Ästhetische Erfahrung und Edition 9783484295278, 9783110938845

At first glance, esthetic experience and editing appear to have very little in common. But even on such apparently safe

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German Pages 267 [268] Year 2007

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Table of contents :
Ästhetische Erfahrung und Edition
Zwischen Materialität und Bedeutung Hans Ulrich Gumbrechts Rehabilitierung der ästhetischen Erfahrung für die Editionswissenschaft
Urtext und Erfahrung. Textmodelle in der Bibelkritik
Der ‚verderbte‘ Text. Monogenese und Pluralisierung als Theologie des Sündenfalls
Dilettanten und Philologen. Debatten über den Umgang mit Texten in Editionen der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts
,Critique génétique‘. Handschriften als Zeichen ästhetischer Prozesse
Zur Kafkaschen Schreibweise in den Oktavheften
Ästhetische Erfahrung und Textedition am Beispiel Marcel Prousts
Ästhetische Erfahrung im (Um-)Bruch Perspektiven kritischer Filmedition am Beispiel von Metropolis und Panzerkreuzer Potemkin
Einige Fragen im Vorfeld der Edition von Filmmusik
Ce qui n’est pas clair, n’est pas beau. Zum Verhältnis zwischen Richtigkeit, Zweckmäßigkeit und Schönheit im musikalischen Notentext
Die Skizzenbücher Beethovens
Im Gewirr der Fäden Intertextualitätstheorie und Edition
Der Kommentar im Kontext ästhetischer Erfahrung
Ästhetik der verpaßten Chancen. Georg Witkowski zwischen Philologie und Bibliophilie
Sudelblätter in Halbleinen – oder: wie ästhetisch ist eine wissenschaftliche Edition?
Werkschriften. Gestalten des Textes in der Edition
Anschriften
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Ästhetische Erfahrung und Edition
 9783484295278, 9783110938845

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B E I H E F T E

ZU

editio H e r a u s g e g e b e n v o n WINFRIED WOESLER

Band 27

Ästhetische Erfahrung und Edition Herausgegeben von Rainer Falk und Gert Mattenklott

Max Niemeyer Verlag Tübingen 2007

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. ISBN 978-3-484-29527-8

ISSN 0939-5946

© Max Niemeyer Verlag, Tübingen 2007 Ein Imprint der Walter de Gruyter GmbH & Co. KG http://www.niemeyer.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Druck und Einband: AZ Druck und Datentechnik GmbH, Kempten

Danksagung der Herausgeber

Der vorliegende Band versammelt die Beiträge zu der Tagung Ästhetische Erfahrung und Edition, die vom 10. bis 12. Oktober 2005 an der Akademie der Künste Berlin stattgefunden hat. Die Herausgeber danken dem Direktor des Archivs der Akademie der Künste, Herrn Dr. Wolfgang Trautwein, und den Mitarbeitern für ihre freundliche Unterstützung bei der Tagungsdurchführung. Unser Dank gilt ferner Herrn Prof. Winfried Woesler, der sich frühzeitig daran interessiert gezeigt hat, die Ergebnisse der Tagung in der Reihe Beihefte zu editio zu veröffentlichen, sowie dem Max Niemeyer Verlag, der uns insbesondere in Person von Frau Birgitta Zeller-Ebert und Frau Tanja Argast hilfreich und aufgeschlossen zur Seite stand. Frau Anne Schirrmacher und Herr Boris Gibhardt haben uns nicht nur bei der Vorbereitung und Durchführung der Tagung, sondern auch bei der Herstellung der Druckvorlage engagiert und zuverlässig geholfen. Die großzügige Förderung unserer Arbeit am Sonderforschungsbereich 626 „Ästhetische Erfahrung im Zeichen der Entgrenzung der Künste" durch die DFG hat die Tagung und das Buch ermöglicht.

Inhalt

Gert Mattenklott Ästhetische Erfahrung und Edition

1

Rainer Falk Zwischen Materialität und Bedeutung Hans Ulrich Gumbrechts Rehabilitierung der ästhetischen Erfahrung für die Editionswissenschaft

9

Daniel Weidner Urtext und Erfahrung Textmodelle in der Bibelkritik

17

Wolfgang Neuber Der,verderbte' Text Monogenese und Pluralisierung als Theologie des Sündenfalls

47

Bodo Plachta Dilettanten und Philologen Debatten über den Umgang mit Texten in Editionen der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts

59

Almuth Gresillon .Critique genetique' Handschriften als Zeichen ästhetischer Prozesse

73

Roland Reuß Zur Kafkaschen Schreibweise in den Oktavheften

87

Luzius Keller Ästhetische Erfahrung und Textedition am Beispiel Marcel Prousts

97

Anna Bahn Ästhetische Erfahrung im (Um-)Bruch Perspektiven kritischer Filmedition am Beispiel von Metropolis und Panzerkreuzer Potemkin

115

VIII

Inhalt

Albrecht Riethmüller Einige Fragen im Vorfeld der Edition von Filmmusik

129

Christian Martin Schmidt Ce qui η'est pas clair, η'est pas beau Zum Verhältnis zwischen Richtigkeit, Zweckmäßigkeit und Schönheit im musikalischen No ten text

143

William Kinderman Die Skizzenbücher Beethovens

151

Ursula Kocher Im Gewirr der Fäden Intertextualitätstheorie und Edition

175

Timo Günther Der Kommentar im Kontext ästhetischer Erfahrung

187

Christian Benne Ästhetik der verpaßten Chancen Georg Witkowski zwischen Philologie und Bibliophilie

199

Martin Peschken Sudelblätter in Halbleinen - oder: wie ästhetisch ist eine wissenschaftliche Edition?

213

Thomas Rahn Werkschriften Gestalten des Textes in der Edition

233

Anschriften

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Gert

Mattenklott

Ästhetische Erfahrung und Edition

Ästhetische Erfahrung und Edition - das ist zunächst nicht viel mehr als eine offene Frage. Ausdrücklich ist sie erst selten gestellt worden, und es ist durchaus offen, wie ergiebig es ist, ihr nachzugehen. Wenigstens die eine Seite der Konjunktion: die Editionswissenschaft, scheint allerdings auf einer zunehmend seriösen Grundlage zu stehen. Mochte das Wissen, das für das Edieren von Quellen nötig ist, im 19. und auch noch 20. Jahrhundert in den Bereich der philologischen Propädeutik gehört haben, ein Handwerk zwar mit sehr strengen Regeln, doch allenfalls Vorschule der Philologie als Wissenschaft, so hat sich diese Auffassung seit einigen Jahrzehnten gründlich geändert, allerdings nicht ohne auch den Begriff dieser Wissenschaft in Frage zu stellen. Als Markstein für eine neue Erkundung des Terrains kann der Beginn der Neuedition von Hölderlins Werken durch D.E. Sattler 1974 gelten. Der Editionsleiter ist Schriftsetzer, Typograph, freier Künstler und ein unabhängiger Intellektueller. In einem Brief an seinen späteren Verleger Karl Dietrich Wolf, Verlag Roter Stern, Frankfurt am Main, aus demselben Jahr schreibt er: vielleicht interessiert es Sie, dasz meine Studien auf eigene faust unternommen wurden, ich besitze keine schulischen, erst recht keine akademischen qualifikationen. dafuer kann ich den nachweis fuehren, dasz die geruehmte Stuttgarter hoelderlin-ausgabe, vor allem band 2, fehlerhafte, falsch kompilierte und unvollstaendige texte bietet, bei einer nochmaligen lesung der handschriften stellte sich heraus, dasz friedrich beiszner die texte sozusagen apologetisch entzifferte, statt .verlorne Liebe ... Wissenschaft' heiszt es dann beispielsweise .Wissenschaft, Elysium', vor allem enthalten die manuskripte, was die exegeten noch schamrot machen wird, vergessene und eine grosze an zahl falsch gelesener texte, notwendig ist, als basis ueberpruefbarer lesetexte, die herstellung eines abbildlichen textdrucks der spaeten entwuerfe; dafuer boete sich das konvolut ,homburger folioheft' an. wie Sie sich denken koennen, vertuscht die hoelderlin-philologie die offenbaren maengel. wer ist schon bereit, lessings forderung aus den ,rettungen des horaz' zu ohren zu nehmen ,ich will nur sagen, dasz es sehr gut seyn wuerde, wenn auch noch lebende gelehrte immer im voraus ein wenig todt zu seyn lernen wollten'? 1

Von hier aus nimmt die Entwicklung eines neuen Editionsverfahrens - das „abbildliche" Faksimilieren der Quelle mit dem Lesevorschlag einer typographisch differenzierten Umschrift - seinen Anfang, editions- und wissenschaftskritisch zugleich. Der

1

D.E. Sattler an K.D. Wolf, Brief vom 12.10.1974; zitiert nach: http://www.hoelderlin.de/ (zuletzt aufgesucht am 1.11.2006).

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Gert Mattenklott

Lesetext steht hier mit jeder neuen Lektüre wieder zur Disposition. Jeder Leser ist schon „immer im voraus ein wenig todt", weil ihm der nächste folgen wird, egal ob akademisch gebildet oder nicht. Man glaubt förmlich, den Schatten des Pietismus auf dieser Begegnung von Text und Leser wahrzunehmen. Jeder Lesende, sei er auch noch so sehr Dilettant vor dem Herrn, hat die gleiche Chance, ohne einer vermittelnden Instanz zu bedürfen. Denn das bleibende Maß ihrer aller Lektüren ist das Textbild im vollen Umfang seiner diversen Zeichen, nach deren Verhältnis zum Lesetext der Editor als Anwalt des namenlosen Jedermann fragt, wenn er die diplomatische Umschrift herstellt. Gegenstand der Edition ist nicht nur die Textur im engeren Sinn der alphabetischen Zeichen, die es zu entziffern gilt, sondern ein graphisches Ensemble, das es in seiner oft komplexen Gestalt zu begreifen und so getreu wie möglich zu reproduzieren gilt. Es hat insofern nicht nur anekdotischen Wert, daß Sattler als einer der Pioniere dieser erweiterten editorischen Aufmerksamkeit seinen Berufsweg nicht als Literaturwissenschafter, sondern als Graphiker begonnen hat. Wissenschaftsgeschichtlich schlägt seine Geburtsstunde außerhalb der akademisch gemessenen Zeiten und nicht in deren Konsequenz, sondern sezessionistisch. Die Umsicht des Editors ist nicht nur auf die Lesbarkeit eines Textes gerichtet, sondern auf das Erfassen des ästhetischen Prozesses bzw. dessen sedimentierter Gestalt in ihrer sinnlichen Gesamtheit. Die einzelnen Beobachtungen, die er daran anstellt, über Beschreibstoff, Schreibstoff und Schreibgerät, über die Häufung oder Entschiedenheit von Streichungen, Ergänzungen und Korrekturen, den Modus der Schreibart: Flüchtigkeit oder Reinschrift, autographe Zusätze oder solche von fremder Hand etc. ergänzen sich in ihrer Gesamtheit zu einem ästhetischen Eindruck, der sich nicht aus der Addition von Einzelheiten ergibt, sondern aus der Wahrnehmung des Textbilds insgesamt. So wenig das Faksimile eines Manuskripts ,für sich' spricht, sondern durch seine diplomatische Umschrift allererst zum Sprechen gebracht werden muß, so sehr ist es nötig, ein ums andere Mal den Blick zurück auf das komplexe Textbild zu werfen, um aus der ästhetischen Faktur der Quelle eine größere Sicherheit ihrer Semiose zu gewinnen. Eine Hypothese darüber, ob eine Quelle als Skizze oder Entwurf, Variante oder Fassung zu gelten hat, wird durch die Aufmerksamkeit für ihre ästhetischen Qualitäten oft erleichtert, wenn nicht gelegentlich sogar entschieden. Was aber hier über Textbilder und im Blick auf literarische Quellen gesagt wird, läßt sich in Analogie ohne weiteres auf die Quellen anderer Künste übertragen. Ästhetische Erfahrung, was immer sie von anderen Formen der Erfahrung und des Wissens unterscheiden mag,2 ist auf die sinnliche Präsenz ihres Gegenstandes unter einem entscheidenden Aspekt am jeweiligen Ort und der jeweiligen Zeit ihrer Wahrnehmung durch ihre Rezipienten bezogen. Von ihr ist abhängig, was der Aufmerksamkeit für wert befunden und der Analyse unterzogen wird. Die lange währende Dominanz des Textualismus in den Kulturwissenschaften hat auch zu einer Selbstbeschränkung der Editionspraxis als im wesentlichen einer Technik des Entzifferns von Schriften und einer Ignoranz gegenüber ästhetischen Sachver2

Vgl. hierzu Ästhetische Erfahrung im Zeichen der Entgrenzung der Künste. Epistemische, ästhetische und religiöse Formen von Erfahrung im Vergleich. Hrsg. von Gert Mattenklott. Hamburg 2004 (Sonderheft der Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft).

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halten geführt. Sie wird nicht zufällig zur selben Zeit erschüttert, in der die technische Entwicklung den Sinn für die bedeutungsstiftende Rolle von Darstellungsmitteln und -medien schärft. In Reichweite digitalisierter Text- und Bildherstellung sowie ihrer noch kaum zu ermessenden Konsequenzen für Gestalt, Präsenz, Speicherung und Tradierung ihrer Produktion treten wesentliche Charakteristika von Darstellungsformen allererst ins Bewußtsein, deren Überleben über unsere Zeit hinaus ungewiß ist. Zu ihnen gehören Manuskript und Typoskript in ihrer seit der Antike bzw. der technischen Ersetzung der Handschrift im Verlauf des letzten Jahrhunderts vertrauten Form. Deren materiale Ästhetik scheint womöglich erst unter der Drohung ihres Verschwindens zum Vorschein zu kommen. Eben diese Situation kann freilich auch dazu verführen, die altgewohnten Produktionsformen im Licht ihrer gegenwärtigen Entwertung zu verklären und das sinnlich Handwerkliche der überlieferten Quellen sowie deren materiale Qualitäten mit einer Aura zu umgeben, die wenig über ihren Kern, das ,manufactum', um so mehr statt dessen über die unbestimmten Ängste wissen läßt, von denen die neuen Technologien begleitet werden. Daß die Editionswissenschaft neueren Datums, für die hier, exemplarisch und wissenschaftsgeschichtlich nicht beliebig, Sattlers Hölderlin-Edition stehen kann, den Schulterschluß mit der neuesten Reproduktionstechnik sucht und findet, steht dem nicht unbedingt entgegen. Sofern diese allerdings dazu dient, die sinnliche Anmutung des Originals so getreu wie möglich nachzubilden, ist sie auf verlorenem Posten. Mit den optischen, haptischen, selbst olfaktorischen Qualitäten von Manuskripten kann das technisch reproduzierte, erst vollends das digitalisierte Dokument nicht konkurrieren - um den Preis von kunstgewerblichem Talmi auch nicht konkurrieren wollen. Das Mißvergnügen am Schmock von Faksimile-Ausgaben verfehlt indessen die editorischen Praktiken, von denen hier die Rede ist. Weder Sattler noch die Gefolgschaft, die er in den letzten Jahrzehnten gefunden hat, ist der Versuchung erlegen, das Faksimile als sinnliche Synthese zu überhöhen, seine diplomatische Analyse dagegen zu denunzieren. Der Rekurs zu den Anfängen der neueren Editionswissenschaft lohnt sich aus noch einem anderen Grund. Als Pionier hat D.E. Sattler nicht nur gewirkt, indem er das abbildliche Faksimilieren der Quelle und deren diplomatische Umschrift zum methodischen Prinzip erhob. Geradezu revolutionär war seine editorische Praxis für die Literaturwissenschaft, indem sie vielleicht entscheidend dazu beigetragen hat, dem Kunstwerk in seiner philiströs verendlichten und im selben Maß verdinglichten Form den Garaus zu machen, nicht aus Feindschaft gegen die Kunst, sondern um deren Begriff zu modernisieren. Erstmals war hier nicht die Gestalt des Werks das teleologische Richtmaß aller Dinge. An dessen Stelle tritt die Dokumentation eines Produktionsprozesses. Sattlers Ausgabe der Werke Hölderlins und Zellers C.F. MeyerEdition, die Revision von Frises Ausgabe des Mann ohne Eigenschaften und die Edition von Nietzsches Arbeitsheften, schließlich die Kleist- und Kafka-Ausgaben von Roland Reuß und Peter Staengle - kaum eine anspruchsvolle Werkausgabe in diesen Jahrzehnten, die nicht mehr oder weniger, im Ganzen oder in Teilen, aus den Einsichten und Folgerungen Sattlers ihren Gewinn ziehen würde.

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Gert

Mattenklott

In der Tat hat die konsequent angewandte und ihrer teleologischen Implikationen entledigte genetische Methodologie mit ihrer Problematisierung des Werkbegriffs aus der Perspektive des Schreibprozesses in Deutschland und Frankreich die normative Orientierung an der Kunstgestalt als dem Maß aller Dinge erschüttert. Der Sinn für die Geschichtlichkeit auch dieser Disziplin, der Editionsphilologie, mit ihren ganz eigenen Leitvorstellungen, hat sich geschärft. Eine eigene Editionsforschung als Filiale der Wissenschaftsgeschichte trägt dem Rechnung und nötigt zu einer Revision jedes vermeintlich sicheren Begriffs der Editionsphilologie im Sinn seiner Verwissenschaftlichung, d.h. auch im Sinn der Reflexion ihrer eigenen Voraussetzungen. Kein Stein bleibt seitdem auf dem anderen. Skizze, Entwurf, Vorstufe und Fragment, Werk, Text und Autor entziehen sich ihrem vorwissenschaftlichen Verständnis. Es bedarf kaum einer ausführlichen Darlegung, daß die Verunsicherung über den Sachgehalt solcher vermeintlich sicheren Begriffe der Editionsphilologie eine Parallelaktion zu der wissenschaftsgeschichtlich annähernd gleichzeitigen Dekonstruktion der Sachverhalte gleichen Namens in den interpretierenden Literaturwissenschaften war. Die Rekonstruktion der Einflüsse hinüber und herüber wäre eine lohnende Aufgabe für die neuere Wissenschaftsgeschichte der Philologien. Sie fände in der Entwicklung des performativen Werkbegriffs ein besonders ergiebiges und literaturwissenschaftlich besonders folgenreiches Beispiel. Schon Anfang der siebziger Jahre gab es ein eigenes Colloquium der Deutschen Forschungsgemeinschaft zu Probleme(n) der Kommentierung, quasi das Gütesiegel für den wissenschaftlichen Rang eines Problems, und diese quasi staatliche Förderorganisation richtete bald einen eigenen Gutachterausschuß für die Bewertung von Editionsvorhaben ein. 1988 lobt die DFG ein Kolloquium zu Fragen des Einsatzes von EDV bei der Erschließung von Nachlässen und Autographen aus. 1982 publiziert Jean Bellemin-Noel seinen Aufsatz Avant-texte et lecture psychanalytique, eines der Gründungsdokumente der ,critique genetique'. 1987 wurde editio, ein Internationales Jahrbuch fiir Editionswissenschaft begründet, und 1991 trägt das zweite Beiheft zu editio, zugleich eine Festschrift für den deutschen Wegweiser der Verwissenschaftlichung Hans Zeller, durchaus selbstbewußt den Titel Edition als Wissenschaft.3 In Frankreich erblickt 1992 Genesis das Licht der Welt. Der Untertitel dieses mittlerweile berühmten editionswissenschaftlichen Periodikums lautet: Manuscrits - Recherche - Invention. Revue internationale de critique genetique. Hier publizieren in der Folge u.a. Kurt Hay und Bellemin-Noel, Robert Pickering, Wolfram Groddeck und Almuth Gresillon. Träger ist das Institut des Textes et Manuscrits Modernes (ITEM), eine ausschließlich vom französischen Centre National de la recherche scientifique (CNRS) getragene Forschungsgruppe, die sich im Anschluß an die Heine-Forschung (den Erwerb von Heine-Manuskripten durch den französischen Staat) gebildet hatte. Kaum eine kritische Werkausgabe insbesondere der Literatur- oder Musikgeschichte aus diesen letzten Jahrzehnten, die nicht von einer Reihe von Beiträgen und oft Kontroversen zu grundsätzlichen Problemen der Transkription und Textkonstitu-

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Edition als Wissenschaft. Festschrift für Hans Zeller. Hrsg. von Gunter Martens und Winfried Woesler. Tübingen 1991 (= Beihefte zu editio 2).

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tion, zur Darstellungsproblematik und Apparatgestaltung, zu Kommentierungsverfahren und poetologischen Erwägungen (statisch begriffenes Werk oder dynamischer, potentiell unendlicher ,Text') begleitet worden wäre. Was aber Anfang der siebziger Jahre noch kaum über den engen Kreis der quasi zünftigen Editoren hinausgedrungen wäre, weckt heute oft die leidenschaftliche Anteilnahme der überregionalen Feuilletons. Der Streit um die Förderung der Kafka-Edition von Reuß und Staengle ist gerade nur das jüngste Beispiel. Sprunghaft wächst seit den siebziger Jahren der Umfang vor allem der wissenschaftlichen Fachbibliographie auf diesem Gebiet. An der Freien Universität in Berlin gibt es seit einiger Zeit einen eigenen Masterstudiengang, der diese Forschung auch in Lehre wendet. Diese unterrichtet über Typologie und Struktur von Editionen, Grundprinzipien editorischer Verfahrensweisen, Textkritik und Textkonstitution und die Wissenschaftliche Kommentierung. 4 Gewiß, fundamentale Fragen, die am Anfang einer jeden Einrichtung als Wissenschaft stehen, die nach Gegenstand und Methode, sind hier durchaus kontrovers geblieben. Orientiert sich die Editionswissenschaft am Werk oder am Text, ist sie ästhetisch und poetologisch orientiert oder textologisch - oder wie zwingend ist überhaupt eine solche Alternative? Ist der Text und dessen objektiver intertextueller Kontext und Verweisungszusammenhang die letzte Instanz oder die Intention des Autors? Gibt es in all diesen Fragen prinzipielle Unterschiede zwischen Editionen in den verschiedenen Künsten? Ziehen verschiedene Textformen - etwa Verse, Romane oder Briefe verschiedene Editionsmethoden nach sich? Kann es überhaupt verbindliche Editionsrichtlinien geben, oder müssen deren Prinzipien nicht von einer Edition zur nächsten wieder auf den Prüfstand? All diese Fragen mögen in der Tat kontrovers sein, aber daß ihre Beantwortung um der wissenschaftlichen Nachprüfbarkeit von Ergebnissen nötig ist, wird von niemandem bestritten werden können. Dennoch, die kurze Geschichte der Entwicklung der Editionsphilologie von einer propädeutisch hilfswissenschaftlichen Branche - ähnlich der Urkundenlehre oder der Heraldik in der Geschichtswissenschaft - zur Editionswissenschaft auf der Grundlage einer kritischen Revision ihrer eigenen Voraussetzungen ist eine Geschichte der Problematisierung ihres Verhältnisses zu den Mutterwissenschaften. Im Vergleich zu den ,weichen' verstehenden, sinnsuchenden und interpretierenden Kunst-, Musik- und Literaturwissenschaften hatte sich die Editionsphilologie als eine ,harte' Alternative auf dem Boden von empirisch überprüfbaren Quellenbefunden verstanden. Editorischer Dezisionismus, potentiell das Einfallstor des Subjektivismus, bedarf als Herausgeberentscheidung allemal gewissenhafter Rechenschaft. Wenn nun aber die Theorie der Editionswissenschaft die Frage nach der Definition von Autorschaft, Text, Werk, Fassung etc. aufwirft und jede Aktion des Editors als eine Vorentscheidung für die Beantwortung dieser Fragen ansieht, so gerät die Unterscheidung von ,hart' und .weich' durchaus auf unsicheren Boden. Wieviel Interpretation - und heißt das nicht auch wieviel ästhetische Erfahrung - geht bereits in die ersten Handgriffe des Editors ein? Ist nicht vorstellbar, daß Editionen auch als Dispositive verstanden werden kön-

Informationen vgl. http://www.geisteswissenschaften.fu-berlin.de/lehrende/chronUc/dd_edition.html (zuletzt aufgesucht am 1.11.2006).

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Mattenklott

nen in dem Sinn, wie Foucault diesen Begriff in seinem Buch über den Wille(n) zum Wissen 1975 verstanden wissen wollte: als ein veränderbar flexibles Raster, das über ein heterogenes Ensemble von Äußerungen in verschiedenen Formen und Medien bei verschiedenen Gelegenheiten und Anlässen, bewußten und unbewußt bleibenden, ausgesprochenen und unausgesprochenen, gelegt wird, um jeweils einen Autor, einen Text, ein Werk zu kanonisieren? Haben sich Werkausgaben nicht in der Tat als .Dispositive der Macht' über Autoren, Texte und ihre Rezeption erwiesen, wie das Beispiel Elisabeth Foerster-Nietzsches zeigt: Der Wille zur Macht als vor allem derjenige der Herausgeberin. Wie offen für mögliche Revisionen aufgrund von Erkenntnissen, die oft erst spät im Verlauf langjähriger Arbeiten gewonnen werden, bleibt eine Edition? (Die Edition von Colli/Montinari bietet ihrerseits das beste Beispiel für die Bedeutung dieser Frage.) Wie läßt sich eine solche Offenheit methodisch - etwa durch Darstellungstechniken - organisieren? Ästhetische Erfahrung, der andere Teil der Konjunktion im Titel dieses Beitrags, ist Definitionen und methodischer Erforschung mindestens so schwer zugängig. Das beginnt bereits mit der Frage, ob es überhaupt einen wesentlichen Sinn ästhetischer Erfahrung sui generis gibt, unabhängig von gnoseologischen Leistungen bzw. theologischen oder kryptotheologischen Funktionen. Sollte es ihn geben, so potenziert sich die Fragwürdigkeit noch. Gibt es eine Physiologie ästhetischer Erfahrung, in Hirnströmen oder anderen Reaktionen des Körpers meßbar, oder ist es ein Phänomen, das sowohl produktiv wie rezeptiv allein kultureller Prägung unterliegt? Gibt es eine Geschichte ästhetischer Erfahrung, und in welchem Verhältnis steht diese zu anderen Formen der Erfahrung und des Wissens - heuristisch, konsekutiv, alternativ, komplementär? Hat sie einen spezifischen Gegenstand, oder soll man sie lediglich als eine besondere Perspektivierung ansehen, die potentiell auf die gesamte gegenständliche und ungegenständliche Welt zur Anwendung kommen kann? Wie wird sie geweckt und wie verhindert? Wodurch wird sie ausgelöst und was bewirkt sie? Kann sie als Summe aller Wahrnehmungen gelten, die sinnlich vermittelt sind, oder konstituiert sie sich erst reflexiv, also erst dann, wenn ein Ich in der Lage ist, diese Bedingung der Möglichkeit seiner Wahrnehmung zu reflektieren? Nicht alle diese und noch viele weitere Fragen liegen in Reichweite des Themas, das in diesem Band angeschnitten wird: Ästhetische Erfahrung und Edition. Vor allem eine behauptet sich aber unabweisbar. Es ist diejenige nach der Bedeutung sinnlicher Wahrnehmung für die wissenschaftliche Konstitution des Gegenstandes. Der Raum, der sich damit öffnet, ist tief gestaffelt. Im Vordergrund steht die Weise wie eine Quelle, in unserer Tradition häufig eine Handschrift mit Noten oder einem Text, Skizze oder Entwurf, vielleicht auch ein Träger multimedialer Zeichen, wie für die musikwissenschaftliche Edition mit ihren medial heterogenen Quellen, jeweils erscheinen. Sind nicht Beschreibstoff, Schreibstoff und Schreibgerät mehr als ersetzbare Identitätsmerkmale für die Sicherung der Authentizität des Materials? Sind nicht auch eine liniengerechte oder -gleichgültige Schriftführung, mit oder ohne Druck ausgeführt, das ,printen' oder zügig ,current'-Schreiben, Merkmale, die die Wahrnehmung eines Textes mitbestimmen, ja mitbestimmen sollten? Damit zieht die schreibende Hand Aufmerksamkeit auf sich. Wie strikt unterliegt sie der rationalen Aufsicht des

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Erfahrung und Edition

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Schreibers, wie textuntertänig funktioniert sie? Läßt sich nicht gelegentlich ein körperhaft gestischer Überschuß bemerken - ein Akkord oder ein Wort, eher wie ein Hieb ausgeführt, als wie ein Klang oder Wort geschrieben; wie andererseits auch ein Zögern und Tasten an einer solchen Schreibweise erkennbar sein kann. Der erfahrene Leser von Manuskripten lernt durch solche Wahrnehmungen Temperament und Habitus des Schreibers kennen, auch an Stellen, wo diese quasi hinter seinem Rücken die Invention der bewußten Steuerung entziehen. Wie mache ich aber derartige graphische Merkmale als Editor kenntlich, ohne sie terminologisch zu neutralisieren? Ein anderes Beispiel: Ob eine Quelle eher ,Prä'-Figuration ist oder ,Figur', oder ob diese Frage gar nicht mehr sinnvoll gestellt werden kann, weil es keine ausgeführte und abgeschlossene Figur mehr gibt, vielmehr statt dessen nur eine Sequenz von Entwürfen, für die der Entwurfsbegriff neu gefaßt werden muß, weil er die Konnotation des Temporären und Vorläufigen verloren hat - ist nicht auch dies eine Frage, für deren Beantwortung der sinnliche Augenschein von ausschlaggebender Bedeutung sein kann? Ich denke etwa an die mit der Feder oder mit schwarzer Kreide ausgeführten Vortex-Zeichnungen des Weltuntergangs von Leonardo, immer neue Variationen auf gewaltig wirbelnde Wassermassen, die Landschaften und Ansiedlungen in sich verschlingen. Das einzelne Blatt als die Präfiguration eines ausgeführten Gemäldes anzusehen hat wenig Sinn. Der späte Leonardo hat nicht mehr gemalt. Wohl aber beschreibt die Sequenz dieser vermeintlichen Entwürfe die Auflösung der Schöpfung im Vollzug. Man muß sie sich als den Versuch vorstellen, das von Leonardo naturwissenschaftlich interpretierte Ereignis in einer performativ zu lesenden Darstellung umzusetzen, das letzte Blatt als Finale in acta des Vollzugs. Joseph Gantner hat das 1958 in einer berühmt gewordenen Studie über Leonardos Visionen vorgeführt. 5 Die ,critique genetique' hat sich der Schreibhandlung als einem bevorzugten Gegenstand zugewandt, dem „Schreiben als [einem] Akt, in dem Trieb und Berechnung vonnöten sind", die bewußte Absicht und die vorbewußte Erfindung. 6 Am Beispiel der genannten Skizzen oder Entwürfe Leonardos - ich versage mir an dieser Stelle, auf die Problematik der Begriffe einzugehen - kommt noch ein anderes Motiv in Sicht. Die ästhetische Erfahrung lehrt, daß die Skizzen Leonardos von Landschaften und Naturereignissen nach der bildhaften Entsprechung vermeintlichen naturwissenschaftlichen Wissens tasten. Die Studien von Alexander Perrig haben das an vielen Beispielen erweisen können. 7 Um die Terminologie Foucaults noch einmal aufzunehmen: Ihr .Dispositiv' ist ein Weltentwurf, der die heterogenen Ereignisse von Dekomposition und Zerstörung - Überschwemmungen, Tsunamis, Feuersbrünste etc. - durch eine Auffassung überformt, die solchen Geschehnissen zwar keinen Sinn gibt, sie aber doch ihrer Kontingenz enthebt. Das einzelne Sinnes-Datum ist so dunkel wie nur irgendein Rebus. Das Einzelblatt einer Skizze für sich genommen ist weder Präfiguration noch Figur, wohl aber Zeugnis für das Stadium einer naturwissenschaftlich erklärbaren Kata-

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Joseph Gantner: Leonardos Visionen von der Sintflut und vom Untergang der Welt. Bern 1958. Almuth Gresillon: Elements de critique genetique. Paris 1994; dt. als Literarische Handschriften. Einfuhrung in die „critique genetique". Bern u.a. 1999 (= Arbeiten zur Editionswissenschaft 4). Leonardo da Vinci: Natur und Landschaft. Naturstudien aus der Königlichen Bibliothek in Windsor Castle. Supplement: „Leonardo: die Anatomie der Erde" von Alexander Perrig. Stuttgart 1980.

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Gert Mattenklott

strophe im Vollzug. Der Editor solcher .Entwürfe' sollte sie nicht als autonome .Werke' präsentieren, sondern als ,instantanees', Momentaufnahmen einer Weltanschauung, die in keinem Tafelbild mehr zu fassen ist. All dies ist noch immer sinnlicher Vordergrund. Tiefer gestaffelt liegt eine Ebene, auf der die Frage nach dem, was eine Quelle bezeugt, augenscheinlich mehrere Antworten zuläßt. Nehmen wir als Beispiel einen Text, der in mehreren Abschriften vorliegt, sei es von der Hand des ersten Schreibers, sei es von späteren Händen. Die Texte differieren; z.B. die Tontafeln, auf denen das Gilgamesch-Epos geschrieben steht. Die ältesten Bruchstücke werden etwa 1800 vor Christus datiert. Das Zwölftafel-Epos, mit seinen 3600 Verszeilen, wie es heute präsentiert wird, ist eine spätere Zusammenfassung von etwa 1200 vor Christus. Kein sumerischer Dichter hatte dies zuvor getan. Am ältesten dürfte eine Kompilation verschiedener Fragmente sein, die auf der zwölften Tafel zu lesen ist und das Epos in seiner nun quasi kanonisch gewordenen Gestalt abschließt. In der Tat, die gestaltbildende Phantasie der Editoren hat hier immer wieder den Ausschlag gegeben. Die in Keilschrift überlieferten frühesten Textfragmente sind in vier Sprachen verfaßt: altbabylonisch, akkadisch, churritisch und hethitisch. Mehrfach sind sie ins Deutsche übersetzt worden, etwa von Alfred Jeremias (1891) und Albert Schott (1934), zuletzt von Raoul Schrott (2002). Sie alle haben verderbten Text ergänzt, Emendationen durchgeführt, Namen vereinheitlicht. Der Zerklüftung in der Geschichte der Edition am immer wieder unterbrochenen Leitfaden der Altertumsforschung entspricht die Geschichte der Rezeption, wie sie sich früh und besonders wirkungsmächtig in den Texten der jüdischen Bibel nachweisen läßt. Das Beispiel ist besonders lehrreich, weil es die verschiedenen ,Lesarten' der Quellen als verschiedene Formen der Erfahrung und des Wissens erkennen läßt. Sie reichen von der Mythologie über die Theologie, von der Vermittlung dokumentarischen Wissens bis zu ästhetischer Erfahrung in einem modernen Sinn. Diese Lektüren lassen sich nicht als konsequente Abfolge und Entwicklung ordnen. Vielleicht spiegeln sie einen Widerstreit zwischen verschiedenen Formen der Erfahrung, die die Editoren - mehr oder weniger bewußt und bald mehr, bald weniger von der je aktuellen Forschungslage abhängig - als Dispositive über das heterogene Material gelegt haben.

Rainer

Falk

Zwischen Materialität und Bedeutung Hans Ulrich Gumbrechts Rehabilitierung der ästhetischen Erfahrung für die Editionswissenschaft

Ein Tagungstitel mit ,und' muß sich den Vorwurf gefallen lassen, das Und erlaube, ,,[w]ie in der Allegorese [...] alles mit allem zu verbinden", und sei darum „ohnmächtig zum Meisterschuß". Auch wenn Adorno dieses „Tabu übers Und" als ein ästhetisches ,Präskript' erlassen hat,1 stellt sich angesichts des Tagungstitels Ästhetische Erfahrung und Edition die Frage, ob nicht die Verknüpfung der philosophischen Theorie der ästhetischen Erfahrung mit der sich gegen Theorie stets widerständig gebärdenden Editionswissenschaft unter ein ähnliches Verdikt fällt. Entgegen solcher Bedenken sei der Versuch dieser Verknüpfung hier gewagt, wobei das Unterfangen trotz eines namhaften Gewährsmannes - sich als tentativ und approximativ versteht. ,Ästhetische Erfahrung' avancierte in den 1970er Jahren - unter Wiederbelebung einer älteren Tradition, die (zumindest im deutschen Sprachraum) mit und nach dem Zweiten Weltkrieg abgebrochen war - zu einem Schlüsselbegriff der philosophischen Ästhetik. Hatte deren Aufstieg seit der Mitte des 18. Jahrhunderts noch im engen Zusammenhang mit der Krise und Destruktion der religiösen bzw. rationalistisch begründeten Metaphysik gestanden und hatte Ästhetik bzw. Kunst teils als Ersatz der Metaphysik fungiert, teils selbst metaphysischen Charakter angenommen, so bildete der Wechsel zum Paradigma der ästhetischen Erfahrung den Bruch mit der metaphysischen Tradition und der Vorstellung einer im Kunstwerk verkörperten Wahrheit, wie sie vom deutschen Idealismus bis hin zu Kritischer Theorie und Hermeneutik vertreten worden war. Was das Paradigma der ästhetischen Erfahrung attraktiv macht, ist, daß es die Aporien systematischer Ästhetiken, die Kunstwerke nach spezifischen Eigenschaften zu klassifizieren versuchen, zu vermeiden erlaubt, weil das Konzept des Ästhetischen nunmehr keine Eigenschaft von Objekten, sondern einen Umgang mit Objekten meint, womit eine Tradition aufgegriffen wird, die sich letztlich bis auf Kants Kritik der Urteilskraft zurückführen läßt. Die Privilegierung des Erfahrungsaspekts zieht freilich die Forderung nach einer Explikation dieses Umgangs nach sich, die sich auf die Frage zuspitzen läßt, ob mit ästhetischer Erfahrung eine Erfahrungsform eigener Art oder eine gesteigerte Form alltäglicher Erfahrungen gemeint ist. Die Antwort auf diese Frage wird - wo nicht in systematischer, so doch in faktischer Konsequenz verbunden mit der Frage nach der Grenze der ästhetischen Praxis: Vertreter eines Konzepts, das ästhetische Erfahrung als Erfahrungsform eigener Art begreift, beTheodor W. Adorno: Titel. Paraphrasen zu Lessing. In: ders.: Gesammelte Schriften. Bd. 2: Noten zur Literatur. Hrsg. von Rolf Tiedemann. Frankfurt am Main 1974, S. 325-334, hier S. 327.

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Rainer Falk

schränken dessen Gültigkeit gemeinhin auf den Umgang mit Kunst, während für Vertreter eines Konzepts, das ästhetische Erfahrung als gesteigerte Form alltäglicher Erfahrungen betrachtet, ebenso eine intellektuelle Tätigkeit wie die Ausübung eines Handwerks ästhetisch besetzbar sind. Letzteres Konzept ist es, auf das sich Hans Ulrich Gumbrecht unausgesprochen bezieht, wenn er in seinem Buch Die Macht der Philologie die philologischen Tätigkeiten und die Ambiguitäten, die sie auszulösen vermögen, „was ihre Struktur und ihre Auswirkung betrifft, in die Nähe heutiger Definitionen der ästhetischen Erfahrung" rückt. 2 Als die philologischen „Grundtätigkeiten" benennt Gumbrecht dabei ,,[d]ie Identifizierung von Fragmenten, die Herausgabe von Texten und das Verfassen historischer Kommentare", 3 womit sein Verständnis von Philologie das umfaßt, was die .Editionswissenschaft', die sich in den letzten Jahrzehnten zu einer selbständigen Disziplin herausgebildet hat, als ihren genuinen Gegenstand betrachtet. Wenn sich die folgenden Überlegungen auf die beiden erstgenannten Tätigkeiten - also auf Textkonstitution und Textkritik - beschränken, dann weil bereits ein anderer Tagungsbeitrag dem „Kommentar im Kontext ästhetischer Erfahrung" gewidmet ist,4 aber auch, weil Gumbrecht im Kapitel „Das Schreiben von Kommentaren" - vorsichtig formuliert den Anschluß an die Theoriebildung der vorangegangenen Kapitel nicht gefunden zu haben scheint. Wie also läßt sich Philologie als ästhetische Erfahrung beschreiben? Gumbrechts Grundthese lautet, daß alle philologischen Tätigkeiten in jeweils unterschiedlicher Weise Wünsche nach Präsenz erzeugen, Wünsche nach einer physischen und räumlich vermittelten Beziehung zu den Dingen der Welt (zu denen auch Texte gehören) - und daß dieser Wunsch nach Präsenz [... ] die Grundlage ist, auf der die Philologie Wirkungen der Greifbarkeit (und manchmal sogar die Realität von etwas Greifbarem) hervorrufen kann.5

.Präsenz' bezieht sich in Gumbrechts Verständnis also nicht auf ein zeitliches, sondern auf ein räumliches Verhältnis zur Welt und ihren Gegenständen, und der Wunsch, sich diese Gegenstände präsent zu machen, zu vergegenwärtigen, zielt darauf, sie sich sinnlich und nicht ,nur' intellektuell erfahrbar zu machen. Was die Philologie demnach zu leisten vermag, ist das, was Gumbrecht an anderer Stelle die ,Produktion von Präsenz' nennt; 6 ihre , Macht' besteht für ihn entsprechend in ihrem „Potential zur Besetzung oder Versperrung von Räumen". 7 Jeder Akt der Vergegenwärtigung bedarf aber eines Bezugsobjekts - im Falle der philologischen Tätigkeiten bei2

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7

Hans Ulrich Gumbrecht: Die Macht der Philologie. Über einen verborgenen Impuls im wissenschaftlichen Umgang mit Texten. Frankfurt am Main 2003, S. 19. Gumbrecht 2003 (Anm. 2), S. 12. Nämlich der Beitrag von Timo Günther, S. 187-198. Gumbrecht 2003 (Anm. 2), S. 17. Vgl. Hans Ulrich Gumbrecht: Diesseits der Hermeneutik. Die Produktion von Präsenz. Frankfurt am Main 2004, S. 11 u. 33. - Vgl. dazu Roberto Sanchino Martinez: „Die Produktion von Präsenz". Einige Überlegungen zur Reichweite des Konzepts der „ästhetischen Erfahrung" bei Hans Ulrich Gumbrecht. In: Ästhetische Erfahrung: Gegenstände, Konzepte, Geschichtlichkeit. Hrsg. vom Sonderforschungsbereich 626. Berlin 2006 (http://www.sfb626.de/index.php/veroeffentlichungen/online/artikel/74/). Gumbrecht 2003 (Anm. 2), S. 16.

Zwischen Materialität und Bedeutung

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spielsweise eines Fragments, das den Wunsch nach Präsenz des vollständigen Manuskripts, oder eines Manuskripts, das den Wunsch nach Präsenz seines Urhebers auslöst. In Gestalt der vielfältigen Wünsche des Philologen, seine Gegenstände aus ihrem vermittelten Dasein in unmittelbare Präsenz zu heben, rufen die philologischen Tätigkeiten Reaktionen hervor, die Gumbrecht als „nichtinterpretative Möglichkeiten [...] des Umgangs mit kulturellen Objekten" begreift und gegen eine „ihre Bezugsgegenstände entmaterialisierendef] ,Wissenschaft vom Geiste'" ins Feld führt. 8 Die Bezugnahme auf die Theorie der ästhetischen Erfahrung läßt erkennen, worin das Interesse Gumbrechts, dessen praktische Erfahrungen auf dem Editionsgebiet mehr als drei Jahrzehnte zurückliegen, 9 besteht - und zwar darin, „jene Grenzen der Geisteswissenschaft in Frage [zu] stellen [...], die daher rühren, daß sie während der Jahrzehnte um 1900 in das Paradigma der Hermeneutik eingeschrieben wurden (was zugleich ihre Verankerung im metaphysischen Erbe der abendländischen Philosophie bedeutete)". 10 Die Rede ist von jener historischen S c h w e l l e [...], auf der Wilhelm Diltheys programmatische Schriften die Trennung der Geisteswissenschaften von den übrigen wissenschaftlichen Fächern bestätigt und konsolidiert hatten. Erst 1910 hatte sein Buch Der Aufbau der geschichtlichen den Geisteswissenschaften

Welt in

die Interpretation endgültig zur Herrscherin gekürt und damit,

wie e s bei Dilthey heißt, den Schritt von der materiellen (und philologischen, wie man w o h l hinzufügen darf) Oberfläche der Phänomene zur geistigen Tiefe als Hauptaufgabe der Geisteswissenschaften hingestellt."

Das deckt sich mit dem, was einleitend über den antimetaphysischen und antihermeneutischen Impuls des Paradigmas der ästhetischen Erfahrung ausgeführt worden ist. Wird dieser Zusammenhang in Die Macht der Philologie nur angedeutet, so entwirft Gumbrecht in Diesseits der Hermeneutik eine Geschichtsphilosophie, in der der Verlust der Präsenzdimension in den Geisteswissenschaften nur mehr Symptom eines in der europäischen Neuzeit sich entfaltenden - letztlich cartesianischen - Dualismus ist, demgemäß die Welt der materiellen Objekte vor dem geistigen Beobachtersubjekt als ein ,hermeneutisches Feld' liegt - als eine Dimension, die interpretiert, deren materielle Oberfläche durchdrungen werden muß, um eine geistige Tiefe des Sinns, des Wissens und der Wahrheit zu erreichen. Bezogen auf eine traditionell-textualistische Editionswissenschaft, die mit der Privilegierung von Zeichenhaftigkeit und Kognition die Dimensionen von Wahrnehmung, Erfahrung und Sinnlichkeit notwendigerweise vernachlässigt, fordert Gumbrecht also eine verstärkte Aufmerksamkeit für Phänomene wie Schreibperformanzen und Schrift- und Druckmaterialitäten - Phänomene, die im Bereich des ,hermeneutischen Felds' sozusagen nur in dem Maße in den Blick kommen, in dem sie zum Verschwinden gebracht werden.

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Gumbrecht 2003 (Anm. 2), S. 19f. Juan Ruiz Arcipreste de Hita: Libro de buen amor. Übersetzt und eingeleitet von Hans Ulrich Gumbrecht. München 1972 (= Klassische Texte des romanischen Mittelalters in zweisprachigen Ausgaben 10). Marie de France: Äsop. Eingeleitet, kommentiert und übersetzt von Hans Ulrich Gumbrecht. München 1973 (= Klassische Texte des romanischen Mittelalters in zweisprachigen Ausgaben 12). Gumbrecht 2003 (Anm. 2), S. 20. Gumbrecht 2003 (Anm. 2), S. 121 f.

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Damit scheint Gumbrecht eine Entwicklung aufzugreifen, die sich in verschiedenen philologischen Disziplinen während der letzten Jahrzehnte abgezeichnet hat: Zu nennen wäre die in Frankreich bereits seit den 1970er Jahren entwickelte Theorie der ,critique genetique', die das Edieren zunächst gar nicht im Blick hatte, sondern die Materialität und Prozessualität von Autormanuskripten als genuin literaturwissenschaftlichen Untersuchungsgegenstand bestimmte; 12 ferner die im angloamerikanischen Raum seit Anfang der 1990er Jahre diskutierte Social Theory of Editing, die im Bewußtsein um die medialen Faktoren der Produktion und typographischen Gestaltung von Texten zwischen dem .linguistischen Code' des Texts und dem .bibliographischen Code' seines Überlieferungsträgers unterscheidet. Doch finden diese methodischen Ansätze aus den neueren Philologien in Die Macht der Philologie keine Erwähnung, wie das Buch überhaupt eine Diskussion konkreter Editionen und editionstheoretischer Positionen weitestgehend vermissen läßt. Entsprechend seiner fachlichen Herkunft aus der mediävistischen Romanistik erwähnt Gumbrecht immerhin die ebenfalls Anfang der 1990er Jahre aufgekommene New Philology. 13 Deren Vertreter seien, wie er in seinem Aufsatz Ein Hauch von Ontik ausführt, „primär daran interessiert [...], aus den Manuskripten Formen des Umgangs mit ihnen zu erschließen, während die Identifizierung von Textinhalten für sie ein bestenfalls sekundäres Anliegen ist", 14 was wiederum auf ihren spezifischen Begriff von Präsenz zurückzuführen sei, „und zwar eine[n] Begriff, für den Präsenz wechselseitige Nähe von Dingen und von Körpern im Raum bedeutet". 15 Folglich meint Gumbrecht in der New Philology eine „doppelte Sehnsucht nach Vergegenwärtigung" zu erkennen, weil er das christliche Mittelalter mit seiner Vorstellung von der ,Realpräsenz Gottes' als Gegenmodell zur cartesianischen Neuzeit und als Prototyp einer Präsenzkultur betrachtet, in der Zeichen substantiell gedacht werden und nicht auf Repräsentation beruhen. 16 Mehr als eine Analyse des konkreten - historischen wie editorischen - Umgangs mit den Manuskripten interessiert Gumbrecht also einmal mehr die Haltung, die hinter dem Ansatz der New Philology steht und die ihm „als Ausdruck einer Faszination, die typisch ist für das intellektuelle Klima unserer Gegenwart", gilt.17 Ebensowenig wie die Vertreter der genannten Strömungen redet Gumbrecht jedenfalls einer ,,staunende[n] Darstellung der bloßen Faktizität" 18 das Wort. Was oft be-

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Vgl. den Beitrag von Almuth Gresillon, S. 73-86. Vgl. Gumbrecht 2003 (Anm. 2), S. 64-66. Hans Ulrich Gumbrecht: Ein Hauch von Ontik. Genealogische Spuren der New Philology. In: Philologie als Textwissenschaft. Alte und Neue Horizonte. Hrsg. von Helmut Tervooren und Horst Wenzel. Berlin u.a. 1997 (= Zeitschrift für Deutsche Philologie 116, Sonderheft), S. 3 1 ^ 5 , hier S. 45. Gumbrecht 1997 (Anm. 14), S. 39. Gumbrecht 1997 (Anm. 14), S. 44. Gumbrecht 1997 (Anm. 14), S. 34. So lautete Adornos Einwand gegen Benjamins ersten Baudelaire-Aufsatz. (Adorno an Benjamin, 10.11.1938. In: Theodor W. Adorno und Walter Benjamin: Briefwechsel 1928-1940. Hrsg. von Henri Lonitz. Frankfurt am Main 1994 [= Theodor W. Adorno: Briefe und Briefwechsel 1], S. 364-376, hier S. 368.) Benjamin erwiderte, die Formulierung charakterisiere „die echt philologische Haltung". (Benjamin an Adorno, 9.12.1938. In: Walter Benjamin: Gesammelte Briefe. Bd. 6: 1938-1940. Hrsg. von Christoph Gödde und Henri Lonitz. Frankfurt am Main 2000, S. 181-193, hier S. 184.)

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und

Bedeutung

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tont, begrüßt und auch beklagt worden ist: daß Edition und Interpretation voneinander abhängig, aufeinander angewiesen sind, das wird auch in Die Macht der Philologie nicht geleugnet. So heißt es darin ganz explizit: ,,[D]ie Textedition [produziert] Sinn nicht nur als .Nebenwirkung', sondern sie ist Sinnproduktion par excellence". 19 Keineswegs versucht Gumbrecht also ästhetische Erfahrung gegen Hermeneutik - etwa: die Objekthaftigkeit eines Manuskripts gegen seine Bedeutungshaftigkeit - auszuspielen. Vielmehr scheint er von einem notwendigen Zusammenhang von Objektdimension und Bedeutungsdimension auszugehen: Seine Überlegungen sind also nicht nur als Kritik an der Unterordnung des Manuskripts unter die Bedeutung zu verstehen um bei diesem Beispiel zu bleiben - , sondern auch an der positivistischen Annahme, daß die Faktizität des Manuskripts vom Prozeß der Bedeutungsbildung unabhängig ist. Die Materialität des Manuskripts regt den Editor ebensosehr zur Sinnproduktion an, wie sie seine Sinnproduktionen immer wieder unterläuft. In dem Moment, in dem das Manuskript in den Augen des Editors Bedeutung annimmt, erhellt zugleich, daß nichts am Manuskript diese Bedeutung objektiviert, denn die Striche auf einem Blatt Papier oder auf einer Pergamentseite als Signifikanten zu lesen, aus denen Bedeutung zu konstituieren ist, stellt allenfalls eine Gewohnheit oder Übereinkunft dar. Die SinnProduktion erweist sich als Sinnprojektion. Der Editor wird also auf das ,factum brutum' des Manuskripts zurückverwiesen, dessen scheinbare Evidenz sich aber nun seinerseits als instabil, als von potentiellen Bedeutungen durchsetzt herausstellt, weil Striche im Kontext eines Manuskripts eben nicht als bedeutungslos betrachtet werden können, sondern gelesen und interpretiert werden müssen - zum Beispiel als Spuren der Präsenz eines Urhebers. Sinnproduktion und S'mnsubversion sind in der doppelten Lesbarkeit des Manuskripts dergestalt aufeinander verwiesen, daß sie sich wechselseitig gleichermaßen verstärken wie bestreiten. Diese Beschreibung der editorischen Arbeit schließt sich erkennbar an ein Konzept ästhetischer Erfahrung an, wie es vor allem von den Vertretern eines reflexionstheoretischen Ansatzes in die Diskussion eingebracht wird, 20 weil dieses Konzept zu explizieren scheint, was Gumbrecht meint, wenn er ästhetische Erfahrung als „ein Oszillieren [...] zwischen ,Präsenzeffekten' und ,Geisteffekten'" charakterisiert. 21 Freilich läßt sich diese Analogie nicht bis ins Detail fortsetzen. So sehr Gumbrecht auch die lustvolle Seite der editorischen Arbeit betont, kann deren Ziel doch nicht allein - mit Kant zu reden - die .Belebung der Erkenntniskräfte' und die .Anregung des Lebensgefühls' sein. Erlebt sich das ästhetische Subjekt in bezug auf das ästhetische Objekt zwar als sinnproduzierend, doch ohne daß sich die in ihm wirkenden Kräfte für Erkenntniszwecke objektivieren oder überhaupt kontrollieren ließen, und ist das Wech-

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Gumbrecht 2003 (Anm. 2), S. 50. - Zu widersprechen ist also der Auffassung, daß für Gumbrecht „die Macht der Präsenz eine unwiderstehlich dominierende Funktion ausübt, der man sich nur unterwerfen könne und die sich der Bedeutung, und also auch der Deutung, entzieht". (Renate Schlesien Künstlerische Kreation und religiöse Erfahrung. Verwendungsgeschichtliche Anmerkungen zum Begriff der Inspiration. In: Ästhetische Erfahrung im Zeichen der Entgrenzung der Künste. Epistemische, ästhetische und religiöse Formen der Erfahrung im Vergleich. Hrsg. von Gert Mattenklott. Hamburg 2004 [= Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft, Sonderheft], S. 177-194, hier S. 177.) Vgl. etwa Juliane Rebentisch: Ästhetik der Installation. Frankfurt am Main 2003, z.B. S. 51-65. Gumbrecht 2003 (Anm. 2), S. 19.

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seispiel zwischen Sinnprojektion und Sinnsubversion in der ästhetischen Erfahrung als ein prinzipiell unendlicher, unabschließbarer Prozeß gedacht, so ist die editorische Arbeit auf ein Ergebnis, einen Abschluß hin angelegt (selbst wenn manche Editionsprojekte schon in den Verdacht geraten sind, als unendlich gedacht zu sein). Im Oszillieren zwischen Präsenzeffekten und Geisteffekten ist der Editor gehalten, Entscheidungen zu treffen und letztlich einen der beiden Pole dieser Spannung stark zu machen - den der Bedeutung oder den der Faktizität - , und er erweist sich damit einmal mehr als beides: als Interpret und Sachwalter. Diese Entscheidungen soll der Editor allerdings nicht nach subjektivem Ermessen treffen; Gumbrecht ist dezidiert „kein Befürworter einer Situation, in der jeder Herausgeber bestrebt ist, seine .persönliche' Fassung des zu edierenden Texts auszuarbeiten". Sofern sich der Editor in einem bestimmten Verhältnis zum Manuskript wahrnimmt, ist er freilich gehalten, auf die Rollen, die er in diesem Verhältnis einnimmt, zu reflektieren, doch ist dieses Verhältnis - anders als der ästhetische Objektbezug kein konstitutiv individuelles, sondern geprägt von der philologischen „Schule" oder „Stilrichtung", der der Editor zugehört. Gumbrechts Überlegungen zielen also auf eine „philologische Vorstellung von Pluralität", die „die Erwartung, man werde zur Wahrheit [...] gelangen, in die Erwartung transformiert, es werde eine Vielfalt verschiedener Positionen gestiftet". Wie die philosophische Ästhetik mit der Wende zum Paradigma der ästhetischen Erfahrung die Vorstellung einer im Kunstwerk verkörperten Wahrheit, so soll die Editionswissenschaft „die Vorstellung von der einzig .richtigen' Edition als ihrem maßgeblichen Telos preisgeben". Mit dem Rollenverständnis des Editors ist schließlich der Rahmen abgesteckt, innerhalb dessen „zwischen mehr oder weniger adäquaten Editionen" unterschieden werden kann. 22 Fast scheint es, als wäre Gumbrecht, wenn er den subjektiven Entscheidungsspielraum des Editors auf die intersubjektiv bemessenen Grenzen einer „Schule" und ihrer spezifischen „Techniken" beschränkt, vor der Orientierung am Paradigma der ästhetischen Erfahrung in letzter Konsequenz zurückgeschreckt. Das Bild vom ,,Handwerk[] und den entsprechenden Zünften", 23 das Gumbrecht in diesem Zusammenhang gebraucht, ist ebenso schief wie erhellend, sollte die mittelalterliche Zunft als die eine Vertreterin eines Handwerks doch auch für die Qualität des handwerklichen Erzeugnisses einstehen und damit den Markt überschaubar gestalten - und zwar für den Käufer. Die Vorstellung der Vergleichbarkeit von Editionen derselben Schulen und der Inkommensurabilität von Editionen unterschiedlicher Schulen ignoriert hingegen die Bedürfnisse dessen, dem in Gumbrechts Überlegungen kein Platz eingeräumt wird: des Benutzers der Edition. Diesem ist auch mit Gumbrechts Vorschlag wenig geholfen, die „philologische Qualität einer Edition" daran zu messen, um wieviel „desorientierender, herausfordernder und komplexer [...] sich das von ihr geprägte Lesen [...] erweise[]" 24 - ,Lesen' freilich nicht verstanden als „,Entschlüsseln' (wie es in der Blütezeit der Semiotik der Fall war)", sondern als „ein vergnügliches und

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Alle Zitate in diesem Absatz Gumbrecht 2003 (Anm. 2), S. 63. Gumbrecht 2003 (Anm. 2), S. 64. Gumbrecht 2003 (Anm. 2), S. 135.

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Bedeutung

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zugleich schmerzhaftes Oszillieren zwischen Verlust und Wiedererlangung von geistiger Kontrolle oder Orientierung" 25 - , denn dafür benötigt er eine Kontrollinstanz. Wie subjektiv auch immer die Entscheidungen gewesen sein mögen, aufgrund derer eine Edition erstellt worden ist: Für den Benutzer ist sie nachzuvollziehen und gegebenenfalls zu verwerfen, wenn ihm zur Verfügung gestellt wird, woran gemessen auch die Editionen der Gumbrechtschen „Schulen" sich als mehr oder weniger adäquat erweisen müßten: das Manuskript in einer dem Original möglichst nahekommenden Reproduktion. Dagegen läßt sich gewiß einwenden, daß die Dokumentation des Befunds immer im Hinblick auf die Deutung erfolgt; ein Phänomen, das der Editor nicht einmal für potentiell bedeutungshaft erachtet, wird er nicht dokumentieren bzw. reproduzieren. Noch mehr jedoch lassen sich Zweifel anmelden, ob anhand eines gedruckten oder digitalen Faksimiles das, was den Anlaß zu der ästhetischen Erfahrung des Editors gegeben hat, auch nur im entferntesten vergegenwärtigt werden kann. Selbst die technisch perfekteste Reproduktion vermag nicht die emphatische Darstellung eines Manuskripts zu reproduzieren, das als präsentes Artefakt sich selbst der Betrachtung darbietet und in seiner Präsenz das Zeichen seiner selbst ist. Diese Präsenz, auf deren Vergegenwärtigung in der Edition die ästhetische Erfahrung des Editors abzielen mag, ist durch kein Ergebnis der editorischen Tätigkeit einzuholen.

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Gumbrecht 2003 (Anm. 2), S. 134.

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Urtext und Erfahrung Textmodelle in der Bibelkritik

Editionen ,machen' Texte: Sie fixieren nicht nur deren Wortlaut, sondern präsentieren den Text auch aus einer bestimmten Perspektive und heben ihn in den Bereich des Offiziellen. Sie stehen an der Grenze von Schreiben und Wissen und bilden ein wirksames Verfahren zur Herstellung von Autorschaft wie von wissenschaftlicher Autorität: Als Wissenschaften konstituieren sich die Neuphilologien im 19. Jahrhundert gerade über ihre Editionen; kanonische Autoren werden solche, denen eine kritische Gesamtausgabe gewidmet wird. Editionen sind Dispositive: flexible Raster zur Ordnung von Äußerungen, in denen sich eine Vielzahl unterschiedlicher Elemente verbinden - Aussagen, Diskurse, Praktiken, Institutionen - , um einen ständigen Umschlag von Wissen und Macht zu organisieren. Eine Geschichte der Edition - oder überhaupt: der Philologie - als Dispositiv kann daher nicht immanent wissenschaftsgeschichtlich geschrieben werden, als Fortschritt von bestimmten Prinzipien, als Annäherung an ein Ideal. Editionen beruhen weniger auf einer Wissenschaft als auf einer Disziplin, für die nicht Axiome, sondern ein bestimmtes Handwerkszeug spezifisch ist. In Werkzeugen wie Lexika, Konkordanzen, Handbüchern verdichtet sich das philologische Tun zu bestimmten Formen, an denen sich die Spannungen verschiedener Wissensformen, Medien und Kulturen besonders gut ablesen lassen. Denn in ihnen wird nicht nur der Text erzeugt, sondern auch eine bestimmte Erfahrung ihm gegenüber vorgeschrieben oder doch nahegelegt, sozusagen ein Modell des Textes geschaffen, dessen Erfahrung der eigentlichen Lektüre vorgeschaltet wird. Zumindest manche dieser Modelle haben eine gewisse anschauliche Unmittelbarkeit: Sie zeigen etwas, was man eben nicht sagen kann, sie ersetzen den Mangel an methodologischen Prinzipien durch eine sinnliche, in weitem Sinne: ästhetische Erfahrung, die grundlegend für die disziplinare Kohärenz ist. Dabei ist diese philologische Erfahrung nichts Privates, nichts ,rein' Ästhetisches, sondern findet immer schon im Raum von Institutionen statt. Um das zu verdeutlichen, ist es vielleicht hilfreich, sich einem Beispiel zuzuwenden, an dem die Verbindung von Technik und Institution, von Lesen und Glauben bzw. Glauben-Machen besonders deutlich ist: Die Bibelexegese, insbesondere in ihren philologischen und kritischen Vertretern. Diese ist nicht nur bestimmend gewesen für die Textkultur der Vormoderne, sondern hat auch die Entwicklung der modernen Philologie nachhaltig beeinflußt und geprägt. Es geht aber nicht darum, die profane Philologie aus der sakralen historisch .herzuleiten', sondern die kulturellen und epistemologischen Spannungen aufzuzeigen, aus denen die Philologie entspringt; Spannungen, die bei der

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Bibelexegese besonders deutlich sichtbar sind, weil hier immer schon verschiedene Disziplinen und Erkenntnisinteressen miteinander im Konflikt sind. Gerade wenn man keine scharfe Grenze zwischen .naiven' und .wissenschaftlichen' Lektüren zieht - wie das auch in der Fachgeschichte der Bibelwissenschaft meist geschieht - , kann man zeigen, wie konflikthaft und paradox die philologische Tätigkeit oft ist bzw. zu welchen Kunstgriffen sie neigt. Im Vordergrund steht dabei nicht die reine Medienoder Technikgeschichte, die philologischen Verfahren zugrunde liegt, sondern die komplexen Verhandlungen über diese, die gerade auf den Schauplätzen der verschiedenen Hilfsmittel stattfinden. Daher werde ich nicht die Editionsgeschichte des Bibeltextes behandeln - also die Geschichte der Urtextausgaben seit Erasmus, die für die Entwicklung der Philologie natürlich von großer Bedeutung ist - , sondern einige spezifische Instrumente der Bibelwissenschaft, die sich hier um die Form des Tableaus gruppieren. Im folgenden wird daher zunächst allgemein die Rolle der Bibelkritik für die Kulturgeschichte der Philologie dargestellt und die besondere Rolle der Bibel in der Ordnung der Texte herausgearbeitet (I), um sich dann den spezifischen Hilfsmittel zuzuwenden: zunächst den Harmonien und Synopsen, die das Verhältnis der verschiedenen Evangelien zueinander darstellen und beschreiben wollen (II); dann den verschiedenen Verfahren und Werkzeugen, die in der höheren Kritik des Alten Testaments einen quasi atomisierten Text produzieren und rekonfigurieren (III).

Theologie und Philologie Zwar ist es ein Gemeinplatz, daß die literaturwissenschaftliche Philologie auch aus der Kritik der Bibel entstanden ist - aber dieser Ursprung ist bisher selten untersucht worden, und wenn, ist er meist zu einfach als fortschreitende ,Emanzipation' der Philologie von theologischen .Vorurteilen' verstanden worden. Die Fachgeschichte betont lieber die Beziehung zur Altertumswissenschaft, ohne freilich zu reflektieren, daß auch diese nicht unbeeinflußt von der Bibelphilologie verlief. So orientierte sich etwa Friedrich August Wolfs Homerphilologie stark an der alttestamentlichen Textkritik und an der Untersuchung der Vorstufen des biblischen Textes durch die höhere Kritik Johann Gottfried Eichhorns. 1 Eine Generation später beteiligte sich Lachmann an der Diskussion der synoptischen Frage und entwickelte auch seine kritischen Methoden zu einem wesentlichen Teil am Neuen Testament, an dessen reichem handschriftlichen Bestand sich das Programm der ,recensio sine interpretatio' besonders gut verwirklichen ließ.2 Bemerkenswerterweise gehen diese Anleihen bei beiden mit einer Distanzierung gegenüber der Theologie und ihren Gegenständen einher: Wolf schließt das Hebräische und ,Orientalische' explizit aus der Altertumswissenschaft

Vgl. Anthony Grafton: Prolegomena to Friedrich August Wolf. In: Journal of the Warburg and Courtauld Institutes 44, 1981, S. 101-129, bes. S. 119ff. „Bei der recensio ist die philologia profana [...] noch immer, ohne es zu wissen, von der philologia sacra abhängig" (Giorgio Pasquali, zitiert nach Sebastiano Timpanaro: Die Entstehung der Lachmannschen Methode. 2. Aufl. Hamburg 1971, S. 12). Vgl. auch Winfried Ziegler: Die „wahre strenghistorische Kritik". Leben und Werk Carl Lachmanns und sein Beitrag zur neutestamentlichen Wissenschaft. Hamburg 2000.

Urtext und Erfahrung

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aus und ersetzt so die Dreisprachigkeit des Humanismus durch den zweisprachigen Neuhumanismus; Lachmann weist jegliches theologische Interesse wie überhaupt alle über die Textkritik hinausgehenden Erwägungen von sich, er prägt damit eine spekulative Askese, die charakteristisch für die Philologie und ihr wissenschaftliches Ethos bleibt. Allerdings hindert dieses Selbstverständnis ihn keineswegs daran, eine bestimmte Verklärung des Ursprünglichen, des ,reinen' Textes und des quasi-sakralen ,Dienstes' am Wort zu übernehmen, die dem Selbstverständnis des Protestantismus entstammt. Man kann vermuten, daß gerade die explizite Absetzung von der Theologie es erlaubt, sie ideologisch zu beerben - eine typische Bewegung für die ambivalente Säkularisierung durch den Positivismus. Heute wird in der Editionswissenschaft oft der Abschied von dieser Rhetorik der ,Reinheit' und der Metaphysik des Ursprungs gefordert. Begründet man diese Forderung freilich mit dem wissenschaftlichen .Fortschritt' oder der Austreibung einer - oft als kryptotheologisch identifizierten - .Ideologie', wiederholt man nur die Distanzierungsgeste der Gründerväter und perpetuiert ein positivistisches Selbstverständnis als langsam fortschreitende Wissenschaft. Ein kulturgeschichtliches Verständnis der Edition als Dispositiv muß deren Vorgeschichte nicht an irgendeinem normativen Maßstab messen, sondern in ihrer Komplexität sichtbar machen, um damit gegenwärtige Probleme zu beleuchten. Im folgenden geht es daher nicht um das Fortwirken theologischer Figuren in der Theologie, sondern umgekehrt darum, wie auf theologischem Gebiet philologische Figuren entstehen, deren Problematik immer noch aktuell sein könnte. Als Annäherung an das Thema kann man sich einige Besonderheiten vergegenwärtigen, die den Status des Bibeltextes in Europa oder jedenfalls im europäischen Protestantismus betreffen. Erstens die Bekanntheit: Der Bibeltext ist, jedenfalls bis weit ins 19. Jahrhundert, immer schon bekannt; man muß ihn gar nicht mehr eigens anführen, sondern es reicht, auf ihn hinzuweisen oder anzuspielen. Zweitens die starke Intratextualität: In der patristischen wie in der mittelalterlichen und reformatorischen Exegese ist die Auslegung mittels Parallelstellen ein wichtiges, wenn nicht das zentrale Verfahren. Schließlich ist die Bibel ein übersetzter Text: Die Vulgata, später die Bibeln in der Volkssprache stehen in einem spannungsreichen Verhältnis neben dem Urtext. Alle drei Aspekte sind extrem wichtig, weil sie in Frage stellen, was eigentlich ediert wird, wenn die Bibel ediert wird. Dabei werde ich mich hier vor allem auf den zweiten der erwähnten Aspekte konzentrieren, die Intratextualität des biblischen Textes, weil er am charakteristischsten für die Bibelexegese ist und die komplexesten Hilfsmittel hervorbringt. Der erste Aspekt ist allerdings mediengeschichtlich interessant, weil er eine besondere Form der Textadressierung hervorbringt: die Versnumerierung, die es erlaubt, jeden Vers höchst effizient durch eine abgekürzte Sigel zu adressieren, ohne seinen Text wiederholen zu müssen, also ohne ihn eigentlich zitieren zu müssen. Bereits im Hochmittelalter werden die Kapitel unterteilt und numeriert, 1484 werden diese Kapitel erstmals mit Buchstaben in Unterabschnitte geschieden, 1528 tauchen dann das

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Daniel Weidner

erste Mal Versnummern in einem französischen Druck auf.3 Eine Weile setzt sich diese Erfindung nicht durch: Dreißig Jahre erscheint keine weitere Ausgabe mit Versnummern; Luther übernimmt diese nicht in seine Ausgaben und sein Korrektor Christoph Walter verhindert noch bis 1586, daß sie in Ausgaben der Luther-Bibel aufgenommen wird. Aber das ist schon ein Anachronismus, inzwischen ist der Siegeszug der neuen Erfindung allgemein und sogar die Ausgaben der Vulgata enthalten sie am Ende des Jahrhunderts. Offensichtlich spielen hier medien- und religionsgeschichtliche Faktoren zusammen: die Entwicklung der Drucktechnik und die damit einhergehende Normierung des Textes und die reformatorischen und gegenreformatorischen Kontroversen um die Schrift. Denn die neue Technik ermöglicht eine andere Form theologischer Theoriebildung, sie ist eigentlich die Voraussetzung des entwickelten Schriftprinzips. Erst jetzt kann die theologische Reflexion ständig auf die Schrift verweisen, ohne daß dadurch der Gang der Argumentation unterbrochen werden muß: Während etwa die erste Ausgabe von Melanchthons Loci von 1521 noch relativ spärlich die Bibel zitierte, und zwar im Haupttext mit Angabe von Kapitelnummern, werden in späteren Ausgaben in Marginalnoten mehr und mehr Stellen nachgetragen, auf die sich die Argumentation explizit oder implizit beziehen kann oder beziehen könnte. Diese Form wird typisch und auch in die Ausgaben der Klassiker, der Väter und Luther nachgetragen, sie bestimmt bis heute die Form theologischer Argumentation, die immer mit Reihen von Sigeln durchschossen ist: Schreibt man „Same", kann man durch eine ergänzende Klammer (Gen3,13; Gal4,4; 1 Joh 3,8; Hebr 2,14; Rom 16,20) präzisieren, in welchem Sinne man das meint. Damit kommt auch die Intratextualität der Bibel auf ganz neue Art zum Ausdruck: Seit es Kapitelteilungen gibt, werden auch in den Bibeln die jeweiligen Parallelstellen angegeben, zunächst als Marginalien, später - bei sich entwickelnder Genauigkeit des Verweises - auch in Petit im Anschluß an einzelne Verse oder in den Fußnoten; noch heute ist es vollkommen übliche Praxis, daß auch in reinen Textbibeln ohne Anmerkungen oder Erklärungen diese Verweise angegeben sind, als hätten sie im .ursprünglichen' Text gestanden. Die Versnumerierung ist die Voraussetzung der meisten im folgenden diskutierten Hilfsmittel, aber sie hat - zumindest auf den ersten Blick - kaum ästhetische Prägnanz. Der letzte der drei Aspekte, die Mehrsprachigkeit hat dagegen ein sehr spezifisches Hilfsmittel hervorgebracht, das hier wenigstens kurz beschrieben werden soll: die Polyglottenbibel. Deren erste, die Biblia polyglotta complutensa entsteht seit 1500 unter der Leitung des spanischen Kardinals und späteren Generalinquisitors Francisco Ximenes de Cisneros und stellt einen der ersten Höhepunkte humanistischer Bibelkritik dar (Abb. I).4 Ein ganzer Stab von Mitarbeitern - Philologen, Theologen, Setzern - arbeitet an dem Projekt, dessen erster Band 1514 erscheint und das erst 1522 abgeschlossen werden kann. Wohl angeregt durch die Hexapla-Handschrift des Origenes, in der das hebräische Original mit fünf verschiedenen Übersetzungen ins Griechische

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Vgl. M.H. Black: The printed Bible. In: The Cambridge History of the Bible. Bd. 3. Hrsg. von S.L. Greenslade. Cambridge 1963, S. 408-475. Vgl. J.H. Bentley: Humanists and Holy Writ - New Testament Scholarship in the Renaissance. Princeton 1983, S. 70-111.

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nebeneinander gestanden haben soll, wird hier die Vulgata in der Mitte, der hebräische Urtext jeweils auf der äußeren Kolumne, die Septuaginta auf der inneren Kolumne gedruckt, den Fuß der Seite bildet der Targurn Onkelos, eine aramäische Paraphrase des Alten Testaments mit lateinischer Übersetzung, übrigens alle noch ohne Versnumerierung. Die Übersetzungen stehen nicht einfach nebeneinander, sondern sind durch verschiedene Hilfsmittel verknüpft, etwa durch eine lateinische Interlinear-Übersetzung der Septuaginta und durch ein kompliziertes Verweissystem für den hebräischen Text: Weil dieser bekanntlich von rechts nach links geschrieben ist, kann hier keine lesbare Interlinearübersetzung angefertigt werden, statt dessen wird jedes hebräische Wort mit einem kleinen Buchstaben versehen, der auf das entsprechende Wort im Vulgata-Text sowie auf die am äußeren Rand notierten Wortwurzeln verweist. Auch der des Hebräischen Unkundige kann also ein wenig hebräisch mitlesen, er kann die Satzstruktur nachvollziehen und könnte auch die entsprechenden Worte im Wörterbuch nachschlagen. Eine ausgefeilte Drucktechnik, ein Verbund verschiedener Zeichensysteme und ein komplexes Layout ermöglichen es so, eine Fülle von Wissen darstellbar und benutzbar zu machen, und eröffnen eine Fülle von Lektüreweisen. Layout wie Aufbau machen zugleich auch eine Aussage: Sie zeugen vom Ansehen der Vulgata. Nicht nur ist offensichtlich Latein die Benutzersprache der Polyglotte, die anderen Texte werden auch gelegentlich nach der Vulgata korrigiert. So wird im Neuen Testament das sogenannte ,Komma Johanneum', das einzige Zeugnis der Trinität in 1 Joh 5,7, aus der Vulgata in den griechischen Text rückübersetzt - ein Verfahren, das bekanntlich auch Erasmus anwandte. Auch die Anordnung der Texte hat durchaus eine Bedeutung: Im Vorwort wird die Ausgabe mit Christus verbunden, der am Kreuz von zwei Übeltätern flankiert wird, offensichtlich in Anspielung auf die ungläubigen Juden und die schismatische griechische Kirche. Für den Benutzer bildet die Vulgata die stabile Mitte, auf die alles zuläuft, während die anderen Texte von recto nach verso ihre Positionen wechseln. Die Polyglotte ist damit eine anschauliche Darstellung einer bestimmten Textordnung, wobei auf ihre sinnliche Qualität offensichtlich viel Wert gelegt worden ist, wie nicht nur der eigens hierfür gestochene griechische Font zeigt, sondern auch das Bemühen, die Vw/gaia-Kolumne immer mit kleinen Kreisen aufzufüllen. So wird ein Wissens-, Erfahrungs- und Anschauungsraum konstruiert, ein Tableau, das eine bestimmte ideologische Tendenz mit ästhetischer Prägnanz darstellt und damit eine bestimmte Leserichtung nahelegt - aber natürlich auch immer die Möglichkeit anderer, nicht geplanter Lektüren eröffnet, die sich etwa auf die Nichtübereinstimmung der verschiedenen Übersetzungen konzentriert.

Synopse Wie bereits erwähnt, spielt die Intratextualität eine entscheidende Rolle für die Bibel: Die Möglichkeit, die Bibel mit der Bibel auszulegen, ist wesentlich für ihre Funktion als Heilige Schrift. Nur ein Text, der ,sich selbst' auslegt - in dem also unklare Stellen mit anderen, klaren erklärt werden können - , kann den grundsätzlichen epistemi-

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sehen Anspruch erheben, welcher der Bibel im gesamten Christentum und noch einmal verstärkt im Protestantismus zugesprochen wird. Ich will mich dabei zunächst auf einen Spezialfall der Intratextualität beziehen: auf das synoptische Problem, also die Tatsache, daß vier Evangelien von denselben Ereignissen berichten, in vielem übereinstimmen, an signifikanten Stellen aber auch voneinander abweichen. Insbesondere die Reihenfolge der berichteten Ereignisse unterscheidet sich: so findet etwa die Heilung der Schwiegermutter des Petrus bei Matthäus (8,14f.) nach der Bergpredigt, bei Lukas (4,38f.) vor der Feldrede statt, die mit der Bergpredigt bei Matthäus weitgehend deckungsgleich ist, bei Markus (1,29-31) steht die Heilung für sich, er kennt weder Berg- noch Feldpredigt. Solche Diskrepanzen haben nicht nur eine Fülle von Theorien hervorgebracht, sondern auch eine Reihe von Hilfsmitteln, in der sich Operativität und ästhetische Prägnanz in charakteristischer Weise verbinden, die aber vor allem in ganz verschiedener Weise entwerfen, was der Bibeltext ist bzw. mit welchen Kategorien man ihn angemessen beschreiben kann. Den mittelalterlichen Evangelienhandschriften sind oft die sogenannten Kanontafeln vorangestellt, die Eusebius von Cäsarea Anfang des 4. Jahrhunderts entwickelt hatte (Abb. 2). 5 Dazu hatte er jedes Evangelium in unterschiedlich lange Abschnitte eingeteilt, deren Nummer zusammen mit einem Verweis auf eine bestimmte Kanontafel an den Rand des Textes geschrieben wurde. Schlägt man diese Tafel auf, so findet man eine Tabelle mit den parallelen Stellen der anderen Evangelien oder erfährt, daß es sich hier um , Sondergut' handelt, das nur ein Evangelist bringt. So gehört zum Beispiel das Gleichnis vom Senfkorn nach Matthäus 13,31 f. zum Abschnitt 137 dieses Evangeliums und verweist auf die Kanontafel 2, in der die dreifachen Parallelen stehen, neben der 137 bei Matthäus steht hier die 44 bei Markus (verweist auf Mk 4,30-32) und die 167 bei Lukas (Lk 13,18f.). In einem überlieferten Brief kommentiert Eusebius sein Verfahren als Verbesserung des nicht überlieferten Werkes seines Vorgängers Ammonius von Alexandria: Entlang des Evangeliums nach Matthäus ordnete er die entsprechenden Perikopen der anderen Evangelien. Aber das hatte den unvermeidlichen Nachteil, die Folge (anakoluthia) der anderen drei Evangelien zu zerstören, wenn man den Text kontinuierlich liest. Damit Du aber die Stellen der Evangelisten erkennen kannst, an denen die Wahrheitsliebe sie über das gleiche berichten ließ, ohne daß ihr Körper und Zusammenhang zerrissen wird, habe ich, unter Rückgriff auf das Material des genannten Mannes, aber nach einer anderen Methode, die hier unten folgenden Tafeln (kanones), zehn an der Zahl, für Dich entworfen. 6

Ammonius hatte den Text neu konfiguriert, die Kanontafeln ermöglichen es dagegen, außerhalb des Textes die verschiedenen Stellen aufeinander zu beziehen, Text und

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Die Kanontafeln sind leicht zugänglich in: Novum Testamentum Graece. Hrsg. von Eberhard Nestle und Kurt Aland. 26. Aufl. Stuttgart 1979, S. 73*ff. Zu ihrer Geschichte vgl. Hermann von Soden: Die Schriften des Neuen Testaments. Bd. 1,1. Göttingen 1902, S. 388—485. Zur künstlerischen Gestalt und ihrer Relation zu christlichen Bildprogrammen vgl. Wolfgang Kemp: Christliche Kunst - ihre Anfänge, ihre Strukturen. München u.a. 1994, S. 137ff. Eusebius an Carpinianus, zitiert nach Novum Testamentum Graece (Anm. 5), S. 73*. Alle Übersetzungen fremdsprachiger Zitate stammen von mir.

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Apparat sind also getrennt. Anders als etwa Zwischenüberschriften bezieht sich Eusebius' Numerierung nicht auf den Inhalt des Textes, sondern sie stellt rein funktionale Indizes dar, die - über den Umweg eines Modells, der Tabellen - auf die anderen Abschnitte verweisen. Die Kanontafeln beschreiben also das spannungsreiche Verhältnis zwischen der Analogie der verschiedenen Evangelien und der Linearität in jedem einzelnen und verdeutlichen damit das Gewebehafte des Textes. Sie sind funktional bestens angepaßt an die Selbstauslegung der Schrift und an das Medium, für das sich das Christentum früh und vehement entschieden hatte: den Codex, für den es - im Unterschied zur Schriftrolle - wesentlich ist, daß man in ihm hin und her blättern kann. 7 Aber über diese reine Funktionalität hinaus haben die Tafeln auch ein ästhetisches Moment. Indem sie den Evangelienhandschriften vorausgeschickt werden, veranschaulichen sie, daß es sich um einen besonderen Text handelt, der eine spezielle innere Ordnung hat. Vor allem werden nicht die blanken Tabellen abgebildet, sondern sie werden künstlerisch gestaltet, meist mit architektonischen Motiven, die offensichtlich auf die Darstellung des Tempels anspielen. Das drückt nicht nur die Einheit und Ausgewogenheit der Schrift aus und betont ihren sakramentalen Charakter, sondern ist auch anschließbar an andere Bildprogramme, so daß etwa innerhalb der Kanontafeln typologische Szenen aus dem Alten oder Neuen Testament abgebildet sein können. Anders als dieses diagrammatische Hilfsmittel produzieren Evangelienharmonien eine durchgängige Erzählung aus den verschiedenen Texten, indem sie die verschiedenen Evangelien zu einer einzigen Geschichte verbinden. Die wohl bekannteste ist Andreas Oslanders Harmoniae Evangelicae libri quator von 1537, die als konsequente, vielleicht allzu konsequente Umsetzung des protestantischen Schriftprinzips betrachtet werden kann (Abb. 3). 8 Osiander produziert ein Monotesseron, d.h. einen durchgängigen griechischen Text nebst dessen lateinischer Übersetzung auf der jeweils gegenüberliegenden Seite; eine Erzählung der Taten und Worte Christ, die sozusagen komplett aus den Evangelien zusammengesetzt wird. Dabei weist bei jedem Wort oder jeder Wendung ein kleines Zeichen darauf hin, aus welchem Evangelium oder, eventuell, bei exakten Parallelen: aus welchen Evangelien - die jeweilige Wen-

Nach Kemp sind die Kanontafeln „das erste Modell, die früheste Repräsentation eines Textes überhaupt" (Kemp 1994, Anm. 5, S. 137); sie „hierarchisieren nicht und sie qualifizieren nicht, sie sagen nichts über den Inhalt, die Substanz dieses Buches aus, und sie geben keinen Schlüssel zu seinem tieferen Verständnis. Sie sind vielmehr das Monument einer Auffassung, welche die Bibel primär als ,selfglossing book' begreift, als ein Textsystem, das ,sich selbst genügt' (Tertullian), wenn es denn in seinen systematischen Qualitäten erkannt worden ist" (S. 138). Der vollständige lateinische Titel lautet aufschlußreich: Harmoniae cvangelicae libri 4 Graece et Latine in quibus evangelica historia ex quatuor evangelistis ita in unum est contexta, ut nullius verbum ullum omissum, nihil alienum immixtum, nullius ordo turbatus, nihil non suo loco positum, omnia vero Uteris et notis ita distinca sind, ut quid cuiusque evangelistae proprium, quid com aliis et cum quibus commune sit, primo statim aspectu deprehendere queas. Die Vorrede, die Übersichtstafel (Elenchus) und Teile der Anmerkungen sind veröffentlicht in Andreas Osiander: Gesamtausgabe. Bd. 6. Hrsg. von Gerhard Müller. Gütersloh 1977, S. 229ff. Vgl. auch dazu und allgemein zur Harmonie Dietrich Wünsch: Evangelienharmonien im Reformationszeitalter. Ein Beitrag zur Geschichte der Leben-Jesu-Darstellungen. Berlin, New York 1983.

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dung stammt. Am Rand sind mit weiteren Sigeln solche Parallelen angegeben, die nur wenig variieren und daher nicht in den Text der Harmonie aufgenommen werden. Aber das sind nur sehr wenige, denn weil es in den heiligen Schriften nicht nur nichts Widersprüchliches, sondern auch nichts Nebensächliches geben kann, sind selbst die geringsten Abweichungen bedeutungstragend. Daher werden parallele Erzählungen, die nur minimale Differenzen haben oder auch nur in den verschiedenen Evangelien an verschiedenen Stellen der Geschichte positioniert sind, .dissimuliert', d.h. sie werden auf verschiedene Ereignisse bezogen. Es gibt eben drei Tempelreinigungen, zwei Sturmstillungen, vier Blindenheilungen etc. Zweimal wird der Knecht des Centurios geheilt, zweimal fahren die Dämonen in die Schweineherde usw. Die Heilung von Petrus' Schwiegermutter taucht zwar bei Oslander nur ein einziges Mal auf - wird allerdings aufgrund der leicht abweichenden Berichte umständlich und pleonastisch erzählt - , dagegen referieren Matthäus' Bergpredigt und Lukas' Feldrede bei aller Ähnlichkeit auf zwei Ereignisse, die fast ein Jahr auseinander liegen. Oslander geht davon aus, daß die Evangelisten nicht nur treu berichtet haben, sondern daß grundsätzlich auch die Abfolge ihrer Berichte - die inzwischen zum Fachterminus gewordene ,Akoluthie' Eusebius' - korrekt sei, daß aber jeder von ihnen etwas ausgelassen habe. Es komme daher darauf an, in den Erzählungen eines Evangeliums die Narbe (cicatrix) im Text zu finden und in diese die entsprechenden Stellen der anderen Evangelien einfügen, ohne allerdings dabei die Reihenfolge zu verletzen. Wie das konkret geschieht, kann man an dem Verzeichnis (dem Elenchus, Abb. 4) sehen, das Oslander seiner Edition voranstellt und das die vier Evangelien parallel darstellt: Nach den parallelen Berichten der Taufe wird der Johannesprolog eingeschaltet, dann - wieder parallel - die Versuchungsgeschichte, dann wieder mit Johannes die erste Jüngerberufung, die Hochzeit zu Kanaan, eine erste Tempelreinigung, die Gespräche mit Nikodemus und der Samaritanerin - um dann endlich bei der Predigt in Galiläa anzukommen, die bei den Synoptikern unmittelbar auf die Versuchungsgeschichte folgt; den Anschluß stellt dabei der diagonal gesetzte Halbsatz „und Jesus kehrte in der Kraft des Geistes nach Galiläa zurück" (Lk 4,14) her. Alle Evangelien werden also ineinandergeschoben, wobei jedes seine Chronologie behält - mit ein wenig Übung kann man daher auch aus Oslanders Text den Text jedes einzelnen Evangeliums vom Blatt lesen. Aber das wäre nicht im Sinne des Autors: Die Rede von der .Harmonie' - Oslander scheint der erste zu sein, der ein solches Unternehmen so bezeichnet - impliziert, daß es gerade um den Zusammenklang geht: Wie nämlich in der harmonischen Musik manchmal mit einfachen Schlägen und Schwingungen gespielt wird, manchmal mit zwei- oder dreifachen, höchstens aber mit vierfachen Zusammenklängen die Ohren erfreut werden, so entwickeln auch in diesem Werk manchmal einzelne die Geschehnisse beredt, manchmal tun dies zwei geistreich, gelegentlich drei ausführlich, bisweilen geschieht das aber vollständig durch alle vier. 9

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Andreas Oslander: Praefatio, zitiert nach Oslander 1977 (Anm. 8), S. 246f.

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Die Auslassungen und Lücken der Evangelien sind also kein Manko, sondern harmonisch notwendig, weil eben jedes Evangelium nur eine Stimme in der komplexen Musik des Heils darstellt. Hunderte von Harmonien erschienen im 16., 17. und 18. Jahrhundert. Oft wollen sie nicht nur die Übereinstimmung der Evangelien, sondern auch verschiedener Wissensformen demonstrieren, etwa zwischen der neuen Naturwissenschaft und der Theologie. Eine der interessantesten ist die 1592 erschienene Evangelicae historiae monas des Geographen Gerhard Mercator (Abb. 5). 10 In deren Widmung berichtet Mercator, er sei von früh auf an der Erforschung der Natur interessiert gewesen, habe aber an deren Möglichkeit zu zweifeln begonnen, als er feststellen mußte, daß Aristoteles und die Bibel einander widersprächen. Anstatt sich auf antike Autoritäten zu verlassen, habe er daraufhin selbst astronomisch geforscht und sei darauf gestoßen, daß in der überlieferten Zählung der Weltgeschichte ein Jahr fehle. Seine Evangelienharmonie will nun zeigen, daß die öffentliche Wirksamkeit Jesu nicht wie allgemein angenommen vier, sondern fünf Jahre gedauert habe; formal geschieht das nicht mehr als Monotesseron, sondern tabellarisch, indem die einzelnen Evangelien wie in Oslanders Elenchus nebeneinanderstehen, viele Ereignisse werden dabei .transponiert', die Heilung der Schwiegermutter des Petrus etwa wird jetzt vorgezogen vor die Bergpredigt. Echte Naturwissenschaft und genaue Bibellektüre konvergieren hier also. Ganz ähnlich wie Mercators Monas sieht die Synopsis evangelicorum aus, die Johann Jakob Griesbach 1774 als Beigabe zu einer kritischen Ausgabe des Neuen Testaments veröffentlicht und die allgemein als die erste wissenschaftliche Synopse gilt (Abb. 6). Er schließt das insgesamt eigenständigere Johannesevangelium aus und beschränkt sich auf die - von nun an sogenannten - synoptischen Evangelien; beigefügt wird ein textkritischer Apparat, die Form ist ebenfalls tabellarisch. Aber die Abfolge der Perikopen ist nicht mehr als Darstellung einer Geschichte gemeint, ausdrücklich weist Griesbach in der Vorrede den Leser darauf hin, daß es sich hier nicht um eine Harmonie handelt: Sosehr ich auch weiß, wieviel Mühe gelehrte Männer auf die Herstellung einer Harmonie verwendet haben, die den postulierten Regeln entspricht, so glaube ich doch, daß nicht nur ein geringer, sondern fast überhaupt kein Nutzen aus ihr g e z o g e n werden kann, den nicht auch meine Synopse - trotz ihrer geringen Sorgfalt - hat; ich b e z w e i f l e sogar sehr, ob man überhaupt eine harmonistische Erzählung aus den Büchern der Evangelisten komponieren kann, die in der chronologischen Reihenfolge der Perikopen ausreichend mit der Wirklichkeit übereinstimmt und die auf sicheren Fundamenten aufgebaut ist. W a s wenn keiner der Evangelisten irgendwo der zeitlichen Reihenfolge genau gefolgt ist? Und wenn nicht genü-

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Vgl. dazu Wünsch 1983 (Aiim. 8), S. 25Iff. Die tabellarische Form zeigt, daß sich Harmonie und Synopse nicht streng voneinander trennen lassen: Es werden schon vor Griesbach Synopsen entworfen - schon vor Mercator durch Bucer und Calvin, nach ihm durch Clericus , auch nach ihm werden Harmonien verfaßt.

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gend B e w e i s e vorhanden sind, aus denen zu erheben wäre, wer und an welcher Stelle er von der chronologischen Ordnung abweicht? U n d zu dieser Häresie bekenne ich m i c h . "

Allerdings erweist es sich als gar nicht so einfach, die einander entsprechenden Texte parallel zu drucken - wie leicht einsehbar, gibt es natürlich ganz verschiedene Möglichkeiten der Ordnung: gemäß Matthäus, Markus oder Lukas. Griesbach folgt meist der Abfolge von Markus und der ähnlichen von Lukas, Matthäus wird ,versetzt', seine Perikopen erscheinen also nicht in der ursprünglichen Reihenfolge; darüber hinaus wird am Anfang und Ende jedes Abschnittes angemerkt, in welchem anderen Abschnitt der anschließende Text der jeweiligen Evangelien zu finden ist. So wird die Heilung der Schwiegermutter hier gemäß Lukas vor der Bergpredigt eingeordnet und beim Matthäus-Text durch eine geschweifte Klammer angedeutet, daß er in einen anderen Zusammenhang gehört. Das ist auch deshalb wichtig, weil auch bei Griesbach jeder Evangelientext einmal und nur einmal vorkommt - ein Verfahren, das sich schon aus ökonomischen Gründen empfiehlt, weil sonst die Synopse über die Maßen anschwellen müßte, zumal konsequenterweise ja auch der textkritische Apparat wiederholt werden müßte. Wird ausnahmsweise ein Text ein zweites Mal gedruckt, wird das durch einen Kasten markiert, so etwa Stellen aus der Lukanischen Feldrede als Parallelen zur Bergpredigt. Auch hier ist also der Bibeltext einmal ganz vorhanden, aber nicht mehr harmonisiert und in keine eindeutige Lesefolge gebracht. Daß damit immer auch implizite Vorannahmen verbunden sind, zeigt gerade der Vergleich mit Osiander: Abweichungen der Evangelien voneinander sind jetzt nicht mehr Symptome ähnlicher Ereignisse, sondern ähnlicher Berichte. Indem die Synopse die parallelen Perikopen der verschiedenen Evangelien nebeneinanderstellt, betont sie stärker deren Unterschiede und Ähnlichkeiten als die narrative Verkettung im jeweiligen Evangelium; es ist ja auch nicht mehr ohne Sprünge möglich, ein Evangelium durchgängig zu lesen. Ganz anders als bei Osiander scheint sie zu suggerieren, es handele sich um verschiedene Berichte derselben Ereignisse und legt damit von vornherein die Frage nach diesen Ereignissen nahe, nach dem ,Leben Jesu', für das sich nicht zu interessieren Griesbach ja eigentlich behauptet hatte. Tatsächlich trifft dabei auch die Synopse permanent Entscheidungen, etwa wenn sie die abweichenden Berichte der Heilung der Schwiegermutter nebeneinander abdruckt - später oft noch unter einer zusammenfassenden Überschrift - , dagegen der Bergpredigt bei Matthäus nicht die Lukanische Feldrede insgesamt gegenüberstellt, sondern nur einzelne, teils ,versetzte', teils nur als lokale Parallele (im Kasten) aufgefaßte Stellen: das suggeriert, es gäbe eine Schwiegermutter, aber zwei große Reden über das Vaterunser. Vor allem aber legt der Druck in mehreren Kolumnen die Frage nach dem literarischen und historischen Verhältnis der verschiedenen Evangelien nahe. Theorien über die Geschichte der Evangelien haben um 1800 Konjunktur: Neben der Annahme eines (verlorenen) Urevangeliums, einer mündlichen Tradition oder einer Fülle von Vorla-

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Johann Jakob Griesbach: Synopsis evangelicorum Matthaei, Marci et Lucae. 3. Aufl. Halle 1809, S. IX. Zu Griesbach vgl. insgesamt den Band J.J.Griesbach. Synoptic and text-critical studies 1776-1976. Hrsg. von Bernard Orchard und Thomas Longstaff. Cambridge 1978.

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gen entstehen auch sogenannte Benutzungshypothesen. Schon Augustinus hatte vermutet, das Markusevangelium sei ein bloßer Auszug aus dem Matthäusevangelium. Auch Griesbach geht davon aus, daß Markus sekundär ist, nimmt aber anders als Augustinus an, daß Markus beim Schreiben seines B u c h e s nicht nur Matthäus, sondern auch Lukas vor Augen hatte (ante oculos positum habuisse), und daß er ihnen entnahm, w a s er v o n den Taten, Reden und Schicksalen des Erlösers der Nachwelt überlieferte, und zwar so, daß er [...], w o er in die Fußstapfen des Matthäus tritt, Lukas doch nicht aus den Augen verliert, sondern mit Matthäus vergleicht, und umgekehrt. 1 2

Markus habe also sein Evangelium aus den beiden anderen zusammengefügt, was sich bis in einzelne Formulierungen des Textes hinein verfolgen lasse: Sein „Am Abend aber, als die Sonne untergegangen war" (Mk 1,32) stamme zur ersten Hälfte aus Matthäus (8,16), zur zweiten aus Lukas (4, 40). Markus' sprunghaftes Verfahren zeigt auch, daß er überhaupt nicht an der Reihenfolge der Ereignisse interessiert ist und sich daher auf ihn auch keine Synopse bauen lasse. Aber wie ist es möglich, eine solche Theorie zu beweisen? Das besondere an Griesbachs Überlegungen ist, daß er nicht mehr von den traditionellen Annahmen ausgeht - etwa von Augustinus oder den verstreuten Notizen der Kirchenväter sondern rein philologisch, durch den Vergleich der Texte argumentiert. Er entwirft dazu eine Tabelle, die - angelehnt an die eigene Synopse, in der ja Markus auch in der Mitte stand - die synoptische Aufteilung des Stoffes zeigt: Du kannst w i e mit eigenen Augen sehen, w i e Markus die Bände von Matthäus und Lukas zur Hand hat und beide ständig konsultiert, aus jedem das entnimmt, was er für seinen Leser am nützlichsten hält, mal Matthäus, mal Lukas für eine Weile aus der Hand legt, aber immer zu genau der Stelle zurückkehrt, w o er begonnen hatte, sich von ihm zu entfernen. 1 3

Die Tabelle veranschaulicht also ein sehr komplexes Wissen über Textbeziehungen, die nur so - als Diagramm - unmittelbar sichtbar gemacht werden können; ihre Überzeugungskraft liegt gerade in der Augenfälligkeit ihrer Zusammenschau (synopsis). Allerdings ist diese Synopse, wie die Polyglotte, immer auch anders lesbar. Kann es nicht auch umgekehrt sein, haben nicht vielleicht Matthäus und Lukas abgeschrieben? Daß die Markinischen Pleonasmen nichts Sekundäres sind, sondern im Gegenteil von Lukas und Matthäus nur je verschieden aufgelöst werden? Die synoptische Frage wird am Anfang des 19. Jahrhunderts zum Schauplatz heftiger Auseinandersetzungen, in denen sich am Schluß die Zweiquellentheorie durchsetzt: Matthäus und Lukas haben beide Markus und noch eine andere Vorlage, die sogenannte Logienquelle, benutzt. An dem Streit darüber beteiligt sich bekanntlich auch Karl Lachmann. Er zeigt, daß

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Johann Jakob Griesbach: Commentatio qua Marci evangelium totum e Matthaei et Lucae commentariis descriptum decerptum esse monstratur. Zuerst Jena 1789, hier zitiert nach ders.: Opuscula academica. Bd. 2. Hrsg. von Johann Phillip Gabler. Jena 1825, S. 358-434, hier S. 365. Generell über die synoptische Diskussion der Zeit informiert Walter Schmithals: Einleitung in die drei ersten Evangelien. Berlin, New York 1985. Griesbach 1825 (Anm. 12), S. 370.

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die Anordnung des Stoffes sich jeweils nur sehr wenig unterscheidet, wenn man entweder Matthäus und Markus oder Lukas und Markus vergleicht. Für ihn spricht das für eine Markus-Priorität; in einer für ihn typischen brutalen Polemik fertigt Lachmann die umgekehrte Annahme ab: Es sei ja wohl nicht zu glauben, daß Markus ein alberner Springer sei, der jetzt im Überdruß, bald in Begeisterung, dann in Gleichgültigkeit und schließlich in unsinnigem Eifer zwischen den Evangelien des Matthäus und des Lukas unsicher hin und her pendele und irre. Dieses täuscht doch wohl eine gewisse Untersuchung von Griesbach vor durch den Anschein emsiger Gründlichkeit, obwohl sie dennoch kaum geistreich, sondern ganz und gar langweilig und erbärmlich ist. 14

Auch Lachmann nimmt allerdings eine komplizierte Textgenese an und versucht, hinter Markus eine ältere Schicht zu identifizieren, die als gemeinsame Quelle gedient haben soll und selbst wiederum aus fünf Teilen besteht. Wie man sieht, gibt es hier komplexe Verhandlungen über die Genese von Texten, in denen verschiedene konkurrierende Modelle der Filiation nebeneinanderstehen, die später dann auch gerne mit Stemmata verdeutlicht werden. Auch heute sind Synopsen noch ein wichtiges Anschauungsobjekt für die Beziehungen zwischen den Evangelien und für die Textgenese; auch wenn der Stoff oft anders angeordnet wird, die Zahl der (auch außerkanonischen) Parallelen zugenommen hat und mit allen Mitteln der Drucktechnik versucht wird, noch die parallelen Worte genau nebeneinanderzustellen, unterscheiden sie sich prinzipiell nicht von der Griesbachschen. 15 Sie verkörpern eine bestimmte exegetische und philologische Erfahrung, die man nur an dieser gleichermaßen offenen und komplexen Form machen kann und die konstitutiv für die Disziplin ist. Wirksam ist die Synopse gerade, weil sie ein Modell für den Text liefert, das der Philologie nahesteht, die sie produziert hat, und weil sie dadurch immer wieder neu in die Philologie und Exegese eingespeist werden kann: Man kann immer wieder neue Synopsen für immer neue Theorien entwickeln, aber die Synopsen fallen nicht mit den Theorien zusammen, sie sind weniger spekulativ, weniger hypothetisch, sondern haben die Evidenz des Sichtbaren: Sie sagen nichts und zeigen scheinbar nur den Text selbst.

Urkundenhypothese Ein ganz ähnliches, aber radikaleres Werkzeug - sozusagen eine analytische Synopse - entsteht ungefähr gleichzeitig in der Kritik des Alten Testaments. Ihr Ursprung ist bemerkenswert: 1753 erscheint anonym ein Buch Conjectures sur les memoires ori-

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Karl Lachmann: De ordine narrationum in evangeliis synopticis. In: Theologische Studien und Kritiken 8, 1835, S. 570-590, hier S. 577. Ähnlich heftig polemisiert auch Wilke: „Markus wäre nicht Abbreviator, auch nicht Epitomator, nicht Exzerptor, sondern - Kastrator der Nebentexte, oder wie sollte man den Verstümmler der geborgten Sätze und den Menger des Verstümmelten sonst nennen" (Christian Gottlob Wilke: Der Urevangelist, oder exegetisch-kritische Untersuchung über das Verwandtschaftsverhältnis der drei ersten Evangelien. Dresden, Leipzig 1838, S. 443). Zur weiteren Geschichte der Synopse vgl. Heinrich Greeven: The Gospel Synopsis from 1776 to the Present Day. In: J.J. Griesbach 1978 (Anm. 11), S. 22-49.

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ginaux dont il paroit que Moyse s'est servi pur composer le livre de la Genese. Sein Autor ist kein Theologe, sondern der französische Arzt Jean Astruc, und man könnte vermuten, daß der spezifisch ,anatomische' Zugang zum Text mit seiner Profession zu tun hat - tatsächlich ist er wohl eher Erbe der frühneuzeitlichen Hermeneutik, der es stets um die rechte ,Teilung' des Textes ging. 16 Astruc will, so beteuert er in der Einleitung, der seit Spinoza immer wieder anklingenden Kritik am Pentateuch begegnen, dem Zweifel an der mosaischen Verfasserschaft ebenso wie der Klage über die Widersprüchlichkeit und Unordnung der Erzählungen. Es sei augenfällig, daß Moses in der Genesis Dinge erzähle, die er nicht selbst erlebt habe: Ich nehme daher an, daß Moses alte Dokumente (memoires) über die Geschichte seiner Vorfahren seit der Schöpfung der Welt in den Händen hatte; daß er, um nichts dieser Dokumente zu verlieren, sie in Stücke (morceaux) unterteilt habe gemäß der erzählten Ereignisse; daß er diese Stücke nacheinander als ganze aufgeführt habe und daß in dieser Sammlung das Buch der Genesis erstellt wurde. 17

Symptom dieser Textproduktion ist vor allem der unterschiedliche Gebrauch des Gottesnamens: Man kann in der Genesis Passagen voneinander unterscheiden, die Gott mit Elohim, und andere, die ihn mit Jahwe bezeichnen, etwa die beiden Schöpfungsgeschichten. Astruc nimmt an, daß diese Passagen jeweils zu verschiedenen Dokumenten gehören: zur Urkunde A, welche den Gottesnahmen Elohim benutzt, zu B, die von Jehova spricht, sowie einer Reihe weiterer, kleinerer Urkunden. Der größte Teil von Astrucs Buch besteht nun darin, daß er in verschiedenen Kolumnen, die jeweils eine Urkunde repräsentieren, den Text der französischen Bibel abdruckt. Wie in der Synopse ist ein solcher Text räumlich lesbar, aber was man liest, ist etwas anderes: liest man zeilenweise, so vergleicht man nicht, sondern erhält den überlieferten Bibeltext, liest man spaltenweise, erhält man die durchlaufenden Erzählungen der angenommenen Urkunden. Gerade durch die Tableau-Struktur können dabei Textprobleme, Achronien und Widersprüche gelöst werden, was man sich etwa an der Geschichte von Isaaks Heirat mit Rebekka veranschaulichen kann. Sie wird in der Genesis zweimal erzählt: einmal breit vor Abrahams Tod (Gen 24), einmal als Notiz von wenigen Zeilen danach (Gen 25,19ff.). Selbst wenn man die zweite Erzählung vorziehen würde, würde das den Zusammenhang zerreißen, weil diese wiederum an die Aufzählung von Isaaks Nachkommen anschließt. Astruc veranschaulicht seine so radikale wie effektive Lösung in einem Diagramm (Abb. 7): Er löst die Geschichte in zwei Stränge auf, indem er einerseits die Geschichten vom Tod Saras, von der zweiten Heirat und vom Tode Abrahams zusammenzieht (A), andererseits die von der Hochzeit Isaaks und vom

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Astruc spricht mehrfach vom „corps de la genese" (Jean Astruc: Conjectures sur la Genese. Hrsg. von Pierre Gibert. Paris 1999, S. 398 passim). Zu Astruc vgl. die Einleitung von Pierre Gibert, ebd. S. 9 119, sowie A. Lods: Jean Astruc (1684-1766). In: Revue d'Historie et de Philosophie religieuse 4, 1924, S. 54-72, 109-139, 201-227. Zur Tradition der Textanatomie vgl. Lutz Danneberg: Die Anatomie des Text-Körpers und Natur-Körpers. Säkularisierung in den Wissenschaften seit der Frühen Neuzeit. Bd. 3. Berlin, New York 2003. Astruc 1999 (Anm. 16), S. 137.

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Verkauf des Erstgeburtsrechts (B), die Aufzählung der Nachkommenschaft Ismaels wird gänzlich als ,Sondergut' ausgeschlossen (D). Der Tod Abrahams kann jetzt zeitlich nach die Hochzeit Isaaks gestellt werden, ohne daß dabei der Zusammenhang der Erzählung von Β unterbrochen würde. Durch den Kunstgriff, die Erzählung in mehrere parallele Stränge zu entflechten, können alle Ereignisse in ordentlichen Abfolgen erzählt werden und alle narrativen Anschlüsse stimmig sein. Anders als in der Synopse stehen also nicht mehr existierende Texte nebeneinander, sondern im Text postulierte Prä-Texte. Ebenfalls anders als in der Synopse - und auch anders als bei allen Nachfolgern - ist für Astruc das so erstellte Text-Tableau kein analytisches Konstrukt oder Hilfsmittel des Philologen, sondern entspricht einer tatsächlichen Stufe der Überlieferung: dem eigentlichen Urtext, nämlich der Niederschrift des Moses, der die Genesis wirklich in verschiedenen Kolumnen und mit Leerstellen niedergeschrieben habe: Durch diese Anordnung hat Moses erstens, wenigstens im wesentlichen, alle authentischen Dokumente bewahrt. [...] Er hat die Dokumente zweitens in einer bequemen Weise angeordnet, die auf den ersten Blick erkennen läßt, was jedes Dokument [...] im besonderen enthält. Er hat drittens mit dieser Ordnung erreicht, daß die Wiederholungen, die sich unvermeidlicherweise in verschiedenen Erzählungen derselben Fakten finden, nichts schockierendes mehr haben. [...] Kann man sich etwas vorstellen, was weiser und methodischer ist, als diese Disposition. Wir wären glücklich und hätten uns viele Mühen erspart, wenn die Genesis bis zu uns in dieser Form gekommen wäre. Aber schon seit langem haben die Kopisten alles beim Umschreiben anders geordnet. 18

Moses habe seinen Text tatsächlich räumlich, wie ein Gewebe geschrieben, aber aus Bequemlichkeit hätten die Abschreiber daraus einen linearen Diskurs gemacht und seien somit für die bekannten Wiederholungen und Achronien verantwortlich. In der Lektüre muß dieser Faden wieder in ein Gewebe aufgelöst werden, und Astrucs Buch mit seinen übersichtlichen Kolumnen ist das angemessene Hilfsmittel dazu. Johann Gottfried Eichhorn führt Astrucs Verfahren in Deutschland ein und druckt 1780 als erster Teile des hebräischen Originaltextes in Kolumnen, nimmt freilich bald nicht mehr Moses, sondern einen anonymen Redaktor an und greift auch die Vorstellung einer tabellarischen Niederschrift nicht auf, sondern geht davon aus, daß der Redaktor wie der Griesbachsche Markus bald zur einen, bald zur anderen Quelle gegriffen habe, um seinen Text zu schreiben. Im 19. Jahrhundert wird diese sogenannte Quellenscheidung oder auch Literarkritik zum Lieblingskind der alttestamentlichen Theologie und trägt entscheidend zu deren Disziplinwerdung bei. Dabei werden die Analysen immer genauer und kleinteiliger und bedienen sich eines ganzen Bündels von Verfahren - Sprachkritik, Tendenzkritik, literarische Analyse des Bibeltextes auf Dubletten usw. Allerdings gelingt es niemals wirklich, sie auf eine solide methodische Grundlage zu stellen; anstelle eines Lehrbuchs oder einer Methodologie der Literarkritik bürgert es sich ein, ein besonders intrikates Stück der Quellenscheidung - die

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Astruc 1999 (Anm. 16), S. 488f. Astruc verweist auch auf Maimonides' Bericht, daß die Juden den heiligen Text in Kolumnen schreiben würden (S. 498) - offensichtlich ohne je eine Tora-Rolle gesehen zu haben.

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Geschichte der Sintflut - als eine Art Gesellenstück zu betrachten, an dem der einzelne Forscher seine Fähigkeiten und seine Schulzugehörigkeit demonstriert. Heftig wird dabei über Kleinigkeiten gestritten; gegen Ende des Jahrhunderts kommen sogar Versuche auf, diese Lösungen nun wieder nebeneinanderzustellen, also sozusagen eine Synopse zweiter Stufe zu erstellen (Abb. 8). Zugleich wird versucht, die Erkenntnisse der Kritik auch in Bibelausgaben selbst einzutragen: Emil Kautzsch massive zweibändige Übersetzung des Alten Testaments, erschienen 1888 und 1894, enthält nicht nur in den Einleitungen in die einzelnen Abschnitte breite literaturkritische Erörterungen, sondern gibt am Außenrand die Sigeln für die einzelnen Quellenschichten wieder; darüber hinaus steht in Petit gedruckter Text für eine Ausfüllung durch den Redaktor (Abb. 9). In der um die Jahrhundertwende erscheinenden Reihe Handkommentar zum Alten Testament - voluminöse Bände von kaum unter 400 Seiten pro alttestamentlichem Buch - werden die Ergebnisse der kritischen Dekomposition ganz unmittelbar mit dem Text verbunden, indem insgesamt sieben nicht immer leicht auseinanderzuhaltende Schriftarten für die verschiedenen Urkunden verwendet werden (Abb. 10). Im Verlaufe des 19. Jahrhunderts wird die Quellenscheidung aber nicht nur immer genauer, sie ändert auch ihre Bedeutung, weil die einzelnen Dokumente bald selbst als Stufen eines historischen Prozesses verstanden werden. Exemplarisch hat dies gegen die Mitte des Jahrhunderts Julius Wellhausen durchgeführt, der über die „mechanische Zergliederung" der Quellen hinaus versucht „die ermittelten Einzelschriften in gegenseitige Beziehung zu setzten, sie als Phasen eines lebendigen Prozesses begreiflich und auf die Weise eine stufenmäßige Entwicklung der Tradition verfolgbar zu machen". 19 Die Kritik muß also über das negative Ergebnis der Uneinheitlichkeit des Textes fortgetrieben werden zur Erkenntnis der inneren Entwicklung, denn die Überlieferung ist nicht in einem Moment zusammengestellt worden, sondern langsam gewachsen. Entscheidend dabei ist nun, daß dieses Wachstum nach Wellhausen und seiner Schule in Wirklichkeit ganz anders verlaufen ist, als es auf der Textoberfläche den Anschein hat: Während im biblischen Bericht die Verkündung des Gesetzes am Sinai am Anfang der Geschichte steht und die spätere israelische Nationalgeschichte als sich wiederholender Abfall von diesem Gesetz erklärt wird, ist für Wellhausen das Gesetz erst ein spätes Produkt, das nachträglich in diese Nationalgeschichte zurückprojiziert wird. In Wirklichkeit habe die israelische Religion nicht mit einer Offenbarung begonnen, sondern sich langsam und schrittweise von einer einfachen, anarchischen und freien Gottesverehrung zu einer immer stärker geregelten Kultreligion entwickelt. Das könne man auch literarkritisch nachweisen, denn die am meisten am Gesetz interessierte Schicht der Überlieferung, die sogenannte Priesterschrift, sei offensichtlich ein Spätprodukt, die aber die ganze biblische Überlieferung einer Rationalisierung unterzogen habe, welche unsere Vorstellung dieser Geschichte präge:

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Julius Wellhausen: Prolegomena zur Geschichte Israels. 6. Aufl. Berlin 1927, S. 293f. Vgl. brillant zu Wellhausen Friedemann Boschwitz: Julius Wellhausen. Motive und Maßstäbe seiner Geschichtsschreibung. Marburg 1938. Die antijudaischen Konnotationen dieser Theorie, die das ursprüngliche Israel vom versteinerten (,pharisäischen') Judentum unterscheidet, können hier nicht diskutiert werden.

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Streng einheitlich ist diese Betrachtungsweise, die sich durch das ganze Alte Testament hindurchzieht. Aber sie ist erst nachträglich gemacht und aufgetragen. Die neuere Forschung hat diese Einheit gesprengt. Unter der gleichförmigen Oberfläche zeigen sich disparate Reste von Unterschichten, die man hervorheben muß, um zur historischen Wahrheit zu gelangen.20 Die Lektüre ist hier daher die Zerstörung der redaktionellen Bearbeitung, um die ursprünglichen Schichten der Überlieferung zu finden, die für Wellhausen allein wertvoll sind und die es allein erlauben, die wahre Geschichte hinter dem Text zu erzählen. Der Text wird also zerlegt, um gleichsam auf den Kopf gestellt zu werden eine Vorstufe der symptomalen Lektüre, die Nietzsche sichtlich beeinflußt hat.21 Gleichsam die Realisierung dieser Theorie ist die Hexateuch-Synopse Otto Eißfeldts, die 1922 erstmals erschien und noch heute zum Handwerkszeug des Theologen gehört (Abb. 11). Augenfällig ist zunächst, daß die Analyse des Textes sehr viel kleinteiliger ist als bei Astruc oder Eichhorn, denn auch in den jüngeren Quellenschichten lasse sich oft noch ein älterer Stoff ausmachen: Es ist, wenn hier an Warburgs Arbeiten erinnert werden darf, mit diesen Geschichten etwa wie mit der Darstellung der Planeten-Götter in deutschen Kalendern der Reformationszeit oder an Bauten dieser Zeit. Die Komposition, in der die Planeten-Götter da erscheinen, rührt häufig von dem Holzschneider oder dem Bildhauer her, und diese haben sie auch ganz in das Gewand ihrer Zeit gekleidet. Und doch verraten diese Darstellungen sofort den Zusammenhang mit den antiken Vorlagen: dieselben Motive und Attribute hier wie dort, beim Saturn etwa die Würfel und der Zeitdrache. So haben auch viele Erzählungen des Hexateuch Eigenheiten, die ihnen von ihrem, oft sehr weit vor ihrer Formung durch den Autor des Quellenwerks, in dem sie stehen, liegenden Ursprungs her anhaften und sehr oft von der Gesamthaltung des Quellenwerks abstechen.22 Eine genaue literarische Analyse ermöglicht also die Abtragung der späteren, entstellenden Bearbeitung und führt zu einer Vervielfältigung der Quellen, von denen Eißfeldt insgesamt sieben auseinanderhält. Das Layout der Seite ist von vornherein historisiert: je weiter man nach rechts sieht, desto weiter entfernt man sich von der ursprünglichen, einfachen Laienquelle (ganz links) und kommt zu den künstlichen, späten, rationalisierenden Schichten der Priesterschrift (ganz rechts). Die leitende Metapher für den Text ist jetzt nicht mehr der Körper, das Gewebe, geschweige denn die Musik, sondern das Mosaik: Übernommenes und Hinzufgefügtes möchte sie [die Synopse] zu anschaulicher Klarheit bringen und schon dadurch in seiner Richtigkeit zu begründen versuchen. Denn die Möglichkeit, das Hexateuch-Problem in einer klaren Lösung zur Anschauung zu bringen, birgt in der Tat eine starke Beweiskraft in sich. Der Hexateuch, besonders etwa die Kapitel Ex 3.4,19-34 gleichen ja einem Durcheinander von Mosaiksteinchen, die Teilchen mehrerer

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Julius Wellhausen: Grundrisse zum Alten Testament Hrsg. von R. Smend. München 1965, S. 68. Vgl. dazu meinen Artikel: ,Geschichte gegen den Strich bürsten'. Julius Wellhausen und die jüdische ,Gegengeschichte'. In: Zeitschrift fiir Religions- und Geistesgeschichte 54, 2002, H. 3, S. 32-61. Otto Eißfeldt: Hexateuch-Synopse. Die Erzählungen der fünf Bücher Mose und des Buches Josua mit dem Anfange des Richterbuches. Leipzig 1922, S. 6.

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Bilder sind. Gelingt es, die Steinchen so zu ordnen, daß drei, vier Bilder von überzeugender Klarheit herauskommen, so trägt diese Ordnung die Gewähr ihrer Richtigkeit in sich selbst. Die Spalten der hier gebotenen Hexateuch-Synopse möchten den so wiederhergestellten Bildern gleichen. 23

Diese Metaphorik ist in zweierlei Hinsicht höchst aufschlußreich. Erstens macht sie noch einmal deutlich, daß die Quellenscheidung eigentlich keiner klar definierten Methode folgt, sondern auf einer bildlichen Evidenz beruht: Man kann sie nicht beweisen, sondern nur zeigen; wenn man sie richtig sieht, ist sie unmittelbar einleuchtend. Sie muß daher auch ,schön' sein, wie Eißfeldt schon über das Werk seines Lehrers Smend geschrieben hatte: „Gleicht die unmittelbar vor ihm gegebene Lösung der Hexateuch-Frage einem durch allerlei Anbauten und Überbauten bis zur Unübersehbarkeit entstellten Grundbau, so mutet Smends Buch wie ein in seiner Gliederung klar erkennbarer gotischer Dom an, von strengen Formen und von herber Schönheit." 24 Zweitens drückt Eißfeldts Mosaik-Metaphorik eine wichtige Implikation der Quellenscheidung aus: daß nämlich die den Text radikal auflösenden Verfahren doch auch eine substantielle Grundlage haben, daß sie letztlich auf ,echte Stücke' zurückgreift, die, wenn auch aus dem Zusammenhang gerissen und falsch gemischt, so doch authentische Spuren sind. Es ist nicht einfach irgendein Hörensagen oder freie Phantasie, die die Texte produziert hat, sondern sie enthalten uralte Bruchstücke echter Schriften. Schon Eichhorn hatte betont, die Literarkritik befreie den Protestanten von der Zumutung, eine .Tradition' als Quelle der vormosaischen Geschichte annehmen zu müssen. Die Destruktion des Textes macht diesen also nur um so glaubwürdiger, weil er eben auf authentischen Zeugnissen beruhe, die Moses eben bloß zusammenmontiert habe: Ging je ein Geschichtsforscher religiöser und heiliger mit seinen Quellen um, als der Ordner von diesen? Er ist so gewiß von der Ächtheit und Wahrheit seiner Urkunden, daß er sie gibt, wie sie sind; sie sollen nicht durch Schminke und blendendende Farben um Bewunderung buhlen, sondern in ihrer Nackten Gestalt Ehrfurcht einprägen. [...] Der Geschichtsforscher braucht nun nicht mehr in der Geschichte der ältesten Welt blos Einem Referenten zu glauben; in den wiederholenden Stellen kann er zwei verschiedene verhören, und wo die Wiederholungen ausfallen, darf er voraussetzen, daß der zweite Referent mit dem ersten harmonisch erzählt habe. 25

Hier sieht man vielleicht besonders deutlich, wie sich philologisches Verfahren und theologisches Bedürfnis nach einem festen, authentischen Text berühren, und wie man letztlich zwischen einer kritischen und einer gläubigen Perspektive nicht mehr klar differenzieren kann. Die Auflösung des Textes schlägt in dessen Wiederherstel-

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Eißfeldt 1922 (Anm. 22), S. 5. Eißfeldt 1922 (Anm. 22), S. 4. Solche Wertungen sind natürlich immer umkehrbar, Volz urteilt über Eißfeldts Synopse, „daß sie gerade das Gegenteil von dem beweist, was sie beweisen will, denn die kümmerlichen Brocken von Erzählungen, die meist in den Spalten stehen, beweisen eben, daß nicht vier ursprüngliche Erzählungen bestanden, und daß diese ganze Synopse des Pentateuch das künstliche Gebilde heutiger Gelehrsamkeit ist" (Paul Volz: Besprechung von Eißfeldts Hexateuch-Synopse. In: Theologische Literaturzeitung 48, 1923, Sp. 389-391, hier 390). Johann Gottfried Eichhorn: Einleitung in das Alte Testament. Bd. 1. Leipzig 1780, S. 343.

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lung um, sie produziert einen Text, der noch ursprünglicher ist als der Urtext. Auch wenn später das Vertrauen in die Harmonie der verschiedenen Quellenschichten schwindet, bleibt die Quellenscheidung ein Verfahren extremer Buchstäblichkeit, die sich in die Materialität der Schrift geradezu hineinversenkt: Der Text wird aufgebrochen in Splitter und Fragmente, die dann aber erst recht authentisch sind; auch wenn der Text selbst nicht original ist, sind doch alle seine Teile echt. Wie schon bei der evangelischen Synopse handelt es sich auch bei der literarkritischen um Philologenarbeit - und um eine solche, die sich in ihren Gegenstand hineinprojiziert. Schon bei Griesbach glich Markus, der seinen Blick zwischen seinen beiden Vorlagen hin und her wandern ließ, ganz auffällig dem Philologen beim Kollationieren, eine Arbeit, die Griesbach als Textkritiker ja nur allzu vertraut war. Auch der Redaktor des Pentateuch, sei es nun Moses oder eine anonyme Instanz, der die Texte mit allergrößter Sorgfalt überliefert und montiert, ähnelt ganz auffällig dem kritischen Philologen. Ironisch kommentiert der jüdische Bibelwissenschaftler Benno Jacob das eigenartige Bild der Literarkritik vom Redaktor: Er hat sich [...] nicht damit begnügt die Quellen mosaikartig aneinanderzufügen, sondern sie miteinander verschmolzen, er macht [...] raffinierte Operationen, um die Quellen anzugleichen, und zugleich läßt er faustdicke Widersprüche seelenruhig nebeneinander stehen und bringt sich so wieder um alles Lob. Er ist überhaupt der Fetisch der Kritik, den sie bald küßt, bald prügelt. Er kann alles und kann nichts. [...] Alles dies, je nachdem es der Kritik paßt und der überlieferte Text sich ihr fügt oder nicht. Kurz, der Redaktor ist der Kritik eigener wunderlicher Sohn. 26

Der Redaktor ist hier nicht nur eine Art Doppelgänger des Autors - etwas, das an dessen Stelle tritt und verschoben dessen Funktionen erfüllt - , sondern auch ein Spiegelbild des Philologen, der sich hier in seinem Gegenstand ,wiedererkennt'. Auch das trägt zur Kohärenz der Disziplin ebenso bei wie zu deren .Lesbarkeit', denn gerade in solchen Imaginationen können die Widersprüche und Konflikte beobachtet werden, die eine Disziplin durchziehen und dynamisch machen. Schluß Mit Harmonien, Synopsen und Diagrammen werden Modelle entworfen, welche die Lektüre von Texten vorbereiten oder erleichtern sollen. Sie stellen jeweils komplexe Systeme dar, welche diagrammatische und indexalische Zeichen mit einer Präsentation des Textes verbinden. Sie enthalten keine klaren Beweise, aber in ihnen verkörpert sich eine bestimmte Erfahrung, die man schwer an anderem Ort machen kann. Sie integrieren eine Fülle von Wissen und versuchen, dieses benutzbar zu machen, aber ihre Benutzung fordert oft selbst wieder bestimmte Kompetenzen, die sie zum Wahrzeichen disziplinarer Identität machen. Sie entstehen aus einem philologischen Diskurs und setzen ihn fort, indem sie nicht zuletzt auch zur Produktion immer neuer

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Benno Jacob: Das Buch Genesis. Nachdruck der Originalausgabe Berlin, Schocken 1934. Stuttgart 2000, S. 956.

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Hilfsmittel, immer neuer Editionen führen. Sie verkörpern eine Weise des Umgangs mit dem Text und entwerfen einen Begriff oder besser: ein Bild von Autorschaft und Lektüre, das eine Kulturgeschichte der Philologie berücksichtigen müßte. Dabei sind die Konzepte der Bibelkritik keineswegs per se dogmatischer oder rückschrittlicher als zeitgleiche Entwicklungen auf dem Gebiet der profanen Hermeneutik - ganz im Gegenteil erinnern sie in manchem an moderne Vorstellungen des Textes als Palimpsest oder als offenes Gewebe. Es wäre lohnend zu untersuchen, wie gerade um 1800, gleichzeitig mit der Instituierung des emphatischen Autorsubjekts in der Literaturwissenschaft, in der Literarkritik der Bibel ganz andere Figuren entwikkelt werden, in denen sich Autorschaft in eine Reihe von anonymen Instanzen und Akten der ,bricolage' auflöst. Solche Figuren des Schreibens können ihrerseits wieder produktiv werden und in anderen Diskursen weiterwirken. Wenn etwa Friedrich Schlegel von der „Idee des unendlichen Buchs" oder vom „Buch schlechthin" als „Bibel" spricht, so spielt er damit vielleicht nicht nur auf das fehlerlose, identitätsstiftende Buch der theologischen Tradition an, sondern auch auf die Entdeckungen der zeitgenössischen Kritik, für welche die Bibel ein Konglomerat von ganz verschiedenen Schriften und Gattungen ist, in Schlegels Worten: „ein System von Büchern". 27 Und ganz explizit taucht die Quellenscheidung als poetische Figur der Verdoppelung, Spaltung und Reflexion dort auf, wo es um die Möglichkeit eines .Doppelromanes' geht, den die ungleichen Zwillinge Walt und Vult in Jean Pauls Flegeljahren schreiben wollen: Wie Zwillinge in ein Dintenfaß tunken? Beaumont und Fletcher, sich hundsfremd, nähten an einem gemeinschaftlichen Schneider-Tische Schauspiele, nach deren Naht und Suturen noch bis heute die Kritiker fühlen und tasten. B e i den spanischen Dichtern hatte oft ein Kind an neun Väter, nämlich eine Komödie, nämlich Autoren. Und im lsten Buch Mosis kannst du es am allerersten lesen, wenn du den Professor Eichhorn dazu liesest, der allein in der Sündflut drei Autoren annimmt, außer dem vierten im Himmel. Es gibt in j e d e m epischen Werke Kapitel, worüber der Mensch lachen muß, Ausschweifungen, die das Leben des Helden unterbrechen. 28

Wie stets bei Jean Paul wird hier die Möglichkeit und Einheit des Schreibens problematisiert, das, wenn es keine einsame Zeugung, sondern wechselseitige Spiegelung sein soll, sehr wohl mit dem Zusammenflicken der Philologen vergleichbar ist - zumal wenn es dazu noch einen himmlischen Autor gibt, aus dessen Perspektive alles noch einmal ganz anders aussehen würde.

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Friedrich Schlegel: Ideen Nr. 95. In: ders.: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe. Hrsg. von Ernst Behler. Bd. 2. Paderborn 1967, S. 265. Vgl. dazu Stephen Prickett: The Origin of Narrative. The Romantic Appropriation of the Bible. Cambridge 1996, bes. S. 180ff. Jean Paul: Flegeljahre. Sämtliche Werke. Hrsg. von Norbert Miller. Abt. I, Bd. 2. München 1975, S. 667.

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