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German Pages [247]
Raymond Geuss Nicht wie ein Liberaler denken 3
Aus dem Englischen von Karin Wördemann
Suhrkamp
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© der deutschsprachigen Ausgabe Suhrkamp Verlag AG, Berlin, 2023
© 2022 by The President and Fellows of Harvard College
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9 Aber schon der nächste Tag
brachte eine arge Enttäuschung.
Törleß hatte sich nämlich gleich am Morgen die Reclamausgabe jenes Bandes gekauft, den er bei seinem Professor gesehen hatte,
und benützte die erste Pause, um mit dem Lesen zu beginnen.
Aber vor lauter Klammern und Fußnoten verstand er kein
Wort, und wenn er gewissenhaft mit den Augen den Sätzen
folgte, war ihm, als drehe eine alte, knöcherne Hand ihm das
Gehirn in Schraubenwindungen aus dem Kopfe. – Robert Musil, Die Verwirrungen des Zöglings Törleß
Inhalt Cover Titel Impressum Widmung Inhalt Vorwort Einleitung 1 Mein Schicksal Von der Gegenreformation bis zum Ungarnaufstand von 1956 Von Indiana nach Philadelphia 2 Liberalismus »Liberal«: Adverbial, systematisch, doktrinell Katholische Internatsschulen: Stereotypen Die Souveränität des Individuums Cromwell bei der Belagerung von Ross Vernunft 3 Autoritarismus Drei Bedeutungen von Autorität Leben ohne Autorität 4 Religion, Sprache und Geschichte Das unübersetzbare Wort übersetzen Sola scriptura Kanonbildung Unfehlbarkeit 5 Menschliche Vielfalt
Verlaine und Villon Religion: Offenbarung, Ethik, Ästhetik Aude discrepare Zuweisung von Schuld 6 Dann also doch liberal? Wann Aneignung kein Plagiat ist Begriffe mit variabler Blendenweite 7 Zwischenspiel. Nostalgie, eine Fahrt in die Stadt, Ankunft Die Fahrt in die Stadt Ankunft 8 Robert Paul Wolff. Das Elend des Liberalismus Spaß und Spiele Lectio difficilior – die schwierigere Lesart Rawls Anarchismus 9 Sidney Morgenbesser. Philosophie als praktischer Surrealismus Sidney und die Kellnerin Sidney und der Jurist Sidney, Robert Paul Wolff und die Oxford Dons Sidney und die Motivation 10 Robert Denoon Cumming. Menschliche Natur und Geschichte Mill und das Lothringerkreuz Human Nature and History 11 Von Heidegger zu Adorno Unzureichendes Griechisch Paul Celan Kretzschmar Unklarheit Negativität 12 Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft
Liberalismus in unserer Welt Vision, Hoffnung und Handeln Abkürzungen Anmerkungen Vorwort Einleitung 1 Mein Schicksal 2 Liberalismus 3 Autoritarismus 4 Religion, Sprache und Geschichte 5 Menschliche Vielfalt 6 Dann also doch liberal? 7 Zwischenspiel 8 Robert Paul Wolff 9 Sidney Morgenbesser 10 Robert Denoon Cumming 11 Von Heidegger zu Adorno 12 Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft Danksagung Namenregister Informationen zum Buch
11 Vorwort Unter welchem Blickwinkel man sie auch betrachtet, die Gegenwart ist ausweglos. Das ist nicht die unwichtigste ihrer Eigenschaften. – Unsichtbares Kollektiv, Der kommende Aufstand (2007) Das politische, soziale und ökonomische Modell angelsächsischer Provenienz, das ein kapitalistisches Wirtschaftssystem mit einer liberalen Form der parlamentarischen Demokratie kombiniert, schien für Großbritannien und seine englischsprachigen ehemaligen Kolonien vom Ende des 18. Jahrhunderts bis zum Ende des 20. Jahrhunderts gut zu funktionieren – vor allem für die Eliten dieser Länder. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts sah es sogar so aus, als etabliere es sich als maßstabsetzende Größe für alle modernen Gesellschaften. Seit dem letzten Jahrzehnt werden nun allerdings Auflösungserscheinungen sichtbar. Die Beschleunigung des Niedergangs während der Jahre, als Donald Trump in den Vereinigten Staaten das Sagen hatte und im Vereinigten Königreich die Kampagne für den Austritt aus der Europäischen Union lief, war schwindelerregend. Es lag immer eine gewisse Spannung in der Art, wie das angelsächsische Modell in Großbritannien und den Vereinigten Staaten wahrgenommen wurde. Einerseits wurde es als ein allgemeingültiges Paradigma dargestellt, das alle Menschen in allen Gesellschaften erstrebten und dessen Übernahme unabweisbar in ihrem eigenen Interesse liege. Eine regelgeleitete internatio 12 nale Ordnung aus parlamentarisch verfassten kapitalistischen Gesellschaften sei »das aufgelöste Rätsel der Geschichte und weiß sich als diese Lösung«, wie Marx formuliert, allerdings bezogen auf ein vollkommen anderes politisches Projekt, den Kommunismus nämlich.1 Andererseits wurde ganz unmissverständlich angenommen (obgleich wohl niemals offen ausgesprochen), dass »wir« –
Großbritannien und die Vereinigten Staaten als politische Gebilde sowie die Mitglieder der dominanten sozioökonomischen Gruppen dieser beiden Gesellschaften – als zwangsläufiges Ergebnis verlässlich an der Spitze bleiben würden, wenn die gesamte Welt die kapitalistische liberale Demokratie übernähme. Hier wird erkennbar, welch immense ideologische Macht ein Konstrukt hatte, das universalistische Ansprüche mit nüchtern kalkuliertem Eigennutz zusammenbrachte, und zwar insbesondere dann, wenn es sich durch handfeste wirtschaftliche und militärische Erfolge zu bestätigen schien. Ich glaube, für jeden, der in einer dieser beiden Gesellschaften aufwuchs, ist es schwer zu verstehen, wie vermessen es war, anzunehmen, dass diese beiden Aspekte – der universalistische und der exzeptionelle – für immer zuverlässig korreliert bleiben würden. Selbst diejenigen, die zweifellos sozial, wirtschaftlich oder politisch geknechtet waren und von denen man hätte erwarten können, dass sie keinerlei besonderen Beweggrund hatten, diese Ideologie zu akzeptieren, fanden es nicht unbedingt einfach, ihre Unzufriedenheit zu äußern, weil ihnen die passenden Begriffe und ein geeigneter Rahmen fehlten. Mitglieder von Randgruppen mit ihren eigenen theoretischen Traditionen, selbst wenn diese zutiefst vormodern waren, hätten vielleicht eine größere Chance gehabt, den Konflikt zwischen diesen beiden Aspekten klar zu sehen. Als die wirtschaftliche und politische Situation für die Vereinigten Staaten und für 13 Großbritannien unruhiger wurde, ließ sich die Spannung zwischen den beiden Konzeptionen schwerer ignorieren und bewältigen. Donald Trump in seiner ungehobelten Art erkannte dies und zog eine schlüssige, wenngleich abstoßende Folgerung. Die Wirtschaftskrise von 2008 wurde direkt durch die Deregulierung des Bankensystems verursacht, das heißt durch die Anwendung von Ideen, die unzweifelhaft wie maßgebliche liberale Prinzipien für den Finanzsektor aussehen. Eine Zeitlang waren die Menschen anscheinend unwillig, die Bedeutung dieser Tatsache anzuerkennen, und wenn sie es taten, war ihre Reaktion überraschend gedämpft. Der von dem ökonomischen Kollaps ausgelöste Stress hatte jedoch die Wirkung einer sanften Welle, die eine Weile brauchte, bis sie sich ausgebreitet hatte. Erst mit Verzögerung, fast
ein Jahrzehnt später, bewirkte sie, dass die politischen Systeme in den Vereinigten Staaten und Großbritannien in ernsthafte Schwierigkeiten gerieten. Wie immer die Ätiologie genau sein mag, Trump und der Brexit haben dem internationalen Appeal einer Gesellschaftsform, die sich rechtfertigt, indem sie John Locke, Adam Smith, die Federalist Papers und John Stuart Mill anführt, erheblich geschadet. Der Liberalismus ist ein so wichtiger Teil des ideologischen Rahmens der angelsächsischen Länder, dass nicht zu erwarten ist, dass der reale wirtschaftliche und politische Niedergang der Vereinigten Staaten und des Vereinigten Königreichs für das Schicksal des Liberalismus folgenlos bleiben kann. Ich schrieb diesen Text im Januar 2021, während eines Lockdowns in der Coronavirus-Pandemie, kurz nachdem das Vereinigte Königreich die Europäische Union verlassen hatte. Obwohl ich das Hinscheiden des Liberalismus nicht betrauere, stehen meine Überlegungen auch in diesem anderen, etwas unterschiedlichen, politischen Zusammenhang. In einer gewissen 14 Hinsicht ist der gesamte Text ein indirektes Lamentieren über den Verlust, den der Austritt des Vereinigten Königreichs aus der EU mit sich bringt. Meine unglaublich privilegierte Stellung als emeritierter Professor mit diversen Ansprüchen (auf Pension zum Beispiel) schützt mich verhältnismäßig gut vor den katastrophalen wirtschaftlichen Folgen des Brexits. Der Verlust von vielem, was von der politischen Macht und dem Einfluss der Briten in der Welt übrig blieb, ist etwas, was meines Erachtens gar nicht so schlecht sein mag, aber der gewaltige kulturelle Verlust, der als eine Begleiterscheinung des Durchtrennens unserer Bindung an die Europäische Union eintritt, ist wohl etwas, über das ich wahrscheinlich nie hinwegkommen werde. Das Nachdenken über den Brexit und darüber, was die Zukunft für uns bereithalten wird, ruft in mir automatisch Erinnerungen an das Philadelphia wach, das ich noch kannte, als ich dort in den 1950er Jahren aufwuchs, kurz bevor ich auf das Internat wechselte. Es war eine Stadt, die verzweifelt versuchte, einem Image gerecht zu werden, das sie aus einer fernen Vergangenheit bezog, und sie war sich völlig darüber im Klaren, dass sie daran scheiterte. Philadelphia war in den 1790er Jahren eine
bedeutende Stadt gewesen, aber um das Jahr 1955 fand alles Wichtige woanders statt, in New York, in Washington, D. C. oder in Chicago. Den in Philadelphia lebenden Menschen war das in einer vagen und unausgesprochenen Weise durchaus bewusst. Auch meine Internatsschule lebte in einer hochgradig stilisierten Vergangenheit, die ich in diesem Buch beschreiben werde. Beim Brexit geht es zum Teil ebenfalls um einen Traum der Rückkehr zu einer fantasierten Vergangenheit, in der die Bevölkerung des Vereinigten Königreichs rassisch und kulturell ungewöhnlich homogen zusammengesetzt war und die Gesellschaft mächtig genug und auf ihren Inseln ausreichend iso 15 liert war, um Entscheidungen treffen zu können, ohne die Ansichten, Interessen und Bedürfnisse ihrer unmittelbaren Nachbarn oder sogar vom Rest der Welt großartig einbeziehen zu müssen. Das Thema dieses Buchs ist in erster Linie der Liberalismus, in zweiter Linie ist es die Logik des Lebens in einer Nostalgieblase. Die Leserinnen und Leser mögen mehr über die Einzelheiten katholischer Theologie, den Glauben und die Praktiken des Katholizismus, über obskure religiöse Polemik und über die frühchristliche Geschichte erfahren, als sie erwartet haben, und mehr, als sie leichthin tolerieren können. Die Aufnahme dieser Erörterung in den Text könnte aus einer Reihe von Gründen seltsam erscheinen. Schließlich bin ich kein Experte für irgendeinen dieser Stoffe, und meine Ansichten dazu sind nicht mehr als Berichte über das, was ich 1960 von einem Lehrer in der weiterführenden Schule hörte, der selbst kein Meister auf irgendeinem der genannten Gebiete war, auch nach damaligem Wissensstand nicht. Der Grund dafür, dies gerade jetzt wieder aufzuwärmen, ist der Kerngedanke, auf den ich mit dieser Geschichte hinauswill. Ich möchte behaupten, dass das Aufwachsen als Mitglied einer gesellschaftlichen Untergruppe mit ihrer eigenen sehr verdichteten und in hohem Maße theoretisch durchdachten Geschichte und mit einer Erklärung dafür, wie sich diese Geschichte in die übrige Welt als Ganzes einfügt, einen kognitiven Vorteil verschaffen kann, wenn es darum geht, der Verlockung weitverbreiteter Illusionen zu widerstehen, die tief verwurzelt sind und durch den üblichen
Gang sozialer Prozesse fortwährend bestärkt werden. Dies kann selbst dann zutreffen, wenn die Ideologie der betreffenden Untergruppe für sich betrachtet nichts ist, was man nach reiflicher Überlegung annehmen wollen würde. 16 Lenin und Lukács haben beide von der Notwendigkeit einer Ideologie für das Proletariat gesprochen. Es war keine ausreichende Voraussetzung, unterdrückt zu sein oder sogar zu wissen, dass man unterdrückt war; man musste auch Möglichkeiten haben, das empfundene Elend nicht bloß auszudrücken (zum Beispiel in Liedern), sondern es zu artikulieren, theoretisch zu verarbeiten und es mit einer allgemeinen Sicht auf die Gesellschaft, das menschliche Handeln und die Geschichte zu verbinden. Man brauchte so etwas wie das, was der Katholizismus zur Verfügung stellte. Deshalb bin ich bei meinen Erörterungen katholischer Einzelheiten vielleicht ausführlicher geworden, als es manche für unbedingt nötig halten würden. Es erschien mir zu diesem Zweck angemessen, den Leserinnen und Lesern einen Eindruck davon zu vermitteln, wie substanziell, wie detailgenau, wie zusammenhängend, historisch weitreichend und geschichtsbewusst diese ideologische Form war. Ein weiterer Grund ist wohl das überraschende und für mich bestürzende Wiederaufleben der traditionellen Religion in westlichen Gesellschaften in den letzten zwanzig oder dreißig Jahren. In Anbetracht meines generell von Feuerbach geprägten Ansatzes zur Religion, der die Religion aus unbefriedigten menschlichen Bedürfnissen hervorgehen sieht, hätte ich dieses Wiederaufleben nach den ungeheuren Misserfolgen des politischen Handelns, die spätestens gegen Ende der 1970er Jahre deutlich geworden sind, und der obszönen Zunahme der menschlichen Ungleichheit seit den 1990er Jahren eigentlich erwarten sollen. Doch in Wirklichkeit war ich überrascht. Ich ging davon aus, dass die Menschen in sehr viel stärker privatisierten und esoterischen Formen nach Befriedigung suchen würden. Die Schwierigkeit – und in gewisser Weise wahrscheinlich die entscheidende philosophische Schwierigkeit unserer Zeit – 17 ist natürlich, dass wir gegenüber allen totalisierenden ideologischen
Konstruktionen wie dem Kommunismus und dem Katholizismus zu Recht misstrauisch geworden sind. Das bedeutet, dass sich die wirklich totale Ideologie unserer Ära, die Verbindung aus Demokratie, Liberalismus und Kapitalismus, nicht als eine totale Ideologie, sondern tatsächlich als etwas anderes präsentiert; in einigen ihrer raffinierteren Formen präsentiert sie sich sogar als die Antiideologie schlechthin. Es ist nicht schwer, diese spezielle Täuschung zu durchschauen, doch selbst wenn uns das gelungen ist, sind wir immer noch mit einer von Haus aus instabilen und unangenehmen Situation konfrontiert: Wir benötigen anscheinend aus einer Vielzahl von Gründen so etwas wie eine umfassende Weltanschauung, und doch haben wir allen Grund zu glauben, dass keine oder zumindest keine von den uns verfügbaren zufriedenstellend sein wird. Das intellektuelle Leben einer einigermaßen aufmerksamen und intelligenten Person wird in unserer Zeit aus einer Reihe von Geschäftsreisen, Expeditionen, Wanderungen und fast ziellosen Spaziergängen durch eine Landschaft bestehen, die ihren Charakter anscheinend im Wesentlichen von diesem großen Paradox erhält: dass allumfassende Weltanschauungen offenbar sowohl unentbehrlich als auch unhaltbar sind. Normalerweise folgt eine Geschäftsreise einer bekannten Route zu einem beabsichtigten Endpunkt, eine Expedition hingegen ist eine Reise ins Unbekannte. Beiden ist jedoch gemeinsam, dass sie stark teleologisch strukturierte Aktivitäten sind; sie sind auf ein Ziel ausgerichtet (selbst wenn das Ziel, wie im Fall einer Expedition, die Entdeckung von etwas Neuem ist). Eine Wanderung ist damit nicht vergleichbar, sondern ist mehr durch innere Spontaneität charakterisiert und richtet sich im besten Fall nach der jeweiligen Laune und dem augenblick 18 lichen Vergnügen. Ein wirklich zielloses Umherwandern ist sogar noch weniger strukturiert. Der nun folgende Text erzählt die Geschichte eines individuellen Wegs durch diese Landschaft. Im Rückblick habe ich ihm mehr Gestalt, Einheit und Struktur und mehr Orientierungssinn verliehen, als er zu haben schien, während ich damit beschäftigt war, auf ihm fortzuschreiten. Oft glich dieser Weg nur dem ziellosen Umherstreifen in einer außerordentlich unwirtlichen Umgebung.
Es scheint sich allerdings für mich jetzt bewahrheitet zu haben, dass es möglich ist, diesen individuellen Weg als eine kohärente Erzählung von der Art wiederzugeben, wie ich sie im Folgenden schildere. Das ist für sich genommen nicht belanglos, weil die zusammenhängende Darstellung ohne willkürliche Verbiegung, Verdrehung, Hinzufügung und Auslassung in einem untragbaren Umfang vielleicht nicht realisierbar gewesen wäre. Die wirkliche Relevanz meines Berichts ist etwas, das ich dem Urteil der Leser und Leserinnen überlassen muss.
19 Einleitung Es gibt keine andere Welt, nur eine andere Art zu leben. – Jacques Mesrine, L'instinct de mort Führende Politiker heutiger Gesellschaften in Westeuropa und Nordamerika charakterisieren die Regierungsformen, in denen sie wirken, gern als »liberale parlamentarische Demokratien«. Das ist offensichtlich in einer Reihe von Hinsichten eine problematische Selbstbeschreibung.1 Viele dieser Gesellschaften sind eigentlich Erbmonarchien, in denen feudale religiöse Strukturen immer noch eine gewisse Rolle spielen. Der Premierminister im Vereinigten Königreich hat einige prärogative Befugnisse, die vom König oder der Königin stammen und nicht der normalen parlamentarischen Kontrolle unterliegen, und ähnlich wie im Iran haben die religiösen Oberhäupter politische Macht: Bischöfe verfügen automatisch über einen Sitz im House of Lords, der oberen Kammer der gesetzgebenden Versammlung. Nach strenger Auslegung der Bedeutung von »Demokratie« kann keine parlamentarische Regierungsform wahrhaft »demokratisch« sein.2 Aktuell sind wir auch Zeugen von Versuchen, ausgesprochen illiberale, aber vorgeblich demokratische Regierungsformen zu schaffen, wie etwa in Ungarn. Dennoch scheint diese allgemeine Charakterisierung von Ländern wie Kanada, Griechenland, Norwegen, Spanien, Mexiko, den Vereinigten Staaten, Italien und der Tschechischen Republik insgesamt gesehen nicht völlig verfehlt zu sein, besonders im Hinblick auf die zwangsläufig ungefähre und flexible Natur jeglicher Beschrei 20 bung in der Politik. Schließlich handelt es sich um eine allgemeine Beschreibung, die auf viele verschiedene Fälle anwendbar sein soll. In der Politik ist es eine höchst politische Angelegenheit, ob man bestimmte zentrale Begriffe eher eng oder eher weit auslegt, und das bedeutet, die zugrundegelegten Begriffe müssen sich
zumindest dem Prinzip nach dafür eignen oder dürfen sich nicht von Anfang an dagegen sperren. Ich habe in diesem Buch nicht vor, »Demokratie« oder die Idee einer »parlamentarischen« Regierungsform zu diskutieren, obwohl beide Begriffe sehr wichtige Themen sind. Ich werde mich vielmehr auf die Beschreibung »liberal« konzentrieren. Meiner Ansicht nach bildet noch immer irgendeine Form des Liberalismus den grundlegenden Bezugsrahmen, der das politische, ökonomische und soziale Denken in der englischsprachigen Welt strukturiert. Der Text, den Sie lesen werden, ist keine soziologische Analyse moderner staatlicher Gemeinwesen oder eine Reihe philosophischer oder politischer Argumente gegen die wichtigsten Grundsätze des Liberalismus (gleichgültig, wie man ihn definiert) oder eine kritische Diskussion zu den Folgen des Versuchs, in einer Welt wie der unsrigen eine Gesellschaft anhand dieser Prinzipien zu organisieren. All diese Projekte wären überaus verdienstvolle Vorhaben, sind jedoch nicht meine. Und wer versuchen sollte, dieses Buch zu lesen, um herauslösbare Argumente gegen den Liberalismus zu finden, wird den eigentlichen Punkt verfehlen und enttäuscht werden. Es handelt sich vielmehr um so etwas wie eine ethnographische Darstellung einer bestimmten Nische in der Ökologie moderner Gesellschaften, die zudem eine starke autobiographische Komponente enthält. Große, komplexe Gesellschaften lassen solche verhältnismäßig unabhängigen Positionen in Zwischenräumen zu, deren Zahl und Art sich erheblich unterschei 21 den; aber eine Eigenschaft, die diese Nischen meistens aufweisen, ist die, dass sie in hohem Maße auf einen besonderen Kontext und manchmal auch auf eine bestimmte geschichtliche Konstellation angewiesen sind. Die Nische, die ich beschreiben werde, war ganz gewiss fragil und am Ende dieses Buchs werde ich etwas darüber sagen, wie sie sich schließlich auflöste, als eine kurze geschichtliche Konstellation, die sie ermöglicht hatte, ihr Ende fand. Dennoch ist das, was ich beschreibe, nicht bloß eine rein theoretische Möglichkeit, sondern etwas, dass in einer relativ fortgeschrittenen westlichen Gesellschaft bereits in den frühen 1960er Jahren existieren konnte. Diese Tatsache hat, wie ich zeigen möchte,
Konsequenzen dafür, wie wir über unsere politische Welt nachdenken können. Die philosophische Gewohnheit einer konzentrierten Einzelkritik an klar formulierten Thesen ist nicht nutzlos, aber sie hat für die Diskussion von großen, historisch langlebigen Bewegungen wie dem Christentum, dem Nationalismus oder auch nur dem Darwinismus einen begrenzten Wert. Zwischen Religionen, politischen Ideologien und wissenschaftlichen Theorien gibt es offenkundig wichtige Unterschiede, aber in einigen Hinsichten ist es möglich, sie als etwas Ähnliches zu behandeln – beispielsweise bezogen auf ihre Fähigkeit, große Menschengruppen über mehr als eine Generation anhand von Konstellationen relativ abstrakter Begriffe und Ideen zusammenzubringen. Die Widerlegung (etwa durch Aufzeigen innerer Widersprüche, schwacher oder fehlerhafter Argumentation oder einfach empirischer Unrichtigkeit) ist eine vollkommen sinnvolle Kategorie, wenn man ein scharf definiertes, fest umrissenes Ziel in Form einer bestimmten, voll ausformulierten Aussage hat. Die genannten breit angelegten Bewegungen haben jedoch das Merkmal, dass sie damit überhaupt nicht vergleichbar sind. 22 Zwar haben sie klare ideelle Bestandteile, die in einem gewissen Sinne wesentlich für sie sind, aber sie sind auch in mancherlei Hinsichten amorph, an ihren Rändern offen, und ähnlich wie lebendige Organismen besitzen sie die Fähigkeit, sich (auf mannigfaltige Weise) zu wandeln, während sie ihre Identität beibehalten. Es ist nicht bloß ein Mangel oder ein Nachteil, dass sie so offen angelegt sind; ihre amorphe Beschaffenheit bildet vielmehr einen Teil dessen, was sie so wertvoll macht. Sie sind nicht nur Beschreibungen einer existierenden Wirklichkeit, sondern außerdem Programme für die künftige Forschung, die theoretische Entwicklung und fürs Handeln. Die Fähigkeit, sich zu wandeln, anzupassen und zu entwickeln gehört zu dem, was sie wesentlich ausmacht. Sie sollen uns unter anderem durch eine ungewisse Zukunft führen, uns insbesondere dabei helfen, angesichts neuer unbekannter Situationen Entscheidungen zu treffen und uns neue Meinungen über diese zu bilden. Sie müssen daher aus sich heraus für Veränderung, Evolution und Wandel offen sein.
Genau genommen sind es drei Dinge, die man im Kopf behalten muss, wenn man über solche Bewegungen nachdenkt. Als erstes den nietzscheanischen Punkt, den ich soeben erwähnt habe, nämlich dass sie keine Definition im strikten Sinne haben.3 Sie haben eine Geschichte, und in dieser Geschichte teilen ihre unzähligen Varianten jederzeit genug Eigenschaften, um uns ihre Identifizierung als Fälle derselben Sache zu ermöglichen (zum Beispiel christliche Sekten im Gegensatz zu platonischen Schulen). Bestimmte Dinge sind für sie bedeutender als andere: Der Glaube an die Wiederauferstehung der Toten ist zum Beispiel für die meisten Formen des frühen Christentums von größerer Bedeutung als etwa der Vegetarismus – den manche Sekten ebenfalls praktizierten.4 Dies kann sich jedoch 23 ändern, und Einstellungen oder Überzeugungen, die einmal zentral erschienen, können mit der Zeit nebensächlich werden (oder sogar aufgegeben werden, wie etwa die Verbote, Eide zu leisten oder als Geldwechsler zu arbeiten), während andere in den Mittelpunkt der Bewegung rücken können, wie beispielsweise die Obsession mit bestimmten Themen der Sexualmoral, die in einigen jüngeren Versionen des Christentums besondere Bedeutung erlangt hat. Zweitens gibt es ein generelles Argument zur Rolle der »Widerlegung«, das von Thomas Kuhn und aus der späteren Diskussion seines Werks stammt.5 Was immer in einer idealen Welt stimmen mag: Es ist einfach nicht zutreffend, dass die Art, wie die Wissenschaft im Laufe der Zeit vorankommt, einem einfachen Prozess in zwei Schritten entspricht, dem zufolge die Menschen so lange etwa am Darwinismus festhalten, bis von den augenscheinlich einzelnen Bestandteilen der Theorie einer »widerlegt« wird (indem gezeigt wird, dass er mit anderen Bestandteilen oder mit der Realität unvereinbar ist), und dann in einem zweiten Schritt, sobald eine solche Widerlegung erfolgt ist, der zugrundeliegende theoretische Ansatz im Ganzen verworfen wird. Bewegungen sind unendlich kreativ darin, Wege zu finden, eine offenkundige Widerlegung zu umgehen oder abzutun, von denen nicht alle per se verwerflich sind. Denn selbst Einwände, die zu einem bestimmten Zeitpunkt wichtig zu sein scheinen, können sich als welche herausstellen, die auf Fehlern der einen
oder anderen Art beruhen. Historische Konfigurationen wie das Christentum oder der Nationalismus, die von sich aus keine wissenschaftlichen Theorien sind, können angesichts von Widerspruch oder Widerlegung auch mutieren oder sich sogar angesichts eines allgemeinen historischen Wandels verändern. Das ptolemäische Modell unseres Sonnensys 24 tems ist vielleicht ein extremer Fall für den Fortbestand einer Erklärung trotz einer Chronologie des Scheiterns, in der jede Diskrepanz zwischen dem, was die Theorie fordern würde, und dem, was aufgrund der tatsächlichen Erfahrung der Fall war, nur als ein Zeichen dafür betrachtet wurde, dass die Grundtheorie einer weiteren Verfeinerung bedürfe. Ptolemäus zufolge bewegten sich die Planeten, der Mond, die Sterne und die Sonne auf festen Kreisbahnen um die Erde. Bei eingehender Prüfung schienen die Positionen, die von den Planeten, dem Mond und der Sonne beobachtbar eingenommen wurden, jedoch nicht denen zu entsprechen, welche die Theorie verlangen würde. Anstatt nun eine der beiden zentralen Annahmen des Ptolemäus zu ändern – wonach sich die Sonne und die Planeten um die Erde bewegten und ihre Himmelsbahn stets vollkommen kreisförmig sei –, zogen es einige Astronomen vor, dem Modell weitere Kreisbahnen von Himmelskörpern um imaginäre Punkte hinzuzufügen, um das Ergebnis etwas mehr dem anzunähern, was sie beobachteten. Der einzige Grund dafür, diese »Epizykeln« hinzuzufügen, war die Rettung der Theorie. Ursprünglich hatte die Bezeichnung »Epizykel« einen klaren konkreten Bezug zu ergänzenden hypothetischen Bewegungen, die dem von der Theorie anerkannten Grundstock hinzugefügt wurden, mittlerweile bezieht sie sich aber auf ad hoc Ergänzungen zu einer Theorie, die lediglich deshalb eingeführt werden, um der Widerlegung zu entgehen. Es gibt keinen angebbaren besonderen Punkt, bis zu dem es noch vernünftig ist, die Theorie durch Korrekturversuche zu retten, und ab dem das nicht mehr sinnvoll ist. Das macht es viel schwieriger, eine evidenzbasierte Beurteilung von anderen Kräften zu unterscheiden, die daran mitwirken könnten, eine existierende Theorie aufrechtzuerhalten. Man kann tatsächlich im Prinzip immer wei 25 tere solcher Epizykel hinzufügen, und
wenn man genügend Zeit und Einfallsreichtum hat, kann der Tag, an dem die Theorie aufgegeben wird, weil sie »endgültig« widerlegt worden ist, ad kalendas graecas [bis auf den Sankt-Nimmerleins-Tag] aufgeschoben werden. Drittens gibt es das marxistische Argument, wonach man eine Religion nicht loswird, indem man zeigt, dass deren Behauptungen falsch sind, sondern nur, indem man das zugrundeliegende Bedürfnis stillt, dessen ausbleibende Befriedigung ursächlich für sie ist; und man kann sich durchaus vorstellen, dass dieser Punkt allgemeiner gelten kann.6 Das heißt, selbst wenn man per impossibile den Menschen das Christentum als eine spezielle Form der religiösen Riten und Glaubensinhalte abgewöhnen könnte, die Menschen aber weiterhin ein tieferliegendes Bedürfnis hätten zu glauben, dass ihr Leben in irgendeine externe metaphysische und normative Struktur eingebettet sei, wäre damit nur eines bewirkt: Man würde eine Form der auf Trost beruhenden Religion durch eine andere ersetzen. Solange die Menschen in ihrer sozialen Welt nicht die Sicherheit und Zufriedenheit fänden, die sie bräuchten, würden sie damit fortfahren, die Befriedigung jener Bedürfnisse auf irgendeine andere imaginäre Welt zu projizieren. Und dann würden noch so viele Widerlegungen von Einzelheiten jener Projektion den zugrundeliegenden Mechanismus nicht daran hindern können, weiter zu funktionieren und immer neue Illusionen hervorzubringen. Theodor W. Adorno versuchte die Richtigkeit dieser Annahme zu beweisen, indem er die Astrologie-Spalten in den Zeitungen der 1940er Jahre analysierte. Eine unzufriedene Bevölkerung, die nicht an Gott glaubte, konnte nicht umhin, an die Sterne zu glauben.7 Außerdem geben Menschen eine gut eingebürgerte Denk 26 weise und Lebensweise, die einigen ihrer Grundbedürfnisse entspricht, normalerweise nicht auf, sofern sie nicht erkennen können, dass sie eine vernünftige Alternative dazu haben. Eine vernünftige Alternative wäre eine solche, in der das Grundbedürfnis verschwinden würde oder auf andere Weise angemessen befriedigt wäre. Was ist eine »vernünftige« Alternative jedoch konkret? Wie grenzt man das Spektrum der Möglichkeiten ein? Welche Arten von Bedürfnissen müsste eine
Alternative zum Christentum befriedigen können? Was würde denjenigen, die für Kritik an einigen charakteristischen Eigenschaften des Christentums empfänglich wären, die Gewissheit geben, die sie benötigen, um ausreichend motiviert zu sein, das Christentum aufzugeben? Wie umfassend und einleuchtend würde eine Alternative zum Darwinismus sein müssen? Da es sich hierbei um in einem sehr allgemeinen Sinn politische Fragen handelt, ist es keineswegs überraschend, dass dieselbe Art von Fragestellungen aufkommt, wenn über politische Ideologien wie den Liberalismus diskutiert wird. Der Liberalismus im Gegensatz zu was? Und überdies: Welche Bedingungen müsste etwas erfüllen, damit es eine vernünftige Alternative zum Liberalismus sein könnte? Die Behauptung, dass es keine Alternative gibt, ist ein starker und oft wirkungsvoller Anspruch, wie die politische Karriere der ehemaligen britischen Premierministerin Margaret Thatcher gezeigt hat. »Es gibt keine Alternative« bedeutete in ihrem Fall in Wahrheit »Es gibt keine ökonomisch und politisch akzeptable Alternative«, und »ökonomisch akzeptabel« wiederum hieß: hinreichend vorteilhaft für die Akteure der Wirtschaft, mit deren Interessen sich Thatcher identifizierte. Sie mag das selbstdefinierte Wohl dieser Akteure tatsächlich vollkommen aufrichtig mit dem nationalen Interesse gleichgesetzt ha 27 ben. Andere waren hinsichtlich dieser Gleichsetzung natürlich skeptisch. Es gibt allerdings eine Variante der strategischen Behauptung »Es gibt keine Alternative«, die ebenfalls höchst erfolgreich gewesen ist: die Erzeugung falscher Dichotomien. Unübertroffener und unangefochtener Meister in dieser Spielart des Sophismus war der frühere britische Premierminister Tony Blair. Wenn man die Menschen glauben machen konnte, die einzige politische Wahl bestehe darin, entweder die US-Invasion im Irak zu befürworten oder alles zu billigen, was das Regime der Baath-Partei im Irak jemals zu verantworten hatte, war die Aufgabe, Unterstützung für die Kriegsbeteiligung zustande zu bringen, erheblich leichter. Auch dies ist eine Version des »Es gibt keine Alternative«, weil eines der Elemente in der falschen Dichotomie extra so formuliert ist, dass es inakzeptabel wird.
»Liberalismus oder Autoritarismus« ist genau eine solche falsche Dichotomie. Der »Autoritarismus« selbst bezeichnet einige rhetorisch zunehmend extremere Beschreibungen einer angeblichen Alternative zum Liberalismus, von denen vielleicht der Faschismus als der Endpunkt, als die ultimative Form des Antiliberalismus betrachtet werden kann. Der Liberalismus in dem besagten Sinne ist ohne Frage eine amorphe und wechselnde Sammlung von Dingen mit einer ausgeprägten Fähigkeit, sich zu erneuern, einen Gestaltwandel zu vollziehen und die Formulierung seiner Grundüberzeugungen zu revidieren. Warum sollte man dann, wenn das zutrifft, erwarten, er habe nur einen einzigen Gegensatz? Warum sollte es dann nur eine einzige Reihenfolge zunehmend stärkerer Gegensätze geben, die alle in derselben Dimension liegen? Die Kritikpunkte an einigen der besonders charakteristischen Lehrsätzen des Liberalismus sind vielsagend und gut bekannt, und doch scheint er sie alle überlebt zu haben. Was nahelegt, dass seine Anziehungskraft in der 28 Tatsache wurzelt, dass er auf besonders zufriedenstellende Weise auf tiefe menschliche Bedürfnisse antwortet und den Eigeninteressen der mächtigen wirtschaftlichen und sozialen Gruppen entgegenkommt. Dies bringt uns zu Marx' Analyse der Religion zurück. Wäre es möglich, sich politische Ideologien als etwas vorzustellen, das gleichermaßen in Fantasien wurzelt, die sich auf die Befriedigung dringlicher menschlicher Bedürfnisse richten, denen man unter den existierenden sozialen und ökonomischen Bedingungen nicht Rechnung tragen und gerecht werden kann? Was würde man herausfinden, wenn man die Beständigkeit des Liberalismus von diesem Gesichtspunkt aus betrachten würde? Wenn man die Fantasie, ein völlig souveränes Individuum zu sein, für das Kernstück des Liberalismus hält, wie ich es tue, wäre es doch wohl offensichtlich, dass eine solche Fantasie die Reaktion auf eine starke Angst ist, einen echten Verlust an Handlungsfähigkeit in der Welt zu erleiden. Diese Angst ist in der Welt, in der wir leben, durchaus berechtigt, und so ist die Fantasie eindeutig mit der Befriedigung eines wirklichen Bedürfnisses verbunden, selbst wenn die Form, welche die Befriedigung annimmt, illusionär ist. Eine Schwierigkeit besteht darin, dass eine wirkliche
Veränderung der Welt, die solche Ängste grundlos machte, es erfordern würde, dass viele Menschen auf eine Art und Weise handeln, die tatsächlich die Sicht verstärken könnte, der zufolge sie souveräne Initiatoren ihres Handelns sind. Es wird zudem immer schwieriger, sich den Ausstieg vorzustellen, sobald man sich darüber klar wird, dass der Liberalismus nicht bloß eine selbsterzeugte Illusion ist. Er dient nicht allein als imaginärer Trost für frustrierte Bedürfnisse, sondern nutzt tatsächlich wirksam und spürbar einigen mächtigen Wirtschaftsakteuren. Für die Unternehmensleiter in den 29 Industrien mit fossilen Brennstoffen ist der Nutzen des Liberalismus keineswegs imaginär, und sie haben einen sehr starken Anreiz sowie reichlich Mittel, um zu seiner Erhaltung beizutragen und seinen Zugriff auf die Bevölkerung zu festigen. Gibt es also oder gab es (in jüngster Zeit) eine Alternative zum Liberalismus? Gibt es eine Alternative zum Liberalismus, die sich der Dichotomie »liberal oder autoritär« widersetzt oder sogar der Dimension entzieht, in der dieser Gegensatz angeblich liegt? Dieses Buch versucht, die Spur eines Lebenswegs nachzuzeichnen, der vom liberalen Konsens abweicht, ohne deshalb autoritär zu sein, und davon eine dichte Beschreibung zu geben. Es ist ein möglicher Weg oder war jedenfalls in der nunmehr jüngsten Vergangenheit ein möglicher Weg, weil einige Menschen ihn tatsächlich gegangen sind (ich zum Beispiel). Die Absicht ist also deskriptiv anstatt ausdrücklich argumentativ. Das heißt, dieses Buch ist ein Versuch, das Bild einer Lebensform samt einer Reihe von Überzeugungen zu zeichnen, die nicht nur möglich ist, sondern wirklich existiert hat, wobei dies der Konstruktion von Argumenten zugunsten einer Position oder der Widerlegung von Einwänden gegenübergestellt werden soll. Einige Leser und Leserinnen mögen der Ansicht sein, dass sich der Text mehr wie eine historische oder ethnographische Arbeit liest und weniger wie eine philosophische Abhandlung, denn schließlich hat es die Philosophie, so könnten sie meinen, nicht mit Beschreibungen, sondern in Wirklichkeit mit Argumenten, mit der Beteiligung an einer Dialektik von These und Gegenthese, von Vorschlag und Einwand,
Widerlegung und Gegenvorschlag zu tun. Diese Ansicht zur Philosophie teile ich allerdings nicht. Anders gesagt, ich habe immer gedacht, zu zeigen, dass »es möglich (realistisch) ist, in dieser Weise zu denken«, sei ein bes 30 seres Mittel zur Beschreibung des Ziels der Philosophie als der normale – und normalerweise auch törichte – Versuch, zu zeigen, dass »es notwendig ist, in jener Weise zu denken«. Ich war immer etwas abgeschreckt von der Idee, dass die Philosophie im Wesentlichen als eine Angelegenheit verstanden werden sollte, bei der es darum geht, Argumente zu finden und zu widerlegen – eine Art über den Gegenstand nachzudenken, die man schon nach den Dissoi logoi im fünften Jahrhundert vor Christus hätte beerdigen sollen.8 Mein Unbehagen mit dem Argument-WiderlegungModell hängt zusammen mit zwei weiteren charakteristischen Eigenschaften der Art, wie Philosophie mittlerweile betrieben wird, die ich unglücklich finde. Die erste ist der an Gladiatorenkämpfe erinnernde Ablauf eines Großteils der philosophischen Diskussion. Nietzsche, der darin Burckhardt folgte, lenkte die Aufmerksamkeit auf die Tatsache, dass die griechische Kultur agonzentriert war und dass dies besonders für die Philosophie als eine kulturelle Praxis galt – wobei man der Fairness halber sagen muss, dass Nietzsche bestens in der Lage war, die relevanten Texte selbst zu lesen und diesbezüglich nicht auf die Anleitung von irgendjemand anders angewiesen war. Hilft uns aber der formalisierte Konflikt immer, ein Verständnis zu erarbeiten und die Wahrheit aufzudecken? Die zweite Eigenschaft, die mir nicht gefällt, ist von Robert Nozick in dem Vorwort zu einem seiner Bücher beschrieben worden. Er sagt dort, er möchte ein so starkes Argument liefern, dass es das Hirn derjenigen durchbrennen lässt, die es hörten und verstünden, und sie zwingt, es anzunehmen.9 Abgesehen von den ersichtlich sadomasochistischen Elementen darin, sieht es für mich nicht so aus, als sei eine Herangehensweise, die Diskussionen auf diese Weise begrifflich fasst – als die Suche nach einem derartigen Argument oder einer derarti 31 gen Wiederlegung –, die geeignetste Form, irgendein Verständnis der Welt zu erlangen. Vielleicht ist das der Hauptgrund dafür,
warum ich zur vorherrschenden philosophischen Kultur eine Distanz verspüre, denn ich bin nicht so sehr darauf aus, in argumentativen Auseinandersetzungen zu gewinnen oder Menschen davon zu überzeugen, dass sie sich meinem Willen beugen müssen, sondern vor allem daran interessiert, ein gewisses Verständnis von manchen grundlegenden Eigenschaften der Welt zu erwerben. Wenn das Verstehen ein begrifflicher Schlüssel ist, hat dies auch Konsequenzen dafür, wie man sich eine Diskussion vorstellen kann – von der Möglichkeit einer gemeinschaftlichen Bemühung ganz zu schweigen. In Anbetracht der Tatsache, dass dies generell die von mir vertretene Position ist, spare ich mir die Entschuldigung für das Vorhandensein einer starken autobiographischen Komponente in diesem Buch, dessen Struktur sich tatsächlich aus einer Reihe von Ereignissen in meinem Leben ergibt. Jemandem, der glaubt, die Philosophie sollte eine rein argumentative Disziplin sein, aus der alle autobiographischen Anteile zu verbannen sind, möchte ich zunächst erwidern, dass dies unmöglich ist und es deshalb einen gewissen Vorteil darstellt, wenn man diesbezüglich ausdrücklich ist: Vorzugeben, dass der autobiographische Anteil nicht existiert, wird ihn nicht verschwinden lassen, sondern stattdessen Scheinheiligkeit und Selbsttäuschung unterschiedlichster Art kultivieren. Und was soll außerdem diese Obsession mit der Reinheit? Sidney Morgenbesser, mein wichtigster Philosophielehrer an der Universität, pflegte zu sagen, der Behaviorismus sei die These, dass ein Anthropomorphismus bei der Erforschung des menschlichen Verhaltens unangebracht sei. Meiner Meinung nach war dies einer von Sidneys besten Scherzen, weil sehr witzig und tiefgründig zugleich. Im 32 selben Duktus, wenn auch ohne den Humor, könnte ich fragen, wo sonst die Autobiographie denn passend untergebracht wäre, wenn sie im Nachdenken über das souveräne menschliche Subjekt und dessen wechselvolles Leben überhaupt keinen Platz hätte. Da nun das autobiographische Element in etwas eingebettet ist, das im Grunde genommen ein ethnologischer Bericht ist, sollte ich vielleicht einen wichtigen Punkt unterstreichen. Viele der Standpunkte, die ich
beschreibe – beispielsweise dann, wenn ich von den Inhalten meines Religionsunterrichts an der Schule spreche –, geben keine Auffassungen wieder, die ich selbst gutheiße. Es sind im Wesentlichen Berichte darüber, was mir beigebracht wurde, so dass weite Strecken davon in oratio obliqua [indirekter Rede] gehalten sind. Ich habe versucht, die Darstellung mit Bemerkungen wie »Krigler sagte« oder »wie man uns sagte« zu versehen, was sich aber als stilistisch irritierend erwies, und so war ich nicht immer peinlich genau auf die Einhaltung dieses Vorsatzes bedacht. Natürlich mag auch mein Gedächtnis nicht immer ganz zuverlässig sein, obwohl ich wirklich überrascht bin festzustellen, wie viel von dem Stoff, den ich an der Schule lernte, in meinem Gedächtnis tatsächlich noch vorhanden ist, wenn ich nun danach suche. Der Unterricht, den ich damals erhielt, hat offensichtlich einen tiefen Eindruck bei mir hinterlassen, wenn auch nicht immer ganz in eine Richtung, mit der meine Lehrer einverstanden gewesen wären. Damit will ich jedoch nicht sagen, dass meine Erinnerung tadellos ist. Ich kann nicht garantieren, dass keinerlei spätere Ausschmückung oder weitergehende Reflexion Einfluss auf das genommen hat, woran ich mich erinnere. Ich bemühe mich allerdings, Fälle kenntlich zu machen, bei denen ich weiß, dass ich sie in einem zeitlichen Abstand von mehr als fünfzig Jah 33 ren bedenke und das, was meine Lehrer meiner Erinnerung nach gesagt haben, irgendwie kommentiere, ergänze oder abändere.
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Mein Schicksal Wie hatten sie einander gefunden? Durch einen Zufall, wie alle Welt. Wie war ihr Name? Was liegt Ihnen daran? Woher kamen sie? Aus dem nächsten Ort. Wohin ging ihre Reise? Weiß man je, wohin man geht? Was sagten sie? Der Herr sagte nichts; und Jacques sagte, sein Hauptmann habe immer gesagt, alles, was uns hienieden an Gutem und Bösen zustoße, stehe da oben geschrieben. – Denis Diderot, Jacques der Fatalist und sein Herr Ich war so manches Mal versucht zu glauben, dass ich dazu verurteilt oder bestimmt wäre, niemals auch nur ein mäßig gutes Verhältnis zum Liberalismus finden zu können, doch das ist natürlich kompletter Unsinn. Moira/fatum/destiny sind archaische Vorstellungen, und wenngleich familiärer Druck und familiäre Erwartungen in der frühen Neuzeit eine Zeitlang so etwas wie den Schatten eines vollwertigen »Schicksals« ausgeübt haben mochten – »Die Männer unserer Familie haben immer im Militär gedient, und du musst das auch« –, wurde die rein soziologische Natur solchen Drucks an einem gewissen Punkt allzu offensichtlich, um noch übersehen werden zu können. Und mit der Entstehung der Ideologie einer individuellen Berufswahl verlor selbst dieser Schatten seine Fähigkeit, ein passendes Gefühl vollkommener Unvermeidlichkeit hervorzurufen, und verschwand allmählich. Die christliche Umformung des fatum in die göttliche Vorsehung konnte ich ebenfalls nie ernst nehmen, zusammen mit dem entsprechenden Wertewandel, der unter 36 anderem zur Folge hatte, dass man für die Akzeptanz seines unausweichlichen Schicksals (amor fati) nicht mehr höchstes Lob einstreichen konnte, sondern dass die Individuen dazu ermutigt wurden,
die christliche Beschwörung der Hoffnung elpis/spes zu beherzigen – die feste Zuversicht, dass die Welt sinnvoll sei und eine ihr innewohnende Bedeutung habe und Gott sich um die Seinen kümmern werde.1 Mir ist immer vollkommen selbstverständlich erschienen, dass diese Ansätze beide zu simpel sind und zudem unrichtig, weil sie darauf angewiesen sind, eine nichtmenschliche intentionale Handlungsfähigkeit anzuerkennen, wo keine existiert. Weder das Schicksal noch Gott existieren. Jede vernünftige Haltung zur Welt, in der wir leben, müsste zwei Einstellungskomponenten enthalten. Wenn man unsere Welt in metaphysischer Hinsicht verstehen will, ist es am besten, sich ihr durch die spätantike Idee zu nähern, dass tuchē – Kontingenz – alles beherrscht. Schließlich ist das Universum nur eine vibrierende Energiemenge, die sich selbst auf kontingente Art und Weise ausbreitet (obwohl wir natürlich die Ausdehnung selbst als etwas betrachten, das auffindbaren physikalischen Gesetzen gehorcht), oder der Kosmos als Ganzes ist vielleicht lediglich ein abstraktes System formaler Beziehungen, die in ihrer Existenz rein zufällig aufflackern und verlöschen. Das Ganze könnte bestimmte Muster aufweisen, und wenn man unbedingt will, kann man diese eine »Bedeutung« nennen, aber es gibt keine Absicht, keinen Willen, keine Wertorientierung irgendeiner Art, und eine Teleologie ist nirgendwo in Sicht, bis auf dort natürlich, wo die Menschheit in Erscheinung getreten ist, aktiv wurde und allem einen Sinn beilegte. In einem zweiten Schritt sollte man der Zufälligkeit des Universums eine Komponente hinzufügen, die (wie von Goethe berichtet wird) in Napoleons Feststellung zum 37 Ausdruck kommt, dass die antike Tragödie in der modernen Welt unmöglich ist, weil die Politik das Schicksal ersetzt hat.2 Das Schicksal, mit dem der junge Militärkadett konfrontiert ist, besteht in der politischen Entscheidung, die seine Eltern und andere Angehörige getroffen haben, ihre Söhne ebenso zu den Streitkräften zu schicken, wie es die vorangegangenen Generationen taten. Politik ist eine Angelegenheit von Intention, Wahl und Wille des Menschen. Natürlich nicht nur der menschlichen Entscheidung, weil es notwendigerweise eine Verkettung der Ereignisse geben wird, die aus
jedweder Entscheidung von Menschen hervorgeht (ob ein Akteur dies nun weiß oder nicht). In vielen Fällen gibt es so etwas wie eine »Situationslogik«. Als zum Beispiel das Vereinigte Königreich beschloss, die Europäische Union zu verlassen, brachte ihm diese Entscheidung einen systematischen Nachteil in seinem wichtigsten Markt ein. Denn trotz einer Übereinkunft, den Handel mit der EU zollfrei weiterzuführen, die ja tatsächlich erzielt wurde, sind die bürokratischen Kosten, die mit der Überquerung dessen verbunden sind, was nach dem Willen des Vereinigten Königreichs eine echte, spürbare Grenze sein muss, nicht zu vernachlässigen. Nun ist diese Situation keineswegs durch irgendeine Einmischung der Schicksalsgöttinnen entstanden, sondern durch eine Reihe komplizierter Entscheidungen beteiligter Menschen. Dennoch hat sie unter anderem zur Folge, dass ein Prozess in Gang gesetzt wurde, der eine Drift in eine bestimmte Richtung besaß. Vor kurzem ist von einigen Politikern der Vorschlag gemacht worden, dass es nun, da das Vereinigte Königreich aus der EU heraus sei, doch angebracht wäre, die Verbraucherschutz- und Umweltschutzbestimmungen sowie die Arbeitnehmerrechte einzuschränken, den Anbau genetisch veränderter Pflanzen zu erlauben und die 38 Hedgefonds weiter zu deregulieren, weil unsere gegenwärtige Situation – außerhalb der EU – ebendies erfordere. Dies sei der einzige Weg für uns, zu so etwas wie wirtschaftlicher Prosperität zurückzufinden, also einen Zustand zu erreichen, in dem wir uns vor dem Austritt aus der EU befanden. Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass jetzt einiges für diese Argumentation spricht. Schließlich könnten wir uns sehr wohl fragen: Warum haben wir uns eigentlich den Albtraum jahrelanger Verhandlungen über die Austrittsbedingungen zugemutet? Wozu diente das alles? Doch sicherlich nicht dazu, uns ärmer zu machen. Wenn wir also den Diktaten einer bestimmten Konzeption ökonomischer Rationalität folgen, müssen wir versuchen, uns den relativen Vorteil zunutze zu machen, den wir erlangt haben (verglichen mit all denen, die wir aufgegeben haben). Dieser Vorteil besteht in der Implementierung der oben vorgeschlagenen Maßnahmen. Selbstverständlich ist das nichts, was die Befürworter des Brexits vor der
Volksabstimmung als eine »natürliche« Konsequenz des EU-Austritts lautstark verkündet hatten. Sie hatten gute Gründe dafür, die Aufmerksamkeit nicht darauf zu lenken, denn es hätte den Brexit für die Wähler wohl kaum attraktiver gemacht. Dass viele erfahrene Politiker der Labour-Opposition nicht sahen, dass der EU-Austritt diese Konsequenz haben würde, ist einfach ihr Fehler. Es besteht wie gesagt keinerlei Notwendigkeit, dass wir die Arbeitnehmerrechte einschränken, aber es wird nun zum ersten Mal möglich und auf eine Weise wünschenswert, wie es das zuvor nicht war – ein Weg dafür ist vorgezeichnet. Diese Maßnahme zu vermeiden, verlangt einen ständigen energischen Einsatz des politischen Willens, denn sie ist nichts mehr, was einfach durch den Zusammenhang ausgeschlossen ist, in dem normale Politik stattfindet. 39 Der französische Dichter René Char verwendete den Begriff »ornière« (von Wagenspuren eingegrabene Rillen) für so etwas, was ich hier meine. Zu Beginn der Feuillets d'Hypnos, einer Sammlung von Prosatexten aus den Jahren 1943 bis 1944, in denen er vor den Deutschen und den Unterstützern des Vichy-Regimes ständig auf der Flucht war, schreibt er: »Ne t'attarde pas à l'ornière des resultats« (»Verweile dich nicht in der Wagenspur des Erreichten«).3 Man kann zwar aus tief eingegrabenen Spurrillen herauskommen – nämlich den Wagen ganz von der Straße in den Wald steuern –, aber das zu tun, kostet mehr Kraft und Konzentration, als den schon vorhandenen Furchen zu folgen. Denkt man in dieser Weise darüber nach, kann ich meine eingangs gemachte Bemerkung, ich sei dazu prädestiniert, nie ein gutes Verhältnis zum Liberalismus zu finden, anders ausdrücken. Sie bedeutet nun, dass es einige politische und menschliche Entscheidungen gab, die zur Folge hatten, dass ein bequem beschreitbarer Weg angelegt wurde, von dem ich vielleicht hätte abweichen können, wenn ich dafür einen guten Grund gehabt hätte oder wenn ich noch eigensinniger gewesen wäre oder die Umstände anders gewesen wären. Aber die Abweichung hätte entweder ein größeres Ausbrechen des Gangs der äußeren Welt aus der gewohnten Bahn verlangt, als es tatsächlich erfolgte, oder einen stärkeren Einsatz meines Willens und größere moralische Anstrengung meinerseits, als es
tatsächlich geschah. Das ist immer noch ziemlich kryptisch formuliert, so dass ich konkreter werden muss. Warum glaubte ich, es sei meine Bestimmung, kein Liberaler zu werden? Der Grund dafür ist, dass – meinem oben geschilderten zweigleisigen Modell zufolge – die vollständige Kontingenz der Ereignisse in der Welt in meinem Fall von den Folgen überlagert war, die eine Reihe 40 von politischen Entscheidungen gehabt hatte. Ich war durch die politischen Ereignisse, die sich im Herbst und Frühwinter 1956 in Ungarn und vielleicht auch minder gravierend in Indiana kurz vor dem Zweiten Weltkrieg zutrugen, prädestiniert, kein Liberaler zu sein.
Von der Gegenreformation bis zum Ungarnaufstand von 1956 Um das zu erklären, muss ich eine historische Geschichte erzählen oder besser gesagt zwei historische Geschichten. Während der Gegenreformation im 16. Jahrhundert mobilisierte die katholische Kirche in ihren Reihen, um sich vor den neuen Reformtendenzen im Christentum zu schützen, die in Nordeuropa entstanden waren, sich verbreiteten und aus denen das hervorging, was wir heute Protestantismus nennen. Die Kirche war stark bemüht, Boden zurückzugewinnen, den sie an solche Bewegungen verloren hatte, und tat dies auf mehrere Arten. Eine der besser bekannten Formen ihrer Gegenwehr bestand in der Gründung neuer religiöser Orden, von denen der Jesuitenorden wahrscheinlich als der wirksamste und sicherlich bekannteste gelten darf. Man hat oft darauf hingewiesen, dass der Gründer dieses Ordens ein ehemaliger Soldat war und einige Organisationsformen der Jesuiten Ähnlichkeit mit militärischen Strukturen haben. Die gezielte Unterordnung des einzelnen Jesuiten unter die Zwecke des Ordens als eines Ganzen und die strenge Disziplin, die allen Mitgliedern auferlegt wird, waren später für viele politische Gruppen,
nicht zuletzt für einige politisch linke Gruppierungen, eine Inspirationsquelle. Es gab jedoch noch einen weiteren religiösen Orden, der ungefähr zur selben Zeit gegründet wurde. Er ist nicht so bekannt 41 wie der Jesuitenorden, spielt jedoch für diese besondere Geschichte eine wichtige Rolle. Gemeint ist der Orden von den Frommen Schulen (Scholarum piarum), dessen Mitglieder dem Unterrichten und speziell der Ausbildung der Armen verpflichtet sind und auch Piaristen genannt werden. Die Geschichte des Ordens ist kompliziert: Er war eine Zeitlang verboten und wurde aufgelöst, dann aber wiedererrichtet und hat schließlich in den Habsburgischen Ländern Spanien und Österreich-Ungarn eine besonders starke Präsenz beibehalten. Man muss gerechterweise erwähnen, dass die ursprüngliche Zielsetzung einer »kostenfreien« Bildung für die Armen im Laufe der Jahrhunderte in der Praxis mit den finanziellen Erfordernissen des Betriebs von Schulen in Einklang gebracht werden musste, so dass die Schulen gebührenpflichtig wurden und sich an manchen Orten, insbesondere in Ungarn, zu Ausbildungsstätten der politischen, kulturellen und gesellschaftlichen Elite oder zumindest des Bildungsbürgertums entwickelten. Die ursprüngliche Verpflichtung hat man trotzdem nie ganz aus den Augen verloren, und für die, die sie benötigten, waren immer Schulstipendien verfügbar. In Ungarn hat es vor dem Zweiten Weltkrieg viele Piaristen-Schulen gegeben. Im Jahr 1947 begann aber die Kommunistische Partei damit, Kontrolle über die Regierung in Ungarn auszuüben, und beschleunigte als Teil ihres allgemeinen Vorhabens, die Bildung zu säkularisieren, einen Prozess, in dem sie die Schulen des Ordens übernahm und dessen Angehörige vom Unterrichten ausschloss. Dies hätte sehr schnell zur Auslöschung des Ordens geführt, weil dieser seine raison d'être verloren hätte. Die Piaristen führten zwar ein Rückzugsgefecht dagegen, doch es war klar, wie der Konflikt letztlich ausgehen würde. Manche Priester wechselten an die eine oder andere Schule des Ordens außerhalb von Ungarn, von 42 denen sich die nächstgelegenen in Wien und in Krems an der Donau befanden.
Im Februar 1956 hielt Nikita Chruschtschow auf dem XX. Parteitag der KPDSU in Moskau seine berühmte Rede, in der er den »Personenkult« angriff, der sich um Stalin gebildet hatte. In Ungarn wurde dies so aufgenommen, als drücke sich darin stillschweigend eine Bereitschaft aus, Reformen innerhalb der Kommunistischen Partei zu dulden, die dann auch im Sommer unter Imre Nagy begannen. Im Herbst des Jahres hatten die Reformen allerdings einen Punkt erreicht, der Chruschtschow und den anderen Mitgliedern des sowjetischen Politbüros zu weit ging. Nach komplizierten politischen Manövern gab es tatsächlich einen Volksaufstand in Ungarn und zwischen Ende Oktober und Anfang November 1956 eine gewaltsame Niederschlagung der Rebellion durch sowjetische Militärstreitkräfte. In der Endphase des Aufstands verließen zwischen 200 000 und 300 000 Ungarn ihr Land. Von ihnen lebten schließlich etwa 30 000 in den Vereinigten Staaten – tatsächlich so viele, dass die dortigen Piaristen zum Jahresende 1956 eine Internatsschule (mit einer Abteilung für Tagesschüler) gründeten, die auf dem Gelände eines früheren Krankenhauses für psychisch Kranke entstand, das auf einem acht Hektar großen Grundstück in noch teils ländlicher Umgebung nordwestlich von Philadelphia lag. Etwa die Hälfte des Lehrpersonals dieser Schule bestand aus Ungarnflüchtlingen, von denen einige direkt nach dem gescheiterten Aufstand gekommen waren, während manche schon zu einem früheren Zeitpunkt von Ungarn nach Wien gegangen waren. Einige von ihnen, darunter mein Religionslehrer Béla Krigler, waren vom kommunistischen Regime inhaftiert worden. Die meisten anderen Mitglieder des Lehrpersonals waren Priester aus der spanischen Provinz des Or 43 dens. Die Jungen in der Internatsschule bildeten eine ähnliche Mischung aus größtenteils ungarischen Flüchtlingen und vereinzelt spanischsprachigen Jungen aus Lateinamerika (deren Väter vermutlich in ihrer Jugend von Priestern aus der spanischen Provinz erzogen worden waren). Obwohl die Schulgebühren, wie ich später feststellte, nach den Maßstäben von Privatschulen sehr bescheiden waren, lagen sie jenseits der Summe, die mein Vater und meine Mutter, ein
Stahlarbeiter und eine Sekretärin, aufbringen konnten. Aber die Schule traf mit meinen Eltern einige Absprachen, so dass ich sie besuchen konnte.
Von Indiana nach Philadelphia Das ist die erste Geschichte. Die zweite Geschichte verläuft folgendermaßen: Mein Vater wuchs in Evansville, Indiana, auf und hatte als junger Mann versucht, katholischer Priester zu werden, um der Arbeiterklasse zu entrinnen. Sich dem Klerus anzuschließen, war einer der wenigen Wege zu sozialem Aufstieg, der jemandem wie ihm, der keinerlei Geschäftssinn oder kaufmännische Fähigkeiten besaß, in seiner Lage offenstand. Evansville war ein Eisenbahnknotenpunkt am Ohio River im äußersten Südwesten des Staates Indiana. Es war ein sandiger und zutiefst unaufgeklärter Ort, der extrem rassistisch und stark fremdenfeindlich war. Mein Vater erinnerte sich daran, dass es in seiner Jugend öffentliche Demonstrationen des Ku-Klux-Klans gegeben hatte, dass es zu Erweckungsversammlungen der »Holy Rollers«, einer Gruppe umherziehender Pfingstler, die sich in Zelten trafen und zu ekstatischen Massentänzen animierten (daher ihr Name), und auch zum Verbrennen von 44 Kreuzen vor katholischen Kirchen kam, die als Kirchen von »Ausländern« betrachtet wurden. Meine Mutter, die weiß war und aus Philadelphia an der Ostküste stammte, erzählte oft davon, wie sie sichtbar im achten Monat schwanger – da ich unterwegs war, muss es im Oktober oder November 1946 gewesen sein – in Evansville einen städtischen Bus nehmen wollte. Der vordere Teil des Busses war mit Weißen voll besetzt, von denen keiner, wie sie indigniert berichtete, aufstand und ihr einen Platz anbot. Sie ging deshalb weiter in den hinteren Teil des Busses und setzte sich in den für Schwarze reservierten Teil des Busses, wo noch Platz war. Der weiße Busfahrer hielt sofort an und warf sie aus dem Bus, weil sie gegen die »Jim-CrowGesetze« verstoßen hatte.
Von den sieben Brüdern meines Vaters haben die meisten auf recht einfache Weise ihren Lebensunterhalt verdient: der eine war Bäcker, ein anderer Lastwagenfahrer, ein weiterer Automechaniker, einer arbeitete als Reinigungskraft in einer pharmazeutischen Fabrik, betrieb aber auch etwas Landwirtschaft, und einer lebte von wechselnden Beschäftigungen (unter anderem auf einer Bowlingbahn und auch einmal im Vertrieb von alkoholfreien Getränken). Einem der Brüder, meinem Onkel George, gelang es während der Großen Depression, einen kleinen Betrieb aufzubauen. Es war gemeinhin aufgefallen, dass sich zwei Geschäftszweige kontrazyklisch verhielten – das heißt, je schlechter die wirtschaftlichen Verhältnisse waren, desto mehr florierten sie. Diese prosperierenden Geschäfte waren das Kino und der Alkohol, zwei Formen der Realitätsflucht. George entdeckte, dass es ein drittes lukratives Geschäft gab, nämlich Schönheitsprodukte, und so machte er eine Firma für den Vertrieb von Shampoos, Cremes, Seifen und dergleichen auf und wurde schließlich nach lokalen Maßstäben wohlha 45 bend. Seine politischen Einstellungen sind hinreichend beschrieben, wenn man sein Testament erwähnt, in dem er seinen Nachlass der katholischen Kirche vermachte, unter der Bedingung, dass daraus kein Geld für irgendwelche höheren Bildungszwecke eingesetzt werden dürfe, weil ihm höhere Bildung prinzipiell zuwider war. Außerdem gab es noch einen älteren Bruder meines Vaters, der katholischer Priester geworden war, was ihm, zumindest in der Familie und der lokalen Gemeinde, ein gewisses Ansehen verschaffte. Mein Vater bewunderte ihn sehr und wollte ihm nacheifern, was ihm jedoch nicht gelang. Er wurde aus dem Priesterseminar weggeschickt, weil er akademisch scheiterte – er war einfach nicht imstande, Latein zu lernen, das in der Zeit vor dem Zweiten Vatikanischen Konzil eine notwendige Qualifikation für den Priesterberuf war. Jedenfalls war das die Version der Geschichte, die er am häufigsten erzählte.4 Diese Erfahrung hinterließ bei ihm ein bleibendes Gefühl intellektueller Unterlegenheit, eine noch tiefere Hingabe an den Katholizismus, als er sie zuvor schon hatte – die Zurückweisung hatte seine innere Bindung nur verstärkt –, und die
Entschlossenheit, dass seine Kinder die gründlichste Bildung haben sollten, die er ihnen ermöglichen konnte. Anstatt Priester zu werden, durchlief er eine Ausbildung zum Mechaniker bei der Eisenbahn und zog dann nach Philadelphia, wo er in einem Stahlwerk arbeitete, das Diesellokomotiven und große Kräne reparierte. Als sich für mich die Chance einer Bewerbung ergab, die mir die Aufnahme und finanzielle Unterstützung an der Piaristenschule eröffnete, war er sehr dafür. Ein großer Teil meiner Jugend spielte sich deshalb in einem Bereich ab, der durch die Überschneidung zweier Welten definiert war, nämlich einerseits der Welt des Stahlwerks, in dem 46 mein Vater jahrzehntelang arbeitete und in dem ich gelegentlich jobbte (meist im Sommer, wenn ich Geld brauchte), und andererseits der Welt einer exilierten Habsburgischen Hochkultur in meiner Internatsschule. Den Ausdruck »Überschneidung« verwende ich metaphorisch, denn jegliche Integration der zwei Sphären fand allein in meinem Kopf statt. Ursächlich dafür war die Schule, die quasi zeitversetzt in einer hermetisch abgeriegelten Blase existierte. Das Stadtzentrum Philadelphias war zwar nicht einmal hundert Kilometer entfernt, doch trotz aller Kontakte, die die Schüler der Internatsschule mit der Außenwelt hatten – Zeitungen, Radio oder Fernsehen waren nicht verfügbar, und es gab nur ein einziges Münztelefon in einem Garderobenraum des Erdgeschosses –, hätte sich diese Schule genauso gut im Jahr 1932 direkt am Rand von Debrecen oder Szeged befinden können. Viele Jahre später, als ich Erving Goffmans Buch Asyle las, in dem er die strukturellen Ähnlichkeiten der Organisation und Funktionsweise von Gefängnissen, psychiatrischen Kliniken, Klöstern, Kasernen, Internatsschulen und einer Reihe anderer »totaler Institutionen« beschreibt, erkannte ich den Typus sofort wieder.5 Auf diese Weise von der Außenwelt abgeschnitten und der Kontrolle unterworfen, die – wie wohlwollend auch immer – eine Gruppe von Erwachsenen ausübte, die alle ein- und dieselbe Mission hatten, nämlich die Jungen zu guten Katholiken zu machen, bestanden praktisch ideale Bedingungen dafür, mich mit bestimmten Fähigkeiten auszurüsten, mir aber auch bestimmte Einstellungen, Überzeugungen und Werte einzuimpfen.
Für den Liberalismus ist all das insofern relevant, als die Ungarn im Lehrerkollegium die zutiefst konservative, obwohl streng genommen wohl nicht »faschistische«, autoritäre Diktatur von Miklós Horthy in den 1920er, 1930er und 1940er Jah 47 ren, danach die Besetzung Ungarns durch die Deutschen 1944, sodann die Niederlage und sowjetische Besetzung und anschließend ein Jahrzehnt Herrschaft der verknöcherten stalinistischen Kommunistischen Partei durchgemacht hatten. Die ungarischen Jungen in dem Internat kannten nur das letzte dieser Regime. Was auch immer irgendwelche Mitglieder des Ordens in irgendeiner dieser politischen Konstellationen an Widerstand geleistet haben mochten, wurde ihrer Identität als Katholiken und letztlich als katholische Priester zugeschrieben. Die spanischsprachigen Mitglieder des Lehrerkollegiums waren in Francos Spanien aufgewachsen. Wo genau sollte bei alldem auch nur eine Spur Liberalismus zu finden sein? Er war in dieser Schule eine Terra incognita. Wenn ich also davon spreche, ich sei von vornherein dazu bestimmt gewesen, kein Liberaler zu sein, meine ich im Grunde genommen, dass die Art der Bildung und Erziehung, die ich in meiner weiterführenden Schule erhielt, Wege des Denkens und Reagierens für mich anlegte und Einstellungen in mir reifen ließ, die es mir im Vergleich zu anderen Menschen offenbar schwerer machten, bestimmte liberale Grundauffassungen anzunehmen. Dass ich gerade diese Sorte (katholischer) Erziehung erhielt, war wiederum das Ergebnis von Entscheidungen, die Menschen in Ungarn in der zweiten Hälfte des Jahres 1956 in großer Zahl getroffen hatten, was letztlich die Existenz dieser Schule zur Folge hatte, sowie der politischen Entscheidung meines Vaters, mich bei dieser – in dem Zusammenhang buchstäblich ausländischen – katholischen Privatschule mit Internat anzumelden, anstatt mich auf eine der staatlichen oder konfessionellen Schulen in der Nähe zu schicken. Ursprünglich akzeptierte ich dieses Schicksal, weil ich zu Hause sehr unglücklich war – was hatte ich also zu verlieren? –, und auch deshalb, 48 weil ich mit meinem geringen Vorstellungsvermögen und meinem von Natur aus widerspenstigen Temperament erpicht darauf war, Russisch zu
lernen. Russisch war damals (1958) die subversivste Sache, die ich mir vorstellen konnte, und die Schule bot Unterricht in Russisch an. Ich blieb schließlich, denn nach dem anfänglichen Kulturschock fand ich die Umgebung angenehm, genauer gesagt: viel besser als zu Hause. In dem Punkt hatte ich also richtiggelegen – und der Unterricht war äußerst fesselnd. Doch kann die Erziehung in einer Schule in Pennsylvania 1959 wirklich dermaßen exzentrisch gewesen sein? Und was genau ist oder war dieser »Liberalismus«, der für mich anscheinend überhaupt nicht in Frage kam?
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Liberalismus Individuum? Keine Schimpfworte! – Johann Nestroy, Frühere Verhältnisse Im vorangegangenen Kapitel habe ich die Behauptung Nietzsches erwähnt, dass es unmöglich sei, breit angelegten historischen Bewegungen wie dem Christentum, dem Kommunismus oder dem Liberalismus formale Definitionen zu geben, und man sie vielmehr als historisch wechselnde Pakete oder verdichtete Häufungen von Überzeugungen, Werten und Einstellungen sehen sollte, die in eine Reihe ebenso wechselnder charakteristischer Praktiken und Institutionen eingebettet sind. Wie würde man demnach das liberale Paket beschreiben? Liberale neigen offensichtlich dazu, dem Prinzip De gustibus non est disputandum anzuhängen und der Nichteinmischung in die Angelegenheiten anderer sowie der Toleranz gegenüber unterschiedlichen Geschmäckern und verschiedenen Meinungen einen hohen Wert beizumessen. Sie haben den Hang, das, was sie als die Angelegenheiten anderer betrachten, sehr weit auszudehnen und so viele Gebiete wie möglich (einschließlich des religiösen Glaubens) als bloße Geschmacksund Meinungsangelegenheiten aufzufassen, die folglich von dem Toleranzerfordernis gedeckt sind. Sie sind prinzipiell auch dafür, so weit wie möglich bestimmte Formen von Entscheidungsprozessen zu kultivieren, die auf freier Diskussion und freier wechselseitiger Zustimmung beruhen. Die daraus hervorgehenden Entscheidungen sollen mit einem Minimum an Gewalt durchge 50 setzt werden und unterliegen den Klärungsprozessen durch Richter, die unparteilich oder sogar neutral sein müssen. Es scheint tatsächlich so zu sein, dass der Liberalismus
charakteristischerweise im Umfeld eines bestimmten Typs ökonomischer Verhältnisse gedeiht (»freier« Märkte), obwohl im Hinblick auf sein wirkliches Verhältnis zu solchen Institutionen etwas Uneinigkeit besteht. Menschen wie ich glauben, dass diese Verbindung nicht rein zufällig ist und dass der Liberalismus im Allgemeinen alles tut, um solche Institutionen ideologisch zu rechtfertigen. Andere sind allerdings der Meinung, dies sei ein Missverständnis, das möglicherweise auf einer Verwechselung von Liberalismus und Neoliberalismus beruhe, und dass nur der Letztere von sich aus darauf abziele, freie Märkte zu rechtfertigen und ihren Geltungsbereich so weit wie möglich auszuweiten. Im Zentrum all dessen steht letztlich die Idee eines souveränen Individuums, wie John Locke, Adam Smith und John Stuart Mill es sich jeweils vorgestellt haben, für das auch ein nichtliberaler Vorläufer bei Denkern wie Descartes gefunden werden kann. Ein souveränes Individuum ist eine Person, die einen freien Willen hat und der freien Zustimmung fähig ist, die weiß, was sie will und was sie denkt, und deren Behauptungen über das, was in ihrem eigenen besten Interesse ist, stets zu respektieren sind, weil sie selbst letzten Endes am besten darüber urteilen kann, worin dieses genau besteht. Vorausgesetzt, ihr Handeln schädigt nicht direkt ein anderes Individuum in einer der wenigen gesetzesförmig angegebenen Hinsichten, sollte diese Person unbehelligt bleiben und in ihre Entscheidungsprozesse nicht eingegriffen werden. Davon ausgenommen ist ein stark begrenztes Spektrum von Handlungen wie etwa die Versorgung mit Informationen, die sie nicht besitzt, und die 51 Auseinandersetzung mit ihr in einigen ziemlich beschränkten Diskussionsformen. Ein solches souveränes Individuum denkt man sich von einer vertraulichen Sphäre umgeben, seinem »Privatbereich«, zu dem der Zugang nur auf Einladung erlaubt ist.1 Der politische Rahmen, in dem eine Ansammlung solcher Individuen miteinander agiert, sollte hinsichtlich der Meinungen und Werte und insbesondere der Geschmäcker Neutralität wahren. Die ideale Gesellschaft ist auf die (nach Diskussion erfolgende) freiwillige Zustimmung von Erwachsenen gegründet, denen eine Würde zu eigen ist, die sich daraus ableitet,
autonom Entscheidungen fällen zu können und Herr des eigenen Schicksals zu sein. Mir scheint, damit haben wir die meisten charakteristischen Auffassungen beisammen, die wir den Liberalen in der Alltagssprache – vielleicht der leicht gehobenen Alltagssprache – zuschreiben. Obwohl eine formale Definition von »Liberalismus« nicht möglich ist beziehungsweise keinen besonderen Nutzen hätte, kann man drei verschiedene Kontexte für die Anwendung von Begriffen wie »liberal« oder »Liberalismus« unterscheiden.
»Liberal«: Adverbial, systematisch, doktrinell Zuerst könnte man festhalten, dass viele der älteren Formen des Gebrauchs von Wörtern wie »liberal« ihrer Absicht nach im Grunde genommen adverbial zu sein scheinen, selbst wenn sie syntaktisch nominal oder adjektivisch sind. »Liberal« verweist in erster Linie auf die Art, wie eine bestimmte menschliche Tätigkeit ausgeführt wird, und ist in der Anwendung potentiell sehr breit. Der Ausdruck bedeutet »großzügig« und 52 »locker«; die gegenteiligen Bedeutungen wären unter anderem »knauserig« und »streng«. In der Tat werden sehr viele menschliche Aktivitäten von Regeln oder allgemeinen Prinzipien regiert, die bei ihrer Anwendung ein gewisses Ermessen zulassen: Man kann sie entweder »liberal« oder (zum Beispiel) »konservativ«, »streng«, »strikt« oder »knauserig« anwenden. Der Koch im Gefängnis soll vielleicht an jeden eine Schöpfkelle Suppe austeilen, kann aber bei der Zuteilung »liberal« oder »knauserig« sein, indem er die Schöpfkelle randvoll oder etwas weniger voll macht. Von einem Polizisten lässt sich sagen, er sei »liberal« beim Gebrauch seines Schlagstocks, das heißt, in Zweifelsfällen wird er eher mehr als weniger Menschen damit treffen, und es wird ihm auch
nicht allzu sehr darauf ankommen, die einzelnen Schläge zu zählen. Zudem kann man den Begriff »liberal« auch im Sinne von »generell geneigt, Abweichung zu tolerieren« verwenden (Abweichung von jedweder Norm, die für relevant gehalten wird), so dass man sogar von einem eher »liberalen« Mitglied einer Militärjunta sprechen könnte. Worunter man nicht jemanden versteht, der direkte, unbeschränkte Mehrparteien-Wahlen gutheißt, sondern bloß jemanden, der (im Vergleich zu anderen relevanten Juntamitgliedern) nicht besonders darauf aus ist, Abweichler (von welcher Norm auch immer) mit größtmöglicher Härte und Strenge zu verfolgen. Man kann also »liberal« als das Gegenteil von dogmatisch, kompromisslos oder sogar rachsüchtig (in der engstirnigen Variante) verwenden. Bemerkenswert ist, dass diese Verwendungsweisen offenbar alle stark auf einen besonders spezifizierten Zusammenhang bezogen sind. Selbst ein »liberales« Mitglied einer Junta oder eines stalinistischen Politbüros würde höchstwahrscheinlich nicht als ein »Liberaler« gelten, wenn die Maßstäbe einer parlamentarischen De 53 mokratie westlichen Stils aus dem frühen 21. Jahrhundert angelegt werden. Die Breite und Flexibilität bei der Anwendung des Ausdrucks »liberal« in diesem ersten Sinne, die ihn im allgemeinen [englischen] Sprachgebrauch so nützlich machen, ist genau das, was ihn beim Verstehen oder bei der Beurteilung von Politik wenig erhellend sein lässt. Wenn jeder in dieser sehr unbestimmten Weise als »liberal« beschrieben werden kann – der Apparat eines Wohlfahrtsstaates bei seiner Bereitstellung von Sozialleistungen ebenso wie die Justizvollzugsangestellte beim Austeilen von Schlägen mit dem Schlagstock –, werden damit nicht wirklich Unterscheidungen vorgenommen, die politisch besonders relevant sind. Zweitens gibt es eine Verwendung von »liberal«, die sich nicht einfach darauf bezieht, dass eine Person entweder zu einer bestimmten Zeit oder generell auf eine besondere Weise handelt, sondern mit der ein erworbenes Ensemble von zusammenhängenden Gewohnheiten, Einstellungen und Überzeugungen gemeint ist. Diese würden zum Beispiel eine systematische
Präferenz für Diskussion und Konsens umfassen sowie eine ausgeprägte Abneigung gegen Gewaltanwendung auf einer großen Vielzahl von Feldern und damit einhergehend verschiedenste Gewohnheiten, gegenüber abweichenden Meinungen, Geschmacksvorlieben und Verhaltensweisen tolerant zu sein. Die Akzentuierung, durch die sich dieser Sprachgebrauch von dem bloß adverbialen und kontextbezogenen unterscheiden würde, läge hier nicht auf der Tatsache, dass ein Liberaler in diesem zweiten Sinne bewusste Meinungen, Auffassungen oder Theorien irgendeiner Art hat, sondern auf der Systematizität und der Allgemeinheit der fraglichen Einstellungen, Gewohnheiten, Geschmacksvorlieben und Überzeugungen. Da 54 Sprechen und Denken zwei Dinge sind, die Menschen normalerweise tun, wird jeder Mensch, der systematisch große Toleranz praktiziert und bestrebt ist, sich nicht in das Leben anderer einzumischen, im Allgemeinen Gründe dafür haben, die mehr oder weniger kohärent und mehr oder weniger bewusst sind. Doch es können auch manche Gewohnheiten und Einstellungen entwickelt werden, die tatsächlich in einer gewissen Distanz zu irgendeiner besonderen theoretischen Erklärung stehen, die ich aussuchen könnte, um sie jederzeit dafür parat zu haben, und unter den Gewohnheiten mögen Dinge sein, die mir nicht einmal bewusst sein müssen. Ein »Liberaler« wäre demnach eine Person, die systematisch zu Diskussionen neigt, der Gewaltanwendung abgeneigt ist, sie nur in absolut unvermeidlichen Fällen akzeptiert und die sich zudem mit den geäußerten Präferenzen anderer Menschen als Grundlage für deren Handlungen ohne Weiteres zufriedengibt. Diese Haltungen spiegeln sich wahrscheinlich in einer Vielzahl von Überzeugungen und Meinungen, die sie begleiten, können jedoch ständig wechseln und sind bestenfalls fragmentarisch. Drittens wird »Liberalismus« nicht bloß dazu verwendet, um einen von mehreren häufig anzutreffenden systematischen Komplexen aus Gewohnheiten, Einstellungen, Dispositionen und Meinungen zu bezeichnen, sondern auch eine spezielle Lehre von der Art, wie sie von Theoretikern im Laufe der Zeit ausgearbeitet und dargelegt wurde. Im Folgenden bin ich am Liberalismus als einer solchen potenziell
ausformulierten Lehre interessiert. In Anbetracht der Unbestimmtheit eines Großteils des menschlichen Handelns und der Distanz, in der es oft zu irgendwelchen besonderen individuellen Überzeugungen und speziell irgendeiner theoretischen Überzeugung steht, ist es keineswegs überraschend, dass es alternative Möglichkeiten 55 geben wird, das zu schildern, was man eine »Ideologie des Liberalismus« nennen könnte, wie es ja auch verschiedene Möglichkeiten gibt, das Christentum oder den Nationalismus begrifflich zu erfassen. Derartige Ideologien sind charakteristischerweise teilweise (mehr oder weniger) deskriptiv bezüglich bestehender Praktiken und konkreter Überzeugungen, teilweise idealisierend, teilweise aspirativ und teilweise sogar völlig präskriptiv. In manchen von ihnen ist das utopische Element stärker als in anderen. Bekannte liberale Lehren (in der englischsprachigen Literatur) sind die mit John Locke, Adam Smith, John Stuart Mill und John Rawls (und dessen Anhängern) verknüpften Theorien. Sie unterscheiden sich in mehreren dieser genannten Dimensionen und sind somit keinesfalls in jeder Hinsicht identisch. Angesichts dieser Vielfalt werde ich mit einem Idealtypus arbeiten müssen, der sich auf ein paar zentrale Eigenschaften konzentriert, die von sehr vielen der einflussreicheren genaueren Formulierungen geteilt werden. Mit diesem Vorgehen ist natürlich ein Risiko verbunden, weil jeder einzelne Liberale stets behaupten kann, dass sein oder ihr bevorzugter Schutzheiliger mit dem Idealtypus wirklich nicht richtig wiedergegeben und meine Diskussion folglich irrelevant sei. Das ist etwas, was man einfach hinnehmen muss, wenn man über die endlose Kleinarbeit, nur Einzelheiten zu diskutieren, hinauskommen und zu einer umfassenderen Sicht gelangen will. Wenn man es darauf anlegt, ist es natürlich sehr wohl möglich, den Begriff »Liberalismus« auszuweiden und ihn sehr locker als Hülle für praktisch alles zu verwenden – und das Prestige, dessen sich der Begriff an manchen Orten und zu gewissen Zeiten erfreut hat, könnte einige Menschen ermutigen, genau das zu tun. Da wie gesagt die Grundbedeutung des Aus 56 drucks adverbial ist, ist an sich gar nichts
falsch daran. Allerdings kommt dann nichts weiter zum Tragen als eine Tatsache über die Plastizität eines jeden Sprachgebrauchs. Man kann »Liberalismus« als Substantiv verwenden, das mit jeder beliebigen vernünftigen Verwendungsweise des Adjektivs »liberal« verbunden ist, so dass es auf einige allgemeine Eigenschaften verweisen kann – beispielsweise tolerantes Denken, freigebige Großzügigkeit, Akzeptanz von Vielfalt, fehlende Rachsucht und vielleicht einen gewissen Hang, sanfte und gewaltfreie Maßnahmen den zwangsweisen, resoluten und gewaltsamen vorzuziehen. Wie ich jedoch gerade erklärt habe, bin ich hier am »Liberalismus« als einer bestimmten theoretischen Lehre interessiert, und der Grund dafür wird deutlich, wenn man an diese Frage denkt: Könnte der »Liberalismus« in seinem sehr unspezifischen Sinn zum Gegenstand universitärer Seminare werden, einen Teil des ausdrücklichen Programms politischer Parteien bilden und vielleicht sogar in judikativen Zusammenhängen eine gewisse Rolle spielen? Ich war davon ausgegangen, dass der »Liberalismus« als eine intellektuelle Doktrin mutmaßlich stets mehr Identität und mehr Biss besaß, als jener Sammlung zweifellos wohlmeinender, aber doch ziemlich schönfärberischer Plattitüden zukam. Mit anderen Worten: Der »Liberalismus« in diesem vagen Sinne – »Seid nett zueinander und schlagt niemanden härter, als es unbedingt notwendig ist« – würde nicht das erfüllen können, was Sidney Morgenbesser das »Alta-baba-Kriterium der Veröffentlichungseignung« zu nennen pflegte, denn das besagte: »Versuche niemals einen Aufsatz zu veröffentlichen, dessen wesentlicher Inhalt etwas ist, was dir genauso gut deine alte Großmutter hätte sagen können.«2
57 Katholische Internatsschulen:
Stereotypen
Es wird für die Leserinnen und Leser keine Überraschung sein, wenn ich sage, dass »liberal« und »Liberalismus« nicht zum üblichen Vokabular meiner Schule gehörten – warum sollte irgendjemand auf die Idee gekommen sein, diesen Ausdruck zu verwenden? Gleichwohl gehört ebenso zur Wahrheit, dass irgendwelche maßgeblichen Standpunkte, die von Liberalen vertreten werden, auch dann kein Lob geerntet hätten, wenn sie in der Sprache formuliert worden wären, die an der Schule gebräuchlich war. Mit der Wortverbindung »katholische Internatsschule in den Vereinigten Staaten in den 1950er und 1960er Jahren« ist ein geläufiges Stereotyp verknüpft, das selbstverständlich nicht völlig aus der Luft gegriffen ist – Stereotypen würden nicht überleben, wenn nicht ein Körnchen Plausibilität in ihnen stecken würde –, das aber zu meiner Schule, für meine Zeit dort, überhaupt nicht gut passt. Zunächst ist ganz richtig, dass die Schule durch und durch katholisch war. Es gab nur einen einzigen nichtkatholischen Jungen im Internatsteil der Schule, einen Calvinisten – wir nennen ihn hier »Andras« (was nicht sein richtiger Name ist) –, für den besondere Absprachen getroffen wurden, damit er eine reformierte Kirche vor Ort besuchen konnte. Doch sonst war das schulische Leben durch gemeinsame Morgen- und Abendgebete, religiöse Zeremonien verschiedener Art und Unterrichtsstunden im Fach Religion geregelt (von denen Andras befreit war). Ein starkes Stereotyp, dem die schulische Ausbildung an meiner Internatsschule nicht entsprach, ist die Vorstellung, dass die katholische Moral obsessiv auf sexuelles Fehlverhalten fixiert ist und sich umfassend auf Drohungen einer furchtbaren Bestrafung im Jenseits stützt. In literarischen Behandlungen 58 solcher Einrichtungen, die in mancherlei Hinsicht meiner Schule glichen, so wie die in Joyce' Porträt des Künstlers als junger Mann so eindrücklich beschriebene, tritt dieser Aspekt stark hervor, insbesondere in der Blut-und-Donner-, Feuer-und-SchwefelPredigt des Jesuitenpriesters während der religiösen Exerzitien, in die sich der Held begibt. Joyce' Schilderung des Jesuitenkollegs, an dem Stephen Schüler war, scheint mir – vielleicht zu Unrecht, aber ich konnte mich nur auf diesen Text stützen – den jesuitischen Bildungsansatz
zusammenzufassen: ein extremer, hochgradig moralisierter Autoritarismus, eine hohe Bereitschaft, körperliche Züchtigung einzusetzen, eine Besessenheit, was Sexualität angeht, und einen unerbittlich dogmatischen Thomismus. Sie alle schienen mir, was sicherlich nicht ganz fair ist, auf natürliche Weise zusammenzupassen. An meiner Schule gab es keine Körperstrafen. Die Nonnen in der Grundschule meiner Gemeinde hingegen waren sehr »liberal« gewesen, was ihr Gebrauch von allem anging, was ihnen gerade zur Hand war (metallgefasste Lineale, Bücher, Zeigestöcke aus Holz, die großen Blöcke mit Filzbezug zur Reinigung der Tafel), um damit Kinder zu schlagen, die ihr Missfallen erregten. Ich war also mit dieser Art von Regiment durchaus vertraut, doch in der Piaristenschule bedeutete Bestrafung, zusätzliche Zeilen in Latein auswendig lernen zu müssen (meistens Vergil), im Büro des Direktors ernste Standpauken anzuhören und wenn all das fruchtlos blieb, einfach den Schulverweis, was in meiner Schulzeit in ein paar Fällen geschah. Die letztgenannte Strafe war natürlich ein Luxus, den sich eine Schule leisten konnte, die nicht dem staatlichen Bildungssystem angehörte. Was sexuelle Verfehlungen anbelangt, waren die Einstellungen ebenfalls sehr viel entspannter als an meiner konfessionellen Grundschule. Sexuelle Delikte spielten weder im Religions 59 unterricht noch in den Predigten eine sehr große Rolle, und man betrachtete sie lediglich als Fehler, die auf eine natürliche menschliche Schwäche zurückzuführen sind, so als ob man zu viel trinkt oder aus einem nichtigen Anlass wütend wird – Dinge, die man selbstverständlich vermeiden sollte, mit denen man sich aber nicht zwanghaft befassen musste. Sie waren folglich ganz anders einzustufen als wirklich schändliche Handlungen, etwa das Ausnutzen von Schwächeren – »himmelschreiende Sünden« (Dinge, die sich mit der biblischen »Bedrückung von Witwen und Waisen« vergleichen ließen) – oder vorsätzliche Grausamkeit. Selbstverständlich war Jesus gegen die Scheidung, das schien völlig klar; doch offenbar war auch das ähnlich der Bedrückung einer Witwe irgendwie damit verbunden, die Schwachen und Abhängigen schlecht zu behandeln: Wie sollte in der antiken Welt eine geschiedene Frau allein überleben können? Darüber hinaus kennt das Alte
Testament viele Beispiele für Polygamie, und Jesus war bekanntermaßen ein copain von Huren und ein Gegner der unnachsichtigen Bestrafung von Ehebrecherinnen. Also unterlag die Form einer akzeptablen Ehe offenkundig einer sozial und geschichtlich bestimmten Veränderung, und wenn man Urteile auf dem Gebiet der Sexualität abgab, war deshalb ein gewisses Maß an Flexibilität gefordert. Tatsächlich war es der einzige protestantische Junge, Andras, der jeden Sonntag von seinen Besuchen der örtlichen calvinistischen Kirche regelrecht wie ein psychisches Wrack zurückkam. Jahre später erzählte er mir, dass er sich noch immer nicht von dem Gedanken befreien könne, dass er wegen seiner sexuellen Begierden dazu bestimmt sei, ewig im Höllenfeuer zu brennen. Eine Zeitlang wurde er zu einem gewissenhaften Leser Kierkegaards, doch obwohl ich der Ansicht bin, dass ihn dies kurzfristig beruhigen konnte, hat es ihm auf lange Sicht 60 nicht gutgetan. Der arme Andras hatte seine eigene private Hölle; er kehrte später nach Ungarn zurück und ertränkte sich letztlich in der Donau.3 Für die Katholiken in der Schule war die »Hölle« als solche aber nie wirklich ein Thema. Pater Béla Krigler hatte in Budapest auf einen Doktorgrad in Philosophie hin studiert, wurde aber durch die kommunistischen Behörden daran gehindert, eine Dissertation zu schreiben. Über seine vielen anderen Interessen hinaus war er ein begeisterter Leser der Psychoanalyse, der uns beibrachte, wir müssten lernen, die sadomasochistischen Fantasien des Mittelalters und der frühen Neuzeit zu ignorieren. Leider muss ich sagen, dass Krigler überhaupt keine Zeit für Milton gehabt hat, denn er meinte: »Es gibt da überall feuerspeiende Abgründe und Folterstätten, aber wen kümmert es?« Das führte dazu, dass ich die erstaunliche sprachliche tour de force, die Miltons Gedichte verkörpern, erst viel später im Leben schätzen lernte. Die Hölle existiere, sagte Krigler, doch anstatt dabei Milton oder Dante im Blick zu haben und sich die Hölle als Ort von Mistgabeln, heißem Teer, Funkenregen und Siedekesseln vorzustellen, sollte man sie sich als »dauerhafte Entbehrung der seligmachenden Vision« denken – der Anschauung Gottes, die das endgültige Ziel allen menschlichen Lebens sei und das einzige, was uns
vollkommene und dauerhafte Zufriedenheit schenken könne. Ich denke, die meisten von uns waren überzeugt, dass dies eine Entbehrung wäre, die wir verkraften könnten. Eine weitere Hinsicht, in der die Schule dem Stereotyp der »katholischen Internatsschule in den Vereinigten Staaten in den 1950er und 1960er Jahren« nicht entsprach und die sie ziemlich außergewöhnlich sein ließ, war die allgemeine philosophische Orientierung der Lehrer, die alle entschieden antithomistisch waren.4 Sie hatten kein Interesse an der ontologi 61 schen Struktur von Substanzen oder am Hylomorphismus und wollten mit so charakteristisch thomistischen Ideen wie »Natur«, »menschliche Natur« oder »Naturrecht« nichts zu tun haben. Besonders unempfänglich waren sie für Appelle an eine vorgeblich »natürliche Teleologie« und dafür, die »Natur« als eine mögliche Quelle normativer oder protonormativer Konzepte zu behandeln. Selbstverständlich war die Natur an sich nicht schlecht, aber man durfte sie auch nicht personifizieren. Die Natur war nicht so etwas wie eine Person, die man deuten konnte, als spreche sie Ermahnungen oder Verbote an uns aus oder erteile uns Ratschläge. Soweit die »menschliche Natur« betroffen war, konnten natürliche menschliche Impulse etwas sein, was man (unter manchen Umständen) befriedigen sollte, daran bestand kein Zweifel; bezeichnend war jedoch, dass solche Impulse in einer Vielzahl kulturell deutlich unterschiedlicher Formen befriedigt werden konnten, und die »Natur« selbst dafür im Allgemeinen keine Anweisung gab. Allerdings gab es manchmal natürliche Impulse, die nicht befriedigt werden sollten, denen man stattdessen zu widerstehen hatte oder die man in eine andere Form überführen musste. Wenn man nach dem suchen würde, was an der menschlichen Natur unverwechselbar wäre, sei tatsächlich der Widerstand gegen die Natur in der Form der Auflehnung gegen natürliche Impulse oder von deren Umwandlung das Unverwechselbare an uns, und dieser Widerstand sei auch die Quelle jeder höheren Kultur. »Es ist das Natürlichste für den Menschen, sich gegen die eigene Natur zu wenden und etwas Wunderbares zu tun, das keineswegs ›natürlich‹ ist«, würde Krigler sagen. Schon die Vorstellung, dass wir moralische Imperative
einfach an der Natur selbst ablesen könnten oder dass uns ein Verständnis der menschlichen Natur sagen könne, was man moralisch gesehen tun sol 62 le, oder dass dies oder jenes durch das Naturrecht vorgeschrieben wäre, sei nichts als scholastischer Unsinn.
Die Souveränität des Individuums Aber was hatte all dies mit dem Liberalismus zu tun? Der Unterricht an meiner Schule zielte direkt auf die Konzeption des souveränen, sich selbst völlig durchsichtigen Individuums ab, die für alle Formen des Liberalismus von zentraler Bedeutung war. Als Erstes, sagte Krigler, sei unter dem menschlichen Gesichtspunkt kein Individuum, nicht einmal das selbstständigste, wirklich unabhängig und selbstgenügsam. Jede Person sei vielfach von anderen Menschen abhängig, zunächst von der eigenen Familie und dann von der Gesellschaft. Metaphysisch betrachtet sei kein menschliches Wesen von Gott unabhängig. Außerdem sei es einfach nicht wahr, dass die meisten Menschen sich selbst und ihre Innenwelt besser kennen würden als die grundlegenden Merkmale der äußeren Realität oder dass sie sich selbst besser kennen würden, als andere sie kennen – ich weiß nicht unbedingt, was ich denke oder glaube, und ganz gewiss weiß ich nicht mit absoluter Sicherheit, was ich will. Menschen handelten oft nach Überzeugungen, von denen sie nicht zwingend wüssten, dass sie sie haben, und die menschliche Seele sei eine Masse, normalerweise eine sehr chaotische Masse, von widersprüchlichen, höchst verworrenen, nur teilweise geformten, unausgereiften und instabilen Impulsen und Wünschen. Diese seien an sich überhaupt nicht leicht zu erkennen. Als ob das nicht schon ausreiche, sei es auch noch der Fall, dass praktisch jeder unter starkem Druck stehe, einige Impulse und Wünsche vor anderen zu verbergen, und jeder, der die 63 Kindheit überlebt habe, würde diesen Druck verinnerlicht haben. Deshalb hätten alle Menschen einen tiefsitzenden Impuls, auch vor sich selbst viele Wünsche zu verbergen, die
aufzudecken sowieso alles andere als einfach sei. Man könne vielleicht durch verschiedene Techniken – philosophische, religiöse, hygienische, pädagogische oder psychoanalytische – zu einem geringfügig verbesserten Verständnis seiner selbst, seiner Wünsche und Bedürfnisse gelangen, doch würde dies stets begrenzt und unvollständig und wahrscheinlich auch sehr perspektivisch sein. Selbst im günstigsten Fall wäre ein solches limitiertes Verständnis seiner selbst eine seltene und besondere Errungenschaft, die sehr schwer zu erlangen (und beizubehalten) ist. Es sei daher ein schwerer Fehler anzunehmen, dass alle Erwachsenen automatisch in der Lage wären, sich selbst psychologisch zu durchschauen, nur weil sie kompetente und rationale Erwachsene sind. Es sei sogar ein Fehler zu glauben, dass ein wenig Nachhilfe und ein paar einfache Tricks bei den meisten Menschen genügen würden, um sie besonders kompetent und für sich selbst durchschaubar zu machen. Zudem würde man im alltäglichen Umgang mit Menschen ja ständig beobachten können, dass andere manchmal besser wüssten, was eine bestimmte Person wolle, als diese Person selbst. Daran müsse gar nichts geheimnisvoll sein; es seien vielmehr die Befürworter der völligen Selbsttransparenz des menschlichen Geistes, welche die Geheimniskrämer seien. Sie seien diejenigen, die in jeder Person die Existenz einer seelischen Dimension postulierten, die anderen vollkommen unzugänglich, der jeweiligen Person aber unmittelbar zugänglich und vollständig transparent sei. Warum sollte man die Existenz von etwas Derartigem annehmen? Wenn also die Souveränität des Individuums Handelnde erfordere, die grundsätzlich wissen, was 64 sie wollen, sei dies zweifellos eine äußerst mangelhafte Konzeption. In dem Maße, wie Menschen nicht immer die besten Kenner dessen sind, was sie wirklich wollen – und wir haben allen Grund zu glauben, dass dies in einem erheblichen Maße zutrifft –, sind sie auch nicht die besten Kenner dessen, was in ihrem eigenen Interesse ist. Ich hoffe, die Leser behalten diesen Punkt im Kopf, weil er meines Erachtens nicht nur stichhaltig ist, sondern tatsächlich sogar für diejenigen unbestreitbar ist,
die nicht gewillt sind, den nächsten Schritt zu gehen, über den man schon eher debattieren kann. Dieser nächste Schritt besteht nämlich darin zu fragen, ob es eigentlich vorstellbar ist, dass »das Gute« etwas anderes oder auch mehr sein könnte als das, was ich zum Beispiel tatsächlich oder »wirklich« tief im Innern möchte. Das muss nicht heißen, dass das, was gut ist, überhaupt nichts mit dem zu tun hat, was ich zufällig möchte – es könnte zum Beispiel lediglich heißen, dass das Gute durch reine Introspektion und Analyse dessen, was irgendein Individuum zufällig will, nicht kognitiv zugänglich ist. Es könnte Formen des Guten geben, die ich überhaupt erst dann vage erkennen könnte, wenn ich als Mitglied einer entsprechend zusammengesetzten Gruppe von Menschen leben würde, die etwa durch den Glauben und die Sakramente zusammengehalten wird. Es sei nicht bloß die kollektive Diskussion, die wichtig sei, sondern das gemeinsame Handeln und die gemeinsame Erfahrung, so Krigler. Dies sei der Grund dafür, warum man nicht nur das isolierte protestantische Gewissen brauche, seine Bibel und seinen Gott, sondern auch eine Kirche. Manchmal heiße es deshalb: Extra ecclesiam nulla est salus.5 Aus einer solchen Situation heraus könnte ich dahin gelangen, dieses Gute zu wollen, selbst wenn ich als ein isoliertes 65 Individuum im Prinzip niemals in der Lage wäre, es zu erkennen, geschweige denn zu wollen. Wenn so etwas auch nur im Entferntesten möglich wäre, würde es ein Fehler sein, von der Position des souveränen Individuums auszugehen. Oder um dies auf nichtreligiöse Weise zu formulieren – was Krigler eigentlich nicht tat, was aber auf der Hand liegt, sobald man darüber nachdenkt: Es könnte Güter geben, die inhärent sozial und daher unsichtbar sind, wenn man sie allein aus der Perspektive des Individuums betrachtet. Es gibt also keinen natürlichen, direkten, einfachen oder im Ganzen leichten Weg, der die Menschen von einer beliebigen epistemischen Position, die sie gerade einnehmen, zu einer Position führt, in der sie über Selbsterkenntnis verfügen und wissen, was (für sie selbst oder sonst jemanden) gut ist. Die Entdeckung des Guten kann gewiss nicht verlässlich von der Diskussion allein erwartet werden – nicht einmal von
der unbeschränkten Diskussion unter idealen Umständen. Die Diskussion ist kein universelles Allheilmittel, da Menschen wirklich stark verschieden sind und zu erwarten ist, dass ihnen dies umso deutlicher wird, je mehr sie ernsthafte Themen diskutieren. Im Gegensatz zu der Auffassung, die MillAnhänger manchmal vorbringen, wird die Diskussion nicht unbedingt zu einem größeren gegenseitigen Verständnis führen – sie kann Unstimmigkeiten vertiefen und Feindseligkeiten verstärken. Und ein besseres Verständnis muss nicht zu einer stärkeren Kooperationsbereitschaft führen oder zu mehr Versöhnlichkeit; dies wird ausschließlich von den Umständen abhängen. Tout comprendre n'est pas tout pardonner. [Alles verstehen heißt nicht alles verzeihen.] Es gebe einen religiösen Sinn, so Krigler, in dem Gott alle Sünden vergeben könne, doch dabei handele es sich um eine Wahrheit, die keine direkte Entsprechung in dieser 66 Welt finde, in der die Frage stattdessen laute, ob ich dir vergeben würde, wenn du etwas getan hättest, was mir schadet oder mich beleidigt, und unter welchen Bedingungen ich bereit wäre, das zu tun. Die Welt sei ein Ort, an dem Vergebung eine menschliche Tugend wäre, die nicht immer geübt werde. Manchmal müsse jemand durch reale Erfahrung verändert werden, nur dann könne man vorankommen, und nicht, indem man diskutiert. Bei bestimmten üblen Menschen werde die Diskussion wohl niemals ausreichen. Für sie könnten deutlich radikalere Formen der Umerziehung oder Therapie nötig sein, von denen zwar keine gänzlich ohne jedwedes diskursive Element auskäme, die aber Formen des Handelns seien, die über die einfache »freie Diskussion« hinausgingen und nicht darauf reduziert werden könnten. Außerdem lehnte Krigler den elementaren liberalen Grundsatz der Neutralität ab. Es gebe bestimmte begrenzte und klar definierte Sorten von Fällen, bei denen es absolut angezeigt sei, unparteiliche Richter zu finden, so zum Beispiel bei geringfügigen Streitigkeiten zwischen Nachbarn, die sich, was ihre Macht, ihre Stellung und ihr Ansehen betreffe, mehr oder weniger gleichen. Religiöse Fragen seien jedoch alles andere als von geringfügiger Bedeutung (mit Sicherheit nicht für Gläubige). Und man nehme keineswegs einen neutralen Standpunkt zu ihnen ein, wenn man
geltend macht, religiöse Fragen seien nicht als Angelegenheiten mit transzendentaler Bedeutung zu behandeln, sondern würden im Grunde genommen auf derselben Ebene liegen wie Geschmacksvorlieben oder einfache Wahlentscheidungen. Man sage damit, dass man solche transzendentalen Überzeugungen aufgeben sollte – sie jedenfalls nicht als transzendente Wahrheiten begreifen sollte –, um sie auf diese Weise aus der angemessenen Berücksichtigung auszuschließen. Viel 67 leicht sei das richtig, aber es sei gewiss keine neutrale Annahme, die sich unproblematisch in den Rahmen der Diskussion integrieren lasse, während man nach wie vor die Unparteilichkeit dieses Rahmens beanspruche. Ihren transzendentalen Status aufzuheben und sie so zu behandeln, als seien sie lediglich einfache Angelegenheiten des Geschmacks, der Meinung oder der Wahl, wäre so etwas wie ein Widerspruch, denn zu sagen, sie hätten einen transzendentalen Status, hieße zu sagen, dass sie nicht in dieser Form aufgehoben werden könnten. Es bedeute, sie auf eine substanzielle Art zurückzuweisen, während man vielleicht unrichtigerweise behaupte, man beteilige sich lediglich an einer prozeduralen, formalen, neutralen oder wertfreien Tätigkeit. Ansprüche auf Neutralität seien jedenfalls oft nur Ausreden dafür, eine Wahl getroffen zu haben, dabei aber nicht akzeptieren zu wollen, dass man genau das getan hat, und die Wahl so der Überprüfung zu entziehen. Außerdem würde keine noch so große Trickserei mit den »Bedingungen neutraler Diskussion und Beurteilung« ausreichen, um die realen Machtunterschiede auszulöschen. Dies war in der Post-Habsburg-Ära die Frage, die in Ost-, Mittel- und Südeuropa nie ganz verschwinden sollte: Warum sollten wir in eurer Republik eine Minderheit sein, wenn ihr in unserer Republik eine Minderheit sein könntet? Diese Frage behält ihre Relevanz selbst dann, wenn beide Republiken gewissenhaft darauf bedacht sind, ihre Gesetze unparteilich anzuwenden, ja sogar dann, wenn sie beide einen umfangreichen Maßnahmenkatalog für den besonderen Schutz von Minderheiten vorsehen.
68 Cromwell
Ross
bei der Belagerung von
Über die britische Geschichte oder Literatur wussten Krigler und seine Kollegen gar nichts, und sie waren sich völlig im Klaren darüber, wie unzulänglich ihre Beherrschung des Englischen war. Mit so vielen englischen Muttersprachlern in der unmittelbaren geographischen Nachbarschaft der Schule war es deshalb überaus vernünftig – ja eigentlich sogar unumgänglich –, einen dieser Muttersprachler einzustellen, um Englisch zu unterrichten, selbst wenn es sich nicht um ein Mitglied des Ordens handelte. Und so geschah es dann auch. Die Wahl fiel auf einen irisch-amerikanischen Lehrer, der den Akzent ganz entschieden auf den ersten Teil dieser Bindestricheigenschaft legte und den Stoff in »englischer Literatur« so unterrichtete, als handele es sich um eine kompakte Einführung in den irischen Nationalismus. Er führte uns zwar durch die Geschichte der frühen englischen Literatur, tat das aber auf ziemlich pflichtschuldige Art, ohne jemals einen Funken Enthusiasmus für Shakespeare oder Milton zu zeigen. Darin unterschied er sich zum Beispiel von Lászlo Magyar, einem der Lateinlehrer, der für sein Thema brannte und zuweilen mitten im Unterricht über Vergil innehielt, eine Textstelle, die gerade bearbeitet wurde, laut vorlas und die Klasse dazu anhielt, seine Bewunderung zu teilen: »Seht und hört ihr nicht die Schönheit Vergils?« Von unserem Englischlehrer kam nichts dergleichen für die 1200 Jahre Literatur von Beowulf bis zum 19. Jahrhundert. Doch plötzlich, wir waren Ende des 19. Jahrhunderts angelangt, war er wie verwandelt, weil für ihn (und folglich auch für uns) die »englische Literatur des 20. Jahrhunderts« im Grunde genommen in einem Studium von Wilde, Yeats, Synge und Joyce bestand – in nahezu unendlich viel Joyce, so schien es, 69 den er uns als einen Meister aller Gattungen (ausgenommen des Dramas) und als unübertreffliches Vorbild aller literarischen Tugenden nahebrachte. Von den Texten aus der Zeit vor dem 20. Jahrhundert, die wir mit diesem Lehrer dennoch lasen, stammte einer aus dem 17. Jahrhundert und passte
in seine antibritische, antiprotestantische, irisch-nationalistische Agenda. Es war eine Botschaft, die Oliver Cromwell im Jahr 1649 im Laufe seiner militärischen Intervention in Irland an den Gouverneur von Ross geschrieben hatte. Cromwell belagerte Ross und erörterte mit dem Gouverneur des Orts die Kapitulationsbedingungen. Er schrieb: »Was das anbelangt, was Ihr als Gewissensfreiheit ansprecht, Ich mische mich in niemandes Gewissen ein. Wenn Ihr aber mit Gewissensfreiheit die Freiheit meint, die Messe zu feiern, halte ich es für das Beste, Klarheit zu schaffen und Euch wissen zu lassen, Wo das Parlament von England Macht hat, wird das nicht erlaubt sein.«6 Selbstverständlich würde keiner Oliver Cromwell als einen Vorläufer oder einen glanzvollen Vertreter von Tolerierung oder Liberalismus generell ansehen, und keiner würde von dem General einer Armee, die in Kriegszeiten mit dem Kommandeur gegnerischer Truppen verhandelt, eine philosophische Abhandlung erwarten. Trotzdem wurde uns gesagt, die Struktur dieses argumentativen Denkens offenbare eine charakteristische Heuchelei. »Ich mische mich in niemandes Gewissen ein«, vorausgesetzt, dieser Mensch hat ein protestantisches Gewissen und nicht eines, dass ihn ermahnt, an der Messfeier teilzunehmen. Strukturell erinnerte dies sofort an das, was Krigler eher allgemein über den Liberalismus gesagt hatte, dessen Anhänger beteuerten, alles würde so viel besser sein, wenn jeder liberal wäre und zumindest so handelte, als ob die transzendentalen Wahrheiten der Religion nur Angelegenheiten des persönlichen Ge 70 schmacks seien, während sie aber zugleich für sich in Anspruch nahmen, eine unparteiliche oder sogar neutrale Haltung einzunehmen.
Vernunft Krigler führte das weiter aus: Die Vernunft und die wichtigste konkrete Form, die sie annahm – die Diskussion – sei nicht absolut, vollständig selbstgenügsam und gänzlich selbstbegründend, sondern gehöre immer in
einen konkreten geschichtlichen Zusammenhang und hänge von einer Reihe von Bedingungen ab, die ihr Substanz und Richtung geben und deshalb die Schlussfolgerungen beschränken würden, zu denen sie gelangen könne. Die Vorstellung, man könne von den tatsächlichen Bedingungen, unter denen Diskussion und Reflexion stattfinden, entweder völlig abstrahieren oder man könne sie korrigierend berücksichtigen und ihre Wirkung irgendwie ganz neutralisieren, sei eine verlockende und starke Illusion für den Menschen, bleibe aber gleichwohl eine Illusion. Natürlich könne und solle man die Bedingungen der Diskussion selbst in einem begrenzten Umfang der Überprüfung unterziehen, aber die Idee, das sei auf umfassende und erschöpfende Weise möglich, entbehre jeder Grundlage. Ebenso unbegründet sei die Vorstellung, dass das Wissen um die Existenz von Vorurteilen an sich schon dafür sorgen würde, dass sie verschwinden oder folgenlos bleiben. Was man erkennen könne, welche Geschmacksvorlieben man habe, worauf man die Aufmerksamkeit richte, über welche Sensibilität man verfüge (für Freude und Schmerz, sowohl bei sich als auch bei anderen), all das würde immer teilweise abhängig sein von der speziellen geschicht 71 lichen Situation eines Individuums und von einer Anzahl anderer Faktoren wie dem Lebensalter, der Bildung, der besonderen Lebenserfahrung, dem Temperament, dem Geschlecht, unzähligen Tatsachen der jeweiligen sozioökonomischen Lage, dem Gesundheitszustand usw. Vernunft und Diskussion sind schließlich stets situiert. Die Abstraktion ist niemals perfekt und vollständig. Wir würden alle sehr gern so wie Baron Münchhausen sein und uns am eigenen Schopf aus dem Morast des menschlichen Lebens ziehen können, doch das Wünschen wird es nicht wahr machen. Natürlich ist damit nicht gemeint, dass wir nicht an unserem Schopf ziehen sollten, wenn wir nichts weiter wollen, als unseren Schopf in Ordnung zu bringen. Hinzu kommt aber: Erliegt man der Täuschung von Münchhausen, wird einen das eher dazu bringen, Dinge zu verabsolutieren, die sich dann als zufällige Merkmale der Situation herausstellen. Indem der Baron kräftige Bewegungen macht, riskiert er unter Umständen, immer tiefer in den
Morast einzusinken; je wilder er sich abstrampelt, desto tiefer sackt er womöglich ein. Es gibt einige historische Situationen, die genuin hoffnungslos sind, weil es keine rein rationale oder diskursive Möglichkeit gibt, die Probleme zu lösen, die sie zu einer Belastung machen. Die einzige Hoffnung ist dann ein Wandel, der durch beliebig langes Nachdenken oder eine intensive Diskussion, sei diese nun beschränkt oder unbeschränkt, frei oder gezwungen, weder vorweggenommen noch vorhergesehen werden kann. Ein repressives Gesellschaftssystem, das die Wirkungsweisen der Vernunft entstellt hat, bricht aus dem einen oder anderen kontingenten historischen Grund zusammen, und in der Folgezeit kann man erkennen, wie die Entstellung funktioniert hat. Oder nach katholischer Darstellungsweise: Gott 72 interveniert auf völlig unvorhersehbare Weise in die Geschichte, indem er seinen Sohn auf die Erde entsendet, und mit dieser diskursiv und rational unvorhersehbaren und tatsächlich unberechenbaren Tatsache verändert sich alles. Dass sie das Leben auf dieser Welt nie zur Gänze leben werden, trotz ihrer eigenen Bemühungen sowie ihrer Intelligenz, Rationalität und Diskurse, womit sie in jeder Hinsicht ebenso reichlich ausgestattet sind wie die Katholiken, ist nicht der Fehler der Heiden. Es spielt keine Rolle, wie lange oder wie intensiv sie miteinander diskutieren und über Dinge reflektieren, zur Wahrheit des Katholizismus werden sie nie und nimmer gelangen können. Der katholischen Lehre zufolge seien manche religiösen Wahrheiten nicht einfach nur als weitere Meinungen anzusehen, die man in den Trichter wirft, der sie der Diskussion zuführt, sondern hätten einen andersartigen, stärkeren Status als diese. Kein vernünftiges Individuum glaubt, dass es sich selbst vollständig von Vorurteilen und irrigen Meinungen freimachen kann, indem es sie einfach wegfantasiert oder darüber nachdenkt oder mit jemandem darüber redet. Warum also sollte man erwarten, dass sich eine Gesellschaft als Ganzes, selbst unter idealen Bedingungen, durch ihre eigenen Bemühungen vollends befreien kann? Das sind Illusionen der Reinheit, der absoluten Autonomie und Selbstständigkeit, die selber unbegründet sind (und von einem religiösen Gesichtspunkt betrachtet sündhaft, da sie
Ausdrucksformen menschlichen Stolzes sind). Manchmal können wir im Nachhinein erkennen, was an einer früheren Situation dafür sorgte, dass es für die in der Situation Befangenen unmöglich war, ihre Umwelt klar zu sehen; man kann aber daraus nicht post festum schließen, dass jedwedes Ideal einer umfassenden und freien Diskussion, die von keinerlei kontingenten Faktoren abhängt, auch nur in sich 73 eine schlüssige Konzeption ist.7 Äußere Ereignisse und die reale Außenwelt sind von Bedeutung. Es ist ein absolut entscheidender Aspekt unseres Lebens als Menschen, dass wir von den wirklichen Gegebenheiten abstrahieren können, dass wir sie uns wegdenken, sie korrigierend berücksichtigen und virtuell über sie nachdenken können, doch dieser Prozess kann niemals vollständig sein oder ein Ergebnis haben, das vollkommen rein ist. Es gab zwar eine religiös bedeutsame Idee von Freiheit und von freier Wahl, aber sie war mit der Ausübung des freien Willens im Angesicht der Gnade Gottes verbunden, und diese Freiheit unterschied sich von der säkularen Wahl zwischen den meisten banalen Alternativen. Die Entscheidung zwischen solchen Alternativen war vom religiösen Gesichtspunkt betrachtet im Allgemeinen ziemlich belanglos. Zudem war die »Würde« in der Weise, wie sie das Charakteristikum des souveränen Subjekts bilden sollte, ein römisches und kein christliches Ideal. Der Christ sollte sich der »Demut« verschreiben. Tatsächlich war der sich seiner Würde bewusste Römer ein Symbol für menschlichen Stolz und ein Modell für all das, was ein Christ ablehnen und meiden sollte.8 Was das Erwachsensein betrifft, so mochte es zwar etwas sein, was wir hinzunehmen hatten, aber es galt nicht als etwas sonderlich Erbauliches. Viele der überlieferten Geschichten deuten darauf hin, dass Jesus die Kinder den Erwachsenen vorzog und sie als Vorbilder für das Leben hinstellte, indem er seinen Jüngern sagte, wenn sie nicht wie kleine Kinder werden würden, bliebe ihnen das Reich Gottes verschlossen. Schließlich sollten auch nicht alle Meinungen, Werte, Geschmacksvorlieben oder Lebensstilentscheidungen toleriert werden. Dies gehört zu den Dingen, die so offensichtlich sind, dass 74 sie eigentlich nicht der Erwähnung bedürfen sollten, und der Umstand, dass
man dies dennoch der Feststellung für wert befindet, ist ein Zeichen dafür, wie sehr eine übertriebene und verzerrte Version des Liberalismus unser unreflektiertes Denken bereits geprägt hat. Vielleicht sollte eine gänzlich unausgesprochene Meinung vollkommen frei sein – wobei sich dann, wenn sie wirklich unausgesprochen ist, die Frage stellt, wie wir von ihr wissen können und warum wir überhaupt über sie reden –, doch die Äußerung einer Meinung ist ganz sicher eine Handlung. Und obwohl es gute Gründe dafür gibt, eine Vorzensur in den meisten Fällen zu unterlassen, meinen sogar Liberale, dass der Aufruf zur Ermordung von Politiker X, der direkt vor einer aufgebrachten Menge steht, nichts ist, was toleriert werden sollte. In den meisten englischsprachigen Ländern ist eine bestimmte Form des Liberalismus wie die Luft, die man atmet. Eine grundlegende Vertrautheit mit Locke und Mill ist dort weit verbreitet, und charakteristische Züge dessen, was als deren Grundideen gehandelt wird, sind in den politischen und sozialen Institutionen sowie im öffentlichen Diskurs verankert – und zwar derart tief, dass es für eine Person mit einem nicht geringfügig von der Norm abweichendem sozialen Hintergrund oder Bildungsweg schwierig sein kann, eine angemessene kognitive Distanz zu ihnen zu finden, und somit einige ihrer Unzulänglichkeiten als das zu sehen, was sie sind. Adorno schreibt in Minima Moralia: »Der Splitter in deinem Auge ist das beste Vergrößerungsglas.«9 Natürlich ist rein gar nichts angenehm daran, einen Splitter im Auge zu haben, zudem ist der Splitter selbst in keiner Hinsicht per se wertvoll und nicht alle Splitter tragen wirklich zur Sehschärfe bei. Doch ein Splitter würde eine kontextbezogene Relevanz erlangen, wenn er es jeman 75 dem gestatten würde, etwas zu sehen, was andernfalls nur schwer zu sehen wäre. Meine eigentümliche katholische Bildung war ein solcher Splitter.
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Autoritarismus Weder Gott noch Herr – Louis-Auguste Blanqui Meine Schule war also nichtthomistisch, antiliberal, aber katholisch – okay. Aber »katholisch«, so könnte man meinen, muss doch »autoritär« bedeuten. Schließlich muss der Katholizismus der absoluten, transzendentalen Wahrheit verpflichtet sein, wie sie in seinen eigenen Dogmen formuliert ist und sogar noch in der Existenz einer unbedingten menschlichen Autorität für Angelegenheiten des Glaubens und der Sitten in Form des Papstes zum Ausdruck kommt. Rückblickend bin ich gleichwohl zu dem Schluss gelangt, dass die Schule sowohl antiliberal als auch nichtautoritär war. Menschen, die glauben, dies sei ein Widerspruch, sollten mehr über ihre eigenen Kategorien nachdenken, und ich hoffe, ich werde ihren Überlegungen im Folgenden zusätzliche Nahrung geben.
Drei Bedeutungen von Autorität Anstatt zu versuchen, den Autoritarismus zu definieren, ein Unternehmen, das noch hoffnungsloser ist als der Versuch, den Liberalismus zu definieren, lassen Sie mich eine Formel zitieren, die für ihn höchst charakteristisch ist: »Du sollst (oder solltest) dies tun, und zwar (ganz einfach), weil ich es so sage.« Es ist wichtig, von Anfang an zu beachten, dass sie sich von einer 78 anderen Formel unterscheidet, mit der sie manchmal in Verbindung gebracht und oft verwechselt wird: »Du musst
dies tun (oder sonst)«. Letztere ist aber keine Formel der Autorität, sondern eine der unverhohlenen Macht. Der Unterschied zwischen beiden ist ganz leicht zu erkennen, wenn man das Handeln eines Schlägers oder von Entführern mit dem Handeln eines Polizisten in einer rechtlich hochgradig geregelten Gesellschaft vergleicht. Entführer überwältigen mich einfach auf der Straße, fesseln mich und schaffen mich weg, ohne dabei ein Wort zu verlieren zu müssen, ja, sie müssen nicht einmal meine Sprache sprechen. Sie zwingen mich einfach zu tun, was sie wollen, und erheben nicht einmal unbedingt irgendeinen Anspruch, dass ich gefälligst tun sollte, was sie wollen; sie behaupten überhaupt nicht, irgendeine Art von Autorität zu besitzen. Im Gegensatz dazu hat der Polizist einen Schlagstock und eine Befugnis. Wenn er Sie auffordert, eine Demonstration abzubrechen und nach Hause zu gehen, kann er Ihnen durchaus mit seinem Schlagstock drohen, aber er beansprucht zugleich, zu seinem Handeln befugt zu sein und mit der entsprechenden Autorität ausgestattet zu sein. Er zwingt Sie nicht einfach, er fordert, dass Sie gehorchen »sollten«. Die Befugnis mag falsch sein, der Anspruch unbegründet und die Realität mag nur der Schlagstock sein, doch »Autorität« überhaupt zu diskutieren heißt, sich vorzustellen, dass es einen Unterschied dazwischen gibt, jemanden einfach mit einem Knüppel zu schlagen oder zu fordern, jemand solle das tun, was der Polizist sagt. Autorität zu verstehen bedeutet, zu verstehen, in genau welchem Sinn das »sollst« in der Formel »Du sollst (oder solltest) dies tun, und zwar (ganz einfach), weil ich es so sage« gebraucht wird.1 Auf welche Weise und in welchem Maße verkörperte demnach der Katholizismus, dem ich in meiner Jugend begegnet 79 bin, die Formel für den Autoritarismus? Lassen Sie mich mit meinen Erfahrungen in der Gemeinde vor Ort beginnen, wo meine Familie jeden Sonntag zur Messe ging. In dem Namen der Kirche ist schon ein Teil des Schicksals angedeutet, das mir zugedacht war, das zu vermeiden mir allerdings sehr erfolgreich gelang. Die Benennung der Kirche nach dem heiligen Josef, dem Arbeiter, sagte schon alles. Die meisten Gemeindemitglieder waren Arbeiter des örtlichen Stahlwerks und verschiedener angeschlossener
Fabriken, und die Widmung, die den heiligen Josef speziell in seiner Funktion als Zimmermann ansprach, als einen Mann, der mit seinen Händen arbeitete, wurde in den Predigten wiederholt angeführt. Die Rolle, die uns in der Ökonomie bestimmt war, wurde deutlich gemacht und erhielt religiöse Weihen. Die Predigten nahmen auch sehr häufig die Form einer Beschreibung von etwas an, was wir heute wahrscheinlich eine persönliche oder gesellschaftliche Frage nennen würden, die mit drastischen Ausdrücken heraufbeschworen wurde, um in die schallend verkündete Schlussfolgerung zu münden: »So sollt ihr handeln, weil der Papst es so sagt.« Dies war nicht der Beginn irgendeines interpretativen oder argumentativen Prozesses, vielmehr war die Berufung auf den Papst dazu gedacht, die Diskussion endgültig zu beenden. Das ideale Gemeindemitglied war demnach »laborans et oboediens« [arbeitsam und gehorsam]. Die allgemeine autoritäre Tendenz der katholischen Kirche in den Vereinigen Staaten war also nicht bloß ein Mythos, jedenfalls nicht in den 1950er Jahren, und eigentlich könnte man diese Verallgemeinerung sogar auf die Kirche als Ganzes seit der Gegenreformation ausdehnen. Dennoch ist das nicht alles, was sich über die Variante des Katholizismus, der ich an meiner Schule begegnet bin, sagen lässt. Zunächst einmal gab es 80 unter meinen Lehrern einige, die mit Mitteln der Theorie andauernd und unermüdlich Sturm liefen gegen die Autorität als Konzept. Krigler diskutierte im Religionsunterricht die Idee der Autorität allgemein sowie deren Rolle in der Religion. Er erklärte, dass »Autorität« im Englischen in drei Hinsichten verwendet werde. Erstens werde das Wort in erkenntnisbezogenen Kontexten als ein Ausdruck gebraucht, der ein hohes Maß an epistemischer Kompetenz auf einem bestimmten Gebiet bezeichnet. »Mark ist eine Autorität auf dem Gebiet der Leberkrankheiten« bedeutet, dass er eine Menge über sie weiß und sein Urteil dementsprechend verlässlich ist. Wenn Mark eine Menge über die Leber weiß, dann wäre es unter den meisten Umständen eine gute Idee, das heißt höchst ratsam, ihm gut zuzuhören, falls man ein Problem mit der Leber hat. Ein solches Wissen verleiht Mark keine Macht, einen in
irgendeiner Weise zu etwas zu zwingen, und sollte auch ihn selbst nicht zu der Erwartung verleiten, dass man zwangsläufig tun wird, was er sagt. Und ganz sicher erwächst daraus keine Verpflichtung, seinen Empfehlungen zu folgen. Auch wenn ich anerkenne, dass Mark diese spezielle epistemische Kompetenz besitzt, und zudem einsehe, dass es es vollkommen rational wäre, das zu tun, was er sagt, könnte es trotzdem sein, dass ich keine Neigung verspüre, seinen Vorschlägen zu folgen. Gewiss kann er nicht davon ausgehen, mir allein aufgrund seiner Expertise befehlen zu dürfen, was ich mit meiner Leber zu tun habe. Der zweite Gebrauch des Begriffs »Autorität« erfolge in Wendungen wie »Jane hat eine natürliche Autorität« und entspreche dem, was Max Weber unter »Charisma« verstanden habe. Weber prägte dieses Konzept, um eine Form der politischen Organisation zu beschreiben, von der die biblischen Texte berichten, sie sei vor der Monarchie weit verbreitet gewesen.2 Es gab 81 zwar keinen König, aber die Menschen folgten einer Reihe von Richtern. Ein solcher »Richter« (oder in einigen Fällen eine Richterin) war eine Figur, die viele Menschen dazu bringen konnte, ihrer Führung freiwillig zu folgen oder zumindest zu beachten und ernst zu nehmen, was sie sagte oder vorschlug. Dies gelang ihr allein kraft einiger einzigartiger Persönlichkeitsmerkmale oder aufgrund einer erstaunlichen Verkettung unerwarteter Erfolge (oder einer Kombination von beidem). »Natürliche Autorität« musste sichtbar und spürbar sein; die Person, die sie besaß, wirkte wie jemand, deren Führung man folgen wollen würde.3 Der dritte Sinn von »Autorität« ist derjenige, der wirklich strittig ist. Er ist normativ, das heißt mit irgendeiner Art von »Sollen« verbunden. Die Griechen hatten mit dem ersten Begriff von »Autorität«, das den Experten (ho empeiros oder ho episteemoon) betrifft, keine Schwierigkeiten. Obwohl Weber mit »charisma« ein griechisches Wort für den zweiten Begriff, die »natürliche Autorität«, heranzog, wurde das Wort von den Griechen selbst nicht in diesem spezifischen Sinne verwendet; vielmehr stand ihnen ein ganzes Arsenal verschiedener Möglichkeiten zur Beschreibung des fraglichen Phänomens zur Verfügung, bestehend aus Begriffen, die nicht selten aus ihrer polydämonischen und polytheistischen
religiösen Erfahrung abgeleitet waren. Daher würde man zahllose Varianten von »Er sprach wie ein Gott« oder »Dem Orpheus gleich, hatte er sie verzaubert« finden. Im Allgemeinen, so Krigler, seien die Griechen eine Bevölkerung gewesen, die sich zwar sehr gerne in Staunen versetzen, überraschen und verblüffen ließ, aber auch höchst streitlustig war sowie ganz und gar abgeneigt, einander (freiwillig oder nicht) zu gehorchen. Die Dichotomie, die ihnen leichtfiel, war »über 82 zeugt sein oder gezwungen sein«, und dies ließ nicht viel Raum für so etwas wie natürliche Autorität. Wenn man also meinte, etwas von dieser Art beschreiben zu müssen, griff man zu Metaphern oder Gleichnissen aus der Magie, der religiösen Erfahrung oder dem Rausch. Der dritte Begriff von »Autorität«, die normative Autorität, ist derjenige, welcher historisch gesehen am wichtigsten wurde und für unsere Denkweise nach wie vor entscheidend ist. Ihm zufolge wird bei Menschen in modernen Gesellschaften die Einstellung vorausgesetzt, sie »sollten« ordnungsgemäß erlassenen Vorschriften der Regierung folgen oder sie »müssten« dem nachkommen, was der Polizist ihnen sagt. »Autorität« in diesem Sinn war den Griechen vollkommen unverständlich. Sie hatten nicht einmal ein Wort dafür. Sie kannten Macht, Stärke, Dominanz, Herrschaft – dies alles verstanden sie sehr gut, erläuterte Krigler – ebenso wie Überzeugung, Respekt, Erlaubnis, Befähigung und unzählige andere damit zusammenhängende Phänomene. »Autorität« (auctoritas) war jedoch ein politisches Konzept speziell der Römer und so eng mit bestimmten römischen Institutionen, Gewohnheiten und Ideen verflochten, dass es aus diesen nicht leicht herauslösbar war; sogar nachdem der östliche Mittelmeerraum zu einem Bestandteil des römischen Reichs geworden war, hatten die Griechen noch Schwierigkeiten mit diesem Konzept, weil sie kein Äquivalent dafür besaßen. Auch viel später lebende Gelehrte taten sich mit der Idee der »auctoritas« schwer.4 Dies alles bekam ich in der Zeit etwa von 1959 bis 1960 im Unterricht zu hören. Erst fast fünfzig Jahre später, um das Jahr 2008, als ich das Geschichtsbuch des Dio Cassius las, eines Griechisch sprechenden römischen Senators, stieß ich auf die konkrete Textstelle, an die Krigler
dabei wahrscheinlich gedacht 83 hatte.5 Dio Cassius, der einige Ereignisse in der römischen Geschichte erörtert, schreibt ausdrücklich, dass es ein von den Römern in politischen Zusammenhängen verwendetes Wort gibt, nämlich »auctoritas«, für das es keine griechische Entsprechung gibt: »ouk estin hellenitzein«, was so viel heißt wie: Unmöglich, dieses Wort zu hellenisieren, man kann es nicht ins Griechische übertragen. Es lohnt sich, diesem Punkt ein wenig nachzugehen. Was Dio hier sagt, bedeutet nicht, dass es im Altgriechischen kein Wort für auctoritas gab, so wie sie auch keine Wörter für »Tee«, »Kokosnuss« oder »Känguru« hatten. Ein Wort für das Känguru gab es nicht, weil die Griechen einem solchen nie begegnet waren, doch der entsprechende begriffliche Raum für ein solches Wort ist vorhanden. Die Idee, ein Substantiv für eine bestimmte Tierart zu haben, war ihnen absolut geläufig, und sie mussten nichts weiter tun, als das Tier mit einem Laut oder einigen sichtbaren Merkmalen in Verbindung zu bringen. Was im Fall der auctoritas fehlt, ist nicht das Wort dafür, sondern ein ganzes Ensemble von Vorstellungen, die mit dem Gebrauch dieses Wortes verknüpft sind und ihm seine Bedeutung geben. Eine parallel zu hellenitzein lautende Wortbildung war meeditzein oder »zu medeisieren«, was nicht unbedingt hieß, Persisch zu sprechen, sondern persischen Kleidungsstil, persische Manieren und Sitten anzunehmen, politisch für die Perser Partei zu ergreifen, wie ein Perser zu denken oder zu handeln.6 »Man kann dies nicht hellenisieren« bedeutet dann im Fall der auctoritas entsprechend: »Sie drückt etwas aus, das in die Art, wie ein Grieche über die Dinge denkt, nicht integriert oder aufgenommen werden kann.« Man kann natürlich versuchen, die Denkungsart der Griechen zu ändern – zu erweitern, was sie sich vorstellen können, indem man sie beispielsweise umerzieht –, und zu der Zeit, als 84 Dio sein Buch schrieb, hatten die Römer bereits mehrere Jahrhunderte Gelegenheit gehabt, dies zu versuchen, indem sie die Griechen dazu zwingen, mit einigen römischen Institutionen zu leben. Um »Kängurus zu gräzisieren« wäre es nicht notwendig gewesen, die Denkungsart der Griechen tiefgreifend umzugestalten: Man zeigt ihnen einfach eines und gibt ihnen ein Wort dafür. Umso bemerkenswerter ist daher die offenkundige Erfolglosigkeit
der Römer bei ihrem Versuch, den Griechen manche ihrer Vorstellungen aufzuzwingen. Dio erklärt schließlich in einiger Ausführlichkeit, was das Wort bedeutet – letzten Endes gelingt ihm das nicht sehr gut. Bestenfalls kann er dem einsprachigen griechischen Leser die mehr oder weniger richtige Richtung weisen.7 Man könnte natürlich darüber spekulieren, ob der Grund, weshalb die Griechen solche Schwierigkeiten mit dem dritten Konzept von »Autorität« hatten, darin zu sehen ist, dass Machtausübung für sie charakteristischerweise persönlich und unmittelbar war. Ihre Idee von der Macht der Menschen in einer Demokratie war, dass die Menschen wirklich verschiedene Dinge taten; sie wählten nicht bloß Vertreter, die etwas für sie tun. Ihre Erfahrung mit Wissen und Kompetenz war ebenso in hohem Maße persönlich. Der damit assoziierte Ort war eine bestimmte konkrete Person, keine Enzyklopädie oder ein anonymes universitäres Gutachtergremium, keine medizinische Fachvertretung oder irgendeine Datenspur in einem Computersystem. Das machte es ihnen schwer, sich eine abstrakte Struktur als Sitz der Autorität vorzustellen. Dies ist jedoch kaum mehr als Spekulation.
85 Leben
ohne Autorität
Man kann sich diese allgemeine Schwierigkeit der Griechen mit der ganzen Idee der »Autorität« vor Augen führen, indem man sich den speziellen Fall von Platon anschaut. Platon argumentiert in Der Staat, dass die Philosophen Experten für das Gute werden könnten.8 Sie wären in der Lage, einmal alles über das Gute zu wissen oder, wie wir sagen könnten, »Autoritäten« im Hinblick auf das Gute zu werden, so wie Geometer Autoritäten hinsichtlich der Eigenschaften von Dreiecken seien. Er glaubte auch, dass Philosophen die Polis regieren sollten, weil sie sich mit dem Guten auskennen würden. Wir könnten dies so formulieren: »Ihre epistemische Autorität sollte ihnen politische Autorität verleihen.«
Tatsächlich sagt Platon aber eher so etwas wie: »Wenn nicht […] die Philosophen Könige in den Staaten werden […] und wenn nicht politische Macht und Philosophie in eins zusammenfallen […], dann gibt es […] kein Ende des Unheils für die Staaten […].« (ἐὰν μή. […] οἱ φιλόσοφοι βασιλεύσωνται […] καὶ τοῦτο εἰς ταὐτον ξυμπέσῃ δύναμίς τε πολιτικὴ καὶ φιλόσοφία. […] οὐκ ἔστι κακῶν παῦλα. […] τοῖς πόλεσι.) Ein Verständnis des modernen Phänomens der »Autorität« beginnt damit, sich darüber klar zu werden, wie weit »unsere« Formulierung von der griechischen abweicht. Zunächst einmal ist »als König herrschen« (basileusontai) eine ausgesprochen trockene und ernüchterte Version von »politische Autorität haben«. Platon bringt die Sache auf den Punkt, indem er hinzufügt, dass es die politische Macht (dynamis) und die Philosophie sind, die zusammenfallen müssen. Zweitens ist die moderne Formulierung durch das »sollte« auf eine Weise gehemmt, wie es die griechische nicht ist: »Es sollte der Fall sein, dass denjenigen, die sich mit dem Guten auskennen, gehorcht werden sollte.« 86 Lenin sagte einmal, eine Revolution sei die autoritärste Sache der Welt, aber ich denke, das ist nicht richtig.9 Revolutionen mussten vielleicht gewaltsam sein, Stärke, Zwang und Gewalt konnten jedoch auf ganz verschiedene, komplizierte Art und Weise Begleiterscheinungen von Autorität sein, wie Krigler wiederholt sagte, konnten sie beschönigen, verstärken, weiterentwickeln, begünstigen und Bedingungen schaffen, unter denen sie gedeihen kann, was aber keineswegs alles das Gleiche sei. Die Griechen begriffen Stärke und Gewalt (bia, kratos usw.) und deren Rolle in menschlichen (und göttlichen) Angelegenheiten sehr gut und hatten eine klare Idee davon, was eine stasis war (Aufruhr, Bürgerkrieg): Eine Partei begehrt auf, tötet ihre Gegner oder treibt sie ins Exil und regelt die Neuordnung der Polis ganz nach ihrem Geschmack. Thukydides beschreibt den Vorgang mit einiger Subtilität und großer Detailgenauigkeit.10 Die Griechen hatten zudem eine sehr klare Vorstellung von »Überzeugung« (peitho) als Alternative zur Gewaltanwendung, wobei für sie »Stärke/Überzeugung« (bia/peitho) eine strikte Dichotomie darstellte.11 Der springende Punkt bei »Autorität« war
jedoch, dass sie etwas Drittes sein musste, etwas, was sich weder mit Stärke, Gewalt, Zwang noch mit (den rationalen oder irrationalen) Formen der Überzeugung gleichsetzen oder darauf reduzieren ließ. Der Polizist würde im Idealfall weder mit mir argumentieren, bis er mich überzeugt hat, den Ort des Geschehens zu verlassen, noch schlägt er mich einfach auf den Kopf, damit ich das tue. Er fordert mich auf, zu gehen, und beruft sich gegebenenfalls auf seine Autorität. Es war diese angeblich dritte Sache, deren begriffliche Erfassung den Griechen nicht gelingen wollte, so dass Dio Cassius glaubte, ihnen fehle das Konzept der »Autorität« – ungeachtet ihrer Vertrautheit mit dem Gewaltgebrauch 87 und zahlloser Reflexionen darüber (zum Beispiel bei den theorienäheren Historikern wie Thukydides), trotz der Kraft der Überzeugung (in der rhetorischen Tradition des Gorgias) und philosophischer Argumentation (wie etwa bei Platon). Stellt euch eine Welt vor, ermunterte uns Krigler, in der die Idee einer normativen Autorität fehlt. Und genau das war die Welt der Griechen, die Geometrie, Philosophie, Geschichte und Politik vorzüglich ohne sie betrieben (vielen Dank dafür) und außerdem natürlich noch Epen, Tragödien, Epigramme, Oden, Komödien, Dialoge, Elegien, Satyrspiele, Idyllen und anderes schrieben, dazu Statuen formten, Tonkeramik bemalten, Tempel bauten, Städte entwarfen und mit ihren Segelschiffen im gesamten Mittelmeer unterwegs waren, sich mit Kriegsführung, Diplomatie, Erkundungen, Piraterie, Siedlungsbau und Handel beschäftigten. Man könne also leicht ein sehr hohes Niveau der Kultur erreichen, ohne irgendein Konzept von »Autorität« zu entwickeln (oder anscheinend zu benötigen). Wörter ließen sich selbstverständlich aus ihrem ursprünglichen Kontext herauslösen und formalisieren, so dass sie noch lange weiterverwendet werden könnten, nachdem das ursprüngliche Ensemble von Institutionen, in dem sie einen gewissen Sinn hatten, untergegangen sei. Im Fall von »Autorität« habe sich dies jedoch als nicht besonders glücklich erwiesen, und der Begriff sei heillos wolkig und anfällig dafür geblieben, Verwirrung zu stiften. Obschon es natürlich keinen Grund gebe, seinen Gebrauch in vielen Zusammenhängen des
Alltagslebens zu vermeiden, wo er gut genug eingebunden wäre, um bestens verständlich und nützlich zu sein, solle ihm doch nie ein theoretisches Gewicht beigelegt werden.
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Religion, Sprache und Geschichte Drum soll hie zuschmeißen, wurgen und stechen heimlich oder offentlich, wer da kann […] gleich als wenn man einen tollen Hund todschlahen muss […]. Es gilt auch hie nicht Geduld oder Barmherzigkeit. Es ist des Schwerts und Zorns Zeit hie und nicht der Gnaden Zeit. […] Drum, lieben Herren […] Steche, schlahe, würge hie, wer da kann! – Luthers Rat an die Fürsten, wie die aufständischen Bauern zu behandeln sind (in: »Wider die räuberischen und mörderischen Rotten der Bauern«, 1525) Kriglers kritische Analyse von »Autorität« blieb aus zwei weiteren Gründen seit nunmehr sechzig Jahren in meinem Gedächtnis haften.1 Erstens verknüpfte ich seine Darstellung mit der Vorstellung, dass Religion – die vorgeblich das Thema des Unterrichts war – grundsätzlich mit realer Geschichte verbunden sei. Religion für etwas zu halten, das wie eine Theorie zu irgendeinem Gegenstand in einem Buch formuliert sei, war ein komplettes Missverständnis. Das Christentum ließ sich im Neuen Testament nicht in derselben Weise finden wie die Evolutionstheorie in den Schriften von Charles Darwin. Es handelte sich beim Christentum vielmehr um eine Konstellation aus historischen Ereignissen, Institutionen und Praktiken mit einigen damit einhergehenden, aber wechselnden Überzeugungen, und es konnte nicht verstanden werden, wenn man davon abstrahierte. Zweitens verband sich für mich die Vorstellung von Autorität mit der Idee, dass Religionen selten einfach zu deu 90 ten sind; sie sind vielmehr charakteristischerweise mit vielschichtigen und tiefgreifenden hermeneutischen Fragen verbunden – das heißt mit dem
Versuch, verständlich zu machen, was sich in einem gewissen Sinne nicht übersetzen ließ. Insbesondere könne man nicht »einfach die Bibel lesen«, ohne sich vollständig in die historische Linguistik, Sozialgeschichte und politische Geschichte sowie eine immense Fülle theologischer, philologischer und historischer Kommentare einzuarbeiten, wie Krigler immer wieder betonte. »Lies einfach die Bibel«, wie sie ist, war eine wirklich idiotische Aufforderung.2
Das unübersetzbare Wort übersetzen Um mit dem zweiten dieser beiden Punkte zu beginnen – Krigler sagte uns ständig, dass ein bestimmter wesentlicher Begriff X »nicht übersetzt werden könnte«: logos, agape, auctoritas, sarx, pneuma etc. Informell war die Schule zweigeteilt: in die Internatsschüler und die Tagesschüler, bei denen es sich um Jungen der näheren Umgebung der Schule handelte. Meine Eltern lebten zwar in Pennsylvania, aber ihr Haus war etwa hundert Meilen entfernt, weit genug, um es sinnvoll erscheinen zu lassen, mich im Internat der Schule unterzubringen, was dann auch geschah. Die meisten anderen Internatsschüler waren nicht sehr mitteilsam oder anspruchsvoll – schließlich waren sie Flüchtlinge und manche von ihnen waren leicht traumatisiert –, und selbst diejenigen, die sich bemühten, eine gewisse verblichene Vornehmheit aufrechtzuerhalten, taten dies mit einem Gespür für »Adel verpflichtet«. Die Tagesschüler hingegen waren Jungen aus den umliegenden Orten, welche zunehmend zu bloßen Vorstädten wurden. Sie waren aus dem Stadtzent 91 rum dorthin gezogen, als ihre Eltern wohlhabender wurden, und waren darauf aus, ihren neuen Status geltend zu machen und zu behaupten. Mir kamen sie sehr dreist und sehr anspruchsbewusst vor. Einer dieser Tagesschüler beklagte sich einmal mit der gereizten und nörgelnden Stimme, mit der sie sich alle zumeist bemerkbar machten, dass die Klassenarbeiten im Fach Religion unfair seien, weil alle Fragen die Form hätten: »Wie lautet die Übersetzung des
unübersetzbaren Wortes X?«. Schon die simple Logik zeige doch, dass es auf solche Fragen offenkundig keine Antwort gebe und es daher ungerecht sei, sie in Klassenarbeiten als Aufgabe zu stellen. Krigler amüsierte sich anscheinend darüber. Rückblickend denke ich mir, er konnte nicht glauben, dass selbst dreizehnjährige Jungen so naiv sein konnten – schließlich hatten wir alle zu dem Zeitpunkt schon mindestens ein Jahr lang sowohl Latein als auch Spanisch oder Deutsch gelernt (und einige hatten auch mit Russisch angefangen). Als Erstes erklärte er, es sei eine Tatsache, dass Fragen, auf die es keine Antworten gebe, oft die wichtigsten seien, die man stellen könne und weiterhin stellen müsse, und anschließend sprach er sehr geduldig und in aller Ausführlichkeit über das Übersetzen – von den Schwierigkeiten, die jedem Vorgang innewohnen, etwas, das in der einen Sprache geschrieben wurde, in einem anderen Idiom wiederzugeben, über die Unterschiede bei der semantischen Nuancierung, beim Tonfall und hinsichtlich der Sprachebene, über die Bedeutungsumfänge von Wörtern, die in verschiedenen Sprachen nicht zur Deckung kommen, und über damit zusammenhängende Phänomene. Soweit ich mich erinnern kann, ging er nicht so weit, die spätwittgensteinianischen (und dann quineanischen)3 Argumente à la »radikale Übersetzung beginnt zu Hause« zu bringen. Aber als Muttersprachler des Ungarischen, 92 einer agglutinierenden nichtindoeuropäischen Sprache, betonte er unermüdlich, dass das Übersetzen nicht durchweg eine Eins-zu-eins-Ersetzung von Worten der einen Sprache durch Wörter einer anderen Sprache sei – schließlich sei sogar das, was als ein einzelnes Wort gelte, in vielen Sprachen eine Angelegenheit der Konvention. Das Übersetzen sei also normalerweise ein sehr vielschichtiger und Umschreibungen nutzender Prozess; Übersetzung und Erklärung ließen sich im Grunde genommen gar nicht strikt voneinander trennen, als seien sie zwei gänzlich verschiedenartige Dinge. Abgesehen davon mache es einen großen, ja gewaltigen Unterschied, ob man ein allgemein akzeptiertes einzelnes Wort zur Verfügung habe, welches in der einen Sprache einem Wort der anderen Sprache entspreche,
oder ob man jedes Mal, wenn der Fremdsprachler irgendein Wort gebrauche, eigentlich erst eine umschreibende Erklärung liefern müsse. »Wie lautet die Übersetzung des unübersetzbaren Wortes?« sei also eine ganz und gar stimmige Frage – zweifellos schwer, vielleicht sogar unmöglich zu beantworten, aber vollkommen stimmig. Sie besagt: »Erkläre in Englisch die Bedeutung dieses (gewöhnlich griechischen oder lateinischen) Wortes, für das es entweder keine einzelne akzeptierte englische Entsprechung gibt oder für das die üblicherweise akzeptierte englische Entsprechung eine besonders krasse semantische Verzerrung darstellt, und sei dabei so ausführlich, wie du es für nötig hältst.« Der Grund dafür, ergänzte Krigler, warum es einen solchen Unterschied ausmache, ob eine Sprache über ein Einzelwort-Äquivalent für irgendeinen Begriff verfüge, sei der, dass in der Einzelwortlösung verschiedene Phänomene zusammengezogen werden. Doch dieses Zusammenziehen verschiedener Phänomene war selten ein belangloses Vorgehen. Die Griechen 93 wussten nur zu gut, dass der Archon oder Hegemon (oder römische Prokonsul) die Macht besaß, jemanden prügeln oder inhaftieren zu lassen oder sogar noch schlimmer zu bestrafen, und dass es deshalb ratsam war, seinen Anordnungen Folge zu leisten; dem aber die Behauptung beizufügen, der Prokonsul habe auctoritas (oder genauer gesagt, übe imperium aus), hatte die Konnotation im Schlepptau, dass diese Macht von Haus aus mit einem gewissen Status verknüpft war, den der Prokonsul hatte, und darüber hinaus vielleicht sogar die weitere (möglicherweise etwas schwächere) Konnotation, dass es nicht bloß ratsam war, ihm nicht in die Quere zu kommen, sondern dass man seinen Anordnungen Folge leisten »sollte«. Dieses addendum ist alles andere als trivial. Denn sobald man ein einzelnes Wort hatte, bestand die Möglichkeit, sich dazu (fälschlicherweise) einzubilden, es bezeichne eine einzelne Sache, die dann eventuell von einer Person oder einer Gruppe auf eine andere übertragen werden könnte. Rückblickend meine ich erkennen zu können, dass ein Großteil dieser Bemühung, uns die Schwierigkeiten der Übersetzung, das Phänomen der semantischen Unklarkeit und die universelle Notwendigkeit des
Interpretationsvorgangs mit der ihm dennoch innewohnenden Pluralität nahezubringen, im Grunde genommen gegen eine typisch protestantische Position gerichtet war oder gegen das, was die Priester an der Schule dafür hielten (darunter verstanden sie, wie ich annehme, einen nach ihrem Dafürhalten lutherischen Standpunkt). Sie unterschieden eigentlich zwei charakteristisch protestantische Positionen: (a) sola scriptura, das heißt die Idee, die Kirche solle ausschließlich auf das gegründet sein, was mit den schriftlich überlieferten Texten belegt werden könne, die in der Bibel enthalten sind, und dass eine solche Anleitung durch 94 die Schrift den Menschen ausreichend Führung gebe, und (b) die Idee, dass die Heilige Schrift auf eine einfache und wörtliche Weise gelesen werden könne und solle.
Sola scriptura Sola scriptura bedeutete, dass die letztgültige religiöse Autorität ausschließlich in den Texten der Bibel zu suchen war. Krigler selbst würde, was die Protestanten damit sagen wollten, anders formuliert haben – wegen seiner Vorbehalte, was die ganze Idee der »Autorität« anging –, aber um des Argumentes willen sollten wir zunächst ihre Art zu reden übernehmen, schlug er vor. Die erste Frage lautete: Was war denn am geschriebenen Wort so besonders? Selbst wenn die in der Bibel schriftlich niedergelegten Worte großes Ansehen genossen, weil sie eingegeben worden waren: Gab ihnen das automatisch Vorrang gegenüber womöglich ebenso eingegebenen gesprochenen Worten, zum Beispiel denen, die ursprünglich von den Propheten des Alten Testaments gesprochen wurden? War nicht das lebendige prophetische Wort ein besseres Vehikel der Offenbarung als etwas Geschriebenes? Woher wissen wir überhaupt, dass die Prophezeiung ausgestorben ist? Krigler wusste nichts über den Islam, hätte er ihn aber gekannt, wäre er von der Tatsache beeindruckt gewesen,
dass der Koran ausdrücklich sagt, Mohammed sei das »Siegel der Propheten« (33.40), was vermutlich heißt, er sei der letzte, definitiv aber derjenige, der die Reihe abschließt. Nach ihm wird keiner mehr entsendet werden. Im christlichen Neuen Testament sucht man eine solche Behauptung nicht nur vergeblich, sondern Jesus hat offenbar kei 95 ne Mühen gescheut, um deutlich zu machen, dass es so etwas wie Prophetie weiterhin geben wird. Alle Unterredungen über die fortwährende Gegenwart des Heiligen Geistes weisen in diese Richtung. Und anscheinend gab es in vielen frühchristlichen Gemeinden sogar eine feste Nische für »Propheten«.4 Hatte der Text des Neuen Testaments mehr Autorität als der eingegebene Gedanke, den der Autor hatte, wenn er sich ans Schreiben machte? Sollte das geschriebene Wort stets mehr Autorität haben als eine übliche Praxis? Einzelne Menschen waren fehlbar, doch würde der Heilige Geist, der über die Gemeinde wachte, den Gläubigen wirklich erlauben, über Generationen hinweg tief verwurzelte falsche Praktiken zu entwickeln? Angenommen aber, man räumte dem geschriebenen Wort Vorrang ein. Dies würde bedeuten, dass umgehend eine ganze Reihe textrelevanter Themen sehr wichtig werden würde – der Aufbau von Texten, ihre Geschlossenheit, ihre Unverfälschtheit, ihre Überlieferung und ihre Rezeption. War ein Text eigentlich nur so etwas wie eine einfache Gedächtnisstütze oder mehr als das? Ein Athener Dramatiker mag die Worte seines Stücks aufgeschrieben haben, um bei der Unterweisung seiner Schauspieler – von denen viele durchaus leseunkundig gewesen sein mögen – ein Hilfsmittel zu haben; das heißt aber nicht, dass er die Worte durch die Niederschrift absolut unantastbar machen wollte. Die Aufführung wird natürlich anpassbar und variabel gewesen sein – der Autor dürfte gar nichts anderes erwartet haben. Genauso mag ein König Vorschriften erlassen und Richtern eine schriftliche Mitteilung an die Hand geben, um die wesentlichen Punkte in ihrem Gedächtnis frisch zu halten, aber er mag noch so viele verschiedene Memoranden ausgeben: keines davon ist überhaupt nur dazu gedacht, »das Gesetz« zu sein. Sie sind lediglich ungefähre 96 Richtlinien. Das Gesetz ist etwas ganz anderes,
nämlich das, was der König entscheidet. Schließlich können die eigentlichen Worte selbst – ipsissima verba – aufgrund verschiedener Veränderungen in der Lese- und Schreibkultur, der sozialen Gewohnheiten usw. einen unabhängigen Status erlangen, doch der entwickelt sich erst allmählich unter angebbaren Bedingungen. Das Aufschreiben von Dingen hat offenbar die ihm innewohnende Tendenz, sie als unumstößlich erscheinen zu lassen. Der Praxis des Niederschreibens wohnt aber nichts inne, was unbedingt gebietet, dass die geschriebenen Worte ihrerseits über eine fetischistische Macht von der Art verfügen, wie sie ihnen von Medizinmännern und Protestanten zugeschrieben wird.5 Leser und Verfasser früherer Zeiten hatten nicht dieselbe Idee von der Unverfälschtheit von Texten, wie wir sie haben und wie sie uns sogar selbstverständlich erscheinen mag. Wenn wir uns einmal näher anschauen, was uns als »Texte« überliefert worden ist, können wir oft recht deutlich erkennen, dass es sich dabei um Kompilationen handelt. Ein höchst eindrucksvolles Beispiel dafür ist das Buch des Propheten Jesaja, das ziemlich eindeutig Stoffe aus ganz verschiedenen historischen Epochen versammelt. So lassen sich mindestens drei Schichten feststellen, anders gesagt: Das Buch Jesaja hat mindestens drei klar unterscheidbare »Autoren«. Es gibt den Propheten aus dem 8. Jahrhundert vor Christus, dazu einen weiteren (anonymen) Verfasser, der im 6. Jahrhundert in Mesopotamien tätig war (und »Deutero-Jesaja« genannt wird), und schließlich einen noch später anzusetzenden dritten, anonymen Verfasser (sinnigerweise »Trito-Jesaja« genannt). Wir haben keine wirkliche Vorstellung davon, wie diese drei Stoffsammlungen zusammengefügt wurden, aber wir sollten nicht annehmen, dass bei der 97 Komposition irgendeine Täuschungsabsicht im Spiel gewesen sei. Krigler erklärte, es sei für einen Anhänger oder jemanden, der (oder die) glaubte, er sei Anhänger oder Jünger des großen Propheten, nur natürlich gewesen, zur schriftlichen Aufzeichnung seiner Botschaft beizutragen, sie also gewissermaßen auf den neuesten Stand zu bringen. Nicht nur war daran an sich gar nichts falsch, sondern die von anonymen Fortsetzungsverfassern angefügten Texte konnten unter Umständen sogar
besser sein als das Original. Die Texte des Deutero-Jesaja seien viel interessanter als die Orakel des Original-Propheten aus dem 8. vorchristlichen Jahrhundert. Es war eben so, wie in Griechenland, wo ein Dichter, der ein »anakreontisches« Gedicht schrieb, kein Plagiat beging, und wo es kein Betrug war, dieses Gedicht in eine Sammlung der Werke von »Anakreon« aufzunehmen. Schließlich habe Anakreon ja keinerlei Monopolstellung für das Verfassen von Gedichten einer bestimmten Sorte gehabt. Einige Gedichte, die von (wie wir sagen würden) Anakreons Nachahmern geschrieben wurden, seien mindestens so gut wie seine. Etwas Ähnliches gelte für Geschichtserzählungen wie die Bücher der Könige, für die eine Vielzahl älterer Dokumente genutzt worden sein kann, welche vom Autor oder von den Autoren so gut, wie es ihnen möglich war, integriert wurden. So würde vielleicht zu jedem der ursprünglichen Dokumente, die im Laufe der Zeit verwendet und vielleicht wieder verwendet wurden, eine Geschichte gehören, bis die Fassung des Textes, die uns überliefert wurde, irgendeine Form von Stabilität erreichte. Texte unterschiedlichen Typs ließen eindeutig verschiedene Arten des Lesens zu, ja forderten sie: Anakreon, das Buch Jesaja, die Schriften des Thukydides und der Codex Hammurapi dienten nicht dem gleichen Zweck, soweit wir das beurteilen 98 könnten. Zudem gebe es ja keinen Grund, uns auf eine Lektüreform zu beschränken, die zur Intention der ursprünglichen Autoren gehört haben würde – soweit es überhaupt solche individuellen Autoren gegeben hatte und uns ihre Intentionen zugänglich waren. Es sei durchaus möglich, einen Abschnitt aus dem Deutero-Jesaja als Dichtung zu lesen, selbst wenn das nicht der ursprünglichen Absicht des Autors entspreche.6 Was die Christen das »Alte Testament« nannten, war offenkundig nicht so etwas wie das Werk eines einzelnen menschlichen Autors. Es war weniger ein Buch als eine ganze Bibliothek von Texten unterschiedlichen Alters und unterschiedlicher Herkunft, die verschiedenen Gattungen angehörten und verschiedenen Rang beanspruchten. Manches davon war Geschichtserzählung (Könige), manches Prophetie (Hosea), manches priesterliche Gesetzgebung (Levitikus), manches lyrische Dichtung
(Psalmen), manches allgemeine Betrachtungen über das Menschenleben (Kohelet), manches davon »Weisheitsliteratur« (Weisheit) und manches bestand in Ratschlägen zur alltäglichen Lebensklugheit (Sprichwörter). Warum sollte man meinen, es sei richtig, alle diese Texte in derselben Weise zu lesen, und warum sollte man versuchen, beispielsweise für diejenigen, bei denen es sich um Poesie handelt, eine wortwörtliche Lektüre verbindlich zu machen? Die katholische Auffassung war also, dass die meisten dieser Texte auf beliebig viele Weisen zugleich gewinnbringend gelesen werden konnten und sollten, nämlich buchstäblich, im übertragenen Sinne, allegorisch und als eine Darstellung spekulativer Möglichkeiten (eschatologisch), und dass die wortwörtliche Lesart keinerlei Vorrang beanspruchen könne und oftmals ganz und gar unangebracht sei.
99 Kanonbildung Das sola scriptura verlangte robuste Ansichten zur Unverfälschtheit einzelner Texte, doch die protestantischen Vorstellungen zur Autorität der Heiligen Schrift machten es darüber hinaus erforderlich, die Bibel als einen geschlossenen Kanon einzigartig heiliger Texte zu betrachten. Der jüdischchristliche religiöse Monotheismus konnte sich zwar nicht immer gegen die Kräfte des Synkretismus, der Assimilation und der Synthese behaupten, doch sein grundlegender Impuls war von Anfang an negierend und exkludierend: Er war eine Form, »andere Götter« auf das Energischste zurückzuweisen – man denke nur an den Propheten Elija in 1 Könige 18 und seine Abschlachtung von 450 Propheten des Baal. Das wichtigste Werkzeug des biblischen Monotheisten war nicht die Maurerkelle, um ein Pantheon zu bauen, sondern der Hammer, um Götzenbilder zu zerschmettern. Entsprechend war es für die Sammlung von Schriften, die zur Bibel wurden, ganz entscheidend, einen Korpus zu bilden, der einige als einzigartig spezifizierte Texte einschloss, aber auch bestimmte Dinge
ausschloss. Wie hat dieser Mechanismus der Einschließung und des Ausschlusses tatsächlich funktioniert? Bei der Reihe von Schriften, die schließlich das Neue Testament der Christen bilden sollten, hatte man mehrere historische Prozesse zu unterscheiden. Als Erstes entwickelte sich – ungefähr in den Jahren 70 bis 150 nach Christus – die Textgattung der »Evangelien«, von denen zahlreiche entstanden. Einige davon wurden als gewichtiger, bedeutender oder erbaulicher angesehen als andere – sogar als heilig. Mittlerweile wissen wir von dreißig oder vierzig Evangelien, die um diese Zeit geschrieben wurden. Dann schälte sich allmählich die Idee heraus, dass 100 es einen »Kanon« (wie er später genannt wurde) von Werken geben sollte, welche als Teil der »Heiligen Schrift« zu betrachten seien, bei gleichzeitigem Ausschluss aller anderen Werke. Es ist wichtig zu erkennen, dass diese Idee eines Kanons nicht selbstverständlich ist. Man hätte genauso gut eine sehr viel entspanntere Haltung zu den Schriften einnehmen können, die in Umlauf waren, indem man sie auf einer Adhoc-Grundlage beurteilt und einige von ihnen als spirituell besonders erbaulich und andere als minder erbaulich eingeschätzt hätte, ohne gleich eine manichäische Einteilung in echte und apokryphe Schriften vorzunehmen.7 Sobald man den Gedanken gefasst hatte, dass es einen Kanon geben solle, musste man also damit anfangen, darüber zu diskutieren, welche von den Hunderten zirkulierenden Büchern – »Evangelien« und andere Arten von Schriften, etwa Briefe – in den Kanon hinein gehörten und welche draußen bleiben mussten. Dieses Vorgehen war im Grunde genommen negativ, ein Vorgang der Exklusion, durch den einige Schriften radikal abgewertet, marginalisiert oder sogar unterdrückt wurden. Dieser Prozess fand hauptsächlich im 4. Jahrhundert nach Christus statt. Das Konzil von Nizäa, das von Kaiser Konstantin einberufen und von ihm sowie einer Gruppe hochrangiger Bischöfe geleitet wurde, spielte bei diesem Verfahren der Auswahl und des Ausschlusses eine sehr wichtige Rolle. Es ist von größter Bedeutung, dass sich dieses Konzil unter der Autorität von Konstantin versammelte und somit den Rückhalt der gesamten politischen und militärischen Stärke des römischen Imperiums
besaß und dass die Entscheidungen darüber, was zum Kanon gehörte und was nicht, mit seiner Autorität und der Autorität hochgestellter Bischöfe getroffen wurden. Doch warum erhielt der römische Kaiser überhaupt ein Mitspracherecht bei der Frage, welche Bücher als ka 101 nonisch einzustufen seien? Außerdem ist zu beachten, dass dies erst ungefähr dreihundert Jahre nach Jesus' Tod geschah – wie war also die Kirche zustande gekommen und wie hatte sie während dieser drei Jahrhunderte ohne »Heilige Schrift« funktioniert? Die Vorstellung von einem geschlossenen Kanon der Heiligen Schrift aus dem 4. Jahrhundert zurück in die Vergangenheit zu projizieren ist ein höchst spekulatives, anachronistisches Unterfangen. Wie wir wissen, wurden das Buch Jesaja und das Evangelium nach Johannes tatsächlich als Bestandteil des Kanons akzeptiert, das Buch der Jubiläen und das ThomasEvangelium hingegen nicht. Krigler war es deshalb ausnehmend wichtig, dass wir die Frage, zu welcher Zeit beispielsweise das MatthäusEvangelium verfasst wurde, stets von der Frage unterscheiden, wann es als kanonisch, das heißt als Bestandteil der »Heiligen Schrift« anerkannt wurde (anstatt lediglich ein Text zu sein, den man je nach Geschmack und Umständen lesen und zitieren mochte oder auch nicht), und er bestand darauf, dass dies zwei Dinge seien, die auseinandergehalten werden müssten. Zu behaupten, die Heilige Schrift allein genüge und solle die Grundlage des Christentums sein, implizierte schon das Wissen, was als kanonischer Bestandteil der Heiligen Schrift galt. Würde man dies historisch betrachten, dann erschiene es vernünftiger, Luthers Devise umzukehren. Es war nicht so, dass die Kirche allein auf der Schrift beruhte, sondern es war umgekehrt: Was als Heilige Schrift galt, beruhte auf den Entscheidungen der Kirche. Die Heilige Schrift besaß ihren Status kraft der Vertreter kirchlicher Institutionen, die sie akzeptiert, anerkannt und sich für sie verbürgt hatten. Das sola scriptura wörtlich zu nehmen, ergab eine reductio. 102 Wenn man wirklich irgendeine Person der modernen Zeit, zum Beispiel eine Bürgerin Philadelphias, Ankaras oder Nairobis im Jahr 1960, ohne weiteres
mit einem Text konfrontieren würde, der aus dem »Neues Testament« genannten Konvolut stammt, würde und könnte das für sie buchstäblich nichts bedeuten, weil das, was wir »den Text« nennen, eigentlich nichts anderes war als eine Ansammlung schwarzer Zeichen auf einer Seite, die den konventionellen Schriftzeichen entsprachen, aus denen sich Wörter in Koine-Griechisch zusammensetzen. Den Text allein zu lesen (sola), konnte nie ausreichen, weil kein Mensch jemals nur den Text las; man las die Zeichen auf der Seite durch die Linse von zweitausend Jahren Gelehrsamkeit, die darauf ausgerichtet war, die Bedeutung der griechischen Begriffe so klar wie möglich zu machen. Oder noch wahrscheinlicher, man las ihn gefiltert durch die vielfältigen Aktivitäten von Generationen von Geistlichen, Pastoren, Pfarrern, Wissenschaftlern und Bürokratenkommissionen, die eine Übersetzung ins Englische (oder irgendeine andere Volkssprache) anfertigten.8 Mit einer eher heideggerianischen Methode (die Krigler bevorzugte) las man den Text durch die zweifache Linse von zweitausend Jahren Kommentierung und der eigenen unmittelbar existenziellen Erfahrung, die sich noch einmal anders auf das auswirkte, was man verstehen konnte.9 Diesen ganzen komplizierten, langwierigen historischen Prozess zu umgehen, indem man ruft »Das Wort sie sollen lassen stan«, durchschlug den gordischen Knoten nicht, auch wenn Luther das geglaubt haben mag; es brachte den Leser um jede Bedeutung und jede Möglichkeit, den Zugang zu einem nichtarbiträren semantischen Gehalt zu finden. Der wahre Gehalt des sola scriptura war genau das: die von Prinzipien geleitete semantische Leere. Natürlich hatten Luther und andere dies nicht 103 wirklich beabsichtigt. Sie meinten nicht »Lies nur die Heilige Schrift«, sondern »Lies nur meine Fassung auf meine Weise«. Dies beinhaltete allerdings, dass in dem Projekt eine gewisse Scheinheiligkeit steckte. Luther gefiel es ganz und gar nicht, wie der Bauernführer Thomas Müntzer die Heilige Schrift las, und er rief die Fürsten auf, das Schwert zu gebrauchen, um Müntzer vom Irrtum seiner eigenwilligen Lesart zu überzeugen. Diesen Gefallen taten sie ihm gern.10 Wir Schüler lasen zusammen (in Ausgaben mit modernisiertem Deutsch) Luthers Sendbrief vom Dolmetschen und einige Teile des Traktats,
mit dem er die Fürsten ermutigte, die »räuberischen und mörderischen Rotten der Bauern« mit dem Schwert zu töten. Beide Texte wurden als wichtige Bezugspunkte angesehen, und es gab so etwas wie eine stillschweigende Unterstellung, dass die zwei in irgendeiner unbestimmten Weise zusammengehörten. Luthers Sendbrief vom Dolmetschen sei eine sehr ernsthafte Betrachtung des Übersetzens, wobei dieser Brief, wenn man ihn aufmerksam lese, eine Verteidigung der nichtwörtlichen Übersetzung sei, sagte Krigler; daher sei es widersinnig, sich auf ihn zu berufen, um eine buchstabengetreue Interpretation der Heiligen Schrift zu rechtfertigen. Schließlich sei die Grundthese des Briefes in einer Weise formuliert, die man nur als eine Metapher bezeichnen könne. Ein Übersetzer solle »denselbigen [dem Volk] auf das Maul sehen«, schrieb Luther und meinte damit so viel wie, von einer möglichst volkstümlichen, verständlichen Ausdrucksform Gebrauch zu machen. Zum einen sei damit nicht wörtlich gemeint, die Mundhöhle in Augenschein zu nehmen, und zum anderen seien die gebräuchlichsten verständlichen Ausdrücke in jeder Sprache und egal zu welcher Zeit ihrerseits völlig von Metaphern durchsetzt. 104 Wenn jedenfalls ein wahrhaft transzendentaler Gott seinen endlichen menschlichen Geschöpfen wirklich irgendetwas Besonderes mitzuteilen hätte, wäre es dann denkbar, dass dies irgendetwas Einfaches oder Eindeutiges sein könnte? Warum sollten wir annehmen, dass unsere eigene, ganz auf den Menschen zugeschnittene Sprache, die unsere hochgradig spezifischen, beschränkten und provinziellen Erfahrungen widerspiegelt, überhaupt ein geeignetes Vehikel für diese Botschaft wäre? Jede wahrhaft göttliche Rede würde unsere Sprache zur Unkenntlichkeit verbiegen, verformen, entstellen und bersten lassen und wäre notwendig von etwas durchdrungen, was wir als Tropen, Metaphern, Paradoxien sowie einen hochgradig bildlichen und nichtwörtlichen Sprachgebrauch wahrnehmen würden, der komplizierte interpretative Prozesse erfordern würde, um ihm überhaupt irgendeine Bedeutung abzugewinnen. Sogar von unserem eigenen menschlichen Standpunkt betrachtet ist unsere Welt längst nicht so einfach, wie sie die Lutheraner gern hätten. Hierzu müsse
man den Protestanten die richtigen Fragen stellen, sagte Krigler, nämlich die, warum sie vor Komplexität so viel Angst hätten, warum sie ein derart starkes Bedürfnis nach simplen Antworten für die Probleme des menschlichen Lebens hätten und warum sie glaubten, dass Gottes Absichten leicht zu verstehen wären.
Unfehlbarkeit Kriglers Angriff auf die Idee der »Autorität« fand seine Fortsetzung, als er die historische Tatsache erörterte, dass die Unfehlbarkeit des Papstes – für Protestanten verständlicherweise ein besonderes Schreckgespenst – eine Neuerung sehr jungen Da 105 tums war. Es sei ein klarer Fehler zu meinen, dass das Prinzip Extra ecclesiam nulla est salus an sich irgendeinen Anspruch auf Unfehlbarkeit beinhalte. Zu sagen, man könne mitten auf dem Ozean nicht überleben, es sei denn, man befände sich auf einem Schiff, impliziere keineswegs, dass die einander ablösenden Kapitäne des Schiffs immer wüssten, was sie tun. Außerdem sei es so, dass »Kirche« in der katholisch theologischen Ausdrucksweise normalerweise nicht ausschließlich die soziale Institution mit Sitz in Rom meine, sondern es sich dabei um ein gedankliches Konstrukt handele, das in erster Linie die »Gemeinschaft der Heiligen« bezeichne, von denen manche lebendig sein könnten (ecclesia militans), andere aber ganz bestimmt bereits tot seien (ecclesia triumphans). Etwas Ähnliches, sagte Krigler, mache es den Kommunisten so schwer, die Partei zu verlassen, selbst wenn sie mit der jeweils aktuellen Führung überhaupt nicht einverstanden seien. Außerhalb der kommunistischen Partei gebe es für sie nur Chaos, Sinnlosigkeit und Belanglosigkeit, und ein Schiff mit Kurs in die falsche Richtung sei daher immer noch besser als ein Sprung ins offene Meer. Während des Mittelalters und in der frühen Neuzeit hatten alle Katholiken irgendeine Form des päpstlichen Primats (mehr oder weniger) anerkannt – der Papst war eindeutig der primus inter pares unter den
Bischöfen der Westkirche. Einzelne Päpste versuchten, dieses Kräfteverhältnis so stark wie möglich in die Richtung einer Form der qualitativen Überlegenheit zu verschieben, vielleicht nach dem Modell des maius imperium, wie es der römische Kaiser innehatte. Doch selbst von da war es immer noch ein großer Schritt zur Lehre von der Unfehlbarkeit. Tatsächlich erkannten alle orthodoxen Ostkirchen an, dass der Papst einen besonderen Platz der Wür 106 de und Ehre einnahm, ohne dabei irgendwie der Ansicht zu sein, dass er die höchste Rechtsprechungsbefugnis in Angelegenheiten kirchlicher Disziplin ausüben oder in theologischen Fragen als unwiderleglicher Kirchenlehrer auftreten konnte. Traditionell hatte es im Katholizismus eine Vielzahl von anerkannten, unterschiedlichen Quellen der moralischen und theologischen Führung gegeben. Dazu gehörten Vernunft, Tradition, consensus omnium fidelium, Offenbarung (beziehungsweise das, was die Lutheraner und protestantischen Fundamentalisten »die Schrift« nennen, was aber eigentlich eine etwas umfassendere Kategorie ist – wenngleich auf eine recht problematische Art), die Kirchenväter (nämlich die in Mignes Patrologia graeca und Patrologia latina enthaltenen Schriften) sowie die Entscheidungen des ökumenischen Konzils und das magisterium der Päpste. Unter diesen Quellen (und weitere waren prinzipiell denkbar) gab es keine klare und festgelegte Hierarchie. Idealerweise sollten sie wohl alle konvergieren, doch in Wirklichkeit war klar, dass sie das nicht taten, und so war es immer nötig, einigen mehr Gewicht zu geben als anderen. Einige Päpste versuchten zweifelsohne mit aller Macht, der Kirche eine pyramidenförmige Hierarchie aufzuzwingen, bei der sie selbst die Spitze bildeten, aber selbst in ihrem ausgeprägtesten Größenwahn tendierten sie dazu, sich selbst als letzte Interpretatoren und Schiedsrichter einer Wahrheit darzustellen, die schon da sei und uns in der Vernunft, den Kirchenvätern, der Offenbarung etc. zur Verfügung stehe. Das heißt, sie beanspruchten nicht, die alleinige und ausschließliche Quelle unfehlbarer Wahrheit zu sein. Schon die Pluralität der anerkannten Quellen der geistlichen Leitung an sich stellte eine hermeneutische Herausforderung dar. Sich theolo 107 gisch und moralisch zu orientieren beinhaltete daher,
den Umgang mit einer Vielzahl verschiedener Ansprüche zu erlernen und sie gegeneinander zu gewichten. Sie beinhaltete zudem die ständige Möglichkeit des Wandels. Denn wenn Gott sich in der Geschichte manifestierte, sollte der Glaube selbst vielleicht auch nicht als vollkommen unbeweglich aufgefasst werden. Dementsprechend müssten die Menschen möglicherweise lernen, in einem anhaltenden Zustand der Unsicherheit zu leben. Sola scriptura war so gesehen ein Ausdruck für die Unfähigkeit von Lutheranern, eine solche Unsicherheit auszuhalten. Die Cartesianer brachten etwas Ähnliches zum Ausdruck und machten es zum Lebenselixier philosophischer Tätigkeit. Als ich später an der Universität John Dewey und Adorno las, lernte ich, diese allgemeine Tendenz »die Suche nach Gewissheit« zu nennen und sie mit »der autoritären Persönlichkeit« in Verbindung zu bringen.11 So weit ging Krigler nicht, aber er wiederholte regelmäßig, dass die Lehre von der päpstlichen Unfehlbarkeit nicht vor dem 19. Jahrhundert verkündet worden sei, und in Anbetracht der Zeitspannen, mit der es die Kirche zu tun habe, sei das ja praktisch erst gestern gewesen. Später neigte ich dann zu dem Gedanken, dass der Katholizismus in diesem Fall den Protestantismus nachahmt, indem er nach einer einzigen, unanfechtbaren Autorität für sich suchte. So würde sich Krigler allerdings nie ausgedrückt haben. Seine Haltung dazu war vielmehr, dass die Lehre von der Unfehlbarkeit, wie sie im 19. Jahrhundert verkündet wurde, durch allerhand Vorbehalte eingeschränkt sei – eine vernünftige Interpretation dafür sei, dass der Papst zwar das letzte Wort habe, aber nur handeln könne, wenn er zuvor die Bischöfe konsultiert hätte, was ein wenig mit der Fiktion von der »Königin im Parlament« vergleichbar wäre, die in Großbritannien existiert. Na 108 türlich ließe das wiederum denkbar erscheinen, dass so wie »die Königin im Parlament« heute faktisch »das Parlament« bedeutet, »der Papst in Konsultation mit einem ökumenischen Konzil« irgendwann bedeuten könnte: »das Konzil«. Eine weitere Beschränkung bestand darin, dass die Unfehlbarkeit nur für die Interpretation bereits bestehender Lehren zu Fragen des Glaubens und der Moral gelten sollte, wenn sie ex cathedra geäußert wurde. Demnach würden die Stellungnahmen des Papstes zu
neuen Ereignissen oder Lehren überhaupt keinen besonderen Rang besitzen. Krigler pflegte häufiger etwas zu zitieren, das einer der Päpste in jüngerer Zeit gesagt hatte, und dann zu erklären, da der Papst es gesagt habe, müsse es zwar als eine Möglichkeit ernsthaft in Betracht gezogen werden, doch eigentlich sei es plausibler, eine andere Auffassung zu haben. Hier darf man sich nicht verwirren lassen, indem man das ursprünglich antike römische Konzept der auctoritas mit moderneren Konzeptionen verwechselt. Auctoritas ist ein abstraktes Substantiv, das aus auctor gebildet wird, was wiederum nicht, wie wir vielleicht denken könnten, »Autor« in unserem Sinne des Begriffs bedeutet, das heißt »Initiator«, also eine Person, die irgendein Vorhaben beginnt, startet oder unternimmt, die sozusagen die Saat sät, aus der etwas hervorgeht. Auctor leitet sich vielmehr aus augeo (griechisch αὐξάνω) ab, was »vergrößern, erweitern, steigern« heißt. Meine Betätigung als ein auctor ist also stets wesentlich auf irgendeine andere Tätigkeit gerichtet, und zwar in erster Linie auf das Handeln einer anderen Person, das als etwas gedacht wird, das bereits wirksam ist und das ich erweitere, steigere oder verstärke, indem ich es »gutheiße« oder »bekräftige«, wie man vielleicht sagen könnte. Wenn man sich den Senat als die höchste Verkörperung der 109 auctoritas in der römischen Republik vorstellt, wird man mit besonderem Interesse feststellen, dass dessen wichtigste Tätigkeiten zweifacher Natur waren: Erstens konnte der Senat die Vorzüge von Maßnahmen erörtern, welche die Magistrate ins Auge gefasst hatten, vorausgesetzt, die besagten Magistrate fragten den Senat nach seiner Meinung – das heißt, er konnte über die von einer anderen Person vorgeschlagene Maßnahme beraten, wenn diese andere Person um eine solche Beratung bat, und er konnte eine Meinung dazu abgeben. Zweitens konnte der Senat Entscheidungen bestätigen, die verschiedene Volksversammlungen bereits getroffen hatten. Theodor Mommsen nennt die zweite dieser Tätigkeiten »formal notwendig« und die erste eine reine Angelegenheit der Zweckdienlichkeit und Ratsamkeit.12 In beiden Fällen ist aber das Organ mit auctoritas, der Senat also, nicht der wirkliche Initiator, sondern ein Gremium, das auf eine
Frage, die an es herangetragen wurde, mit einer Meinung reagiert, nicht mit einer Anweisung. Die typische römische Ausgangslage ist also folgende: Ein Magistrat M entscheidet, X zu tun, und behauptet dann, dies »mit der Autorität des Senats« zu tun, was nicht unbedingt, ja noch nicht einmal üblicherweise bedeutet, dass der Senat die Diskussion von X in die Wege geleitet hat, und gewiss nicht, dass der Senat M angewiesen hat, X zu tun. Es ist nicht Sache des Senats, irgendjemandem irgendwelche Anweisungen zu geben, sondern er erteilt senatus consulta – gibt Meinungen über verschiedene Angelegenheiten ab. So beansprucht M, dass er aus welchem Grund auch immer entschieden hat, X zu tun, und unterstellt stillschweigend, dass er die Macht (potestas) hat, diese Entscheidung zu treffen. Er bittet dann den Senat um Unterstützung, der somit seine Entscheidung »intensiviert« oder »verstärkt«. 110 Das unterscheidet sich sehr von der modernen Idee des »Autoritarismus« eines Despoten, Tyrannen oder Diktators. Die Autorität eines solchen Diktators wird nicht als seine Fähigkeit ausgelegt, einem Vorhaben, das jemand anders, der dazu befugt ist und den Wunsch hat, es anzugehen, die Bestätigung zu erteilen, sondern als seine Fähigkeit, neue Projekte in die Wege zu leiten und Menschen dazu zu bringen, ohne (allzu viel) Widerstand zu tun, was er befiehlt. Der Gegensatz wird besonders deutlich, wenn man ein paar Beispiele betrachtet. Mussolini entscheidet, die Pontinischen Sümpfe trockenzulegen, oder Stalin beschließt eine Operation zur Entkulakisierung, und sie beide haben die Macht (wie die antiken Römer sagen würden) und die Autorität (wie wir Modernen sagen würden, nicht aber die Römer), ihr Volk dazu zu bringen, diese Politik zu übernehmen. Stalin ordnet die Entkulakisierung gewissermaßen »kraft seiner Autorität« an. Octavian, der spätere Kaiser Augustus, stellte als junger Mann von gerade einmal neunzehn Jahren eine Privatarmee auf, um vorgeblich den Tod seines Adoptivvaters Julius Cäsar zu rächen. Er tat dies, obgleich er kein Magistrat innehatte und ohne die Billigung oder den Rat des Senats dafür zu suchen. Wir modernen Menschen könnten versucht sein zu sagen, dass er »kraft seiner Autorität« handelte, doch
bemerkenswert ist, dass Augustus selbst im offiziellen Rechenschaftsbericht über sein Leben und seine Taten (Res Gestae) noch Römer genug ist, die Dinge nicht so zu formulieren. Er beschreibt diese außerrechtliche große Initiative von ihm, ohne das Wort auctoritas zu gebrauchen: Er sagt, er habe privato consilio gehandelt – aus privatem Ratschluss aufgrund eigener Überlegungen, das heißt nach keinem durch den Senat ratifizierten Entschluss.13 Wenn man von den allgemeinen Vorbehalten nicht über 111 zeugt sei, die er zur Idee der Autorität vorgebracht habe, und weiter in dieser Begrifflichkeit denken möchte, sagte Krigler, sei es im Fall der päpstlichen Unfehlbarkeit der ursprüngliche römische Sinn von Autorität, den man anwenden müsste: Die Autorität des Papstes bestehe darin, Lehren zu bestätigen und zu bestärken, die von den Gläubigen bereits akzeptiert worden seien, und dies sei tatsächlich die Form, in der päpstliche Dokumente normalerweise abgefasst seien. »Res novae«, »etwas Neues«, ist im päpstlichen Diskurs kein Ausdruck des Lobes. Der Papst achtet immer stark darauf zu betonen, dass er mit seiner Autorität eine seit langem bestehende Praxis oder Glaubensauffassung der Gläubigen gutheißt. Man kann natürlich die ganze Idee, dass der Papst in Glaubensund Moralfragen eine unfehlbare Autorität besitzt, ablehnen, und als die Lehre von der Unfehlbarkeit im 19. Jahrhundert eingeführt wurde, behauptete der damalige Papst zwar, er kodifiziere lediglich eine bestehende Praxis, die seit Jahrtausenden existiere und allgemein anerkannt sei. Die Bischöfe einiger katholischen Kirchen hielten aber dagegen, sie hätten von dieser Praxis bisher nichts gehört, und verwarfen sie. Manche von ihnen spalteten sich ab und wurden Mitglieder der »Altkatholischen Kirche«, wie sie heute genannt wird. Die Mitglieder dieser Kirche würden die Situation sicherlich nicht so beschreiben, sie würden jedoch geltend machen, dass sie ihre Religion einfach weiterhin so praktizierten, wie sie es immer getan hätten, während die römischkatholische Kirche als übergroße Mehrheit die neuartige, völlig unbekannte Idee eingeführt habe, dass der Papst unfehlbar sei.
Doch selbst wenn man die Unfehlbarkeitslehre nicht rundweg ablehnt, lässt sich natürlich feststellen, dass sie für den Papst und seine Entourage äußerst praktisch ist, leicht miss 112 bräuchlich verwendet werden kann oder aus irgendeinem anderen Grund gefährlich oder nicht ratsam ist. Das mag alles vollkommen richtig sein, fuhr Krigler mit seiner Erläuterung fort, die Lehre unterscheide sich allerdings konzeptuell immer noch sehr von der Vorstellung, dass sich eine einzelne Person eines Tages in ihren Sessel setzt und eine großartige neue Idee hat, die sie für unfehlbar erklärt, und die Menschen anweist, sie zu glauben. Die Autorität des Papstes war wie die auctoritas des römischen Senats – eine Meinung, bei der es leichtfertig wäre, sie nicht zu berücksichtigen, die aber nicht allgemein verbindlich sei. Selbst wenn ein senatus consultum in irgendeinem unbestimmbaren Sinn mehr Gewicht hatte als bloß eine Empfehlung, war er genaugenommen keine Anweisung. Im Falle der »unfehlbaren« Autorität in Angelegenheiten des Glaubens und der Moral war diese Autorität in den oben erörterten Hinsichten auf die Bestätigung der existierenden Praktiken und Glaubensauffassungen beschränkt, und wenn es heiße, sie sei »unfehlbar«, sage man damit, dass man grundsätzlich nicht vom rechten Weg abkommen könne, wenn man ihr folge. Das bedeutete aber nicht unbedingt, dass dies der einzig gangbare Weg wäre. Wenn man in den Bergen von Punkt A zu Punkt B gelangen will, ist es in hohem Maße nützlich, den unfehlbaren Hinweis zu bekommen, dass dieser bestimmte Pfad verlässlich von A zu B führen wird, und es dürfte im Allgemeinen leichtsinnig sein, diesem Pfad nicht zu folgen. Doch all das ist völlig vereinbar mit dem Vorhandensein anderer Pfade, die ebenfalls zu B führen. Es ist zudem vereinbar mit der Entscheidung eines Individuums, einem anderen vorhandenen Pfad zu folgen (oder sogar nach einem anderen Pfad zu suchen, der noch nicht ausgewiesen ist). Nichtkatholiken im 21. Jahrhundert wird das wie ziemlich 113 dünnes Bier vorkommen, was es in der Tat ist. Eine Anstiftung zum Autoritarismus ist es aber auch nicht gerade.
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Menschliche Vielfalt Das menschliche Wesen ist ebenso leicht der Menschenfresserei fähig wie der Kritik der reinen Vernunft. – Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften Die Lehrer meiner Schule unternahmen nicht nur allgemeine Angriffe auf das Konzept der Autorität, sondern unterminierten einen potenziellen Autoritarismus außerdem in einigen subtileren und indirekten Formen, die allgegenwärtiger und zugleich weniger leicht zu fassen, aber trotz allem wirksam waren. Zu sagen, dass der Autoritarismus mit der Idee verbunden sein muss, dass es nur eine recht kleine Menge akzeptabler Arten des Lebens für den Menschen gibt, ist vielleicht nicht ganz korrekt. Im Prinzip kann man unterscheiden zwischen meiner nachdrücklichen Aufforderung, dass Sie tun, was ich sage, ohne dass ich Ihnen irgendwelche Gründe dafür angebe (abgesehen von der Tatsache, dass ich es will), und meiner Behauptung, dass es nur eine Handvoll akzeptabler Arten des Lebens gibt. Doch im Grunde genommen scheint die Anerkennung einer großen Vielfalt von Menschenschlägen und die Ermutigung, von Normen und Erwartungen abzuweichen und mit Lebensformen zu experimentieren, mit dem Ethos des Autoritarismus nicht gut zusammenzupassen. Wie viel Vielfalt umfasste der Katholizismus, der in meiner Schule gepredigt wurde?
116 Verlaine und
Villon
Der Direktor meiner Schule, Pater Stephen Senje, unterrichtete auch Mathematik – ich hatte Differential- und Integralrechnung bei ihm –, doch Mathematik zu unterrichten war nur sein Beruf. Seine wirkliche Liebe galt der französischen Literatur. Ich erinnere mich sehr deutlich an zwei seiner Sonntagspredigten, die eine zu Verlaine und die andere zu Villon. Senje sprach erst über Verlaines ausschweifendes Leben, seinen Alkoholismus, seine Drogenabhängigkeit, die Trennung von seiner Frau, die er im Stich ließ, um Rimbaud zu folgen, seine Gefängnisstrafe für den Mordversuch an Rimbaud, und dann über seine Reue und das Bedauern, seine Jugend vertan und vergeudet zu haben. Er erwähnte das berühmte Foto des kahlköpfigen, gealterten Verlaine, der besonders hinfällig aussieht, wie er da allein an einem Ecktisch mit Marmorplatte in einem Pariser Café sitzt und etwas trinkt, das vermutlich Absinth ist, während neben seinem Glas und der Karaffe anscheinend ein Tintenfässchen auf dem Tisch steht. Senje redete in aller Ausführlichkeit über Verlaines Gedichtsammlung Sagesse, deren Gedichte vielfach einen explizit religiösen Inhalt hatten.1 Er erörterte allerdings auch ausführlich ein sprachlich und metrisch sehr einfaches Gedicht, das Gott überhaupt nicht ausdrücklich erwähnte: Le ciel est par dessus le toit. In diesem Gedicht beschreibt Verlaine das klare Blau des Himmels und die Ruhe des unspektakulären Alltagslebens und kontrastiert beides mit dem zunehmenden Bewusstsein zu altern und dem stärker werdenden Reuegefühl beim Gedanken daran, wie er sein Leben verbracht hat. Das Gedicht endet mit Zeilen, die wir Senje in verschiedenen Zusammenhängen noch öfter wiederholen hörten: 117 Qu'as-tu fait, ô toi que voilà
pleurant sans cesse,
dis, qu'as-tu fait, toi que voilà
de ta jeunesse?
Was weinst du bei Tag im Stillen,
weinst laut in der Nacht?
Was hast du, um Gottes Willen,
aus deiner Jugend gemacht!
Abb. 1: Verlaine in einem Café (INTERFOTO/Friedrich).
Dieses ziemlich sentimentale Gedicht wird vielleicht nicht als eine sonderlich bedeutsame Anerkennung menschlicher Vielfalt aufgefasst werden, da Verlaines Leben nach einem für das religiöse Leben üblichen Muster verlief, in dem auf tiefe Sündigkeit schließlich die Reue folgt. Gleichwohl konnte Senjes 118 unerschrockene und eigentlich eher bewundernde Schilderung von Verlaines Leben, einschließlich einiger der Episoden, die für traditionellere Formen der katholischen Moral völlig unannehmbar wären, ihre Wirkung nicht gänzlich verfehlen. Bei Villon lag der Fall komplizierter, zum Teil wegen des Mangels an Informationen, die wir über ihn haben, und zum Teil wegen des Fehlens jeder Möglichkeit, ihn auf der Grundlage dessen, was wir wissen, in das Sünde-Reue-Schema einzuordnen. Dokumentiert war immerhin, dass er in einen Mord und in mindestens einen Einbruchsversuch verwickelt
gewesen war, und natürlich war Mord eine schlimme Sache. Das Nachdenken über Menschen im Mittelalter sei immer eine Angelegenheit von kleinen Lichtinseln in einem Meer der Dunkelheit, sagte Senje, und im Fall von Villon sei es irgendwie passend, deutete er an, dass die ihn betreffenden Aufzeichnungen irgendwann einfach abbrachen, ohne uns wissen zu lassen, was schließlich aus ihm wurde. Senje empfand diesen Umstand offenkundig als etwas, was ihn nicht losließ. Auch wenn in keinem der Gedichte irgendein besonderer religiöser Gehalt zu finden und keine wie auch immer geartete Reue dokumentiert war, hatte man sich des Urteils über ihn zu enthalten. Doch allein die Tatsache, dass Senje ihn thematisierte und mit solch positiven und nichtmoralisierenden Begriffen über ihn und die Kraft seiner Poesie sprach, hinterließ einen unvergesslichen Eindruck bei mir. In beiden Fällen, sowohl in Senjes Predigt über Verlaine als auch in seiner Predigt über Villon, lag die Betonung auf der Kompliziertheit, die dem menschlichen Leben innewohnt, auf der Schwierigkeit des Urteilens, der Unüberschaubarkeit von Wahlentscheidungen und der Undurchsichtigkeit späterer Ergebnisse. Diese psychologisch subtilen, tastend und explorativ 119 vorgehenden Diskurse waren, was sowohl ihre rhetorische Tonlage als auch ihren tatsächlichen Inhalt angeht, nicht im Entferntesten von der Sorte Predigten, wie ich sie sonntags in der örtlichen Pfarrkirche unweit des Stahlwerks, in dem mein Vater arbeitete, zu hören gewohnt war. Letztere waren entweder routinemäßig oder stark ermahnend, wenn nicht gar einschüchternd, und in beiden Varianten sehr plump.
Religion: Offenbarung, Ethik, Ästhetik Schon damals schien es mir so, als bekäme Villon eine Sonderbehandlung, einen riesigen Vertrauensvorschuss, weil er ein großer Dichter war. Ich fand das bemerkenswert, aber diejenigen, die einen stärker kantianischen
Ansatz verfolgen, der von sehr vielen modernen Philosophen vertreten wird, werden das wohl weniger bemerkenswert als vielmehr zutiefst schockierend finden. Die Kantianer bestehen auf zwei Dingen. Erstens darauf, dass man Ethik und Ästhetik strikt trennen muss. Das Schöne, das Angenehme, das Erhabene mögen zwar zur gesamten Sphäre des Ethischen in irgendeiner vagen symbolischen Beziehung stehen, aber ein Handeln wird nicht dadurch moralisch richtig, weil es beispielsweise schön ist, und die abschließende Beurteilung einer Person muss eine moralische Beurteilung sein und sollte nicht in irgendeiner Weise davon abhängen, welche ästhetischen Qualitäten das Leben der Person hat oder ob sie große Kunstwerke schuf oder nicht schuf. Zweitens behaupten sie, dass Religion nur mit Ethik zu tun hat oder jedenfalls »eigentlich« zu tun haben sollte. Natürlich werden geschichtsträchtige Religionen auch einige kosmologische Spekulationen enthalten, dazu Maximen der Klugheit, 120 kleine Anteile erfahrungsgestützter guter Ratschläge, kulturelle Forderungen und zeremoniellen Unsinn, der um der rhetorischen Wirkung willen hinzukommt, doch man nimmt an, dass diese Dinge leicht herausgefiltert werden können und die Quintessenz der Religion, die dann übrig bleibt, eine reine Morallehre sein wird, die allein auf die Prinzipien der Vernunft gegründet ist. Bei einer solchen reinen Moral wird der einzige Inhalt der (kategorische) Imperativ sein, den wirklich universellen Regeln zu folgen. Kant geht sogar so weit zu sagen, dass wir die Handlungen von Jesus (»der Heilige des Evangelii«) als gut beurteilen, weil wir sie religionsunabhängig als Handlungen einschätzen, die mit dem kategorischen Imperativ vollkommen im Einklang stehen.2 Wahrscheinlich ist das keine Auffassung, die sich einem ernsthaft religiösen Gläubigen empfiehlt. Søren Kierkegaard, ein an meiner Schule viel gelesener und häufig zitierter Autor, verwarf sie jedenfalls ganz, indem er in Furcht und Zittern argumentierte, das, was er eine »teleologische Suspension des Ethischen« nannte, sei für die religiöse Sphäre charakteristisch.3 Als Gott Abraham auffordert, Isaak zu opfern, ist Abraham bereit, der Aufforderung nachzukommen, und schiebt alle
moralischen Rücksichten beiseite (»hebt sie teleologisch auf«), die dagegen sprechen, diese Handlung überhaupt zu erwägen. Wenn diese Art von Ereignis für die biblische Geschichte zentrale Bedeutung hat, dann kann das Christentum nicht so ausgelegt werden, als sei es im Grunde genommen eine Form von rationaler Moral, was immer es sonst sein mag. Krigler hatte eine etwas andere Einstellung dazu als Kierkegaard. Er pflegte zu sagen: »In der Offenbarung wurden das Ethische und das Religiöse durcheinandergebracht.« Ich habe nie wirklich herausfinden können, was er damit genau meinte, 121 aber im Großen und Ganzen war die Richtung seiner Bemerkung ebenso wie einige ihrer Implikationen klar. Erstens wollte er damit geltend machen, dass im Gegensatz zu dem, was (seines Erachtens) die Protestanten meinten, die »Offenbarung« durchaus konfus sein konnte. Die Protestanten irrten sich grundlegend darüber, wie »Inspiration« zu verstehen sei. Die Autoren der Schriften, die in den Kanon eingingen, waren zwar inspiriert, aber sie waren inspirierte Menschen. Da sie inspiriert waren, konnten sie nicht grundsätzlich und vollständig fehlgeleitet sein, da sie aber Menschen waren, konnten sie durcheinanderkommen und Fehler machen, und viele Texte in der Bibel seien einfach verworren. Zweitens war Krigler offenkundig der Ansicht, dass Kierkegaard den Kantianern zu viel Boden überließ, indem er ihre enge Konzeption des »Ethischen« übernahm. Das »Ethische« sollte ein viel weiteres Spektrum löblicher Dispositionen, Handlungen und Verhaltensformen umfassen als nur die, bei denen Kant einen echten moralischen Wert sah. Es war sicherlich nicht darauf beschränkt, lediglich allgemeingültigen Prinzipien zu folgen. Drittens war mit der Äußerung, das Ethische und das Religiöse seien »durcheinandergebracht« worden, nicht gesagt, dass sie trennscharf geschieden waren oder überhaupt prinzipiell trennscharf unterschieden werden konnten. Vielleicht war ja eine bestimmte Art von Konfusion die Situation, in der sich die Menschen unausweichlich befanden. Ein Punkt, in dem Krigler, anders als im Hinblick auf Kant, mit Kierkegaard übereinstimmte, war allerdings die Auffassung, dass die »Ethik« (sogar in einem weiter gefassten Sinn als dem bei Kant) beim
Nachdenken über das menschliche Leben nicht der endgültige Rahmen sein sollte. Die Beispiele dafür, auf die er immer wieder zurückkam, stammten aus dem 122 Alten Testament. Warum wurde jemand wie Isaak dort überhaupt namentlich erwähnt, wo er doch für sich genommen ein völlig farbloser Niemand und augenscheinlich nur deshalb von Bedeutung war, weil er die Rolle eines potenziellen Menschenopfers einnahm, als Abraham von Gott geprüft wurde? Und was noch mehr zur Sache tut: Jakob, der Sohn Isaaks, war, unter einem menschlichen Gesichtspunkt betrachtet, einfach ein Trickbetrüger und in keinerlei Hinsicht moralisch bewundernswert. Das war der entscheidende Punkt. Sie waren nicht wegen ihrer moralisch vorbildlichen Charaktereigenschaften religiös bedeutsam, denn sie haben keine, wie die Autoren der biblischen Geschichten deutlich zu machen bemüht sind. Das heißt, die Autoren schlagen ein anderes, letzten Endes nichtmoralisches Schema vor, nach dem man sie prüft und beurteilt. Was für ein Schema das ist, mag nicht ganz klar sein – religiöse Wahrheiten sind selten klar, um auf das antiprotestantische Argument zurückzukommen –, aber es ist offensichtlich, dass Charisma (das Isaak vollkommen fehlte) und Moral (an der es Jakob mangelte) nicht dazugehören können, nicht einmal zwischen den beiden. Rückblickend ist leicht zu verstehen, wie jemand wie Georg Lukács, der in seiner Jugend stark von Kierkegaard beeinflusst war und der Moral einen eindeutigen, aber untergeordneten Platz innerhalb eines umfassenderen Schemas zuwies, das seine Struktur letztlich von der Religion erhielt, später, als er atheistisch dachte, versuchen konnte, die Religion als endgültigen Rahmen für die Beurteilung des menschlichen Lebens durch die Politik zu ersetzen.4 Es gab jedoch einen weiteren Aspekt an Senjes Obsession mit Villon, der nicht so sehr das Verhältnis zwischen dem Ethischen und dem Religiösen als vielmehr das Verhältnis zwischen diesen beiden und dem Ästhetischen betraf. Was Senje 123 hierzu sagte, scheint mir im Rückblick eine Vorwegnahme der philosophischen Diskussion über den »moralisch glücklichen Zufall« gewesen zu sein, die ausgehend von dem bedeutenden Aufsatz von Bernard Williams zu diesem Thema in den 1970er Jahren
stattfand.5 Paul Gauguin hatte das Glück, ein Genie zu sein. Das Gleiche gilt für Villon. Dies beeinflusst tatsächlich unser Urteil über sie, das ganz anders ausfallen würde, wenn beide das moralische Pech gehabt hätten, keine Genies zu sein (und nicht das Werk geschaffen zu haben, das uns mit seiner Tiefgründigkeit beeindruckt). Kantianer könnten sagen, wir »sollten« ihnen keine Sonderregelung angedeihen lassen, bloß weil sie zufällig Genies waren, doch Williams' Argument ist gerade, die Kraft dieses »Sollens« zu bestreiten. Senje wäre wohl geneigt gewesen, abzustreiten, dass es sich um eine Sonderregel, also um Sonderfälle handele, denke ich, weil das »moralische Sollen« im Allgemeinen nicht immer und ausnahmslos das letzte Wort hat, wenn Menschen und ihr Leben beurteilt werden.6 Senje würde dieses Phänomen nicht »glücklicher Zufall« genannt haben, weil er letztlich ein Theist war – er würde es vielleicht »Gnade« genannt haben, aber er tendierte dazu, es gar nicht zu benennen, sondern sich in seinen tatsächlichen Beurteilungen einfach auf es einzulassen. Was Senje und Krigler mit Kierkegaard gemeinsam hatten und was später von Williams als Thema aufgegriffen wurde, war der Unwille, die unangefochtene Absolutheit des Ethischen zu akzeptieren, und zwar insbesondere dann, wenn sie als eine Art von Regelbefolgung verstanden wurde. Die Moral war ein unverzichtbarer Teil des sozialen Lebens der Menschen, aber sie war nicht der endgültige Rahmen, und ebenjener endgültige Rahmen stand doch ein wenig quer zu ihr. Wenn man die theistischen Annahmen fallenlässt, kann man sich sogar vorstellen, dass es so et 124 was wie ein einziges letztgültiges Beurteilungsschema gar nicht gibt.
Aude discrepare Senje hatte noch eine weitere Eigenschaft, die fast zu einem sprachlichen Tick wurde. In seinen öffentlichen Ansprachen als Schulleiter pflegte er die Wendung »Wage es, anders zu sein« zu wiederholen, so als ob sie sein
eigenes privates ceterum censeo wäre. Ich glaube, als Emigranten empfanden er und die meisten anderen Priester den massiven kulturellen Konformismus in den Vereinigten Staaten der späten 1950er und frühen 1960er Jahre als äußerst repressiv, und dies umso mehr, als er nicht öffentlich eingestanden oder zugegeben wurde. Ich kann mich sehr lebhaft daran erinnern, dass ich damals dachte, »Wage es, anders zu sein« sei doch ziemlich platt und längst nicht so überlegt und differenziert wie das, was Senje normalerweise zu sagen hatte; es klang ein bisschen wie ein Werbeslogan. Vielleicht dachte er, in seiner Rolle als Schulleiter werde es von ihm erwartet, so zu klingen (eher in ihr als in seiner Rolle als Priester, die er in seiner bewundernswert reflektierten und forschenden Art bei der Sonntagsmesse ausfüllte). Die Verbalphrase war offenkundig an Kant angelehnt, dessen Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? wir gerade gelesen hatten.7 Kant definierte Aufklärung als die Anwendung der Maxime »sapere aude«, was er mit »Habe den Mut, Dich Deines eigenen Verstandes zu bedienen« wiedergab. Die Wendung stammt ursprünglich von Horaz.8 Kants Übersetzung wirkte einigermaßen weitschweifig: Aus zwei lateinischen Wörtern wurden im Deutschen neun, aber andererseits hatte man 125 uns stets darauf hingewiesen, dass das Lateinische eine besonders lapidare Sprache sei, und die Grenzen zwischen Übersetzung und Erklärung waren ohnehin unscharf und durchlässig, wie man uns mehrfach erklärt hatte. Doch selbst in diesem Zusammenhang erschien es höchst tendenziös zu behaupten, »sapere« bedeute »sich seines eigenen Verstandes zu bedienen«. Denn zunächst einmal heißt »sapere« so viel wie »sei vernünftig, sei besonnen, sei klug«, was nun keineswegs eine Bezugnahme auf den Verstand als ein spezielles geistiges Vermögen oder auf die Betätigung jenes Vermögens durch ein gegebenes Individuum zwingend beinhaltet. Und auch von einer Betonung der Notwendigkeit, den eigenen Verstand zu gebrauchen, wie sie in Kants Übersetzung enthalten ist, fehlt in dieser Formulierung einfach jede Spur. Wie mir erst viel später auffiel, entbehrt es nicht der Ironie, dass Kant gerade diese Textstelle anführt, denn in dem Originaltext ermahnt Horaz
den Adressaten seiner Epistel, Lollius, wenn er Rat brauche, solle er die Dichter und speziell Homer lesen, anstatt die Philosophen. Troiani belli scriptorem, Maxime Lolli,
dum tu declamas Romae, Praeneste relegi;
qui, quid sit pulchrum, quid turpe, quid utile, quid non,
plenius ac melius Chrysippo et Crantore dicit. Den Dichter des Trojanischen Krieges, mein Maximus Lollius, habe ich in Praeneste wieder gelesen, derweil du zu Rom im Deklamieren dich übst: was schön, was schlecht, was nützlich ist und was nicht, erklärt er genauer und besser noch als Chrysippus und Krantor.
Homer ist also ein besserer moralischer Ratgeber als ein Philosoph der Stoa. Nun würde Kant ganz sicher die moralische 126 Orientierung, die sein kategorischer Imperativ gibt, von jeder Erörterung des Schönen, des Hässlichen oder des Zweckmäßigen unterschieden haben. Allerdings war dies gewiss keine Unterscheidung, die Horaz gemacht hätte. Pulchrum, turpe, utile fasst für ihn eigentlich nur Dinge zusammen – auf jeden Fall Dinge ausschließlich in der menschlichen Welt. Besonders sinnlos ist es für Philosophen, guten Rat zu erteilen. So gab Antenor den sehr guten Rat (Ilias 3.347ff.), wie Horaz fortfährt, den Krieg zu beenden, indem man Helena zurückbringt und dadurch den Kriegsgrund beseitigt: Antenor censet belli praecidere causam. Antenor beantragt, des Krieges Ursache mit raschem Schnitt zu beheben.
Paris beeindruckt das überhaupt nicht: Quid Paris? Ut salvus regnet vivatque beatus cogi posse negat. Aber Paris? Er erklärt, man könne ihn nicht dazu zwingen [so zu handeln], daß er unversehrt herrsche und glücklich lebe.
Paris will sich nicht zwingen lassen – nicht einmal durch die sehr überzeugenden Argumente von Antenor. Troja wird unter anderem
deshalb zerstört, weil Paris es ablehnt, vernünftig und glücklich zu sein (sapere, vivere beatus). Horaz kann die Epistel schreiben und hat, wie er andeutet, zum Teil oder sogar ganz erheblich gelernt, »klug zu sein«, weil er ein literarisches Werk von Homer gelesen hat. Zumindest sagt er das. In Wirklichkeit, so könnte man vermuten, hatte seine Bekehrung dazu, »klug zu sein«, mehr damit zu tun, dass er im Bürgerkrieg erst auf der Verliererseite (der republikanischen Seite) gekämpft hat, 127 um dann aber sein Mäntelchen nach dem Wind zu hängen und ein Lakai des widerwärtigen Octavian (des späteren Kaisers Augustus) zu werden. Vielleicht »bediente er sich seines eigenen Verstandes«, als er für sich entschied, dass bei den Siegern zu Philippi mehr für ihn zu holen sei als bei den besiegten Republikanern. Und in der Tat schenkte ihm schließlich der Maecenas, einer von Augustus' Gefolgsleuten, ein Landgut, sein »Sabinum« (Satiren 2.6). Wie dem auch sei: Wenn Homer imstande war, Horaz zu verführen, indem er ihm ein Wissen davon einpflanzte, was schön, edel und nützlich ist, dachte sich Horaz vielleicht, dass er mit der Abfassung dieses Gedichts den Homer für Lollius oder sogar für den zeitgenössischen Leser spielen konnte. Seltsamerweise taucht in dieser Epistel eine Entsprechung zu Adornos »der Splitter in deinem Auge« auf, und zwar unmittelbar in dem Zusammenhang, in dem Horaz seine berühmte Ermahnung ausspricht: nam cur
quae laedunt oculum, festinas demere, siquid
est animum, differs curandi tempus in annum?
Dimidium facti, qui coepit, habet; sapere aude,
incipe. Vivendi qui recte prorogat horam
rusticus expectat dum defluat amnis; at ille
labitur et labetur in omne volubilis aevum. Warum eilst du zu entfernen, was das Auge stört, aber verschiebst, wenn es um den Geist geht, die Heilung um Jahre? Wer beginnt, besitzt bereits die Hälfte des ganzen Werkes – wage es, weise zu sein, fange an! Wer des rechten Lebens Stunde hinausschiebt, wartet wie jener Landmann darauf, daß des Flusses Wasser versiege [bevor er die Furt durchquert]; der aber gleitet dahin und wird weiter dahingleiten mit seinen Fluten wirbelnd in alle Ewigkeit.
Horaz glaubt offenbar, es sei eine dringliche, aber auch eine leicht zu bewältigende Angelegenheit: Entferne einfach den Splitter aus deinem Auge und dein Sehvermögen wird sich normalisieren. Tue es sofort – warum auch warten? Richtig leben (recte vivere) ist ebenfalls ein dringendes menschliches Anliegen, und Horaz stellt es als etwas dar, was genauso einfach ist wie eine Augenspülung. Adorno hingegen glaubt, dass es kein »richtiges Leben« in unserer Gesellschaft gibt. »Es gibt kein richtiges Leben im falschen«, wie er in einem seiner am häufigsten zitierten Apophthegmata formuliert.9 Den Splitter aus dem eigenen Auge zu entfernen, ist nicht so leicht, und ohne ihn sieht man die Welt nicht automatisch vollends so, wie sie wirklich ist, sondern man erleidet möglicherweise eine kognitive Einbuße (weil der Splitter wie ein Vergrößerungsglas funktioniert hat). Die Dringlichkeit, die Horaz ausdrückt, ist real, aber er geht davon aus, dass es einfach an uns liegt, seine Maxime – wage es, klug zu sein und richtig zu leben – zu übernehmen. Die hora recte vivendi, die Stunde dafür, richtig zu leben, ist immer dann gekommen, wenn wir die Entscheidung treffen, uns aufzuraffen und damit anzufangen. Was aber, wenn richtig zu leben einen Wandel der sozialen Bedingungen erfordern würde, unter denen wir leben, einen Wandel, bei dem es nicht in unserer Macht steht, ihn eigenständig in Gang zu setzen (und noch weniger, ihn zum Abschluss zu bringen)? Meine negative Reaktion auf das »Wage es, anders zu sein« war vielleicht in Wahrheit dem Missfallen daran geschuldet, dass Senje – ganz ungewöhnlich für ihn – diese Wendung ständig wiederholte, und zwar sogar in Zusammenhängen, in denen sie nur von geringfügiger Relevanz zu sein schien. Die Wendung an sich ist, wie ich meine, eigentlich kein bisschen 129 schlechter als Adornos »Ohne Angst verschieden sein können« (bis auf den Umstand natürlich, dass Adorno dies ein Mal niederschrieb und dann nicht wieder).10 Doch was immer man von der Ästhetik dieser Phrase halten mag, es ist schwer, »Wage es, anders zu sein« als eine Formel für Unterdrückung oder als eine Aufforderung zu geistlosem Gehorsam zu betrachten. 128
Auch Krigler liebte die schiere Vielfalt der menschlichen Bevölkerungsgruppen. In der New Yorker Untergrundbahn sah er sich einmal im Waggon um, der voller verschiedenster Menschentypen war, strahlte freudig und sagte, »Seht ihr die wahren Reichtümer New Yorks nicht?«. Ihm gefiel nicht nur die biologische Diversität unter den Menschen, sondern auch die große Vielfältigkeit menschlicher Persönlichkeiten und Lebensweisen. Ich erinnere mich an seine Diskussion von Charaktertypen. Was wichtig sei, sagte er, wäre doch, dass Heiligkeit kein Charaktertypus sei. »Gottgefälligkeit« möge zwar ein besonderer Charakterzug sein, der von bestimmten Protestanten in hohem Maße geschätzt werde, aber dies wäre eine zutiefst unkatholische Sichtweise. Einen »heiligen« Charakter gebe es nicht in der Weise, wie es einen phlegmatischen Charakter, einen cholerischen Typus oder eine extrovertierte Persönlichkeit gebe. Es gebe absolut keinen heiligen Willen, der in allen seinen möglichen Exemplifizierungen ein und derselbe wäre. Kant habe falschgelegen mit seinem Gedanken, dass es so etwas geben könne; es sei ein Kategorienfehler. Die Gemeinschaft der Heiligen umfasse eine enorme Vielfalt verschiedener Arten von Menschen – friedfertige und cholerische, ernsthafte und frivole, großzügige und spontane sowie auch eher besonnene Männer und Frauen, Eremiten und Zönobiten –, solche wie die heilige Maria Magdalena, den heiligen Hieronymus, den heiligen Franziskus von Assisi, die heilige Symphorosa und 130 ihre sieben Söhne (die angeblich zur Zeit des Kaisers Hadrian gemartert wurden; wahrscheinlich wegen des Wohlklangs des Namens im Englischen eine meiner Lieblingsheiligen – wirklich schade, dass sie und ihre Söhne vermutlich nie existiert haben), den heiligen Ignatius von Loyola, die heilige Teresa von Ávila, den heiligen Blasius (Schutzpatron bei Halsleiden), die heilige Jeanne d'Arc, die heilige Katharina von Siena, den heiligen Don Bosco, den heiligen Judas Thaddäus (Schutzpatron verlorener Gegenstände und hoffnungsloser Fälle) und viele weitere mehr. Es gebe nichts Interessantes, das sie alle in psychologischer Hinsicht teilen würden.
Ich erinnere mich daran, wie ich zum ersten Mal das Denkmal für die Reformatoren im Parc des Bastions in Genf sah: Vier ältere, weiße Männer mit Bärten (Guillaume Farel, Johannes Calvin, Theodor Beza und John Knox) in identischen Talaren, deren Skulpturen in einer minderwertigeren und grobschlächtigeren Nachahmung des Stils gearbeitet waren, den Rodin bei Les Bourgeois de Calais verwendet hatte, schauten aus einer flachen, schmucklosen Steinmauer. Spontan schoss mir der Gedanke durch den Kopf: »Protestanten, also alle gleich.« Das war natürlich barer Unsinn (auf mehreren Ebenen gleichzeitig), den ich sofort verwarf, aber die Tatsache, dass ich diese archaische Reaktion überhaupt hatte, war die Spur einer Auffassung, die ich in der Schule verinnerlicht hatte.
Abb. 2: Reformatoren (Farel, Calvin, Beza, Knox). Internationales Reformationsdenkmal (Ausschnitt), Parc des Bastion, Genf (Inna Felker/Shutterstock).
Abschließend sei noch dies erwähnt: Senje hat stets ausdrücklich empfohlen, dass die Jungen in unserer Schule die Beichte nicht bei einem jener Priester ablegen sollten, die im Konvikt zusammenlebten und an der Schule unterrichteten. Deshalb gab es immer Absprachen, zu diesem Zweck die unterschiedlichen Pfarrkirchen in der nächsten Umgebung aufzusuchen. Gründe dafür wurden nicht angegeben, doch für 131 mich ist offensichtlich, dass Senje es für sehr wichtig hielt, eine spirituell aufgeheizte Atmosphäre zu vermeiden, wie sie leicht entstehen kann, und deshalb den Jungen immer eine Gelegenheit geben wollte, mit jemandem von außerhalb zu reden. Damit ersparte er den Priestern darüber hinaus die Last, sowohl Lehrer als auch spirituelle Betreuer derselben Jungen sein zu müssen. Wir waren immer in der Lage, eine potenziell andere Meinung zu hören.11
132 Zuweisung von
Schuld
Wie durch die Beschreibung des Unterrichts an meiner Schule deutlich geworden sein dürfte, waren Konzepte wie Sünde, Gnade, Reue, Vergebung und Heil ständig präsent. Die Lehrer versuchten zudem, uns ein klares Gefühl für den Unterschied zwischen wahr und falsch sowie zwischen recht und unrecht einzuprägen. Die Wissenschaft (im Allgemeinen) vermittelte einem die Wahrheit über das materielle Universum, obwohl sie in keinem Punkt zu keiner Zeit unfehlbar war und ungeachtet der Tatsache, dass es sehr kompliziert war, genau anzugeben, wie sie das tat. Die Astrologie war falsch, weil die Konstellationen der Sterne und Planeten zum Zeitpunkt meiner Geburt mein Schicksal nicht bestimmen konnten. Mitgefühl war eine gute Sache, das Töten von Menschen (im Allgemeinen) unrecht, obwohl es mildernde Umstände geben konnte (Notwehr zum Beispiel). Keiner hat jemals behaupten wollen, dass diese Unterschiede nicht existierten, obwohl natürlich manchmal sehr schwer zu verstehen war, wo sie lagen, und Gut und Böse
in einzelnen Fällen fast unauflöslich miteinander verstrickt sein konnten. Es gab allerdings ein bemerkenswertes, und im Nachhinein würde ich sagen, außergewöhnliches Ausbleiben des erhobenen Zeigefingers an meiner Schule und eine geringe Mobilisierung von moralischen Gefühlen individueller Schuld, um damit soziale Konformität zu begünstigen. An das, was ich mir als das schuldgeplagte protestantische Gewissen des Einzelnen vorstelle, wurde nur sehr wenig appelliert. Die meisten Anthropologen sind mit der Unterscheidung vertraut, die zwischen Kulturen der Scham und Kulturen der Schuld gemacht wird. Scham ist ein Gefühl, das mit dem äuße 133 ren Schein, mit der Sichtbarkeit und mit einer wirklich existierenden Menschengruppe verbunden ist. Beschämt zu sein heißt, zu befürchten, von anderen Mitgliedern einer gegebenen realen Bezugsgruppe öffentlich so gesehen zu werden, als habe man einen entstellenden und entehrenden Mangel, der nicht unbedingt in irgendeinem Sinne mein Fehler ist. Geradezu archetypisch illustriert dies die berühmte Geschichte über den Earl of Oxford, dem bei einer tiefen Verneigung vor Königin Elisabeth I. versehentlich ein Furz entwich und der danach zu »beschämt war, sein Gesicht [bei Hofe] zu zeigen«, so dass er sich in ein selbst auferlegtes Exil begab. Schuld hingegen soll ein verinnerlichtes Gefühl sein, das nicht damit verbunden ist, wie ich für andere dastehe, sondern mit etwas zusammenhängt, das ich getan habe und für das ich mich persönlich verantwortlich fühlen sollte. An meiner Schule waren wir durch die Lektüre von Die Griechen und das Irrationale, dem klassischen Buch über Griechenland von E. R. Dodds, mit dieser Unterscheidung vertraut. Dodds stellte in diesem Buch die modernen, schuldbasierten Morallehren und die Volksmoral der antiken Griechen vergleichend gegenüber. Die Volksmoral in der antiken Welt beruhte nicht auf inneren Gefühlen individueller Schuld, sondern auf Scham, und sie drehte sich um öffentliche Bewunderung und Erniedrigung, sichtbare Zeichen des Erfolgs und des Scheiterns. Die Griechen betrachteten ihre sozialen Beziehungen unter den Gesichtspunkten der Ehre, des Prestiges und des Rangs, und sie waren
bestrebt, auf sich selbst angemessen stolz sein zu können und ebenso auf diejenigen, mit denen sie eng verbunden waren. Viele Jahre nachdem ich die Schule verlassen hatte, nahm der Philosoph Bernard Williams in Shame and Necessity, einem seiner letzten Bücher, das aus meiner Sicht auch sein 134 bestes ist, diesen alten Gegensatz zwischen Scham und Schuld wieder auf und versuchte, für die Notwendigkeit zu argumentieren, die Scham zu rehabilitieren.12 Die auf Schuld gegründeten Moralkulturen seien den Schamkulturen nicht, wie so oft angenommen werde, immanent überlegen. Seine Argumentation beruft sich an verschiedenen wichtigen Stellen auf eine Erklärung zu den Ursprüngen der Schuld, die Nietzsche in Zur Genealogie der Moral gegeben hat; demnach geht die Schuld aus einer Verinnerlichung meiner aggressiven Gefühle gegenüber anderen hervor, die ich aus Angst vor den Konsequenzen nicht ausdrücken kann.13 Mit dieser Berufung auf Nietzsche macht das zweiteilige Schema »Scham oder Schuld« einer dreiteiligen Struktur Platz: Moralkulturen können auf Angst, auf Scham oder auf Schuld basieren. Nietzsche hat auch eine indirekte Antwort auf eine andere Frage gegeben, bei der es eigentlich naheliegt, sie in Bezug auf Krigler und Senje zu stellen. Je mehr man die Kompliziertheit, die Unverständlichkeit und sogar Undurchsichtigkeit der menschlichen Motivation betont – je weniger ich mir selbst der Annahme zufolge voll durchschaubar bin –, desto schwieriger wird es mit der Schuldzuschreibung. Hierbei handelt es sich um eine sehr wichtige Beobachtung, würde Nietzsche geltend machen, und sie wirft ex negativo ein starkes Licht auf die Ursprünge, die das moderne Konzept des Selbst hat, einschließlich des angeblich souveränen Selbst des Liberalismus. Anstatt zu sagen, dass ich mich selbst und meine Motive gründlich kenne, und deshalb für das, was ich tue, verantwortlich gemacht werden kann, muss man dieses Argument umkehren, meint Nietzsche. Einer der Gründe, warum die Menschen so erpicht darauf sind, die Idee einer psychischen Selbsttransparenz beizubehalten (und sich damit, nebenbei bemerkt, auch 135 dem psychoanalytischen Konzept des Unbewussten verschließen), ist der Umstand, dass sie es ist, die es uns ermöglicht, Menschen auf eine
einfache, unkomplizierte Weise für ihre Handlungen verantwortlich zu machen. Weil ich Sie verantwortlich machen will und ein Schuldgefühl in Ihrer Seele erzeugen will, muss ich darauf bestehen, dass Sie sehr gut wussten, was Sie taten. Krigler hätte diese Konsequenz gerne akzeptiert: Weil wir nie wirklich wissen könnten, was wir wollen oder was uns motiviert, sei es eine komplizierte Angelegenheit, uns selbst verantwortlich zu machen, und ebenso kompliziert sei es, einem die Art von Schuld zuzuweisen, die mit der Erzeugung des Schuldgefühls verbunden sei. Er hätte allerdings zuvor noch darauf hingewiesen, dass wir nicht so sehr darauf aus sein sollten, Schuld auf diese Weise zuzuweisen – besonders nicht anderen –, und dass ein protestantisches Pochen darauf, dass es möglich sein müsse, (mir und anderen) Schuld auf diese Weise zuzuschreiben, wieder nur für seinen ewigen Refrain spreche – wonach die Protestanten die Welt offenbar unbedingt einfacher machen müssten, als sie es wirklich sei. Krigler hatte sich zusätzlich zu seinem ausgeprägten Interesse an der Psychoanalyse auch einiges aus der verfügbaren anthropologischen Literatur zum Unterschied zwischen Schamkulturen und Schuldkulturen angeeignet. Mit dem dreiteiligen Schema von Angst, Scham und Schuld war er vollkommen vertraut und verwendete es wiederholt. Wir sollten versuchen, uns nicht von irgendeinem dieser drei starken menschlichen Impulse motivieren zu lassen, riet er uns immer wieder. Sie seien alle völlig natürlich und zudem äußerst stark, aber wir müssten lernen, in einer Art und Weise zu handeln, die von ihnen so unabhängig wie möglich sei. Gottes Gebot aus Angst vor Bestrafung zu befolgen sei ein Zeichen für eine schwache Persönlich 136 keit – Krigler hätte gesagt: für eine »primitive Persönlichkeit«. Dasselbe treffe zu, wenn jemand lediglich aus Motiven der Scham gehorche. Interessanterweise beharrte Krigler jedoch auch mit großem Nachdruck darauf, dass man das Richtige nicht aus Schuldgefühlen tun sollte, und zwar weder aus solchen, die betrafen, was man in der Vergangenheit gemacht hatte, noch aus möglichen Schuldgefühlen bezogen auf das, was geschehen würde, wenn man nicht das Richtige tat. Ein Gefühl individueller Schuld könne in einem gewissen
Sinne nicht zu vermeiden sein, aber es sei ein schlechter Beweggrund für das Handeln. Angst, Scham und Schuld sind vielleicht unvermeidliche, wenn auch unerwünschte, individuelle Gefühle, bei denen man sich aber auch vorstellen könnte, sie bildeten so etwas wie ein Spektrum, auf dem das eine oder andere Gefühl an einem bestimmten Punkt vorherrscht. Um das, was ich meine, mit einem Beispiel zu veranschaulichen, lassen Sie mich etwas, das sich an meiner Schule abspielte, mit einer Erfahrung kontrastieren, die ich später, in den 1980er Jahren gemacht habe. Im ersten Beispiel war Pater Senje aufgebracht. Es war das einzige Mal, dass ich ihn wirklich wütend sah. Als Vertretungslehrer hatten wir einen angehenden Priester, der große Schwierigkeiten hatte, sich in der Klasse durchzusetzen. Wir Jungen quälten ihn erbarmungslos, wie es nur Schuljungen tun können – die bekanntermaßen auf diesem Gebiet unendlich erfinderisch sind. Er war mit einer nicht abreißenden Serie minimaler widersetzlicher Handlungen konfrontiert, mit kleineren Ärgernissen und Formen der Sabotage; einzeln betrachtet waren sie alle trivial, aber in ihrer Häufung wirklich sehr anstrengend. Irgendwann war es einfach zu viel für ihn: Er verlor eines Tages komplett die Beherrschung, ließ sein Buch auf 137 den Boden fallen und rannte aus dem Klassenzimmer. Fünf Minuten später tauchte Senje auf und hielt uns eine Standpauke. Er sagte, dass wir uns alle gründlich dafür schämen sollten, die Schwäche dieses Mannes ausgenutzt zu haben. Wir seien hier in unserem Haus, er sei hergekommen, um uns zu helfen, er sei klar überfordert gewesen und wir hätten unserer Klasse und der Schule mit unserem Benehmen Schande gemacht. Ich stelle einfach fest, dass Senje an alle klassischen Elemente der Schammoral appellierte: an die Ehre der Gruppe, daran, wie die Sache von außen aussehen würde, an unseren Stolz (oder Mangel an Stolz) darauf, eine bestimmte Art von Menschen zu sein. Er stellte nie die Frage, wer – welches Individuum – genau was oder aus welchen Motiven getan hatte. Damit will ich natürlich nicht andeuten, dass Senje vorschlug, ungefähr zweitausend Jahre überlieferter Schuldmoral auszulöschen, doch im Mittelpunkt stand die Scham.
Mein zweites Beispiel stammt aus einer viel späteren Zeit, nämlich aus 1982/1983. Ich hatte erleben müssen, wie mein calvinistischer Freund Andras selbst dann noch von Schuldgefühlen sexueller Natur gequält wurde, als er bereits erwachsen war, doch meine nächste Begegnung mit den exotischen Realitäten des protestantischen Gewissens erfolgte in Berlin, wo ich mit Axel von dem Bussche Bekanntschaft machte. Axel war der letzte Überlebende eines der gescheiterten Attentatsversuche auf Hitler. Er war durch und durch protestantischer Aristokrat, ein ehemaliger Soldat und hochdekorierter Kriegsheld. In der Ukraine war er allerdings Zeuge von Hinrichtungen geworden, zu denen man ihm erklärt hatte, es handele sich um eine Massenexekution von »Banditen«. Da er aber kein Dummkopf war, fiel es ihm wie Schuppen von den Augen und er schloss sich dem Widerstand an. Auch aufgrund seines Aussehens – er war 138 groß und blond – wurde er gebeten, in Anwesenheit von Hitler und Göring die neuen Winteruniformen der Wehrmacht (die für die Ostfront vorgesehen waren) vorzuführen und deren Vorzüge zu erläutern. Axel rüstete sich mit einer Mine aus, die er in einer der größten Taschen seiner Uniform verbergen wollte, und beabsichtigte, Hitler im rechten Moment zu umarmen und den Sprengsatz zu zünden, um Hitler, sich selbst und, wenn alles gutging, auch Göring zu töten. Er war also drauf und dran, ein Selbstmordattentäter zu werden. Die Alliierten bombardierten jedoch die Waggons, in denen sich die Uniformen befanden, und das damit einhergehende Feuer vernichtete sie, so dass die Vorführung abgesagt wurde. Axel wurde an die Front zurückbeordert und sehr bald verwundet, er verlor ein Bein und diese Verwundung rettete ihm das Leben, denn als der nächste Attentatsversuch auf Hitler unternommen wurde – mit einer Bombe in einer Baracke der Wolfsschanze –, befand er sich im Lazarett und geriet nicht in Verdacht. Als ich Axel kennenlernte, war die besondere Art, wie seine moralische Welt an seinem Gewissen ausgerichtet war, das, was mich an ihm am meisten beeindruckt hat. Selbst vierzig Jahre später konnte er sich sein Handeln nicht vergeben, aber nicht so sehr, weil es ihm nicht gelungen war, Hitler zu töten – denn dieses Scheitern war überhaupt nicht sein
Verschulden gewesen. Was ihm unentwegt zwanghaft zusetzte, war vielmehr der Umstand, dass er einen Eid auf den Führer geschworen und dennoch geplant hatte, ihn zu töten. Der Führer war ein Scheusal, und Axel hatte den Eid unter ausgesprochen befremdlichen Bedingungen abgegeben, die leicht als (milder) Zwang interpretierbar wären, aber nichts schien ihm so wichtig zu sein wie die Tatsache, dass er einen Eid gebrochen hatte, den er aus freien Stücken geschworen hatte. Das Schuldbewusst 139 sein, eidbrüchig zu sein, verfolgte ihn bis an sein Lebensende.14 Mich verblüffte das und ich hatte wirklich den Eindruck, einem Mann vom Mars begegnet zu sein, doch letztlich bin ich wohl nur einem echten Protestanten begegnet.15 Angst und Scham spielten in diesem Fall gar keine Rolle: Tatsächlich wurde Axel für das, was er damals tun wollte, nach dem Krieg allgemein gefeiert. Seine Ansicht war zwar, dass Hitlers Verbrechen Hitlers Schuld waren, dass aber seine, Axels, Verletzung des Eides seine eigene bleibende Schuld war. Ich finde diese Art, die Welt zu betrachten, nach wie vor außergewöhnlich.
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Dann also doch liberal? Eine bestimmte Lebensweise war ihnen durch Gesetze, Statuten oder Regeln nicht vorgeschrieben, sie ordneten sie ganz nach ihrem Willen und Belieben: standen auf, wann sie wollten, aßen und tranken, wann sie Appetit hatten, und arbeiteten oder schliefen, je nachdem sie die Lust dazu ankam. Niemals weckte sie jemand, ebensowenig wie jemand sie zum Essen oder Trinken oder sonstwozu nötigte. So hatte Gargantua es bestimmt. Ihre ganze Ordensregel bestand aus einem einzigen Paragraphen, der lautete: TU, WAS DIR GEFÄLLT! – Rabelais, Gargantua und Pantagruel Zugegebenermaßen war nichts davon – weder die Diskussion über Verlaines mörderischen Angriff auf Rimbaud noch darüber, ob Villon gehängt wurde oder nicht, oder über Kierkegaard und Kant – ein echter Aufruf zur Revolution oder eine Anstiftung zur Anarchie, aber es war, wie ich schon sagte, auch keine Erziehung, die für eine der bekannteren Arten des Autoritarismus empfänglich machen würde. Wenn es also keine Form einer autoritären Ausbildung in irgendeinem normalen Sinne war, war es dann nicht doch nur eine (vielleicht sehr indirekte) Form des Liberalismus? Besonders die Behauptungen zur großen Vielfalt möglicher Formen »heiligen« Lebens lassen die Äußerungen ein bisschen nach Wilhelm von Humboldt, John Stuart Mill oder Isaiah Berlin klingen. Bedeutet die sehr deutlich vorgetragene Befürwortung dieser Art eines auf Typen des Lebens bezogenen Plura 142 lismus nicht bloß, dass die Kirche oder jedenfalls meine Lehrer versuchten, Formen des Liberalismus zu kooptieren, um den
Katholizismus selbst plausibler aussehen zu lassen? Dass die Kirche sozusagen die Kleider des Feindes stahl?
Wann Aneignung kein Plagiat ist Dies wirft einige wichtige allgemeine Fragen zur Identität von Bewegungen und zu den verschiedenen Methoden kultureller Aneignung auf. Zunächst einmal wird keine tatsächlich existierende historische Institution oder Bewegung, die in der Lage war, sich selbst über Jahrhunderte zu erhalten, wirklich vollständig unbeweglich und unveränderlich gewesen sein. Es gibt einen klaren Sinn, in dem der Katholizismus seit über zweitausend Jahren seine Existenz gewahrt hat, so dass er, um so lange zu leben und sich reproduzieren zu können, imstande gewesen sein muss, neue Doktrinen aus sich heraus zu entwickeln, neues Material und neue Sichtweisen von außen aufzunehmen und sich folglich mit kontrollierten Prozessen des Wandels und der Metamorphose zu befassen. Außerdem ist keine umfassende geschichtliche Bewegung oder Ideologie so erschöpfend, intern zusammenhängend und einheitlich, monolithisch, geschlossen und kohärent, wie manche von ihnen es gern beanspruchen würden. Sehr wenige Bewegungen sind kognitiv so lähmend, dass sie ihre Anhänger und Anhängerinnen komplett der Fähigkeit berauben, auch nur einen schlüssigen Gedanken zu denken oder irgendeine richtige Beobachtung zur Welt anzustellen. Der Katholizismus war für so viele Menschen an so vielen Orten für so lange Zeit der endgültige Bezugsrahmen, dass sie ganz bestimmt einige interessante Dinge 143 zu sagen hatten, die sie zwangsläufig in dem einzigen Rahmen ausdrückten, der ihnen zur Verfügung stand. Selbst in dem riesigen und langweiligen Korpus, den die mittelalterliche Philosophie ausmacht, gibt es daher eine Menge Material, das zu den vorgeblich theologischen Doktrinen, die dessen Makrostruktur bilden, tatsächlich in einer sehr losen Beziehung steht. Es ist nur eine Frage seiner Befreiung; und in der Tat
hatten einige der frühen Mitglieder der Frankfurter Schule unter anderem genau diese Absicht, nämlich die Vergangenheit zu »erlösen«.1 Zu glauben, dass niemand und nichts wirklich rettungslos verloren ist, obwohl manche Menschen, Einstellungen und Bewegungen vollkommen unverbesserlich, unbelehrbar und nicht tolerierbar sind, ist vielleicht ein residualer Gedanke, der von der Religion herrührt. Dieser Punkt ist meines Erachtens sowohl hinreichend wichtig als auch vernachlässigt, um eine Wiederholung zu vertragen: Die Tatsache, dass irgendein Philosoph seltsame allgemeine Ansichten zur Existenz einer normativ verbindlichen menschlichen Natur hat, bedeutet nicht, dass jede einzelne Feststellung oder jedes einzelne Argument, das er oder sie bezogen auf die menschliche Motivation aufbietet, komplett falsch oder völlig nutzlos sein muss. Mittelalterliche Moralisten waren weder von Haus aus dumm oder schlechte Beobachter, deshalb mag es sehr wohl reichlich Einzeldinge, Zusammenhänge oder Argumente geben, die sie erkennen beziehungsweise durchbringen konnten, welche im Grunde nicht von dem unplausiblen theologischen Rahmen abhingen, in den sie diese einzuordnen versuchten. Man könnte sogar fragen, ob sie nicht gerade deshalb fähig waren, manche Dinge besonders klar zu sehen, weil ihre allgemeine Weltsicht so seltsam war.2 Natürlich ist es eine heikle Aufgabe, die jeweilige Einsicht oder gar 144 die wichtige utopische Wahrheit hinter dem allgemeinen ideologischen Konstrukt hervorzuholen und sie in einer angemesseneren Weise darzulegen. Das ist der Grund dafür, warum die »Erlösung der Vergangenheit« so schwierig ist. Eine Wahrheit, die aus ihrem theologischen Kontext »herausgelöst« ist, wird zweifellos nicht mehr genau das sein, was sie ursprünglich einmal war, und dies ist keineswegs eine unwichtige Tatsache, aber das ist ein anderes Thema. Andererseits hat keine Weltsicht ein Monopol auf die Wahrheit und es gibt kein Patentamt und keine Urheberrechtsbehörde für allgemeine Ideen und Haltungen. Viele Weltanschauungen, speziell monotheistisch religiöse, beanspruchen allerdings ein solches Monopol. Katholiken sagen manchmal so etwas wie: »Jede Wahrheit kommt vom Heiligen Geist.«
Nehmen wir jedoch einmal an, ich würde sagen, es sei nun wichtig, Mitgefühl mit denen zu haben, die während der jüngsten Pandemie stark gelitten haben. Was würden wir denken, wenn ein Buddhist das damit kommentieren würde, dass ich ein Buddhist sei oder die Idee des Mitgefühls dem Buddhismus gestohlen hätte? Es ist richtig, dass Buddhisten der Tugend des Mitgefühls einen besonderen Stellenwert in ihrer Weltanschauung geben, aber läuft das auf ein Copyright hinaus? Ebenso ist die Anerkennung einer Pluralität von wertvollen psychologischen Menschentypen und Lebensformen nicht automatisch ein Zeichen dafür, dass man sich auf die Marke »Liberalismus« (als eine philosophische und politische Doktrin) beruft – nicht mehr jedenfalls, wie man damit das Christentum bejaht, wenn man sagt, dass es wichtig sei, seinen Nächsten zu lieben (in einem gewissen Sinne dieser Ausdrucksweise).
145 Begriffe mit
variabler Blendenweite
Formen des religiösen und politischen Denkens neigen besonders in kompetitiven Zusammenhängen dazu, Begriffe zu verwenden, die eine, wie ich es nennen werde, »variable Blendenweite« oder »Apertur« aufweisen. In manchen Zusammenhängen ist die begriffliche Blende möglichst weit geöffnet: Wenn man menschliches Leiden als die Grundtatsache des Lebens anerkennt und Mitgefühl als die wichtigste Tugend, reicht das aus, um Buddhist zu sein, und der Rest ist unwesentlich; wenn man glaubt, Toleranz sei generell eine gute Sache, ist man liberal. Zu anderen Zeiten in anderen Zusammenhängen verengt sich die begriffliche Blendenweite und man muss nicht nur akzeptieren, dass bestimmte Formen der Toleranz generell gut sind, sondern dass Menschen ein unumschränktes Recht auf Eigentum an Privatbesitz haben, dass jedes Individuum in Bezug auf seine Wünsche und Interessen stets im Recht ist und so fort. Diese Variabilität unterscheidet sich wesentlich von den
verschiedenen Gebrauchsweisen von »liberal«, die ich in Kapitel 2 erörtert habe. Dort verlief die Unterscheidung zwischen bloß adverbialen Charakterisierungen von Handlungsweisen, (mehr oder weniger kohärent) zusammenhängenden Ensembles von Einstellungen, Werten, Überzeugungen sowie Denk- und Handlungsweisen und schließlich explizit begrifflich ausformulierten theoretischen Auffassungen. Die Idee einer Variabilität der Blendenweite hingegen betrifft lediglich den Umfang im begrifflichen Bereich. Es ist nicht nur gar nichts falsch daran, Begriffe mit variabler Blendenweite zu verwenden, es ist sogar bis zu einem gewissen Grad unumgänglich, weil es etwas ist, das in unserer Fähigkeit, Sprache zu gebrauchen, fest angelegt und in dem Maße 146 auch ein Teil dessen ist, was die Sprache zu einem solchen Segen macht. Es ist tatsächlich die Möglichkeit, die Blendenweite zu variieren, mit der die menschliche Sprache potenziell produktiv wird, und das ist etwas von unermesslichem Nutzen. Wenn man jedoch das Spiel der historischen Präzedenz aufmachen wollte, käme man nicht umhin festzustellen, dass die Idee der »Gemeinschaft der Heiligen« eine der ältesten im Christentum ist. Der Heiligenkalender und die mit ihm verbundenen hagiographischen Geschichten – einschließlich der literarischen Gattung »Leben der Heiligen« – haben schon vor langer Zeit existiert, lange bevor der Liberalismus überhaupt eine Vorstellung war, und selbst eine flüchtige Betrachtung dieser Stoffe wird eine Unmenge von Geschichten und Behauptungen zutage fördern, die moderne Leser nicht allzu ernst nehmen werden – Zeichen, Erstaunliches und Wunder –, aber auch einfach jene tatsächlich existierende große Vielfalt von Menschentypen und von Formen des menschlichen Lebens, auf die Krigler unsere Aufmerksamkeit lenkte. Selbstverständlich – und dies sollte so offensichtlich sein, dass es nicht der Erwähnung bedarf, aber sicherheitshalber noch einmal gesagt wird – folgt aus der Tatsache, dass es eine große Vielfalt an Formen geheiligter irdischer Existenz gibt, keineswegs, dass alle Menschenleben, so wie sie tatsächlich gelebt werden,
gut sind oder dass alle Ensembles psychologischer Dispositionen, Charakterzüge und Arten von Wünschen gleichermaßen gut sind. Einige sind verdorben, einige sind böse, einige mögen vollkommen natürlich sein, sind aber einfach schlecht (vielleicht generell, vielleicht in bestimmten Kontexten und aus unterschiedlichen Gründen); und selbst diejenigen, die nicht schlecht sind, mögen unterschiedlich gut sein. Der Pluralismus an sich heißt also nichts für die Akzeptanz oder die Ablehnung des Liberalismus 147 in der einen oder anderen Richtung (falls der Liberalismus irgendetwas Substanzielles bedeutet). Rückblickend meine ich sagen zu können, dass die Anschauung der meisten Lehrer in meiner Schule, die sich ausdrücklicher äußerten, eine Art existenzialistischer Katholizismus war, der mit der charakteristischen existenzialistischen Feindseligkeit gegenüber allem einherging, das sich auf eine menschliche Natur zu berufen schien (darunter insbesondere jegliche Version des Aristotelismus/Thomismus). Bei Krigler hatte das einen etwas stärker heideggerianischen Unterton (die Überstülpung ontologischer Kategorien der Griechen auf den frühchristlichen Glauben), bei Senje einen eher französischen, wenn nicht gar sartreanischen Einschlag. Krigler und Senje hatten eine viel größere Nähe zu Georg Lukács oder Kierkegaard als zu Jacques Maritain oder Kardinal Mercier. Ich glaube trotzdem nicht, dass irgendetwas davon übrig geblieben wäre, wenn einer der beiden durch die Mühlen der Ausbildung gegangen wäre, die man den meisten Priestern in den Vereinigten Staaten zu der Zeit angedeihen ließ, denn diese war unnachgiebig und dogmatisch thomistisch.
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Zwischenspiel
Nostalgie, eine Fahrt in die Stadt, Ankunft DER HERR:
Sei deshalb nie ein fader Lobredner noch ein verbissener Tadler! Sag's immer, wie's gewesen ist! JACQUES: Das ist nicht leicht. Hat nicht ein jeder seinen Charakter, sein Interesse, seinen Geschmack, seine Leidenschaften, die bewirken, daß er übertreibt oder abschwächt? – Diderot, Jacques, der Fatalist und sein Herr
Ach, Schultage. Die Atmosphäre an meiner Schule war ziemlich düster, und der Schulalltag verlief nach Grundsätzen, die das genaue Gegenteil der Leitlinien darstellten, die zu jener Zeit in den Vereinigten Staaten einen Großteil der Bildung und Erziehung bestimmten. Ein Priester, der mich selbst zufällig nicht unterrichtete, pflegte zu sagen: »Das Schlimmste, was man einem Jungen antun kann, ist, ihn zu loben« (denn das könnte ihn zur Sünde des Stolzes verleiten). Wenn wir mit den Lehrern sprachen, lernten wir, auf die kleine Pause in ihrer Rede zu achten, die erkennen ließ, dass sie dagegen nichts einzuwenden hatten. Wir wussten dann, dass wir wohl doch etwas richtig gemacht hatten. Die atmosphärische Schicht aus Melancholie und Depression, die über der Schule lag, war nicht wirklich (oder jedenfalls nicht ganz) der Tatsache geschuldet, dass sie katholisch war, sondern vielmehr der Tatsache, dass sie ungarisch geprägt war. Wie mein lieber Freund István Hont (den ich erst 1990 kennenlernen sollte) später sagen würde: »Die 150 Ungarn sind eine Bevölkerung, die andauernd Niederlagen hinnehmen musste; wer hat jemals von einem Ungarn gehört, der über irgendetwas ein gutes Wort verloren hat?« Über dieses allgemeine kulturelle Charakteristikum hinaus hatten einige Jungen
in der Schule erst vor kurzem besonders schwere Zeiten durchgemacht. Einer erzählte, er habe gesehen, wie sein Bruder 1956 auf den Straßen von Budapest niedergeschossen wurde, ein anderer berichtete von der Eiseskälte, die er als Neunjähriger aushalten musste, als er nachts meilenweit durch verschneite Wälder lief, um nach der Niederschlagung des Aufstands an die österreichische Grenze zu gelangen und sie zu überqueren. Einer der Priester, unser Russischlehrer, war 1944 im Zweiten Weltkrieg Unteroffizier in der 3. ungarischen Armee gewesen – die 2. ungarische Armee war da schon an einer Flanke bei Stalingrad 1942 aufgerieben worden. Während des langen Rückzugs aus der Ukraine hatte er passenderweise eine Haltung gemäß Archilochos gegenüber dem Militär entwickelt: »Am Ende sagte ich zu meinen Jungs ›Lauft einfach weg, denn das hier hat keinen Sinn‹.« Der Altphilologe Alfred Edward Housman schrieb einmal eine Parodie auf eine griechische Tragödie, in welcher der Chor, der einen markerschütternden Schrei aus den Kulissen ertönen hört, singt: Mir war, ich hörte einen Laut im Haus, anders als die Stimme von jemand, der hüpft vor Freud.1
Die Stimme von jemandem, der vor Freude hüpft, wurde an meiner Schule auch nicht sehr oft gehört. Am nächsten kamen wir dem, wenn uns der Lateinlehrer darauf hinwies, dass die orakelhafte Äußerung »ibis redibis non morieris in bello« entweder heißen konnte, dass man sicher aus dem Krieg heimkeh 151 ren würde oder dass man nicht heimkehren würde,2 oder wenn er die Geschichte über Ovid wiedergab, der von seinem Vater dafür geschlagen wurde, der trivialen Beschäftigung des Gedichteschreibens nachzugehen, und der sich daraufhin mit einem Hexameter verteidigte: »Parce, pater, virgis, numquam tibi carmina dicam« (»Verschone die Rute, Vater, ich werde niemals wieder ein Gedicht für dich rezitieren«). Philosophen sollten Ovids Rezitation später einen »pragmatischen Widerspruch« nennen, und obwohl wir nicht den Begriff dafür hatten, dachte sich der Lateinlehrer, dies wäre doch sicherlich ein Schmunzeln wert.
In der Schule hatte ich dennoch den Eindruck, dass ich einen flüchtigen Blick auf etwas erhasche, das ein schwacher Widerschein einer lange vergangenen Wirklichkeit ist. Es war vermutlich das allerletzte Nachbild der späten Habsburger Welt, die Stefan Zweig in Die Welt von Gestern beschrieben hat.3 Wie es bei emigrierten Bevölkerungsgruppen so häufig der Fall ist, wird das Land, das man hinter sich gelassen hat, in einem übertrieben rosigen Licht gesehen, und das ist zweifellos auch bei diesem Nachbild der Fall. Dagegen war die Schule nicht vergleichbar mit der Kadettenanstalt in Die Verwirrrungen des Zöglings Törleß (um im mehr oder weniger gleichen kulturellen Kontext zu bleiben), weil sie einen seriösen, geistig anspruchsvollen Lehrplan hatte und guten Unterricht erteilte und weil ihr der Autoritarismus, die sadomasochistische Gewalt und das anzügliche sexuelle Klima fehlten, die in Musils Erzählung geschildert werden.4 Vielleicht war es die tiefe Melancholie des Ortes und seiner Bewohner, die den beiden letztgenannten Phänomenen den Boden entzog, auf dem sie hätten gedeihen können.
152 Die Fahrt
in die Stadt
Immer im November hatte die Schule eine organisatorische Schwierigkeit mit ihrem Unterrichtsplan. Da sie im Commonwealth of Pennsylvania als Bildungseinrichtung registriert war und über die Hälfte ihrer Schüler Jungen waren, die aus der unmittelbaren Umgebung, dem Nordwesten von Philadelphia, stammten, musste sie für den Feiertag Thanksgiving schließen. Andererseits waren fast alle Jungen im Internat der Schule ungarische Flüchtlinge oder kamen aus Südamerika und wussten deshalb nicht, was Thanksgiving war, oder feierten dieses Fest jedenfalls nicht. Besonders die Ungarn fanden das Fest sonderbar und konnten nicht verstehen, warum jemand freiwillig das trockene, zähe, so gut wie geschmacklose Fleisch des Truthahns essen konnte – »dieses fluguntauglichen Huhns«, wie einer von ihnen zu sagen pflegte. Wenn
man aber im 17. Jahrhundert mitten im Winter in den froststarren Wäldern völlig ausgehungert wäre, würde man selbstverständlich essen, was man kriegen kann. Truthühner waren in Nordamerika heimisch und so dumm, dass sie verhältnismäßig einfach zu fangen waren, weshalb man sie natürlich in manchen Situationen verzehrt hat; das war allerdings eine Angelegenheit schlimmster Notwendigkeit, nicht der freien Wahl. Die einzige Art, wie meine Freunde Thanksgiving verstehen konnten, nahm die Form des Bußrituals an: Die Amerikaner aßen Truthahn, um sich daran zu erinnern, wie es ist, wenn man in der Eiseskälte eines Winters in New England am Verhungern ist und sogar dieses Fleisch essen muss. Was sollte man also mit fünfzig oder sechzig Jungen aus der Internatsschule anfangen, während die eigentliche Tagesschule offiziell geschlossen war? Um für wenige Tage nach Hause zu 153 fahren, war es für viele von ihnen, die zum Beispiel aus Iowa, Venezuela oder Virginia kamen, einfach zu weit. Aber man musste sie auf irgendeine Weise beschäftigen. Die Lösung dafür war ein Schulausflug nach New York City. Gegen Ende November 1962 luden daher ein paar Priester die Jungen in schuleigene Minibusse und fuhren mit uns in die Stadt. Dort angekommen, wurden wir auf verschiedene Stellen verteilt, zu denen die Schule Kontakte besaß. Ich war nie zuvor in der Stadt gewesen und hatte deshalb auch keine feste Vorstellung von deren Geographie, aber ich erinnere mich, dass einige von uns in einer Art Gemeindehaus in einer spanischsprachigen Gegend im Stadtzentrum untergebracht wurden, wo auch spanische Priester des Ordens beschäftigt waren. Ich sehe noch deutlich vor mir, dass es auf den Straßen dort Kopfsteinpflaster gab. Zusammen mit ein paar anderen wurde ich nach Washington Heights gebracht, das im äußersten Norden der West Side von Manhattan liegt, und war zu Gast in der ziemlich engen, aber vollkommen ausreichenden Wohnung einer freundlichen irisch-amerikanischen Familie, von deren Söhnen einer in der Priesterausbildung war. Alle Jungen und Priester sammelten sich dann an verschiedenen Treffpunkten und zogen los, um sich in der Stadt umzuschauen.
Was mir besonders imponierte, waren die Buchläden, die es offenbar überall gab und die voller interessanter Bücher waren. Am meisten beeindruckte mich die Tatsache, dass man einwandfreie, neue Bücher aus einem Sortiment kaufen konnte, das einige Wahlmöglichkeiten bot. Meine Erfahrungen mit Büchern waren bisher von zweierlei Art gewesen. Erstens gab es die weithin erhältlichen billigen Taschenbücher, die aber meistens Schundromane waren und in allen möglichen Geschäften verkauft wurden. Darunter befand sich zwar gelegentlich ein 154 anspruchsvolleres Werk, doch es war reiner Zufall, ob ein bestimmtes Geschäft irgendetwas Interessantes in seinem Buchbestand hatte oder nicht (und man muss sagen: »meistens nicht«). Zweitens hatte meine Methode im Wesentlichen darin bestanden, in den bereits ziemlich heruntergekommenen Stadtzentren von Philadelphia und Trenton in Buchläden mit Gebrauchtware zu stöbern und in der Menge ausrangierter Bücher auf einen Glücksgriff zu hoffen. Natürlich konnte sich weder Philadelphia noch Trenton mit der Dichte des Angebots messen, das es in Manhattan gab. Da meine Erfahrung wesentlich von der völligen Unwägbarkeit und Zufälligkeit der Buchkultur geprägt war, nahm ich erstaunt wahr, dass diese Buchläden eine verlässliche Auswahl an interessanten, soliden neuen Büchern boten. Die Bücher waren sogar nach Kategorien geordnet, anstatt einfach in beliebigem Durcheinander auf einem Drehständer ausgestellt zu sein. Leider erkannte ich ebenfalls sofort, dass die Preise für mich unerschwinglich waren. Immerhin – die Läden waren da. Krigler war an moderner Kunst insgesamt sehr interessiert, und die Bandbreite an Strömungen, die er mochte, war groß, darunter speziell der Surrealismus und unterschiedliche Arten der nichtgegenständlichen Malerei. Seine besonderen Favoriten waren offenbar Dalí und der Picasso der späten 1920er und 1930er Jahre. So brachte er an einem Nachmittag zur Academia Calasanctiana – einer von ihm organisierten Diskussionsgruppe an der Schule – die Reproduktion eines Werks von Picasso aus dem Jahr 1930 mit, das eine Frau an einem Strand zeigte, wobei diese Frau zumindest teilweise aus Treibholzstücken zusammengesetzt zu sein schien.
Abb. 3: Pablo Picasso, Sitzende Badende, 1930 (© Succession Picasso/VG Bild-Kunst, Bonn 2023. Foto: © The Museum of Modern Art, New York/Scala, Florenz).
Er äußerte seine große Bewunderung für dieses Bild und ermutigte uns alle, es zu kommentieren. Er begriff es als eine 156 Darstellung des modernen Subjekts. Es war sich selbst zwar in einem Maße transparent, das selbst Descartes zufriedengestellt hätte, doch dies war es nur, weil es ganz und gar leer war. Man konnte geradewegs durch es hindurchschauen. Es gab nicht einmal einen Ort für ein richtiges Seelenleben. Dies war das Bild eines psychischen Wracks, eines Hohlraums, der partiell von einer bloßen Reststruktur umgeben war, die aus Treibholz gebildet wurde. Krigler sorgte dafür, dass eine kleine Gruppe von uns zum Museum of Modern Art fahren konnte, um Guernica zu sehen, das zu der Zeit noch dort hing. Das Werk war für sich allein in einem Raum ausgestellt, an dessen Wänden Fotos von früheren Stadien des Prozesses zu sehen waren, den es bei Picasso durchlaufen hatte, bevor er dessen endgültige Fassung festlegte. Ich wanderte weiter in den Raum, in dem die Triptychon-Version von Monets Seerosen ausgestellt war. Das Werk hatte ebenfalls einen ganzen Raum für sich, und die drei Teile des Werks waren ohne Abstand zwischen ihnen in einer Art umlaufenden Hängung an den Wänden angebracht, so dass der Betrachter den Eindruck gewann, teilweise davon umgeben zu sein. Ich entsinne mich, dass beide Werke ein ähnliches Gefühl bei mir ausgelöst haben: »Zu viel«. Der Picasso drängte sich zu sehr auf und war einfach zu groß, den Monet empfand ich als eine übersättigende, sensorische Überfrachtung. Ich beschloss, die bildenden Künste seien nichts für mich. In eher gedrückter Stimmung zwängten wir uns wieder in die Kleinbusse und fuhren zurück nach Pennsylvania. Ich war jedoch hinreichend angetan von dem, was ich in Manhattan gesehen hatte, um sehr erfreut zu sein, als Krigler mir mitteilte, nachdem er die verschiedenen Universitäten durchgegangen sei, die für mich in Frage kämen, glaube er, dass Columbia für 157 mich am besten geeignet wäre. Also bewarb ich mich dort um einen Studienplatz. Im Juni 1963 machte ich meinen Schulabschluss, arbeitete den Sommer über in dem Stahlwerk in Pennsylvania, in dem mein Vater beschäftigt war, um die finanzielle
Förderung, die ich von der Universität bekam, mit selbstverdientem Geld aufzustocken, und kam im September 1963 im Stadtteil Morningside Heights auf der West Side von Manhattan an, um mit dem Studium am Columbia College zu beginnen. Ich war sechzehn Jahre alt, sehr naiv und unerfahren und immer noch stark beeinflussbar.
Ankunft Bevor ich in das Internat wechselte, war ich nicht übermäßig am Zeitgeschehen interessiert gewesen, aber ich blieb vage auf dem Laufenden, was in der Welt vor sich ging, so wie dies von den mir zugänglichen Nachrichtenquellen (Zeitungen, Radio) dargestellt wurde. Ich erinnere mich an die Bekanntgabe der Exekution von Julius und Ethel Rosenberg im Radio. Es war ein Samstagmorgen und sie waren am Freitagabend auf dem elektrischen Stuhl hingerichtet worden. Ich entsinne mich noch, überrascht gewesen zu sein, weil ich mir irgendwie gemerkt hatte, dass Menschen immer bei Tagesanbruch exekutiert wurden. Erst zehn Jahre später fand ich heraus, dass die Exekution in größter Eile vollzogen wurde, um zu verhindern, dass die Rosenbergs am Wochenende eine letzte Berufung gegen ihr Urteil einlegen konnten. Ich verfolgte das Fortschreiten des McCarthyismus, so gut ich konnte, weil ich meinte, es müsse wichtig sein, doch meistens verstand ich nicht wirklich, was da vor sich ging. Als ich in das Internat eintrat, verschwand all das völlig 158 aus meinem geistigen Horizont. Zum Teil war das Fehlen von Nachrichtenquellen in der Schule der Grund dafür, wichtiger jedoch war wohl einfach das Gefühl, dass nichts »da draußen« noch wirklich relevant war. Die Kennedy-Jahre in den Vereinigten Staaten sind deshalb in meinem politischen Gedächtnis im Grunde genommen eine komplette Leerstelle. Zu einem bestimmten Zeitpunkt kam eine Gruppe kubanischer Jungen zu uns ins Internat, die unaufhörlich über »die Kommunisten« schimpften, aber die meisten von ihnen waren nach nur einem Schuljahr
wieder weg. Ihr plötzliches Auftauchen gehörte zu den Nebenfolgen der Invasion in der Schweinebucht, vermute ich. Als ich nach mehreren Jahren fast vollständiger Isolierung an der Columbia anfing, erschienen mir die anderen Studenten ungeheuer weltklug und überhaupt in allem sehr aufgeklärt zu sein, was sie im Vergleich mit mir tatsächlich waren, und zudem waren sie anscheinend alle politisch sehr gut informiert – was sie tatsächlich waren – und überdies selbstsicher in der Äußerung ihrer Ansichten. Sidney Morgenbesser pflegte zu sagen: »Descartes erfand im Alter von 18 Jahren völlig eigenständig die analytische Geometrie, und das verschaffte ihm etwas Selbstsicherheit.« Die anderen Studenten, denen ich am College begegnete, redeten nach meinem Eindruck alle so, als hätten sie gerade die analytische Geometrie erfunden. Nicht lange nachdem die Seminare begonnen hatten, stieß ich vor dem McMillin Theater an der Ecke 116th Street und Broadway auf eine Gruppe von Studenten, die dort mit Plakaten demonstrierten. Sie riefen immer wieder laut »Vietnam, Amerikas Algerien« und intonierten das rhythmisch. Es waren so viele Demonstranten da, dass sie nicht auf den Gehweg passten und die nördlich verlaufenden Fahrbahnen des Broadways total blockierten, woraufhin sich der Straßenverkehr in ganzer 159 Länge aufzustauen begann. Außerdem hatte sich eine große Menge von Zuschauern gebildet und Gruppen von Polizisten liefen ziemlich planlos umher. Der Fahrer von einem der Taxis, die in dem Verkehrsstau festsaßen, kam aus seinem Fahrzeug und fing an, laut »Da finks, da finks« zu schreien und in Richtung der Demonstranten zu gestikulieren. Was hatte das alles zu bedeuten? Ich hatte keine Ahnung. Schließlich fragte ich einen der Studenten, die in der Menge standen, was Vietnam mit Algerien zu tun habe, aber der murmelte nur etwas Unverständliches über »die Drachen-Lady«. Was dort tatsächlich vor sich ging, war eine Demonstration gegen Madame Nhu, die Ehefrau von Ngo Dinh Nhu, genannt »die Drachen-Lady«. Ngo Dinh Nhu war sowohl Bruder als auch wichtigster Berater des südvietnamesischen Präsidenten Ngo Dinh Diem. Madame Nhu wurde vor dem McMillin Theater erwartet, weil sie dort eine Rede halten wollte. Diem wurde noch im gleichen Monat ermordet,
ungefähr einen Monat später wurde auch John F. Kennedy Opfer eines Attentats und danach Lee Harvey Oswald, wie ich aus dem Fernsehen erfuhr. In New York war es seinerzeit nicht schwierig, sich zu informieren, wenn man das wollte, und als ich ein paar Jahre später den Film Schlacht um Algier von Gillo Pontecorvo sah, den der Filmclub der Universität in demselben Theater zeigte, wusste ich sehr gut, warum die Vereinigten Staaten in Vietnam und Frankreich in Algerien als vergleichbar angesehen werden konnten. In der Realpolitik der Vereinigten Staaten in den 1960er Jahren gab es nichts, was einen jungen Mann wie mich oder irgendeinen, der nicht schon stillschweigend überzeugt war, dass Liberale automatisch auf der Seite der Engel stünden, überzeugt hätte, dass der klassische Liberalismus eine besonders attraktive Position wäre, die man übernehmen müsse. Das wich 160 tigste politische Thema war immerhin der Krieg in Vietnam, der erst von Leuten geplant und dann geführt wurde, die den Regierungen von Kennedy und Johnson angehörten und einen Ruf als Bannerträger des Liberalismus hatten. Als unter Nixon eine konservativ republikanische Regierung an die Macht kam, sorgte der Präsident für die Fortsetzung und Verschärfung des Kriegs – keine Frage. Doch wenn das Beste, was Liberale zu ihrer eigenen Verteidigung anführen konnten, das Argument war, dass die Konservativen genau so schlimm seien, war das eine ziemlich schwache Leistung. Zur besonders akuten strukturellen Rassenproblematik hatten die Liberalen vielleicht eine geringfügig bessere Bilanz vorzuweisen als mit Blick auf den Krieg, aber sie schienen nicht viel Initiative zu zeigen, sie reagierten bestenfalls auf Kräfte in der schwarzen Community, deren Bestrebungen nicht unbedingt eine liberale Form annahmen, aber deswegen kein bisschen schlechter waren. Im Hinblick auf ein breiteres Spektrum anderer sozialer, wirtschaftlicher und politischer Fragen wirkte der Liberalismus nicht wie eine Ideologie, die aktiv reihenweise originelle Gedanken oder eine Fülle wirkungsvoller praktischer Maßnahmen hervorbrachte. Nichts davon war vielleicht im engeren Sinn eine »Widerlegung« des Liberalismus, aber es bedeutete
eben, dass die liberale Position, wie ich schon sagte, nichts hatte, was sie nun furchtbar attraktiv machte. Ich hatte mich für die Columbia University entschieden, weil mir der Eindruck gefiel, den die Stadt bei mir hinterlassen hatte, und weil Krigler mir den Rat gegeben hatte, mich dort zu bewerben. Ich hatte keine besonderen Erwartungen an die Seminare, die im Rahmen des Studiums angeboten wurden. Es gab jede Menge Lehrende an der Universität, die sich selbst als Liberale bezeichneten. Lionel Trilling an der Fakultät für 161 Anglistik zum Beispiel hielt seine Vorlesungen über »Moderne Schriftsteller«, die von sehr vielen Studenten besucht wurden, obgleich seine theoretische Wertschätzung für die liberale Vorstellungswelt mit seiner Angst vor imaginären Stalinisten zusammenzuhängen schien, die ausmanövriert werden mussten, was ihn wie jemand wirken ließ, der den Bezug zur Realität verloren hatte. Ich glaube auch, dass die Fakultät für Staatswissenschaften (anderswo Politikwissenschaften genannt) sehr dicht von Liberalen unterschiedlichster Couleur bevölkert gewesen sein muss. Das traf allerdings nicht für die philosophische Fakultät zu. Dort gab es drei echte Schwergewichte, die politische Philosophie lehrten: Robert Paul Wolff, Sidney Morgenbesser und Robert Denoon Cumming. Alle drei waren Kritiker des Liberalismus aus linker Perspektive und jeder von ihnen war es auf seine eigene Weise. Ich bewunderte alle drei Philosophen sehr, lernte eine Menge von jedem von ihnen und schätze mich im Rückblick weiterhin glücklich, ihnen zu dem Zeitpunkt begegnet zu sein, als ich es tat.
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Robert Paul Wolff Das Elend des Liberalismus
Und die Gerechtigkeit muß ex officio stockblind sein. Die Allegoriefinder haben ihr die Augen verbunden – warum? Damit sie nicht sieht, wohin sich die Waagschale neigt, und reintun kann, was sie will. – Johann Nestroy, Die schlimmen Buben in der Schule Robert Paul Wolff wird heute vielleicht am stärksten mit dem Buch Eine Verteidigung des Anarchismus assoziiert, das er in den 1960er Jahren schrieb.1 Er hielt sich selbst für einen Kantianer, der entdeckt hatte, dass die Implikationen von Kants Auffassungen eine Form des theoretischen Anarchismus waren. Die Anarchisten unterschieden sich zum Beispiel von den Sozialisten insofern, als die Sozialisten vorrangig an der sozioökonomischen Organisation der Gesellschaft interessiert waren, das heißt, an der Frage, wer welche Ressourcen besaß und wer sie kontrollierte, während Anarchisten in erster Linie an Fragen der widerrechtlich angeeigneten Autorität interessiert waren. Typisch sozialistische Slogans mochten klingen wie »Eigentum ist Diebstahl« oder »Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen!«, doch das anarchistische Motto »Ni dieu ni maître« [»Weder Gott noch Herr«] hatte überhaupt keinen direkten Bezug zur Ökonomie. Dieser Slogan der Anarchisten war vielmehr eine Zurückweisung von Ansprüchen der Kirche oder des Staats, normativ unterfütterte 164 Forderungen nach Gehorsam zu stellen. Der »Anarchismus«, den Wolff verteidigte, war die Ablehnung von Autorität in Kriglers drittem Sinn, von einer Autorität, wie sie theoretisch in der politischen Sphäre existiert, das heißt von der Idee,
wonach wir eine Form der normativen Verpflichtung haben, den Anweisungen legitimer Regierungen zu gehorchen. Nach Wolff könnten wir verschiedene Gründe dafür haben, das zu tun, was eine Regierung von uns verlangt (wie etwa, dass es sinnvoll oder an sich vernünftig sei, was sie anordnet), aber diese Gründe würden nicht einschließen, dass wir (moralisch) befolgen sollten, was irgendein Staat verlangt, so als ob er die legitime Autorität dazu besäße. Keine wirklich existierende Regierung sei legitim, schloss er, und es sei auch nicht möglich, sich irgendeine Form kollektiver Organisation vorzustellen, welche die Bedingungen erfüllen könnte, die erfüllt werden müssten, damit die politischen Forderungen dieser Organisation für Individuen moralisch verbindlich wären, so wie es traditionelle Darstellungen des Konzepts »politische Verpflichtung« vorsehen würden. Indem er sich als Anhänger von Kant bezeichnete, stellte sich Wolff in eine ehrwürdige Tradition von Menschen, die glaubten, sie wüssten besser, was Kant meinte, als Kant selbst – ganz besonders Fichte, der grob gesagt erklärte, er verwandele den abschreckenden Text Kants nur in etwas mit ein bisschen mehr Klarheit, Organisiertheit und Schliff. Fichte gelangte am Ende zu der Behauptung, dass der Staat die Freiheit seiner Bürger fördern müsse, indem er Eigentum an sie verteile, mit Hilfe eines Genehmigungssystems jegliche wirtschaftliche Betätigung regele und dafür sorge, dass jeder Arbeit habe. Dies mache es erforderlich, alle Staatsgrenzen für den Außenhandel zu schließen.2 Der Grund dafür sei, so glaubte er, dass in der modernen 165 Welt einzig eine umfassende staatliche Regelung der Wirtschaft und eine vollständige Autarkie sicherstellen würden, dass sämtliche Bürger stets Arbeit haben würden und somit immer aktiv und frei sein könnten. Kant legte das Selbstverhältnis einer Person in seinen moralischen Aspekten als eine Form der Selbstgesetzgebung aus oder als selbstbestimmte Einsetzung eines allgemeingültigen Gesetzes für ihr eigenes Handeln. Ein äußerer politischer Prozess, nämlich der einer Gesetzgebung, wurde also imaginativ in das forum internum der menschlichen Seele verlegt, vielleicht in einer ähnlichen Weise, wie in der
antiken Welt der äußere politische Prozess der Beratung – wenn beispielsweise die Versammlung der Athener darüber beriet, ob die Einwohner von Mytilene hinzurichten seien oder nicht – irgendwann metaphorisch auf die inneren Denkprozesse eines Individuums angewendet wurde – wenn etwa Mikrokles mit sich zu Rate geht, ob er auf dem Markt ein paar Sprotten kaufen soll oder nicht. Trotz dieses Ursprungs kam es mir immer äußerst merkwürdig vor, dass jemand glauben sollte, unser Verhältnis zu irgendeiner politischen Organisation könne sinnvoll mit Begriffen verstanden werden, die von unserer individuellen Moral abgeleitet sind, und zwar sogar dann, wenn die besagte individuelle Moral selbst wiederum metaphorisch rekonfiguriert worden ist, als sei sie so etwas wie ein politischer Prozess. Dies ist insbesondere dann zutreffend, wenn die politische Aktivität, die als Modell dafür gedient hat, der sehr begrenzte, hochgradig von Zwängen bestimmte und artifizielle Prozess der Gesetzgebung war. Wolff kommt in dem Buch zu dem Schluss, dass in unser Verhältnis zum Staat kein moralisches Sollen einbezogen ist und dass folglich kein Staat legitim ist. Obgleich ich nicht geneigt bin, diese Schlussfolgerung zu bestreiten, vermute ich, 166 dass die von ihm diagnostizierten Probleme ebenso sehr von seinen engen kantianischen Ideen über das moralische Sollen per se wie von seiner Beschreibung der legitimatorischen Selbstdarstellung des Staates herrühren könnten. Wenn das moralische Sollen in so etwas wie der Form, in der Kant es sich vorgestellt hat – oder wovon Wolff glaubte, dass Kant es sich so vorgestellt habe –, überhaupt nicht existiert, dann ist es nicht überraschend, dass wir keine moralischen Verpflichtungen (im erforderlichen Sinn) gegenüber dem Staat und dessen Gesetzen haben.
Spaß und Spiele Mein Interesse an Wolffs Auffassungen entstand nicht infolge von Eine Verteidigung des Anarchismus, sondern als ich einen Aufsatz über Toleranz
von ihm las, während ich von 1967 bis 1968 ein Jahr in Freiburg im Breisgau studierte. Ich stieß auf das Buch Kritik der reinen Toleranz, die Übersetzung eines englischsprachigen Buches ins Deutsche, das drei Aufsätze enthielt: einen Text von Herbert Marcuse, der später sehr bekannt wurde (zumindest für eine gewisse Zeit in einigen Kreisen), einen von einem Harvard Historiker namens Barrington Moore und als dritten den Text von Wolff.3 Mir ist nicht viel davon im Gedächtnis geblieben, abgesehen von Wolffs Behandlung einer Frage, die, wie ich meine, eigentlich nur marginal mit dem vorgeblichen Thema »Toleranz« verbunden war. Diese Frage betraf den Wunsch auf Seiten der Befürworter von einigen Formen des Liberalismus, einen völlig neutralen oder unparteilichen Rahmen zu finden, auf den sich alle, trotz großer Unterschiede ihrer wesentlichen Anschauungen, Interessen 167 und Werte, als die endgültige normative Matrix der Politik einigen könnten. Wenn ein solcher Rahmen gefunden werden könnte, würde er nicht mit Zwang verordnet werden müssen (vermutlich, weil ihm jeder zustimmen könnte) und ebendies würde ihn für Liberale besonders attraktiv machen. Wolff sagt in diesem Text zunächst, ein Vorschlag für einen solchen Rahmen sei die gleiche und unparteiliche Durchsetzung einer Reihe von Regeln – derselben Regeln für alle –, dass aber schon ein kurzes Nachdenken genüge, um einzusehen, dass dies auf keinen Fall ausreichen würde, um auch nur im Ansatz etwas sicherstellen zu können, das wir »Gerechtigkeit« nennen würden, noch viel weniger aber, um garantieren zu können, dass eine Gesellschaft, in welcher der Rahmen konkretisiert wäre, in anderen, allgemeineren Hinsichten akzeptabel wäre. Wenn man also einen Zwanzigjährigen mit einem Zwölfjährigen boxen oder in einem Wettlauf gegeneinander antreten ließe, würde man sehr schnell feststellen, dass der Zwanzigjährige fast immer gewinnt. Dies würde auch dann noch zutreffen, wenn man einen unparteilichen Richter einsetzen würde, der einige einfache und einleuchtende Regeln durchsetzt, die »für alle dieselben [die gleichen]« wären. Dies könnten im Fall des Wettlaufs solche Regeln sein wie, dass jeder mit dem Startsignal zur selben Zeit vom selben Ort losläuft und niemand einem anderen Läufer in die Quere kommen
kann. Beim Boxen könnte es beispielsweise Regeln geben, denen zufolge es unzulässig ist, unter die Gürtellinie zu schlagen, eine spezielle Schutzausrüstung zu tragen oder einen Schlagring zu verwenden. Es besteht kaum Zweifel, dass die strenge Durchsetzung dieser Regeln eine Art vorhersehbarer Regelmäßigkeit und Gleichheit in die Spiele einführen würde, aber wir alle wissen auch, was sonst noch geschehen würde. Überraschung! In den 168 meisten Fällen würde nach wie vor der Zwanzigjährige gewinnen und der Grund dafür wäre einfach, dass zwanzigjährige Männer im Allgemeinen stärker und schneller sind als zwölfjährige Jungen. Und normalerweise würde es sich ebenso verhalten, wenn man einen Zwanzigjährigen, der 45 Kilo wiegt, im Boxring gegen einen ebenfalls Zwanzigjährigen antreten lässt, der 60 Kilo wiegt. Etwas Ähnliches ließe sich auch in anderen Situationen beobachten. Betrachten wir doch einmal den folgenden möglichen Fall: Es gibt einige vermögende Fabrikbesitzer, die es leicht verkraften könnten, den Betrieb einen Monat lang stillstehen zu lassen, ohne mehr als einen bescheidenen Verlust ihres Einkommens zu erleiden, Einkommen, das sie auch mit viel Fantasie nicht »benötigen«, um weiterhin ein vollkommen komfortables Leben führen zu können, und daneben gibt es Arbeiter in der Fabrik, deren Familien für den Fall einer erzwungenen Arbeitslosigkeit von der Dauer eines Monats sehr ernsthaft in finanzielle Bedrängnis kämen, selbst wenn sie nicht direkt verhungern müssten. Nehmen wir nun an, dass sich diese beiden Gruppen in einem Konflikt um die Arbeitsbedingungen oder die Entlohnung befinden. Die unparteiliche Durchsetzung einfacher, gleicher Regeln für beide Seiten wie etwa, dass die Verhandlungen jeden Tag für drei Stunden am Vormittag und drei Stunden am Nachmittag geführt werden sollen, bis eine Einigung erzielt ist, würde ein absehbares Ergebnis haben. Die Fabrikbesitzer würden die Verhandlungen in die Länge ziehen, bis die Arbeiter so verzweifelt und mittellos wären, dass sie keine Wahl mehr hätten, sondern praktisch jedes Diktat annehmen müssten, das man ihnen aufzwingen würde. Dies würde dann als »fair« und gerechtfertigt, vielleicht sogar als »frei vereinbart« und sicherlich als »mit
Zustim 169 mung« zustande gekommen gelten, wenn der Maßstab die unparteiliche Durchsetzung dieser »gleichen« Regeln wäre. Die betrachteten Fälle waren solche, in denen starke Kräfteungleichgewichte zwischen den betreffenden Parteien bestanden – die Kraft, zu rennen und zu boxen, im Falle der Jungen, die Kraft, zu überleben und ein minimal annehmbares Leben zu führen, im Falle der Eigentümer und der Arbeiter der Fabrik. In Fällen, in denen schwere Kräfteungleichgewichte bestehen, wird die Durchsetzung gleicher Regeln schon vorhandene Unterschiede der Kräfte nicht nur nicht automatisch aufheben, sondern sie kann die Wirkung haben, diese zu vergrößern, indem sie stabiler und dauerhafter oder sogar ausgeprägter werden. Um zu verstehen, warum die erzwungene »Gleichheit« Kräfteungleichgewichte verstärken kann, stellen wir uns vor, man würde die Zulassung zur Universität (und anschließend zu verschiedenen wünschenswerten beruflichen Laufbahnen) davon abhängig machen, einen Boxkampf zu gewinnen. Es gibt nichts daran, was grundsätzlich oder formal unstimmig wäre. Das Verfahren ist durch kein Gesetz der Unparteilichkeit ausgeschlossen; die Richter des Boxkampfes können vollkommen unparteilich sein. An diesem Punkt wird der Leser vermutlich einwenden: »Aber es ist nicht fair, magere Zwölfjährige, die nie zuvor geboxt haben, gegen gut genährte und ausgiebig trainierte Zwanzigjährige antreten zu lassen. Darum gibt es komplizierte Vorschriften, Unterschiede systematisch zu berücksichtigen. Daher wurde ein System von Gewichtsklassen eingerichtet, so dass Boxer nur mit anderen Boxern einer mehr oder weniger gleichen allgemeinen Physis konkurrieren, und es gibt Zusatzbestimmungen wie Handikaps und einen Vorsprung für jüngere Läufer, die gegen ältere ins Rennen gehen.« Der Leser könnte 170 noch hinzusetzen: »Die Einführung dieser Beschränkungen und dieses Systems aus Handikaps und Vorsprüngen bedeutet lediglich, dass wir vor dem Wettbewerb ›Chancengleichheit‹ herstellen. Sobald auf dem Spielfeld Chancengleichheit herrscht, ist allein die unparteiliche Durchsetzung einer Reihe von einfachen gleichen Regeln erforderlich.«
Jetzt sieht es so aus, als sei die allgemeine Idee der Unparteilichkeit vermittelst der Durchsetzung eines Systems von gleichen Regeln gerettet. Man muss nur ein paar weitere Regeln hinzunehmen, wie beispielsweise die, dass der Wettbewerb nur zwischen Jungen im annähernd gleichen Alter erfolgt. Die entscheidende Tatsache ist allerdings, dass man konkrete, aber auch verhältnismäßig ad hoc gebildete Kenntnisse von der realen Welt braucht, um zu wissen, welche Korrekturen man in das System von Regeln einführen muss, und dass einem klar sein muss, wie man diese Kenntnisse anzuwenden hat, um so etwas herauszubekommen wie das, was wir Chancengleichheit nennen. Das heißt, man muss wissen, dass beim Boxen Alter und Gewicht bedeutsame Faktoren sind, weshalb man keinen Zwölfjährigen, der 45 Kilo wiegt, gegen einen Zwanzigjährigen kämpfen lässt, der 60 Kilo wiegt. Es heißt aber auch, zu wissen, dass die Augenfarbe zum Beispiel für das Ergebnis eines Boxkampfes nicht relevant ist, ebenso wenig wie das Sternzeichen, das beim Augenblick der Geburt dominant war, so dass diese Faktoren keiner Korrektur oder eines Ausgleichs bedürfen. Wer entscheidet, was als ein relevanter vorangehender Unterschied zählt? Wie sieht es damit aus, wenn man dreizehn Jahre alte Jungen desselben Gewichts, die hungern mussten, gegen dreizehn Jahre alte Jungen desselben Gewichts kämpfen lässt, die gut ernährt wurden und systematisch fürs Rennen und Boxen trainiert wurden? Welche Medikamente dürfen von einem Wett 171 kampfteilnehmer fairerweise verwendet werden und welche müssen verboten werden? Extrapoliert man hier, wird man feststellen, dass sich mehrere Fragen ergeben. Wird man erstens jeden dazu bringen können, dem zuzustimmen, was als ein relevanter Faktor gilt, und würde nicht ein fehlendes Einverständnis darüber die weitergehenden und allgemeineren Ansprüche ins Wanken bringen, die der Liberalismus hinsichtlich der Angemessenheit dieses Rahmens geltend machen möchte? Wie weit will man bei der ausgleichenden Korrektur von Chancenungleichheiten gehen? Robert Paul Wolff zitierte The Rise of the Meritocracy als ein Buch, das für diesen Ansatz so etwas wie eine reductio ad absurdum darstellt.4
Später wurde mir klar, dass es sich bloß um einen Fall von Marx' genereller Auffassung handelte, der zufolge absolute Gleichheit eine Illusion sei.5 Selbst wenn man von der Tatsache abstrahiert, dass die absolute Gleichheit eine begriffliche Unmöglichkeit ist und als konkretes praktisches Ziel sehr destruktiv wirkt, und die relative Gleichheit in einem konkreten politischen Kontext lokalisiert, scheint dem noch etwas ziemlich Willkürliches anzuhaften. Denn je mehr man verschiedene Korrekturen (Handikaps etc.) einführt, um so mehr nähert man sich einem Punkt, an dem es so aussieht, als sei man bei der Befolgung der Regeln für die Gleichheit nicht unparteilich, sondern verändere die Regeln ad hoc, um das Ergebnis zu erhalten, von dem man meint, es solle herauskommen. Wo dieser Vorgang anfängt und wo er aufhört, ist willkürlich. Warum wird dies als ein möglicher relevanter Faktor angesehen und nicht das? Warum endet die Diskussion an diesem Punkt?
172 Lectio
Lesart
difficilior – die schwierigere
Wenn wir uns entscheiden, neue Maßnahmen einzuführen, um Chancengleichheit herzustellen, ist das ein wenig wie ein Verfahren, das ich aus der Schule vom Lateinlernen kenne. Uns wurde beigebracht, dass wir es vermeiden müssten, »das Latein dem Sinn zu entnehmen anstatt den Sinn dem Latein«. Das heißt wir Jungen, die wir im Lateinischen nicht allzu bewandert waren, erlagen der Versuchung, uns zu helfen, indem wir etwas auf den Text projizierten, von dem wir annahmen, die Textstelle müsse es wohl sagen wollen, und dies dann als Spickzettel benutzten, um dem Text genau diesen Sinn abzugewinnen, ohne Rücksicht darauf, was das Lateinische wirklich besagte. Diese Unterscheidung zwischen der Entzifferung des Lateins aus dem Sinn anstatt des Sinns aus dem Latein
wird der strengen Prüfung nicht standhalten können, wenn man sie akribisch begutachtet und absolut genau nimmt. Wie verschiedene Hermeneutiker deutlich gemacht haben, wäre man nicht in der Lage, einem Text überhaupt irgendeinen Sinn abzugewinnen, wenn man wirklich keinerlei Idee davon hätte, was möglicherweise in ihm stehen könnte.6 Man muss zumindest annehmen, dass er in Latein verfasst ist (und zwar in halbwegs korrektem Latein, einem Latein, das nicht übermäßig entstellt sein darf, um noch verständlich zu sein). Mit diesem Kommentar sind wir zurück auf dem Terrain, das von der Ungereimtheit des sola scriptura abgesteckt wird. Ein absolut voraussetzungsloses Verständnis ist, wie Vertreter der Hermeneutik klarstellen, völlig unmöglich. Sie beeilen sich jedoch auch, darauf hinzuweisen, dass dies mit der Existenz von realen Prozessen des Verstehens ganz und gar vereinbar ist. Es ist lediglich der Fall, dass uns das Verstehen abver 173 langt, sich anzupassen und als Erstes mit der Übernahme eines schon vorhandenen Netzwerks von Annahmen zu beginnen. Dies wird dann »in den hermeneutischen Zirkel eintreten« genannt. Wenn alles gutgeht, kann man die anfänglichen Annahmen revidieren, sobald man in diesem Zirkel ist. Innerhalb dieses Netzes, im lokalen Kontext, ist die Unterscheidung zwischen der Entzifferung des Lateins nach dem Sinn anstatt der Entzifferung des Sinns nach dem Latein nicht nur sinnvoll, vielmehr ist es unverzichtbar, diese Unterscheidung zu machen und einzuhalten, wenn man irgendetwas Neues von dem lernen will, was man liest. Sie ist die Grundlage für eine der anerkannten Prinzipien der Textkritik: lectio difficilior, die im Wesentlichen empfiehlt, immer dann die schwierigere Lesart zu bevorzugen, wenn es zwei Lesarten einer Textstelle gibt, von denen die eine ein eher unbekanntes Wort oder eines in einer eher unbekannten Konstruktion enthält und die andere ein sehr häufig gebrauchtes Wort in einer gängigen Weise verwendet. Die Schreiber, so wird dabei angenommen, hätten es höchstwahrscheinlich vermieden, eine unnötige Schwierigkeit in den Text einzubringen, den sie kopierten, sondern wären eher so vorgegangen, dass sie unbewusst oder sogar bewusst das Unübliche in etwas Geläufigeres geändert hätten. In
Kriglers Behandlung der skandalösen Widersprüche in biblischen Texten konnte man so etwas wie die Anwendung der lectio difficilior sehen. »Wähle die schwierigere Lesart« ist natürlich keine unfehlbare Regel; manchmal hatten die Schreiber einfach einen Aussetzer und schrieben Unsinn. Man wählt die schwierigere Lesart nicht, wenn sie wirklich gar keinen Sinn ergibt (sondern ein einfacher Abschreibfehler ist), und daher bedeutet »schwieriger« eigentlich »eher unüblich, aber dennoch vielleicht gerade noch möglich«. Manchmal nötigt das den Leser, sein oder 174 ihr eigenes Verständnis dessen, was möglich/verständlich ist, zu erweitern; wenn das geschieht, gibt es einen deutlichen kognitiven (und wahrscheinlich auch moralischen) Gewinn. Um ein solches Urteil treffen zu können – »dies ist höchst ungewöhnlich, aber gerade noch möglich« –, ist jedoch ein ziemlich hohes Maß an Kompetenz in der betreffenden Sprache erforderlich, eine Menge Erfahrung und normalerweise auch etwas Vorstellungsvermögen. Es gibt hierfür keinerlei Algorithmus oder Garantie. Die Frage »Wie kann man sich sicher sein, nicht genau die Bedeutung auf den Text projiziert zu haben, von der man annimmt, sie müsse darin zu finden sein?« hat ihre Parallele in der Frage »Wie kann man sich sicher sein, nicht künstlich das Ergebnis zu erzwingen, von dem man glaubt, es müsse richtig sein, indem man die Ausgangsbedingungen hinbiegt, um Chancengleichheit herzustellen?«
Rawls Als ich im September 1968 nach New York zurückkam, legte ich großen Wert darauf, die Vorlesungen von Wolff zu besuchen. Die grundlegenden Komponenten seiner Kritik am Liberalismus, die ich in diesen Vorlesungen hörte, sind in dem Buch The Poverty of Liberalism formuliert, das er 1968 veröffentlichte.7 Ich werde seine Argumente in dem Buch hier nicht noch einmal wiedergeben, aber ich war von seiner vorgreifenden Kritik an John Rawls sehr beeindruckt. »Vorgreifend« sage ich, weil er die Kritik
formulierte, bevor die endgültige Fassung von dessen Theorie überhaupt publiziert war. Wolff hatte an der Harvard University studiert und hatte durch herumgereichte Frühfassungen und Mitschriften von Studenten Zugang zu 175 einer Menge Material von Rawls gehabt, bevor es im Druck erschien. Er konnte also die zentralen Auffassungen von Rawls diskutieren, bevor A Theory of Justice im Jahr 1971 herauskam.8 Wolff sagte, Rawls sei ein ideologisches Genie, weil er zeige, wie man ausgehend von akzeptierten liberalen Prämissen für die »Gerechtigkeit« von groben Formen sozialer und ökonomischer Ungleichheit argumentieren könne. Es sei wichtig zu erkennen, dass die Rechtfertigung realer Ungleichheit das eigentliche Ergebnis, wenn nicht gar die Intention von Rawls' Position sei. »Viele augenscheinlich ungeheuerlichen Ungleichheiten können tatsächlich als gerecht verteidigt werden mit der Begründung, dass die am schlechtesten Gestellten ohne sie noch schlechter dran wären.« Um ein Beispiel zu geben, nehmen wir an, A hat ein Jahreseinkommen von 100 Millionen Dollar, B hingegen von 20 000 Dollar. Wie könnte dies für gerecht gehalten werden? Der Trick bestand darin, die unmittelbare Reaktion darauf nicht Empörung sein zu lassen, und das gelang mit der Behauptung, dass dieses Ergebnis – es ist gerecht, dass A so viel mehr hat als B – »eigentlich« der Ausdruck einer tieferliegenden Gleichheit sei, die für das menschliche Auge unsichtbar war, bis Rawls sie ans Licht brachte. Rawls argumentiert dafür, indem er eine imaginäre Situation erfindet – »den Urzustand« – und sie mit imaginären Akteuren bevölkert, von denen postuliert wird, sie seien gleich und wüssten zudem nichts über ihre eigene empirische Identität oder den tatsächlichen Stand ihres Vermögens oder ihre Stellung in der Gesellschaft. Dann argumentiert er, dass sich solche imaginären Akteure in einem solchen Urzustand auf eine Reihe von Regeln einigen würden. Eine dieser Regeln sei, behauptete er, dass unbeschränkte reale 176 Ungleichheit gerechtfertigt sei, vorausgesetzt, sie sei notwendig, um das Wohlergehen der am schlechtesten Gestellten zu verbessern. Wenn man nun echte Menschen dazu bringen könnte, sich mit diesen imaginären Akteuren zu identifizieren, hätte man den Fall für sich
entschieden. So wäre in dem Beispiel aus dem vorigen Absatz die ungleiche Verteilung zwischen A und B gerechtfertigt, vorausgesetzt, die folgende kontrafaktische Annahme wäre wahr: Angenommen, B ist das am schlechtesten gestellte Mitglied der Gesellschaft, dann würde B noch weniger haben, wenn A weniger haben würde. Das hieße zum Beispiel: Wenn A nur 99 Millionen Dollar haben würde, dann würde B nur noch 19 000 Dollar haben. Dies soll angeblich fair sein, und zwar einfach deshalb, weil es aus einer Reihe von Regeln folgt, auf die wir uns – oder vielmehr unsere imaginären Vertreter – alle zwanglos einigen würden. Hatte man Wolffs Art, die grundlegende Einsicht von Rawls zu betrachten, erst einmal verinnerlicht, konnte man von irgendeinem der zunehmend komplizierten Epizykel, die der Theorie angefügt wurden, nicht mehr beeindruckt sein. Rawls hatte eine große Lücke gefüllt, die in der amerikanischen Ideologie existierte, und er füllte sie haargenau, indem er eine Theorie bereitstellte, die es einer auf massive reale Ungleichheit zutiefst eingeschworenen Bevölkerung erlaubte, mit sich im Reinen zu sein, weil die obszönen Unterschiede hinsichtlich des Reichtums, der Macht und der Lebenschancen in ihrer Gesellschaft sich als reine Oberflächenphänomene herausstellten, die jeder mit einem tieferen Verständnis als das erkennen würde, was sie eigentlich waren: bloßer Ausdruck einer profunden menschlichen Gleichheit. Die Ungleichheit ist real und spürbar, die Gleichheit ein hinzugefügtes imaginäres Konstrukt. Wolff diagnostizierte dies nur als die neueste Version der Schwierig 177 keit, auf die Marx bei Rousseau hingewiesen hatte: Die Gleichheit, die Rousseau den Menschen zuschreibt, war die eines imaginären Staatsbürgers, während die Ungleichheit, die er im Grunde unbearbeitet ließ, die der realen empirischen Personen war, und die Erstere hatte in gewisser Weise die Letztere zu rechtfertigen.9
Anarchismus
Von Wolffs Kritik an den liberalen Konzeptionen der Toleranz und den liberalen Ideen von Neutralität und Fairness war ich positiv eingenommen, aber es gab dennoch etwas an seinem »Anarchismus«, das ich aus Gründen, die ich damals nicht genau ausmachen konnte, nicht akzeptieren konnte. Die grundlegende Ursache meines Unbehagens war, wie ich dachte, dass Wolff in Eine Verteidigung des Anarchismus die Frage der politischen Legitimität so aufzäumt, als ginge es dabei um die Versöhnung der politischen Autorität der Gruppe mit der individuellen Autonomie, und er diese Vorgehensweise so behandelt, als sei sie zu vernünftig, um in Frage gestellt zu werden. Dann argumentiert er für das, was er als die erstaunliche Schlussfolgerung darstellt, nämlich dass (grob gesagt) keine der existierenden Formen von politischer Organisation wirklich mit »individueller Autonomie« vereinbar ist, und zieht daraus den Schluss, dass keine staatliche Struktur legitim ist. Das schien mir allerdings unredlich zu sein. »Individuelle Autonomie« war bloß ein Fachausdruck für unseren alten liberalen Freund, das souveräne Subjekt, unter einer seiner Beschreibungen, und es war keineswegs überraschend, dass sich für dieses Subjekt herausstellte, mit verschiedenen politischen Strukturen nicht ver 178 einbar zu sein. Es war ein bisschen so, wie das, was Hegel über Kants »Ding an sich« sagt: Es sollte keine Überraschung sein, wenn man herausfindet, dass wir nichts darüber wissen, weil es speziell dafür gebildet und definiert ist, von jedem möglichen kognitiven Gehalt frei zu sein. Für mich lautete die eigentliche Frage: »Warum sollte man überhaupt so verrückt sein, von dieser quasikantianischen Konzeption der ›individuellen Autonomie‹ auszugehen? Wenn man von dieser Annahme ausgeht, hat man es einzig und allein sich selbst zuzuschreiben, wenn es zu nichts führt.« Wolff, so verstand ich es, fand es undenkbar, dass man so etwas wie die Konzeption der »individuellen moralischen Autonomie«, die man bei Kant (und auch im Liberalismus) als absolut grundlegend vorfindet, einfach nicht übernehmen oder akzeptieren könnte. Mir schien das jedoch falsch zu sein. Trotz seiner Aneignung eines (mehr oder minder) marxistischen Ansatzes zur Ökonomie und seiner
Selbstcharakterisierung als »Anarchist«, war Wolff auf diesem Gebiet eigentlich so etwas wie ein Liberaler. Zu der Schwierigkeit hier gehört, dass es im Grunde genommen zwei sehr verschiedene Arten von Positionen gibt, die sich selbst als »anarchistisch« bezeichnen. Als Erstes gibt es den libertaristischen Anarchismus im Stil von Max Stirner.10 Bei dieser Variante wird jeder ermutigt, von sich selbst als einem einzigartigen, potenziell unvergleichlichen wunderbaren Individuum auszugehen und sich als »Egoisten« zu betrachten, der (angeblich) vollkommen auf eigenen Füßen steht, niemanden sonst braucht und dessen grundlegende Beziehungen zur Welt (und zu sich selbst) solche des Besitzens von Eigentum sind. Niemand (und nichts) hat irgendwelche Ansprüche an mich, die verpflichtend sind. Die radikale Ablehnung jeglicher Form von Transzendenz hat ihr Komplement in der vollständigen 179 Selbstzentriertheit: So führt das »Mir geht nichts über Mich« zum Anspruch »Ich beziehe alles auf Mich«.11 Die zweite Position, die »anarchistisch« genannt wird, ist beispielsweise die von Pëtr Alekseevič Kropotkin vertretene und ließe sich als kommunistischer Anarchismus bezeichnen.12 Die Grundtatsache des menschlichen Lebens ist für Kropotkin nicht die mögliche Existenz irgendeines isolierten Individuums, das einen Sinn für die absolute Bedeutung seines Selbstbewusstseins, seiner Autonomie und moralischen Vorstellungen hat. Menschen sind vielmehr kulturelle Tiere, die immer schon als Mitglieder einer Gemeinschaft geboren werden und in Gemeinschaften leben, die durch natürliche Bande gegenseitiger Hilfe zusammengehalten werden. Die menschliche Geschichte sollte als Erzählung darüber gesehen werden, auf welche Weise die Bande der Kooperation gestärkt werden und auf welche Art und Weise sie geschwächt oder unterbunden werden. Der Staat und das Privateigentum werden abgelehnt, weil sie in die vorteilhaften Formen gegenseitiger Hilfe und freier Sozialität störend eingreifen. Die Bande wechselseitiger Hilfe werden allerdings in Fällen, die keine pathologischen Ausnahmen sind, nie vollständig aufgelöst, ganz gleich wie belastet und entstellt sie sein mögen.
Das »Ego« von Descartes, Locke, Kant und Stirner ist eine begriffliche Abstraktion, die an der eigentlichen Sache vorbeigeht. Wenn man nämlich die menschliche Welt zu jedem beliebigen Zeitpunkt wirklich verstehen will, muss man sich die charakteristischen Formen der Reziprozität und sozialen Kooperation in den größeren Gruppen anschauen; sie sind das, was die Gesellschaft zusammenhält und sie befähigt zu überleben, und sind somit die Vorbedingungen für die Existenz eines jeden gegebenen Individuums. Subjektivität, Bewusstsein, das individuelle Ego, das souveräne Selbst sind keine 180 grundlegenden oder eigenständigen Phänomene. Die einzelnen Menschen mögen natürlich subjektiv verschieden über die Formen der gegenseitigen Hilfe nachdenken, von denen sie abhängen, sie mögen darin versagen (oder sich aktiv weigern), einige der Formen anzuerkennen, sie mögen unterschiedliche Handlungsweisen suchen, um sich aus der realen Abhängigkeit von ihnen zu befreien. Alle diese Verhaltensweisen sind zweitrangig und abgeleitet. Wenn diese zwei sehr verschiedenen Formen von Anarchismus nicht klar unterschieden und getrennt gehalten werden, wird nur das größte Durcheinander die Folge sein. Während Liberale mit der libertaristischen Form von Anarchismus durchaus einen gewissen gemeinsamen Boden finden können, wird ihnen die kommunistische Version ein Gräuel sein. Aus diesem Blickwinkel betrachtet, war Wolffs libertaristischer Anarchismus bloß eine Form des Liberalismus, die außer Kontrolle geriet.
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Sidney Morgenbesser
Philosophie als praktischer Surrealismus Ziehe aus jeder Aussage oder aus der Negation
jeder Aussage den Schluss: deshalb existiert Gott. – Das erste Prinzip der jüdischen Logik
nach Sidney Morgenbesser Wenn p, warum nicht q? – Das zweite Prinzip der jüdischen Logik
nach Sidney Morgenbesser Sidney Morgenbesser war der Lehrer an der Columbia University, der insgesamt den größten Einfluss auf mich hatte. Allerdings hatte er, der an fast allem sonst stark interessiert zu sein schien, überhaupt kein theoretisches Interesse am Liberalismus. Jedenfalls war das ein Thema, das in den Gesprächen offenbar nie aufkam, und falls irgendwie doch, bewegte sich die Diskussion rasch weiter und kam vom »Liberalismus« als einem allgemeinen Begriff ab. Ich muss zugeben, dass mir dies damals nie aufgefallen ist; ich erkenne dies nur im Rückblick, wenn ich an jene Zeit zurückdenke und mich dabei speziell auf dieses Thema konzentriere. Wenn ich aber jetzt darüber nachdenke, scheint mir eine Erwähnung dennoch gerechtfertigt. Vielleicht war gerade das offensichtliche Fehlen des ganzen Phänomens bei jedem Gespräch, das er je mit mir geführt hat, die stärkste antiliberale Botschaft, die Sidney mir mitgeben konnte. Sidneys gesamtes Leben bestand aus Diskussion, und ein 182 Großteil davon war öffentliche Diskussion. Er war sozusagen die ganze Zeit vorne mit dabei; sein Motor lief immer, die Gänge waren eingelegt; die
glänzende, ständig wechselnde dialektische Oberfläche rotierte unablässig. Ging man mit ihm die Straße entlang, rief das in ihm einen nicht abreißenden Strom witziger, scharfsinniger, treffender Kommentare, Beobachtungen und Bemerkungen zu allen Aspekten der vorübergehenden Anblicke hervor (neben allgemeinen Kommentaren über philosophische Thesen, Bruchstücken jüdischer Überlieferung und zufällig eingestreuten Erinnerungen an das Leben an der Lower East Side). Ich hatte so etwas noch nie gesehen und gehört und habe so etwas seitdem nie wieder gesehen oder gehört: Man hätte Eintritt zahlen sollen. Sidney hörte wirklich nie auf: Ich besuchte ihn einmal in der geschlossenen psychiatrischen Abteilung eines New Yorker Krankenhauses, in das er wegen einer Elektroschockbehandlung gegen seine Depression eingewiesen worden war, und fand ihn dann vor einer großen Ansammlung anderer Patienten, Besucher und Klinikmitarbeiter, die sich um ihn scharten und ihm mit gespannter Aufmerksamkeit zuhörten, während er etwas veranstaltete, was einer Mischung aus Talkshow und Seminar glich. Sidney hatte eine sehr scharfsinnige Einschätzung von etwas, dem die meisten Versionen des Liberalismus nur schwer Rechnung tragen konnten, und das war die Existenz von Gruppen, die von sich glauben, sie hätten eine wesensmäßige Identität. Er kam auf das Thema, als er über einige in hohem Maße traditionalistische jüdische Gruppen sprach. Für diese sah es nicht so aus, dass sie aus souveränen Individuen zusammengesetzt waren, die sich alle dafür entschieden hatten, sich mit der Gruppe zu identifizieren, sondern ihre Mitglieder wurden gewissermaßen mit einer Identität geboren, von der man sich 183 noch nicht einmal ausmalen konnte und auch nicht sollte, sich von ihr zu lösen. In einem gewissen Sinne war es für sie bereits falsch, sich in die Urszene des Liberalismus – als freie, souveräne Wählende – hineinzuversetzen. Man könnte so lange mit ihnen reden, bis einem der Mund fusselig werde, aber man würde sie in einer Diskussion trotzdem nie überzeugen können. Wenn man ihre Lebensform radikal ändern würde, darin eingreifen und sie von Grund auf umkrempeln würde – indem man zum Beispiel ihre Kinder
entführen und sie vollkommen anderen Praktiken aussetzen würde –, dann wäre das natürlich etwas anderes, aber dafür würde man nie ihre Zustimmung bekommen. Alles, was ein Liberaler dazu sagen könne, meinte Sidney, sei doch, dass sie nicht so sein sollten, was vielleicht richtig wäre, für einen Liberalen jedoch eine ziemlich seltsame Äußerung sei. Dies überraschte mich überhaupt nicht, weil ich ähnliche Dinge – nicht genau die gleiche Geschichte, weil sie mit verschiedenen Berufungen auf den »freien Willen« ausgeschmückt war – schon von Krigler über den Katholizismus gehört hatte.
Sidney und die Kellnerin Sidney hatte eine unnachahmlich spielerische Art, sich an der Kritik einer Position zu beteiligen. Manchmal pflegte er einfach einen Witz zu erzählen, wie im Fall von Professor X, der als Vertreter der Wirtschaftsfakultät von der Universitätsverwaltung gebeten wurde, die Raumverteilung in der philosophischen Fakultät zu überprüfen. Professor X berichtete der Verwaltung, dass der Gemeinschaftsraum der Fakultät an den Nachmittagen »untergenutzt« sei und einer anderen Abtei 184 lung zugewiesen werden könne. Sidney schlug vor, wir sollten Professor X doch schreiben, wir hätten festgestellt, dass sein Wohnzimmer »an den Nachmittagen untergenutzt« sei, wenn seine Frau dort herumsäße und nichts täte, und dass wir empfehlen würden, eine Neuzuweisung des Raums an uns vorzunehmen.1 Zuweilen brachte Sidney regelrecht parodistische Sketche von der Art, wie man sie in der Performancekunst oder in einem Buch mit surrealen Partyspielen erwarten würde. Das Ganze konnte aussehen wie ein leicht exzentrischer Streich. So ging Sidney einmal ins Chock Full O'Nuts, ein Café, das an der Südseite der 116th Straße zwischen Broadway und Riverside Drive existierte. Dieser Laden bot nicht nur Kaffee an, sondern auch Gebäck, darunter wirklich scheußliche Donuts. Sidney mochte sie
aber. Die ziemlich resigniert aussehende Kellnerin wusste offensichtlich, was sie von ihm zu erwarten hatte, wie tatsächlich wohl – weil er eine bekannte Figur war – die meisten Leute im Viertel Morningside Heights zu dieser Zeit. Es entspann sich folgender Dialog: Kellnerin: Was darf ich Ihnen bringen? Möchten Sie Donuts? Sidney: Was für Donuts haben Sie denn? Kellnerin: Heute haben wir Vanille und Schokolade. Sidney: Ich hätte gern Vanille. Kellnerin: Mir fällt gerade ein, dass wir hinten noch einige Marmeladen-Donuts haben könnten. Sidney: Okay, dann nehme ich einen Vanille-Donut, es sei denn, Sie haben hinten noch Marmeladen-Donuts, dann nehme ich Schokolade.
Die kampferprobte Kellnerin, die in der Vergangenheit wahrscheinlich noch Schlimmeres mit Sidney erlebt hatte, ging müde weg, um ihm seine Donuts zu holen. Dies war natürlich Sid 185 neys Art, das Axiom von der Unabhängigkeit irrelevanter Alternativen zu widerlegen, das Kenneth Arrow ursprünglich in seinem Aufsatz zur Theorie rationaler Wahl formuliert hatte.2 Die Idee besagt, dass man die Präferenz einer Person zwischen Vanille und Schokolade beispielsweise als festgelegt annimmt und diese Präferenz unabhängig ist von dem Vorhandensein irgendeiner anderen möglichen Wahl wie dem Marmeladen-Donut. Da vieles in der Politik offensichtlich von strategischen Entscheidungen über den Zuschnitt von politischen Wahlmöglichkeiten abhängt, mit denen definiert wird, was relevant zu sein hat und was nicht, und dies dann anderen aufgedrängt wird, war mir dieses Axiom nie sonderlich nützlich erschienen, aber Sidney zog es vor, den Finger auf die Wunde zu legen.3 Robert Paul Wolff hat in einer vergleichbaren Diskussion rundheraus ein politisches Beispiel verwendet. Nehmen wir an, ich stehe vor einer Wahlentscheidung zwischen einer Partei (R), die gemäßigt rechts der Mitte einzuordnen ist, und einer Partei (L), die gemäßigt links der Mitte einzuordnen ist. Unter diesen Umständen würde ich L deutlich bevorzugen. Nun nehmen wir an, eine richtiggehend faschistische Partei (F) stellt einen Kandidaten auf. Es könnte durchaus so sein, dass ich Partei
L der Partei R vorziehe, wenn die Wahl darin besteht, doch wenn von Partei F eine ernsthafte Gefahr ausgeht, würde ich Partei R der Partei L vorziehen, weil ich der Meinung sein könnte, Partei R sei besser in der Lage, wirksam gegen die Faschisten durchzugreifen und ihnen den Boden zu entziehen, als L.4
186 Sidney
und der Jurist
Die Episode im Chock Full O'Nuts war vielleicht keine direkte Kritik am Liberalismus außer vielleicht insofern, als die rationale Entscheidungstheorie, die Arrow praktizierte, eine gewisse Nähe zu der Idee des souveränen, individuell Wählenden der liberalen Tradition aufwies. Sidney lieferte jedoch eine weitere Darbietung, die direkter auf einen zentralen Grundsatz (nicht nur) des Liberalismus abzielte. Sie hatte mit den Folgen der Ereignisse von 1968 an der Columbia University zu tun – Ereignisse, bei denen ich nicht unmittelbar Zeuge war, weil ich mich von 1967 bis 1968 durchgängig in Deutschland aufhielt. Die Grundzüge des Geschehens sind aber im Großen und Ganzen gar nicht umstritten: Protestierende Studenten besetzten einige Universitätsgebäude, und als Vertreter der Universitätsverwaltung damit drohten, die Polizei zu rufen, bildete eine Gruppe von Mitgliedern des Lehrpersonals eine Postenkette als Sperrgürtel um einige der besetzten Gebäude. Der Gedanke dabei war, dass die New Yorker Polizeikräfte offenkundig gewillt waren, die Studenten bedenkenlos anzugreifen, vielleicht aber weniger hemmungslos wären, übermäßige Gewalt gegen Lehrende der Universität einzusetzen. Dies stellte sich als eine Fehleinschätzung heraus, denn die Polizei ging zunächst mit Gewalt gegen die Lehrenden und danach gegen die Studierenden in den Gebäuden vor. Sidney, der zu der Postenkette gehörte, war einer von denen, die von der Polizei geprügelt wurden. Es hieß, er habe nach seiner Entlassung aus dem Krankenhaus noch einige Tage lang einen großen Verband um seinen Kopf getragen – den er als seinen
»brain-drain« bezeichnete. Etliche Jahre später sollte Sidney das Schöffenamt ausüben und wurde daher von einigen Gerichtsbeamten befragt, die sicherstellen 187 sollten, Schöffen von der Berücksichtigung auszuschließen, die vorurteilsbehaftete Einstellungen hegten. Es handelte sich um einen Fall angeblicher Polizeibrutalität, weshalb der Gerichtsbeamte Sidney danach fragte, ob er selbst jemals irgendwelche unangenehmen oder unfairen Erfahrungen mit der Polizei gemacht hätte. Sidney dachte einen Augenblick nach und erwiderte dann, er habe eine unangenehme Erfahrung gehabt – nämlich im Jahr 1968 von der Polizei zusammengeschlagen worden zu sein –, aber er könne nicht wirklich sagen, dass das unfair gewesen sei, denn die Polizei habe bei dieser Gelegenheit auf jeden eingeprügelt. Dies schien mir immer eine charakteristisch prägnante Einsicht in die inhärente Oberflächlichkeit eines jeden Ansatzes zu menschlichen Gesellschaften zu sein, welcher der Fairness einen zu zentralen Stellenwert einräumt. Manche Menschen sprachen und schrieben, als ob sie glaubten, Vorstellungen der Fairness seien unter Menschen natürlich, universell und unveränderlich. Sie sind aber alles andere als »natürlich« und universell. Nehmen wir an, eine Mutter schneidet Kuchen und gibt Kind A ein viel größeres Stück als Kind B, oder nehmen wir an, Kind A nimmt sich das Stück von Kind B zusätzlich zur eigenen Kuchenportion. Jetzt könnte es in dem Fall durchaus richtig sein, wenn Kind B deswegen Theater macht. Wenn man will, kann man das eine »natürliche« Reaktion nennen, doch es ist ein großer, sozial vermittelter Schritt von jener Reaktion zu der Behauptung, der Grund für die Aufregung von Kind B sei, dass es sich unfair behandelt fühlt. Wenn eine Katze einer anderen das Futter wegfrisst, wird die zweite Katze einen Zirkus veranstalten, gleichwohl wird niemand der Katze einen natürlichen Sinn für Fairness zuschreiben wollen. Kind B mag aufgebracht sein, weil es seinen 188 Kuchen nicht mehr hat oder weil es mehr Kuchen will, als es hat, aber man muss ihm beibringen zu sagen: »Das ist nicht fair.« Es muss lernen, auf diese Weise mehr Kuchen zu bekommen, und das klappt nur dann, wenn das Vokabular der Fairness in seiner Sprache existiert und wenn Vorstellungen
der Fairness in der umgebenden Gesellschaft gemeinhin verankert sind, und wir wissen, dass dies nicht der Fall ist. Gerade so, wie wir wissen, dass vielen Gesellschaften jede Vorstellung von einer universellen menschlichen Gleichheit abgeht, sondern diese vielmehr voraussetzen, dass Sklaven und freie Personen, Männer und Frauen, Mitglieder ihrer eigenen Gruppe und Fremde offenkundig nicht gleich sind und nicht gleich behandelt werden sollten, so fehlt vielen Gesellschaften einfach auch unser hochgradig spezifische Begriff von »Fairness«. Man wäre also äußerst schlecht beraten, ihn in irgendeiner philosophischen Argumentation unbekümmert als eine unproblematische und unbestrittene Annahme zu behandeln.
Sidney, Robert Paul Wolff und die Oxford Dons Beide, Robert Paul Wolff und Sidney, hatten von der Oxforder Moralphilosophie von Anfang und Mitte des 20. Jahrhunderts eine sehr geringe Meinung. Wolff hatte eine Zeitlang in Oxford studiert – das muss in den späten 1950er Jahren gewesen sein – und war im Grunde abgestoßen von dem, was er als eine Scholastik der Ethik ansah, die dort betrieben wurde. Soweit er das beurteilen konnte, gab es überhaupt keine wirkliche Meinungsverschiedenheit unter den Oxforder Philosophen darüber, was die Ethik von uns verlangte. Sie wichen nur in zwei kleineren praktischen Punkten voneinander ab: Ob wir Pflich 189 ten gegenüber Tieren hätten und ob es zulässig wäre, Suizid zu begehen. Das Studium der Ethik wurde darauf reduziert, einfach nach immer mehr undurchschaubaren und raffinierten Argumenten für eine Schlussfolgerung zu suchen, die von Anfang an feststand, das heißt dafür, zu beweisen, dass Menschen nicht lügen und nicht stehlen und ihre Steuern zahlen sollen. Dies war dieselbe Struktur, wie sie Sidney für die
»jüdische Logik« analysiert hatte: Die Schlussfolgerung (dass Gott existiert) war von Anfang an gegeben und das »Denken«, wie Sidney es ausdrückte, bestand darin, mehr und komplexere Argumente für diese Konklusion und für Widerlegungen von vorgeschlagenen Gegenargumenten zu erfinden. Es ist gut möglich, dass einige Leserinnen und Leser Wolffs Einwände gegen die Oxforder Ethik aus zwei Gründen nicht überzeugend finden. Erstens könnte man der Ansicht sein, dass die Meinungsverschiedenheiten darüber, wie man mit Tieren umgehen sollte und welche Haltung man zum Suizid einnehmen sollte, in Wirklichkeit nicht so trivial sind, wie Wolff sie einzuschätzen schien. Zu Beginn von Der Mythos des Sisyphos behauptet Camus, die einzig wahre philosophische Frage sei die Frage nach dem Suizid, und selbst wenn man das für eine Übertreibung hält, ist der Suizid sicherlich ein wichtiges und legitimes Thema, über das nachzudenken und zu diskutieren ist. Das Gleiche gilt für unser Verhältnis zur natürlichen Welt, insbesondere zu Tieren. Doch diese Reaktion ist falsch, meine ich, denn Wolff bestritt gar nicht die Wichtigkeit dieser Themen. Er lehnte vielmehr das Format ab, das man für das einzige hielt, in dem die Diskussion erfolgen könne. War es unumgänglich, dass wir über Menschen und Tiere nur in den Kategorien des Nutzens, der Pflicht oder der Rechte nachdenken müssen? Gab es im Hinblick auf den Suizid einzig und allein 190 »erlaubt oder verboten« zu erörtern? Bekam man die interessantesten Aspekte in unserem Verhältnis zum eigenen Tod zu fassen, indem man die Frage in dieser Form stellte? Zweitens könnte man der Ansicht sein, dass die von Wolff beschriebene Struktur – man kennt die Schlussfolgerung, zu der man gelangen will, und versucht dann, eine Argumentation dafür zu finden – offenkundig kein Rezept für Scholastik war, sondern im Grunde genommen eher so etwas wie die Beschreibung eines wichtigen Zugs an fast jedem menschlichen Denken. Wolff selbst betonte in anderen Zusammenhängen, dass Philosophen im Allgemeinen nicht irgendwelche willkürlichen oder sogar scheinbar gut gestützte Annahmen aus der Luft greifen und dann einfach die logischen Konsequenzen dieser Annahmen untersuchen, woraus sie
schließlich Schlussfolgerungen ziehen, zu denen sie sich dann wegen ihrer überzeugenden Rationalität automatisch und rückhaltlos bekennen. Das Denken versuche stets, irgendwo hinzugelangen, und insofern müsse es eine wie auch immer vage Vorstellung von einem möglichen Ziel geben, einer Schlussfolgerung, die man erreichen möchte, damit überhaupt etwas zustande komme. Philosophen wüssten immer, welche Schlussfolgerung sie anstreben, bevor sie mit der Argumentation beginnen würden. Wenn sie ein bestimmtes Niveau hätten, könnten sie von dem, was sie im Laufe ihrer Argumentation entdeckten, aber auch überrascht werden und sogar ihre Meinung ändern. Wolff veranschaulichte dies mit seinem eigenen Fall. Er hatte damit angefangen, über das Argument nachzudenken, das er schließlich in dem Buch Eine Verteidigung des Anarchismus vorstellte, weil er glaubte, er könne eine positive Lösung für das finden, was er für das Grundproblem der politischen Philosophie hielt: wie die Vereinbarkeit von politischer Verpflichtung und indivi 191 dueller moralischer Autonomie möglich sei. Er war sich sicher, dass es ein Argument dafür geben würde, denn ohne ein solches wären die politische Philosophie und, wie er dachte, das heutige politische Leben in einem gewissen Sinne ohne Fundament. Er war deshalb sehr stark motiviert, das Argument zu finden. Das war der einzige Grund, weshalb er das Vorhaben in Angriff nahm. Obwohl er alles Erdenkliche versuchte, um eine »Rechtfertigung« für die politische Verpflichtung zu finden, musste er allerdings in seinem eigenen besonderen Fall erkennen, dass sämtliche Argumente, die er erarbeiten konnte, scheiterten, und er hatte den moralischen Mut, das zu akzeptieren und die Schlussfolgerung umzukehren. Anstelle von Eine Verteidigung der politischen Verpflichtung schrieb er Eine Verteidigung des Anarchismus. Ich dachte natürlich, er hätte eine völlig andere Schlussfolgerung ziehen sollen, nämlich dass der Grund dafür, weshalb das Argument scheiterte, die liberale Idee der moralischen Autonomie war, von der er ausging. Aber seine Fähigkeit, seine Meinung als Folge der Argumentation zu ändern, war dennoch beeindruckend. Um dies nun auf Wolffs Ansichten über die Oxforder Philosophen anzuwenden: Es ging nicht darum, dass alle diese Philosophen versuchten, die gängige Moral der britischen Mittelschicht zu
rechtfertigen – was sonst sollte man von ihnen erwarten? Es ging vielmehr darum, dass sie nie in der Lage oder gewillt zu sein schienen, diejenigen Implikationen ihrer Argumente konsequent auszubuchstabieren, die zentrale Grundsätze ihrer Lebensweise irgendwie in Zweifel ziehen konnten. Das war es, was so unphilosophisch war. Sidneys direkter Umgang mit Leuten in Oxford war deutlich begrenzter und belief sich auf ein, zwei längere Besuche, aber von der Atmosphäre dort war er ebenso abgestoßen. Die Uni 192 versitätsdozenten hießen ihn zwar willkommen, taten dies allerdings in einer Weise, die ihm unangenehm aufstieß. Sie verhielten sich so, sagte er, als ob sie ihm einen großen Gefallen damit erweisen würden, ihn in ihr gemeinsames Dozentenzimmer aufzunehmen, was ohnehin nur geschehen sei, weil er sie zum Lachen brachte. Er war etwas empfindlich dafür geworden, als Entertainer angesehen zu werden anstatt als seriöser Denker. Doch was wichtiger war: Er spürte hinter der ihm gewährten Aufnahme eine große Bereitschaft, die Macht des Ausschlusses zu gebrauchen, die diese Gruppe von Leuten besaß und die sie einsetzen konnte, wann es ihnen passte, und das störte ihn. Dies war eine rein persönliche Reaktion von ihm ohne besonderen kognitiven Stellenwert, könnte man sagen, aber Sidney hatte noch einen weiteren Punkt zu beanstanden, der substanzieller war und der den Dingen ähnlich war, die Wolff berichtet hatte, obwohl Sidney sie in seiner typisch spielerischen Art ausdrückte. Die Oxforder glaubten anscheinend, dass jeder mit einer angeborenen Kenntnis der CricketRegeln auf die Welt käme, sagte er, und somit mit der Idee des Fairplay. Dies sei jedoch ein sehr schwacher Ansatzpunkt dafür, irgendetwas von der Welt zu verstehen. Wenn die Oxforder Moralphilosophen dann bemerkten, dass die meisten Menschen in den meisten Ländern diese Regeln nicht befolgten, ja, schlimmer noch, keine Idee hatten, dass sie existierten, änderten sie ihre Auffassungen nicht, sondern schrieben einfach den Rest der Welt als unzurechnungsfähig ab. Sie hätten sich allerdings Lockes Kritik an der Lehre von den angeborenen Ideen zu Herzen nehmen sollen, meinte Sidney, dann hätten sie erkannt, dass nicht
einmal die Idee der Fairness Teil des Denkapparates ist, mit dem jeder Mensch geboren wird.
193 Sidney
und die Motivation
In gewisser Hinsicht war das Wichtigste, was ich von Sidney lernte, etwas nicht Greifbares darüber, wie es möglich und angebracht sei, in der Philosophie vorzugehen. Sidney machte eine klare Unterscheidung zwischen zwei verschiedenen Dimensionen, die in unserem Umgang mit philosophischen Theorien, Auffassungen und Positionen eine Rolle spielen. Auf der einen Seite war das die Dimension des Beweises und des logischen Denkens, die eine Reihe potenziell verschiedener Dinge umfasste, welche aber alle in der einen oder anderen Weise damit zusammenhingen, empirische oder argumentative Stützung für einen Standpunkt oder eine Theorie zu beschaffen. Dies könnte beinhalten, offensichtlich beobachtbare Beweise für die Theorie zu sammeln, Argumente für sie vorzubringen, möglichst zu zeigen, wie sie unterschiedliche, sonst unverständliche Phänomene erklären kann, sie in verschiedenen Hinsichten zu entwickeln und auszuarbeiten und Kritik an ihr zu widerlegen. Die traditionelle Philosophie stellt diese Angelegenheiten genau ins Zentrum ihrer Aufmerksamkeit; sie zu diskutieren war das tägliche Brot des traditionellen philosophischen Handwerks, wie man es üblicherweise praktizierte, und so wurden die meisten davon gründlich erforscht und behandelt. Sidney bestand jedoch darauf, dass es in unserem Verhältnis zu philosophischen oder theoretischen Ansätzen und Positionen eine weitere Dimension gebe, die viel enger mit Fragen der menschlichen Psychologie und Motivation zusammenhänge. Man kann beispielsweise vollkommen berechtigt nach »den Argumenten« fragen, die für oder gegen den Utilitarismus, den Monotheismus oder den Geist-Hirn-Reduktionismus »vorgetragen worden sind«; man kann aber auch nach dem
Verhält 194 nis fragen, das ein Individuum, zum Beispiel Jane, zu diesen Positionen unterhält (und zu der Fülle philosophischer Argumentationen, die sie umgeben). Die hierfür angebrachten Fragen könnten so lauten wie: »Glaubt sie an diese Theorie (des Reduktionismus oder Utilitarismus oder was auch immer)?« »Setzt sie sich ernsthaft mit der Theorie und den Argumenten für und gegen sie auseinander?« »Ist sie (jetzt) motiviert, sie weiter zu diskutieren, auszuarbeiten oder zu verteidigen?« »Ist sie der Theorie verpflichtet (in welcher Weise)?« »Ist sie gewillt, die Theorie zu verwenden? Unter welchen Umständen ist sie bereit, sie zu verwenden und wie?« Das sind offenkundig Dinge, die alle leicht verschieden sind. Ich kann eine Theorie verwenden, ohne irgendwie an sie zu glauben – sie ist einfach eine Faustregel oder ein Mittel der Berechnung –, und ich kann mich weiter daran beteiligen, eine Theorie mit Argumenten zu verteidigen, selbst wenn ich in einem gewissen Sinne nicht an sie glaube und sie niemals als eine Richtschnur verwenden würde, wenn ich handeln muss. Viele Philosophen haben diesen Fragen ihre Aufmerksamkeit gewidmet, aber Sidney war der Meinung, dass die Diskussion nicht selten ein wenig im Schatten von mehreren naiven Annahmen stünde. Die wichtigste dieser Annahmen war die stillschweigende Erwartung, dass die Motive, Festlegungen und das Engagement einer vollständig rationalen Person dem Verlauf »der Argumentation« in einer einfachen und leicht erkennbaren Weise folgen würden. Wenn einer rationalen Person mehr Belege und zunehmend bessere Argumente für irgendeine Ansicht oder Position geliefert werden, wird sie immer mehr – oder sollte jedenfalls immer mehr – zu der Überzeugung gelangen, dass diese Ansicht richtig ist, sowie dazu, ihr gemäß zu handeln; Engagement und Festlegung sollten auch folgen, wenn der Beweis in die entgegen 195 gesetzte Richtung läuft, so dass dann, wenn der beweisführende und argumentative Trend gegen eine Auffassung spricht, sich dies sichtbar in der Weise abbilden sollte, in der sich eine rationale Person davon distanziert. Das ist natürlich nicht das, was normalerweise geschieht, aber die meisten Philosophen würden glauben, dass das irgendwie philosophisch unwichtig sei, nichts weiter als
das empirische Versagen der meisten Menschen, den idealen Maßstäben der Rationalität gerecht zu werden. Wäre diese Beschreibung eine gänzlich richtige Analyse der Situation, so machte Sidney geltend, dann wäre unsere fast ausschließliche Konzentration auf das »Argument«, die Beweise, das logische Denken, das heißt also auf die erste der beiden Dimensionen, nachvollziehbar, weil es dann der Fall wäre, dass alles in der zweiten Dimension idealerweise von dem abhängen sollte, was in der ersten Dimension geschähe. Sidney hätte natürlich nicht im Traum daran gedacht, zu leugnen, dass es im Allgemeinen eine sehr gute Idee sei, sich bei seinen Überzeugungen, Engagements und Handlungen von der Beweislage leiten zu lassen. Nur ein Dummkopf würde das bestreiten. Er glaubte allerdings nicht, dass dieses allgemeine Prinzip schon die ganze Wahrheit sei. Viele Formen des Handelns und der Überzeugung ließen sich nicht, jedenfalls nicht komplikationslos, in dieses Schema einfügen. Es gebe viele bedeutende Fälle, in denen die Festlegung der Beweislage vorauseile oder das Engagement hinterherhinke oder in denen sich Menschen von Theorien abwendeten, die nicht wirklich widerlegt worden seien, bei denen sie aber einfach die Motivation verloren haben, sie weiter zu verfolgen. Wenn man wollte, könnte man sicherlich behaupten, bei Fällen wie diesen handele es sich allesamt um solche, in denen sich menschliche Schwäche oder Irrationalität zeige, aber wäre das wirklich eine plausible oder hilfrei 196 che Vorgehensweise? Nehmen wir einmal an, Jane hätte alle beweisführenden und argumentativen Schritte in der Diskussion der ptolemäischen Astronomie, des Utilitarismus, des Monotheismus oder des Geist-Hirn-Reduktionismus gewissenhaft mitverfolgt. Nehmen wir außerdem an, sie sei zu dem Schluss gekommen, diese Positionen seien nicht widerlegt worden und vielleicht sogar ebenso gut gestützt wie die offensichtlichen Alternativen dazu. Nehmen wir zuletzt an, dass sie sich dann von einer dieser Theorien distanzierte oder aufhörte, sie als eine Richtlinie für ihr Handeln zu verwenden, und sich nicht die Mühe machte, sie in der Diskussion zu verteidigen, wie sie es vorher vielleicht getan hatte. An diesem Punkt zu behaupten, Janes abhandengekommenes
Engagement sei ein rein psychologisches Phänomen, zu dem die Philosophen nichts weiter zu sagen hätten, wäre mehr als nur enttäuschend, es wäre eine Abdankung. Die zwei Dimensionen kommen nicht wirklich zur Deckung, obgleich sie – jedenfalls wenn man einigermaßen bei Verstand ist – nie vollständig entkoppelt sind, und die Philosophie sollte über beide und über ihre möglichen Wechselwirkungen etwas zu sagen haben. Sidney behauptete nicht, hierfür selbst eine durchdachte, umfassende Theorie zu haben, aber er war der Ansicht, dass das Fehlen einer Theorie nicht bedeutete, dass es keine wichtige und machbare Aufgabe wäre, ernsthaft über diese Fragen nachzudenken. In diesem Zusammenhang ließ er uns John Henry Newmans Grammar of Assent lesen, ein Buch, das von dem Verhältnis zwischen Glauben und Vernunft handelt. Das war, gelinde gesagt, ein Text, von dem ich nicht erwartet hatte, ihm in einem Philosophieseminar für nicht fortgeschrittene Studenten an der Columbia University zu begegnen. Meine Grunderfahrung bei der Lektüre von Newman war, 197 dass er und ich auf demselben Weg unterwegs waren, uns aber in genau entgegengesetzte Richtungen bewegten. Er war erpicht darauf zu zeigen, dass es nicht irrational sei, in gutem Glauben von Dingen überzeugt zu sein, obwohl es keine wirklich rationale Stützung für sie gebe, und ich wollte sagen, dass der von Krigler und Senje vertretene Katholizismus intern nicht inkohärent sei und dass es kein angebbares Argument gab, dass er in meinen Augen verloren hatte, ich aber dennoch nicht motiviert oder geneigt war, ihn zu akzeptieren. Ein richtiger Katholik würde sagen, dass ich »den Glauben verloren« hätte, doch das ist eine theoretisch stark aufgeladene Beschreibung der Situation, die ich nicht akzeptieren würde, schon deshalb, weil sie vorauszusetzen scheint, dass ich zunächst »den Glauben gehabt« hätte. Schließlich begann ich mich zu fragen, ob der Grund, weshalb Sidney nicht viel über den Liberalismus sprach, vielleicht gar nicht der war, dass er dachte, es gebe irgendein hieb- und stichfestes Argument gegen ihn. Auch wenn er nie etwas Derartiges sagte: Vielleicht hatte er ja lange über ihn nachgedacht und dann einfach festgestellt, dass
ihm die Motivation fehlte, sich mit dem Liberalismus nach dessen eigenen Bedingungen noch weiter auseinanderzusetzen.
199 10
Robert Denoon Cumming Menschliche Natur und Geschichte
Weil es nichts gibt, das brauchbarer dafür ist, Menschen zu korrigieren, als das Wissen von den Handlungen derer, die uns vorausgegangen sind. – Polybios, Historien 1.1 Ungeachtet meiner großen Bewunderung für Sidney Morgenbesser muss man sagen, dass er klar ein Mann des lebendigen und gesprochenen Wortes war, aber nicht des geschriebenen. Er war intellektuell zu ungeduldig, um einen Text immer wieder zu überarbeiten, bis Aufbau und Ausdrucksform absolut stimmig sind. Eine Doktorarbeit musste ein über einen längeren Zeitraum fertiggestellter und vorzugsweise polierter Text sein, und ich machte mir Sorgen um die Stärke meines Charakters und meine Fähigkeit, mich unter Sidneys beständig scharfsinniger, aber auch fortwährend abschweifender Dialektik für eine geeignete Abhandlung zu entscheiden, sie durchzuhalten und abzuschließen. Sidneys Denken und Diskurs waren ein schwindelerregendes Kaleidoskop, das in gewisser Weise ein Modell war für intellektuelle Aktivität im Sinne einer unaufhörlichen theoretischen Bewegung, aber ich dachte, es sei wahrscheinlich ebenso wichtig, in der Lage zu sein, eine Momentaufnahme von den vorläufigen Ergebnissen dieser Aktivität zu einem bestimmten Zeitpunkt zu machen und sie schriftlich zu fixieren, selbst wenn die eigenen Überlegungen in einem gewissen Sinne eigentlich schon weitergezogen waren. Ich dachte, 200 Sidney als Doktorvater wäre ein aktiver Hinderungsgrund für diesen Teil des Prozesses. Außerdem wollte ich etwas über Heidegger schreiben, und Sidney hatte, was
Heidegger anging, einen vollkommen blinden Fleck, was er auch selbst zugab. Ich wandte mich also an Robert Denoon Cumming und fragte ihn, ob er meine Doktorarbeit betreuen würde. Er war der letzte Lehrer an der Columbia, der mich stark beeinflusst hat. Ich höre nur zu deutlich das nachhallende Schweigen, das der Erwähnung seines Namens entgegenschlägt. Schon zu Lebzeiten war er der größeren Öffentlichkeit und übrigens auch den meisten Philosophen der Mainstream-Philosophie so gut wie unbekannt, mittlerweile ist er mehr oder weniger völlig vergessen. Sein erstes Buch, Human Nature and History, ist offenbar seit geraumer Zeit vergriffen.1 Dass er und sein Werk unbekannt waren und geblieben sind, ist die Folge einer Verbindung von mehreren Faktoren, von denen seine Persönlichkeit und die Art zu leben, für die er sich entschied, nur einer war.
Mill und das Lothringerkreuz Bob war ein Mann, der zu zwei Welten gehörte: zu Neuengland und zu Frankreich; oder um es akademischer auszudrücken: zur angloamerikanischen politischen Theorie und zu Phänomenologie-undExistenzialismus. Vor dem Krieg hatte er an der Harvard University Altphilologie studiert, war dann aber zum weiteren Studium nach Frankreich und Deutschland gegangen. Er erzählte mir einmal, eine der entscheidenden Erfahrungen in seinem Leben habe sich in East Anglia nach der Niederlage Frankreichs zugetragen, wo er auf einer Landstraße einem gepanzerten Wagen mit dem Lothringerkreuz darauf 201 begegnet sei, der in einer Hecke gesteckt habe. Er beschloss umgehend, sich den Freien Französischen Streitkräften anzuschließen und wurde schließlich Verbindungsoffizier. In dieser Funktion war er bei der 2. Panzerdivision des General Leclerc für die Gefechtsaufklärung zuständig und erhielt mehrere militärische Auszeichnungen.
Er war eine vollkommen introvertierte, zurückgezogene, sich im Hintergrund haltende Erscheinung, oder vielleicht sollte ich eher sagen, Nichterscheinung. Er besuchte nie Konferenzen, nahm nie Vortragseinladungen an, trieb sich nirgendwo herum, ließ sich auf keine Clique ein, mischte sich nie in der Weise wie Sidney bei allem und jedem ein. Bob hielt seine Vorlesungen und hatte seine (umfangreichen) Bücher, die er mit äußerster Sorgfalt, nach reiflicher Überlegung und sehr bedächtig schrieb. Er war ein Mann weniger Worte, ich mochte ihn. Sidney höchstselbst kommentierte den Unterschied zwischen ihnen wie folgt: »Ich bin Jude; ich spiele Basketball mit jedem, der gerade da ist. Bob ist ein Neuengland-Protestant, er spielt Basketball nur mit Gott allein.« An diesem Punkt schaute Sidney mich an – scharf, dachte ich – und sagte: »Und was ist mir dir, was für einer bist du?« Das war strukturell eine sehr unbequeme Frage für mich. Ich war offenkundig kein Jude, und es wäre nicht nur falsch, sondern auch kulturell absurd gewesen, zu behaupten, ich sei Protestant. Also sagte ich ihm, er als atheistischer Jude könne ganz froh sein, weil sein Minjan, der aus allen bestand, die gerade um ihn herum waren, im Grunde selbstgenügsam war, aber es sei schwer, Basketball gegen eine imaginäre Einheit zu spielen, von der man wüsste, dass sie imaginär sei, bis man die richtige Formation dafür gefunden hätte, was ich nicht hatte. Wenn man das nicht hatte, verkam das 202 Spiel rasch zu etwas, was dem Versuch glich, Tennis ohne Netz zu spielen. Sidney wusste das genauso gut wie ich; er amüsierte sich einfach, während er abwartete, was ich sagen würde. Ich war versucht hinzuzufügen, dass ich die binäre Wahl ablehnte. Katholiken, selbst Senje, der es »wagen wollte, anders zu sein«, mochten im Allgemeinen keine ad hoc und bunt zusammengewürfelten Gruppen von Spielern oder individuelle, komplett imaginäre Wettbewerbe. Sie zogen es vor, »andersartige« Mitglieder von organisierten Teams in echten Begegnungen zu sein (wenn möglich mit etablierten Praktiken, Sakramenten, Ritualen und Traditionen). »Teams« stehen für »religiöse Orden«, »Bruderschaften«, »Sodalitäten«, »politische Parteien«, »Bewegungen« (wenn sie ausreichend organisiert sind), »Schulen« usw.
Aber was sollte man tun, wenn kein annehmbares, bereits organisiertes Team vorhanden war, das auf die tatsächliche Situation überhaupt ansprach, und wenn dennoch offensichtlich war, dass etwas Neues getan werden musste – obwohl nicht einmal klar war, was das wäre? Für einen Juden oder einen Protestanten war das aus ersichtlichen Gründen kein Problem. Ich widerstand der Versuchung, diese weitergehende Erwiderung auszusprechen. Der Grund dafür war teilweise in meiner Reaktion auf etwas zu suchen, was Herbert Marcuse sagte, bei der einzigen Gelegenheit, als ich ihn sprechen hörte; das war an der Columbia University in New York und muss etwa 1970 gewesen sein. Am Ende seines Vortrags fragte ihn jemand provokant aus dem Publikum, welche politische Partei er unterstütze, und er antwortete: »Zeigen Sie mir eine fortschrittliche politische Partei der Arbeiterklasse mit Massenbasis und ich werde sie unterstützen.« Das kam beim Publikum nicht so gut an, das klug genug war zu wissen, dass dies nur eine elegante Art war zu sagen: »Im Augenblick keine.« Es war 203 in der Tat eine schwache Antwort – realistisch vielleicht, aber sicherlich schwach – und jeder wusste das. Meine unterdrückte Antwort auf Sidney wäre ebenso schwach gewesen. Leider gingen die westlichen Ökonomien im Laufe der 1970er Jahre in eine Stagnation über, und wir traten in die Phase politischer Reaktion ein, die bis heute andauert. Als Reagan und Thatcher ans Ruder kamen und man plötzlich sehr gewissenhaft Rawls zu lesen begann, verwandelte die veränderte geschichtliche Situation das, was zuvor eine Form von Schwäche gewesen war, in etwas, das wie Voraussicht aussehen mochte. Es gab allerdings noch andere Gründe dafür, weshalb Bob keine Aufmerksamkeit auf sich ziehen konnte, die nicht mit seiner zurückgezogenen Persönlichkeit zu tun hatten, sondern mit der Tatsache, dass seine Arbeit sehr nüchtern, vielschichtig und gelehrt war und sich den damaligen Theoriemoden ganz und gar verweigerte. In den 1950er und 1960er Jahren hatte er am Department für Staatswissenschaften ein Seminar unterrichtet, das »Geschichte der politischen Theorie in ihrem institutionellen Rahmen« betitelt war. Er hatte dieses Seminar zusammen mit Franz Neumann gegeben, der ehemals als Forscher mit der Frankfurter
Schule verbunden war. Ich denke, es ist wichtig zu erwähnen, dass ein Seminar wie dieses in den Vereinigten Staaten zu dieser Zeit ungewöhnlich war. Politische Theorie wurde im Allgemeinen als ziemlich abstrakter Gegenstand behandelt, idealerweise (oder vielleicht sollte ich sagen, dem Anspruch nach) wie Geometrie oder Chemie, und nicht als Ausdruck von und als Reaktion auf konkrete geschichtliche Ereignisse, die bestehende (und in einem gewissen Grad zufällige) soziale und politische Strukturen beeinflussen. Und selbst wenn es eine historische Komponente gab, die in einer Geschichte der politischen Theorie wohl kaum fehlen dürfte, han 204 delte es sich um Geschichte, wie sie der Vorstellung von Petrarca entsprach: ein erhabener Gedankenaustausch großer Geister durch große Texte und die Zeitalter hindurch, ein Berggipfel sozusagen, der einem anderen antwortet. Geschichte wurde als eine Abfolge von Positionen gelehrt, wobei spätere Figuren auf Schwierigkeiten in den Positionen ihrer Vorgänger reagieren (deren Werke sie kannten, wie man annahm, und an die ihr eigenes Werk sich in Wahrheit richtete, wie man annahm).
Human Nature and History Bobs erstes Buch, Human Nature and History, argumentierte im Wesentlichen, dass der Liberalismus aus tiefsitzenden Gründen, die schon der Logik und der Struktur seines Ansatzes innewohnen, unfähig sei, sich zwischen zwei unvereinbaren Auffassungen zu entscheiden, von denen keine für sich genommen jemals zufriedenstellend sein konnte. Einerseits gab es die Auffassung, dass die typischen liberalen Positionen Ausdruck von universellen Tendenzen oder Bestrebungen waren, die in so etwas wie einer unveränderlichen menschlichen Natur wurzelten; da sie Teil von dieser Natur waren, konnten liberale Strategien im Prinzip übertragen und entsprechend jederzeit überall in geeigneter Weise angewendet werden. Es mochte zwar einige besondere geschichtliche Bedingungen geben, welche
die direkte und vollständige Verwirklichung liberaler Prinzipien zu einer bestimmten Zeit einschränken würden, doch diese geschichtlichen Beschränkungen seien theoretisch unwichtig; sie seien nur Kleinigkeiten von der Art, mit der man es immer zu tun bekomme, wenn man gänzlich universelle Prinzipien auf konkrete Fälle anwende. Grundsätzlich habe der Li 205 beralismus selbst aber Gültigkeit und könne überall angewendet werden. Andererseits gab es die Auffassung, dass der Liberalismus selbst nicht mehr sei als eine bestimmte, historisch kontingente, kontextabhängige Reaktion und Intervention in einer speziellen politischen Situation. Nach dieser Lesart war seine mögliche Relevanz für andere Zeiten, andere Orte und, wie wir sagen würden, »andere Kulturen« eine offene Frage. Der Liberalismus, argumentierte Bob, sei dazu verurteilt, ewig in einer theoretisch unkontrollierten Weise zwischen diesen beiden Auffassungen zu schwanken, niemals eine von ihnen durchgängig zufriedenstellend zu finden (weil es keine von beiden ist) und wiederholt daran zu scheitern, irgendeine stimmige Synthese aus ihnen zu bilden (weil keine existiert). In einer historisch sehr ausführlichen, dicht argumentierten und methodisch extrem anspruchsvollen Diskussion über fast 800 Seiten (in einem zweibändigen Werk mit nahezu 2000 Fußnoten) machte Bob seine grundsätzlichen Aussagen zur wesensmäßigen Unstimmigkeit des Liberalismus als Projekt schonungslos und wiederholt klar, und zwar in umfassender und manchmal strapaziöser Detailgenauigkeit. Letztlich war dies gar nicht so weit entfernt von manchen Argumenten, die Krigler zu bringen pflegte, obwohl es etwas anders ausgedrückt war und Bob nicht nur die gesamte Palette der Gelehrsamkeit über die antike Welt zum Tragen bringen konnte (was Krigler ebenfalls konnte), sondern auch etwas hinzufügte, was über Kriglers Kenntnisse vollständig hinausging, nämlich eine gründliche Vertrautheit mit allen Aspekten des anglo-amerikanischen politischen Denkens, wie es sich vom 17. bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts entwickelt hatte. Dennoch krankte Bobs Buch an einer Reihe von Nachteilen. Ers 206 tens war es ein umfängliches und sehr gelehrtes Buch und, obgleich es klar geschrieben war, nicht gerade
eine leichte Lektüre, weil es die Überlegungen eines philosophisch denkenden Altphilologen enthielt, der anderthalb Jahrzehnte damit verbracht hatte, über John Stuart Mill und den Liberalismus nachzudenken. Wer das Buch aufschlug und nach Aufklärung über den Liberalismus suchte, wurde unversehens in komplizierte, überlange, hermeneutische Diskussionen zu Cicero, Lactantius, Plutarch und Polybios verwickelt und erst nach zweihundert Seiten Erörterung der antiken Autoren betraten Hume, Adam Smith, James Mill, Jeremy Bentham und John Stuart Mill die Bühne. Allein das führte schon dazu, dass das Buch zwischen allen Stühlen landete, denn nur wenige derjenigen, die sich für Plutarch oder Cicero interessierten, waren auch an John Stuart Mill interessiert, und die meisten unter den an Mill Interessierten werden nie von Lactantius oder Polybios gehört haben. Außerdem bringt das Buch zwar eine Fülle von Verweisen auf zeitgenössische Arbeiten (das heißt Bücher und Aufsätze, die zwischen den 1920er und 1960er Jahren geschrieben wurden), doch Bob unternahm keinen echten Versuch, seine Diskussion mit einer Relevanz für aktuelle politische Ereignisse auszustatten. Diese Eigenschaften haben wahrscheinlich dazu beigetragen, dass das Buch nicht die Beachtung erhielt, die bei seinen intellektuellen Vorzügen und seiner tieferen politischen Bedeutung eigentlich gerechtfertigt gewesen wäre. Im Gegensatz zu der augenscheinlich politischen Abstinenz von Bob Cummings Werk, war Robert Paul Wolffs Kritik am Liberalismus ausgesprochen scharf und äußerst schonungslos, aber sie war auch robust aktivistisch. Er bezog zu einer großen Bandbreite von politischen Fragen der Zeit klar Position. Die Menschen mögen seine Ansichten kaum annehmbar oder ex 207 trem gefunden haben, doch auf dem bestehenden Spektrum politischer Meinungen ließen sie sich ziemlich klar verorten. Wolffs eindeutige Verpflichtung auf eine Art von libertaristischem Sozialismus schimmerte bei allem, was er sagte und schrieb, durch. In einem gewissen Sinne spielte er das Spiel mit, und selbst wenn seine Spielweise nicht nach jedermanns Geschmack war, machte ihn dies zu einer erkennbaren Figur. Sidney, der selten in der Lage zu sein schien, sich
für irgendeine feste Position zu entscheiden, strahlte einfach die Freude aus, die er an der gemeinsamen dialektischen Untersuchung hatte. Bobs Intelligenz hingegen war anspruchsvoll und in ihrer Wirkung auf Menschen und Positionen irgendwie verheerend. Er nahm die Strukturen des Liberalismus immer wieder auseinander und zerlegte sie in einer äußerst gelehrten, aber gänzlich trockenen Art und Weise, und dies zudem, ohne irgendeinen sinnfälligen Ersatz anzubieten. Die zerstörerische Absicht schien umfassend zu sein. Niemand wollte das hören, ganz gewiss nicht im Jahr 1969; Bob war gegen den Liberalismus, aber auch gegen konservative Versuche, sich einfach direkt auf die menschliche Natur zu berufen, und doch war es schwer, das Werk in eine Reihe mit dem von Marcuse (oder Malcolm X) zu stellen als einen flammenden Aufruf zu einer bestimmten Form des Handelns. Obwohl Bob ein großer Kenner Sartres war, fehlte seinem Werk die Form von actualité, die den zeitgenössischen französischen Philosophen fast beiläufig gelang. Es war so, als ob er allein für Gott schreiben würde, um Sidneys Formulierung etwas zu variieren. Human Nature and History bekam ein oder zwei (angemessen) begeisterte Rezensionen von Historikern, die sich die Mühe machten, es zu lesen, allerdings schienen sie die Einzigen zu sein, die das taten. Das Buch verstaubte in den Regalen der verschiedenen Univer 208 sitätsbibliotheken, und als der Lagerbestand beim Verlag aufgebraucht war, gab es anscheinend keinerlei Veranlassung, es nachzudrucken. (Meines Wissens ist es nie als Paperback erschienen.) Im Juni 1971 verteidigte ich meine Doktorarbeit und bereitete mich darauf vor, in Heidelberg eine Stelle in der Lehre anzutreten. Da ich nicht glaubte, jemals nach New York oder auch nur in die Vereinigten Staaten zurückzukehren, verabredete ich mich mit Bob Cumming, um ihm für alles zu danken, was ich bei ihm gelernt hatte. Während ich die Zeit vor dem verabredeten Termin totschlug, sah ich ein Exemplar von Rawls' Theory of Justice in Salters Bookshop liegen, einer Buchhandlung, die an der westlichen Seite des Broadways zwischen der 115. und 116. Straße zu finden war. Das Buch war gerade erst herausgekommen, aber ich wusste aus den Vorlesungen von Robert Paul Wolff mehr oder weniger, was ich zu
erwarten hatte – nichts Neues, nur weitere elaborierte Kompliziertheiten, die Rawls seiner ohnehin schon ziemlich befrachteten Theorie hinzugefügt hat. Trotzdem dachte ich, es könne nicht schaden, das Buch im Laufe des Sommers zu lesen, bevor das akademische Jahr in Heidelberg im Oktober wirklich begann. Am Ende meines Gespräches mit Bob bemerkte er, dass ich ein Exemplar von A Theory of Justice bei mir hatte, und fragte mich, warum ich mich damit befasse. Er schien vollkommen auf dem Laufenden zu sein, obwohl es erst ein paar Monate zuvor erschienen war, aber das hat mich eigentlich nicht sehr überrascht, denn obwohl er nicht zu Konferenzen ging, hielt er bestens Schritt mit dem, was man in jenen Zeiten reserviert »die Literatur« nannte, und ich dachte (zweifellos naiv), dass er genauso wie Sidney im Grunde alles las. Er sagte dasselbe, was ich bereits von Wolff gehört hatte: Wenn man Rawls' frü 209 here Arbeit mitverfolgt habe, konnte man dies kommen sehen, und es war ein Mehrvom-Gleichen-in-größerer-Ausführlichkeit-und-verwickelter. Rawls stecke in der gleichen Zwickmühle wie alle Liberalen – er könne sich nicht entscheiden, ob er eine Theorie der menschlichen Natur habe (in seinem Fall die Version einer kantianischen Theorie der menschlichen Natur, die diese als wesentlich durch formale Rationalität definiert begreift) oder einen Beitrag zu einem bestimmten kontingenten historischen Konstrukt. Die typische liberale Mischung mit seltsam entstellten Versatzstücken von Kant anzureichern, erhelle tatsächlich nichts und löse mit Sicherheit nicht das zugrundeliegende Problem des Liberalismus. Es ist schwer, in der späteren Geschichte der Entwicklung von Rawls' Theorie etwas anderes zu sehen als eine Herbeiführung dieser Diagnose: Das Frühwerk orientierte sich eher an dem, was Bob die MenschennaturPerspektive nannte; als das jedoch mit Pauken und Trompeten scheiterte, wechselte Rawls mühelos die Blickrichtung, hin zu einer stärker historisch kontextuellen Perspektive, die man in seinem späteren Werk findet. Keine von beiden entgeht jedoch den aporiai, die Bob in seinem Buch diagnostiziert hatte.
211 11
Von Heidegger zu Adorno Wir sind nicht hier, um Diskurse zu führen. – Johann Nestroy, Die schlimmen Buben
in der Schule Das akademische Jahr 1967/1968 verbrachte ich als freier Forschungsstudent in Freiburg im Breisgau. Ich ging dorthin, weil ich, wie ich schon erwähnte, etwas über Heidegger schreiben wollte. Es gab keinen bestimmten Zeitpunkt, an dem ich ein Interesse für sein Werk gefasst hatte, vielmehr war Heidegger einfach zusammen mit Dostojewski, Nietzsche, Freud, Sartre und besonders Camus ein fester Bestandteil der Atmosphäre gewesen, die für uns alle in meiner Internatsschule die Luft zum Atmen bildete. Ich hatte die vage Idee, gern etwas über Heidegger und Sprache schreiben zu wollen, aber diejenigen in Freiburg, mit denen ich darüber sprach, rieten mir stark davon ab, das zu versuchen, weil sie meinten, das Thema sei eigentlich viel zu schwer für eine Dissertation, und im Rückblick glaube ich, dass sie Recht hatten. Ich kam jedenfalls absolut nicht voran, wenn ich eigenständig darüber nachdachte. So verzettelte ich mich komplett damit, eine Reihe von Protokollen eines Seminars durchzuarbeiten, das Heidegger während des Kriegs zu einem Werk von Aristoteles gegeben hatte. Ich hatte diese Protokolle durch reinen Zufall erhalten, da Kläre Mylius, eine Griechischlehrerin, die das von mir besuchte Seminar zu Buch 4 von Thukydides leitete, während des Kriegs in Heideggers Seminar gewesen war und die Protokolle für 212 sich angefertigt hatte. Sie lieh mir einen mit Kohlepapier hergestellten Durchschlag.
Unzureichendes Griechisch An meiner Schule wurde mir ausnahmslos von allen Lehrern gesagt, dass ich nicht annähernd gut genug Griechisch und Latein beherrschte, um irgendetwas Solides zur antiken Literatur oder Kultur zustande zu bringen. Mit dem Lateinunterricht hatte ich nicht vor meinem zwölften Lebensjahr angefangen und mit Griechisch nicht bevor ich fünfzehn war, und das war schon zu spät, besonders da die Schule nur fünf Stunden Latein pro Woche über vier Jahre anbieten konnte und Griechisch nur als Wahlfach im letzten Jahr. Man würde etwa zweimal so viel Unterricht über acht oder neun Jahre hinweg brauchen, um die entsprechenden Fähigkeiten erwerben zu können, und Zeit, die man in jungen Jahren beim Erwerb der Sprachen verloren habe, könne nie wirklich aufgeholt werden. Das Unterrichtsangebot an der Schule sei so dürftig, erklärten sie, weil das Bildungsministerium Pennsylvanias die sonderbare Anforderung stellte, dass unser Lehrplan auch Chemie, Biologie und Physik enthalten sollte. Mathematik war offensichtlich von entscheidender Bedeutung, aber Chemie? Wirklich. Der kulturelle Kontext für eine ernsthafte Arbeit in der Altphilologie sei in den Vereinigten Staaten sowieso nicht gegeben, setzten sie hinzu. »Schaut euch Jaeger an«, meinte Krigler, »seitdem er Europa verlassen hat, um nach Harvard zu gehen, hat er nie wieder etwas Vernünftiges hervorgebracht. Er arbeitet nur noch über Patristik.« Das war ein Hinweis auf die Tatsache, dass Werner Jaeger nach seinen drei dicken Bänden über 213 die griechische Kultur,1 die er noch in Deutschland geschrieben hatte, nach über einem Jahrzehnt in Harvard außer einem schmalen Bändchen mit Vorlesungen unter dem Titel Das frühe Christentum und die griechische Bildung nicht viel veröffentlicht hatte.2 Man musste die ganze heideggerianische Verachtung in Kriglers Aussprache des Worts »Patristik« gehört haben, um wirklich ermessen zu können, was für einen Abstieg es in seinen Augen bedeutete, letztlich nicht mehr Sophokles und Platon zu diskutieren, sondern Gregor von Nyssa.
Der Rat meiner Lehrer, nicht damit zu rechnen, irgendetwas in der Altphilologie zustande zu bringen, war teilweise nur das alte Lied »Niemals einen Jungen loben«, doch ich nahm es mir zu Herzen und widmete meine Aufmerksamkeit vorrangig anderen Dingen, während ich versuchte, ein nur zweitrangiges und amateurhaftes Interesse an der antiken Welt zu wahren. Nun suchte mich diese erinnerte Entscheidung heim. Allmählich verwechselte ich meine Griechisch-Defizite – ich besuchte ein Seminar zu Thukydides und eines zu Pindar, so dass ich in dieser Hinsicht ohnehin den Eindruck hatte, mich auf einem besonders schwankenden Boden zu bewegen – immer mehr mit meinem stärker werdenden Gefühl, bei der Lektüre von Heidegger keinen festen Halt mehr zu finden. Ich wusste bald tatsächlich nicht mehr, wie man möglicherweise irgendeine von Heideggers Auffassungen weiterentwickeln konnte, und nicht einmal mehr, wie man sie stimmig kommentieren konnte. Nach und nach kam in mir die Vermutung auf, dass Heidegger bei einem seiner selbstgesetzten Ziele in einer gewissen Weise allzu erfolgreich gewesen war, bei dem modernistischen Ziel nämlich, sein Werk zu einem vollständig selbstgenügsamen Universum zu machen. Er versuchte, es anderen unmöglich zu machen, seine Vorstellungen von außen zu erfassen oder sich 214 irgendeiner üblichen Form des kritischen Kommentars zu widmen, so dass alles, was man tun konnte, entweder in der Wiederholung dessen bestand, was er sagte, oder darin, sich rigoros von seinem Werk abzuwenden. Und »Heideggers Auffassungen wiederholen« hieß, sie mit seinen eigenen Worten zu wiederholen, weil er der Meinung war, dass sowohl die Umgangssprache als auch die traditionelle Sprache der Philosophie von genau denjenigen philosophischen Vorurteilen durchsetzt waren, die er untergraben wollte. Das Dilemma bestand in einem papageienhaften Wiederholen oder in einer Paraphrasierung, die seine Ansichten – gerade aufgrund ihrer Angleichung an eher gängige Positionen – zu potenziellen Gegenständen der üblichen Formen rationaler Beurteilung machte. Sich an das zweite Horn des Dilemmas zu halten war eine Form, sich im Kreis zu drehen, denn Heideggers These war eben genau die, dass die in jeder Paraphrase
gebrauchten Begriffe unvermeidlich die Verpflichtung auf mindestens einige der verzerrenden ontologischen Annahmen enthalten würden, die er verwerfen wollte. Diese Aporie wirkte lähmend. Der einzige Ausweg, den ich erkennen konnte, war die eigene Zusammenstellung neuer hermetischer Begriffe, um mit seinen Schriften in einer Weise umgehen zu können, die einen nicht zum Gefangenen von Heideggers Terminologie oder der philosophischen Tradition machte. Ich war nicht verblendet genug, um mir einzubilden, ich sei in der Lage, diesen Lösungsweg anzugehen. Lange hatte ich meine Unfähigkeit, manche Dinge bei Heidegger zu verstehen, einfach für eine Unzulänglichkeit meinerseits gehalten, aber die immanent hermetische Natur seines Projekts wurde mir immer klarer. Ich interessierte mich dann allgemeiner für hermetische Sprechweisen und fing an, intensiv Paul Celan zu lesen. Meine Versuche erhielten noch einen 215 zusätzlichen Impuls, weil Celan in der Zeit, als ich dort war, eine Lesung in Freiburg gab. Tatsächlich kam er anscheinend unter anderem deshalb in die Stadt, um mit Heidegger zu reden, und veröffentlichte später das Gedicht »Todtnauberg« über ihr Zusammentreffen.3 Natürlich war vieles aus Celans späterem Werk in den Jahren 1967 bis 1968 noch gar nicht geschrieben, doch Von Schwelle zu Schwelle und Mohn und Gedächtnis waren erhältlich, und ebenso der faszinierende Band Der Meridian.4
Paul Celan Die anarcho-kommunistische Sensibilität von Celans frühen Werken drückte sich in Gedichten aus, die Aneinanderreihungen von »dunklen« Bildern beinhalteten – »dunkel« bedeutet in erster Linie »nicht erhellt«, »unverständlich«, »schwer zu deuten«, vielleicht aber auch »düster« oder »freudlos«.5 Die Unverständlichkeit war zum Teil eine Angelegenheit der ungewöhnlichen Syntax und Wortwahl in der Metaphorik selbst. Im
letzten Gedicht des Bandes Von Schwelle zu Schwelle liest man zum Beispiel von einigen rudernden Menschen, »dem Einbaum waldher vermählt/von Himmeln umgeiert die Arme«. Das bedeutet so etwas wie »vom Wald her mit dem Einbaum aufs Engste verbunden/umkreisen die Himmel ihre Arme wie Geier«.6 Das Adverb »waldher« und das Verb »umgeiern« sind semantisch aus sich heraus verständlich, aber sie sind nicht gerade ein Element der alltäglichen Redeweise, und fügt man sie mit dem Rest der Phrase zusammen, ergibt sich eine ungeheuer komplexe und sicherlich nicht sofort verständliche Einheit. Die Unverständlichkeit erstreckt sich nicht zuletzt auch auf die Ver 216 bindung zwischen den verschiedenen Teilen des Gedichts. So ist mein Lieblingsgedicht Schibboleth aus der Sammlung Von Schwelle zu Schwelle voll von Anspielungen auf den Spanischen Bürgerkrieg (Madrid, no pasarán), aber die letzte Strophe lautet: Einhorn:
du weißt um die Steine,
du weißt um die Wasser,
komm,
ich führ dich hinweg zu den Stimmen
von Estremadura.
In einem Gedicht, das teilweise von Spanien zu handeln scheint, ist die Estremadura nicht fehl am Platz, und die Steine und die Wasser kommen in Celans Gedichten sehr häufig vor, aber was ist mit dem Einhorn, und warum sollte es zu den Stimmen von Estremadura geführt werden? Ich konnte nicht umhin, das Einhorn mit dem Kanu zu assoziieren, für das der Stamm eines einzigen Baums ausgehöhlt wird (Einhorn/Einbaum), hatte jedoch die starke Vermutung, dass dies nur meiner Idiosynkrasie entsprach.7 Die Gedichte waren außerordentlich schön, aber sie verlangten eine entschiedene Bemühung, den Impuls zu unterdrücken, nach einer bestimmten Art von Klarheit zu fragen. Das Fehlen dieser Art von Klarheit war kein Versäumnis oder ein Funke individuellen Eigensinns von Seiten des Dichters. Paul Celan war vielmehr der Ansicht, dass die Leser nicht
nur akzeptieren, sondern aktiv erwarten sollten, dass die Autoren sie zwingen, sich zu strecken, und ihnen Dinge vorlegen, die wirklich außerhalb ihrer Reichweite liegen: »Ne nous rapprochez le manque de clarté puisque nous en faisons profession.« (»Werfen Sie uns nicht den Mangel an Klarheit vor, das ist etwas, was wir anstreben.«)8 Der Grund für dieses »Be 217 kenntnis« von Seiten des Dichters hat etwas mit dem zu tun, was Celan die »Majestät des Absurden« nennt,9 die wiederum Teil dessen ist, was uns menschlich macht und uns erlaubt, menschenfreundlich zu sein. Celans Atheismus, könnte man sagen, ist der wahre Atheismus: Die Grundtatsache des Universums ist, dass es unendlich sinnlos ist, dass ihm jede Art von Sinn vollkommen abgeht. Es ist nicht nur so, dass Menschen sterben oder ihre Vorhaben manchmal vergeblich und sinnlos sind, sondern dass Sterblichkeit und Vergeblichkeit unendlich sind. Die Dichtung drückt diese Tatsache aus. Oder wie er es formuliert: »Die Dichtung, meine Damen und Herren –: diese Unendlichsprechung von lauter Sterblichkeit und Umsonst!«10 Doch vor diesem Hintergrund können sich Menschen einander gelegentlich begegnen, können einen humanen Kontakt und sogar ein bestimmtes beschränktes Verständnis erleben. Wie dies geschieht, ist vollkommen rätselhaft (Celan spricht vom »Geheimnis der Begegnung«),11 und die in eine solche Begegnung einbezogenen Menschen werden einander (oder sich selbst vermutlich) nie ganz durchschaubar werden. Das Gedicht versucht, der Ort zu sein, an dem sich eine solche menschliche Begegnung vollziehen kann.12 Das Menschliche ist immer in einem gewissen Sinne kongenital unklar.13 Tatsächlich unterscheidet Celan zwei Dunkelheiten in der modernen Dichtung.14 Die eine ist die »kongenitale« Dunkelheit von allem, was die Menschen und ihre Begegnungen betrifft (sowohl mit anderen als auch mit sich selbst), die zweite betrifft eine bestimmte Tendenz zur Unverständlichkeit, die von der poetischen Sprache herrührt, speziell in der modernen Welt. Die zeitgenössische poetische Sprache neigt zur extremen Ellipse und verdichteten Ausdrucksweise, und das sogar bis zum
kompletten Verstummen (das Gedicht heute zeigt »eine 218 starke Neigung zum Verstummen«).15 Ich möchte eine Unterscheidung anderer Art zwischen zwei verschiedenen historischen Konstellationen vorschlagen, die beide das Dunkle in den Vordergrund stellten. Die Dunkelheit hat in jedem der Fälle einen anderen Charakter. Als Erstes gibt es eine hierophantische Unverständlichkeit, das heißt eine Art von priesterlicher Dunkelheit des Ausdrucks, die mit einer bestimmten Form des sozialen Ausschlusses verbunden ist.16 Nur der Hohepriester oder der vates [Weissager] weiß wirklich Bescheid, er hat Zugang zu etwas Besonderem, das er außerdem gegenüber denjenigen, die nicht schon in die entsprechenden Geheimnisse eingeweiht sind, nicht klar ausdrücken kann. Dies wird in der Gruppe oftmals mit einer Rangordnung verbunden, die Abstufungen der Nähe zur (Einsicht in die) Wahrheit widerspiegeln soll. Bei Fällen, die in diese Kategorie fallen, ist die immer größere Dunkelheit des Ausdrucks (gegenüber jenen aus dem gemeinen Volk, den nicht Eingeweihten) die äußere Begleiterscheinung der stetig tiefer werdenden Einsicht. Der Kreis um den Dichter Stefan George wäre ein gutes Beispiel für diese Form sozial organisierter und verwalteter Dunkelheit.17 In manchen Fällen lief die Verwaltung tatsächlich auf eine aktive Erzeugung künstlicher Dunkelheiten hinaus, das heißt auf Mystifizierung. In der Philosophie hatte Hans-Georg Gadamer, der nicht direkt dem George-Kreis angehörte, sein eigenes, recht ähnliches Projekt.18 Es ist wichtig zu beachten, dass die Dunkelheit bei Celan von dieser sozial ausschließenden Esoterik völlig verschieden ist. Sie ist demotisch, nicht hierophantisch. Die Dunkelheit ist das universelle Schicksal aller Interaktionen unter Menschen. Das Scheitern von Verständnis – die versäumte Begegnung19 – ist im Grunde genommen die übliche menschliche Lage, aber sie ergibt sich aus der immanenten 219 Schwierigkeit aller menschlicher Situationen, aus menschlicher Schwäche, aus unserer Unfähigkeit oder Weigerung, zu verstehen. Aber nichts davon ist dasselbe wie Ausschluss, und es kann hier auch gar keine Hierarchie geben, weil niemand vis-à-vis gleich welcher Wahrheit irgendeinen besonderen Rang einnimmt, ja nicht einmal gegenüber der
eigenen Erfahrung.20 Celan war kein wie auch immer gearteter Priester – weder ein hoher noch ein einfacher – und wollte auch keiner sein, und er hatte zwar Freunde, aber keinen »Kreis«.
Kretzschmar In diesem Zusammenhang fing ich an, Adorno zu lesen. Ich wusste etwas über ihn aus zweiter Hand aus einem Seminar über Thomas Mann, das ich 1964 besucht hatte und in dem wir Doktor Faustus lasen. Der Dozent Theodore Ziolkowski hatte über Adorno und Thomas Mann in ihrem südkalifornischen Exil während des Zweiten Weltkriegs gesprochen und darüber, inwieweit die musikalischen Analysen, die Mann in dem Buch seiner Figur Kretzschmar zuschreibt, wirklich auf Gespräche mit Adorno zurückgingen. Thomas Mann hatte ein schmales Buch über die Entstehung des Romans geschrieben, das uns Ziolkowski zur Lektüre empfahl.21 Im Jahr 1964 hatte ich dafür keine Zeit gehabt, aber 1967, als ich in der Seminarbibliothek von einem der Institute in Freiburg saß, kam ich bei keinem der Texte weiter, die ich las, und stand auf, um mir ein wenig die Füße zu vertreten. Ich ging planlos herum und fand Adornos Prismen im Regal.22 Ich war davon so angetan, dass ich anfing, auch andere Werke von Adorno systematischer zu lesen, und zwar als Erstes Negative Dialektik.23 220 Mehrere Dinge hinterließen einen unmittelbaren Eindruck bei mir. Zum einen war das die These, dass die Philosophie nicht bündig referiert werden könne. Sie sei jedenfalls nicht darauf ausgerichtet, Aussagen oder Thesen zu erzeugen, die zum Schluss aus dem Textganzen herausgelöst und verpflanzt werden könnten. So über die Philosophie zu denken hieße, den Umstand zu übersehen, dass philosophische Behauptungen immer eingebettet waren und ihre Bedeutung in einem bestimmten Kontext des Nachdenkens hatten. Es sei der reflexive Prozess selbst, den man im Auge behalten müsse. Das bedeutete offenkundig nicht, dachte ich, dass man
niemals irgendetwas darüber sagen konnte, auf was ein Philosoph hinauswollte, oder dass man keine Schlussfolgerungen für das Handeln daraus ziehen konnte. Dies wäre der gegenteilige Fehler – würde man die Philosophie derartig missverstehen, beginge man den gleichen Fehler, den Adorno zu diagnostizieren versuchte. Adorno behauptete zudem, dass die extreme Forderung, Schlussfolgerungen müssten in Form von einfachen »Ergebnissen« dargelegt werden können, selbst eine Form der gesellschaftlichen Unterdrückung sein könnte. Die Diskussion in der Öffentlichkeit sei sehr häufig voreingenommen gegen diejenigen, die minoritäre, abweichende oder lediglich neuartige Ansichten hätten, und diejenigen, die hartnäckig verlangten, man müsse über ein klares und einfaches »Ergebnis« verfügen, wollten oft etwas für sich herausholen, das sie gegen andere in einem Spiel verwenden könnten, das ohnehin abgekartet sei. Adornos Auffassung war in gewisser Hinsicht nicht anders als manche Dinge, die man bei Heidegger finden konnte, der über den »Weg« des Denkens zu reden pflegte, als ob die Reise selbst wichtiger sei als das Ziel, und der thematisierte, in welcher Weise die Umgangssprache das Denken entstelle. Dennoch hatte 221 Heidegger die Neigung, zumindest andere Philosophen so zu behandeln, als ob sich ihr Werk genauestens resümieren ließe, und konnte endlos über einzelne Sätze von Parmenides oder Anaximander nachsinnen. Das hatte es mir unmöglich gemacht, diesen auf Zusammenfassungen, Ergebnisse und Schlussfolgerungen bezogenen Punkt in Heideggers Werk ausgedrückt zu sehen. Das zweite, was mich bei Adorno beeindruckte, war seine generelle Übereinstimmung mit Celan in der Frage der Klarheit: Leichte Verständlichkeit sei nicht ausnahmslos ein positives Merkmal des Diskurses. Adornos Darstellung der Gründe für seine argwöhnische Haltung gegenüber der Klarheit war jedoch weniger existenzialistisch und stattdessen soziologischer und politisch nuancierter. Die Alltagssprache sei korrumpiert, weil sie in das bestehende politische und wirtschaftliche System integriert und als solche selbst Teil eines Repressionsapparates ist. Zu verlangen, dass jeder Gedanke in einer leicht verständlichen Weise
ausgedrückt werden soll, ist eine repressive Forderung. Es klingt zwar sehr demokratisch und antielitär, zu fordern, dass sich zum Beispiel Autoren in einer Art und Weise ausdrücken sollen, die von jedermann sogleich mühelos verstanden werden kann; das tut es aber nur dann, wenn man nicht realisiert, dass das, was als klar und verständlich gilt, in einem erheblichen Maße auf das beschränkt ist, was man als mit dem Status quo vereinbar hält. »Macht es für jeden leicht verständlich« bezeichnet eine Methode, radikale Vorschläge, die echte Alternativen zur Gegenwart darstellen könnten, herauszufiltern und auszuschließen. Ein Mangel an völliger Klarheit kann unvermeidlich sein, wenn er den Ausdruck einer echten Möglichkeit charakterisiert, die so neuartig ist, dass sie nicht wirklich in die verfügbaren Kategorien passt. Dies 222 könnte ein weiterer Grund dafür sein, die lectio difficilior wohlwollend zu betrachten.
Unklarheit Da dieser Punkt besonders wichtig ist und speziell von einigen zeitgenössischen Philosophen noch nicht wirklich aufgenommen und verinnerlicht worden ist, wie mir scheint, werde ich ihn etwas ausführlicher erörtern. Robert Paul Wolff berichtete in seinen Vorlesungen von einem Gespräch, das er mit Herbert Marcuse geführt hatte. Marcuse hatte seine Habilitationsschrift, die von Heidegger betreut wurde, über Hegel geschrieben, und als Wolff eine leicht abfällige Bemerkung dahingehend machte, dass Hegels Schriften doch sehr »unklar« wären, reagierte Marcuse aufgeregt und fing an, mit großem Nachdruck zu sprechen. In dieser Situation machte es sein starker deutscher Akzent allerdings schwer, ihn zu verstehen. Wolff verstand: »Hm, clarity is a virtue; hm, clarity is a virtue«, und beeilte sich, ihm zuzustimmen, dass Klarheit doch eine der wichtigsten philosophischen Tugenden sei. Aber jedes Mal, wenn Wolff seine Zustimmung äußerte, wie er glaubte, wurde Marcuse immer
aufgebrachter und war immer schwerer zu verstehen. Erst nach und nach dämmerte es Wolff, dass das, was er am Beginn eines Satzes für ein stimmlich bereinigendes Räuspern gehalten hatte (»Hm«) Marcuses phonetische Wiedergabe der englischen Silbe »un-« war, so dass Marcuse gerufen hatte, »Unclarity is a virtue; unclarity is a virtue« – »Unklarheit ist eine Tugend«. Die direkte Reaktion einer Person auf eine Aussage wie »Unklarheit kann eine Tugend sein« ist ein Kriterium, mit dem 223 man zwei Arten von Denkweisen unterscheiden kann. Für einige, zum Beispiel für – vielleicht auch sehr entfernte – Anhänger von Descartes ist allein schon die Idee, dass Unklarheit irgendeinen Wert haben könnte, ein Gräuel. Der einzig mögliche Grund dafür, dass eine Aussage nicht klar sein könnte, besteht für sie darin, dass sich ein Sprecher keine Mühe gibt, durcheinander ist oder bewusst ausweichend, manipulativ oder täuschend vorgeht. Jeder, der nicht für die unerlässliche Vorherrschaft der Tugend der Klarheit eintritt, ist ein Obskurant, ein Feind der Wissenschaft und der Aufklärung, möglicherweise sogar ein Protofaschist. Andere hingegen sehen es sogar für sehr wahrscheinlich an, dass jede Reihe von Behauptungen, die etwas genuin Neues und Originelles enthält, es zumindest am Anfang nicht schaffen wird, als vollkommen klar zu gelten. Zum Teil mag dies so sein, weil genuin neuartige Vorschläge meist noch nicht voll und ganz ausgearbeitet sind, aber ein bedeutsamerer Grund ist wohl, dass sie gegen herkömmliche Erwartungen und Denkmuster verstoßen und auch in bestehende routinemäßige Praktiken und Normen nicht fest integriert sind. Man muss sich einer bestimmten Form der Schikanierung seitens der Cartesianer, die zu der Annahme neigen werden, dass die Unterscheidung zwischen »klar« und »unklar« selbst nicht der Analyse und Erläuterung bedarf, von Anfang an widersetzen. Die Lektüre des Spätwerks des Philosophen Ludwig Wittgenstein hat allerdings viele überzeugen können, dass »Bedeutung« mit den Schemata des sozialen Handelns nicht bloß zufällig, sondern grundsätzlich verbunden ist, und wenn sich das so verhält, für »Klarheit« dasselbe zutreffen wird.24 Man stelle sich den
Versuch vor, einem Mitglied einer indigenen Gruppe im Amazonas in deren Sprache Kegelschnitte zu erklären 224 oder ihnen klar zu machen, was ein Antibiotikum ist und wie es funktioniert; oder altägyptischen Priestern eine klare Darstellung des Wahlsystems irgendeiner großen parlamentarischen Demokratie zu geben oder den Bewohnern der Tundra die Straßenverkehrsordnung Großbritanniens klar zu beschreiben. In diesen Fällen fehlen einfach die sozialen Institutionen, festgelegten Abläufe, Verhaltensgewohnheiten und gängigen Handlungsmuster – die Labore, medizinischen Praktiken, Verkehrsschilder, Wahllokale, Synoden und Konzile –, die der Idee einer »klaren Darstellung« Substanz geben würden. Marcuses Bemerkung hatte Wolff verblüfft, so verstehe ich es, weil er die Äußerung »Unklarheit ist eine Tugend« für so etwas wie eine von Descartes' »Regeln zur Leitung des Verstandes« hielt, also für eine an Einzelne adressierte Handlungsempfehlung à la »Strebe nach Unklarheit«. In den meisten Situationen scheint das tatsächlich kein besonders guter Rat zu sein. Ein wenig Nachdenken sollte allerdings ausreichen, um zu erkennen, dass dies auf einem Missverständnis beruhte. Marcuses Äußerung lässt sich am plausibelsten als eine Bemerkung darüber verstehen, was sich im Hinblick auf Gesellschaft und Geschichte der Menschen als wahr (oder als wahr gewesen) erweist, und sie ist eine Äußerung aus einer irreduziblen Dritte-Person-Perspektive. Bei einem Verstoß gegen ein bestehendes, vorgegebenes Kategoriensystem, das angeblich klares Denken definierte, kann sich häufig herausstellen, dass es eine gute Sache war, dagegen verstoßen zu haben. Wenn die Unterscheidung »Klarheit/Unklarheit« nicht in der Natur der Realität selbst beschlossen, sondern eine Funktion unserer sprachlichen und sozialen Gepflogenheiten, Institutionen, Handlungsweisen und vorgefassten Meinungen ist, die immer anders sein könnten, als sie es gerade sind, dann hat das Ver 225 säumnis, reibungslos in jene bestehenden Kategorien zu passen, zumindest den Vorteil, unsere Aufmerksamkeit auf die Konstruiertheit der Unterscheidung zu lenken. Ob diese Tugend die mit ihr verbundenen Unannehmlichkeiten aufwiegen
wird, ist eine Frage, die von Fall zu Fall entschieden werden müsste. Der Anfang des Verstehens auf diesem Gebiet besteht nicht darin, die liberale Annahme zu übernehmen, dass der einzig mögliche Kontext für Bedeutung im Bewusstseinsinhalt des souveränen Individuums zu finden ist (in der einen oder anderen seiner konkreten oder idealisierten Formen, beispielsweise der kantianischen Form).25 Der Ausdruck »klar« wird immer in einem Kontext verwendet. Er bedeutet stets »klar genug« – doch klar genug für welchen Zweck? Und wie viel ist eigentlich genug? Wenn man also der Ansicht ist, dass es eine Art von absoluter Klarheit gibt, muss man der einen oder anderen von zwei weiteren Doktrinen beipflichten, von denen keine besonders einleuchtend ist. Eine der beiden Doktrinen zeigt sich in der Überzeugung, dass eine unübertreffliche moralische und politische Gesundheit und Tugend die momentan geltende Ordnung prägt – die eigenen sozialen Praktiken und Institutionen ebenso wie die in ihnen verankerten Arten des Sprechens und den Alltagsverstand. Man muss zum Beispiel annehmen, dass die Geschichte mit uns an ihr Ende gekommen ist und wir (im Grundsatz) die endgültige, die idealerweise richtige soziale Struktur gefunden haben. Die Alternative dazu ist, zu glauben, dass die Menschen unnatürlich starke Kräfte der Abstraktion, der Unvoreingenommenheit, Vorstellungskraft und Formalisierung haben und dass wir durch die Ausübung dieser Fähigkeiten einen unabhängigen Bereich der Bedeutung schaffen können, der völlig funktional ist, aber mit dem menschlichen Handeln 226 und menschlicher Geschichte überhaupt nicht zusammenhängt.26
Negativität Die letzte Besonderheit, die ich in Adornos Texten fand und die meine Aufmerksamkeit auf sich zog, war eine völlig unerschrockene Verteidigung der Negativität. Nicht nur die Forderung nach einem »klaren
Ergebnis« konnte eine Form der Repression sein, sondern dasselbe konnte auch für das kompromisslose Erfordernis gelten, dass ein Kritiker den Stand der Dinge nicht bloß kritisieren dürfe, sondern »etwas Positives« oder eine »positive Alternative« dazu vorlegen solle. Es war Teil einer Strategie zur Verteidigung des Status quo. Darauf zu bestehen, dass jeder, der die existierenden Zustände kritisiere, einen klaren, leicht formulierbaren Vorschlag für etwas haben müsse, das an deren Stelle treten solle, hieße, dem Kritiker eine unangemessen strenge Forderung aufzuerlegen. In der Rezeption (oder vielmehr Nichtrezeption) von Bobs Publikation meinte ich, etwas dergleichen am Werk zu sehen. Es war beinahe so, als ob es auf irgendeine Weise sein Fehler sei, und nicht der von John Stuart Mill, dass dessen Auffassungen so erbärmlich unzulänglich waren. Ich legte diesen Teil von Adorno in derselben geistigen Schublade ab, die schon Marcuses Repressive Toleranz enthielt. Schließlich las ich auch Adornos Minima Moralia, ein Buch, das unter anderem eine umfassende Kritik an einigen zentralen Lehrsätzen des Liberalismus ist. Das Subjekt ist nicht von Natur aus souverän, sondern wird wesentlich durch soziale Beziehungen konstituiert, und es kann die partielle und minima 227 le Autonomie, dessen es fähig ist, nur erreichen, indem es sich jener Abhängigkeit bewusst wird. Überdies wird Klarheit und freie Diskussion von den Liberalen überbewertet. Das, so behauptet Adorno in Minima Moralia, ist vollkommen falsch. Die Idee, dass die Wahrheit einfach ist, dass sie leicht formuliert und allen zugänglich gemacht werden kann, sofern die freie Diskussion zum Beispiel erlaubt sei, ist ein gründlicher Irrtum. Adorno äußert sich besonders schonungslos über das, was er die »liberale Fiktion« nennt, wonach Wahrheit universell kommunizierbar sei.27 Die Lektüre von Celan hatte mich von jeder Neigung befreit, wie viele zeitgenössische Philosophen davon auszugehen, dass Dunkelheit entweder eine Angelegenheit individueller Unzulänglichkeit sein muss – also ein Versagen, so klar zu sein, wie man es eigentlich sein könnte – oder einer absichtlichen Vernebelung entspricht.
Außerdem hatte mich der Religionsunterricht bei Krigler bereits mit Misstrauen gegenüber der Idee bekannt gemacht, dass die freie Diskussion ein Allheilmittel sei. Krigler machte deutlich, dass irgendwelche theoretischen Schwierigkeiten, die mit der Idee der »freien Diskussion« auftraten, auch unmittelbar die damit verbundene Vorstellung des »Konsenses« anstecken mussten. So etwas wie ein »Konsens« (der consensus omnium fidelium – der Konsens aller Gläubigen)28 sei zwar ein Bestandteil der Reihe traditioneller katholischer Quellen zur anerkannten Leitung im Glauben (siehe oben, Kapitel 4), aber eben nur ein Bestandteil. Es sei ein unglückliches Novum für bestimmte Parteigänger des Papsttums gewesen, die »päpstliche Autorität« aus der komplexen historischen Struktur des katholischen Glaubens und katholischer Praxis herauslösen zu wollen – sie zu isolieren, zu läutern, zu verstärken und sogar zu verabsolutieren, so wie es auch für die protestantischen Fundamentalis 228 ten ein unglückliches Missverständnis der Geschichte, Religion und Hermeneutik gewesen sei, die »Schrift« allein verabsolutieren zu wollen. Ebenso wenig könne man allerdings jede Form des Konsenses als eine ganz und gar unfehlbare Anleitung für Glauben und Handeln betrachten. Ich bin sicher, wenn Krigler in der Lage gewesen wäre, die späteren Entwicklungen in der Philosophie vorherzusehen, hätte er Wert darauf gelegt, speziell die Behauptung zurückzuweisen, dass irgendeine Form eines hypothetischen, kontrafaktischen, implizierten, idealisierten oder antizipatorischen Konsenses den archimedischen Punkt einer normativen Theorie bilden könnte. Gerade so wie meine Erfahrung bei der Lektüre der Schriften von Robert Paul Wolff und der Besuch seiner Vorlesungen eine Schutzimpfung gegen Rawls darstellten und Bob Cummings Buch die gleiche Wirkung im Hinblick auf Mill für mich hatte, so machte es mir meine Lektüre von Adorno in den Jahren 1967 bis 1968 in Freiburg unmöglich, selbst leicht abweichende Formen des Liberalismus zu akzeptieren, wie etwa die in zahlreichen Werken von Habermas vorgeschlagene Version, in der er zwar die traditionelle Vorstellung von einem souveränen Subjekt aufgibt, seine Auffassung aber immer noch auf einige besonders naive Ideen zur
idealisierten freien Diskussion und auf eine barocke »Konsens«-Theorie stützt.
229 12
Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft Sollen sich trösten! Alles geht vorüber, in hundert Jahren sind ganz andere Buben auf der Welt. – Johann Nestroy, Die schlimmen Buben
in der Schule Nur ein paar Jahre, nachdem ich dort den Abschluss gemacht hatte, bahnte sich in meiner Schule ein grundlegender Wandel an. Die ungarischen und spanischen Priester, die das Lehrpersonal gebildet hatten, wurden nach und nach von in den Vereinigten Staaten geborenen Lehrern ersetzt, und der Internatsteil der Schule schloss, als der Nachschub an Flüchtlingsjungen aus Ungarn verebbte. Die Region im Umkreis der Schule lag nahe genug an Philadelphia, um zunehmend zur Vorstadt zu werden, und dies hatte auch Folgen für das Reservoir an Schülern, die der Schule, die nunmehr eine reine Tagesschule war, zur Verfügung standen. Dies gehörte unweigerlich zu dem Prozess, durch den dieses im Grunde genommen ausländische Gebilde in die umfassendere Gesellschaft aufgenommen wurde, deren Teil es war. Ich glaube, einige der unerschrockenen Ordensmitglieder zogen in die Appalachen weiter und gründeten dort eine Schule, um weiter ihrer Berufung nachzugehen, sich um die Bildung der Armen zu kümmern. Die Blase der künstlich eingeschlossenen Atmosphäre aus dem Budapest der 1930er Jahre platzte jedenfalls schlussendlich. Nichts von dem, was in den fünfzig Jahren passiert ist, seit ich im Jahr 1971 meine Doktorarbeit abschloss, hat eine wirk 230 lich radikale
Wirkung insofern gehabt, als es meine grundsätzliche Art, die Welt zu betrachten, die ich an meiner Internatsschule und an der Universität erworben hatte und die sich seither behauptet hat, fundamental erschüttert hätte. Seit ich im Herbst 1959 das erste Mal in Kriglers Religionsunterricht saß, habe ich eine Menge gelernt, doch obwohl ich mir in den Jahren danach zu vielen einzelnen Themen, über die ich zuvor nicht nachgedacht hatte, eine neue Meinung bildete und meine Meinung zu vielen einzelnen Fragestellungen geändert habe, zudem mehrere charismatische und hochintelligente Menschen kennenlernte und sogar manche meiner Einstellungen in verschiedenen Hinsichten modifiziert habe, war eine Sache, die bereits feststand und während der nächsten fünfzig Jahre so blieb, meine Grundannahme, dass die Tradition, die von Locke, über John Stuart Mill bis zu Rawls reicht, nicht der Ort ist, um nach Einsicht in irgendetwas zu suchen. Ich habe erwähnt, dass meine Schule ein sehr hoch entwickelter Fall einer totalen Institution war, und deshalb könnte man nun die Frage stellen, ob ich dort nicht einfach einer sehr wirksamen und nachhaltigen Gehirnwäsche unterzogen wurde. Man könnte sich auch fragen, ob die Tatsache, dass ich über die Zeit hinweg so wenige von meinen grundsätzlichen Einstellungen verändert habe, nicht der Ausdruck irgendeines Charakterfehlers oder gestörten Lebens ist, ein Mangel an Aufmerksamkeit für die Welt um mich herum, Trägheit, ein schwaches Vorstellungsvermögen, vorsätzliche Sturheit oder bloß Stumpfheit. Ich habe nicht den Eindruck, dass dies der Fall ist. Immerhin ist meine katholische Erziehung an ihrer wichtigsten Aufgabe, mich zu einem guten (oder doch wenigstens zu einem schlechten) Katholiken zu machen, gründlich gescheitert. Ich war also eindeutig nicht bloß ein weißes Blatt Papier, das darauf wartete, 231 jeden Stempel zu tragen, den der Orden darauf zu hinterlassen wünschte. Ich sehe die letzten fünfzig Jahre als eine Phase, in der viel von der Spreu, die ich aus verschiedenen Quellen auflas, durch eigenes Nachdenken, meine Erfahrung und die Kraft äußerer Ereignisse aussortiert wurde und diese Auslese einen Kern von Auffassungen, Ansätzen und Einstellungen übrig ließ, die gewissermaßen die Zeit überdauert haben.
Mit anderen Worten, ich habe es versäumt, mir die positive Weltsicht anzueignen, die ich eigentlich annehmen sollte (den Katholizismus), aber ich erwarb eine tiefe, dauerhafte und im Laufe der Jahre zunehmend reflektierte Aversion gegen bestimmte Begriffe, Theorien, Argumente, Sichtweisen auf die Welt und Formen der Sensibilität. Solche Aversionen können meiner Ansicht nach von großer Bedeutung sein und sind keineswegs zwingend irrational. In seinem letzten, unvollendet gebliebenen Buch, Ästhetische Theorie, spricht Adorno davon, wie ein »Kanon von Verboten« als ein zentraler Teil von bestimmten modernen ästhetischen Bewegungen zustande kommen kann.1 Die Künstler spürten aus dem einen oder anderen Grund, dass sie sich nicht mehr gestatten konnten, so zu schreiben, zu malen oder zu komponieren »wie das« – das heißt, wie einige ihrer Vorgänger und Zeitgenossen geschrieben, gemalt oder komponiert hatten: so zu schreiben oder zu komponieren »wie das« war kitschig, gefühlsduselig, passé, banal oder sonst wie inakzeptabel. Dementsprechend sollen einige Komponisten der Zweiten Wiener Schule ab einem bestimmten Punkt in ihrer Karriere in ihren Arbeiten keine größeren Dreiklänge mehr verwendet haben, weil sie glaubten, dass diese musikalischen Figuren abgenutzt und expressiv »verbraucht« waren. Brecht muss 1938 wohl Ähnliches empfunden haben, als er schrieb: 232 In meinem Lied ein Reim
käme mir fast vor wie Übermut.2
Ein »Kanon der Verbote« kann sich im Prinzip über die Zeit hinweg verändern, aber das ist ein anderes Thema. Was meinen eigenen Kanon betrifft, so habe ich selbst jedenfalls keinen Grund für eine grundlegende Änderung gesehen. Das gesellschaftliche und politische Leben der Menschen ist natürlich nicht wirklich das Gleiche wie die künstlerische Tätigkeit, und bei der systematischen Vermeidung in der Musik, der Literatur und der Politik werden unterschiedliche Elemente eine motivierende Rolle spielen. Dennoch kann es wichtige Ähnlichkeiten geben. Die geschichtlichen Zufälle öffneten ein schmales Zeitfenster an einem bestimmten Ort, an
dem ich befähigt wurde, ansatzweise einen Kanon von Aversionen in der Politik, in der Ethik und in der Philosophie zu entwickeln, der es mir dann wenigstens teilweise erlaubte, den Werdegang eines Liberalen zu vermeiden. Warum aber nur teilweise? Der Grund dafür ist, dass Gesellschaften übermächtige Strukturen sind, und in meinem Fall gab es keine Möglichkeit, sich der Beteiligung an ineinandergreifenden und sich gegenseitig verstärkenden sozialen Institutionen, die so angelegt sind, dass sie »liberale« Vorstellungen verkörpern sollen, völlig zu entziehen. Das Vokabular des »Liberalismus« ist zweifellos das beherrschende und praktisch alles durchdringende Idiom unseres Denkens und Sprechens, und ich kann nicht behaupten, davon vollkommen unbeeinflusst zu sein. Seine Begrifflichkeit und Vorstellungen prägen selbst die von uns gebrauchte Alltagssprache. Eine Person wie ich muss daher andauernd binokular und bilingual sein.3 Im täglichen Leben verwende ich Begriffe, von denen ich weiß, dass sie Assoziationen haben, die ich zu 233 tiefst missbillige oder ablehne, aber ich bin unfähig, irgendwelche anderen Begriffe mit der Geläufigkeit und unmittelbaren Selbstverständlichkeit zu gebrauchen, wie sie die leichte umgangssprachliche Kommunikation erfordert, wenn ich nicht in permanente sinnlose Pedanterie oder völlige Unverständlichkeit verfallen will. Obwohl ich Atheist bin, ertappe ich mich dabei, dass ich Dinge sage wie »Wenn das passiert, dann helfe uns Gott«, ohne daran zu denken, dass mich diese Redewendung auf den Glauben an die Existenz von Göttern verpflichtet, und ich denke erst recht nicht daran, dass sie mich auf eine bestimmte Theologie verpflichtet, in der ein angeblicher Gott (vielleicht auch eine Göttin oder Götter) ausreichend an den Angelegenheiten der Menschheit interessiert wäre, so dass es Sinn hätte, diese Gottheit um Hilfe anzurufen. Ich verwende sogar unbekümmert ein System zur Datierung, dessen Berechnung von dem hypothetischen Jahr ausgeht, in dem »Unser Herr, Jesus Christus« geboren wurde, und benutze die Abkürzung A. D. für Anno Domini – »im Jahre des Herrn« –, ohne daran zu denken, dass dies impliziert, Jesus damit als meinen Herrn akzeptiert zu haben. Ebenso finde ich den gesamten Apparat der »Rechte«, wie er normalerweise eingesetzt wird, begrifflich
völlig unangebracht. Für diese Auffassung habe ich eine ganze Reihe verschiedener Gründe, von denen einer die enge Verbindung unserer üblichen Vorstellung von »Rechten« mit der Idee des souveränen individuellen Subjekts ist, das als Träger solcher Rechte vorgeschlagen wird.4 Trotzdem verspüre ich im Alltagsleben keinerlei Schuldgefühle dabei, das Wort »Rechte« zu verwenden, um mich anderen verständlich zu machen. Es ist an sich gar nichts falsch daran, nicht besonders sprachskeptisch zu sein und die gängige, verfügbare Sprache zu ge 234 brauchen, wie es alle tun, und sich generell nicht immer mehr zu verheddern oder Purzelbäume zu schlagen, um das eigene Sprechen mit irgendeinem Ideal der Korrektheit in Einklang zu bringen. Wir mögen zwar eine Verpflichtung haben, anstößige Rede zu vermeiden, aber wir haben keinerlei Verpflichtung zur sprachlichen Geschliffenheit oder zur Genauigkeit des Ausdrucks oder gar zur außergewöhnlichen gedanklichen Durchdringung. Viele Menschen, sogar Individuen, die der Philosophie als Beruf nachgehen, fühlen sich in der einen oder anderen der komfortableren Nischen sehr wohl, die unsere Welt für diejenigen bereithält, die bestimmte verkäufliche Kompetenzen, wie etwa die Fähigkeit zur Argumentation, besitzen, Kompetenzen, die ausgeübt werden können, ohne sich selbst allzu sehr von den Annahmen distanzieren zu müssen, die in den heimischen sozialen Praktiken verankert sind. Man könnte dennoch der Meinung sein, dass diese Art, auf Distanz zu gehen, zu jedem Versuch gehören sollte, die Tradition fortzuführen, die auf Sokrates zurückgeht. Jene Tradition weiter entwickeln zu wollen, würde auch bedeuten, das binokulare Sehen zu kultivieren. Obwohl Philosophen nicht für sich in Anspruch nehmen können, die Stimme der universellen Vernunft zu verkörpern, oder mit dem Vorschlag einer allumfassenden Weltanschauung auftreten können, sollten sie doch darauf verpflichtet bleiben, von dem besonderen Kontext, in dem sie sich befinden, so stark wie möglich zu abstrahieren. Sie sollten sich sehr davor in Acht nehmen, sich in der betreffenden Gesellschaft oder der betreffenden Nische in der Gesellschaft, in der sie zufällig leben, allzu bequem einzurichten. Dies
bleibt richtig, ungeachtet der Tatsache, dass vollständige Abstraktion unmöglich ist und ein »Blick von Nirgendwo« nicht existiert. 235 Den Kräften der Alterität bleibt, wenn sie die feindseligen Auswirkungen des Liberalismus überleben wollen, vielleicht wirklich keine Alternative bis auf die, höchst sonderbare Formen anzunehmen. Ich habe versucht, eine dieser xenomorphen Alternativen – die befremdliche Gestalt, die diese Alternativen annehmen können – in diesem Buch zu beschreiben, indem ich eine wahre Geschichte erzählte, die tatsächlich ein Teil meiner Geschichte ist. In ihr gab es die Möglichkeit, Meinungen und Einstellungen zu haben, die sich von denen unterscheiden, die der Liberalismus vorschreibt. Was meine Geschichte vielleicht zeigt, ist, wie unkonventionell und ungewöhnlich die Umstände sein mussten, damit dies möglich war – es bedurfte einer totalen Institution, die einem der Schlösser aus einem Roman des Marquis de Sade glich, dabei aber eine wohlwollende Variante war, die von ungarischen Flüchtlingen für ungarische Flüchtlinge betrieben wurde und von Raum und Zeit der Umgebung wirkungsvoll abgeschieden war. Eigentlich gibt es jede Menge Alternativen zum Liberalismus, doch in meinem Fall war es der Katholizismus in dieser eigenartigen, nichtautoritären Form, der die relevante Alternative bot. Obgleich ich mich nicht zum Katholizismus bekannt habe, war es durchaus von Nutzen für mich, zu Beginn der 1960er Jahre dessen Einfluss ausgesetzt gewesen zu sein, denn das erlaubte mir, einige intellektuelle, moralische und politische Sackgassen zu vermeiden und verschiedene vorübergehende Illusionen zu durchleben und zu überstehen. 1971 war alles, was mir noch zu tun blieb, mich von einigen Fragmenten des Kantianismus zu befreien, die es geschafft hatten, sich während meiner Universitätsjahre in mein Denken einzuschleichen, vermutlich infolge der übermächtigen, halb unbewussten Voreingenommenheit in diese Richtung, von der die dominante Form des akademi 236 schen Unterrichts geprägt ist. Dafür brauchte ich fast zwanzig Jahre.
Liberalismus in unserer Welt Es ist schwer zu sehen, wie uns die traditionellen Heilmittel des Liberalismus in der Welt, in der wir jetzt leben, irgendeine Hilfe sein sollen. Meine Lehrer an der Schule und an der Universität waren der Meinung, dass der Liberalismus verbohrt sei und dass viele seiner zentralen Lehren einfach falsch seien. Das war ein theoretisches Urteil, das mir noch immer richtig zu sein scheint. Zwischenzeitlich hat der Liberalismus jedoch in einer zunehmend unmissverständlichen Weise gezeigt, dass er außerdem für das menschliche Wohl bestenfalls irrelevant und schlimmstenfalls aktiv schädlich ist. Wir leben in einer Gesellschaft, in der wir ununterbrochen einer allgemeinen elektronischen Überwachung unterliegen, die eine ständige Nachverfolgung von praktisch all unseren Bewegungen erlaubt, aber auch von all unseren Meinungen und Wünschen, sofern diese irgendeine sichtbare Spur in der Welt hinterlassen. Im Vergleich dazu sieht die dystopische Vision von 1984 grob und unterentwickelt aus. Hinzu kommt, dass niemand wirklich in die Zeiten vor Amazon, Google, Videoüberwachung in öffentlichen Räumen, der Computeranalyse großer Datenmengen und dem Internet zurückwill. Ich selbst würde mich freuen, wenn ich zur mechanischen Schreibmaschine und zur öffentlichen Telefonzelle zurückkehren könnte, mache mir aber keine Illusionen darüber, dass es für jeden unter fünfzig keine vorstellbare Alternative zur universellen elektronischen Vernetzung gibt. Die meisten Menschen möchten dieses Uni 237 versum gar nicht verlassen oder abschaffen. Wo genau in diesem Universum könnte denn dann das souverän und individuell wählende Subjekt umgeben von einer geschützten Privatsphäre lokalisiert sein? Wer wird für diesen Schutz der Privatsphäre sorgen? Wer wird diejenigen kontrollieren, die den Schutz herstellen? Brauchen wir eine globale Organisation, die das Sammeln und Nutzen von Daten überwachen wird? Ist die Einrichtung einer solchen Behörde Teil einer liberalen Agenda? Ist der Liberalismus auf die schwächste Regulierung für die Industrie der Finanzdienstleister und auf
die Respektierung aller existierenden Eigentumsformen und Anspruchsformen verpflichtet? Die Finanzkrise von 2008 war eine direkte Folge der Anwendung liberaler Grundsätze auf das Bankensystem. Um die Wiederholung einer solchen Krise zu verhindern, haben die Liberalen in ihrem Medizinkästchen anscheinend einzig und allein Mittel zur Abhilfe, die so zahnlos sind, dass sie fast absurd wirken. Wird die weitere Diskussion »unter idealen Bedingungen« dazu führen, allen Beteiligten die Standpunkte der jeweils anderen verständlich zu machen, und sie dazu bringen, einem Kompromiss zuzustimmen? Wie gut hat die Diskussion dabei funktioniert, die Banken bis heute unter Kontrolle zu bekommen? Wird die weitergehende Diskussion des Brexits im Vereinigten Königreich nützlich sein? Sollen wir noch länger darüber diskutieren, ob das Coronavirus und die Pandemie wirklich existieren? Oder ob Trump die Präsidentenwahl 2020 in den USA wirklich gewonnen hat? Oder ob es wirklich eine Verschwörung satanistischer Pädophiler gibt, die hinter den Kulissen die Strippen ziehen und den öffentlichen Diskurs und die Politik im Westen steuern, wie einige Anhänger von QAnon behaupten? Wo genau ist der Punkt der Neutralität, auf den 238 wir uns alle einigen können und von dem wir diese Behauptungen beurteilen können? Unsere Spezies begeht derzeit Suizid, indem sie unsere natürliche Umwelt zerstört. Man kann sich nicht vorstellen, wie die Katastrophe abgewendet werden könnte, ohne dass erhebliche Zwangsmaßnahmen gegen die Akteure und tonangebenden Institutionen unseres gegenwärtigen Wirtschaftssystems ergriffen werden.5 Der »Liberalismus« in dem Sinne, wie ich den Begriff in diesem Buch verwendet habe, ist auf die Unantastbarkeit des individuellen Geschmacks und der individuellen Meinung, auf die Notwendigkeit, ein Höchstmaß an ungehinderter individueller Wahl zu schützen, und auf das freie Unternehmertum verpflichtet. Jeder, der in unserer Welt einen gangbaren Weg von dieser Konzeption zu einer Situation sehen kann, in der wir das ökologische Desaster noch verhindern, hat ein bei weitem schärferes Sehvermögen als ich.
Vision, Hoffnung und Handeln Was bedeutet das dann für jemanden wie mich jetzt? Ich habe bereits erwähnt, dass ich mich in diesem Buch mit Erzählung, nicht mit Argumentation befasst habe. Das heißt, ich versuche nicht, den Liberalismus zu widerlegen, sondern die Geschichte eines Lebensverlaufs zu erzählen. Es würde mich sehr freuen, wenn Leser und Leserinnen dieses Textes einige ihrer eigenen Ansichten und Einstellungen infolge der Lektüre ändern würden, aber mir ist klar, dass dies weitgehend meinem Einfluss entzogen ist. Ebenfalls erwähnt habe ich zwei Aspekte aus Adornos Philosophie, von denen ich meinte, es sei wichtig, sie aufzuneh 239 men: Die Idee, dass es in der Philosophie im Grunde genommen nicht darum geht, einfach ausgliederbare Schlussfolgerungen zu ziehen, und die Idee, dass gegen Negativität nichts einzuwenden ist. Die Philosophie ist wesentlich eine Angelegenheit der Kritik, einer ständig beurteilenden Tätigkeit. Ein Einwand, der häufig dagegen erhoben wird, lautet, dass eine Ansicht wie diese niemals eine echte philosophische Anleitung zum Handeln sein könne, und vielleicht ist das in einem gewissen Sinne sogar richtig. Wenn die Philosophie eine Form von potenziell fortwährender denkerischer und geistiger Aktivität ist, dann ist es vielleicht von Anfang an ein Fehler, von ihr zu erwarten, dass sie uns sozusagen aus ihren eigenen Ressourcen mit Prinzipien oder Zielen und einer Motivation, nach ihnen zu handeln, versorgt. Vielleicht führte der wirklich falsche Schritt historisch gesehen von Sokrates, der sagte, er wisse nichts und verbringe sein ganzes Leben damit, Behauptungen zu beurteilen, zum Dogmatismus Platons. Eine weitere Beunruhigung könnte sich daran knüpfen, dass die binokulare Sicht, zu der ich zuvor geraten habe, oder das Fehlen einer ausdrücklichen Weltanschauung oder irgendeiner systematischen Art von umfassender Hoffnung auf menschliche Verbesserung, die Verpflichtung auf etwas oder ein Handeln unmöglich machen könnten. Ich kann nicht erkennen, warum irgendwas davon der Fall sein sollte. Selbst ohne
Hoffnung können und sollten wir immer noch handeln.6 Vom Orchester auf der Titanic wird berichtet, es habe so lange weitergespielt, bis die Musiker ins Meer stürzten. Hatten sie fälschlicherweise gehofft, das Schiff würde sich schließlich selbst wieder aufrichten? Hatten sie alle den religiösen Glauben an irgendein transzendentales Heil? Waren sie von dem Gedanken beseelt, dass sie mit ihrem Spiel etwas für die anderen taten, die noch am 240 Leben waren? Ist es vorstellbar, dass sie auch dann noch weitergespielt hätten, wenn sie die letzten Lebenden gewesen wären und das wussten? Diese Art Handeln wird in der jüngeren philosophischen Diskussion manchmal in die Kategorie »Handeln aus einer Identität heraus« eingeordnet: Das heißt, wir tun dies nicht, weil wir glauben, dass es überhaupt zu etwas führen wird, sondern weil wir Personen dieser Art sind oder Personen dieser Art sein wollen. Wir sind Musiker und werden diesem Beruf treu bleiben, unabhängig davon, ob irgendeine Hoffnung besteht, dass das, was wir tun, irgendwelche bestimmten Folgen haben wird. Krigler pflegte zu sagen, wenn man tue, was man glaube, tun zu müssen, obwohl man im Universum keinerlei Sinn erkennen könne und obwohl man glaube, das eigene Handeln sei total sinnlos, beweise man eine sehr anspruchsvolle Form religiöser Sensibilität. Oder in einem säkularer gefassten Idiom: Ich habe den Aphorismus von René Char, den ich zu Beginn dieses Buches zitierte – »Ne t'attarde pas à l'ornière des resultats« (»Verweile dich nicht in der Wagenspur des Erreichten«) –, immer als eine Ermahnung verstanden, das Handeln von seiner Ergebnisabhängigkeit zu trennen. In dem Maße, wie das möglich ist, ist auch Handeln ohne Hoffnung möglich. Char war ausgezeichnet in der Lage, zukünftige Wirkungen zu kalkulieren und nach diesen Kalkülen zu handeln. Aphorismus 138 von Les Feuillets d'Hypnos beschreibt den entsetzlichen Tag, an dem er von einer Anhöhe knapp außerhalb des Dorfes, in dem er sich versteckt hielt, die Hinrichtung eines Freundes beobachtete.7 Er hatte eine Maschinenpistole und ebenso viele Männer wie die Gruppe von SS-Soldaten, die die Exekution durchführten. Er schoss nicht, »weil das Dorf um jeden Preis verschont bleiben mußte« vor den
unausweichlich folgenden Vergeltungsakten, 241 welche die SS begangen hätte, wenn einige ihrer Soldaten in dem Dorf getötet worden wären. Menschen können ihre Motivation zu handeln aus allen möglichen sonderbaren Gründen verlieren, und es ist sehr gut möglich, dass Menschen, die sich davon überzeugt haben, dass die Sinnlosigkeit einer Handlung ein Grund dafür ist, von ihr abzusehen, nicht motiviert sein werden, die Handlung auszuführen. Diese fehlende Motivation resultiert aber aus der Überzeugung, die sie sich über die Handlung gebildet haben. Es ist keineswegs notwendig, diese demotivierende Einstellung anzunehmen. Ich denke, wir haben keine Wahl, sondern müssen handeln, weil wir die Menschen sind, die wir sind. Foucault unterscheidet an einer Stelle zwischen dem »Ethos der Aufklärung« und den »Lehrmeinungen der Aufklärung«.8 Ersteres bezeichnet eine Reihe von Dispositionen und Gewohnheiten des Denkens und Handelns, die sich darum drehen, die Welt um uns herum zu erforschen, Erfahrung zu überdenken und die Überzeugungen, welche die Menschen unterhalten, sowie die Behauptungen, die sie aufstellen (einschließlich solcher, die ich selbst aufstelle), zu hinterfragen und zu kritisieren, falls dies notwendig ist. Die Lehrmeinungen der Aufklärung bestehen aus einer Reihe von Annahmen über Wissenschaft, Fortschritt, Psychologie des Menschen, Wesen und Ziele der menschlichen Gesellschaft und so fort. Foucault glaubt, dass wir am Ethos festhalten können und sollten, ohne unbedingt den Lehrmeinungen beizupflichten. Es ist nicht so, dass die Aktivität der kritischen Reflexion in einem Vakuum stattfinden kann oder in einer Situation, in der Meinung und Überzeugung ganz und gar im Fluss sind. Natürlich werden sich bestimmte Überzeugungen zu irgendeinem Zeitpunkt entweder epistemisch oder moralisch 242 selbst völlig diskreditiert haben, und andere werden zu ebenjenem Zeitpunkt nicht gleichermaßen kompromittiert erscheinen. Wir gehen von kognitiven Einstellungen aus, die wir auf komplizierte Art und Weise erworben haben, wobei auch eine gewisse Zufälligkeit eine wichtige Rolle spielt, doch mitunter können wir an diesen Einstellungen weiterarbeiten und unsere
Überzeugungen und Gewohnheiten kritisieren, in der Hoffnung, sie verbessern zu können. Aus der Tatsache, dass wir sie manchmal eindeutig verbessern können, folgt allerdings nicht, dass es irgendein gleichbleibendes Konzept von »Kritik«, »Wahrheit« oder gar »Verbesserung« gibt, das sich dem Fluss der Veränderungen theoretisch abgewinnen und in einer tadellosen begrifflichen Form präsentieren lässt. Unsere Situation könnte sich ändern und wird sich schließlich ändern, aber im Augenblick haben wir guten Grund, die Kritik zu kultivieren, und in dem Maße, wie sich die Philosophie als Kritik dieses Typs darstellt, haben wir gerade jetzt Grund, diese Praxis fortzusetzen. Es ist außerdem so, dass die Geschichte der Philosophie als Teil des großen Imaginationsreservoirs verschiedenster Denkweisen und Handlungsweisen behandelt werden kann, zu dem lesekundige Menschen Zugang haben, und manche von den Analysen und Vorschlägen, die Philosophen früherer Zeiten vorgelegt haben, mögen für uns weiterhin von Interesse sein. Am Ende müssen wir jedoch entscheiden, was für eine Sorte Mensch wir sein wollen, sowohl als Individuen als auch kollektiv, als Gruppenakteure. Die Philosophie kann dabei eine Rolle spielen, aber wir sollten uns auch auf Ressourcen stützen, die viel umfassender sind als diejenigen, die die Philosophie allein bereitzustellen vermag.
243 Abkürzungen KSA
Friedrich Nietzsche, Kritische Studienausgabe, 15 Bände, hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Berlin: de Gruyter 1967-1988.
MEW
Karl Marx, Friedrich Engels, Werke, 44 Bände, Berlin: Dietz 1956ff.
MM
Theodor W. Adorno, Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1951, zitiert nach der Paragraphenzählung.
PCM
Paul Celan, Der Meridian und andere Prosa, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1968.
245 Anmerkungen
Vorwort 1
MEW, Bd. 40 (Ökonomische-philosophische Manuskripte), S. 536.
Einleitung 1 2
3 4 5
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Siehe mein Buch History and Illusion in Politics, Cambridge: Cambridge University Press 1999. John Dunn hat in Setting the People Free. The Story of Democracy (London: Atlantic 2005) gezeigt, wie wichtig die historische Betrachtung der sich wandelnden Bedeutung des Begriffs »Demokratie« ist. KSA, Bd. 5, S. 316-318. Siehe Hartmut Leppin, Die frühen Christen. Von den Anfängen bis Konstantin, München: C. H. Beck, 2018, der zahlreiche Fälle dieser Art anführt. Thomas S. Kuhn, The Structure of Scientific Revolutions, Chicago: University of Chicago Press 1962 (dt.: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, übers. von Kurt Simon, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1967); sowie Imre Lakatos, Alan Musgrave (Hg.), Criticism and the Growth of Knowledge [1965], Cambridge: Cambridge University Press 2018 (dt.: Kritik und Erkenntnisfortschritt. Abhandlungen des Internationalen Kolloquiums über die Philosophie der Wissenschaft, Braunschweig: Vieweg 1974). MEW, Bd. 1, S. 347-391. MM, § 151. Dissoi logoi ist der Name, den moderne Geisteswissenschaftler einem antiken Text geben, der ungefähr aus der Zeit von Sokrates und Platon stammt und in dem parallel zueinander Argumente aufgeführt sind, die für und wider solche Aussagen sprechen wie die, dass das Gute und das Schlechte miteinander identisch sind. Siehe Die Fragmente der Vorsokratiker, hg. von Hermann 246 Diels und Walther Kranz, Berlin: Weidmann 1951, Bd. 2, S. 405-416. Robert Nozick, Philosophical Explanations, Cambridge, Mass.: Harvard University Press 1981, Vorwort. Man kann eine blasse, für mich aber immer noch unannehmbare Widerspiegelung davon in dem Gebrauch der Formel »der eigentümlich zwanglose Zwang des besseren Argumentes« bei Habermas finden. Siehe Jürgen Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1981.
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Mein Schicksal 1
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Siehe Raymond Geuss, »Die Hoffnung«, in: Sarah Bianchi (Hg.), Auf Nietzsches Balkon III. Beiträge aus der Villa Silberblick, BauhausUniversitätsverlag 2018, S. 233-236. Johann Peter Eckermann, Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens, hg. von Fritz Bergemann, Zweiter Teil (1822-1832), »Anfangs März [?] 1832«, Frankfurt/M., Leipzig: Insel 1992, S. 475. In einem der späten Gedichte, »Urworte. Orphisch« (in: Goethes Gedichte in zeitlicher Folge, hg. von Heinz Nicolai, Frankfurt/M.: Insel 21982, S. 879), gibt Goethe eine stilisierte Schilderung eines typischen Menschenlebens als Durchgang durch eine Reihe unterschiedlicher Stadien, die er jeweils mit einem griechischen Ausdruck beschreibt: Daimon, Tyche, Eros, Ananke, Elpis (Dämon, Das Zufällige, Liebe, Nötigung, Hoffnung). Die Tatsache, dass nach der Nötigung (Ananke) eine positiv bewertete Hoffnung (Elpis) diese Reihe beschließt, ist ein klarer Hinweis darauf, dass Goethe trotz seines offen bekundeten heidnischen Polytheismus in Wirklichkeit ein optimistischer, postchristlicher Dichter war. René Char, Hypnos. Aufzeichnungen aus dem Maquis (1943-1944), Feuillets d'Hypnos, übers. von Paul Celan, hg. von Horst Wernicke, Frankfurt/M.: S. Fischer 1990, S. 9. Nach der anderen Version der Geschichte, die er erzählte, wurde er weggeschickt, weil er »zu wenig flexibel war, um katholischer Priester« zu werden, was mehr über ihn als über die Anforderun 247 gen an die Geistlichkeit sagt, denn er hatte eine Tendenz zu äußerster moralischer Empörung auf manchen Gebieten. Erving Goffman, Asylums. Essays on the Social Situation of Mental Patients and Other Inmates, Garden City: Anchor 1961 (dt.: Asyle. Über die soziale Situation psychiatrischer Patienten und anderer Insassen, übers. von Nils Thomas Lindquist, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1973).
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Liberalismus 1
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Siehe mein Buch Public Goods, Private Goods, Princeton: Princeton University Press 2001 (dt.: Privatheit. Eine Genealogie, übers. von Karin Wördemann, Frankfurt/M.: Suhrkamp 2002). Sidney riet den Leuten auch, eine weitere Art von Aufsatz zu vermeiden: den »Floh«. Wenn du einen Floh hast, juckt das schrecklich, doch sonst kümmert es niemanden. Dann gab es noch den »Makabren«, einen Aufsatz, der alte Positionen ausgräbt, die alle längst vergessen haben, nur um sie abermals zu verstümmeln, wüst zu zerstören und sie dann unter lauten Fanfarenstößen wieder zu begraben. »Menj a víz alá« (»Geh und ertränk dich«) war eine häufig verwendete Verwünschung – sehr milde und fantasielos nach herrschenden ungarischen Maßstäben –, die ich fast jeden Tag hörte. Andras' Vater hatte sich an der Haltestelle der 96th Street in New York vor eine Untergrundbahn geworfen, während er noch im Exil war. Ich meine, Ungarn hatte eine Zeitlang eine Selbstmordrate bezogen auf die Einwohnerzahl, die fast der japanischen Konkurrenz machte. Siehe mein Buch Who Needs a World View?, Cambridge, Mass.: Harvard University Press 2020, S. 3-12. »Es gibt kein Heil außerhalb der Kirche.« Allerdings ermöglicht das Fehlen von Artikeln im Lateinischen auch die Lesart: »Außerhalb einer Kirche [egal welcher Kirche] gibt es kein Heil«. Oliver Cromwell's Letters and Speeches, hg. von Thomas Carlyle, London: Chapman and Hall 1869, Bd. 2, S. 217. Als Krigler 1960 dergleichen äußerte, waren die Schriften Michel 248 Foucaults, die diese Auffassung später zu einem Gemeinplatz werden ließen, noch nicht einmal geschrieben. Siehe besonders Augustinus, De civitate Dei, hg. von Bernhard Dombart und Alfons Kalb, Stuttgart: Teubner 1981, Buch 5. MM, § 29.
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Autoritarismus 1
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Das ist der Grund dafür, warum ein Vernichtungslager kein wirklich gutes Beispiel dafür ist, wenn man Autorität oder Autoritarismus verstehen will. In Ist das ein Mensch? berichtet Primo Levi, dass ihm ein Wachmann auf die Frage, warum eine bestimmte Vorschrift gelte, geantwortet hat: »Hier ist kein Warum.« Dies deutet auf den Versuch hin, einen vollständigen Bruch zwischen dem Handeln, dem vorhandenen Netzwerk wechselseitiger menschlicher Erwartungen und dem schlussfolgernden Denken herbeizuführen. Eigentlich stellt er nicht so sehr das non plus ultra des Autoritarismus dar, als vielmehr einen Versuch, die Autorität insgesamt hinter sich zu lassen zugunsten der reinen Gewalttätigkeit. In gewisser Weise erzeugte der Wachmann einen pragmatischen Widerspruch, indem er diese Antwort gab. Wenn es wirklich kein »Warum« in dem Lager gab, hätte der Wachmann überhaupt nicht antworten dürfen: Indem er antwortete, erklärte er, dass es keine Erklärungen gab. Dass der Wachmann sich selbst widersprach, half Levi nichts, geschweige denn all den anderen, die ohne jegliche sprachliche Interaktion in die Gaskammern getrieben wurden. Daraus zu schließen, es ließe sich aus dem Aufweis solcher Widersprüche irgendein bestimmter ethischer oder politischer Antrieb beziehen, ist eine Vorstellung, der wir widerstehen sollten. Hier wird lediglich deutlich, dass man sich am besten nicht auf Beispiele wie dieses konzentriert, wenn man Thesen über »Autorität« verstehen möchte. Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, Tübingen: Mohr 1972, S. 140-148, S. 650-688. Mitte der 1970er Jahre machte ich direkt Erfahrung damit, als einer meiner Cousins, der in Philadelphia Polizist war, beschloss, 249 nach New York umziehen zu wollen. Er bat mich, Erkundigungen über eine Anstellung beim New York City Police Department einzuholen. Damals trug ich schulterlanges Haar und mein Aussehen war insgesamt eher unsportlich und leger. Die Gesichter der Polizisten auf der Wache, denen ich erklärte, ich bräuchte ein Bewerbungsformular für das NYPD, verrieten mir, dass sie eine ziemlich klare Vorstellung von der äußeren Erscheinung eines Polizisten hatten, der natürliche Autorität auszustrahlen vermag. Dieser Vorstellung entsprach ich nicht.
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Der große Historiker Theodor Mommsen stellte fest, »auctoritas« für sich genommen sei ein »verschwommener« Begriff, »ein sich aller strengen Definition entziehendes Wort«. Siehe Theodor Mommsen, Römisches Staatsrecht, Bd. 3.2, Leipzig: Hirzel 1888, S. 1033. Er schreibt, die auctoritas sei »mehr als ein Rathschlag und weniger als ein Befehl« (ebd., S. 1034). Dio Cassius 55.3. Siehe auch meine Erörterung in »Authority: Some Fables«, in: A World without Why, Princeton: Princeton University Press 2014, S. 112135. Die Griechen neigten dazu, »Perser« und »Meder« durcheinanderzubringen. Eine weitere Schwierigkeit entsteht offenkundig deshalb, weil wir eigentlich über das deutsche Wort »Autorität« sprechen, und nicht über die lateinische auctoritas. Dies macht die Dinge auf eine Weise komplizierter, die ich hier nicht in Gänze diskutieren kann, entwertet aber nicht den Punkt, den ich deutlich machen möchte. Die gesamte Diskussion dieser Angelegenheit würde eine Behandlung von Textstellen wie die im achten Kapitel des Matthäusevangeliums erfordern, wo Jesus mit einem römischen Centurion spricht. In der Fassung der King James Bibel sagt der Centurion, »I am a man under authority«, wo das Griechische das Wort »ἐξουσία« verwendet. Nun könnte man meinen, der speziell römische Kontext an dieser Stelle würde den Gebrauch des lateinischen Worts »auctoritas« nahelegen, doch die Vulgata sagt »(homo) sub potestate constitutus« oder in Luthers Übertragung »der Obrigkeit untertan«. »Potestas« allerdings bedeutet »Fähigkeit, Macht«. Dies spricht stark dafür, dass sogar die Sprecher des Lateinischen in der spätantiken Welt nicht glaubten, dass »auctoritas« dieselbe Bedeutungsnuance hatte wie »ἐξουσία«. Diesel 250 be Übersetzung ἐξουσία/potestas – und nicht auctoritas – findet sich in Matthäus 7,28, die von Luther mit »Vollmacht« wiedergegeben wird. Die maßgebliche katholische Fassung (Douay-Rheims) verwendet »Autorität« an der ersten und »Macht« an der zweiten Textstelle. Das phantomartige Auftreten von »authority« in den englischen Übersetzungen wirft einen Schatten, der auf diese Textstellen zurückfällt. Mir scheint dies ein gutes Beispiel für genau das zu sein, was Krigler uns beibringen wollte. Er war erpicht darauf, dass wir so etwas bemerken und vermeiden. Platon, Der Staat, Bücher 5, 6, und 7, übers. u. hg. von Gernot Krapinger, Ditzingen: Reclam 2022; bes. 5. Buch, 473 d, S. 231f. Das nachfolgende griechische Platon-Zitat: ebd. Wladimir Iljitsch Lenin, Staat und Revolution, Hamburg: Laika 2012, S. 108. Thukydides, Der Peloponnesische Krieg, 3.69-3.85, übers. u. hg. von Helmuth Vretska u. Werner Rinner, Ditzingen: Reclam 2021, S. 245-257.
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Zwei besonders klare Beispiele sind: Plutarch, Themistocles 21, und Platon, Nomoi 722b.
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Religion, Sprache und Geschichte 1
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In Reaktion auf eine Einladung von Martin Bauer schrieb ich schließlich einen Aufsatz darüber, der in englischer Sprache unter dem Titel »Authority: Some Fables« erschienen ist in: Raymond Geuss, A World without Why, Princeton: Princeton University Press 2014, S. 112-135. Es gibt eine vollkommen andere Art, Autorität zu verstehen und zu untersuchen, die man zum Beispiel in den Schriften von Alexandre Kojève finden kann, der sich auf die unterschiedlichen Formen konzentrierte, in denen Menschen aufeinander einwirken können. »Autorität« bezeichnet danach verschiedene, systematisch asymmetrische Formen menschlicher Interaktion, bei denen Kojève vier Grundtypen unterscheidet. All dies geschieht unabhängig von der Sprache, die wirklich verwendet wird, um diese Beziehungen zu beschreiben. Folgt man dieser Betrachtungs 251 weise, stellt sich seltsamerweise heraus, dass Krigler der Auffassung einer sprachzentrierten analytischen Philosophie und des Anarchismus viel nähersteht, während Kojève mit seiner Methode und seinen Schlussfolgerungen bewusst Hegel näherkommt. Selbst wenn man es vorzieht, Kojève zu folgen, würde das für sich genommen die These zur wortwörtlichen Interpretation im Hinblick auf die absolute Autorität der Bibel nicht rehabilitieren. Siehe Alexandre Kojève, La notion de l'autorité, Paris: Gallimard 2008 (dt.: Der Begriff der Autorität, übers. von Philipp Wüschner, Leipzig: Merve 2020.). Dieses Werk wurde 1942 geschrieben, war jedoch bis 2008 unveröffentlicht, so dass Krigler keinen Zugang dazu haben konnte. »L'autorité est la possiblité qu'a un agent d'agir sur les autres […] sans que ces autres réagissent sur lui tout en étant capables de le faire« (ebd., S. 58). W. V. O. Quine, »Radical Translation«, in: Journal of Philosophy 65 (1968), S. 200-201. Krigler hat offensichtlich Adolph von Harnacks Lehrbuch der Dogmengeschichte (3 Bde., Freiburg i. Br., Tübingen: Mohr, 1886, 1888, 1890) als grundlegendes Hilfsmittel benutzt und zitierte häufig daraus. Dem aufmerksamen Leser werden die offenkundigen tu quoque Argumente nicht entgangen sein, die hier zum Beispiel die Verwendung des geweihten Wassers im Volkskatholizismus betreffen, aber auch die zentrale und
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wahrscheinlich praktisch unverzichtbare Transsubstantiationslehre. Ich konnte nie herausfinden, was Krigler wirklich über die Transsubstantiation dachte. Krigler erklärte, es gebe bei alldem noch eine weitere theologische Dimension. Gott könne die Geschichte verwenden, um sozusagen Botschaften an spätere Generationen zu senden, und zwar durch das Handeln von Menschen, denen selbst nicht bewusst war, was sie da taten. Dies war die Lehre von der »Präfiguration«. Isaak, der das Holz für die Opferung auf seinem Rücken trug, war eine Präfiguration von Christi Kreuzigung, obgleich Isaak nichts davon wusste, obgleich das Volk, das diese Geschichte ursprünglich übermittelte, nichts davon wusste, und obgleich die Schriftgelehrten, die den Text des Buches Genesis schließlich zusammenführten, nichts davon wussten. Erst später konnten die Christen darauf zurückblicken und diesen Aspekt des Gesche 252 henen verstehen. Bei Interpretationen waren also die ursprünglichen Absichten der Verfasser nicht das letzte Wort. Zu einer Einführung in die Präfigurationslehre siehe Erich Auerbach, »Figura«, nunmehr in: Scenes from the Drama of European Literature, Manchester: Manchester University Press 1984 (dt. in: Erich Auerbach, Gesammelte Aufsätze zur romanischen Philologie, Bern, München 1967, S. 176-183; zuvor in: Neue Dantestudien, Zürich: Europa-Verlag 1944; erstmals in: Archivum Romanicum 22 [1939], S. 436-489). Das grundlegende synoptische Buch zur Kanonbildung ist: Jan Assmann, Das kulturelle Gedächtnis, München: C. H. Beck 1997. Ich machte einmal die wirklich haarsträubende Erfahrung eines Gesprächs mit zwei protestantischen Missionaren, die »die Bibel« (sie meinten das Neue Testament) in eine afrikanische Sprache übersetzten, die lediglich von wenigen hunderttausend Sprechern genutzt wurde. Wie sich herausstellte, bedeutete das die »Übersetzung« des Textes der New English Bible in eine »Hochsprache« für Sprecher mehrerer verwandter Dialekte, wobei diese »Hochsprache« ihre eigene Erfindung war. Das ist offenkundig eine der Implikationen von Heideggers Sein und Zeit, Tübingen: Niemeyer 1929. Siehe Ernst Bloch, Thomas Münzer. Theologe der Revolution, Berlin: Aufbau 1960. John Dewey, The Quest for Certainty, London: George Allen & Unwin 1929 (dt.: Die Suche nach Gewißheit, übers. von Martin Suhr, Frankfurt/M.: Suhrkamp 2001); Theodor W. Adorno u. a., The Authoritarian Personality, New York: Harper and Brothers 1950; siehe auch Theodor W. Adorno, Studien zum autoritären Charakter, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1973.
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Theodor Mommsen, Römisches Staatsrecht, Bd. 3.2, Leipzig: Hirzel 1888, S. 1022f. Im Allgemeinen gibt Mommsen in seinem Kapitel über die Kompetenzen des Senats (ebd., S. 1022ff.) mit Nachdruck zu verstehen, dass dieser keine Befugnis besaß, selbstständig zu handeln. »Er ist nichts als eine Verstärkung der Magistratur.« Die wirkliche Rolle des Senats entfaltete und entwickelte sich natürlich im Laufe der Zeit. Ich beziehe mich hier nur auf die leicht idealisierten Vorstellungen, die die Menschen von dessen Rolle während der späten Republik hatten. 253 Alison Cooley, Res Gestae Divi Augusti, Cambridge: Cambridge University Press 2009, S. 58.
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Menschliche Vielfalt 1
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Paul Verlaine, Œuvres poétiques complètes, Paris: Gallimard 1962, S. 280 (dt. »Der Himmel über dem Dache« übers. von Richard von Schaukal, in: Französische Dichtung, Bd. 3, Von Baudelaire bis Valéry, hg. von Friedhelm Kemp und Hans T. Siepe, München: C. H. Beck 1990, S. 101). Siehe Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1785), in: ders., Werkausgabe, hg. von Wilhelm Weischedel, Bd. VII, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1978, S. 36; auch ders., Kritik der praktischen Vernunft, Leipzig: Meiner 1929, S. 96. Søren Kierkegaard, Fear and Trembling, hg. von Howard und Edna Hong, Princeton: Princeton University Press 1983 (dt.: Sören Kierkegaard, Furcht und Zittern [= Werkausgabe 1], Düsseldorf, Köln: Diederichs Verlag 1971, S. 82). Georg Lukács, Geschichte und Klassenbewußtsein (1923), Darmstand, Neuwied: Luchterhand, 1970. Bernard Williams, »Moral Luck«, in: ders., Moral Luck and Other Essays, Cambridge: Cambridge University Press 1981, S. 20-39 (dt.: »Moralischer Zufall«, in: Bernard Williams, Moralischer Zufall. Philosophische Aufsätze 19731980, übers. von André Linden, Königstein/Ts.: Hain 1984, S. 30-49). In gewisser Hinsicht ist natürlich alles im Christentum um Sondergenehmigungen herum organisiert, denn genau das soll die christliche »Gnade« ja sein. Siehe Kant, Werkausgabe, Bd. XI, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1977, S. 53-61; siehe auch Michel Foucault, »Qu'est-ce que les Lumières?«, in: ders., Dits et écrits IV: 1980-1988, Paris: Gallimard 1994, S. 562 (dt.: »Was ist Aufklärung?«, übers. von Hans-Dieter Gondek, in: Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits, Bd. 4, 19801988, S. 687). Epistulae 1. 2. 40 (OCT). [Alle deutschen Zitate aus: Quintus Horatius Flaccus, Sämtliche Gedichte, Lateinisch/Deutsch, hg. von Bernhard Kytzler, Stuttgart: Reclam 1992, S. 523ff.] 254 MM, § 18. MM, § 66. Ich habe es oft als einen großen Vorteil des in Cambridge und Oxford praktizierten Bildungssystems empfunden, dass die Lehre in diesen
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Hochschulinstitutionen vollständig von den Prüfungen getrennt ist. Die Betreuer (Tutoren, Lehrer) vergeben keine Noten; diese werden von einer unabhängigen Prüfungskommission festgesetzt. Das entgiftet meiner Erfahrung nach die Lehre ganz erheblich, obwohl das Verfahren aus einer Reihe von komplizierten Gründen auch dazu neigt, vereinheitlichend auf die Prüfungen zu wirken. Bernard Williams, Shame and Necessity, Berkeley: University of California Press 2008 (dt.: Scham, Schuld und Notwendigkeit. Eine Wiederbelebung antiker Begriffe der Moral, Berlin: Akademie 2000). KSA, Bd. 5. Am Tag nach der »Nacht der langen Messer« vom 30. Juni 1934, in der Hitler und die SS einen Großteil der SA-Führung getötet hatten, ließ Hitler die gesamte deutsche Armee in ihren verschiedenen Kasernen antreten und einen Treueeid auf ihn persönlich schwören. Axel berichtete, dass ein Mann in seinem Regiment den Schwur abgelehnt hatte und dafür keinen anderen Grund angegeben hatte als den, dass er ja, wenn dies ein frei geschworener Eid wäre, auch frei sei, ihn nicht zu schwören. Axel fügte hinzu, dass diesem Mann nichts passiert sei. Das war Salz in Axels Wunde, weil es ihm zeigte, dass er sich selbst ursprünglich wirklich geweigert haben könnte, den Eid zu schwören. In Gesprächen kam er auf diesen Punkt immer wieder zurück. Ich vermute, mit mehr subtiler Sondierung hätte ich diese verengte Konzentration auf seinen Eid vielleicht als eine Form von psychologischer Verdrängung zum Selbstschutz angesehen.
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Walter Benjamin, »Über den Begriff der Geschichte«, in: ders., Gesammelte Werke, hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1991, Bd. I.2, S. 691-704. Dies könnte ein weiterer Fall sein, in dem man versucht ist, Adornos Aphorismus aus MM (§ 29) zu zitieren: »Der Splitter in deinem Auge ist das beste Vergrößerungsglas.«
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Zwischenspiel 1 2
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A. E. Housman, »Parody of a Greek Tragedy«, ursprünglich in The Bromsgrovian, 1883. Die Wendung »ibis redibis non morieris in bello« bedeutet entweder: »Du wirst gehen, du wirst zurückkehren, du wirst nicht im Krieg sterben«, oder: »Du wirst gehen, du wirst nicht zurückkehren, du wirst im Krieg sterben«. Um die ganze Wirkung zu erzielen, muss die Interpunktion im Text unterbleiben, weil die übliche Zeichensetzung die Zweideutigkeit aufheben würde; oder man müsste den Vers vollkommen ausdruckslos vortragen, ohne modulierende oder skandierende Stimme, weil die natürliche ausdrucksvolle Gruppierung der gesprochenen Worte einen Hinweis auf die beabsichtigte Bedeutung geben würde. Siehe auch meinen Aufsatz »Vix intelligitur«, in: Raymond Geuss, A World without Why, Princeton: Princeton University Press 2014. Stefan Zweig, Die Welt von Gestern, Frankfurt/M.: S. Fischer 1952. Robert Musil, Die Verwirrungen des Zöglings Törleß (1906), Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1959.
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Robert Paul Wolff, In Defense of Anarchism, New York: Harper & Row 1970 (dt.: Eine Verteidigung des Anarchismus, übers. von Jörg Asseyer, Wetzlar: Büchse der Pandora 1979). Johann Gottlieb Fichte, Werke, Berlin: de Gruyter 1971, Bd. 3, S. 387-513. Robert Paul Wolff, »Jenseits der Toleranz«, in: ders., Herbert Marcuse und Barrington Moore, Kritik der reinen Toleranz, übers. von Alfred Schmidt, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1965, S. 7-59. Michael Young, The Rise of the Meritocracy. An Essay on Education and Equality, London: Thames and Hudson 1958 (dt.: Es lebe die Ungleichheit. Auf dem Wege zur Meritokratie, übers. von Hans Asbeck, Düsseldorf: Econ 1961). Zum Beispiel in meinem Buch Kritik der politischen Philosophie. Eine Streitschrift, übers. von Karin Wördemann, Hamburg: Hamburger Edition 2011, S. 107ff. Siehe Hans-Georg Gadamer, Wahrheit und Methode, Tübingen: Mohr 1960. Robert Paul Wolff, The Poverty of Liberalism, Boston: Beacon Press 1968 (dt.: Das Elend des Liberalismus, übers. von Eberhard Bubser, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1969. John Rawls, A Theory of Justice, Cambridge, Mass.: Harvard University Press 1971 (dt.: Eine Theorie der Gerechtigkeit, übers. von Hermann Vetter, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1979). MEW, Bd. 1, S. 338ff. Max Stirner, Der Einzige und sein Eigentum (1845), Stuttgart: Reclam 1972. Ebd., S. 5, S. 15. Peter Kropotkin, Mutual Aid: A Factor of Evolution (1902), London: Freedom Press 2009 (dt.: Gegenseitige Hilfe in der Tier- und Menschenwelt, übers. von Gustav Landauer, Berlin: Karin Kramer 1975).
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Professor X war der jüngste Mann, dem ein akademischer Grad durch die Universität verliehen wurde, die jüngste Person, die zum Vollprofessor ernannt wurde, die jüngste Person, die in verschiedene Berufsverbände und Ehrengesellschaften gewählt wurde – und er selbst neigte außerdem dazu, andere daran zu erinnern. Sidney kommentierte das mit: »Er war die jüngste Person, die jemals geboren wurde.« Kenneth J. Arrow, Social Choice and Individual Values, New York: Wiley 1951. Robert Paul Wolff war bei diesem Thema ebenfalls sehr gut, insbesondere hinsichtlich der Form, in der das eindimensionale Rechts-Links-Spektrum in der Politik ein Artefakt war, das unter dem Druck der Notwendigkeit erfunden wurde, ein Wahlsystem zu rechtfertigen, das man bereits übernommen hatte. Das heißt, der Schwanz wedelte mit dem Hund. Wolff, ein vielseitiger Philosoph, hielt übrigens auch ausgezeichnete Vorlesungen über Kierkegaard. Wenn jemand sagt, die Alternativen seien in jedem dieser Fälle nicht »irrelevant«, zeigt das nur, dass das Begriffspaar »relevant/irrelevant« für dieses Schema zu schlecht definiert ist, um irgendeine interessante Anwendung auf die Wirklichkeit zu erlauben.
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Robert Denoon Cumming, Human Nature and History. A Study of the Development of Liberal Political Thought, 2 Bände, Chicago: University of Chicago Press 1969.
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Werner Jaeger, Paideia. Die Formung des griechischen Menschen, Berlin, Leipzig: de Gruyter 1934-1947. Werner Jaeger, Early Christianity and Greek Paideia, Cambridge, Mass.: Harvard University Press, 1957 (dt.: Das frühe Christentum und die griechische Bildung, übers. von Walther Eltester, Berlin: de Gruyter 1963). Etwa zwanzig Jahre später lehrte ich an der University of Chicago und lernte den Philosophen Donald Davidson kennen, der dort ebenfalls unterrichtete. Donald war in Harvard Zimmergenosse meines Doktorvaters Bob Cumming gewesen, als beide noch im Grundstudium Altphilologie studierten. Donald wurde ein Stipendium angeboten, um bei Jaeger seinen Doktor machen zu können. Als er mit der Arbeit anfing, bemerkte er, dass Jaeger immer wieder auf seine eigene akademische Genealogie zu sprechen kam: wer sein Lehrer war, wer der Lehrer seines Lehrers gewesen war usw. Er erwähnte offenbar auch öfter, als dies passend zu sein schien, dass der eine oder andere von diesen akademischen Vorläufern, das heißt von Jaegers Vorgängern, die Tochter seines Lehrers geheiratet hatte. An diesem Punkt gefiel es Jaeger oft, seine eigene Tochter unter irgendeinem Vorwand in den Raum zu bitten. Die Tochter war ganz charmant, aber Donald berichtete, dass er zunehmend klaustrophobisch wurde. – Donald ergriff gern die Initiative, und zu seiner Veranlagung gehörte eine erfrischende Dosis Zynismus. Aus diesem Grund empfahl er anderen seine eigenen Studenten regelmäßig (und vorsätzlich) in übertrieben positiver Weise. Über einen dieser Studenten sagte er mir, dass er niemals etwas in der Philosophie zuwege brächte, da er nicht sonderlich intelligent sei und dazu sehr träge, er würde jedoch gute Dinner-Partys geben und das sei Empfehlung genug. Auf einer gewissen Ebene glaubte er wirklich, dass gute Dinner-Partys zu geben, ebenso eine Empfehlung für eine Stelle an der Universität sei wie kluge Gedanken über Bedeutung und Referenz oder das Geist-Körper-Problem. (Und mit zunehmendem Alter stelle ich fest, dass es mir immer weniger darauf ankommt, das anders zu sehen.) In Angelegenheiten des Herzens zog er es vor, mehr Kontrolle darüber zu haben, 259 als es wohl von Jaeger für ihn vorgesehen war. Er schrieb schließlich eine (sehr philologische) Dissertation
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über Platons Philebos, allerdings nicht mehr bei Jaeger. Der diadoche [Nachfolger] war dahin. In: Paul Celan, Lichtzwang, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1970. Von Schwelle zu Schwelle und Mohn und Gedächtnis wurden 1952 und 1955 bei der Deutschen Verlagsanstalt veröffentlicht. Der Meridian und andere Prosa wurde 1968 vom Suhrkamp Verlag publiziert. In einem Brief vom 22. März 1962 bezieht sich Celan auf sein »vieux cœur de communiste« und in Der Meridian sagt er, er sei mit den Schriften von Kropotkin und Gustav Landauer »aufgewachsen« (PCM, S. 44). »Himmel« bedeutet im Englischen entweder »sky« or »heaven.« In der Übersetzung, die Celan von diesem Gedicht für seine Frau in Französisch anfertigte, gibt er die deutsche Formulierung wieder durch »les bras envautourés par les ciels«. Siehe dazu den Kommentar in: Paul Celan, Die Gedichte. Neue kommentierte Gesamtausgabe in einem Band, hg. von Barbara Wiedemann, Berlin: Suhrkamp 2018, S. 734. Das Französische kennt jedoch zwei verschiedene Pluralformen »ciels«, skies, und »cieux«, heavens. So werden die Arme von skies umgeiert, nicht von heavens. Natürlich hätte das niemand, der den gedruckten Text dieses Gedichts 1967 einfach so las, wie ich es tat, wissen können. Tatsächlich bezieht sich das Wort »Einhorn« mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit auf einen Freund von Celan mit dem Namen Erich Einhorn. 1967 hatte allerdings niemand, der die Gedichte einfach nur las, die Möglichkeit, dies zu wissen. Zudem kann das Gedicht selbst dann völlig ungeschmälert wirken, wenn man dies nicht weiß. Siehe ebd., S. 729. PCM, S. 51. [Celan zitiert hier Pascal.] Ebd., S. 44. Ebd., S. 59. Ebd., S. 55. Ebd., S. 57. Ebd., S. 51. Ebd., S. 51-57. Ebd., S. 54. 260 Horaz drückt diese exkludierende Absicht in einer berühmten Textstelle der Oden aus (3.1): »Odi profanum vulgus et arceo.« (»Ich hasse die gewöhnliche Masse und halte sie auf Distanz.«) Zu Stefan George und seinem Kreis siehe Thomas Karlauf, Stefan George. Die Entdeckung des Charisma, München: Blessing 2007. Ich habe Gadamer erst 1971 in Heidelberg kennengelernt, als er bereits emeritiert war, aber nach wie vor stark in Erscheinung trat, obgleich seine
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bevorzugte Form der Einflussnahme das Strippenziehen hinter den Kulissen war. Gespräch im Gebirg (PCM, S. 23-29), eines der wenigen Prosawerke von Celan, entstand, nachdem Celan ohne jede Erklärung nicht zu einem geplanten Treffen mit Adorno in der Schweiz kam. Es schildert ein imaginäres Gespräch zwischen Celan und Adorno. Celans Versuche, diesen Komplex von Fragen in größerer Ausführlichkeit zu behandeln, sind nun in der Tübinger Ausgabe von Der Meridian zugänglich, hg. von Bernhard Böschenstein und Heino Schmull, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1999. Thomas Mann, Die Entstehung des »Doktor Faustus«. Roman eines Romans, Frankfurt/M.: S. Fischer 1984. Theodor W. Adorno, Prismen. Kulturkritik und Gesellschaft, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1955. Theodor W. Adorno, Negative Dialektik, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1966. Ludwig Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen/Philosophical Investigations, Oxford: Blackwell 1958. Besonders Krigler stand in dieser Frage auf der Seite Marcuses. Er pflegte einen Ausspruch von Jesus zu zitieren, von dem in einigen der Evangelien berichtet wird, wonach man keinen neuen Wein in alte Schläuche füllt (Matthäus 9,17), und er diskutierte die Frage in einiger Ausführlichkeit, als er über das Unverständnis sprach, mit dem die Athener den Vortrag des heiligen Paulus auf dem Areopagos (Apostelgeschichte 17,16-34) aufnahmen. Theodor W. Adorno et al., Der Positivismusstreit in der deutschen Soziologie, Darmstadt, Neuwied: Luchterhand 1969, S. 7-101. MM, § 50; siehe auch ebd., § 5 und § 44. Krigler wies auf eine mögliche Zirkularität in der Idee des consensus omnium fidelium hin, weil Teil dessen, was eine Person zu 261 einer machte, die zu »den Gläubigen« gehört, die Beteiligung am Konsens sein konnte.
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Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft 1
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Theodor W. Adorno, Ästhetische Theorie, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1970, S. 6062. Am bekanntesten ist vermutlich die Gruppe Oulipo mit ihrem Versuch, die Beschränkung durch die willkürlich übernommenen Formen einer »contrainte« zu einem aktiven Prinzip künstlerischen Schaffens zu machen. Siehe Oulipo, La littérature potentielle, Paris: Gallimard 1973. So hat Georges Perec einen ganzen Roman schreiben können, ohne den Buchstaben »e« zu verwenden (La disparition, Paris: Gallimard 1969 [dt.: Anton Voyls Fortgang, übers. von Eugen Helmlé, Frankfurt/M.: Zweitausendeins 1986]). Bertolt Brecht, Die Gedichte, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1981, S. 744. Brecht scheint der streng ästhetischen eine weitere politische Dimension hinzuzufügen, wenn man diese Textstelle neben die eines anderen Gedichts stellt, das er etwa zur selben Zeit schrieb (ebd., S. 723):
Was sind das für Zeiten, wo
Ein Gespräch über Bäume fast ein Verbrechen ist.
Weil es ein Schweigen über so viele Untaten einschließt! Siehe auch meinen Aufsatz »Nietzsche's Philosophical Ethnology« in: Arion 24:3 (2017), S. 88-116. Ich diskutiere »Rechte« eingehender in History and Illusion in Politics, Cambridge: Cambridge University Press 1999, und in »Human Rights: A Very Bad Idea« (mit Lawrence Hamilton), in: Theoria 60:135 (2013), S. 83-103. Siehe Andreas Malm, Corona, Climate, Chronic Emergency. War Communism in the Twenty-First Century, London: Verso 2020 (dt.: Klima|x, übers. von David Frühauf, Berlin: Matthes & Seitz 2020). Fabian Freyenhagen hat vor kurzem einen höchst interessanten Aufsatz darüber geschrieben: »Acting Irrespective of Hope« in: Kantian Review 25:4 (2020), S. 605-630. René Char, Œuvres complètes, Paris: Gallimard 1983, S. 208 (dt.: 262 René Char, Hypnos. Aufzeichnungen aus dem Maquis (1943-1944), Feuillets d'Hypnos, übers. von Paul Celan, hg. von Horst Wernicke, Frankfurt/M.: S. Fischer 1990, S. 57). Siehe mein Buch Who Needs a World View?, Cambridge, Mass.: Harvard University Press 2020, S. 55-82.
263 Danksagung Mein besonderer Dank gilt Martin Bauer, vormals geschäftsführender Redakteur von Mittelweg 36, der mich ursprünglich eingeladen hatte, in einem kurzen Essay für das Online-Journal Soziopolis meine erste Begegnung mit dem Denken von Karl Marx zu schildern. Ich fing an, über meinen alten Lehrer Béla Krigler zu schreiben, an den ich eigentlich seit Jahrzehnten nicht mehr gedacht hatte. Dies erwies sich als Öffnung eines Schleusentors für eine Flut von Erinnerungen, die nun einige Jahre später zu dem vorliegenden Text geführt hat. Einige Freunde und Kollegen, darunter Brian O'Connor, Lorna Finlayson und Peter Garnsey, haben die hier behandelten Themen während der vergangenen Jahre mit mir diskutiert, und ich schulde jedem von ihnen meinen Dank. Hilary Gaskin hat den gesamten Text mehrere Male gelesen, ließ ihm ihr strenges Urteil angedeihen und machte unzählige Vorschläge für Verbesserungen.
265 Namenregister
A Abraham [↗ 1], [↗ 2], [↗ 3] Adorno, Theodor W. [↗ 1], [↗ 2], [↗ 3], [↗ 4], [↗ 5], [↗ 6], [↗ 7], [↗ 8], [↗ 9], [↗ 10], [↗ 11], [↗ 12], [↗ 13], [↗ 14], [↗ 15], [↗ 16], [↗ 17], [↗ 18], [↗ 19], [↗ 20], [↗ 21], [↗ 22], [↗ 23], [↗ 24], [↗ 25], [↗ 26], [↗ 27], [↗ 28], [↗ 29], [↗ 30], [↗ 31], [↗ 32], [↗ 33], [↗ 34], [↗ 35], [↗ 36], [↗ 37] Anakreon [↗ 1], [↗ 2], [↗ 3], [↗ 4] Archilochos [↗ 1] Arrow, Kenneth J. [↗ 1], [↗ 2], [↗ 3] Augustinus [↗ 1] Augustus (vorm. Octavian) [↗ 1], [↗ 2], [↗ 3], [↗ 4]
B Bentham, Jeremy [↗ 1] Berlin, Isaiah [↗ 1] Beza, Theodor [↗ 1], [↗ 2] Blair, Tony [↗ 1] Blanqui, Louis-Auguste [↗ 1] Blasius von Sebaste [↗ 1] Bloch, Ernst [↗ 1] Brecht, Bertolt [↗ 1], [↗ 2], [↗ 3] Burckhardt, Jacob [↗ 1] Bussche, Axel von dem [↗ 1], [↗ 2], [↗ 3], [↗ 4], [↗ 5], [↗ 6], [↗ 7], [↗ 8], [↗ 9]
C Calvin, Johannes [↗ 1], [↗ 2] Camus, Albert [↗ 1], [↗ 2] Cassius, Dio Cocceianus [↗ 1], [↗ 2], [↗ 3] Celan, Paul [↗ 1], [↗ 2], [↗ 3], [↗ 4], [↗ 5], [↗ 6], [↗ 7], [↗ 8], [↗ 9], [↗ 10], [↗ 11], [↗ 12], [↗ 13], [↗ 14], [↗ 15], [↗ 16], [↗ 17], [↗ 18], [↗ 19], [↗ 20], [↗ 21], [↗ 22], [↗ 23], [↗ 24], [↗ 25], [↗ 26], [↗ 27], [↗ 28] Char, René [↗ 1], [↗ 2], [↗ 3], [↗ 4], [↗ 5], [↗ 6] Chruschtschow, Nikita [↗ 1], [↗ 2] Cicero [↗ 1], [↗ 2] Cromwell, Oliver [↗ 1], [↗ 2], [↗ 3], [↗ 4], [↗ 5] Cumming, Robert Denoon [↗ 1], [↗ 2], [↗ 3], [↗ 4], [↗ 5], [↗ 6], [↗ 7], [↗ 8], [↗ 9], [↗ 10], [↗ 11], [↗ 12], [↗ 13], [↗ 14], [↗ 15], [↗ 16], [↗ 17], [↗ 18], [↗ 19], [↗ 20], [↗ 21], [↗ 22], [↗ 23], [↗ 24], [↗ 25]
D Dalí, Salvador [↗ 1] Dante Alighieri [↗ 1] Davidson, Donald [↗ 1], [↗ 2], [↗ 3], [↗ 4], [↗ 5], [↗ 6] Descartes, René [↗ 1], [↗ 2], [↗ 3], [↗ 4], [↗ 5], [↗ 6] Dewey, John [↗ 1], [↗ 2] Diderot, Denis [↗ 1], [↗ 2] Dodds, Eric Robertson [↗ 1], [↗ 2] Don Bosco [↗ 1] Dostojewski, Fjodor [↗ 1]
E Einhorn, Erich [↗ 1], [↗ 2], [↗ 3], [↗ 4], [↗ 5], [↗ 6] Elija [↗ 1] Elisabeth I. [↗ 1]
F Farel, Guillaume [↗ 1], [↗ 2] Feuerbach, Ludwig [↗ 1] Fichte, Johann Gottlieb [↗ 1], [↗ 2], [↗ 3] Foucault, Michel [↗ 1], [↗ 2], [↗ 3], [↗ 4] Franco, Francisco [↗ 1] Freud, Sigmund [↗ 1]
G Gadamer, Hans-Georg [↗ 1], [↗ 2], [↗ 3] Gauguin, Paul [↗ 1] George, Stefan [↗ 1], [↗ 2], [↗ 3], [↗ 4] Goethe, Johann Wolfgang von [↗ 1], [↗ 2], [↗ 3], [↗ 4], [↗ 5] Goffman, Erving [↗ 1], [↗ 2] Gregor von Nyssa [↗ 1]
H Habermas, Jürgen [↗ 1], [↗ 2], [↗ 3] Hadrian [↗ 1] Harnack, Adolph von [↗ 1] Hegel, Georg Wilhelm Friedrich [↗ 1], [↗ 2], [↗ 3], [↗ 4] Heidegger, Martin [↗ 1], [↗ 2], [↗ 3], [↗ 4], [↗ 5], [↗ 6], [↗ 7], [↗ 8], [↗ 9], [↗ 10], [↗ 11], [↗ 12], [↗ 13], [↗ 14], [↗ 15], [↗ 16], [↗ 17], [↗ 18], [↗ 19], [↗ 20], [↗ 21], [↗ 22] Homer [↗ 1], [↗ 2], [↗ 3], [↗ 4], [↗ 5] Hont, István [↗ 1] Horaz [↗ 1], [↗ 2], [↗ 3], [↗ 4], [↗ 5], [↗ 6], [↗ 7], [↗ 8], [↗ 9], [↗ 10], [↗ 11], [↗ 12] Horthy, Miklós [↗ 1] Housman, Alfred Edward [↗ 1], [↗ 2] Humboldt, Wilhelm von [↗ 1] Hume, David [↗ 1]
I Ignatius von Loyola [↗ 1] Isaak [↗ 1], [↗ 2], [↗ 3], [↗ 4], [↗ 5], [↗ 6]
J Jaeger, Werner [↗ 1], [↗ 2], [↗ 3], [↗ 4], [↗ 5], [↗ 6], [↗ 7], [↗ 8], [↗ 9], [↗ 10] Jeanne d'Arc [↗ 1] Jesus [↗ 1], [↗ 2], [↗ 3], [↗ 4], [↗ 5], [↗ 6], [↗ 7], [↗ 8], [↗ 9], [↗ 10], [↗ 11] Johnson, Lyndon B. [↗ 1] Joyce, James [↗ 1], [↗ 2], [↗ 3], [↗ 4] Judas Thaddäus [↗ 1] Julius Cäsar [↗ 1]
K Kant, Immanuel [↗ 1], [↗ 2], [↗ 3], [↗ 4], [↗ 5], [↗ 6], [↗ 7], [↗ 8], [↗ 9], [↗ 10], [↗ 11], [↗ 12], [↗ 13], [↗ 14], [↗ 15], [↗ 16], [↗ 17], [↗ 18], [↗ 19], [↗ 20], [↗ 21], [↗ 22], [↗ 23], [↗ 24], [↗ 25], [↗ 26] Katharina von Siena [↗ 1] Kennedy, John F. [↗ 1], [↗ 2] Kierkegaard, Søren [↗ 1], [↗ 2], [↗ 3], [↗ 4], [↗ 5], [↗ 6], [↗ 7], [↗ 8], [↗ 9], [↗ 10], [↗ 11], [↗ 12] Knox, John [↗ 1], [↗ 2] Kojève, Alexandre [↗ 1], [↗ 2], [↗ 3], [↗ 4], [↗ 5] Konstantin der Große [↗ 1], [↗ 2], [↗ 3] Krigler, Béla [↗ 1], [↗ 2], [↗ 3], [↗ 4], [↗ 5], [↗ 6], [↗ 7], [↗ 8], [↗ 9], [↗ 10], [↗ 11], [↗ 12], [↗ 13], [↗ 14], [↗ 15], [↗ 16], [↗ 17], [↗ 18], [↗ 19], [↗ 20], [↗ 21], [↗ 22], [↗ 23], [↗ 24], [↗ 25], [↗ 26], [↗ 27], [↗ 28], [↗ 29], [↗ 30], [↗ 31], [↗ 32], [↗ 33], [↗ 34], [↗ 35], [↗ 36], [↗ 37], [↗ 38], [↗ 39], [↗ 40], [↗ 41], [↗ 42], [↗ 43], [↗ 44], [↗ 45], [↗ 46], [↗ 47], [↗ 48], [↗ 49], [↗ 50], [↗ 51], [↗ 52], [↗ 53], [↗ 54], [↗ 55], [↗ 56], [↗ 57], [↗ 58], [↗ 59], [↗ 60], [↗ 61], [↗ 62], [↗ 63], [↗ 64], [↗ 65], [↗ 66], [↗ 67], [↗ 68], [↗ 69], [↗ 70], [↗ 71], [↗ 72], [↗ 73], [↗ 74], [↗ 75], [↗ 76], [↗ 77], [↗ 78], [↗ 79], [↗ 80] Kropotkin, Pëtr Alekseevič [↗ 1], [↗ 2], [↗ 3], [↗ 4] Kuhn, Thomas S. [↗ 1], [↗ 2]
L Lactantius, Lucius Caecilius Firmianus [↗ 1], [↗ 2] Landauer, Gustav [↗ 1], [↗ 2] Leclerc de Hauteclocque, Jacques-Philippe [↗ 1] Lenin, Wladimir Iljitsch [↗ 1], [↗ 2], [↗ 3] Levi, Primo [↗ 1], [↗ 2] Locke, John [↗ 1], [↗ 2], [↗ 3], [↗ 4], [↗ 5], [↗ 6], [↗ 7] Lollius, Maximus [↗ 1], [↗ 2], [↗ 3] Lukács, Georg [↗ 1], [↗ 2], [↗ 3], [↗ 4] Luther, Martin [↗ 1], [↗ 2], [↗ 3], [↗ 4], [↗ 5], [↗ 6], [↗ 7], [↗ 8], [↗ 9], [↗ 10]
M Madame Nhu [↗ 1], [↗ 2] Maecenas, Gaius [↗ 1] Magyar, Lászlo [↗ 1] Malcolm X [↗ 1] Mann, Thomas [↗ 1], [↗ 2], [↗ 3], [↗ 4] Marcuse, Herbert [↗ 1], [↗ 2], [↗ 3], [↗ 4], [↗ 5], [↗ 6], [↗ 7], [↗ 8], [↗ 9], [↗ 10], [↗ 11], [↗ 12], [↗ 13], [↗ 14] Maritain, Jacques [↗ 1] Marx, Karl [↗ 1], [↗ 2], [↗ 3], [↗ 4], [↗ 5], [↗ 6] Mercier, Désiré-Joseph [↗ 1] Mesrine, Jacques [↗ 1] Migne, Jacques Paul [↗ 1] Mill, James [↗ 1] Mill, John Stuart [↗ 1], [↗ 2], [↗ 3], [↗ 4], [↗ 5], [↗ 6], [↗ 7], [↗ 8], [↗ 9], [↗ 10], [↗ 11], [↗ 12], [↗ 13], [↗ 14] Milton, John [↗ 1], [↗ 2] Mohammed [↗ 1] Mommsen, Theodor [↗ 1], [↗ 2], [↗ 3], [↗ 4], [↗ 5] Monet, Claude [↗ 1], [↗ 2] Moore, Barrington [↗ 1], [↗ 2] Morgenbesser, Sidney [↗ 1], [↗ 2], [↗ 3], [↗ 4], [↗ 5], [↗ 6], [↗ 7], [↗ 8], [↗ 9], [↗ 10], [↗ 11], [↗ 12], [↗ 13], [↗ 14], [↗ 15], [↗ 16], [↗ 17], [↗ 18], [↗ 19], [↗ 20], [↗ 21], [↗ 22], [↗ 23], [↗ 24], [↗ 25], [↗ 26], [↗ 27], [↗ 28], [↗ 29], [↗ 30], [↗ 31], [↗ 32], [↗ 33], [↗ 34], [↗ 35], [↗ 36], [↗ 37], [↗ 38], [↗ 39], [↗ 40], [↗ 41], [↗ 42], [↗ 43], [↗ 44], [↗ 45], [↗ 46], [↗ 47], [↗ 48], [↗ 49], [↗ 50], [↗ 51] Müntzer, Thomas [↗ 1], [↗ 2] Musil, Robert [↗ 1], [↗ 2], [↗ 3], [↗ 4] Mussolini, Benito [↗ 1] Mylius, Kläre [↗ 1]
N Nagy, Imre [↗ 1] Napoleon I. [↗ 1] Nestroy, Johann [↗ 1], [↗ 2], [↗ 3], [↗ 4] Neumann, Franz [↗ 1] Newman, John Henry [↗ 1], [↗ 2] Ngo Dinh Diem [↗ 1] Ngo Dinh Nhu [↗ 1], [↗ 2] Nietzsche, Friedrich [↗ 1], [↗ 2], [↗ 3], [↗ 4], [↗ 5], [↗ 6], [↗ 7], [↗ 8], [↗ 9], [↗ 10], [↗ 11] Nixon, Richard [↗ 1] Nozick, Robert [↗ 1], [↗ 2]
O Oswald, Lee Harvey [↗ 1] Ovid [↗ 1], [↗ 2]
P Paulus [↗ 1] Perec, Georges [↗ 1] Petrarca, Francesco [↗ 1] Picasso, Pablo [↗ 1], [↗ 2], [↗ 3], [↗ 4], [↗ 5], [↗ 6] Pindar [↗ 1] Platon [↗ 1], [↗ 2], [↗ 3], [↗ 4], [↗ 5], [↗ 6], [↗ 7], [↗ 8], [↗ 9], [↗ 10], [↗ 11], [↗ 12] Plutarch [↗ 1], [↗ 2], [↗ 3] Polybios [↗ 1], [↗ 2], [↗ 3] Pontecorvo, Gillo [↗ 1] Ptolemäus [↗ 1], [↗ 2]
Q Quine, W. V. O. [↗ 1]
R Rabelais, François [↗ 1] Rawls, John [↗ 1], [↗ 2], [↗ 3], [↗ 4], [↗ 5], [↗ 6], [↗ 7], [↗ 8], [↗ 9], [↗ 10], [↗ 11], [↗ 12], [↗ 13], [↗ 14], [↗ 15], [↗ 16], [↗ 17], [↗ 18], [↗ 19], [↗ 20], [↗ 21] Reagan, Ronald [↗ 1] Rimbaud, Arthur [↗ 1], [↗ 2], [↗ 3] Rodin, Auguste [↗ 1] Rosenberg, Julius and Ethel [↗ 1], [↗ 2] Rousseau, Jean-Jacques [↗ 1], [↗ 2]
S Sartre, Jean-Paul [↗ 1], [↗ 2] Senje, István [↗ 1], [↗ 2], [↗ 3], [↗ 4], [↗ 5], [↗ 6], [↗ 7], [↗ 8], [↗ 9], [↗ 10], [↗ 11], [↗ 12], [↗ 13], [↗ 14], [↗ 15], [↗ 16], [↗ 17], [↗ 18], [↗ 19], [↗ 20], [↗ 21], [↗ 22], [↗ 23], [↗ 24], [↗ 25], [↗ 26], [↗ 27], [↗ 28] Shakespeare, William [↗ 1] Smith, Adam [↗ 1], [↗ 2], [↗ 3], [↗ 4] Sokrates [↗ 1], [↗ 2], [↗ 3] Sophokles [↗ 1] Stalin, Josef [↗ 1], [↗ 2], [↗ 3] Stirner, Max [↗ 1], [↗ 2], [↗ 3] Synge, John Millington [↗ 1]
T Teresa von Ávila [↗ 1] Thatcher, Margaret [↗ 1], [↗ 2], [↗ 3] Thukydides [↗ 1], [↗ 2], [↗ 3], [↗ 4], [↗ 5], [↗ 6] Trilling, Lionel [↗ 1] Trump, Donald [↗ 1], [↗ 2], [↗ 3], [↗ 4]
V Vergil [↗ 1], [↗ 2], [↗ 3] Verlaine, Paul [↗ 1], [↗ 2], [↗ 3], [↗ 4], [↗ 5], [↗ 6], [↗ 7], [↗ 8], [↗ 9], [↗ 10], [↗ 11], [↗ 12] Villon, François [↗ 1], [↗ 2], [↗ 3], [↗ 4], [↗ 5], [↗ 6], [↗ 7], [↗ 8], [↗ 9]
W Weber, Max [↗ 1], [↗ 2], [↗ 3], [↗ 4] Wilde, Oscar [↗ 1] Williams, Bernard [↗ 1], [↗ 2], [↗ 3], [↗ 4], [↗ 5], [↗ 6], [↗ 7] Wittgenstein, Ludwig [↗ 1], [↗ 2] Wolff, Robert Paul [↗ 1], [↗ 2], [↗ 3], [↗ 4], [↗ 5], [↗ 6], [↗ 7], [↗ 8], [↗ 9], [↗ 10], [↗ 11], [↗ 12], [↗ 13], [↗ 14], [↗ 15], [↗ 16], [↗ 17], [↗ 18], [↗ 19], [↗ 20], [↗ 21], [↗ 22], [↗ 23], [↗ 24], [↗ 25], [↗ 26], [↗ 27], [↗ 28], [↗ 29], [↗ 30], [↗ 31], [↗ 32], [↗ 33], [↗ 34], [↗ 35], [↗ 36], [↗ 37], [↗ 38], [↗ 39], [↗ 40], [↗ 41], [↗ 42], [↗ 43], [↗ 44], [↗ 45], [↗ 46], [↗ 47], [↗ 48], [↗ 49], [↗ 50], [↗ 51], [↗ 52]
Y Yeats, William Butler [↗ 1]
Z Ziolkowski, Theodore [↗ 1], [↗ 2] Zweig, Stefan [↗ 1], [↗ 2]
»Schlussendlich müssen wir entscheiden, welche Art von Menschen wir sein möchten, als Individuen ebenso wie als Kollektiv. Die Philosophie kann dabei eine Rolle spielen, aber wir sollten darüber hinaus auf Ressourcen zurückgreifen, die breiter sind als diejenigen, die die Philosophie zur Verfügung stellen kann.« Für die meisten Menschen im »Westen« ist der Liberalismus zu einer Gegebenheit quasinatürlicher Art geworden, zu einem auf Dauer gestellten Hintergrundrauschen. Und doch gibt es in jeder Gesellschaft Winkel abseits des kulturellen Mainstreams. Der Philosoph Raymond Geuss ist in einem solchen Winkel aufgewachsen und zeichnet in seinem Buch nach, wie er in jungen Jahren mit einer ethisch-politischen Perspektive vertraut gemacht wurde, die sein Denken nachhaltig geprägt hat. 1959 kommt der begabte Sohn eines tiefkatholischen Stahlarbeiters auf ein Internat am Stadtrand von Philadelphia. Umgeben von Eisenhowers Amerika, versuchen ungarische Priester dort, den jungen Geuss zu immunisieren: gegen den repressiv-autoritären Kommunismus, dem sie entflohen waren, aber auch gegen den geistlosen liberalen Kapitalismus, in dem sie nun leben. Danach – es ist Vietnamkrieg und »1968« – geht Geuss zum Studium nach New York, wo er auf legendäre akademische Lehrer wie Sidney Morgenbesser trifft, und nach Westdeutschland, wo er das erste Mal Adorno liest. Nicht wie ein Liberaler denken führt mit analytischer Klarheit durch die intellektuellen Strömungen, die Geuss‘ ablehnende Haltung zu Liberalismus und Autoritarismus geformt haben. Eine faszinierende persönliche Ideengeschichte und eine fesselnde Darstellung der Möglichkeiten und Grenzen der Philosophie.
Raymond Geuss, geboren 1946 in Evansville, Indiana, ist emeritierter Professor für Philosophie an der Universität von Cambridge. Er studierte an der Columbia University in New York, wo er 1971 promoviert wurde, sowie in Freiburg und lehrte u. a. in Heidelberg, Chicago und Princeton. Geuss war Fellow am Wissenschaftskolleg in Berlin und ist Mitglied der British Academy. Zuletzt erschienen Privatheit. Eine Genealogie (stw 2093)