wie die Maschine den Faden wieder greifen konnte, wenn die Nadel den Stoff durchbohrt hatte. Schließlich träumte er, er wäre Missionar, und um ihn herum tanzten lauter Eingebo­ rene, mit Speeren, die Löcher in ihrer Spitze hatten. Als er aufwachte, wurde ihm klar, dass das die Lösung für sein Problem war: eine Nadel mit einem Loch in der Spitze. Es gibt auch viele neuere Beispiele für kreative Ideen und Problemlösungen durch Träume. In einer Umfrage unter zeitgenössischen 203

Mathematikern berichteten über 50 %, dass sie schon mindestens einmal ein mathematisches Problem im Traum gelöst hätten. Der geniale indische ­Mathematiker Ramanujan (1887–1920) sagte, die Göttin Kali übermittle ihm die Lösungen für seine Theoreme in seinen Träumen. Der amerikanische Psychiater Ernest Hartmann glaubt, dass Träume es dem Träumenden erlauben, weitreichende Verbindungen zwischen sehr unterschiedlichen Gedanken und Ideen herzustellen, eben auch weiter rei­chende als im Wachzustand.7 Hartmann ist außerdem der Meinung, dass Träume in erster Linie von unseren Emotionen gesteuert werden und dass durch die Verwendung von Gehirnbahnen, die normalerweise zum Sehen und Erkennen von Formen dienen, die Geschichte des jeweiligen Traums zu einer Erklärung der Emotionen des Träumenden wird. Die vorangegangenen Beispiele sind alle anekdotisch und zwar anregend, aber nicht gerade das Ergebnis kontrollierter wissenschaftlicher Untersuchungen. Gibt es auch aus dem Schlaflabor Hinweise darauf, dass Schlaf und Träume uns helfen, Probleme zu lösen? Die Antwort ist: ja. In einer Studie hierzu wurde bei 106 Erwachsenen die Reaktionszeit bei bestimmten Aufgaben gemessen.8 Es gab aber einen geheimen Trick, und wenn man darauf kam, konnte man die Aufgabe viel schneller bewältigen. Nach dem ersten Training sollten die Probanden entweder acht Stunden lang schlafen oder wach bleiben. Von denen, die geschlafen hatten, kamen doppelt so viele auf den Trick wie von denen, die wach geblieben waren, ganz unabhängig von der Tageszeit. Auf Basis der kürzeren Reaktionszeiten der Schlaf-Gruppe postulierten die Forscher, dass die Teilnehmer nicht aufgrund einer Stärkung des prozeduralen Gedächtnisses ein besseres Verständnis der Aufgabe bewiesen, sondern dass es zu einer Neustrukturierung der ursprünglichen Darstellungsweise gekommen war. Ihr Fazit: Schlaf kann als Katalysator für erkenntnisreiches Denken dienen.

Schlaf, Gedächtnis und Lernfähigkeit Stellen Sie sich vor, Sie wollen lernen, wie man mit drei Bällen jongliert. Das ist keine einfache Aufgabe: Nur etwa eine oder zwei Personen von hundert können es. Experimentelle Psychologen bezeichnen dies entweder als Auf­ gabe für das prozedurale Gedächtnis oder als motorische Aufgabe (im Ge204

gensatz zum Erlernen der Definition eines Wortes, das wäre eine Aufgabe für das deklarative Gedächtnis). Diese Einteilung in Gedächtnisformen ist alles andere als willkürlich. Das Erlernen einer Prozedur unterscheidet sich stark vom Erlernen eines Wortes, wie wir in Kapitel 3 gesehen haben. Erstens ­passiert beides in verschiedenen Teilen des Gehirns. Zweitens unterscheidet sich der Lernvorgang; die meisten prozeduralen, also handlungsbezogen Auf­gaben, wie eben das Jonglieren, benötigen viel, viel Übung und manchmal mehrere Hundert Versuche; ein neues Wort zu lernen kann hingegen gleich beim ersten Anlauf klappen. Drittens kann man eine prozedurale Aufgabe lernen, indem man jemandem zusieht. Tatsächlich helfen einem viele verbale Tipps oder eine schriftliche Anleitung kaum weiter, wenn man jonglieren ­lernen möchte. Andererseits können Sie einfach den Satz lesen: „,ek‘ bedeutet ‚eins‘ auf Hindi“, und schon haben Sie gelernt, was „ek“ bedeutet, ohne dass Ihnen jemand irgendetwas zeigen musste. Und Sie müssen auch nicht irgendetwas mehrere Hundert Mal ausprobieren. Aber lassen Sie uns zum Jonglier-Beispiel zurückzukehren. Die Kunst des Jonglierens erlernt man wahrscheinlich am besten, wenn man zwischen den einzelnen Versuchen Pausen einlegt, z. B. eine Viertelstunde lang übt, dann die Bälle eine Viertelstunde, eine Stunde oder einen Tag lang ruhen lässt und dann weiterübt. Experimentelle Psychologen glauben, dass sich während der Ruhephasen das prozedurale Gedächtnis konsolidiert, das heißt, es wird verarbeitet und seine Informationen im Gehirn abgespeichert. Interessanterweise würde eine Person, die sich direkt, nachdem sie Jonglieren geübt oder gelernt hat, was „ek“ auf Hindi bedeutet, einer Elektroschock-Therapie unterzieht, durch den Schock den Konsolidierungs­prozess stören. Das eben Erlernte bzw. der Effekt des eben Geübten würde durch den Schock verloren gehen. Experimentelle Psychologen sind zudem der Meinung, dass der Konsolidierungsprozess selbst dann vollzogen wird und weitergeht, wenn eine Person sich ausruht oder sogar schläft. Aber es wird noch interessanter: Wenn man gleich nach dem Abspeichern einer prozeduralen Erinnerung schlafen geht, dann wird das prozedurale Gedächtnis, wie experimentelle Psychologen glauben, durch den Schlaf nicht nur konsolidiert, sondern sogar verstärkt; sie vermuten, dass vor allem der SWS (Stadium III) bei dieser Erweiterung des prozeduralen Gedächtnisses hilft.9 Bei Tieren scheint der REM-Schlaf bestimmte Arten 205

prozeduraler Erinnerungen konsolidieren zu können, z. B. wie man durch ein Labyrinth findet.10 Und beim Menschen gibt es Hinweise darauf, dass SWS und REM-Schlaf beim Lernen labyrinthartiger Computeraufgaben ­helfen,11, 12 was mit der Fähigkeit des Menschen zu tun haben ­könnte, die uns umgebende Landschaft zu erfassen. Es gibt auch Hinweise darauf, dass der REM-Schlaf eine bestimmte Variante des deklarativen Gedächtnisses unterstützt, die man episodisches oder autobiografisches Gedächtnis nennt. Dies sind Erinnerungen, an die wir uns erinnern wie an Geschichten, die von wichtigen Teilen unseres Lebens erzählen, mit einem bestimmten Ort und einer bestimmten Zeit, und oft sind sie mit Emotionen verbunden. Die experimentellen Psychologen sind nicht alle einer Meinung, ob es nun ausgerechnet der Schlaf des Stadiums II, der des Stadiums III oder der REM-Schlaf ist, der Erinnerungen zu konsolidieren und das Gedächtnis zu erweitern hilft, und sie sind sich auch nicht einig, welche Arten von Erinnerungen durch den Schlaf konsolidiert werden. Einig sind sie sich allerdings alle darin, dass der Schlaf und wohl auch bestimmte Stadien des Schlafs beim Menschen dazu beitragen, Erinnerungen zu konsolidieren. Und weil fast alle Menschen ihren Schlaf auf einen einzigen langen Zeitraum von ca. 8 Stunden beschränken, kann es sein, dass die ­Abfolge der einzelnen Schlafphasen und die zusammenhängenden, langen Schlafperioden uns dabei helfen, neue Dinge zu lernen.

Was bewirkte das Schlafen auf dem Erdboden statt auf Bäumen? Wir sind der Meinung, dass das Schlafen auf dem Boden die Art und Weise, wie wir schliefen, verändert hat. Aus evolutionärer Sicht ist der Anteil des Traumschlafs angestiegen. Darüber hinaus waren die Menschen auf dem Boden weniger umweltbezogenen Gefahren ausgesetzt als in einem Nest hoch in den Bäumen, wo sie von starken Winden und Regenfällen gebeutelt wurden. Außerdem drohten dem Schlafenden auf dem Boden während des tiefen SWS und des die Muskeln lähmenden REM-Schlafs weniger Gefahren. Die Abfolge von SWS, Stadium II und REM-Schlaf könnte auch kognitive Vorteile für das prozedurale Gedächtnis gehabt haben – genau wie eine einzige lange und ununterbrochene Schlafperiode. Aber der vielleicht wichtigste Punkt 206

ist: Die lebhaften Träume, die in der REM-Phase auftreten, Träume, in denen man gejagt oder angegriffen wird, könnten den frühen Hominiden geholfen haben, sich nach dem Aufwachen vor diesen Bedrohungen zu schützen; Träume, in denen man nackt ist oder unvorbereitet, könnten den frühen Hominiden geholfen haben, sich den Erfordernissen gemäß zu kleiden und sich besser vorzubereiten, bevor sie auf die Jagd gingen. Und, last, but not least, könnten schöpferische Gedanken und innovative Ideen, wie man sie im Traum oft hat, den frühen Hominiden eine größere Kreativität und mehr Erfindergeist verliehen haben. Denn kann man mit Gewissheit behaupten, dass wir kreative Gedanken nur dann haben, wenn wir wach sind? Wie gezeigt, entstammen die Ideen für diverse Songs und Gedichte, mathematische Gedanken, das chemische Periodensystem und die automa­tische Nähmaschine allesamt dem Reich der Träume.

Wovon träumten die Neandertaler? Weil Homo sapiens sapiens und Neandertaler vor etwa 500.000 Jahren einen gemeinsamen Vorfahren hatten, glich ihr Schlaf wahrscheinlich dem unseren, mit einem ähnlichem Anteil an SWS und REM-Schlaf. Und sie teilten auch unsere üblichen Traummotive: Neandertaler träumten davon, gejagt zu werden, angegriffen zu werden, nackt zu sein (vielleicht) oder unvorbereitet (wahrscheinlich), zu fallen, träumten von Tieren und anderen Individuen. Ein Unterschied könnte darin bestanden haben, dass die Träume der Neandertaler möglicherweise noch mehr von Gefahr und Bedrohung handelten – immerhin jagten sie größere Tiere als der Homo sapiens sapiens. Von zeitgenössischen Jägern und Sammlern wissen wir, dass tägliche gefährliche Konfrontationen zu häufigeren Träumen von Aggressionen und Angst führen. Studien aus den 1930er Jahren über die Träume der Yir Yoront, einer Gruppe australischer Ureinwohner, ebenfalls Jäger und Sammler, ergaben, dass die männlichen Erwachsenen deutlich öfter von Tieren, von Aggressionen im Zusammenhang mit Tieren und von körperlicher Aggression träumten als männliche Amerikaner. Untersuchungen der Träume der Mehinaku-Indianer in Zentral-Brasilien ergaben ebenfalls mehr Träume über Aggressionen und Aggressionen im Zusammenhang mit Tieren als Amerikaner; etwa 60 % der Träume der männlichen Mehinaku wiesen Motive der Bedrohung auf, 207

und nur 20 % ihrer Träume drehten sich um nicht bedroh­liche und nicht aggressive Aktivitäten.2 Aber wenn die Neandertaler einen ähnlichen Anteil an REM-Schlaf hatten wie der moderne Homo sapiens sapiens, warum waren sie nicht genauso ­k reativ und innovativ? Dies ist eine schwierigere Frage. Vielleicht hatten die Neandertaler auch kreative und innovative Träume, aber wenn sie aufwachten, waren sie aufgrund der begrenzten Kapazität ihres Arbeitsgedächtnisses oder der begrenzten Verwendung von Sprache nicht in der Lage, diese Träume in die Realität umzusetzen. Eine andere Möglichkeit klingt weniger freundlich: Die Neandertaler scheinen ein raueres, härteres Leben gehabt zu haben als die modernen Menschen, die zur selben Zeit lebten. Möglicherweise enthielten ihre Träume negativere Motive und hatten aggressivere Inhalte als die des Homo sapiens sapiens. Es kann also sein, dass die Neandertaler nicht in der Lage waren, innovativ und kreativ zu träumen, oder ihr hartes Leben erhöhte den Anteil negativer Träume und ließ weniger Platz für innovative und kreative Träume. Es ist auch möglich, dass die Neandertaler zwar kreativ träumten, aber nicht in der Lage waren, ihre Träume und Ideen den anderen Neandertalern mitzuteilen. Fazit: Wir glauben, dass der Homo erectus und seine Nachkommen dadurch, dass sie auf dem Erdboden schliefen, die Gefahren des tiefen SWS und des lähmenden REM-Schlafs minderten. Natürlich gab es neue Gefahren, als sie von den Bäumen herunter waren, aber mit diesen neuen Gefahren kamen neue Lösungen, die wiederum die Größe des Gehirns positiv beeinflussten.13 Zwar hat der moderne Homo sapiens sapiens einen längeren REM-Schlaf als unser nächster lebender Verwandter, der Schimpanse, und einen weitaus längeren REM-Schlaf als andere Affen (entferntere Verwandte von uns). Und wie bereits erwähnt, haben zahlreiche neuere wissenschaftliche Studien gezeigt, dass SWS, REM-Schlaf und vielleicht auch andere Schlafphasen uns beim Speichern prozeduraler Erinnerungen wie Steinabschlagen und beim schnellen Erlernen bestimmter neuer Wissens­gebiete unterstützt haben. Natürlich waren Neandertaler Experten in der Herstellung von Steinwerkzeugen,14 von daher hätten sie durchaus von Schlafstadien profitiert, die das prozedurale Lernen förderten. Wie wir in den Kapiteln 2 und 4 gesehen ­haben, bewegte sich der Neandertaler in abgegrenzten Gebieten und verließ sie nur selten; der Homo sapiens sapiens hingegen reiste oft in Gegenden 208

a­ ußerhalb seines heimatlichen Gebiets, um mit benachbarten Gruppen zu interagieren. Es ist durchaus möglich, dass dieses „Fernweh“ des Homo sapiens sapiens durch ein Schlaf-Profil unterstützt wurde, das seine Fähigkeit, neue Routen und Landschaften zu verinnerlichen, begünstigte. Was können wir also über Schlaf und Träume der Neandertaler schluss­ folgern? • Wenn es wahr ist (und es gibt viele verschiedene Hinweise darauf), dass der REM-Schlaf Kreativität und Innovation zugutekommt, dann hatten die Neandertaler vielleicht nicht so viele kreative und innovative Träume wie der Homo sapiens sapiens. Hat die eingeschränkte Kapazität ihres ­Arbeitsgedächtnisses ihre Kreativität beim Träumen in irgendeiner Weise eingeschränkt? Man hat herausgefunden, dass eine größere Kapazität des Arbeitsgedächtnisses mit fantasievollerem Denken und Planen im Zusammenhang steht.15 • Oder hatten die Neandertaler genauso viele kreative und innovative ­Träume wie der Homo sapiens sapiens und konnten diese Träume nach dem Aufwachen nicht in die Realität übersetzen? Der Anthropologe David Lewis-Williams hat die These aufgestellt, dass die Neandertaler die Inhalte ihrer Träume in ihrem täglichen Leben einfach nicht in die Praxis um­ setzen konnten.16 Hatte ihre Sprache etwas an sich, das sie darin einschränkte, ihre kreativen Ideen anderen Neandertalern gegenüber zu kommunizieren? • Vielleicht waren die Neandertaler genauso fähig, kreativ und innovativ im Träumen wie der Homo sapiens sapiens, aber ihre Träume waren negativer geprägt und hatten aggressivere Inhalte als die Träume des Homo sapiens sapiens, so dass die innovativen und kreativen Träume nicht so häufig auftraten. Wie wir im nächsten Kapitel sehen werden, gibt es Beispiele für Kannibalismus unter Neandertalern. Können Sie sich vorstellen, wie Ihre Träume aussähen, wenn die Möglichkeit bestünde, dass Sie von einer neuen Gruppe von Neandertalern, der Sie gerade begegnet sind, getötet und aufgegessen werden? Menschen träumen oft von Dingen, von denen sie sich wünschen, dass sie eintreten. Vielleicht träumten die Neandertaler von großen Festmahlen! Hungernde Menschen träumen häufiger vom ­Essen als satte.17 Falls die Ernährung der Neandertaler mehr von großen Jagdtieren abhängig war als die des Homo sapiens sapiens, dann könnte es 209

durchaus sein, dass der Neandertaler zu jener Zeit öfter hungern musste als der Homo sapiens sapiens. Es kann auch sein, dass Träume über Nahrung die angenehmeren und kreativeren Träume verdrängten. Und was glauben wir nun? Erstens sind wir überzeugt davon, dass das Arbeitsgedächtnis des Neandertalers eine geringere Kapazität hatte als das des Homo sapiens sapiens. Man hat festgestellt, dass die Kapazität des Arbeits­ gedächtnisses im Zusammenhang steht mit dem Lösen neuartiger Probleme, mit Fantasie, Kreativität und Planungsvermögen, und wahrscheinlich ­setzen sich diese kognitiven Prozesse im Schlaf und im Traum fort. Also hatte der Neandertaler wahrscheinlich nicht so viele kreative und innovative Träume wie der Homo sapiens sapiens. Und die anderen Faktoren, die wir diskutierten haben, können ebenso relevant sein: Falls der Neandertaler öfter hungrig war als der Homo sapiens sapiens, dann könnte es sein, dass er vor allem von der Nahrungsaufnahme träumte. Falls er ein hartes und schwieriges Leben hatte, waren seine Träume vielleicht eher von negativen Motiven geprägt, die die kreativen Gedanken blockiert haben mögen. Die letzte Möglichkeit: Es könnte sein, dass der Neandertaler, wenn er aufwachte, größere Probleme damit hatte, anderen Neandertalern gegenüber seine Träume zu kommunizieren. In einem früheren Kapitel haben wir die Vermutung angestellt, dass die Sprache der Neandertaler eher vom Langzeitgedächtnis abhing; ihre sprachliche Produktivität könnte dann darauf begrenzt gewesen sein, das zu wiederholen und neu zu ordnen, was sie bereits wussten. Das würde bedeuten, dass die Neandertaler Mühe gehabt hätten, neue Ideen zu kommunizieren, praktisch umzusetzen und nutzbar zu machen.

210

9 Eine Frage der Persönlichkeit Wie waren die Neandertaler denn so? Wenn wir uns an die Werbespots aus dem Fernsehen halten, stellen wir fest, dass sie genau wie wir waren: Sie mochten Sport, Motorräder und Bowling. Sie fühlten sich zum anderen Geschlecht hingezogen, doch manchmal hatten sie Beziehungsprobleme und waren depressiv. Sie waren auch sehr sensibel, und es kränkte sie, wenn man sagte, dass ihr Volk eher einfach gestrickt war und sie nicht sehr klug. Natürlich bieten Werbespots keine zuverlässigen Anhaltspunkte. Wir können nur spekulieren, wie die Persönlichkeit der Neandertaler aussah, und zwar auf der Grundlage dessen, was wir durch paläoanthropologische Befunde über sie wissen – z. B. wo sie lebten, wohin sie reisten, welche Werkzeuge sie herstellten, welche Tiere sie jagten und wie sie sie jagten, wie sie ihre Toten ­behandelten und ein paar andere Eindrücke mehr.

Mögliche Persönlichkeitsmerkmale der Neandertaler, Nr. 1: Pragmatismus In Kapitel 5 haben wir die archäologische Stätte Moula-Guercy in Frankreich vorgestellt, wo man Beweise für Kannibalismus gefunden hat.1 Die dortigen archäologischen Überreste stammten von zwei erwachsenen Neandertalern (einer sehr groß und einer etwas kleiner), zwei Jugendlichen (etwa 15 oder 16 Jahre alt) und zwei Kindern (etwa 6 oder 7 Jahre alt). Man hatte ihnen die Schädel eingeschlagen, und es gab Hinweise darauf, dass man ihre Gehirne gegessen hatte. Einem der Kinder hatte man die Zunge herausgeschnitten. Bei den Beinen und Armen hatte man das Fleisch von den Knochen entfernt, außerdem hatte man diese Knochen zerbrochen oder abgeschnitten. Nach211

dem das Fleisch entfernt und die Arm- und Beinknochen abgeschnitten worden ­waren, brach man die Knochen auf, um an das weiche Mark in ihrem Inneren zu gelangen. Moula-Guercy bietet bis heute die deutlichsten Beweise für Kannibalismus bei den Neandertalern. Doch wie sieht es mit den psychologischen Gründen für dieses Verhalten aus? Erstens: Kannibalismus kann dazu dienen, satt zu werden, dann hätten wir es also mit ernährungsbezogenem Kannibalismus zu tun.2 Vielleicht waren die kannibalischen Neandertaler kurz vorm Verhungern, und diese sechs Neandertaler hier waren besonders schwach, krank oder hilflos. Bedenken Sie, dass die Neandertaler in kleinen face-to-face-Gruppen lebten, und die verspeisten Neandertaler in Moula-Guercy könnten durchaus eine einzelne isolierte Gruppe von Verwandten gewesen sein. Einer der sechs Neandertaler der Familie in Moula-Guercy gehört zu den größten Neandertalern, die man jemals gefunden hat; falls er nicht krank war, ist es nicht sehr wahrscheinlich, dass die kleine Gruppe völlig wehrlos war. Sie wurden wahrscheinlich von einer benachbarten Gruppe überwältigt oder überrumpelt, auch wenn wir nicht ausschließen können, dass die Angreifer aus einer ganz anderen Gegend stammten. Dass alle sechs geschlachteten Neandertaler zusammen gefunden wurden, deutet darauf hin, dass sie zusammen getötet wurden oder zumindest binnen kurzer Zeit starben und dass sie sterben mussten, um als Nahrung zu dienen. Aber es gibt noch ein weiteres wichtiges Detail im Zusammenhang mit der Hypothese vom ernährungsbezogenen Kannibalismus in Moula-Guercy: In derselben Höhle wurde auch Rotwild geschlachtet, und zwar vermutlich etwa zur selben Zeit wie die sechs Neandertaler und auf die gleiche Art und Weise: Die Schädel wurden eingeschlagen, das Fleisch von den Knochen geschabt und die Knochen aufgebrochen, um das Knochenmark zu entfernen. Natürlich spricht der Fund dieser Tierknochen neben denen der Neandertaler nicht unbedingt gegen die Hypothese vom ernährungsbezogenen Kannibalismus – er weist sogar eher darauf hin, dass die Kannibalen durchaus bereit waren, die anderen Neandertaler mit derselben Technik zu zerlegen wie ihre Jagdtiere. Er schwächt allerdings ernsthaft die alternative Hypothese, dass der Kannibalismus in Moula-Guercy eine Form des Begräbnisrituals darstellt. In der modernen Welt taucht Kannibalismus zumeist in zwei Formen auf: zum Überleben und als Teil eines Rituals. Hier in Colorado ereignete sich einer der berüchtigtsten Fälle von Überlebenskannibalismus aus der Zeit des Wilden Westens. Der Prospektor Alfred G. „Alferd“ Packer wurde angeklagt, 212

Mitglieder einer Gruppe, mit der er sich in einem Winter in den 1870er Jahren in den Rocky Mountains verlaufen hatte, aufgegessen zu haben, um nicht zu verhungern. (Einer der Säle der Mensa an der University of Colorado in Boulder ist nach Packer benannt, und im Jahr 1993 drehten South-Park-­ Macher Trey Parker und Matt Stone einen Independent-Film mit dem Titel Cannibal the Musical, der auf Packers Geschichte basiert.) Weitaus verbreiteter in der modernen Zeit ist jedoch der Kannibalismus als Teil aggressiver Rituale, bei denen Menschen ihre besiegten Feinde essen, um einen Teil ihrer Kraft zu erlangen oder um sie noch über den Tod hinaus zu demütigten. Bei unserem Neandertaler-Beispiel scheint dies eher unwahrscheinlich, vor allem weil man die Leichen wie die Kadaver von Jagdtieren behandelte und nicht in einer besonderen Art und Weise, die auf ein Ritual hindeuten würde. Allerdings birgt die Bereitschaft der Neandertaler, andere Neandertaler auf ihren Speiseplan zu setzen, Implikationen, was ihre Persönlichkeit anbelangt. Ihre Entscheidung darüber, was sie aßen, scheint zumindest zeitweilig eher von pragmatischen Erwägungen (dem Bedürfnis nach Nahrung) bestimmt gewesen zu sein als von sentimentalen Erwägungen (wer aß und wer gegessen wurde). Einem Kind die Zunge herauszuschneiden, um sie zu essen, ist so ziemlich das genaue Gegenteil von Sentimentalität und ein guter Hinweis darauf, dass die Neandertaler ziemlich praktisch veranlagt waren und sich eher auf die Tatsache konzentrierten, dass sie Nahrung benötigten, als auf die möglichen emotionalen Konsequenzen des Kannibalismus.

Mögliche Persönlichkeitsmerkmale der Neandertaler, Nr. 2: Stoizismus Die Neandertaler jagten große und gefährliche Tiere; sie aßen Fleisch, und zwar in großen Mengen (über 80 % ihrer Nahrung), um ihre großen Gehirne und ihre stämmigen, schweren Körper mit Energie zu versorgen.3 Man hat schon früh festgestellt, dass die Skelette von Neandertalern, auch die von Jugendlichen und manchmal auch Kindern, Spuren von Verletzungen aufweisen, die sie sich irgendwann im Laufe ihres Lebens zugezogen hatten. Oft überlebten sie diese Verletzungen, wie Anzeichen für eine Heilung beweisen. Die Skelette von Exemplaren des Homo sapiens sapiens, die zur selben Zeit lebten, weisen nicht so viele Verletzungen auf. Anthropologen haben lange 213

gedacht, dass diese Unterschiede vermuten lassen, das Leben der Neander­ taler sei gefährlicher gewesen, habe ein größeres Verletzungsrisiko mit sich gebracht und mehr Stress im täglichen Leben. In Kapitel 1 haben wir die Arbeit der Anthropologen Thomas Berger und Erik Trinkaus vorgestellt, die die Verletzungen von Neandertalern mit solchen von Homo sapiens sapiens, die zur selben Zeit lebten, und denen von heutigen Menschen verglichen, u. a. einigen nordamerikanischen Rodeo-Cowboys. Wie sie vermuteten, stimmte das Muster der Verletzungen bei den Neandertalern am meisten mit denen der Rodeo-Cowboys überein: zahlreiche Kopf-, Hals- und Schulterverletzungen. Falls Rodeo-Cowboys sich dadurch verletzen, dass sie die Nähe großer, aggressiver Tiere suchen, dann haben die Neandertaler sicherlich auch viel Zeit in engem körperlichen Kontakt mit großen, gefährlichen Tieren verbracht – nämlich bei der Jagd. Das würde bedeuten, dass die Neandertaler oft Schmerzen ertragen mussten, was wiederum heißen würde, dass sie über eine eher stoische Persönlichkeit verfügten. Denn natürlich wurden auch die meisten anderen im Umfeld eines Neandertalers ebenfalls hin und wieder verletzt, so dass Mitgefühl wohl eher nicht an der Tagesordnung war.

Mögliche Persönlichkeitsmerkmale der Neandertaler, Nr. 3: Mut, Furchtlosigkeit, hohe Risikotoleranz Neandertaler jagten vermutlich meistens mit Speeren, die eine Steinspitze hatten, oder komplett hölzernen Speeren. Um wirksam zu sein, mussten sie diese Speere in die Tiere hineinstoßen, zum Werfen waren sie nicht geeignet. Das passt zu den Kopf-, Hals- und Schulterverletzungen, die denen der Rodeo-Cowboys ähneln. Und welche Persönlichkeitsmerkmale würde ein solcher Neandertaler als Jäger benötigen? Sicherlich zunächst einmal Mut. Und Furchtlosigkeit? Nur weil eine Person mutig ist, bedeutet das nicht automatisch, dass sie keine Furcht kennt. Vielleicht waren die Neandertaler also ­mutig, aber die Jagd war dennoch etwas, das ihnen Angst machen konnte, denn sie wussten, dass sich vielleicht einige von ihnen verletzen würden – oder gar nicht mehr heimkehren. Angesichts der Tatsache, dass sie sich auf das Erlegen der größten Tiere überhaupt (z. B. Mammuts) spezialisierten, scheint es durchaus möglich, dass sie von der Persönlichkeitsstruktur her ­weniger ängstlich waren als wir oder Risiken ganz anders bewerteten. 214

Mögliche Persönlichkeitsmerkmale der Neandertaler, Nr. 4: Fürsorglichkeit und Empathie Verletzungen bergen aber noch einen anderen wichtigen Aspekt: Wie Sie sich vielleicht erinnern, wies Shanidar Nr. 1 sehr schwere Verletzungen auf, die er überlebte, die ihn aber zweifellos für einen längeren Zeitraum handlungsunfähig machten. Es scheint, als hätten sich viele Neandertaler immer wieder über einen längeren Zeitraum von ihren Verletzungen erholen müssen. Und dabei muss ihnen jemand geholfen haben.4 Vielleicht kümmerte sich jemand um sie, der Erfahrung in der Behandlung von Wunden, Knochenbrüchen und Krankheiten hatte. Wahrscheinlicher ist, dass alle erwachsenen Neandertaler ein wenig Erfahrung in diesem Bereich besaßen, angesichts der ­Häufigkeit der Verletzungen. Neandertaler mit solchen Verletzungen waren ­außerdem darauf angewiesen, dass jemand sie mit Nahrung, Wasser und ­anderen lebensnotwendigen Dingen versorgte. Da solche Situationen ständig vorkamen, verfügten die Neandertaler wahrscheinlich über einen hohen Grad an Einfühlungsvermögen.

Mögliche Persönlichkeitsmerkmale der Neandertaler, Nr. 5: Gefühllosigkeit, Kälte, Hartherzigkeit Es gibt aber noch ein anderes, etwas beunruhigenderes Muster von Verletzungen bei den Neandertalern: Ernste Beinverletzungen überlebten sie allem Anschein nach nicht. Sicherlich werden die Neandertaler angesichts ihrer äußerst gefährlichen Jagdstrategien, bei denen sie den Tieren sehr nahe kamen, Beinverletzungen davongetragen haben. Warum aber gibt es so wenige Beispiele für verheilte Beinwunden? Es ist gut möglich, dass ein Individuum für die Neandertaler vor allem dann Wert besaß, wenn es sich fortbewegen konnte. Jagen und Sammeln waren anstrengende Tätigkeiten, bei denen man oft viele Kilometer am Tag zu Fuß zurücklegen musste. Und das Töten aus naher Distanz erforderte eine hohe Agilität und körperliche Stärke. Ein Neandertaler mit Kopf-, Hals- oder Schulterverletzung konnte sich immer noch bewegen, und zwar relativ schnell. Aber ein Neandertaler mit Beinverletzung war wohl nicht mehr so mobil. Eine mögliche Erklärung für den Mangel an verheilten Beinverletzungen bei den Neandertalern ist demnach, dass man 215

die betroffenen Individuen zurückließ oder tötete. Das zeugt vom Pragmatismus der Neandertaler, aber auch von einer gewissen Hartherzigkeit, wenn die Situation sie erforderte.

Mögliche Persönlichkeitsmerkmale der Neandertaler, Nr. 6: Neophobie, Sturheit, Traditionalismus, Dogmatismus, Konservatismus In Kapitel 1 haben wir noch einen weiteren Neandertaler aus Shanidar vorgestellt, einen Erwachsenen, dessen Skelett an der neunten Rippe auf der linken Seite eine merkwürdige Wunde aufweist.5 Eine sorgfältige Prüfung ergab, dass die Rippe wahrscheinlich von der scharfen Steinspitze eines leichten Speers verletzt worden war, der aus einiger Entfernung geworfen war. Diese Technologie, einen Wurfspeer aus relativ leichtem Holz mit steinerner Spitze, hat man bisher nur im Zusammenhang mit dem Homo sapiens sapiens gefunden und nicht bei Neandertalern. Neandertalerspeere waren schwerer und waren ganz eindeutig dazu da, aus kurzer Distanz gestoßen zu werden. Der Speer, der den Neandertaler aus Shanidar traf, scheint außerdem von oben gekommen zu sein. Das wahrscheinlichste Szenario für eine solche Wunde wäre ein Speer, der leicht nach oben geworfen wurde, ein wenig stieg und dann wieder fiel (ballistische Flugbahn). Solche Waffen verwendeten die Neandertaler nicht. Wie auch immer dieses Szenario nun im Einzelnen aussah, es scheint, als habe ein Homo sapiens sapiens einen Neandertaler angegriffen und als habe der Neandertaler überlebt – zumindest für eine Weile. Er überlebte mindestens zwei Wochen lang, aber wahrscheinlich nicht länger als zwei Monate, da der Knochen nicht mehr vollständig heilen konnte. Dies gibt Anlass zu diversen Spekulationen, zum Beispiel: Wurden die Neandertaler gejagt? Handelte der Homo sapiens sapiens in Notwehr? Dieser Vorfall nahe der Höhle von Shanidar wirft mehr Fragen auf, als er beantwortet. Es ist interessant, dass die Neandertaler nach diesem Vorfall offenbar noch mehrere Tausend Jahre im Nahen Osten lebten, aber nie vom Homo sapiens sapiens die Technologie des leichten Wurfspeers übernahmen. Zwar waren die Neandertaler Experten im Steinabschlagen,6 aber ihre Steinwerkzeuge und schweren Stoßspeere stellten sie weit über 200.000 Jahre lang auf fast dieselbe Art und Weise her. 216

Kreativ waren die Neandertaler zumeist nicht. Sie hatten einen Speer entwickelt, der gut funktionierte, und dann änderten sie sein Design im Laufe der Zeit nicht mehr – trotz Interaktionen mit dem Homo sapiens sapiens, der leichtere Speere besaß. Was können wir aus dem Vorfall bei Shanidar schließen? Es ist alles sehr spekulativ, aber der Vorfall scheint das Schicksal der Neandertaler vorwegzunehmen. Neandertaler und Homo sapiens sapiens lebten in Teilen Westeuropas mehrere Tausend Jahre lang nebeneinander, ohne dass der Neandertaler sich in nennenswertem Umfang der anspruchsvolleren Technologie des Homo sapiens sapiens bediente. Nicht, dass die Neandertaler solche Dinge nicht selbst hätten herstellen können, wenn sie gewollt hätten – sie waren durchaus geschickt im Bearbeiten von Stein und anderen Materialien. Sie übernahmen die neue und tödlichere Technologie einfach nicht, obwohl sie diverse Risiken minimierte. Bedeutet das, dass die Neandertaler davor zurückschreckten, Neues auszuprobieren, ein Persönlichkeitsmerkmal, das Psychologen Neophobie nennen (der Psychologe C. G. Jung nannte diese Angst vor neuen Dingen „Misoneismus“)? Zu den Symptomen der Neophobie gehört auch, dass man fremden Menschen oder Situationen aus dem Weg geht. Neandertaler waren Meister im Steinabschlagen und Experten in der Jagd, aber erfolgreich waren sie vor allem, weil sie eine Sache immer und immer wieder taten. Ziemlich sicher waren sie in ihrer Herangehensweise an das Leben sehr dogmatisch und hielten nichts von Experimenten. Wir können uns gut vorstellen, dass dies auch auf ihr soziales Leben zutraf. Bei den Neandertalern wird ein Vater, wenn er denn noch lebte, kaum ein Auge zugedrückt haben, wenn sich eines seiner Kinder mit irgendwelchem innovativen Unsinn beschäftigte. Er war eher ein strenger Lehrmeister.

Mögliche Persönlichkeitsmerkmale der Neandertaler, Nr. 7: fehlendes autonoetisches Bewusstsein In Kapitel 5 haben wir die Kontroverse besprochen, die darüber herrscht, wie die Neandertaler ihre Toten behandelten. Die traditionelle Interpretation der Funde in La Ferrassie und Kebara ist, dass die Neandertaler ihre Toten begruben. Eine genauere Untersuchung der tatsächlichen Befunde legt jedoch nahe, dass die Methoden der Leichenbehandlung bei den Neandertalern in 217

Wirklichkeit ziemlich minimal waren. Zwar taten sie etwas, um die Leich­ name zu schützen, aber der Aufwand, den sie dabei trieben, war zumeist gering: Sie bedeckten den toten Körper mit ein paar großen Steinen oder hoben eine flache Mulde aus, in die sie den Leichnam dann legten. Ein Begräbnis nach unserem Verständnis sieht anders aus; es scheint ihnen nicht darum gegangen zu sein, ihre Toten für einen längeren Zeitraum zu schützen. Tatsächlich weisen Skelettreste in Kebara und Krapina wie auch anderswo darauf hin, dass die Neandertaler das, was von Skeletten übrig war, oft einfach beiseiteschoben. Dass sie Leichname schützten, legt eine emotionale Reaktion der Neandertaler auf den Tod und vielleicht sentimentale Gefühle gegenüber Verstorbenen nahe, aber Interesse und Aufwand gegenüber ihren Toten stehen in starkem Kontrast zu den Begräbniszeremonien fast aller Menschen der modernen Welt und sogar zu Beispielen vom europäischen Homo sapiens sapiens vor 27.000 Jahren. In der russischen Fundstätte Sungir gruben Archäologen eine Reihe von Gräbern aus, die vor etwa 27.000 Jahren entstanden.7 Das wichtigste Grab barg einen erwachsenen und zwei jüngere Homo sapiens sapiens, einen Jungen von etwa 13 und ein Mädchen von etwa 8 Jahren. Die Kinder wurden Kopf an Kopf begraben. Der Körper des Jungen war mit etwa 3.000 elfenbeinernen Perlen geschmückt, die entweder zu Ketten aufgereiht oder in der Kleidung vernäht gewesen waren. Sein Grab enthielt außerdem eine mit Perlen besetzte Kappe und einen bemalten Steinanhänger, der wahrscheinlich an einer Kordel oder einem Lederband um seinen Hals hing. Er hatte auch Armreifen aus Mammutelfenbein, eine mit Fuchszähnen besetzte Kappe und einen Gürtel mit etwa 250 Fuchszähnen daran. Er trug einen elfenbeinernen Anhänger in Form eines Tieres, eine Mammutskulptur aus Elfenbein lag auf seiner Schulter. Daneben fanden sich in seinem Grab Ornamentscheiben aus Elfenbein und ein elfenbeinerner Jagdspeer, der so zurechtgeschnitzt war, dass er genauso lang war wie der Körper des Jungen. Beim Mädchen lagen ein ähnlicher, aber kleinerer Elfenbeinspeer und über 5.000 Elfenbeinperlen. Die Bestattungen von Sungir ergeben ein komplett anderes Bild als die ­Neandertalerbestattungen von La Ferrassie und Kebara. Aber was wir an Sungir am interessantesten finden, sind die elfenbeinernen Jagdspeere. Elfenbein ist ein relativ weiches Material, von daher ist es unwahrscheinlich, dass solche Speere zur Jagd bestimmt waren; sie waren Teil einer Zeremonie. Das 218

impliziert, dass diese Homo sapiens sapiens an ein Leben nach dem Tod glaubten und vielleicht an eine Jagd im Jenseits. Psychologen nennen die Überzeugung, dass das Jenseits sich vom normalen Leben unterscheidet, autonoetisches Bewusstsein.8 Wenn der moderne Mensch sich vorstellt, dass der Himmel voll ist mit Wolken, Engeln und all unseren verstorbenen Angehörigen (oder zumindest einigen davon), dann ist das autonoetisches Bewusstsein. Bei den Neandertalern gab es nichts Vergleichbares. Wir sind der Meinung, dass das offensichtliche Fehlen eines autonoetischen Bewusstseins ein wichtiges Persönlichkeitsmerkmal ist oder eine kognitive Eigenschaft, die sich im täglichen Verhalten der Neandertaler ausgedrückt haben könnte, vor allem in einem Mangel an Neugier auf die Vergangenheit und die fernere Zukunft (nach dem Motto: „Wohin gehen wir, wenn wir sterben?“). Ihr ­Leben war im Hier und Jetzt verortet. Wenn sie sich keine Sorgen über die Zukunft machten, waren die Neandertaler vielleicht weniger ängstlich, was Unfälle oder Fehler anging, oder weniger betroffen durch solchige.

Mögliche Persönlichkeitsmerkmale der Neandertaler, Nr. 8: fehlende Diplomatie und Hemmungen, Lakonie, Fremdenfeindlichkeit Wie wir in Kapitel 4 gesehen haben, lebten die Neandertaler in kleinen faceto-face-Gruppen zusammen und verließen kaum jemals ihre angestammten Territorien. Homo sapiens sapiens andererseits erwarben zahlreiche Artefakte und Materialien an entfernten Orten, entweder durch Handel oder durch weite Reisen. Für viele Anthropologen deutet dies darauf hin, dass der Homo sapiens sapiens die Fähigkeit zur Kommunikation und zur sozialen Inter­ aktion mit Fremden und entfernteren Bekannten hatte. Die dazu nötige diplomatische oder höfliche Redeweise birgt einige interessante Voraussetzungen. Psychologen nennen sie auch diplomatische Sprache,9 und dabei verbirgt der Sprecher, was er wirklich meint, denkt oder fühlt, um trotzdem zu bekommen, was er will. Z. B. kann es vorkommen, dass Sie eine Person, von der Sie etwas möchten, nicht mögen; wenn Sie direkt oder mit feindseligem Ton darum bitten, laufen Sie Gefahr, dass Sie es nicht bekommen; aber wenn Sie Ihre wahren Gefühle verbergen und so tun, als würden Sie die Person mögen, bekommen Sie es vielleicht. 219

Wir wollen einmal untersuchen, was das oben genannte Beispiel diplomatischer Sprache impliziert. Vor allem muss man seine wahren Gefühle verbergen können. Die meisten bösartigen, unsozialen, aggressiven Menschen verstecken ihre bösartigen, unsozialen, aggressiven Gefühle nicht oder sind nicht fähig, sie zu verstecken. Seine wahren Gefühle zu verstecken ist eine Fähigkeit, die zu den exekutiven Funktionen der Frontallappen gehört. Neuropsychologen nennen diese Fähigkeit Hemmung, und Letztere ist eine der wichtigsten exekutiven Funktionen neben dem Planen von Aufgaben, dem Setzen von Zielen und dem Entwickeln von Strategien, um diese Aufgaben abzuschließen und diese Ziele zu erreichen. Eine weitere exekutive Funktion ist die Fähigkeit, alternative Strategien zu entwickeln, wenn eine Strategie fehlschlägt. Ist es denn nun möglich, dass den Neandertalern die Fähigkeit zur diplomatischen Sprache fehlte?10 Hatten die Neandertaler Schwierigkeiten damit, ihre wahren Gefühle zu verbergen? Es ist leicht vorstellbar, dass sowohl Neandertaler als auch Homo sapiens sapiens gegenüber Fremden ängstlich oder misstrauisch waren. Aber war der Homo sapiens sapiens besser darin, seine Angst und sein Misstrauen zu verstecken? War er besser in der Lage, diplomatisch zu sprechen, als der Neandertaler? Konnte der Homo sapiens sapiens deshalb vor 40.000 Jahren Tauschhandel betreiben und Waren aus entfernten Regionen erwerben? Fremdenfeindlichkeit bzw. Misstrauen Fremden gegenüber ist keine Eigenschaft, die man nur dem zeitgenössischen Menschen zuschreiben kann, sondern auch bei seinen engsten nicht-menschlichen Verwandten beobachtet, den Schimpansen. Vielleicht fehlte dem Neandertaler nicht nur die Fähigkeit, gegenüber Fremden diplomatisch zu sein, sondern diese Unfähigkeit ging mit einer natürlichen Angst und einem Misstrauen gegenüber Fremden einher. Zusammenfassend können wir auf Basis der archäologischen und fossilen Belege das folgende Persönlichkeitsprofil des durchschnittlichen Neander­ talers erstellen: • • • •

pragmatisch und auch skrupellos, wenn nötig stoisch risikotolerant empathisch und einfühlsam

220

• • • • •

neophobisch einfallslos dogmatisch und unflexibel fremdenfeindlich direkt, aber lakonisch

Wir denken, die meisten Leser werden jetzt sagen: „So jemanden kenne ich.“ Auf jeden Fall kennen wir solche Leute. Aber ein Individuum mit allen diesen Persönlichkeitsmerkmalen fällt heutzutage eigentlich ein wenig aus dem Rahmen – so jemanden kann es geben, aber er entspricht sicherlich nicht der Norm. Beim Neandertaler war dies aber wohl tatsächlich die Norm. Natürlich hatten auch die Neandertaler (wie wir) unterschiedliche Persönlichkeiten. Auch die Persönlichkeit unterliegt den Kräften der Evolution, und die Neandertaler entwickelten sich in Umständen, die sich von denen unserer Vorfahren unterschieden. Bei den Vereinten Nationen oder auch nur an einer städtischen Gesamtschule wären sie mit einer solchen Persönlichkeit nicht weit gekommen. Aber für das Leben in kleinen Gruppen im eiszeitlichen ­Europa waren sie optimal.

Gab es Neandertaler mit psychischen Störungen? Es gibt heutzutage große Unterschiede, wenn es darum geht, was Menschen als psychisch „normal“ und als „normale“ Persönlichkeit definieren. Viel hängt vom Alter, vom Geschlecht, von der Rollenerwartung, Kultur und Subkultur ab. Es gibt allerdings eine Faustregel: Sie sind einigermaßen normal, wenn Sie sich, nachdem Sie besonderem Stress oder großen Belastung ausgesetzt waren, nicht die Kleider vom Leib reißen und splitternackt auf der Straße herumbrüllen. In anderen Worten: Sie sind normal, wenn Sie einigermaßen gut mit den alltäglichen Belastungen umgehen können. Man merke, diese ­Definition impliziert bereits, dass das tägliche Leben nicht perfekt ist: Es geht mit allerlei Bedrohungen, Belastungen und Unsicherheiten einher; dennoch schaffen es die meisten Menschen, ziemlich gut durchs Leben zu kommen. Das Wort „normal“ stammt aus dem Lateinischen (wie auch unser Wort „Norm“) und bezeichnet eine Regel oder einen Standard. Normal ist in der modernen Psychologie das, was die meisten Menschen in einer bestimmten 221

Situation tun. Wenn jemand anders handelt, wird das als abnormes Verhalten bezeichnet; dies kann gefährliche Implikationen haben, vor allem, wenn man das in einer bestimmten Situation eigentlich zu erwartende Handeln als edelmütig, hilfreich, kreativ oder tapfer einstufen würde, z. B. in ein brennendes Haus zu laufen und jemandem das Leben zu retten. Klinische Psychologen verwenden heute allerdings tendenziell weniger die Begriffe „normal“ und „abnorm“; stattdessen nennen sie es „Störung“, wenn jemand sich so verhält, dass er oder sie sich selbst und anderen schadet, was dazu führt, dass die betroffene Person ihren Arbeitsplatz nicht behalten kann, die Schule abbricht oder keine gesunden Beziehungen zu anderen Menschen aufbauen kann. Als psychotisch bezeichnet man jemanden, der den Kontakt zur Realität verloren hat. Bei einer sehr schweren Psychose kann es sein, dass die betroffene Person nicht einmal mehr in der Lage ist, sich an ihren eigenen Namen zu erinnern. Die häufigste Art der Psychose ist die Schizophrenie (daran leiden über 75 % aller Patienten in psychiatrischen Kliniken und etwa 1 % der Weltbevölkerung). Die zwei wichtigsten Symptome der Schizophrenie sind Wahnvorstellungen und Halluzinationen. Bei Wahnvorstellungen glaubt jemand z. B., dass er Jesus Christus ist oder dass er von Außerirdischen gejagt wird, die sein Gehirn stehlen wollen. Halluzinationen sind Wahrnehmungen ohne eigentliche Stimulation, z. B. wenn man etwas sieht, das man eigentlich gar nicht sehen kann, Stimmen hört, die es nicht gibt, etwas riecht oder schmeckt, das nicht da ist (z. B. Gift im Essen), oder das Gefühl hat, Insekten oder Schlangen kröchen einem unter der Haut, wenn dort gar keine sind. Die häufigste Form der Halluzination ist das Hören von Stimmen; aber interessanterweise sagen solche Stimmen bei Schizophrenen meistens ganz alltäg­ liche Dinge wie „Zähne putzen!“ und „Raus aus dem Bett!“. Viel weniger häufig (Gott sei Dank!) befehlen solche Stimmen dem Schizophrenen, jemanden zu töten. In allen Kulturen, die über eine Religion verfügen, geht Schizophrenie häufig mit extremer Religiosität einher. Als einer von uns beiden (FLC) als forensischer Psychologe in einer Hochsicherheits-Nervenheilanstalt tätig war, waren etwa 80 % der Patienten dort als schizophren diagnostiziert und etwa 10 % behaupteten, sie seien Jesus Christus. Während er als Psychologe in einer psychiatrischen Klinik in Südindien arbeitete, gab es dort schizophrene Patienten, die jeweils behaupteten, einer der vielen HinduGötter zu sein. Interessanterweise gaben die muslimischen Schizophrenen jedoch nicht an, Mohammed zu sein. 222

Der britische Psychiater Tim Crow ist der Meinung, dass Schizophrenie als offiziell anerkannte Diagnose ausschließlich auf Individuen beschränkt ist, die über eine Sprache verfügen.11 Außerdem glaubt er, dass Schizophrenie durch Probleme bei der Koordinierung zwischen der linken und rechten Gehirnhälfte entsteht. Wenn das stimmt, ist es relativ wahrscheinlich, dass die Neandertaler für Schizophrenie anfällig waren. Wie wir in Kapitel 6 gesehen haben, besaßen die Neandertaler mit ziemlicher Sicherheit irgendeine Form von Sprache, und obwohl sie sich sehr von unserer unterschieden haben wird, war sie wie bei uns in der linken Gehirnhälfte angesiedelt. Diese Funktion entwickelte sich bereits beim gemeinsamen Vorfahren von uns und den Neandertalern. Von daher gab es bei den Neandertalern genau wie bei den anatomisch modernen Menschen vor 100.000 Jahren sicherlich psychotische Individuen und solche, die zu unkontrollierten Wutausbrüchen neigten (die übrigens nach aktueller diagnostischer Klassifizierung nicht als Psychose gelten, sondern als eine andere Art ­psychischer Störung, die man als Störung der Impulskontrolle oder Intermittent Explosive Disorder bezeichnet). Freilich hatten Neandertaler vermutlich keine Wahnvorstellungen über Außerirdische, die des Nachts hinter ihrem Gehirn her waren, und sie glaubten sicher auch nicht, dass sie Götter wären; da ihnen Innovation und Kreativität abgingen, glaubten sie sicher nicht an Aliens oder Götter. Es gibt unter Psychologen allerdings auch Spekulationen darüber, dass schizophrene Störungen manchmal mit kreativen Ideen und schöpferischem Denken einhergehen. Insofern kann es sein, dass die Neandertaler, wenn sie weniger anfällig für Schizophrenie waren, auch weniger Nutzen aus solchen kreativen Gedanken ihrer schizophrenen Stammesbrüder ziehen konnten. Und wie ist es mit Neurosen? Gab es neurotische Neandertaler? Freud hat den Begriff der Neurose eingeführt, und für ihn war das Hauptsymptom einer Neurose Angst bzw. dass sich eine Person ständig Gedanken über ­etwas macht und sich vorstellt, dass es schlecht ausgeht. Psychologen verwenden den Begriff heute noch, wenn auch nicht offiziell. Ein neurotischer Mensch ist einer, der unglücklich und in Beziehungen oder seiner Arbeit erfolglos ist, aber ohne Anzeichen einer Psychose (Halluzinationen oder Wahnvorstellungen). Neurotische Menschen neigen dazu, die Realität zu verzerren und misszuverstehen. Wenn ein psychotischer Mensch an mehreren Personen vorbeigeht, kann es sein, dass er glaubt, diese wollten ihn töten. Wenn ein neurotischer Mensch an mehreren Personen vorbeigeht, kann es sein, dass er glaubt, diese lästerten über ihn. 223

Die Verhaltensforschung hat klare Anzeichen für neurotisches Verhalten bei Primaten entdeckt, vor allem bei solchen, die in Gefangenschaft gehalten werden; es gibt also nicht nur neurotische Menschen. Schimpansen z. B. können starke Symptome verschiedener Arten von Neurosen demonstrieren. Man hat alle offiziellen Angststörungen, u. a. Phobien, Panikattacken und Zwangsstörungen, bei Schimpansen beobachtet – in Käfigen, aber auch in freier Wildbahn.12 Wir können also mit Sicherheit behaupten, dass es bei ­allen Hominiden, und somit auch bei den Neandertalern, neurotische Exemplare gab, die übermäßige Angst vor Fremden hatten (soziale Phobie), zu plötzlich auftretenden, überwältigenden Angstanfällen neigten (Panikattacken) oder den Drang hatten, bestimmte Dinge immer wieder und auf die gleiche Art und Weise zu tun (Zwangsstörung). Interessanterweise tritt eine ganz bestimmte quasineurotische Störung, die Trichotillomanie (das Ausreißen der eigenen Haare, um Stress abzubauen oder zum Vergnügen) nur bei Schimpansen auf, die in Käfigen gehalten werden. Ob Schimpansen dies auch in freier Wildbahn tun, ist nicht ganz klar, aber zumindest ist es eine ungewöhnliche Verhaltensweise. Wenn die Trichotillomanie bei wilden Schimpansen vorkommt, könnte sie auch beim Neandertaler aufgetreten sein (und beim Homo sapiens sapiens vor 100.000 Jahren). Eine weitere wichtige Kategorie psychischer Störungen ist die Persönlichkeitsstörung. Diese kennt man seit über 2.000 Jahren, schon die alten Griechen beschrieben um 350 v. Chr. verschiedene Arten der Persönlichkeits­ störung. Menschen mit einer Persönlichkeitsstörung (manche haben sogar zwei verschiedene auf einmal) neigen dazu, andere Menschen zu irritieren oder zu reizen. (Einige sind sogar äußerst gefährlich für sich selbst und andere.) Menschen mit Persönlichkeitsstörung finden ihr eigenes Verhalten oft überhaupt nicht abnorm. Sie haben aber nicht den Kontakt zur Realität verloren und weisen typischerweise keine Halluzinationen oder Wahnvorstellungen auf (sind also nicht psychotisch), und sie sind typischerweise nicht besonders ängstlich (gelten also nicht als neurotisch). Man weiß jedoch, dass starke Persönlichkeitsstörungen durch genetische Faktoren bedingt sind, und es ist sehr schwierig, sie mit den Mitteln der Psychotherapie zu behandeln. Denn erstens suchen Menschen mit einer Persönlichkeitsstörung in der Regel keine Therapie, denn sie sind ja gar nicht der Meinung, dass mit ihnen etwas nicht stimmt. Und wenn sie von Familie oder Freunden zur Therapie gezwungen werden, hat diese nur selten Erfolg, denn die Erkrankung ist ein integraler Bestandteil ihrer Persönlichkeit. 224

Eine der gefährlichsten Persönlichkeitsstörungen ist die antisoziale Persönlichkeitsstörung. Früher bezeichnete man dies als psychopathische Persönlichkeit (und jemanden, der darunter litt, als Psychopathen) oder auch soziopathische Persönlichkeit (Soziopath). Menschen, die darunter leiden (und das sind mehr Männer als Frauen), scheinen kein Gewissen zu haben; sie sind meistens keine guten Eltern, vernachlässigen oder verlassen ihre Kinder; und oft werden sie Trickbetrüger und nutzen ältere Menschen aus oder Menschen, die behindert sind. Sie haben große Schwierigkeiten, einen festen Job auszuüben, und wenn sie es tun, bestehlen sie oft ihren Arbeitgeber oder veruntreuen Gelder, ganz gleich, ob sie in einem Fortune-500-Unternehmen arbeiten, für die Kirche, eine gemeinnützige Organisation oder die Heils­ armee. Frauen mit antisozialer Persönlichkeitsstörung ermorden in der Regel niemanden, aber manchmal schon, z. B. vergiften sie ihren Mann oder Freund, für Geld oder Drogen und manchmal offenbar auch ganz ohne Grund. Diese Patienten begehen also antisoziale Handlungen wie Mord, Vergewaltigung, Diebstahl, Unterschlagung oder Drogenmissbrauch, vernachlässigen ihre Kinder und stiften ganz allgemein Chaos. Dennoch gelingt es ihnen oft, ­zumindest anfangs charmant, herzlich und verantwortungsbewusst zu erscheinen; erst wenn andere Vertrauen zu ihnen aufbauen, begehen sie diese antisozialen Handlungen. Einige antisoziale Menschen sind allerdings auch anfangs alles andere als charmant und herzlich; sie stehlen, vergewaltigen oder töten einfach, wenn ihnen gerade danach ist oder wenn es ihrer Bequemlichkeit zugutekommt. Sie sind selten bereit, lange und hart für etwas zu arbeiten. Evolutionspsychologen nennen diese Menschen oft „Betrüger“. Sie nehmen sich einfach, was sie wollen, wenn sie es wollen. Evolutionspsychologen haben längst erkannt, dass viele Gedanken und Emotionen des Homo sapiens sapiens Konflikten entsprangen, bei denen es um Betrug ging; nicht nur darum, dass Partner einander betrogen, sondern auch darum, dass bestimmte Mitglieder einer sozialen Gruppe ihren Anforderungen nicht nachkamen, wenn es ums Jagen und Sammeln ging, um die Nahrungssuche und allgemein darum, ein gutes Mitglied der Gruppe zu sein.13 Da die meisten Anthropologen glauben, dass Neandertaler in kleineren face-to-face-Gruppen als Homo sapiens sapiens lebten, kann es sein, dass Betrug für sie kein so ernstes soziales Problem darstellte wie für den Homo sapiens sapiens. In der territorialen Gemeinschaft der Neandertaler kannte jeder jeden, und zwar sehr, sehr gut; so wurde jeder Betrugsversuch schnell 225

identifiziert, und alle wussten, dass sie es mit einem Betrüger zu tun hatten. Klassische antisoziale Persönlichkeitsstörungen können also gelegentlich unter Neandertalern aufgetreten sein, aber sie wurden wahrscheinlich schon früh im Leben hart bestraft. Beim Homo sapiens sapiens mit seinen großen Gruppen und entfernten sozialen Kontakten gab es weitaus mehr Gelegenheiten für antisoziale Persönlichkeiten, erfolgreich zu sein, vor allem, wenn sie zu denjenigen gehörten, die zuerst charmant auftraten. Es gibt noch viel mehr offizielle Varianten der Persönlichkeitsstörung, z. B. die narzisstische Persönlichkeitsstörung (machthungrig und höchst manipulativ), die histrionische Persönlichkeitsstörung (aufmerksamkeitsheischend und sexuell provokant) oder die schizoide Persönlichkeitsstörung (extrem einzelgängerisch und ohne Bedürfnis nach menschlicher Nähe, nicht einmal der der eigenen Familie). Aber wir wollen diese hier nicht alle im Einzelnen untersuchen. Es soll an dieser Stelle genügen festzustellen, dass es keinen Grund zur Annahme gibt, dass es einige oder alle dieser Störungen nicht auch beim Neandertaler gab, genau wie beim Homo sapiens sapiens. Momentan ist die Wissenschaft dabei, den letzten Rest des Neandertaler-Genoms zu entschlüsseln. Falls bzw. wenn man beim modernen Menschen die spezifische Sequenz des Genoms entdeckt, die für Persönlichkeitsstörungen verantwortlich ist, wird man nur noch prüfen müssen, ob sich diese Sequenz auch in den Genen der Neandertaler findet.

226

10 Denken wie ein Neandertaler „… das würde sogar ein Höhlenmensch hinbekommen!“ Kürzlich gab es in den USA eine von einem Autoversicherer initiierte clevere Werbekampagne, bei der es um missverstandene Höhlenmenschen ging. ­Darin waren Schauspieler zu sehen, die man mit stark hervorstehenden Überaugenwülsten, großen Gesichtern und jeder Menge wirrem Haar zurechtgeschminkt hatte – ein nicht allzu subtiler Versuch, Neandertaler darzustellen. Ansonsten jedoch waren die Schauspieler modern gekleidet und taten das, was man im 21. Jahrhundert so macht: Tennis spielen, am Flug­ hafen einchecken usw. Der Twist der Werbespots ist die frustrierte Reaktion der Schauspieler, wenn sie eine Print-Anzeige oder ein Plakat sehen, auf dem behauptet wird, die Versicherungen dieses Unternehmens in Anspruch zu nehmen sei so einfach, „das würde sogar ein Höhlenmensch hinbekommen“. Die Höhlenmenschen hier sind hochentwickelte, urbane junge Erwachsene, keine Dummköpfe, und so ist es nur allzu verständlich, dass sie an den Anzeigen Anstoß nehmen. Der Humor funktioniert und erregt ­unsere Aufmerksamkeit, weil er gegen das volkstümliche Bild verstößt, das wir vom Höhlenmenschen haben. Aber es wäre eine interessante Herausforderung, diese Werbung mit Fakten zu untermauern – eine Herausforderung, die einiges mit dem Inhalt dieses Buches zu tun hat: Wie würden sich die Neandertaler in der modernen Welt behaupten? Und andersherum gefragt: Wie würden wir uns in der Welt der Neandertaler anstellen? Beide Fragen sind im Wesent­lichen Gedankenexperimente über kognitive Ähnlichkeiten und Unterschiede, und sie bieten einen nützlichen Überblick über unsere Diskussion.

227

Plätze tauschen Müsste man einen erwachsenen Neandertaler in die moderne Welt einführen, so wäre das Ergebnis ein ganz anderes, als würde man ein Neandertalerbaby in einem modernen Haushalt großziehen. Ein erwachsener Neander­ taler wäre in der Welt der Neandertaler geboren und aufgewachsen, und seine Kenntnisse, Persönlichkeit, Intelligenz und sogar sein Körperbau wären das Ergebnis seiner Erfahrungen in jener Welt. Als Erwachsener sind wir das komplexe Ergebnis von Veranlagung und Erziehung, und es ist sehr schwierig auseinanderzudividieren, was von beidem wofür verantwortlich ist. Auch wenn es interessant sein mag, über die immensen Probleme zu spekulieren, denen ein erwachsener Neandertaler ausgesetzt wäre – für dieses Buch wäre es keine besonders ertragreiche Zusammenfassung, denn unser Schwerpunkt liegt vor allem auf dem kognitiven Potenzial, das der genetischen Ausstattung der Neandertaler innewohnt. Stattdessen möchten wir eine andere ­Frage aufwerfen: Wie würde sich ein neugeborener Neandertaler machen, wenn er in einer modernen Familie aufwächst? Bei einem Neugeborenen ­hätten wir gleiche Ausgangsbedingungen, und das Neandertalerkind hätte den komplett gleichen Input wie wir alle. Wir wollen uns zuerst um die genetische Ausstattung unseres Neander­ talers kümmern, was die Sprache betrifft. Die genetische Ausstattung des modernen Menschen in dieser Hinsicht besteht größtenteils im Language Acquisition Device (LAD), einer angeborenen Fähigkeit, mittels derer Kleinkinder die Geräusche und den Klang der Sprache der Eltern, die Regeln für die Herstellung von Wörtern und die syntaktischen Regeln, mit denen man Wörter aneinanderreiht, erkennen und übernehmen. Das LAD verliert sich dann langsam wieder. Wenn ein Kind vor der Pubertät keinerlei Sprache ­ausgesetzt ist, wie es in den ebenso seltenen wie traurigen Fällen vorkommt, in denen Kinder in völliger Isolation aufwachsen, wird es niemals in der Lage sein, eine Sprache zu lernen. Das Language Acquisition Device ist angeboren und hat ein Verfallsdatum; aber besaßen es auch die Neandertaler? Das ist eine zentrale Frage für die Bewertung der Kommunikation der Neandertaler und eine überaus wichtige Frage für unser Gedankenexperiment. Aber wir besitzen ein paar Hinweise. Wir wissen, dass das Gehirn der Neandertaler über eine gut ausgebaute Brocasche Sprachregion verfügte und dass sie, was ihre Kehle und ihre 228

­ esichtsanatomie betrifft, fähig waren zu sprechen. In kultureller Hinsicht G besaßen die Neandertaler technologische Systeme und Jagdstrategien, für die ein Austausch von Informationen nötig war, und ihre gelegentliche Verwendung von Pigmenten sowie der eine oder andere Anhänger weisen auf symbolische Fähigkeiten hin. Diese positiven Aspekte müssen wir gegen die geringe Größe der sozialen Gruppen der Neandertaler abwägen, gegen ihre Ortsgebundenheit, das Fehlen jeglicher Hinweise auf eine narrative Tradition (keine bildlichen Darstellungen, kein sozialer Gebrauch von Feuer) und, wie immer, ihre 500.000 Jahre währende evolutionäre Trennung von uns. Die konservative Auslegung dieser Hinweise ist, dass die Neandertaler eine Art LAD besaßen, von dem sie einige Komponenten vom Homo heidelbergensis geerbt hatten, aber dass dieses LAD sich von unserem unterschied. Vielleicht war dieser Unterschied klein, vielleicht auch beträchtlich. Wir wissen es einfach nicht. Aber selbst wenn sich dieses LAD stark von unserem unterschied, gibt es dennoch Grund zur Annahme, dass unser Neander­taler irgendwann die Sprache seiner Eltern lernte. Millionen von Menschen lernen als Erwachsene eine Zweitsprache, viele Jahre nachdem sie ihr LAD verloren haben. Sicherlich, Erwachsene haben weitaus mehr Mühe damit, eine zweite Sprache zu erlernen, und die so erworbene Sprachkompetenz ist höchst unterschiedlich, was weitgehend von der persönlichen Situation abhängt. Aber fast alle Erwachsene können es. Natürlich würde unser Neandertalerkind in puncto Spracherwerb nicht über dieselben Fähigkeiten verfügen wie ein ­moderner Erwachsener. Ein Erwachsener besitzt bereits eine Sprache, die ­zumindest als Bezugsrahmen für das Erlernen einer zweiten dienen kann. Seltsamerweise deuten Gehirnuntersuchungen darauf hin, dass Erwachsene beim Lernen einer Sprache oft ganz andere Teile des Gehirns verwenden als Kleinkinder beim Lernen ihrer Primärsprache. Unser Neandertalerkind hätte also sein eigenes Language Acquisition Device, und selbst wenn sich dieses vom modernen LAD unterschied, wäre es wohl dennoch nützlich. Wir sind also der Meinung, dass es wahrscheinlich länger dauern würde, aber irgendwann würde auch das Neandertalerkind Sprachkompetenz erlangen. Wenn unser kleiner Neandertaler zu krabbeln begänne, würde er Wörter von seinen neuen Eltern übernehmen, und zwar genauso schnell und in ­derselben Reihenfolge wie seine modernen Geschwister. Vielleicht wäre sein Vokabular sogar größer als das seiner Geschwister, und er wäre vielleicht besonders geschickt darin, feststehende Phrasen auswendig zu lernen. Er würde 229

auch die grundlegenden Regeln der Syntax lernen. Die Sprache an sich fungiert als Struktur, anhand derer Kinder ihre kommunikativen Fähigkeiten ausbilden können, und ein Neandertalerkind könnte viele Elemente der modernen Syntax lernen, auch solche, die niemals Bestandteil der Sprache der Neandertaler waren. Es kann gut sein, dass es im Ausdrucksvermögen in den ersten Jahren gar keinen offensichtlichen Unterschied zwischen unserem Adoptierten und seinen Geschwistern gäbe. Erst in einem Alter, in dem Kinder anfangen, längere, komplexere Sätze zu konstruieren, könnte unser Neander­ taler langsam etwas hinterherhinken. Bei bestimmten Konstruktionen könnten Probleme auftreten: sukzessive Verankerungen, kontrafaktische und ­hypothetische Ausdrücke. Sprachen, bei denen man eine bestimmte Verbform so lange im Arbeitsgedächtnis behalten muss, bis eine lange Äußerung zu Ende ist, können eine echte Herausforderung sein. Mit direkter Rede in einem umfangreichen sozialen Kontext hätte unser Neandertaler kaum ein Problem, also mit der Art und Weise, wie man bei modernen Menschen zu Hause meistens redet. Könnte er auch Lesen lernen? Wir sind der Meinung, dass er es ziemlich sicher könnte, zumindest einfache Sätze. Detaillierte technische Literatur, Poesie und wissenschaftliche Prosa könnten ihn vor Schwierigkeiten stellen, aber einfache, informative Texte nicht. Fazit: Unser adoptierter Neandertaler hätte leichte Nachteile bei der verbalen Kommunikation, aber nicht in einem Maße, dass er eine moderne Sprache nicht zweckmäßig nutzen könnte. Als Kind würde es unserem Neandertaler in seiner modernen Familie gutgehen. Alle seine sozial-kognitiven Fähigkeiten haben sich im Umfeld einer solchen in emotionaler Abhängigkeit lebenden Kleingruppe entwickelt. Die meisten unseren natürlich auch; sie stellen unser gemeinsames evolutionäres Erbe von den frühen Hominiden dar. Unser Neandertaler wäre liebevoll und solidarisch und hätte Mitgefühl für seine Familienangehörigen, wenn sie sich verletzen oder in Not sind. Als Kind hätte er bei der Interaktion mit ­Geschwistern und Cousins weder mehr noch weniger Probleme gehabt. Tatsächlich würden wir in diesem sozialen Mikrokosmos die geringsten Unterschiede zwischen unserem adoptierten Neandertaler und seinen modernen Geschwistern ausmachen, und alle Unterschiede, die man beobachten könnte, würden dem Neandertaler wahrscheinlich zum Vorteil gereichen. Seine Erfahrungen im Familienleben würde er auch noch als Erwachsener demonstrieren. Unser Neandertaler würde sich verlieben, mit all dem damit 230

verbundenen emotionalen Chaos, und er wäre ein liebevoller und treuer ­Ehepartner. Es ist eher unwahrscheinlich, dass ein Neandertaler jemals sein Familienleben zugunsten seiner Arbeit opfern würde; zu Hause und bei seiner Familie – dort würde er sich wohlfühlen. Vielleicht könnte seine moderne Frau ihm vorwerfen, dass er nicht genug mit ihr redet, aber sicherlich nicht, dass er sich nicht um sie kümmert. Der einzig mögliche Nachteil, wenn man einen Neandertaler heiratet, wäre, dass er einen immer um sich herum haben wollte. In einer Beziehung Freiräume zu lassen, wäre nicht gerade eine der Stärken eines Neandertalers. Außerhalb des Kontexts des Familienlebens hätte unser Neandertaler allgemein größere Schwierigkeiten als seine modernen Mitmenschen. Als Kind wäre er sehr scheu gegenüber Fremden, was man auch bei menschlichen Kindern beobachten kann, aber es wäre unwahrscheinlich, dass er dem entwachsen würde. Vor der Schule hätte er ziemlich sicher große Angst, vielleicht so große, dass Hausunterricht die einzige Option wäre. Als Erwachsener wäre er tendenziell fremdenfeindlich und leichtgläubig. Es würde ihm schwerfallen, bei Fremden zwischen Freund und Feind zu unterscheiden; allen Fremden würde er mit Misstrauen und vielleicht auch mit Feindseligkeit begegnen. Aber sobald er festgestellt hätte, dass ihm ein Fremder freundlich gesinnt ist, wäre er großzügig und anhänglich; dadurch wäre er äußerst anfällig für Betrügereien, Telemarketing und allen möglichen anderen faulen Zauber. Betrugserkennung oder Kosten-Nutzen-Analyse würden kaum zu seinen Stärken gehören. Auch mit Geld könnte er nicht gut umgehen. So gerne wir hier Parallelen zu unseren Politikern ziehen würden: Unser Neandertaler würde kaum eine Karriere anstreben, in der er der Öffentlichkeit ausgesetzt ist, und wenn doch, wäre er nicht gut. Und dabei würde ihm nicht sein mangelndes Verständnis komplexer Syntax im Wege stehen (zumindest in einigen Wahlkreisen), sondern seine Tendenz zur direkten Rede. Code Switching wäre seine Sache nicht, ebenso wenig wie die diplomatische Sprache, und er wäre weder willens noch fähig, effektiv mit seinen Gegnern zu verhandeln. Könnte unser adoptierter Neandertaler erfolgreich am Leben in unserem modernen Industrie- und Informationszeitalter teilnehmen? Hier käme es vielleicht in erster Linie darauf an, welchen Beruf er ergreift. Welche Karriere sollte er anstreben, welche Jobs würden seinen Fähigkeiten entsprechen? Nehmen wir einmal an, unser Neandertaler würde zur Berufsberatung ­gehen und einen Eignungstest machen. Wahrscheinlich würde er im Bereich 231

mechanischer Begabungen punkten, aber bei den verbalen Fähigkeiten weniger. Was seine Eignung im Einzelnen betrifft, so hätte er sicherlich eine hohe Punktzahl in Arithmetik und intuitiver Geometrie (z. B. bei diesem nervigen Test mit den auseinandergefalteten Schachteln), aber mit höherer Mathematik hätte er Probleme. Er könnte Formeln auswendig lernen, aber wollte er sie anwenden, würde sein Arbeitsgedächtnis an seine Grenzen stoßen. Was den sozial-kognitiven Bereich betrifft, bekäme er viele Punkte in Empathie, aber wenige in Intentionalität. Insgesamt sähe sein Profil nicht allzu ungewöhnlich aus; mit Sicherheit würde er nicht pathologisch oder beschäftigungsfähig erscheinen. Wo sollte er sich also bewerben? Anstatt hier ein Stellengesuch aus einem Neandertaler-Newsletter abzudrucken, wollen wir ein paar Berufszweige nennen, in denen unser Neandertaler nicht nur erfolgreich wäre, sondern sogar eine glänzende Karriere hinlegen würde. Eine, in der alle seine Stärken (wörtlich wie metaphorisch) zum Tragen kämen, wäre die kommerzielle Fischerei. Schleppnetzfischerei, Krabbenfischerei, Walfang – all das braucht taktische Fähigkeiten und prozedurales Expertenwissen, und beides gehört zu den taktischen Stärken unseres Neandertalers. Seine physische Kraft und die Fähigkeit, motorische Prozeduren zu erlernen, wären hier klar von Vorteil. Und das nicht nur als Matrose, sondern durchaus auch als Kapitän. Der Kapitän eines Fischkutters muss über eine geradezu enzyklopädische Kenntnis seiner Fanggründe und der dort herrschenden Bedingungen verfügen. Einiges davon gehört zwar zum verbalen Wissen, aber nicht sehr viel. Zwar wäre unser Neandertaler-Kapitän möglicherweise nicht in der Lage zu erklären, wie die GPS-Navigation im Einzelnen funktioniert, aber sicherlich könnte er sie verwenden. Und die im Allgemeinen eher geringe Größe der Besatzung eines Fischkutters käme ihm ebenfalls zupass. Das einzige Problem, das er unter Umständen hätte, wäre über den Preis zu verhandeln, wenn er seinen Fang verkaufen will. Man könnte ihn ziemlich leicht hereinlegen. Ein zweiter Beruf, der sicherlich passen würde, wäre Mechaniker in einer Autowerkstatt, bei der Flugzeugwartung usw. Wir vermuten, dass ein ­Neandertaler in der Lage wäre, selbst die komplexeste Maschinerie in- und auswendig zu lernen, um Fehler zu diagnostizieren und zu beheben. Er wäre nicht besonders gut darin, neuartige, unorthodoxe Lösungen zu erfinden, aber alle gängigen Verfahren könnte er lernen und anwenden. Eine noch bessere Wahl wäre vielleicht ein traditionelles Handwerk, Schmied, 232

Glasbläser o. Ä. Hier kämen ihm seine physische Stärke zugute, sein Expertenwissen, seine Geduld und Ausdauer und seine Fähigkeit, durch Ausbildung zu lernen. Was ein wenig mehr Empörung hervorrufen mag: Wir sind der Meinung, dass unser Neandertaler sich auch als Arzt gut machen würde. Die medizinische Diagnose ist weitgehend eine nonverbale Fachkompetenz, die auf langjährige Erfahrung und Ausbildung zurückgreift. Sie stützt sich auf die Erkennung komplexer Muster und die Fähigkeit, aus einer großen Palette erlernter Reaktionen und Lösungen die richtige auszuwählen – und genau darin waren die Neandertaler gut. Und die meisten Ärzte sind heutzutage alles andere als innovativ; die Folgen eines Versagens (und von Behandlungsfehlern) sind einfach zu schwerwiegend. Unser Neandertaler wäre ein durchaus einfühl­ samer Arzt, am Krankenbett wäre er besonders sensibel. Aber etwas gut zu können und in die Position zu kommen, es auch tun zu dürfen, sind leider zwei Paar Schuhe. Das größte Hindernis für die Ärztelaufbahn wäre für unseren Neandertaler (ganz unabhängig davon, wie gut er später als Arzt wäre) der vorklinische Abschnitt des Medizinstudiums. Höhere Mathematik und physikalische Chemie würden seine Fähigkeiten bei Weitem übersteigen. Noch schlimmer wären für ihn dabei die Kurse in Soziologie oder in medizinischer Terminologie, z. B. der Erwerb des Latinums. Sosehr wir also glauben, dass unser Neandertaler ein guter Arzt wäre – das moderne Bildungssystem wäre für ihn eine unüberwindbare Hürde. Gut geeignet wäre er indes für eine Militärlaufbahn, vor allem für den Nahkampf. Seit eh und je muss man beim Kampftraining Know-how ent­ wickeln und Aktions- wie Reaktionsmuster so gut lernen, dass man in Situationen mit sehr hohem Gefahrenpotenzial aus ihnen wählen und sie praktisch automatisch anwenden kann. Darin waren die Neandertaler sehr gut, und wenn wir außerdem ihre hohe Schmerztoleranz, ihren Stoizismus und ihre Schweigsamkeit hinzufügen, erhalten wir das Profil eines ganz effektiven Soldaten. Unsere Neandertaler könnte sogar als ziemlich guter Taktiker eine kleine Einheit anführen, da er gut Situationen beurteilen und die passende Reaktion implementieren könnte. Er würde jedoch weder das Taktikhandbuch umschreiben noch neuartige Reaktionen anwenden. Weniger gut wäre er außerdem bei strategischen oder umfassenden taktischen Entscheidungen; die Verarbeitung solch vielschichtiger Informationen würde sein Arbeitsgedächtnis überfordern. (Man kann nicht umhin, an die Generäle im 233

Ersten Weltkrieg zu denken, die ihre Männer sehenden Auges ins Maschinengewehrfeuer laufen ließen, obwohl eine Schlacht bereits verloren war – genauso hätte ein Neandertaler gehandelt: Expertenwissen statt gesundem Menschenverstand.) Aber definitiv wäre er ein guter Kämpfer, und er wäre seiner Einheit gegenüber wahnsinnig loyal. Es ist mitnichten unsere Absicht, den einen Berufszweig als neandertalerfreundlich, einen anderen als neandertalerfeindlich zu klassifizieren; vielmehr möchten wir darauf hinweisen, dass verschiedene Berufe unserer modernen Welt verschiedene Fertigkeiten und Fähigkeiten ansprechen und dass unser Neandertaler für verschiedenste Berufe geeignet wäre. Andere kämen seinen natürlichen Begabungen nicht so entgegen. Jede Karriere, bei der sich unser Neandertaler mit größeren Gruppen oder mit Fremden auseinandersetzen müsste, wäre eine schlechte Wahl. Dazu gehören z. B. fast alle Berufe, bei ­denen etwas verkauft wird oder die unternehmerisches Geschick erfordern. Unser adoptierter Neandertaler wäre von Natur aus scheu, und ihm würde die Fähigkeit zur Betrugserkennung und zur Kosten-Nutzen-Analyse fehlen. ­Natürlich könnte er diese zumindest bis zu einem gewissen Grad erlernen, aber er hätte immer noch einen Nachteil bei jeder Art von Vertragsverhandlung. Und auch wenn wir wissen, dass viele Leser es gerne sähen, wenn wir zu dem Schluss kämen, dass unser Neandertaler einen guten Politiker abgeben würde, es ist leider nicht der Fall. Gute Politiker besitzen genau diejenigen kognitiven Fähigkeiten, über die die Neandertaler von Natur aus nicht ver­ fügten. Ein guter Naturwissenschaftler wäre er wohl auch nicht, er könnte höchstens Experimente durchführen oder Feldarbeit leisten, aber nur nach Anweisungen. Unsicherheitsfaktoren einzubeziehen und verschiedene, auch langfristige Eventualitäten vorauszuberechnen (das Herzstück wissenschaftlicher Forschung), das läge unserem Neandertaler gar nicht. Und auch wenn er ein guter Soldat wäre, so wäre er doch ein umso schlechterer Polizist, zu dessen wichtigsten Fähigkeiten es gehört, Fremde (nicht Feinde) zu beurteilen. Wir wollen das Berufsthema an dieser Stelle abschließen, aber einige Punkte verdienen es, noch einmal wiederholt zu werden. Erstens: Die beruf­ liche Eignung eines Erwachsenen ergibt sich aus der Kombination der genetischen Ausstattung mit dem kulturellen Umfeld und der individuellen Erfahrung. Das träfe auf einen adoptierten Neandertaler genauso zu wie auf jedes andere Kind. Auch bei einem Fehlen von Betrugserkennung, erweitertem Arbeitsgedächtnis, modernem Language Acquisition Device u. a. könnte 234

unser Neandertaler Fähigkeiten und Kenntnisse erwerben, mit denen er in der modernen Welt erfolgreich wäre. Zweitens: Er wäre nur für eine geringe Auswahl moderner Berufsfelder geeignet. Drittens: Die hier herrschenden Unterschiede sind keine Frage der Intelligenz, sondern des kognitiven Stils, und als solche sollte man sie auch wahrnehmen. Zwar wäre unser Neandertaler wahrscheinlich nicht in der Lage (oder hätte ein Interesse daran), mit einem Soziologie-Professor über die Kritische Theorie zu diskutieren, aber das träfe auch nicht auf allzu viele moderne Menschen zu. Und ebenso sicher ist, dass ein Soziologieprofessor kaum in der Lage wäre, auf einem Linienflug ein fehlerhaftes Triebwerk zu reparieren, um sein und unser Leben zu retten. Ein Neandertaler schon. Für viele moderne Menschen ist die wichtigste Instanz außerhalb der Familie für ihr Selbstverständnis und ihre Weltsicht die Religion. Kein archäologischer Fund deutet darauf hin, dass die Neandertaler eine formale Reli­ gion oder ein Konzept von übernatürlichen oder ursächlichen Kräften besaßen; wie würde sich also unser adoptierter Neandertaler im Kontext modernen religiösen Lebens bewegen? Wäre er von Natur aus Atheist? Wir glauben: nein. Wohl aber sind wir der Meinung, dass unser Neandertaler sich ein wenig anders an den religiösen Aktivitäten der Eltern beteiligen würde als seine Geschwister. Religiöse Erziehung besteht zum Großteil aus dem Auswendiglernen von Handlungen und Texten, und darin wäre unser Neandertaler gut – beim Konfirmandenunterricht wäre er einer der besten Schüler. Kinder setzen sich (wie die meisten Erwachsenen auch) nicht mit den theoretischen Geheimnissen ihres Glaubens auseinander; sie nehmen sie einfach hin und lernen sie. Unser Neandertaler hätte damit keinerlei Schwierigkeiten, und es kann gut sein, dass aus ihm ein engagierter, frommer Kirchgänger würde. Die formellen Rituale einiger Religionen würden ihm liegen; bei schwierigen metaphysischen Diskussionen würde er indes schnell das Interesse verlieren. Aufgrund seiner angeborenen Schüchternheit und Wortkargheit wäre es ihm unangenehm, seine Zugehörigkeit zu seinem Glauben ­öffentlich zu vertreten, selbst wenn er stark gläubig wäre, und dasselbe mag für große Gruppenrituale gelten. Seine Tendenz zur Fremdenfeindlichkeit und seine Abneigung ­k ritischen Gedanken gegenüber würden ihn zu einem heißen Kandidaten für religiösen Fanatismus machen. Einige Religionen würden besser zu ihm ­passen als andere, vor allem solche, die nur eine einzige unbezweifelbare Wahrheit kennen. Doch wie es auch bei den modernen 235

Menschen der Fall ist, würde unser Neandertaler sich zunächst wahrscheinlich mit der Religion ­seiner Eltern am wohlsten fühlen. Fazit: Ein Neandertalersäugling, der bei modernen Menschen aufwächst, würde zu einem voll funktionsfähigen Erwachsenen heranwachsen. Er müsste weder in eine Anstalt noch irgendwie anders behandelt werden als moderne Kinder. Seine genetische Ausstattung in Sachen Kognition wäre außergewöhnlich, und das würde seine Entwicklung in bestimmte Bahnen lenken; doch könnte er alle Fähigkeiten erwerben, um ein normales modernes Leben zu führen. Aber gleiches Recht für alle: Wie würde ein moderner Mensch in der Welt der Neandertaler zurechtkommen?

Den Spieß umgedreht Besonders aufschlussreich wird unser Gedankenexperiment, wenn wir die Richtung ändern: Einen modernen Erwachsenen, den Außerirdische auf den Straßen von Paris entführen und vollkommen nackt um 50.000 Jahre in der Zeit zurückkatapultieren, würde wohl ein unschönes Schicksal erwarten. Erstens würden ihn die Neandertaler, wenn sie ihn fänden, bevor er tot wäre, wahrscheinlich für einen Feind halten und töten. Aber selbst wenn die Empathie der Neandertaler sie dazu veranlassen würde, unseren unfreiwilligen Doctor Who bei sich aufzunehmen, stünde er vor einer großen Herausforderung. Ohne das Know-how der Neandertaler, das er als Heranwachsender über Jahre hätte erwerben müssen, könnte er kaum mit ihnen mithalten, in jeder Hinsicht. Rein körperlich wäre er dazu möglicherweise schon nicht in der Lage, selbst wenn er nach modernen Standards als topfit gelten würde. Wäre er stark genug, hätte er von den meisten Dingen immer noch keine Ahnung, und sowohl das Fehlen eines neandertalerspezifischen Language Acquisition Device als auch sein Alter würden es ihm erschweren, ihre Sprache zu lernen. Einige Jahre lang wäre er eine Belastung für die Neandertalergruppe, und obwohl sie ihn sich vielleicht gerne als eine Art Haustier hielten, wären sie unter Umständen gar nicht in der Lage, ihn so lange zu versorgen, bis er mit ihnen auf einem Level wäre. Bis es so weit wäre, hätten sicherlich längst die Kälte und die körperliche Belastung ihren endgültigen Tribut gefordert. Vielleicht würden sie ihn in einer Höhle liebevoll in eine Senke platzieren, bedecken und bald darauf vergessen. 236

Wie im anderen Beispiel auch würde sich ein menschliches Kleinkind unter Neandertalern wahrscheinlich besser machen als ein Erwachsener. Die Strapazen des Neandertalerlebens würden auf unserem modernen Säugling allerdings schwerer lasten als auf seinen Neandertalergeschwistern, die physiologisch und anatomisch dem Stress besser gewachsen wären. Moderne Säuglinge entwickeln sich seit Tausenden Jahren in einer Art kultureller und technologischer Pufferzone, die die Neandertaler nicht kannten, und obwohl unsere Adoptivmutter ihr Bestes tun würde, käme unser Protagonist nur mit Ach und Krach über die Runden. Falls er seinen ersten Geburtstag erleben würde, könnte er langsam lernen, was es heißt, ein Neandertaler zu sein. Wie bei unserem adoptierten Neandertaler könnte das Lernen der Sprache ein echter Stolperstein sein. Unser modernes Kleinkind hätte kein NeandertalerLAD, und selbst wenn es einige grundlegende Funktionen des LAD vom Homo heidelbergensis geerbt hätte (z. B. die lexikalische Entwicklung), wäre ihm sein eigenes LAD hinderlich dabei, die grammatischen Regeln der Neandertalersprache zu erlernen. An den Standards der Neandertaler gemessen würde er sie nur sehr langsam lernen, aber am Ende könnte er sie dennoch sprechen und verstehen – wie auch die meisten Erwachsenen eine Zweitsprache schließlich zu beherrschen lernen. Die Erziehung wäre für ihn und seine Fähigkeiten eine ziemliche Herausforderung. Wie bei allen Jägern und Sammlern lernten die Kinder der Neandertaler, indem sie ihre Eltern beobachteten und das Gesehene nachahmten und übten. Aber es scheint, als hätten die Neandertalerkinder die Erwachsenen zudem bei der gefährlichen Jagd auf große Säugetiere begleitet. Sie mussten nicht nur durch Beobachtung lernen, sondern vielleicht auch schon in sehr jungen Jahren an den Aktivitäten ihrer Eltern teilnehmen. Expertenwissen aufzubauen dauert Jahre und benötigt unzählige Wiederholungen, und die Neandertaler begannen damit schon sehr früh. Es ist möglich, dass unser adoptierter moderner Mensch die vielen verschiedenen Fähigkeiten und Prozeduren der Neandertaler-Technologie nicht allzu schnell erlernen würde, aber in der Lage dazu wäre er auf jeden Fall. Das soziale Lernen würde ihm leichter fallen. Die Neandertaler stützten sich dabei auf die gleiche körperbezogene soziale Kognition, die die modernen Menschen benutzen, und unser modernes Kind würde sich in seiner ­Neandertalergruppe wohlfühlen. In Abwesenheit anderer bzw. moderner sozialer Vorbilder ist es kaum wahrscheinlich, dass unser Kind seine natürliche 237

Begabung zur sozialen Manipulation voll ausbilden würde. Seine Fähigkeiten zur Kosten-Nutzen-Analyse und Betrugserkennung hätten keinen Kontext, in dem sie sich entwickeln könnten; so amüsant es sein mag, sich für das Paläolithikum ein Szenario wie im Film Lügen macht erfinderisch vorzustellen, wobei unser kleiner Machiavelli unter den Neandertalern zum König der Trickbetrüger würde, so unwahrscheinlich wäre es. Unsere modernen sozialen Fähigkeiten scheinen sich für die Auseinandersetzung mit großen Gruppen entwickelt zu haben, die entferntere Bekannte und Fremde mit einschließen, und im Leben der Neandertaler gab es solche großen Gruppen einfach nicht. Im Leben der Neandertaler gab es keine Berufswahl – es gab schließlich nur einen Beruf: Großwildjäger. Sicherlich könnte unser moderner Mensch lernen, wie man Mammuts, Nashörner, Rinder und Gazellen jagt, aber er würde nie ein so versierter Jäger werden wie seine Neandertaler-Geschwister. Zum einen könnte er sich kaum so viele verschiedene taktische Manöver merken, und er wäre vielleicht auch ein bisschen langsamer, wenn es um die Beurteilung einer Situation und die Anwendung einer passenden Lösung ginge. Dieser Vorgang liefe bei ihm wohl nicht ganz so automatisch ab, und jedes Zögern würde er teuer bezahlen. Außerdem würde unser moderner Möchtegern-Neandertaler vielleicht auch nicht jene Arten von Verletzungen überleben, die Neandertaler irgendwann davontrugen. Andererseits würde er vielleicht Alternativen entdecken, auf die seine Neandertalerfreunde nie ­gekommen wären. Sein angeborenes erweitertes Arbeitsgedächtnis würde es ihm erlauben, verschiedene Verfahren miteinander zu vergleichen, sich aus jedem die besten Details herauszupicken und dadurch eine ganz neue Taktik zu entdecken. Aber dann wären da wieder seine Neandertaler-Verwandten, die ​verbissen an ihren erlernten Routinen festhalten und sich gegen alle Neuerungen wehren würden; seine allzu cleveren Ideen würden wahrscheinlich niemals umgesetzt werden. Wie würde sich unser Adoptierter als Jugendlicher machen, wenn es Zeit für die Partnersuche wäre? Vor allem käme es darauf an, ob in seiner territorialen Neandertalergemeinschaft die männliche oder weibliche Philopatrie vorherrscht. Wäre Letzteres der Fall, müsste unser moderner Jugendlicher seine Geburtsgemeinschaft verlassen und sich einer anderen anschließen; in diesem Fall stünden seine Chancen schlecht. Seine seltsame Erscheinung würde bei den männlichen Neandertalern der fremden Gruppe noch mehr Feindseligkeit erregen, als es ein Fremder ohnehin schon täte. Und die dort 238

verfügbaren Frauen wären alles andere als beeindruckt von dem mickrig gebauten Jungen, der nicht gut kämpfen könnte – als Partner eine schlechte Wahl. Unser Adoptierter könnte sich höchstens im Rahmen der männlichen Philopatrie fortpflanzen, wenn weibliche Neandertaler aus benachbarten ­Gemeinschaften auf Partnersuche ins Lager kämen. Er wäre immer noch genauso unattraktiv, aber es könnte immerhin sein, dass seine Familie ihn zu einem Zeitpunkt als einzig akzeptablen Kandidaten präsentiert. Er könnte Kinder zeugen, aber auch diese hätten wahrscheinlich nicht gerade den optimalen Phänotyp. Über kurz oder lang würden seine modernen Gene wahrscheinlich aussterben. Fazit: Unser adoptierter moderner Säugling könnte mit etwas Glück, wenn er groß würde, wie ein Neandertaler denken. Aber er wäre nicht besonders erfolgreich. Er wäre kaum dazu in der Lage, die Neandertaler aus der evolutionären Sackgasse herauszuführen, in der sie sich befanden. Seine einzig­ artigen kognitiven Fähigkeiten brächten ihm in der Welt der Neandertaler ­keinen direkten Vorteil. Vielleicht würde er sich aufgrund dieser Fähigkeiten in sozialer Hinsicht auf seltsame Weise unausgefüllt fühlen und ziemlich zerstreut oder geradezu seltsam wirken, aber in Ermangelung eines modernen kulturellen Milieus brächten sie ihm keine mentalen Vorteile.

Das Verschwinden der Neandertaler Heute leben keine Neandertaler mehr, der letzte starb vor etwa 30.000 Jahren oder etwas später im heutigen Spanien oder Portugal. Die meisten Popula­ tionen, ja generell die meisten Spezies, verschwinden irgendwann – entweder indem sie aussterben oder indem sie sich im Rahmen der Evolution in etwas verwandeln, das verschieden genug ist, dass es einen neuen Namen verdient. Insofern ist das Verschwinden der Neandertaler kein ungewöhnliches Ereignis; und doch übt es einen ungewöhnlichen Reiz auf uns aus, denn es hängt entweder direkt oder indirekt mit unseren eigenen Vorfahren zusammen. Die evolutionäre Geschichte des Homo sapiens sapiens kennen wir inzwischen ziemlich gut, zumindest in ihren Grundzügen. Wir entwickelten uns in Afrika aus einer dort einheimischen Population des Homo heidelbergensis. Vor 200.000 Jahren lebten im heutigen Äthiopien Menschen mit moderner Anatomie, und vor 100.000 Jahren begannen diese Menschen, Spuren zu 239

hinterlassen, die für das Verhalten des modernen Menschen typisch sind. Vor etwa 70.000 Jahren wanderten unsere Vorfahren aus Afrika aus, und binnen 60.000 Jahren (in evolutionärer Hinsicht quasi im Handumdrehen) besiedelten sie alle Ecken der bewohnbaren Welt, auch Nord- und Südamerika und sogar Australien. Unterwegs trafen sie auf viele einheimische Populationen archaischer Menschen und verdrängten sie. Dazu gehörten die Neandertaler, die in Europa und Westasien lebten. Diese Geschichte des modernen Menschen wurde und wird oft als eine evolutionäre Erfolgsgeschichte präsentiert, als Triumph des Geistes über die Muskeln. Wir sehen dies etwas anders: Für uns ist es eine traurige Geschichte, die von kultureller Inkompatibilität und evolutionärem Untergang erzählt. Um sie zu erzählen, wollen wir die Perspektive einer Neandertalergemeinschaft einnehmen, die vor 40.000 Jahren in Mitteleuropa lebte.

Die bösen anderen Die ersten dunklen Schatten der nahenden Veränderungen begegneten unserer Neandertalergemeinschaft in Form eines heranwachsenden Mädchens aus einer Nachbargemeinde im Osten, das auf der Suche nach einem Ehemann war, um sein Erwachsenenleben zu beginnen. Sie hatte beunruhigende Nachrichten im Gepäck: Östlich ihrer Geburts- und Wohnstätte waren dunkle, fremdartige Gestalten gesichtet worden. Sie selbst hatte diese gar nicht gesehen, aber die Frau ihres Bruders hatte ihr davon erzählt. Tratsch, Geplauder oder Geschichtenerzählen lagen den Neandertalern nicht, so dass das Gerücht wahrscheinlich bald darauf wieder erstarb. Schlimmstenfalls sorgte es bei den von Natur aus fremdenfeindlichen Neandertalern für eine vage Angst; den Wunsch, mehr über diese Fremden zu erfahren, verspürten sie nicht. Vielleicht erinnerte man sich dann Jahre später wieder an das ­Gerücht, als wieder ein junges Mädchen eintraf, aber dieses Mal hatte sie die seltsamen Fremden mit eigenen Augen gesehen. Wie hätte sie diese, aus ihrer Sicht als weiblicher Neandertaler, beschrieben? Die Fremden, wir wollen sie Cro-Magnon-Menschen nennen, sahen äußerst merkwürdig aus. Sie waren groß, im Schnitt eine Handbreit größer als der größte Neandertaler. Sie hatten dunkle Haut und dunkles Haar, ganz anders als die Neandertaler mit ihrem hellen Haar und ihren hellen Augen. Sie waren von Kopf bis Fuß in eng 240

anliegende, maßgeschneiderte Kleidung gehüllt. Wenn sie ihre Kleidung ­ablegten, sah man, wie dünn sie waren und wie wenig Muskeln sie besaßen. (Unser Neandertalermädchen hätte sie sicherlich ausgelacht.) Aber das Seltsamste waren ihre Köpfe: Diese waren knollenförmig, mit kleinen, fast kindlichen Gesichtern, kleinen Nasen und einem hässlichen vorstehenden Kinn. Die Neandertaler beobachteten zunächst nur Gruppen von Männern, die auf der Jagd waren; Männer, die ganz andere Jagdtechniken verwendeten als die Neandertaler. Anstatt große Tiere zu jagen, die ein kleines Gebiet bewohnten, legten diese Cro-Magnon-Menschen oft weite Strecken zurück, um an den entlegensten Stellen dem Wild aufzulauern (und dabei durchquerten sie mehrere Territorien der Neandertaler). Und sie griffen die Tiere aus der Entfernung an, schleuderten ihre Speere mit einem Gerät, das ihren Arm verlängerte. Die Speere selbst waren lang und dünn, mit Spitzen aus Knochen oder Geweih statt aus Stein. Es dauerte mehrere Stunden, diese Speerspitzen herzustellen, nicht nur ein paar Minuten wie die Levallois-Spitzen. Noch überraschender war, dass beim Jagen keine Frauen und Kinder dabei waren. Wo waren die, und was taten sie? Als die Cro-Magnon-Menschen ihnen allmählich näherrückten, stellten unsere Neandertaler fest, dass ganze Gruppen von Frauen und Kindern abseits der Männer damit beschäftigt waren, Nahrung zu suchen. Sie versuchten nicht, große Tiere zu töten, sondern konzentrierten sich auf Kleintiere; oft benutzten sie große Netze, um kleine Säugetiere zu fangen. Gelegentlich bauten sie sogar Vorrichtungen, mit denen sie diese Tiere töten oder einfangen konnten, wenn sie selbst gar nicht in der Nähe waren; dann kehrten die Frauen tags darauf zurück, um ihre Beute einzusammeln. Bald waren diese Cro-Magnon-Menschen nicht mehr nur ein Gerücht von irgendwoher, sondern sie ließen sich mitten in den Territorien nieder, die die Neandertaler bewohnten. Je näher sie ihnen kamen, desto mehr Möglichkeiten boten sich wagemutigeren Neandertalern, zu beobachten, was diese Menschen sonst noch auf Lager hatten. Das Leben in den Wohnstätten der Cro-MagnonMenschen unterschied sich sehr von dem der Neandertaler. Ihre face-to-faceGruppen waren viel größer – es lebten nicht nur ein paar miteinander verwandte Kleinfamilien zusammen, sondern Dutzende von Individuen. Manchmal lebten sie in Höhlen, die vorher von Neandertalern bewohnt gewesen ­waren, aber dann breiteten die Cro-Magnon-Menschen ihr Lager zu beiden Seiten der Höhlenöffnung aus. Oft errichteten sie auch große Feuerstellen, und 241

ältere Männer und Frauen hielten das Feuer den ganzen Tag lang am Brennen, während die anderen auf Nahrungssuche waren. Lange nachdem sie gegessen hatten, saßen die Menschen noch gruppenweise um das Feuer herum. Manchmal redete einer von ihnen, stundenlang, und die anderen hörten ihm aufmerksam zu. Und manchmal tanzten sie, zu den Klängen ihrer Trommeln und ihrer Flöten aus Vogelknochen. Die Cro-Magnon-Menschen verschwendeten viel Zeit damit, sich zu schmücken und nutzlose Gegenstände herzustellen. Sie legten sich kleine Stücke aus poliertem Elfenbein, auf eine Schnur gereiht, um den Hals und steckten sie sich sogar durch die Ohrläppchen. Das Seltsamste aber waren die kleinen Tierfiguren, die sie in stundenlanger Arbeit aus Elfenbein und Knochen schnitzten. Unseren Neandertalern erschienen einige dieser Aktivitäten verwirrend, aber einige durchaus auch interessant und faszinierend. Die Neandertaler änderten ihre eigene Erscheinung ebenfalls, mit Farbpigmenten, und es könnte auch sein, dass sie die Idee übernahmen, sich mit Perlen oder Anhängern zu schmücken, um attraktiver zu wirken. Falls ein Neandertaler eine Figur fand, die ein Cro-Magnon-Mensch verloren hatte, kann es gut sein, dass er sie als kurioses Souvenir behielt, genauso wie die Neandertaler ihrerseits hübsche Kristalle sammelten. Aber ein Neandertaler hätte wenig Sinn darin gesehen, das Tierfigürchen nachzumachen. Die Neandertaler besaßen keine ausgeprägte symbolische Kultur und auch keine narrative Tradition, und ihre Kinder spielten nicht mit Spielzeug – es gab bei ihnen keine Rolle, die das Figürchen hätte spielen können. Auch produzierten die Neandertaler keine Höhlenmalereien, sie wagten sich nicht tief in Höhlen vor, und sie hatten kein symbolisches, religiöses Leben, das sie zelebrierten. Unsere Neandertaler wunderten sich sehr darüber, wie die Neuankömmlinge mit Fremden umgingen. Die Cro-Magnon-Menschen verließen oft ihre heimatlichen Gebiete, um andere Menschen aufzusuchen, die an weit entfernten Orten lebten. Sie hatten Geschenke dabei und kehrten Tage oder Wochen später zurück, mit Artefakten und Materialien, die sie in den fremden Gegenden erworben hatten. Und im Gegenzug bekamen sie ebenfalls Besuch von Fremden, und diesen begegnete man nicht mit Feindseligkeit – im Gegenteil. Was aber das Schlimmste war: Die Cro-Magnon-Menschen wollten auch mit unseren Neandertalern interagieren. Zunächst versuchte ein CroMagnon-Mensch einen direkten Ansatz und näherte sich ihnen mit offenen Händen und offenen Armen, als Geste friedlicher Absicht. Unsere Neander242

taler schreckten vor diesen Gesten zurück. Vielleicht versuchten die Cro-­ Magnon-Menschen dann einen verzögerten Güteraustausch: Sie ließen etwas offen liegen, damit die Neandertaler es nehmen konnten. Die Neandertaler nahmen es, ließen aber im Gegenzug nichts zurück; wirtschaftliche Verhandlungen gehörten nicht zum Repertoire ihrer kognitiven Werkzeuge. Schließlich gaben die Cro-Magnon-Menschen ihre Versuche auf. Eine der merkwürdigsten Tatsachen in der Kulturgeschichte der Neandertaler und Cro-Magnon-Menschen ist, dass beide Gruppen mehrere Tausend Jahre lang gemeinsam in Westeuropa lebten und es trotzdem sehr wenige glaubwürdige Beweise für eine Interaktion gibt. Der geringe genetische Austausch zwischen ihnen fand bereits 20.000 Jahre vorher statt, im Nahen Osten, wo sie zum ersten Mal miteinander in Berührung kamen, und es scheint ein sehr einseitiger Kontakt gewesen zu sein, von den Neandertalern hin zu den modernen Menschen; die Neandertaler-DNA hat keinerlei Spuren der DNA des modernen Menschen. In Sachen Technologie übernahmen die Neandertaler nichts vom Cro-Magnon-Menschen. Es ist nicht so, dass die Neandertaler nicht in der Lage gewesen wären, solche Dinge herzustellen, wenn sie es gewollt hätten; sie wollten es einfach nicht. Aber auch die Cro-MagnonMenschen übernahmen nicht viel, wenn überhaupt etwas, von den Neandertalern, und das ist ziemlich seltsam. Der moderne Mensch war schon immer gut darin, sich das nützliche Wissen indigener Populationen anzueignen, wenn er mit diesen in Berührung kam. Die Neandertaler müssen über ortsbezogene Kenntnisse verfügt haben, die für die Cro-Magnon-Menschen ­einen ganz unmittelbaren Nutzen gehabt hätten. Und dennoch sehen wir keine Anzeichen für eine solche Aneignung. Es scheint, als hätten Neandertaler und Cro-Magnon-Menschen eine stillschweigende Übereinkunft gehabt, ­einander vollständig zu meiden. Tatsächlich gibt es Grund zur Annahme, dass Neandertaler und Cro-Magnon-Menschen in ihrer Lebensweise so verschieden waren, dass beide Gruppen einander meiden und dennoch erfolgreich sein konnten – aber nur für eine gewisse Zeit. Das Klima der Erde begann sich vor etwa 30.000 Jahren dramatisch abzukühlen, und in Europa begann das Gletschereis des Nordens, sich wieder nach Süden zu verschieben. Als es kälter wurde, verschwanden zunächst bestimmte Tiere. Die Neandertaler waren schon früher mit solchen Bedingungen fertig geworden, und sie konzentrierten sich auf neue Tierarten. Aber diesmal waren sie nicht die einzigen Jäger. Die Cro-Magnon-Menschen 243

mussten sich ebenfalls anpassen, und sie taten es auch, aber viel schneller und viel dramatischer. Im Laufe weniger Jahre, nicht von ein paar Generationen, wie es die Neandertaler taten, entwickelten sie neue Strategien und erfanden neue Technologien. Und plötzlich war das Gleichgewicht, in dem Neander­ taler und Cro-Magnon-Menschen bislang miteinander gelebt hatten, gestört. Da sie dieselben Ressourcen ausbeuteten, standen sie nun in direkter Konkurrenz miteinander. Es gibt keine Hinweise auf gewalttätige Begegnungen, und doch muss es welche gegeben haben. In einem fairen Kampf wäre ein Cro-Magnon-Mensch für einen Neandertaler kein ebenbürtiger Gegner gewesen, aber es gab wahrscheinlich nur wenige Auseinandersetzungen, und die waren nicht fair. Die Jagdgruppen der Cro-Magnon-Menschen waren zu groß, und sie besaßen Wurfspeere. Die Neandertaler mussten sich zurückziehen. Schließlich wurden sie auf der Iberischen Halbinsel in die Enge getrieben, wo sie noch eine Weile blieben, aber durch ihre Denkweise waren sie einfach nicht in der Lage, jeden umweltbedingten Winkelzug der Cro-Magnon-Menschen entsprechend zu beantworten. Vielleicht waren die Anpassungsmechanismen der Neandertaler zu sehr von erlernten Routinen bestimmt, vielleicht waren sie zu sehr auf bestimmte Ziele ausgerichtet und an bestimmte Landschaften gewöhnt. Im direkten Wettbewerb mit dem CroMagnon-Menschen mussten sie neue Nahrungsquellen erschließen und neue Technologien erfinden. Und beides waren in der Kognition der Neandertaler keine besonders gut ausgebildeten Bestandteile. Vielleicht hatte ihre Unfähigkeit zu reagieren aber auch gar nichts mit ihrer Kognition zu tun: Ihre territorialen Gemeinden waren klein und verstreut, und wenn eine territoriale Gemeinschaft von anderen isoliert wurde, hatte sie keinen Zugang zu potenziellen Geschlechtspartnern mehr und musste aussterben. Wenn dies ein paar Tausend Jahre so gegangen war, ­waren die Neandertalerpopulationen schließlich an einen Punkt gekommen, an dem sich ihre Demografie nicht mehr erholen konnte. Sie verschwanden ­einfach und gingen so der Welt für immer verloren. Die Neandertaler leben heute nur noch in unserer dunkelsten kulturellen Erinnerung. Es ist durchaus möglich, dass Figuren europäischer Volksmärchen wie Trolle, Zyklopen oder sogar Zwerge ihre Wurzeln in der Begegnung zwischen Neandertalern und Cro-Magnon-Mensch haben. Aber Geschichten von seltsamen menschenähnlichen Kreaturen gibt es auf der ganzen Welt, und die Neandertaler waren das nicht. Heute spielen die Neandertaler ihre 244

wichtigste Rolle in der wissenschaftlich fundierten Erzählung. Als Paläontologen vor über einem Jahrhundert französische Neandertaler beschrieben, war das eine öffentliche Sensation, und die Neandertaler hielten schnell Einzug in den kulturellen Mainstream, durch fiktive Darstellungen in Romanen und Filmen. Und dort leben sie immer noch und werden dies auch weiter tun – als Stereotyp. Unsere Studenten fragen uns oft, ob Wissenschaftler jemals in der Lage sein werden, einen Neandertaler zu klonen (als ob das grundsätzlich wünschenswert wäre). Sie sind fasziniert von der Existenz dieser Menschen, die ein ganz anderes Leben führten, aber dennoch irgendwie so waren wie wir. Das ist letzten Endes das Schicksal der Neandertaler: Sie leben weiter als ­ungenaue Spiegelbilder unser selbst.

245

Glossar Abri La Ferrassie Eine Halbhöhle nahe des französischen La Ferrassie, wo man im Jahr 1909 die Überreste mehrerer Neandertaler entdeckt hat. Die Stätte enthält u. a. Hinweise auf Maßnahmen der Neandertaler zum Schutz von Leichnamen. Abri Pataud Eine Halbhöhle im Südwesten Frankreichs, in der man eine etwa 23.000 Jahre alte felsengesäumte Feuerstelle gefunden hat, die man mit dem Homo sapiens in Verbindung bringt. Abric Romani Eine Halbhöhle im Nordosten Spaniens mit Anzeichen von Neandertaler-Feuerstellen, die zwischen 40.000 und 70.000 Jahre alt sind. Abschlagtechnik Der Prozess des Abschlagens von Teilen eines Steins zur Herstellung von Steinwerkzeugen. Akklimatisierung Nicht genetische Anpassung des Körpers an örtliche Bedingungen wie Temperatur und Höhe. Allensche Regel In der Evolutionswissenschaft die Theorie, dass Säugetiere, die in kalten Lebensräumen leben, über relativ kurze Gliedmaßen verfügen, und Säugetiere in warmen Lebensräumen über relativ lange Gliedmaßen. Diese Proportionen ergeben sich aus der natürlichen Auslese der zur Wärmedämmung oder Kühlung geeigneten Länge der Gliedmaßen. Allesfresser Ein Tier, das sowohl Pflanzen als auch Fleisch frisst. allozentrisch Wahrnehmung eines Objekts oder einer Szene nicht aus der eigenen Perspektive oder Sicht, sondern aus der eines anderen. Alter Mann von La Chapelle-aux-Saints Einer der berühmtesten Neandertaler, die jemals entdeckt wurden. Er erlitt diverse Verletzungen und litt an einer Vielzahl von Krankheiten, u. a. stellte man bei ihm Arthritis, degenerative Gelenke, gebrochene Knochen und Zahnverlust fest. Man schätzt, dass er vor etwa 60.000 Jahren gelebt hat. Altweltaffen Affen, die in Afrika und Asien beheimatet sind, z. B. Paviane, Makaken, Meerkatzen und Languren. 246

antisoziale Persönlichkeitsstörung Auch psychopathische Persönlichkeit (Psychopathie) oder soziopathe Persönlichkeit (Soziopathie). Diese Menschen können wenig oder gar keine Rücksicht auf die Gefühle oder das Leben anderer Menschen, sogar Kinder, nehmen und sind dadurch sehr gefährlich. appropriate incongruities Die Vorstellung, dass wir es auf ganz natürliche Weise witzig finden, wenn etwas in gewisser Weise absurd oder unsinnig ist, z. B.: „Kommt ein Känguru in eine Bar …“ Arbeitsgedächtnis Es gibt zwei verschiedene Definitionen dieses Begriffs: Die eine bezeichnet eine Art kurzfristiges verbales Gedächtnis, das Informationen nur kurz speichert und abrufen lässt, z. B. eine Telefonnummer. Die andere bezieht sich auf ein komplexes Modell eines Gedächtnisses mit vier Komponenten (zentrale Exekutive [hilft einem, aufmerksam zu sein], phonologische Schleife [das, was man hört], visuell-räumlicher Notizblock [speichert, was man sieht, sowie Richtungen] und episodischer Puffer [speichert und integriert die Inhalte der anderen Komponenten]). In diesem Sinne besteht das Arbeitsgedächtnis aus Informationen, die trotz Interferenzen (Ablenkungen) gespeichert und manipuliert werden können. Asperger-Syndrom Eine Art von Autismus, aber ohne verzögerte Sprachentwicklung in der Kindheit. Atlatl Eine Speerschleuder, eine Verlängerung des Arms, mit der man Speere über größere Entfernungen werfen kann als mit dem bloßen Arm. Australopithecus afarensis Eine Art ausgestorbener Hominiden, die vor 3,5 Millionen Jahren in Afrika lebten und möglich Vorfahren des Homo erectus waren. Ihr Oberkörper war ähnlich dem der Affen, aber Australopithecus afarensis ging auf zwei Beinen. Das berühmteste Exemplar (Skelett) dieser Art hat man Lucy genannt. Autismus Eine Störung in der Entwicklung des Gehirns, die gekennzeichnet ist durch die Unfähigkeit, sozial und emotional mit anderen Menschen zu interagieren und mit anderen Menschen zu kommunizieren, sowie durch Einschränkungen im Verhalten und Verhaltenswiederholungen. autobiografisches Gedächtnis Die gespeicherten Erinnerungen an die eigene Lebensgeschichte und die eigenen Erfahrungen der Vergangenheit; auch episodisches Gedächtnis genannt. autonoetisches Bewusstsein Auch Autonoese genannt; ein Bewusstsein für die Willkür der Zeit: dass Menschen in ihren Köpfen Zeitreisen anstellen 247

können, indem sie sich an vergangene Ereignisse erinnern oder sich zukünftige Ereignisse vorstellen. Bergmann’sche Regel In der Evolutionswissenschaft die Theorie, dass Säugetiere, die in kalten Lebensräumen leben, über relativ kompakte Körper ­verfügen, und Säugetiere in warmen Lebensräumen über relativ lang­ gestreckte Körper. Diese Proportionen ergeben sich aus der natürlichen Auslese der zur Wärmedämmung oder Kühlung geeigneten Körpermasse. Betrugserkennung Die Fähigkeit, zu erkennen, ob eine andere Person unredlich handelt (lügt, betrügt, manipuliert oder untreu ist). Bipedie Das Gehen auf zwei Beinen. Blombos-Höhle Eine 77.000 Jahre alte Fundstätte an der Südküste Südafrikas, die einige der frühesten Zeugnisse persönlichen Schmucks, Perlenketten sowie gravierte Objekte und Werkzeuge aus Knochen enthielt. Bonobo Pan paniscus, eine Schimpansenart, die kleiner als der Gemeine Schimpanse (Pan troglodytes) ist und die sich in einigen wichtigen Verhaltensmerkmalen von diesem unterscheidet. Brocasche Sprachregion Einer der vorderen Bereiche des Hominiden-Gehirns, der mit der Produktion von Sprache und anderen Funktionen in Zusammenhang steht. Buschbaby Auch Galago, eine kleine (bis zu 350 g schwere) nachtaktive ­Primatenart aus Afrika (Halbaffen). cm³ Kubikzentimeter. Ein Golfball hat ein Volumen von etwa 41 cm³, ein Baseball misst etwa 212 cm³, der Kopf eines modernen Homo sapiens sapiens etwa 1.350 cm³, der Kopf eines Neandertals etwa 1.500 cm³ und ein Basketball etwa 7.284 cm³. Code Switching Der Wechsel zwischen verschiedenen Versionen einer Sprache (z. B. zwischen formellem und informellem Deutsch, wie in „Guten Tag!“ und „Yo“, „Digger!“) oder zwischen verschiedenen Sprachen (z. B. zwischen Deutsch und Spanisch, wie in „Guten Tag!“ und „¡Buenos días!“) je nach Kontext. Contre-coup-Effekt Ein Schlag an einer Seite des Kopfes lässt das Gehirn im Schädel an die gegenüberliegende Seite des Schädels stoßen (weg vom Ort der Verletzung); dabei weist das Gehirn an der Contre-Coup-Seite oftmals eine größere Dysfunktion auf als an der Stelle, wo der Schädel ­zunächst direkt in Mitleidenschaft gezogen wurde. Cro-Magnon-Mensch Informelle Bezeichnung für den modernen Menschen (Homo sapiens sapiens), wie er in Europa vor etwa 40.000 Jahren lebte. 248

Der Name rührt von Skelettresten her, die man 1868 im Abri de CroMagnon nahe dem französischen Les Eyzies gefunden hat. deklaratives Gedächtnis Die gespeicherten Wörter und ihre Bedeutung. Zwei Arten deklarativer Erinnerungen werden häufig aufgeführt: das semantische Gedächtnis, das für das Abrufen von Fakten und Wortlisten zuständig ist, und das episodische Gedächtnis, für das Abrufen persön­ licher Erfahrungen, an die man sich oftmals erinnert wie an eine Geschichte, zu der eine Zeit, ein Ort und bestimmte Gefühle gehören. diplomatische Sprache Redeweise, die die Hintergedanken oder die echten Gefühle des Sprechers verbirgt, mit der dieser aber dennoch das erlangt, was er von seinem Gegenüber möchte. DNA Desoxyribonukleinsäure, eine Säure, die bei allen Lebewesen (mit Ausnahme einiger Viren) den genetischen Bauplan enthält. Doctor Who Ein fiktiver Zeitreisender in einer schon sehr lange laufenden Fernsehserie der BBC. Dolní Věstonice Ein Ort in der Tschechischen Republik, wo vor etwa 27.000 bis 24.000 Jahren Homo sapiens sapiens lebten; hier haben Archäologen umfangreiche Hinweise auf deren tägliches Leben ausgegraben, u. a. Belege für rituelle Handlungen. dominantes Gen Einzelnes Gen, das die physischen Eigenschaften der Nachkommen beeinflusst. Dschingis Khan Ein mächtiger zentralasiatischer Kriegsherr der späten 1100er Jahre. Er begründete und regierte das mongolische Reich, das größte Reich in der Geschichte. Einschlafzuckungen Auch hypnagogischer Ruck genannt; ein unwillkür­ liches Zucken der Muskeln, das normalerweise auftritt, wenn eine Person beginnt, einzuschlafen. Embodiment Das Konzept, dass der physische Körper mit all seinen Sinnen beeinflusst, wie wir denken, und dass auch Werkzeuge und andere Utensilien (z. B. ein Blindenstock) unsere Wahrnehmung der Welt beeinflussen. episodisches Gedächtnis Siehe autobiografisches Gedächtnis. evolutionäre Psychologie Ein Zweig der Psychologie, der sich mit der Rolle beschäftigt, die die natürliche Auslese in der Evolution des Gehirns, des Geistes und des Verhaltens spielt. exekutive Funktionen der Frontallappen Eine Reihe von Fähigkeiten des vorderen Teils des Gehirns, u. a. Aufmerksamkeit, aktive Verhinderung 249

schlechten Verhaltens, Entscheidungen, Planung und die Fähigkeit, Dinge in eine bestimmte Reihenfolge zu bringen. Fossilisation Versteinerung; der Prozess, bei dem die Mineralien im Boden die Chemikalien in den Knochen (oder manchmal auch das Fleisch) toter Organismen ersetzen. Dies kann mehrere Zehntausend Jahre ­ ­dauern, daher sind viele Neandertaler-Skelette nur teilweise versteinert und enthalten noch ein wenig organisches Material (Fleisch, Haut, nicht-­ fossile Knochen). FOXP2 Ein Gen u. a. bei Menschen, Säugetieren und Vögeln, das einen Beitrag zur Kommunikationsfähigkeit leistet. Man hat es auch in der DNA der Neandertaler gefunden. Mutationen von FOXP2 führen beim modernen Menschen zu schwerwiegenden Sprechproblemen und bei Singvögeln zu Kommunikationsproblemen. frankokantabrische Höhlenkunst Die älteste von mehreren erhaltenen Beispielen für Höhlenkunst in Nordspanien und Südwestfrankreich, etwa 14.000 bis 34.000 Jahre alt. Sie umfasst die spektakulären Höhlenmale­ reien von Tieren und viele andere Bilder im französischen Chauvet und Lascaux sowie im spanischen Altamira. Gehirnströme Unterschiedliche Arten elektrischer Aktivität, die durch das Gehirn produziert werden und durch auf der Kopfhaut platzierte Elektroden gemessen werden können. Gen Vererbungseinheit aller lebenden Organismen. Gene befinden sich in der DNA eines Organismus. Geschlechtsdimorphismus Die Unterschiede in Körpergröße und Merkmalen der nicht-reproduktiven Anatomie zwischen männlichen und weiblichen Exemplaren derselben Spezies. Bei Primaten korreliert ein größerer sexueller Dimorphismus (wenn die Männchen viel größer sind als die Weibchen) mit einer größeren Aggressivität zwischen einzelnen Männchen. Gesher Benot Ya’acov Eine Stätte im Norden Israels, wo man den frühesten allgemein anerkannten Nachweis für die vorsätzliche Verwendung von Feuer (vor 790.000 Jahren) gefunden hat. Go Ein altes chinesisches Brettspiel mit kleinen schwarzen und weißen Steinen. Halbaffen (Prosimiae) Primaten, die nicht zu den Affen oder Menschenaffen gehören und evolutionär gesehen älter sind als Affen und Menschenaffen. Dazu gehören unter anderem Lemuren, Buschbabys und Koboldmakis. 250

Herto Eine Fundstätte in Nord-Mittel-Äthiopien, wo man etwa 160.000 Jahre alte Überreste von drei Schädeln gefunden hat, die viele anatomische Züge des modernen Menschen aufweisen; es scheint, als habe man das Fleisch von diesen Schädeln entfernt und sie danach möglicherweise in Taschen herumgetragen. Hirnschädel Derjenige Teil des Schädels, der das Gehirn umgibt. Hominid Ein Mitglied der Familie Hominidae. Gemäß Linnéscher Taxonomie zählen dazu sowohl der Mensch als auch seine fossilen Vorfahren und Verwandten. In der modernen kladistischen Taxonomie umfasst die Familie der Hominiden zudem alle Großen Menschenaffen. Einige Paläoanthropologen verwenden indes weiterhin die Linnésche Bedeutung. Homo erectus Wörtlich: „aufrechter Mensch“, eine Spezies vollständig auf zwei Beinen gehender Hominiden, die vor etwa 1,8 Millionen Jahren in Afrika auftauchten. Er war wesentlich größer als frühere Hominiden, ­hatte einen Hirnschädelinhalt von 800 bis 1.100 cm³ und besetzte eine adaptive Nische, die es ihm erlaubte, viele verschiedene Lebensräume in Afrika, Asien und Europa zu besetzen. Homo heidelbergensis Möglicher gemeinsamer Vorfahr von Neandertalern und modernen Menschen, der vor etwa 600.000 bis 250.000 Jahren in Europa und Afrika lebte. Er hatte einen Hirnschädelinhalt von 1.100 bis 1.300 cm³, wodurch er dem des modernen Menschen nahekam (1.000 bis 2.000 cm³). Homo neanderthalensis Siehe Neandertaler. Homo sapiens Wörtlich: „Mensch, der weiß“; die Spezies, die uns, die modernen Menschen, bezeichnet (auch bekannt als Homo sapiens sapiens). Das erste sapiens ist die Spezies, das zweite sapiens ist die Unterart. Daher wird der Neandertaler mitunter auch als Homo sapiens neandertalensis bezeichnet, was anzeigt, dass wir und der Neandertaler zur selben Spezies gehören, aber nicht zur selben Unterart. Huftier Jede Art von Tier mit Hufen, wie Rentiere, Hirsche und Ziegen; die primären Beutetiere der Neandertaler. Hypnagogie Ein traumähnlicher Bewusstseinszustand zwischen Wachen und Schlafen, der auftritt, wenn man gerade beginnt einzuschlafen. Hypoplasie Unvollständige Entwicklung eines Gewebes, eines Organs oder der Zähne. Sie kann von schlechter Ernährung in der Kindheit herrühren oder genetisch bedingt sein. hypothetisch „Was wäre, wenn“: z. B. „Was wäre, wenn wir jenen Weg ge­ gangen wären anstatt diesen?“ 251

Iberische Halbinsel Das heutige Spanien und Portugal. Index Eine Art Zeichen, das seine Bedeutung durch eine bestimmte Assoziation mit einem Objekt vermittelt, auf das es sich bezieht. Ein Beispiel ist ein Hufabruck, der anzeigt, dass vor Kurzem ein Hirsch anwesend war, der diesen Abdruck hinterlassen hat. Inhibition Die Fähigkeit, schlechtes Benehmen oder Verhalten zu unter­ drücken, das von anderen negativ beurteilt werden könnte. Jabberwocky Nonsens-Gedicht von Lewis Carroll, dem Autor von Alice im Wunderland. Kali Hindu-Göttin der Zeit und der Veränderung; sie wird in der Regel mit dem Tod assoziiert. Kanzi Name eines Bonobo-Männchens (Schimpansenart), das lernte, mit Menschen über Zeichen zu kommunizieren und Stein zu bearbeiten. Kebara-Höhle Eine Höhle auf dem Berg Karmel im Norden Israels, wo vor etwa 50.000 Jahren Neandertaler lebten. Die dortige Fundstätte hat die Überreste von 23 Neandertalern ergeben, darunter zwei Bestattungen, sowie Steinwerkzeuge und Reste zubereiteter Speisen. kontrafaktisch Ein „Was wäre, wenn …“-Satz, der der Realität entgegensteht, z. B.: „Wenn ich König wäre, würde ich dir eine Million Euro schenken.“ Krapina Eine Höhle in Krapina, Kroatien, wo Neandertalerknochen gefunden wurden, die auf Kannibalismus hinweisen. Kurzzeitgedächtnis Informationen, die der Verstand weniger als ein paar Minuten lang speichert, in der Regel sogar nur ein paar Sekunden lang. La Chapelle-aux-Saints Eine Fundstätte in der Mitte Frankreichs, wo man eines der berühmtesten Neandertaler-Skelette entdeckt hat, das bekannt geworden ist als Alter Mann von La Chapelle-aux-Saints. La Cotte de St. Brelade Ein Stätte auf der Insel Jersey im Ärmelkanal, wo Neandertaler Mammuts und Nashörner über eine Klippe trieben und danach schlachteten. Language Acquisition Device (LAD) Die natürliche geistige Leistungsfähigkeit, die es menschlichen Säuglingen ermöglicht, auf einfache Weise Sprache zu erwerben und zu produzieren. Langzeitgedächtnis Informationen, die der Verstand länger als ein paar ­Minuten speichern kann, unter Umständen sogar viele Jahre. Lazaret Auch als Grotte du Lazaret bekannt. Eine prähistorische Höhle im Südosten Frankreichs nahe der Mittelmeerküste, die die Überreste 252

e­ iner Hütte enthält, die vor etwa 160.000 Jahren von Neandertalern ­erbaut wurde. Levallois In der Steinzeittechnologie eine Technik, mittels der jemand einen Steinkern so vorbereitete, dass er damit die Größe, Form und Dünne des Abschlags kontrollieren konnte. Lexigramm Eine visuelles Symbol, das ein Wort darstellt und das verwendet wurde, um Kommunikation mit Bonobos und Schimpansen zu ermög­ lichen. Löwenmensch vom Hohlenstein-Stadel Eine aus Elfenbein geschnitzte ­Statue mit Löwenkopf und menschenartigem Körper, etwa 32.000 Jahre alt. Es ist die älteste bekannte Skulptur, die Elemente eines Menschen mit Elementen eines Tieres verbindet. Sie wurde im Jahr 1939 in einer Höhle im Südwesten Deutschlands gefunden. Lucy Der Name, den man dem Skeletts eines weiblichen in Äthiopien gefundenen Australopithecus afarensis gegeben hat. Lucy lebte vor etwa 3,2 Millionen Jahren. Maastricht-Belvédère Ein Ort im Südosten der Niederlande, wo Marjories Kern gefunden und wieder zusammengesetzt wurde. Machiavelli Ein italienischer Philosoph, Politiker und Schriftsteller der Renaissance, dessen Name zum Synonym für Hinterhältigkeit, Verschlagenheit und Gier geworden ist. Marjories Kern Ein Levallois-Steinkern aus Maastricht-Belvédère im Südosten der Niederlande, den man aus Abschlägen wieder zusammensetzen konnte. Er wurde nach der Person benannt, der es gelang, ihn zu rekonstruieren. Menschenaffen Menschenähnliche Primaten mit Schwänzen. Menschen­ affen und Menschen hatten vermutlich einen gemeinsamen Vorfahren vor etwa 30 Millionen Jahren. Middle Stone Age (MSA) Fachbegriff für die Prähistorie Afrikas vor etwa 280.000 bis 25.000 Jahren; entspricht nicht der europäischen Mittelsteinzeit. Mitochondriale DNA (mtDNA) Doppelstrang-DNA (genetisches Material), die sich in den Mitochondrien einer Zelle befindet. Da sich die meiste andere DNA im Zellkern befindet, nimmt man an, dass die mtDNA ­einen von der Nukleus-DNA separaten evolutionären Ursprung hat. Bei Säugetieren und den meisten anderen Organismen wird die mtDNA nur von der Mutter vererbt. In DNA-Studien zur jüngsten menschlichen 253

E ­ volution mittels mtDNA oder Y-Chromosomen ergab die mtDNA nur mütterliche Vererbungsmuster, die Y-Chromosomen nur väterliche Vererbungsmuster. Interessanterweise weichen die dabei geschätzten Zeiträume leicht voneinander ab. Mitochondrien Eine von einer Membran umschlossene Organelle im Zytoplasma einer Zelle, die den Großteil der Energie einer Zelle erzeugt. Molodova 1 Fundstätte an der Nordwestecke des Schwarzen Meers, wo Neandertaler vor etwa 45.000 Jahren Steinwerkzeuge und einen Windschutz herstellten. Moula-Guercy Eine Höhle im Südosten Frankreichs, wo man über 100.000 Jahre alte Beweise für Kannibalismus unter Neandertalern entdeckt hat. Muskelatonie Natürliche Lähmung des Körpers, die während des REMSchlafs auftritt und verhindert, dass man sich in Reaktion auf seine Träume bewegt. Nahrungssuche Das Suchen von Nahrung oder Proviant im Gegensatz zu Getreideanbau, Landwirtschaft oder Tierhaltung. Neandertaler Auch Homo neanderthalensis oder Homo sapiens neander­ thalensis (andere Schreibweise: Neanderthaler). Eine robuste menschliche Spezies, die in Europa vor rund 250.000 Jahren entstand und vor etwa 30.000 Jahren oder etwas später ausstarb. Ihr Hirnschädelinhalt war der größte unter allen Vertretern der Gattung Homo und betrug 1.250 bis 1.700 cm³ (im Durchschnitt 1.427 cm³). Neophobie Auch Misoneismus genannt, ein vom Psychologen C. G. Jung ­geprägter Begriff. Er bezeichnet eine Angst davor, etwas auf eine neue Art und Weise zu tun. neurotisch Ein Begriff aus der Psychologie, der eine Person beschreibt, die Ängste hat und dazu neigt, die Realität zu verzerren und falsch zu interpretieren, aber nicht so sehr, wie ein psychotischer Mensch es tut. Neuweltaffen Affen, die in Mittel- und Südamerika beheimatet sind, z. B. Krallenaffen, Tamarine, Kapuzineraffen, Totenkopfaffen, Brüllaffen und Klammeraffen. Ontogenese Die Entwicklung eines jeden Organismus von der befruchteten Eizelle zu ihrer vollständigen adulten Form. Ein alter Spruch in der Biologie besagt: „Ontogenese rekapituliert Phylogenese.“ Das bedeutet: Die Entwicklung eines individuellen Organismus bietet Einblick in die Evolu254

tion seiner ganzen Spezies. Es ist jedoch durchaus möglich, dass dies manchmal nicht der Fall ist. Orkney-Inseln Auch Orkaden, eine Inselkette vor der Nordküste Schottlands, die seit etwa 6.000 Jahren bewohnt ist. Ortvale Klde Eine Halbhöhle im georgischen Kaukasus (im hintersten Südosteuropa), wo Neandertaler vor etwa 50.000 Jahren Tur jagten, eine dort vorkommende Bergziegenart. Paläoanthropologie Das Studium der Menschen der Vorzeit anhand von Fossilien, Pflanzenresten und Steinwerkzeugen, mit einem besonderen Schwerpunkt auf Menschen und Hominiden, die vor über 20.000 Jahren lebten. Paläoindianer Bezeichnung für die frühesten amerikanischen Ureinwohner, die vermutlich vor etwa 15.000 Jahren aus Asien dort einwanderten. Sie waren erfahrene Großwildjäger, die über ein ausgeklügeltes System des Speerwurfs verfügten und Speere mit abnehmbarem Vorschaft verwendeten. Peninj Stätte im ostafrikanischen Tansania, wo Hominiden vor etwa 1,4 Millionen Jahren Steinwerkzeuge verwendeten, um Holz zu bearbeiten. Perikymatien Mikroskopische Wachstumslinien, die auf der Oberfläche des Zahnschmelzes eine Reihe von Kerben bilden; mit ihnen kann man das Alter des Zahnbesitzers feststellen. Persönlichkeitsstörung Ein Begriff aus der Psychologie, der bedeutet, dass eine Person andere stört oder ihnen Angst macht, ihr aber das eigene Verhalten nicht weiter negativ auffällt. Philopatrie Am Ort der eigenen Geburt bleiben oder dorthin zurückkehren. Bei der männlichen Philopatrie bleiben männliche Exemplare einer Spezies am Geburtsort des Vaters, um sich zu paaren und fortzupflanzen; bei der weiblichen Philopatrie bleiben weibliche Exemplare einer Spezies am Geburtsort der Mutter, um sich zu paaren und fortzupflanzen. Phylogenie Die Entwicklung und Veränderung einer Spezies im Laufe ihrer Entwicklungsgeschichte. Piktogramm Eine Art Zeichen, das funktioniert, weil es eine wahrnehmbare Ähnlichkeit mit dem Gegenstand besitzt, auf den es sich bezieht. Ein Beispiel ist ein Straßenschild mit der Silhouette eines Hirsches, das die Bedeutung „Wildwechsel“ vermittelt. Pinnacle Point Eine Höhle im Süden Südafrikas, die Hinweise darauf bietet, dass sie vor 170.000 und 40.000 Jahren bewohnt war, und wo Perlen und 255

Steinwerkzeuge gefunden wurden, die auf die Zeit vor etwa 100.000 Jahren datieren. Pirahã Ein Stamm von Jägern und Sammlern aus dem Amazonasgebiet in Südamerika. Sie sprechen eine Sprache (die ebenfalls Pirahã heißt), die deshalb ungewöhnlich ist, weil sie keine Wörter für Zahlen und Farben zu haben scheint und auch einiger anderer üblicher Sprachfunktionen entbehrt. prozedurales Gedächtnis Die gespeicherten Informationen darüber, wie man Dinge tut, z. B. Jonglieren, Fahrradfahren oder Steinbearbeitung. psychopathische Persönlichkeit (oder Psychopath) Siehe: antisoziale Persönlichkeitsstörung. psychotisch Ein Begriff aus der Psychologie, der Realitätsverlust bezeichnet. Pyrotechnologie Der vorsätzliche Gebrauch und die Beherrschung des Feuers durch den Menschen. Rekursion In der Sprache das Einfügen eines Wortes oder einer Phrase in ein anderes Wort oder eine andere Phrase, das dazu führt, dass sich die Bedeutung des gesamten Wortes oder der Phrase ändert. REM rapid eye movement, eine Phase des Schlafs (beim Menschen 25 %), in dem man lebhafte Träume erlebt. retromolarer Raum Der Raum an der Rückseite des Kieferknochens zwischen dem letzten Backenzahn und dem aufsteigenden Teil des Kiefers. Er ist bei den Neandertalern nicht immer vorhanden, hilft aber dazu, Funde als Neandertaler zu identifizieren. rezessives Gen Ein einzelnes Gen, das keinen Einfluss auf die physischen Eigenschaften der Nachkommen hat, außer es wird mit einem ähnlichen Gen vom anderen Elternteil gekoppelt. Ungekoppelt bleibt ein rezessives Gen in der DNA der Nachkommen verborgen, kann aber zukünftige Generationen von Nachkommen beeinflussen (wenn es mit einem ähnlichen Gen eines zukünftigen Elternteils gekoppelt wird). Ritual Bestimmte Handlungsweisen, die auf eine immer gleiche, unveränderliche Art und Weise und unter bestimmten Umständen durchgeführt werden. Sie haben oft symbolischen Wert, so z. B. die Behandlung und Entsorgung von Leichnamen (durch Bestattung o. Ä.). robust Körper mit grobschlächtiger Anatomie, dicken Knochen und nachweislich hohem Muskelanteil, in der Regel im Vergleich mit grazilerem Körperbau (z. B. der Neandertaler im Vergleich zum modernen Menschen). 256

Salzgitter-Lebenstedt Eine Fundstätte in Niedersachsen, wo Neandertaler Rentiere gejagt und geschlachtet haben. Schädelausguss Abguss oder Abdruck des Inneren eines versteinerten Schädels, der einige Eigenschaften und die Form des Gehirns zeigt, das sich einst im Schädelsinneren befand. Schäftung Verbinden zweier Gegenstände zur Herstellung eines Werkzeugs oder einer Waffe, z. B. einer Speerspitze mit einem Stab oder eines Axtkopfes mit dem Schaft. Schamane Ein religiös Praktizierender, der sich auf persönlich erworbene übernatürliche Kräfte verlässt, auch Medizinmann (oder -frau) genannt. Er galt vielfach als Bote zwischen Menschen und Geisterwelt und behandelte oft auch Erkrankungen und Verletzungen. Schimpanse Spezies der Menschenaffen, die in West-, Zentral- und Ost­afrika beheimatet ist; der engste lebende Verwandte des Menschen. Schimpansen und moderne Menschen hatten vermutlich einen gemeinsamen Vorfahren, der vor etwa 8 Millionen Jahren lebte. Schizophrenie Eine psychische Störung, die durch Wahnvorstellungen und Halluzinationen gekennzeichnet ist. Schöningen Eine in Niedersachsen gelegene Fundstätte einiger etwa 400.000 Jahre alter hölzerner Speere. semantisches Gedächtnis Die im Gedächtnis gespeicherten Informationen wie Namen, Begriffe, Fakten usw. Shanidar Eine Höhle im Zagros-Gebirge im Nordirak, wo seit 1953 mindestens neun Neandertalerskelette gefunden worden sind; diese datieren zurück bis vor etwa 50.000 Jahren. Die in dieser Höhle gefundenen Neandertalerskelette sind jeweils nach der Höhle benannt und durchnummeriert (also Shanidar Nr. 1, Shanidar Nr. 2 usw.). Sima de los Huesos Wörtlich „Knochengrube“. Ein Stätte im Norden Spaniens, wo die Gebeine von mehr als 30 Exemplaren der Art Homo heidelbergensis gefunden wurden, die auf vor etwa 400.000 Jahre datieren; die Individuen scheinen durch einen tiefen Schacht in die Höhle gefallen oder geworfen worden zu sein. soziale Kognition Ein Begriff aus der Psychologie, der sich auf alle Denkprozesse (logisches Denken, Erinnerung usw.) bezieht, die wir verwenden, um mit anderen Menschen zu interagieren. soziopathe Persönlichkeit (oder Soziopath) Siehe: antisoziale Persönlichkeitsstörung. 257

Sprache System zur Kommunikation auf Basis der Verwendung von Symbolen und Regeln zu ihrer Verknüpfung (Grammatik). St. Cesaire Eine Halbhöhle im Départment Charente-Maritimes im Südwesten Frankreichs, wo im Jahr 1979 35.000 Jahre alte Neandertaler-Schädel entdeckt wurden. Stoizismus Schmerzen oder Schwierigkeiten ertragen, ohne Gefühle zu zeigen oder sich zu beschweren. Benannt nach einer Schule altgriechischer Philosophen, die ungern ihre Gefühle zeigten und ungern über Schmerzen oder Leid klagten. Störung Ein Begriff in der Psychologie, der ein Verhalten bezeichnet, das für einen selbst oder andere Menschen schädlich ist. Der Begriff Störung bedeutet auch, dass diese Person immer wieder ihren Job verliert, von der Schule fliegt oder nicht mit anderen Menschen zurechtkommt. Sungir In Russland gefundene Begräbnisstätte, wo vor etwa 27.000 Jahren drei moderne Menschen, ein Erwachsener und zwei Jugendliche, begraben wurden, zusammen mit Tausenden von Perlen, Elfenbeinornamenten und Speeren. Symbol Eine bestimmte Art Zeichen, das weder aussieht wie das Objekt, das es bezeichnet, noch in irgendeiner Weise auf es hinweist; stattdessen kommt die Bedeutung eines Symbols durch soziale Übereinkunft (z. B. mittels Sprache). Ein Beispiel ist das Wort „Reh“ (ein beliebiger Laut), das für das Tier „Reh“ steht (das Objekt, das dieser Laut aufgrund einer sprachlichen Übereinkunft bezeichnet). Symbole können auch stark persönlichen Charakter haben und dadurch allein für den Urheber des Symbols Sinn ergeben. Syntax Die Regeln einer Sprache für die Herstellung von Sätzen; im Englischen z. B. gibt es die Regel, dass das Subjekt eines Satzes normalerweise vor dem Verb steht. Tata Eine Stadt im Nordwesten Ungarns, wo man einen Stein gefunden hat, von dem man glaubt, in ihn habe ein Neandertaler gezielt etwas eingeritzt (eine einfache Linie, die eine natürliche Kerbe kreuzt). Theory of Mind (ToM) Die Fähigkeit, die Gedanken, Einstellungen oder Überzeugungen anderer Menschen zu verstehen. Tur Auch Kaukasischer Steinbock; eine Bergziegenart, die im georgischen Kaukasus lebt und vor etwa 50.000 Jahren von Neandertalern gejagt wurde. Ursprache Eine Sprache, die zeitlich weiter zurückliegt und möglicherweise einfacher ist als moderne Sprachen. 258

Zeichen Etwas, das für etwas anderes steht; Zeichen sind z. B. Wörter, Bilder, Gesten, Gerüche, Texturen und Geräusche. Die kognitiven Fähigkeiten, die dazu notwendig sind, aus verschiedenen Arten von Zeichen (Piktogrammen, Indizes, Symbolen) Sinn zu extrahieren, unterscheiden sich von Tier zu Tier (und dazu gehört auch der Mensch). Zeichensprache Eine Sprache, die Finger- und Armbewegungen anstatt Töne verwendet, um Worte und Ideen zu kommunizieren. Zwangsstörung Ein Begriff aus der Psychologie, der einen Zustand beschreibt, bei dem eine Person Gedanken hat, die nicht verschwinden und die dazu führen, dass diese Person Ängste hat, und bewirkt, dass sie sinnlose Verhaltensweisen wiederholt, wie zwanghaftes Händewaschen oder die wiederholte Überprüfung bestimmter Dinge.

259

Register abgeschlachtete Tierkadaver, Fundstätten Abri La Ferrassie (Frankreich), Begräbnisstätte 143f Abri Pataud (Frankreich), Halbhöhle 157 Abric Romaní (Spanien), Fundstätte  106, 155–157 Affen Abwanderung als Mittel gegen ­Inzucht  121–123 fehlende Paarbindung  110, 113–115 Schimpansenjagd  53f, 67 sexuelle Attraktivität von ­Weibchen  117 Strategien für Zusammen­ arbeit 123 SW-Schlaf  194–198, 205–208 Warnrufe (Sprache)  167 Zurschaustellung von Humor  178f, 190 Aiello, Leslie  22 Allen, Joel  19 Alter Mann von La Chapelle-auxSaints  32, 103, 112, 143 Altern  32, 35, 103, 111–113, 115, 120, 126, 185, 190, 195–197, 225, 236, 242 260

American Sign Language  186 Amud-Neandertaler 25 Anatomie der Neandertaler. Siehe auch: physische Erscheinung der ­Neandertaler Körpergröße  26, 115 Nasen  11f, 19f, 23 Studien von Trinkaus  23, 28f, 31–33, 214 Anpassung der Neandertaler an ­Kälte  20, 22–23, 155–157, 243 antisoziale Persönlichkeits­ störung 225f Arbeitsgedächtnis  230, 232–234, 238 Ausbildung  fehlende, bei Neandertalern  100 Lernen, Werkzeuge zu verwenden  46f, 59, 71–76, 79–83 Stradivari-Beispiel 83 Aussehen der Neandertaler klassischer Körpertyp zur Speicherung von Wärme  19f Muster degenerativer Gelenk­ erkrankungen 32 Zähne/Kiefer Halten von Fleisch mit den Vorderzähnen 103 Studie Ernährung/Zähne  33f

Vergleich mit modernen ­Menschen  111 Verlust von zum Kauen ­nötigen Zähnen  32–34 Australopithecus afarensis (Lucy) 192 Autoritätsreihung (in der sozialen Kognition) 133 Ayla und der Clan des Bären (Auel) 28 Baumschlaf (Schlafen in Bäumen)  192, 195, 197f, 200, 206, 208 Begräbnisstätten  Abri La Ferrassie  143f, 146f, 217 Kebara 217f La Chapelle-aux-Saints  32, 143, 146 Leichenbehandlungen  140, 217 Shanidar 28–32 Berger, Thomas  32f, 214 Bergmann, Christian  19, 22 Berufswahl von Neandertalern, in der modernen Welt  238 Bestattungsriten. Siehe: Leichenrituale; Tod; Methoden der Behandlung von Leichen Bevölkerungsstruktur (Männer/ Frauen, alt/jung) bei Familien­ gruppierungen 111f British Sign Language  186  Brocasche Sprachregion (des ­Gehirns)  171, 176, 228  Christliches Kruzifix  137f Clownähnliches Verhalten der Neandertaler  186f, 189–191

Code Switching im Gebrauch von Sprache(n)  170, 231 Coleridge, Samuel Taylor  203 Cro-Magnon-Menschen 240–244 Alltagsleben 241 Aussehen 240 Reisen 241 wahrscheinlich Begegnungen mit Neandertalern 243–245 Crow, Tim  233 De Lumley, Henry  105f Delta-Wellen-Schlaf 194 Denken wie ein Neandertaler (in der modernen Welt)  228–236 Berufswahl 233–235 religiöse Überzeugungen  235f romantische Liebe und Heirat  127f Sprachhandlung 228–231 Wachstum von Kindern bis ins Erwachsenenalter 230 Der Witz und seine Beziehung zum Unbewussten (Freud)  181f Dessales, Jean-Louis  180 Die Traumdeutung (Freud)  200 DNA-Genom, Studien  14–19, 123, 146, 243 Dolní Věstonice (Tschechische ­Republik)  158 Dominguez-Rodrigo, Manuel  71 Dr. Jekyll und Mr. Hyde (Stevenson) 203 Dschingis Khan  116 Dunbar, Robin  131, 191

261

Ehe (moderner Mensch) Fehlende „Kinder“-Kompo­nente  120f Inzucht, negative Folgen von  121 männliches vs. weibliches Fremdgehen 118 Paarbindung (im Vergleich zu)  113f Eiszeit  Anforderungen zur Versorgung mit Nahrung  41 Jagdtechniken der Neander­ taler 44 Elefanten  Fossilienfunde 36 Jagd durch Mbuti-Pygmäen  40f Profil sozialer Gruppen  41 Vergleich mit Mammut  41 Embodiment-Perspektive, der Erledigung von Aufgaben  81, 128 endotherme Merkmale der Säuge­ tiere 20 episodisches Gedächtnis  61, 63, 65, 206 Ernährung der Höhlenmenschen. Siehe auch: Jagen und Sammeln Bergziegenjagd (Tur)  43f, 48, 62 essbare Pflanzen  38–40, 44f, 50f, 59, 118f, 122, 144 eurasischer Lebensraum  38, 69 Hinweise auf Säugetierknochen  24, 26, 29, 33f, 49, 50f, 70f, 99, 102, 104, 147 Hülsenfrüchte, Samen, Nüsse  25, 30, 34, 103 Jagd auf Gazelle, Hirsch, wildes Rind, Wildschwein  24, 26, 29f, 36, 43, 46f, 73, 79, 169 262

Kalorienbedarf  17, 25, 34, 47, 73, 75f, 79, 82f, 104 Landschildkröten 30 Mammutjagd  32f, 47, 53, 71–73, 100, 112, 148, 166 Probleme in der Verteilung von Nahrungsmitteln  22, 25, 29f, 32– 34, 36, 46f, 72f, 81, 144f, 147, 168, 170 Probleme mit Zähnen und ­Kauen  11, 15, 32–34, 49, 103 Quellen tierischen Eiweißes  39f  Rentierjagd  21, 39, 43, 48, 50 Schlachten getöteter Tieren  43, 72, 119, 130, 147 Speiseangebot 109 eurasische Neandertaler  38, 69 Europa  9f, 15, 17, 18, 20–23, 38–40, 43f, 46, 53, 68f, 79, 103, 106, 119, 126, 135, 152–155, 162–164, 217f, 221, 240, 243f Abri Pataud, Halbhöhle  157 Abric-Romani-Neandertaler 106, 155–157 Alter Mann von La Chapelle-auxSaints  32, 103, 112, 143 DNA-Vergleichsstudien 17 Eiszeit  20–22, 36, 38, 41, 43, 46, 53, 106, 155, 221 Evolution der Neandertaler in  9f Grotte-du-Lazaret-Neandertaler 105 Jagd auf kleine/große Tiere  119 La Ferrassie, Begräbnisstätte  143f, 146f, 217f La-Cotte-de-St.-Brelade-Neandertaler 36f

Maastricht-Belvédère 90f Molodova-Neandertaler 107f, 130  Moula-Guercy-Neandertaler 147, 211f Salzgitter-Lebenstedt-Neander­ taler  43, 130 Evolution Bevölkerungsstruktur (Männer/ Frauen, alt/jung)  111f geschlechtliche Arbeitsteilung  59, 118, 120 kleine face-to-face-Gruppen 132 soziale Gruppen/soziales Leben  73, 120f, 140, 154, 189, 225, 229f, 239 soziale Kognition  129 soziale Organisation auf Basis der Nahrungsmittelversorgung 111, 120 soziale Rollen  118, 140, 221 Steinwerkzeuge, Überreste des Steinabschlagens  59, 71–74, 153f, 171f Vokalisierungskommunikation 169 Exkarnation 142 Experten (und Know-how)  Abkürzungen entwickelt von 88f Definition 84 Entwicklung des Langzeit­ gedächtnisses 86–90 Schachmeister-Beispiel 88–90 Steinwerkzeugerstellung, -anpassung  98, 119, 171, 208 Zerstückelungs-/VerkettungsTechnik  87–89, 101

Fähigkeiten, Bedrohungen zu ­vermeiden (Priming)  200 Familien  Alter, Geschlecht, Lebensgeschichte (Muster)  112 Bedeutung der Großmutter ­(Hadza-Kultur)  124 Erfahrungen der Neandertaler als Kinder 228–230 Großfamilie 127f Grotte-du-Lazaret-Neander­ taler 105–107 Gruppenbildung zur Nahrungssuche 110 Gruppierungen moderner Jäger und Sammler  110, 118f, 122, 124 La-Cotte-de-St.-Brelade-Neandertaler 36f Lagerstätten (zum Schlafen), ­Hinweise auf  144 Moldova-Neandertaler 107–109, 130 Neandertaler-Schimpansen-­ Vergleich 109f, 122 Paarbindung 120f Paarungsmuster 121–126 Probleme bei der Verteilung von Nahrungsmitteln 155–161 tägliche körperliche Arbeit  110f Wachstum von Kindern  111f Feuer  Abwehr von Hyänen durch  49 als Beweis für symbolische ­Kultur  136, 139 als Schwerpunkt sozialer Tätigkeit 157  Gebrauch bei der Jagd, in Australien 159f 263

Gesher Benot Ya’aqov  154 Kochen/Wärmenutzung  156, 158 Krapina, Höhle  148f, 151, 218 Moula Guercy, Höhle  147f, 211f ritueller Gebrauch durch den ­modernen Menschen  159–161 Verwendung bei der Werkzeugherstellung 79 Verwendung in Ritualen  161  Feuerstellen der Neandertaler  104– 113 Fiske, Alan Page  132f Fleisch mit den Vorderzähnen ­halten  103 Fortleben einer Person nach dem Tod  140, 143, 150–152, 219 FOXP2-Gen  18f, 176 Freud, Sigmund  117, 141, 181f, 197, 199f, 223 Fundstätten, verschiedene Arten von  44, 106f, 146, 148, 154f, 162f, 218 Gamble, Clive  159 Gargett, Rob  146 Gatewood, John  82 Geburtshilfe beim Neandertaler  112 Gefahrensimulation 199 Gehirne der Neandertaler Brocasche Sprachregion und Sprache  171, 176, 228 Größenvergleich mit modernem Menschen 11 Lappenvergleich 27 gemeinschaftliches Teilen (in der ­sozialen Kognition)  133 Genetik der Neandertaler  14f Gemeinsamkeiten mit dem ­modernen Menschen  16–19 264

genetische Ausstattung für ­Sprache  18f Neandertaler-Genom  17–19, 226 Rolle in Anatomie, Physio­ logie 18 geschlechtsspezifische Arbeitsteilung der Neandertaler  51 Gesher Benot Ya’aqov (Israel), Fundstätte 154 Gesicht des Neandertalers  10–12 Gleichheitsherstellung (in der sozialen Kognition)  133 globale Erwärmung  20  Grotte du Lazaret (Frankreich), Fundstätte 105–107 Hartmann, Ernest  204 Herto (Äthiopien), Fundstätte  152f  hohe Risikotoleranz (Persönlichkeitsmerkmal) bei Neander­ talern 214 Höhlenmalerei (moderner Mensch) 161–163 Hominiden. Siehe auch: Homo ­heidelbergensis Beschreibung 23 Evolution von Kognition und Sprache 174f männliche Philopatrie, soziale Anpassung 123 Neurosen 224 Nutzung von Feuer  154f Steinabschlagen 98 Träume 199–207 weibliche Energieanforderungen  115 Homo erectus  Erdboden 191

Schärfen von Stöcken  71 Schlaf 208 Sexualdimorphismus 115 Verwendung von Feuer  154f Homo heidelbergensis  Ähnlichkeiten mit Neander­ talern  23, 163, 175 Aufgeben der Philopatrie  125 Begräbnissymbolik 152  Buntpigmente 164  Erinnerungsvermögen 98 Evolution des modernen ­Menschen vom  125 Evolution des Neandertalers vom 239 Größe des Gehirns  175 Kommunikation/Sprache 171, 173 Language Acquisition Device (LAD)  229, 237 Leichenbehandlung 152 Speerherstellung 71 Homo neanderthalensis  10 Homo sapiens sapiens  anatomische Besonderheiten  23f, 152 Angriffe auf Neandertaler  31, 185, 216f Angst der Neandertaler vor  185, 240 face-to-face-Gruppen  191, 225 Fallen im Traum  193 Kompetenzen im Umgang mit Fremden  124, 132f, 135, 148, 177, 217, 219f REM-Schlaf  194–198, 202, 205– 209

rituelle Aufführungen  58, 141f, 148–151, 159–161 Schädelvergleich 25 Schlaf auf dem Erdboden vs. Schlaf im Baum  197f, 206–208 Studie zum Vergleich mit Neandertalern 16–19 Studien zu Verletzungen von ­Neandertalern  238 Sungir (Russland), Begräbnis­ stätte 218 SW-Schlaf, Anteil  194–198, 205–208 Träume im Vergleich mit Neandertalern 197–204 Vererbung der Kommunika­tion  174–177 Verwendung von Feuer  67, 81, 86, 153–155, 158–159, 161, 164, 185, 234 Howe, Elias  203 Humor, moderne Studien. Siehe auch: Witzeerzählen hypnagoger Zustand (hypnagoge ­Zuckungen)  193 Innovation Definition (Wörterbuch)  96 Erfindung (im Vergleich mit)  95f Inspiration/Methoden der  96f Schäftung von Steinspitzen  95, 97f, 101 Inuit in Kanada  Essgewohnheiten  50, 119 Planung der Jagd  50, 64 Wartung der Technik durch ­Frauen  51, 119 265

Inzucht, negative Folgen  121–123 Jagen und Sammeln Arbeitsteilung, Fehlen von  50 australische Yir-Yoront-Ureinwohner 207 Bedeutung von Mobilität  45–47, 110, 215 Bergziegenjagd 43–45 eiszeitliche Jagdtechniken  241 Essenssuche, flexibler Ansatz zur  45, 48f, 109–110, 126f, 130, 149, 175, 225, 242 Europa: Jagd auf kleine/große Tiere 119 Fähigkeiten im Verfolgen einer Route/Kenntnis einer Route  55–60 Gruppenbildung in der Groß­ familie zur Nahrungssuche  127 kognitive Implikationen  63–69 Mammutjagd  78f, 106–108, 110, 149, 167, 214, 238 Mbuti-Pygmäen, Elefantenjagd 40 Methoden der Schimpansen  53f, 63–67, 71, 109f, 112 Neandertaler Planungs­ methoden 64–69 paläoindianische Techniken  41f Planungsmethode der Menschen 64f Rentierjagd 43–48 Vergleich moderner Mensch/ Neandertaler 42 Versammlungsorte 109 Verwendung von prozeduralem Gedächtnis 63 266

Werkzeuge 70–102 Jung, C. G.  217 Kannibalismus  147–149, 153, 209, 211–213 Moula-Guercy-Neander­ taler  147f , 211f Überleben/rituelle Arten von 142f Kebara-Höhle (Israel)  Begräbnisstätte  145, 156 Funde von Überresten von ­Tieren/Pflanzen  144  Leichenrituale 156 Kekulé, Friedrich  203 Keller, Charles und Janet  82 Kognition/kognitive Prozesse. Siehe auch: Erinnerung, technisches ­Denken und Lernen; Denken wie ein Neandertaler Betrugserkennung 135 Embodiment-Perspektive  81, 128 geteilte Aufmerksamkeit  101 Jagen und Sammeln, Implika­ tionen von  213 Know-how, Entwicklung von  233, 236 Rolle der Spiegelneuronen  85 soziale Kognition  127–132 Steinwerkzeugherstellung, -anpassung 216f Streckenkenntnis, Fähigkeit  59 Theory of Mind  100 Verallgemeinerungen über  227– 245 Werkzeugbau, geistige Fähig­ keiten 100f

Witzeerzählen und Planung, ­Fähigkeiten  178–191 Kommunikation. Siehe: Sprache und Kommunikation; Symbole und Symbolik Konservatismus (Persönlichkeitsmerkmal) bei Neandertalern  164 Körpergröße der Neandertaler  25f, 115 Krapina-Höhle (Kroatien)  148f, 151, 218  Kreuzungen zwischen Menschen und Neandertalern  17 Kuhn, Steven  50f La Cotte de St. Brelade Entdeckung tierischer Fossi­lien  36f face-to-face-Familienversammlungen 61f Säugetierjagd  40, 42f, 45, 126, 167, 174 Versammlungsstätten  48, 109, 130, 175 Lächeln bei Neandertalern  130, 178f, 190f Lachen bei Neandertalern  178f, 182, 186f, 190f Lagerplätze (kleine Lagerplätze)  40, 45, 47f, 110, 144, 239, 241 Lagerstätten, Hinweise auf (Grotte du Lazaret)  105–107 Lakonie (Persönlichkeitsmerkmal) bei Neandertalern  221 Language Acquisition Device (LAD)  228f, 237 Langue des signes française  186

Leichenrituale (nach dem Tod)  141f, 147, 149–151, 212 Löwenmensch vom Hohlenstein-­ Stadel, Statuette  138f Lucy (Australopithecus afarensis)  192, 200  Maastricht-Bélvèdere (Niederlande), Fundstätte 90f Mammuts  Fossilienfunde 36 Jagd bei La Cotte de St. Brelade  36 Jagdtechnik der Neandertaler  37, 41f Jagdtechnik der Paläoindianer 41f Risiken der Jagd  41 Marktpreisbildung (in der sozialen Kognition) 133 Mbuti-Pygmäen (Ituri-Regenwald, Kongo) 40 Meditation (beim Menschen)  159f Mehlman, Michael  72 Mendelejew, Dmitri  203 Mensch (moderner Mensch) Anatomie/Genetik  13f, 181, 239 Angriffe auf Neandertaler  31, 185 Arbeitsteilung  50f, 59, 114f, 118– 120, 141 Begräbnisrituale 218 DNA-Vergleiche  14, 16–19, 243 Ehe  114f, 118, 120, 124f, 141, 231 Erscheinungsbild im Vergleich zu Neandertalern 185 267

Evolution vom Homo heidel­ bergensis  237, 239, 176 evolutionäre Trennung vom ­Affen  9, 173 Feuer, ritueller Gebrauch von  177, 185, 229 Freude an Überraschungen, Angst  63, 67, 128, 140, 180f, 217, 220 Geburt, Abstände (im Vergleich zu Affen)  116f gemeinsame Abstammung mit Schimpansen 192 Höhlenmalerei  161, 242 Humorentwicklung bei Säuglingen 189–191 Jagd im Vergleich zu Neander­ talern  54, 67, 122, 124, 131, 191, 207 Jagd im Vergleich zu Schimpansen  65–67, 109 Jäger- und Sammler-Gruppen  122, 124, 131 Leben im Szenario einer Neandertalerwelt 236–239 Meditationspraxis 159f Planung der Jagd 63–69 REM-Schlaf im Vergleich zu Schimpansen  194f, 197f Schlafen im Vergleich zu Neandertalern 207f Spiegelneuronen im Gehirn  85 Spracherwerb  84, 173, 229 Todesfurcht 149 Vergleich der Gehirngröße  11, 25 Vergleich der Intelligenz  26 Vergleich mit Affen  111, 190, 192, 197 268

Vermischung mit Neander­ talern 17 weibliche Reproduktionsstrate­ gien 120 Zähne im Vergleich zu Neandertalern  11, 15, 32f, 111 Menschenaffen Abwanderung als Maßnahme ­gegen Inzucht  121 Beibringen der Zeichensprache  167f evolutionäre Trennung vom ­Menschen  9 Geburtsintervalle im Vergleich zum Menschen  111 lebenslange Paarbindung bei ­Gibbons  113 männliche Philopatrie  123 soziale Anpassung  123 Methoden der Behandlung von­ ­ eichen L Herto 152f Kannibalismus 211–213 Kebara  144–147, 151, 217f Krapina  148–151, 218 La Ferrassie  143f, 146f, 217f Leichenrituale  141f, 147–151 Moula-Guercy  147f, 211f Sima de los Huesos  152  mikronesische Seeleute, siderisches Navigationssystem 56f Misoneismus (Jung)  217 Mithen, Steven  179 Mittlerer Osten, Neandertaler  17, 119 mitochondriale DNA (mtDNA)  16 moderne Welt, Szenario der Neandertaler in  228–236

Moldova-Neandertaler ­(Ukraine)  107–109, 130 motorisches Gedächtnis und Leistungssport 84–88 Moula-Guercy-Neandertaler 147f, 211f Mutter, Anne-Sophie  87 Nahrung. Siehe: Ernährung der Höhlenmenschen Nase der Neandertaler  11, 19f, 23 Nashorn-Fossilien (La Cotte de St. Brelade)  36, 40 Navajo-Todesritual 142 Neandertal 9 Neandertal Genome Analysis ­Consortium  17 neurotisches Verhalten  223f Nutzungskomponente der Sprache  166–177  O’Connell, James  124  Oring, Elliot  179f Orkney-Inseln, Todesritual  142 Ortvale Klde (Kaukasus), Fund­ stätte 44 Pääbo, Svente  17f Paarbindung  Beschreibung/Gründe für  110, 141 Ehe (im Vergleich zu)  113–115, 120 Entwicklung, für Neander­ taler 126–128  Fehlen bei Affen  113

Körperhaltung 128f Paarung (Partnersuche)  46, 113f, 121–126, 238f Packer, Alfred G. „Alferd“  212 Paläoindianer (nordamerikanische Ebenen) 41f Persönlichkeitsmerkmale von ­Neandertalern autonoetisches Bewusstsein, ­fehlendes  217–219 Barmherzigkeit und Mit­gefühl  35, 214, 230 Diplomatie, fehlende  219–221 Dogmatismus (Persönlichkeitsmerkmal) bei Neandertalern  216f, 221 fehlende Diplomatie und Hemmungen, Lakonie, Fremdenfeindlichkeit 219–221 fehlendes autonoetisches Bewusstsein 217–219 Fremdenfeindlichkeit 219–221, 231, 235, 240 Furchtlosigkeit 214 Hemmungen, fehlende   219–221 Herzlosigkeit 215f Mut  68, 214 Neophobie, Rigidität, Sturheit, Dogmatismus 216f Pragmatismus 211–213 psychische Störungen  221–226  Rigidität 216f Stoizismus  184, 213f, 220, 233  Sturheit 216f Traditionalismus 216f Persönlichkeitsstörungen 224–226 269

Planung Arbeitsgedächtnis  66f, 97f, 101, 131, 160, 188, 208–210, 230, 232– 234, 238 Jagdmethoden der Inuit  64 Jagdmethoden der Neander­ taler 65 Jagdmethoden der Schim­ pansen 63 kognitive Schritte  52–54 Professional Rodeo Cowboys ­Association  33 prozedurales Gedächtnis  61, 63, 65f, 85, 89, 97, 101, 204–206, 208, 232 psychische Störungen (mögliche) der Neandertaler  neurotisches Verhalten  223f Persönlichkeitsstörungen 225f Schizophrenie 222–224 Störung der Impulskontrolle  223 Quellen tierischen Eiweißes (Ernährungsbedürfnisse). Siehe: Ernährung der Höhlenmenschen Regeln als Bestandteil der Sprache  228, 230, 237 „Regeln“ für Körperformen (bei ­Säugetieren)  19f Relationsmodelle der sozialen ­Kognition (Fiske)  132f REM-Schlaf (rapid eye movement)  Gefahren 196–198 Homo sapiens sapiens  197 prozedurales Gedächtnis  204–206, 208 Schlaf auf dem Erdboden vs. 270

Schlaf im Baum  208 Vergleich mit Affen  208 Vergleich mit Neandertalern  209f Vergleich Neandertaler/ Mensch 210 Vorteile 198–202 Revonsuo, Antti  199f rituelle Handlungen nach dem Tod  151–153 ritueller Kannibalismus  147–153, 209, 211–213 Roebroeks, Will  90, 93 romantische Liebe  Austausch Mann-Frau  116–118 Kognition/physiologische ­Aspekte  115 Paarung (Partnersuche)  117 sexuelle Anziehung, Kompo­nente  128 Rossano, Matt  159–161 Sagan, Carl  72 Salzgitter-Lebenstedt (Deutschland), Fundstätte  43, 130 Säugetiere  Evolution nach der Eiszeit  21 „Regeln“ für Körperformen  19f Reise-/Navigationstechniken 55 Vergleiche der Hirngröße  26 Schäftung von Steinspitzen  77–79 Schimpansen Familienvergleich mit Neander­ talern 109 gemeinsame Vorfahren mit ­Menschen  208 Herstellung von Steinwerk­ zeugen 100

Herstellung rudimentärer Speere  71 Humor angezeigt durch  178f, 190–198 Jagdmethoden 110 Konzept der Selbstregulierung  122 neurotische Verhaltensweisen  220 psychische Störungen  224 REM-Schlaf im Vergleich zum Menschen 195 Strategien für die Affenjagd  53f Vokalisierungskommunikation  166 Schizophrenie  183f, 222f Schlaf alte Bedrohungen, in Träumen wiedererlebt 199 Gedächtnis und Lernen  204–206 Gefahren  192, 195–198 hypnagogischer Schlaf (Stadium I)  193f leichter Schlaf (Stadium II)  194f Neandertaler und Träume  198 prozedurales Gedächtnis  204– 208, 232 REM-Phase  194–198, 202, 205– 209 Schlaf auf dem Erdboden vs. Schlaf im Baum  197f, 200, 206, 208 Schlaf im Baum  192, 195 Schlafbereich an der Feuerstelle  206, 208 SW-Schlaf (Stadium III/IV)  194– 198, 205–208  

Traumtheorie 199f Vergleich Mensch/Neander­ taler 196–198 Vergleich Mensch/Schim­ panse/Affe 195f Vorteile 198–202 Vorteile ununterbrochenen Schlafs 206f Schlanger, Nathan  91 Schöningen, Fundort von Speeren  71f, 79, 90f semantisches Gedächtnis  61, 63, 65 Semaw, Selesi  74 sexueller Zugang. Siehe: Paar­ bindung Shackleton, Ernest  56f Shanidar-Neandertaler (Irak/ Kurdistan) Begräbnisstätten 31f Bergers Untersuchung fossiler Knochen 32f Churchills Untersuchung fossiler Knochen 31f Guatelli-Steinbergs Untersuchung von Zähnen  34 Muster von Verletzungen/degenerativen Gelenkerkrankungen  32f Rodeo-Cowboy-Vergleich 32f, 214 Trinkaus‘ Untersuchung fossiler Knochen  23, 28f, 31–33, 214  siderisches Navigationssystem ­(mikronesische Seeleute)  57 Silverman, Irwin  59f Sima de los Huesos (Spanien), ­Fundstätte  152 271

soziale Gruppen/soziales Leben. ­Siehe: Familien  98, 104, 124, 127– 132, 229 soziale Kognition Gruppenbildung in der Groß­ familie zur Nahrungssuche  127, 130 körperliche Reaktionen auf ­Interaktionen  128f Nutzbarmachung kognitiver ­Fähigkeiten  132 relationale Modelle (Fiske)  132 Speere der mittleren Steinzeit in Südafrika 95 Speere und Speerherstellung geschichtlicher Hintergrund  71f Jagdgruppen  104, 109f, 126, 130, 175, 241, 244 paläoindianische Speere  41f, 255 Peninj (Tansania), Fundort  71 Schöningen, Fundort  71f, 79, 90f Speere der Schimpansen  71 Speere mit Metallspitzen  41 Speere mit Steinspitzen  41, 70, 77, 214, 216 Speerspitzen-Methoden 76–79, 97, 241 Vertrauen der Neandertaler auf 78f Wunden durch Speerspitzen 30f, 40, 42, 185, 216 Speicher Schachmeister beispiels­ weise  86–88, 90 Arbeitsgedächtnis  66f, 97f, 101, 131, 160, 188, 208–210, 230, 232– 234, 238 deklaratives Gedächtnis  205f 272

episodisches Gedächtnis  65, 206 Kurzzeit- (Arbeits-) vs. Langzeitgedächtnis 60f Langzeitgedächtnis, Entwicklung  60f, 65f, 68, 86–89, 94, 131, 176f, 184, 210 Mensch vs. Datenerfassungstechnologie 60 motorisches Gedächtnis/Hochleistungssport  85, 88, 99, 101, 205 prozedurales Gedächtnis  61, 63, 65f, 85, 89, 97f, 101, 204–206, 208, 232 Schlafen, Lernen und Nützlichkeit bei der Jagd  175, 201f, 207, 210, 214, 217, 237, 241, 244 semantisches Gedächtnis  61, 63, 65 Zerstückelungs-/VerkettungsTechnik  87, 89, 101 Spitze der Nahrungskette, Neandertaler an der  40, 43, 53, 68 Sprache und Kommunikation. Siehe auch: Witzeerzählen, Symbole und Symbolik Aneignung 98–102 Brocasche Sprachregion und Code Switching  171, 176, 228 Entwicklung der Kognition bei Hominiden und  52, 123, 131f Erbe des Neandertalers vom Homo heidelbergensis  176f FOXP2-Gen und  18f, 176 Language Acquisition Device (LAD)  228f, 237 Lernen und  98–102

Mentale Bilder erstellt durch  82 Nutzung von Standardaus­ drücken 167f Nutzungskomponente  167, 169, 170, 230 Pidginsprachen, Studien zu  173f Pirahã-Völker Südamerikas, ­Studien zu   173f Regelkomponente 168f Spekulationen über Sprach- und Hörvermögen bei Neander­ talern  172, 228–230 Umwelt-, soziale Kontexte  176, 230 Verdacht auf Verwendung durch Neandertaler  172, 184 vokale Kommunikation der Neandertaler  65, 169, 171, 174–177 weltweite Gebärdensprachen 185f Wortkomponente  168, 176 Wortschatz  168f, 172, 176 Zeichensprache, Unterrichten von Affen in  173f Steinabschlagen (Herstellung von Steinwerkzeugen). Siehe auch: ­Speere und Speerherstellung; Steinwerk­ zeuge von Schimpansen und ­Orang-Utans harter Hammer, perkussive ­Technik  74 Levallois-Spitzen-Methode 72f, 77–79, 91f, 94, 99–101, 172, 175, 241 Prozess der Vorbereitung/An­ passung des Steinkerns  74f

verschiedene verwendete Stein­ arten 74 Verwendung von Steinkernen  75f Werkzeuge der mittleren Steinzeit  72f, 79 Werkzeugüberreste bei FamilienFundstätten  39, 71, 79, 91, 107, 154, 218 Stadium I (hypnagogischer Schlaf)  193–195, 198, 205f Stadium II (leichter Schlaf)  194f, 198, 205f Stadium III/IV (SW-Schlaf)  205 Gefahren  192, 196, 206, 208 Schlaf auf dem Erdboden vs. Schlaf im Baum  197f, 206, 208 Verbesserung des prozeduralen Gedächtnisses 204f Vergleich Mensch/Schimpanse/ Affe  197f, 208 Steinwerkzeuge. Siehe auch: Stein­abschlagen; Speere und Speer­ herstellung begrenzte Innovations­ methoden 80f erforderliche mentale Fähigkeiten 52, 74 Finden/Transport großer ­Steine  46f Gona (Äthiopien), Fundort  74 Herstellung für die Jagd  46f, 71–79 Maastricht-Bélvèdere (Nieder­ lande), Fundort  90f Schaber 75 Schöningen, Fundort  71f, 79, 90f Syrien, Fundort  79 273

Überreste bei Familienfund­ stätten  79, 91  von Schimpansen hergestellt  71–73 Stevenson, Robert Louis  203 Stiner, Mary  50f Störung der Impulskontrolle  223 Stradivari, Antonio  83 Streckenkenntnis „gemischte“ Reisesysteme  58 Neandertal-spezifische Methoden 59f Shackletons Reise (Beispiel)  56f siderisches Navigationssystem  57 Studie Ernährung/Zähne  34 Sudanesen 20 Symbole und Symbolik. Siehe auch: Leichenrituale; Tod; Feuer; Methoden der Behandlung von Leichen Bedeutung im modernen ­Leben  136–138 Bergkristalle, Muscheln, farbige Pulver 162f bewusste/unbewusste Entscheidungen 150–164 christliches Kruzifix  137f fehlende Beweisen für, bei ­Neandertalern  138f, 164 Feuerstellen der Neander­ taler  159, 161, 164f, 241 geteilte Rituale  152f Höhlenmalerei (moderner Mensch) 161 Löwenmensch vom HohlensteinStadel  138f, 253 Meditation (der moderne Mensch) 159f 274

technisches Denken und Lernen als Expertenwissen  84–94, 96f, 102 Experten-/Schachmeister-Asso­ ziation  86–88, 90 Fechtmeister, leçon-muet-Technik 99 geteilte Aufmerksamkeit  100 Hochleistungssport-Assoziation  84f Kognitiver Kontext  98–100 Schmiedekunst als beispiels­ weise 82f Theory of Mind  128 Theory of Mind (Gedankenlesen) Arbeitsgedächtnis 188 Beschreibung 182f Einschränkungen bei Autismus, Schizophrenie 183f Empathie und Intentionalität/geteilte Aufmerksamkeit  128, 215, 232, 236 fehlende, bei Neandertalern  132, 184, 191 Veränderung der persönlichen Erscheinung 163f Witzeerzählen 182–186 Tod. Siehe auch: Methoden der ­Behandlung von Leichen Ambivalenz gegenüber  141, 150 Bestattungsriten der Neander­ taler  143–147, 150–153 Einfluss auf Überlebende  141, 149f Funktionen von Todesritualen  141f, 149–152 Glaube an Weiterleben nach dem Tod  141f, 150–152

Kannibalismus  147–149, 153, 209, 211–213 Leichenrituale 141f soziale Sprengkraft  149f Todesangst der Neandertaler  149 Todesangst moderner Menschen  140 Träume (und Traumtheorie) Fallen im Traum  207 künstlerisches Schaffen und  208– 210 Nacktsein im Traum  200f, 207 Neandertaler und  209f Prüfung im Traum  200f Verfolgung im Traum  200 wissenschaftliche Entdeckungen und (Freud)  200f Trinkaus, Erik  23, 28–33, 214 Überleben Kannibalismus  147–149, 209, 212f Untergang der Neandertaler  240 Verlust der zum Kauen benutzten Zähne 32 vokale Kommunikation der ­Neandertaler. Siehe: Sprache und Kommunikation  Wadley, Lyn  95 Wheeler, Peter  22

Witzeerzählen Beobachtungen durch Freud  181f Clownerie bei Neander­ talern 186f Einschränkungen aufgrund kognitiver Trennung  179, 188 Fähigkeit zu lächeln und zu ­lachen  178f Gruppengröße, Einfluss der  191 Humor, moderne Studien  178, 181f Känguru-Witz (von Oring)  179– 181, 187f kognitive Anforderungen für  187–189 physischer Humor, Slapstick  179, 190 Theory of Mind  183–186 überraschendes Element  180f Wohnstätten  39, 47f, 241 Woods, Tiger  87 Wörter als Komponente von ­Sprache  61, 66, 82, 136f, 167–169, 172, 174–176, 184, 228f Yir Yoront, australische Jäger und Sammler 207 Zähne/Kiefer der Neandertaler im Vergleich mit dem modernen Menschen  11, 15, 32–34, 49, 103, 111

275

Zum Weiterlesen 1 Echte Kerle   1 Arsuaga, J. L. 2002. The Neanderthal’s Necklace: In Search of the First Thinkers. Übers. A. Klat. New York: Four Walls Eight Windows.   2 Stringer, C. B. und C. Gamble. 1993. In Search of the Neanderthals: Solving the Puzzle of Human Origins. New York: Thames and Hudson.   3 Wolpoff, M. 1999. Paleoanthropology. Boston: McGraw-Hill.   4 Trinkaus, E. und P. Shipman 1992. The Neandertals: Changing the Image of Mankind. New York: Knopf.   5 Trinkaus, E. 2006. Modern human versus Neandertal evolutionary distinctiveness. Current Anthropology 47: 597–622.   6 Slatkin, M. 2009. Epigenetic inheritance and the missing heritability problem. Genetics 182: 845–852.   7 Green, R. u. a. 2008. A complete Neandertal mitochondrial genome sequence determined by high-throughput sequencing. Cell 134: 416–426.   8 Green, R. u. a. 2010. A draft sequence of the Neandertal genome. Science 328: 710–722.   9 Finlayson, C. 2009. Neanderthals and Modern Humans: An Ecological and Evolutionary Perspective. New York: Cambridge University Press. 10 Hoffecker, J. 2002. Desolate Landscapes: Ice-Age Settlement in Eastern Europe. New Brunswick, N.J.: Rutgers University Press. 11 Aiello, C. L. und P. Wheeler. 2003. Neanderthal thermoregulation and the glacial climate. In: Neanderthals and Modern Humans in the European Landscape during the Last Glaciation: Archaeological Results of the Stage 3 Project, hrsgg. T. van Andel und W. Davies. Cambridge: McDonald Institute for Archaeological Research. 12 Holton, N. und R. Franciscus. 2008. The paradox of a wide nasal aperture in cold-adapted Neandertals: A causal assessment. Journal of Human Evolution 55: 942–951. 276

13 Allman, J. 2000. Evolving Brains. New York: Scientific American Library. 14 Holloway, R., D. Broadfield und M. Yuan. 2004. The Human Fossil Record. Vol. 3, Brain Endocasts: The Paleoneurological Evidence. New York: WileyLiss. 15 Bruner, E. 2004. Geometric morphometrics and paleoneurology: Brain shape evolution in the genus Homo. Journal of Human Evolution 47: 279– 303. 16 Trinkaus, E. 1983. The Shanidar Neandertals. New York: Academic Press. 17 Churchill, S. 2009. Shanidar 3 Neandertal rib puncture wound and paleolithic weaponry. Journal of Human Evolution 57(2): 163–178. 18 Berger, T. D. und E. Trinkaus. 1995. Patterns of trauma among the Neandertals. Journal of Archaeological Science 22: 841–852. 19 Guatelli-Steinberg, D., D. Reid und T. Bishop. 2007. Did the enamel of Neandertal anterior teeth grow differently from that of modern humans? Journal of Human Evolution 52(1): 72–84.

2 Ernährung à la Höhlenmensch   1 Gamble, C. 1999. The Palaeolithic Societies of Europe. Cambridge, U.K.: Cambridge University Press.   2 Mellars, P. 1996. The Neanderthal Legacy: An Archaeological Perspective from Western Europe. Princeton, N.J.: Princeton University Press.   3 Stiner, M. 1994. Honor among Theives: A Zooarchaeological Study of Neandertal Ecology. Princeton, N.J.: Princeton University Press.   4 Callow, P. und J. M. Cornford (Hrsgg.). 1986. La Cotte de St. Brelade 1961– 1978: Excavations by C. B. M. McBurney. Norwich, U.K.: Geo Books.   5 Aiello, C. L. und P. Wheeler. 2003. Neanderthal thermoregulation and the glacial climate. In: Neanderthals and Modern Humans in the European Landscape during the Last Glaciation: Archaeological Results of the Stage 3 Project., hrsgg. T. van Andel und W. Davies. Cambridge: McDonald Institute for Archaeological Research.   6 Binford, L. R. 2001. Constructing Frames of Reference: An Analytical Method for Archaeological Theory Building Using Hunter-Gatherer and Environmental Data Sets. Berkeley: University of California Press.   7 Finlayson, C. 2009. Neanderthals and Modern Humans: An Ecological and Evolutionary Perspective. New York: Cambridge University Press. 277

  8 Hardy, B. 2010. Climatic variability and plant food distribution in Pleistocene Europe: Implications for Neanderthal diet and subsistence. Quaternary Science Reviews 29: 662–679.   9 Henry, A., A. Brooks und D. Piperno. 2011. Microfossils in calculus demonstrate consumption of plants and cooked foods in Neanderthal diets (Shanidar III, Iraq; Spy I and II, Belgium). Proceedings of the National Academy of Sciences 108(2): 486–491. 10 Bocherens, H. u. a. 2001. New isotopic evidence for dietary habits of ­Neandertals from Belgium. Journal of Human Evolution 40: 497–505. 11 Richards, M. P. und E. Trinkaus. 2009. Isotopic evidence for the diets of European Neanderthals and early modern humans. Proceedings of the National Academy of Sciences 106(38): 16034–16039. 12 Frison, G. 1991. Prehistoric Hunters of the High Plains. San Diego: Academic Press. 13 Gaudzinski, S. und W. Roebroeks. 2000. Adults only: Reindeer hunting at the Middle Palaeolithic site Salzgitter Lebenstedt, northern Germany. Journal of Human Evolution 38: 497–521. 14 Adler, D. S. u. a. 2006. Ahead of the game: Middle and Upper Palaeolithic hunting behaviors in the Southern Caucasus. Current Anthropology 44(4): 89–118. 15 Bar Yosef, O. u. a. 1992. The excavations in Kebara Cave, Mt. Carmel. Current Anthropology 33(5): 497–550. 16 Geneste, J.-M. 1988. Les industries de lat Grotte Vaufrey: Technologie du debitage, economie et circulation de la matiere primiere lithique. In: La Grotte Vaufrey a Cenac et Saint-Julien (Dordogne), Paleoenvironments, chronologie et activites humaines, hrsg. J. Rigaud. Paris: Memoires de la Societe Prehistorique Francaise. 17 Hoffecker, J. 2002. Desolate Landscapes: Ice-Age Settlement in Eastern Europe. New Brunswick, N.J.: Rutgers University Press. 18 Kuhn, S. und M. Stiner. 2006. What’s a mother to do? The division of ­laboramong Neandertals and modern humans in Eurasia. Current Anthropology 47(6): 953–980. 19 Goodall, J. 1986. The Chimpanzees of Gombe. Cambridge, Mass.: Belknap Press. 20 Lee, R. und R. Daly (Hrsgg.). 1999. The Cambridge Encyclopedia of Hunters and Gatherers. Cambridge, U.K.: Cambridge University Press. 278

21 Istomin, K. und M. Dwyer. 2009. Finding the way: A critical discussion of anthropological theories of human spatial orientation. Current Anthropology 50(1): 29–49. 22 Ingold, T. 2000. The Perception of the Environment: Essays on Livelihood, Dwelling and Skill. London: Routledge. 23 Gladwin, T. 1970. East Is a Big Bird. Cambridge, Mass.: Harvard University Press. 24 Silverman, I. u. a. 2000. Evolved mechanisms underlying wayfinding: Further studies on the hunter-gatherer theory of spatial sex differences. Evolution and Human Behavior 21: 201–213. 25 Tulving, E. 2002. Episodic memory: From mind to brain. Annual Riview of Psychology 53: 1–25. 26 Atran, S. 1990. Cognitive Foundations of Natural History: Towards an ­Anthropology of Science. Paris: Cambridge University Press. 27 Baddeley, A. 2007. Working Memory, Thought und Action. Oxford: Oxford University Press. 28 Coolidge, F. L. und T. Wynn. 2005. Working memory, its executive functions, and the emergence of modern thinking. Cambridge Archaeological Journal 15(1): 5–26.

3 Zen und die Kunst, einen Speer herzustellen   1 Dominguez-Rodrigo, M. u. a. 2001. Woodworking activities by early humans: A plant residue analysis on Acheulean stone tools from Peninj (Tanzania). Journal of Human Evolution 40: 289–299.   2 Thieme, H. 2005. The Lower Palaeolithic art of hunting: The case of Schoningen 13 II-4, Lower Saxony, Germany. In: The Hominid Individual in Context: Archaeological Investigations of Lower and Middle Palaeolithic Landscapes, Locales und Artefacts, hrsgg. C. Gamble und M. Porr. New York: Routledge.   3 Haidle, M. 2009. How to think a simple spear. In: Cognitive Archaeology and Human Evolution, hrsgg. S. De Baune, F. L. Coolidge und T. Wynn. Cambridge, U.K.: Cambridge University Press.   4 Bordes, F. 1968. The Old Stone Age. New York: World University Library.   5 Gamble, C. 1999. The Palaeolithic Societies of Europe. Cambridge, U.K.: Cambridge University Press. 279

  6 Mellars, P. 1996. The Neanderthal Legacy: An Archaeological Perspective from Western Europe. Princeton, N.J.: Princeton University Press.   7 Dibble, H. 1987. Reduction sequences in the manufacture of Mousterian implements in France. In: The Pleistocene Old World, hrsg. O. Soffer. New York: Plenum.   8 Semaw, S. u. a. 2003. 2.6-million-year-old stone tools and associated bones from OGS-6 and OGS-7, Gona, Afar, Ethiopia. Journal of Human Evolution 45: 169–177.  9 Boeda, E. 1994. Le Concept Levallois: Variabilite des Methodes. Paris: CNRS Editions. 10 Chazan, M. 1997. Rezension von: Le Concept Levallois: Variabilite des Methodes, von E. Boeda; The Levallois Reduction Strategy von P. van Peer; und The Definition and Interpretation of Levallois Technology, hrsgg. H. Dibble und O. Bar Yosef. Journal of Human Evolution 33: 719–735. 11 Boeda, E., J. Connan und S. Muhesen. 1998. Bitumen as hafting material on Middle Palaeolithic artifacts from the El Kowm basin, Syria. In: Neandertals and Modern Humans in Western Asia, hrsgg. T. Azakawa, K. Aoki und O. Bar-Yosef. New York: Plenum. 12 Grunberg, J. 2002. Middle Palaeolithic birch-bark pitch. Antiquity 76(1): 15–16. 13 Shea, J. 1993. Lithic use-wear evidence for hunting by Neandertals and early modern humans from the Levantine Mousterian. In: Hunting and Animal Exploitation in the Later Palaeolithic and Mesolithic of Eurasia, hrsgg. G. Peterkin, H. Bricker und P. Mellars. Washington, D.C.: American Anthropological Association. 14 Keller, C. und J. Keller. 1996. Cognition and Tool Use: The Blacksmith at Work. Cambridge, U.K.: Cambridge University Press. 15 Gatewood, J. 1985. Actions speak louder than words. In: Directions in Cognitive Anthropology, hrsg. J. Dougherty. Urbana: University of Illinois Press. 16 Ericsson, K. A. und W. Kintsch. 1995. Long-term working memory. Psychological Review 102(2): 211–245. 17 Roebroeks, W. 1988. From Find Scatters to Early Hominid Behaviour: A Study of Middle Palaeolithic Riverside Settlements at Maastricht-Belvedere (The Netherlands). Analecta Praehistorica Leidensia 21. Leiden: University Press of Leiden. 18 Schlanger, N. 1996. Understanding Levallois: Lithic technology and cognitive archaeology. Cambridge Archaeological Journal 6(2): 231–254. 280

19 Wynn, T. und F. L. Coolidge. 2010. How Levallois reduction is similar to und not similar to, playing chess. In: Stone Tools and the Evolution of Human Cognition, hrsgg. A. Nowell und I. Davidson. Boulder: University of Colorado Press. 20 Wadley, L., T. Hodgskiss und M. Grant. 2009. Hafting tools with compound adhesives in the Middle Stone Age, South Africa: Implications for complex cognition. Proceedings of the National Academy of Sciences 106: 9590–9594. 21 Pawlik, A. und J. Thissen. 2011. Hafted armatures and multi-component tool design at the Micoquian site of Inden-Altdorf, Germany. Journal of Archaeological Science 38: 1699–1708.

4 Familien im Brennpunkt   1 Gamble, C. 1999. The Palaeolithic Societies of Europe. Cambridge, U.K.: Cambridge University Press.   2 Mellars, P. 1996. The Neanderthal Legacy: An Archaeological Perspective from Western Europe. Princeton, N.J.: Princeton University Press.   3 Stringer, C. B. und C. Gamble. 1993. In Search of the Neanderthals: Solving the Puzzle of Human Origins. New York: Thames and Hudson.   4 Trinkaus, E. und P. Shipman. 1992. The Neandertals: Changing the Image of Mankind. New York: Knopf.   5 Jolly, A. 1985. The Evolution of Primate Behavior. New York: Macmillan.   6 Ingold, T., D. Riches und J. Woodburn (Hrsgg.). 1988. Hunters and Gatherers. New York: Berg.   7 De Lumley, H. (Hrsg.). 1969. Une Cabane Acheuleenne dans la Grotte du Lazaret. Paris: Memoires de la Societe Prehistorique Francaise 7.   8 Hoffecker, J. 2002. Desolate Landscapes: Ice-Age Settlement in Eastern Europe. New Brunswick, N.J.: Rutgers University Press.   9 Goodall, J. 1986. The Chimpanzees of Gombe. Cambridge, Mass.: Belknap Press. 10 O’Connell, J., K. Hawkes und N. Burton Jones. 1999. Grandmothering and the evolution of Homo erectus. Journal of Human Evolution 36: 461– 485. 11 Hawkes, K. und R. Paine (Hrsgg.). 2006. The Evolution of Human Life History. Sante Fe, N.M.: School of American Research. 281

12 Guatelli-Steinberg, D., D. Reid und T. Bishop. 2007. Did the enamel of Neandertal anterior teeth grow differently from that of modern humans? Journal of Human Evolution 52(1): 72–84. 13 Smith, T. M. u. a. 2010. Dental evidence for ontogenetic differences between modern humans and Neanderthals. Proceedings of the National Academy of Sciences 107(49): 20923–20928. 14 Rosenberg, K. 2004. Living longer: Information revolution, population expansion, and modern human origins. Proceedings of the National Academy of Sciences 101(30): 10847–10848. 15 Trinkaus, E. 2011. Late Pleistocene adult mortality patterns and modern human establishment. Proceedings of the National Academy of Sciences 108(4): 1267–1271. 16 Fox, R. 1983. Kinship and Marriage: An Anthropological Perspective. New York: Cambridge University Press. 17 Anton, S. 2003. Natural history of Homo erectus. Yearbook of Physical Anthropology 46: 126–170. 18 Kuhn, S. und M. Stiner. 2006. What’s a mother to do? The division of labor among Neandertals and modern humans in Eurasia. Current Anthropology 47(6): 953–980. 19 Buss, D. 2003. The Evolution of Desire: Strategies of Human Mating. New York: Basic Books. 20 Lalueza-Fox, C. u. a. 2011. Genetic evidence for patrilocal mating behavior among Neandertal groups. Proceedings of the National Academy of ­Sciences 108(1): 250–253. 21 Robbins, P. und M. Aydede (Hrsgg.). 2009. The Cambridge Handbook of Situated Cognition. Cambridge, U.K.: Cambridge University Press. 22 Dunbar, R. 1993. Coevolution of neocortical size, group and language in humans. Behavioral and Brain Sciences 16: 681–735. 23 Dunbar, R. 2009. Why only humans have language. In: The Prehistory of Language, hrsgg. R. Botha und C. Knight. Oxford: Oxford University Press. 24 Ambrose, S. 2010. Coevolution of composite-tool technology, constructive memory, and language: Implications for the evolution of modern human behavior. In: Working Memory: Beyond Language and Symbolism, hrsgg. T. Wynn und F. L. Coolidge. Chicago: University of Chicago Press. 25 Fiske, A. P. 2004. Four modes of constituting relationships: Consubstantial assimilation; space, magnitude, time und force; concrete procedures; 282

abstract symbolism. Relational Models Theory: A Contemporary Overview, hrsg. N. Haslam. Mahwah, N.J.: Lawrence Erlbaum. 26 Haslam, N. (Hrsg.). 2004. Relational Models Theory: A Contemporary Overview. Mahwah, N.J.: Lawrence Erlbaum. 27 Cosmides, L. 1989. The logic of social exchange: Has natural selection shaped how humans reason? Studies with the Wason selection task. Cognition 31: 187–276.

5 Rein symbolisch   1 Danesi, M. 2008. Of Cigarettes, High Heels und Other Interesting Things. New York: Palgrave Macmillan.   2 Turner, V. 1967. The Forest of Symbols. Ithaca, N.Y.: Cornell University Press.   3 Wynn, T., F. L. Coolidge und M. Bright. 2009. Hohlenstein-Stadel and the evolution of human conceptual thought. Cambridge Archaeological Journal 19(1): 73–83.   4 Goody, J. 1962. Death, Property and the Ancestors: A Study of the Mortuary Customs of the LoDagaa of West Africa. Stanford: Stanford University Press.   5 Van Gennep, A. 1960. The Rites of Passage. London: Routledge & Kegan Paul.   6 Szyniewicz, S. 1990. Philosophy of the corpse: Modes of disposal and their cultural corrlates. In: The Life of Symbols, hrsgg. M. L. Foster und L. J. Botscharow. Boulder, CO: Westview Press.   7 Renfrew, C. (Hrsg.). 1990. The Prehistory of Orkney. Edinburgh: Edinburgh University Press.   8 Bar Yosef, O. u. a. 1992. The excavations in Kebara Cave, Mt. Carmel. Current Anthropology 33(5): 497–550.   9 Gargett, R. 1989. Grave shortcomings: The evidence for Neandertal burial. Current Anthropology 30: 157–190. 10 Gargett, R. 1999. Middle Palaeolithic burial is not a dead issue: The view from Qafzeh, Saint-Cesaire, Kebara, Amud und Dederiyeh. Journal of Human Evolution 37: 27–90. 11 Defleur, A. u. a. 1999. Neanderthal cannibalism at Moula-Guercy, Ardeche, France. Science 286(5437): 128–131. 12 White, T. 2001. Once we were cannibals. Scientific American 285(2): 58–65. 13 Carbonell, E. und M. Mosquera. 2006. The emergence of a symbolic behaviour: The sepulchral pit of Sima de los Huesos, Sierra de Atapuerca, Burgos, Spain. Comptes Rendus Palevol 5: 155–160. 283

14 White, T., B. Asfaw und D. DeGusta. 2003. Pleistocene Homo sapiens from Middle Awash, Ethiopia. Nature 423: 742–747. 15 Alperson-Afil, N., D. Richter und N. Goren-Inbar. 2007. Phantom hearths and the use of fire at Gesher Benot Ya’aqov, Israel. PaleoAnthropology: 1–15. 16 Brain, C. K. und A. Sillen. 1988. Evidence from the Swartkrans cave for the earliest use of fire. Nature 336: 464–466. 17 Wrangham, R. W. 2009. Catching Fire: How Cooking Made Us Human. New York: Basic Books. 18 Vallverdu, J. u. a. 2010. Sleeping activity area within the site structure of archaic human groups: Evidence from Abric Romani Level N combustion activity areas. Current Anthropology 51(1): 137–145. 19 Movius, H. (Hrsg.). 1975. Excavation of the Abri Pataud, Les Eyzies (Dordogne). Cambridge, Mass.: Peabody Museum of Archaeology and Ethnology. 20 Gamble, C. 1999. The Palaeolithic Societies of Europe. Cambridge, U.K.: Cambridge University Press. 21 Rossano, M. 2007. Did meditating make us human? Cambridge Archaeological Journal 17(1): 47–58. 22 Ucko, P. und A. Rosenfeld. 1967. Palaeolithic Cave Art. New York: McGraw-Hill. 23 D’Errico, F. u. a. 2003. Archaeological evidence for the emergence of language, symbolism, and music: an alternative multidisciplinary perspective. Journal of World Prehistory 17(1): 1–70. 24 Zilhao, J. u. a. 2010. Symbolic use of marine shells and mineral pigments by Iberian Neandertals. Proceedings of the National Academy of Sciences 107(3): 1023–1028.

6 (In) Zungen sprechen   1 Cheney, D. und R. Seyfarth. 1990. How Monkeys See the World: Inside the Mind of Another Species. Chicago: University of Chicago Press.   2 Savage-Rumbaugh, D., S. Shanker und T. Taylor. 1998. Apes, Language, and the Human Mind. New York: Oxford University Press.   3 Noble, W. und I. Davidson. 1996. Human Evolution, Language, and Mind: A Psychological and Archaeological Inquiry. Cambridge, U.K.: Cambridge University Press.   4 Lieberman, P. 1984. The Biology and Evolution of Language. Cambridge, Mass.: Harvard University Press. 284

  5 Lieberman, P. 1989. The origins and some aspects of human language and cognition. In: The Human Revolution: Behavioural and Biological Perspectives in the Origins of Modern Humans, hrsgg. P. Mellars und C. B. Stringer. Edinburgh: Edinburgh University Press.   6 Holloway, R., D. Broadfield und M. Yuan. 2004. The Human Fossil Record. Vol. 3, Brain Endocasts: The Paleoneurological Evidence. New York: WileyLiss.   7 Danesi, M. 2008. Of Cigarettes, High Heels, and Other Interesting Things. New York: Palgrave Macmillan.   8 D’Errico, F. u. a. 2003. Archaeological evidence for the emergence of language, symbolism, and music: An alternative multidisciplinary perspective. Journal of World Prehistory 17(1): 1–70.   9 Everett, D. 2005. Cultural constraints on grammar and cognition in Pirahã. Current Anthropology 46: 621–646. Vgl. www.icsi.berkeley.edu/~kay/ Everett.CA.Piraha.pdf. 10 Bickerton, D. 1981. Roots of Language. Ann Arbor, Mich.: Karoma. 11 Bickerton, D. 2008. Bastard Tongues: A Trailblazing Linguist Finds Clues to Our Common Humanity in the World’s Lowliest Languages. New York: Hill and Wang. 12 Ambrose, S. 2001. Paleolithic technology and human evolution. Science 291: 1748–1753.

7 Kommt ein Neandertaler in eine Kneipe   1 Preuschoft, S. 1992. „Laughter“ and „smile“ in Barbary macaques (Macaca sylvanus). Ethology 91: 220–236.   2 Mithen, S. 1996. The Prehistory of the Mind. London: Thames & Hudson.   3 Oring, E. 1992. Jokes and Their Relations. Lexington: University Press of Kentucky.   4 Desalles, J.-L. In press. Have you anything unexpected to say? The human propensity to communicate surprise and its role in the emergence of language. In: The Evolutionary Emergence of Human Language, hrsgg. R. Botha und M. Everaert. Oxford: Oxford University Press.   5 Freud, S. 1960. Jokes and Their Relation to the Unconscious. Übers. J. Strachey. New York: Norton.   6 Pinker, S., M. A. Nowak und J. J. Lee. 2008. The logic of indirect speech. Proceedings of the National Academy of Sciences 105: 833–838. 285

  7 Coolidge, F. L. und T. Wynn. In press. The cognitive prerequisites for a language of diplomacy. In: Handbook of Language Evolution, hrsgg. K. R. Gibson und M. Tallerman. Oxford: Oxford University Press.   8 Baron-Cohen, S. 1995. Mind Blindness: An Essay on Autism and Theory of Mind. Cambridge, Mass.: MIT Press.  9 Brune, M. 2005. „Theory of Mind“ in schizophrenia: A review of the ­literature. Schizophrenia Bulletin 31: 21–42. 10 Schmitt, D., S. E. Churchill und W. L. Hylander. 2003. Experimental evidence concerning spear use in Neandertals and early modern humans. Journal of Archaeological Science 30: 103–114. 11 Coolidge, F. L. und G. Tambone. 2009. Perceptions of Neandertals’ personalities. Unpublished manuscript, Department of Psychology, University of Colorado, Colorado Springs. 12 Senghas, A., S. Kita und A. Ozyurek. 2004. Children creating core properties of language: Evidence from an emerging sign language in Nicaragua. Science 305: 1779–1782. 13 Lieberman, P. 2000. Human Language and Our Reptilian Brain. Cambridge, Mass.: Harvard University Press. 14 Wynn, T. und F. L. Coolidge. 2004. The expert Neandertal mind. Journal of Human Evolution 46: 467–487. 15 Coolidge, F. L., K. A. Overmann und T. Wynn. 2010. Recursion: What is it? Who has it? How did it evolve? WIRE Cognitive Science 1: 1–8. 16 Gervais, M. und D. S. Wilson. 2005. The evolution and functions of laughter and humor: A synthetic approach. Quarterly Review of Biology 80: 395–430. 17 Dunbar, R. I. M. 1996. Grooming, Gossip, and the Evolution of Language. London: Faber & Faber.

8 Von Schläfern und Träumern   1 Fruth, B. und G. Hohmann. 1996. Nest building behavior in the great apes: The great leap forward? In: Great Ape Societies, hrsgg. W. C. McGrew, L. F. Marchant und T. Nishida. Cambridge, U.K.: Cambridge University Press.   2 Coolidge, F. L. 2006. Dream Interpretation as a Psychotherapeutic Technique. Oxon, U.K.: Radcliffe. 286

 3 Revonsuo, A. 2000. The reinterpretation of dreams: An evolutionary ­hypothesis of the function of dreaming. Behavioral and Brain Sciences 23: 877–901.   4 Franklin, M. S. und M. J. Zyphur. 2005. The role of dreams in the evo­ lution of the human mind. Evolutionary Psychology 3: 59–78.   5 Van de Castle, R. L. 1994. Our Dreaming Mind: A Sweeping Exploration of the Role That Dreams Have Played in Politics, Art, Religion, and Psycho­ logy, from Ancient Civilizations to the Present Day. New York: Ballantine Books.   6 Richards, K. und J. Fox. 2010. Life. New York: Little, Brown.   7 Hartmann, E. 2000. Dreams and Nightmares: The Origin and Meaning of Dreams. New York: Basic Books.   8 Wagner, U. u. a. 2004. Sleep inspires insight. Nature 427: 352–355.  9 Walker, M. P. 2005. A refined model of sleep and the time course of ­memory formation. Behavioral and Brain Sciences 28: 51–104. 10 Winson, J. 1990. The meaning of dreams. Scientific American 263: 89–96. 11 Karni, A. u. a. 1994. Dependence on REM sleep of overnight improvement of a perceptual skill. Science 265: 679–682. 12 Peigneux, P. u. a. 2004. Are spatial memories strengthened in the human hippocampus during slow wave sleep? Neuron 44: 535–545. 13 Coolidge, F. L. und T. Wynn. 2006. The effects of the tree-to-ground sleep transition in the evolution of cognition in early Homo. Before Farming: The Archaeology and Anthropology of Hunter-Gatherers 4: 1–18. 14 Wynn, T. und F. L. Coolidge. 2004. The expert Neandertal mind. Journal of Human Evolution 46: 467–487. 15 Reuland, E. 2010. Imagination, planning, and working memory: The emergence of language. In: Working Memory: Beyond Language and Symbolism, hrsgg. T. Wynn und F. L. Coolidge. Chicago: University of Chicago Press. 16 Lewis-Williams, D. 2002. The Mind in the Cave: Consciousness and the Origins of Art. London: Thames & Hudson. 17 Brožek, J. u. a. 1951. A quantitative study of perception and association in experimental semistarvation. Journal of Personality 19: 245–264.

287

9 Eine Frage der Persönlichkeit   1 Defleur, A. u. a. 1999. Neanderthal cannibalism at Moula-Guercy, Ardeche, France. Science 286(5437): 128–131.   2 Bocherens, H. u. a. 2005. Isotopic evidence for diet and subsistence pattern of the Saint-Césaire I Neanderthal: Review and use of a multi-source mixing model. Journal of Human Evolution 49: 71–87.   3 Spikins, P. A., H. E. Rutherford und A. P. Needham. 2010. From homininity to humanity: Compassion from the earliest archaics to modern ­humans. Time and Mind 3: 303–325.   4 Churchill, S. E. u. a. 2009. Shanidar 3 Neandertal rib puncture wound and Paleolithic weaponry. Journal of Human Evolution 57: 163–178.   5 Wynn, T. und F. L. Coolidge. 2004. The expert Neandertal mind. Journal of Human Evolution 46: 467–487.   6 White, R. K. 2003. Prehistoric Art: The Symbolic Journey of Humankind. New York: Harry Abrams.   7 Tulving, E. 2002. Episodic memory: From mind to brain. Annual Review of Psychology 53: 1–25.   8 Pinker, S., M. A. Mowak und J. L. Lee. 2008. The logic of indirect speech. Proceedings of the National Academy of Sciences 105: 833–838.   9 Coolidge, F. L. und T. Wynn. 2012. Cognitive prerequisites for the evolu­ tion of indirect speech. In: Oxford Handbook of Language Evolution, ­hrsgg. M. Tallerman und K. Gibson. New York: Oxford University Press. 10 Crow, T. 1997. Is schizophrenia the price Homo sapiens sapiens pays for language? Schizophrenia Research 28: 127–141. 11 Gregory, N. G. 2004. Physiology and Behaviour of Animal Suffering. Oxford: Blackwell Science. 12 Buss, D. M. u. a. 1992. Sex differences in jealousy: Evolution, physiology, and psychology. Psychological Science 3: 251–255. 13 Coolidge, F. L. und D. Segal. 1998. Evolution of personality disorder diagnosis in the Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders. Clinical Psychology Review 18: 585–599.

288

Informationen zum Buch Der Neandertaler war uns heutigen Menschen ähnlicher als wir denken – und keineswegs ein primitiver Höhlenbewohner. Er verfügte über eine eigene Sprache und hatte ein umfangreiches, wenn nicht sogar differenziertes Vokabular. Archäologische Befunde belegen, dass der Neandertaler komplexe technische Verfahren beherrschte und die meiste Zeit seines Lebens in einer kleinen Familiengruppe verbrachte. Thomas Wynn und Frederick L. Coolidge geben einen faszinierenden Einblick in das wahre Leben und die Kultur des Neandertalers. Sie zeichnen ein bemerkenswertes Porträt des Neandertalers und zeigen auf, wie wir heute noch in Geist und Kultur mit ihm verbunden sind.

Informationen zu den Autoren Thomas Wynn ist Professor für Anthropologie an der Universität von Colorado mit Schwerpunkt Paläolithische Archäologie und Kognitive Evolution. Frederick L. Coolidge ist ebenda Professor für Psychologie, sein Fokus liegt auf Verhaltensgenetik und Kognitiver Archäologie.