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English Pages 200 [193] Year 2007
Hubertus Buchstein · Gerhard Göhler (Hrsg.) Politische Theorie und Politikwissenschaft
Hubertus Buchstein Gerhard Göhler (Hrsg.)
Politische Theorie und Politikwissenschaft
Bibliografische Information Der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
. 1. Auflage April 2007 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2007 Lektorat: Frank Schindler Der VS Verlag für Sozialwissenschaften ist ein Unternehmen von Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Druck und buchbinderische Verarbeitung: Krips b.v., Meppel Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in the Netherlands ISBN 978-3-531-15108-3
Inhalt
Hubertus Buchstein/Gerhard Göhler Einleitung der Herausgeber
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Hubertus Buchstein/Dirk Jörke Die Umstrittenheit der Politischen Theorie. Stationen im Verhältnis von Politischer Theorie und Politikwissenschaft in der Bundesrepublik
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Grit Straßenberger/Herfried Münkler Was das Fach zusammenhält. Die Bedeutung der Politischen Theorie und Ideengeschichte für die Politikwissenschaft
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Gerhard Göhler Theorie als Erfahrung. Über den Stellenwert von politischer Philosophie und Ideengeschichte für die Politikwissenschaft
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Thomas Risse Politische Theorie und Internationale Beziehungen. Zum Dialog zwischen zwei Subdisziplinen der Politikwissenschaft
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Peter Niesen Politische Theorie als Demokratiewissenschaft
126
André Brodocz Politische Theorie und Gesellschaftstheorie. Prolegomena zu einem dynamischen Begriff des Politischen
156
Bernd Ladwig Politische Theorie, politische Philosophie und Gesellschaftstheorie. Ein integrativer Vorschlag
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Autorenverzeichnis
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Hubertus Buchstein/Gerhard Göhler
Einleitung der Herausgeber
Politische Theorien gibt es bereits so lange, wie es die Politik als ein eigenständiges gesellschaftliches Phänomen gibt – spätestens seit der griechischen Antike in ihrem politischen ‚Könnens-Bewusstsein’ (Christian Meier), wenn man nicht schon weltliche Ordnungsvorstellungen des antiken Ägypten oder der jüdischen Tradition dazu rechnen möchte. Heute sind politische Theorien und die Beschäftigung mit politischen Vorstellungen und Erfahrungen der Vergangenheit in der politischen Ideengeschichte nicht nur geronnenes Kulturgut und Bestandteil der politischen Alltagskommunikation, sondern sie existieren auch als mehr oder weniger eigenständiger Bereich innerhalb eines akademischen Feldes, das in Deutschland in erster Linie von der Politikwissenschaft reklamiert wird. Unter der Bezeichnung „Politische Theorie und Ideengeschichte“ bildet sie in der Bundesrepublik Deutschland seit mehreren Jahrzehnten einen der vier fest etablierten Teilbereiche der Politikwissenschaft (neben der Innenpolitik, der Vergleichenden Politikwissenschaft und der Internationalen Politik). Die disziplinären Grenzen sind in einigen anderen Ländern zuweilen etwas anders gezogen – so ist in den USA die normative politische Theorie unter dem Namen „Politische Philosophie“ häufig auch im Fach Philosophie angesiedelt und in England haben wichtige Vertreter der politischen Ideengeschichte ihre Lehrstühle bei den Historikern. Gleichwohl wird Politische Theorie und Ideengeschichte auch international fest als eines der etablierten Teilgebiete des Faches Politikwissenschaft anerkannt. Der wissenschaftliche Etablierungsgrad von Politischer Theorie und Ideengeschichte in der Bundesrepublik Deutschland lässt sich nicht nur an der Zahl bedeutender Forschungen und Einzelpublikationen aus den vergangenen Jahrzehnten ablesen, sondern auch an einer Reihe weiterer Indikatoren. Die Subdisziplin beteiligt sich an eigenen internationalen Fachzeitschriften und Schriftenreihen, es gibt mittlerweile eine für Anfänger kaum mehr zu überblickende Anzahl an Einführungsbüchern und mehrere Nachschlagewerke zur Politischen Theorie und Ideengeschichte, und die Teildisziplin ist seit Jahren fest in den Lehrplänen politikwissenschaftlicher Studiengänge verankert. Auch personell hat sich die Teildisziplin in den vergangenen vierzig Jahren in Deutschland mit einem stabilen Anteil von zwölf bis 14 Prozent an den (lange Zeit sich vermehrenden) Professuren im Fach gut halten können (vgl. Arendes 2005: 134). In den USA konnte sie personell in den 1980er und 1990er Jahren anteilig sogar noch 7
erheblich zulegen.1 Angesichts des später viel zitierten Diktums von Peter Laslett aus dem Jahre 1956, die Politische Theorie sei „dead“, oder der von Isaiah Berlin 1961 besorgt gestellten Frage ‚does political theory still exist?’ ist dies insgesamt keine gering zu erachtende Erfolgsbilanz.2 Nun sind wissenschaftliche Disziplinen und Teildisziplinen bekanntlich keine für die Ewigkeit geschaffenen Terrains mit einem Anspruch auf Artenschutz, sondern müssen sich immer wieder neu in der Auseinandersetzung mit konkurrierenden Ansprüchen für wissenschaftliche Gebiete durchsetzen. Und wenn sich ebenso fest etabliert scheinende Teilgebiete der Politikwissenschaft wie das des ‚Regierungssystems der Bundesrepublik Deutschland’ aufgrund von offensichtlichen Veränderungen in ihrem Gegenstandsbereich – zum Beispiel durch die enge Einbettung des bundesdeutschen politischen Systems in das Mehrebenensystem der EU – in ihrem konzeptionellen Selbstverständnis und in ihren Beziehungen zu den anderen Teilen des Faches neu definieren müssen, dann kann auch die Politische Theorie und Ideengeschichte nicht von vornherein für sich einen sakrosankten Status reklamieren. Stattdessen muss sie – wie jedes andere Teilgebiet auch – ihre Rolle im kognitiven Profil der Disziplin immer wieder neu mit guten Gründen darlegen und gegebenenfalls mit Blick auf neue Entwicklungen anders zuschneiden. Eine gewisse Dringlichkeit erfährt diese Rollendefinition durch einen Faktor, der seinen Ursprung in der Bildungspolitik hat. Unter dem Namen ‚BolognaProzess’ wurde im Jahre 1999 von europäischen Bildungspolitikern unter anderem eine Vereinheitlichung der europäischen Hochschulabschlüsse vereinbart, was für viele Länder zur Folge hat, dass sie ihre bisherigen Studiengänge und -abschlüsse radikal verändern müssen. Auch in Deutschland ist dieser Prozess seit einiger Zeit heftig im Gange, und verständlicherweise wird auch in der Politikwissenschaft darüber spekuliert, welche Auswirkungen der Bologna-Prozess auf das zukünftige kognitive Profil der Disziplin und auf ihre einzelnen Teildisziplinen haben wird. Viele Politikwissenschaftler agieren in diesem Prozess immer noch als die Getriebenen und beobachten den gegenwärtigen Umbau der deutschen Universitätslandschaft mit einer Mischung aus Hoffen und Bangen. Manche Vertreter einiger Teilbereiche (z.B. Internationale Beziehungen) oder einiger Themenschwerpunkte (z.B. Europastudien) machen sich ganz offen große Hoffnungen auf eine personelle Expansion im Zuge der Etablierung neuer Studiengänge. In anderen Teilbereichen (z.B. Politisches System der Bundesrepublik, Vergleichende Politikwissenschaft) wird eher die Sorge geäußert, ihre Teilbereiche könnten zu den Verlierern der nächsten Jahre gehören. Und je nach 1 In den Vereinigten Staaten rechneten sich 1973 11,2 Prozent der Lehrenden im Fach dem Bereich ‚Political Theory’ zu, 1999 war diese Zahl auf 18,9 gestiegen (vgl. Grant 2006: 189). 2 Vgl. Laslett (1956) und Berlin (1961).
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Szenario werden dem wissenschaftlichen Nachwuchs ganz unterschiedliche Empfehlungen für die weitere Lebensplanung mit auf den Weg gegeben. Erste empirische Bestandsaufnahmen der neuen Studiengänge belegen, dass diese Spekulationen nicht unbegründet sind, weil der Aufbau der neuen BA- und MA-Studiengänge nicht nur Veränderungen im Lehrbetrieb, sondern auch Veränderungen in den Lehrinhalten nach sich zieht. Dies gilt vor allem für die wachsende Zahl hybrider Master-Studiengänge, die auf ein Thema fokussiert sind und dieses Thema dann in der Lehre interdisziplinär bedienen wollen. Erste inhaltliche Auswertungen der in Deutschland neuen Studiengänge haben ergeben, dass die Politische Theorie und Ideengeschichte als eigenständiger Teilbereich der Politikwissenschaft im Zuge der Bachelor- und Masterprogramme massiv in Bedrängnis gerät – eine Bedrängnis, die mit dem Qualifizierungsgrad des Studiums ansteigt. Würde man die gegenwärtige Entwicklung einfach unverändert in die Zukunft projizieren, dann gäbe es im Jahre 2030 fast nur auf BA-Ebene Lehrende für Politische Theorie und Ideengeschichte im bisherigen Sinne, während Theoretiker im MA-Bereich und in den geplanten Postgraduiertenstudiengängen bestenfalls einige wenige passförmige Module zum Studiengang beizutragen hätten (vgl. Buchstein/Fietz 2007). Diese Befunde sollten allerdings weder Anlass zur Larmoyanz aus den Reihen der Subdisziplin geben noch zu lautem Klagen über unbotmäßige Einmischungen der Bildungspolitiker führen – denn zum einen tut eine Vereinheitlichung der Studiengänge tatsächlich not, und zum anderen hätte es ohne vergleichbar massive Einmischungen von Bildungspolitikern vor fünfundvierzig Jahren weder die Expansion des Faches noch den damit verbundenen Ausbau der Polischen Theorie und Ideengeschichte gegeben.3 Angesichts der neuen Situation gilt einmal mehr die einfache Regel, dass sich die Politische Theorie und Ideengeschichte wie jedes andere Teilgebiet des Faches nicht einfach darauf ausruhen kann, dass sie bislang im Kanon des Faches eine eigenständige Rolle gespielt hat. Genauso wenig genügt der stolze Verweis auf den erreichten hohen Differenzierungsgrad innerhalb der Teildisziplin, um daraus abzuleiten, dass auch zukünftig alle Ressourcen bereitgestellt werden müssten, um diesen Prozess einfach weiter fortzuschreiben. Kognitive Ordnungen sind immer in Bewegung, und neben der intradisziplinären Differenzierung stoßen wir bei der Beobachtung von Wissenschaft auch auf Prozesse von interdisziplinärer Fusion oder transdisziplinärer Auslagerung, die nicht von vornherein aus Gründen der Tradition abgelehnt werden können. 3
Zu Beschlüssen der Kultusministerkonferenz der Länder Anfang der 1960er Jahre, die schulische Politische Bildung in Reaktion auf eine ganze Welle antisemitischer Hakenkreuzschmierereien massiv auszubauen und die Politikwissenschaft mit den entsprechenden Lehramtsstudiengängen zu betrauen vgl. Bleek (2001: 315ff.).
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Damit sind wir bei dem zentralen Thema dieses Buches: Es geht um das neu in Bewegung geratene Verhältnis der Politikwissenschaft als Disziplin auf der einen und der Politischen Theorie und Ideengeschichte als einer ihrer Teildisziplinen auf der anderen Seite. Wie ist gegenwärtig das Verhältnis der beiden Wissensfelder zueinander zu bestimmen und welche Konsequenzen ergeben sich aus dieser Analyse? Das Verhältnis hat mehrere Facetten:
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In inhaltlicher Hinsicht geht es zunächst um die Frage, was genau Bestandteil des Gegenstandsbereiches von Politischer Theorie und Ideengeschichte ist. Sollen zukünftig auch weiterhin normative Theorien dazu gehören – oder möchte man sie als ‚Politische Philosophie’ dem Fach Philosophie zuschlagen? Und wie steht es mit formalen Ansätzen, die aus der Ökonomie stammen, etwa Rational Choice? Welcher Kanon politischer Ideen soll von der politischen Ideengeschichte erforscht und in ihren Lehrbüchern präsentiert werden? Je nachdem, wie die Antworten auf diese Fragen ausfallen, ergeben sich daraus unterschiedliche inhaltliche Profilierungen der Politischen Theorie und Ideengeschichte. In disziplinärer Hinsicht geht es bei der Verhältnisbestimmung dann um die Frage, ob die Politische Theorie und Ideengeschichte weiterhin als eine (oder gar zwei) Subdisziplin(en) des Faches Politikwissenschaft verstanden werden soll oder ob es künftig besser wäre, sie als ein interdisziplinäres Wissensfeld zu definieren. Je nach dem, wie die Antworten auf diese Frage ausfallen, werden sich auch die Stellenbesetzungen für Professuren und Mitarbeiterpositionen im Bereich Politischer Theorie ändern. In konzeptioneller Hinsicht geht es schließlich um die Frage, wie das Verhältnis von Politischer Theorie und Ideengeschichte zu den anderen Teilgebieten des Faches gedacht wird. Wie beeinflussen sich Politische Theorie auf der einen Seite und die weiteren Teile des Faches auf der anderen Seite untereinander? Gibt es gemeinsame Lernprozesse, gehen Impulse von der einen in die andere Richtung und umgekehrt aus oder kapseln sich die Bereiche eher voneinander ab? In traditioneller Sicht – nicht nur in Europa, sondern auch in der Gründungsphase des Faches am Ende des 19. Jahrhunderts in den USA – wurde der Politischen Theorie eine ‚Königsrolle’ unter den disziplinären Subdisziplinen zugeschrieben. Diese Anmaßung ist heute obsolet. Doch welchen Stellenwert hat sie dann noch im Fach? Hier scheint sich fast schon das entgegengesetzte Extrem durchzusetzen: Theoriearbeit betreibt doch irgendwie jeder Politikwissenschaftler in seiner jeweiligen Subdisziplin, und deshalb bedarf es – abgesehen von einigen wenigen Ideengeschichtlern, die in ihrer Nische Traditionspflege betreiben – heutzutage nicht mehr einer autochthonen Politischen Theorie.
Alle drei Fragen rühren nicht nur am Kern der Identität der politikwissenschaftlichen Subdisziplin Politische Theorie und Ideengeschichte, sondern – je nachdem, wie die Antworten im Einzelnen ausfallen – sie berühren auch das Selbstverständnis der anderen Teildisziplinen im Fach sowie der politischen Philosophie und der Gesellschaftstheorie. Und alle drei Fragen stellen explizit oder implizit die Frage nach der grundsätzlichen Relevanz von Politischer Theorie und Ideengeschichte auch über das Fach und die Wissenschaft hinaus. Heute kann die Antwort auf die Relevanzfrage sicher nicht mehr die von Arnold Brecht aus dem Jahre 1959 sein, die „apokalyptische Schlacht Harmagedon“ zwischen Totalitarismus und Demokratie sei „in erster Linie eine Schlacht der Theorie“ (Brecht 1959: 21). Denn eine solche heroische Rollenzuschreibung würde die tatsächlichen Funktionen und Wirkungsmöglichkeiten akademisch betriebener Politischer Theorie hoffnungslos überschätzen. Realistische Antworten – auch und gerade für normative Theorieambitionen – lassen sich nur in sehr viel kleinerer Münze geben. In einem solchen Sinne produktiv auf die neu in Bewegung geratene Debatte über Status und Rolle der Politischen Theorie und Ideengeschichte zu reagieren ist das gemeinsame Ziel aller sieben Beiträge in diesem Buch. Den Auftakt macht ein Beitrag von Hubertus Buchstein und Dirk Jörke, in dem zunächst noch einmal an die verschiedenen Stationen im schon zu früheren Zeiten nicht immer einfachen Verhältnis zwischen Politischer Theorie und Politikwissenschaft in der Bundesrepublik erinnert wird. Entgegen der gern gepflegten fachhistoriographischen Legende war die Disziplin in ihrer Gründungsphase keineswegs von einer starken Politischen Theorie und Ideengeschichte dominiert. Auch später musste sich der Teilbereich immer wieder neu behaupten. Bis heute zieht sich durch all diese Debatten wie ein roter Faden die Frage, ob und inwieweit Politische Theorie über den Status einer rein sozialwissenschaftlichen Bereichstheorie hinaus eine eigenständige Funktion erfüllen soll und kann. Worin bei einer positiven Antwort auf diese Frage diese Funktionen im Einzelnen zu sehen sind, versuchen die Autoren in den Schlusspassagen ihres Beitrages mit der Benennung von drei spezifischen Reflexionsfunktionen deutlich zu machen. Folgt man den Überlegungen von Grit Straßenberger und Herfried Münkler, so muss man der Politischen Theorie und Ideengeschichte sogar die eigentliche Klammerfunktion für eine in verschiedene Richtungen auseinanderdriftende Politikwissenschaft zugestehen. In dem Maße allerdings, in dem die Politikwissenschaft sich im Zuge ihrer Szientifizierung von der geisteswissenschaftlich orientierten Politischen Theorie und Ideengeschichte distanziert, verliert sie nicht nur an interner Orientierung, sondern gibt eine zentrale Kreativitätsreserve des Faches auf: Denn die im Fundus der politischen Ideengeschichte aufbewahrten Theorien sind Theorien mit einer erwiesenen Erklärungs- und Wirkungskraft, die Anlass zur Vermutung geben, dass zumindest einige von ihnen auch heute von
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Bedeutung sein könnten. Folgt man Straßenberger und Münkler weiter, dann gewinnt die politikwissenschaftliche Analyse mit dem Erfahrungsschatz der politischen Ideengeschichte nicht nur historische Bodenhaftung, sondern auch die intellektuelle Sensibilität und Flexibilität, die für die Wahrnehmung und Lösung heutiger Probleme und Herausforderungen erforderlich ist. An dieser Stelle setzen Gerhard Göhlers Überlegungen zum Stellenwert von Erfahrungen in politiktheoretischen Reflexionsprozessen ein. In der politischen Theorie geht es zwar nicht selbst im unmittelbaren Sinne um Empirie, aber sehr wohl um deren theoretische Verarbeitung sowie um die Vorfrage, wie Empirie denn sinnvoll einzusetzen ist. Ausgehend von dieser Grundüberlegung entfaltet Göhler einen weiten Erfahrungsbegriff, der seinerseits den Ausgangspunkt für eine wissenschaftssystematische Neubestimmung des Verhältnisses von empirischer Forschung zur politischen Theorie, zur politischen Philosophie und zur politischen Ideengeschichte erlaubt. Letztlich sei es die politische Philosophie, die für viele der interessantesten Fragestellungen der politischen Ideengeschichte leitend ist und die die politische Ideengeschichte als Subdisziplin im Fach organisiert. Thomas Risse bezieht sich in seinen Überlegungen explizit auf Arbeiten Göhlers, die dessen Erfahrungskonzept gleichsam in theoretische Praxis umsetzen. Der dadurch entstehende Dialog zwischen den beiden Subdisziplinen ‚Internationale Beziehungen’ und ‚Politische Theorie’ ist zum einen deshalb instruktiv, weil er auf mögliche Schwachpunkte im Macht- und Institutionenverständnis auf seiten der Politischen Theorie aufmerksam macht. Zum anderen zeichnet Risse die bisherigen Entwicklungslinien in den Theorien internationaler Beziehungen nach und markiert die Punkte, an denen es auch bisher schon zu einem Austausch zwischen den Subdisziplinen ‚Politische Theorie’ und ‚Internationale Beziehungen’ gekommen ist. Verschiedene Diskussionen innerhalb der Subdisziplin Internationale Beziehungen nimmt Peter Niesen in seinem Beitrag zum Anlass, eine Renaissance der normativen politischen Theorie diagnostizieren zu können. Diese Renaissance geht einher mit einem verstärkten Interesse an Fragen der Demokratie und der demokratischen Gestaltung politischer Prozesse. Der plakativ mit ‚Politische Theorie als Demokratiewissenschaft’ überschriebene Beitrag hat zum Ziel, die Demokratie als paradigmatischen Kern der modernen Politischen Theorie auszuweisen, um dann von diesem normativen Punkt aus den Kontakt zu den anderen Nachbardisziplinen zu organisieren. Demgegenüber reagiert André Brodocz auf die Herausforderung, vor der sich die Politische Theorie aus der Perspektive einer an Niklas Luhmann geschulten Gesellschaftstheorie sieht: Wenn moderne Gesellschaften als in verschiedene funktionale Teilsysteme ausdifferenziert beschrieben werden, in denen
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die Politik lediglich ein Teilsystem unter anderen darstellt, dann kann man Politische Theorie genau genommen nur noch als eine Subtheorie von Gesellschaftstheorie betreiben. Brodocz weist nun die funktionalistische Diagnose nicht einfach als haltlos zurück, sondern verfolgt die Verortungen des Politischen bei neueren Autoren in der Tradition Luhmanns nach und gelangt dabei zu dem Befund, dass sich eine Art schleichender Einbruch des Politischen in ihrem radikalen Funktionalismus beobachten lässt. Aufbauend auf dieser Beobachtung skizziert Brodocz Überlegungen zu einem dynamischen Begriff des Politischen als kontinuierlichem Kampf um Kontinuierung in modernen Gesellschaften. Dass die Politikwissenschaft heute vor allem eine empirische Sozialwissenschaft ist, ist auch der Ausgangspunkt der Überlegungen von Bernd Ladwig im letzten Aufsatz dieses Bandes. Ladwig präsentiert darin einen Vorschlag, wie vor diesem Hintergrund politische Theorie, politische Philosophie und Gesellschaftstheorie sinnvoll miteinander integriert werden können. Unter Bezugnahme auf neuere Literatur zu Governance beschreibt er die moderne Gesellschaft als nicht permanent im Ganzen politische, aber potentiell vollständig politisierbare. Wo genau funktionale Differenzierungen und institutionelle Logiken verteidigt werden müssen und wo sie zum Zwecke der Herstellung oder Wahrung autonomer Lebensformen neu geschaffen oder wieder eingerissen werden müssen, ist eine Frage, die sich nur im Zusammenspiel der drei Komponenten sinnvoll beantworten lässt und für die er die normative Reflexionsfunktion der politischen Philosophie als unerlässlich erachtet. Die in diesem Band versammelten Beiträge gehen in der Mehrzahl auf ein Symposium zurück, das anlässlich der Verabschiedung von Gerhard Göhler vom Otto-Suhr-Institut der Freien Universität Berlin am 17. Februar 2006 unter dem Titel ‚Politische Theorie und Politikwissenschaft. Rolle und Perspektiven einer Teildisziplin’ veranstaltet wurde. Die ausgesprochen lebhaft und kontrovers geführte Debatte gab den Anlass, die Referenten zu bitten, ihre Vorträge schriftlich auszuarbeiten. Die weiteren Beiträge konnten zur thematischen Komplettierung des Bandes eingeworben werden. Dass das Buch in vergleichsweise kurzer Zeit fertiggestellt wurde, ist zunächst einmal den Autoren zu verdanken, die sich ohne Zögern gern und schnell bereit fanden, die erbetenen Ausarbeitungen vorzunehmen. Bedanken möchten wir uns aber ebenso bei Michael Hein vom Institut für Politikwissenschaft der Universität Greifswald, der die Hauptlast der redaktionellen Arbeit getragen hat. Greifswald und Berlin, im Februar 2007
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Literatur Arendes, Cord, 2005: Politikwissenschaft in Deutschland. Wiesbaden. Berlin, Isaiah, 1961: Does Political Theory Still Exist? In: Berlin, Isaiah, Concepts and Categories: Philosophical Essays. Hrsg. von Henry Hardy. Princeton 1999, 147–184. Bleek, Wilhelm, 2001: Geschichte der Politikwissenschaft in Deutschland. München. Brecht, Arnold, 1959: Politische Theorie. Die Grundlagen des politischen Denkens im 20. Jahrhundert. Tübingen 1961. Buchstein, Hubertus/Fietz, Stefan, 2007: Vom Verschwinden bedroht? Politische Theorie und Ideengeschichte in der curricularen Reformfalle. In: Österreichische Zeitschrift für Politikwissenschaft, Heft 1 (im Erscheinen). Grant, Ruth W., 2004: Political Theory, Political Science, and Politics. In: White, Stephen K./ Moon, Donald (Hrsg.), What is Political Theory? London, 174–192. Laslett, Peter, 1956: Introduction. In: Philosophy, Politics and Society. 1st Series. Hrsg. von Peter Laslett. Oxford, iiii–ix.
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Hubertus Buchstein/Dirk Jörke
Die Umstrittenheit der Politischen Theorie Stationen im Verhältnis von Politischer Theorie und Politikwissenschaft in der Bundesrepublik
Einleitung Der Blick auf die im Zuge des Bologna-Prozesses bislang entwickelten neuen Studiengänge an den bundesdeutschen Universitäten lässt für die zukünftige personelle Stärke und das Profil des Bereichs Politische Theorie und Ideengeschichte beträchtliche Veränderungen erwarten. Würde man die gegenwärtige Entwicklung unverändert in die Zukunft projizieren, dann – so lassen sich diese ersten Befunde zuspitzen – gibt es trotz Hochschulpakt von Bund und Ländern und möglichen anderen Maßnahmen zur Förderung der Forschung und Lehre an bundesdeutschen Universitäten im Jahre 2030 fast nur noch auf der Ebene des BAs in größerer Zahl Lehrende für Politische Theorie und Ideengeschichte, während sie im MA-Bereich lediglich mit einigen passförmigen Modulen zu den Studiengängen beitragen.1 Ein solches Szenario bedeutet zwar nicht, dass es zukünftig keine Politische Theorie mehr geben wird – Politische Theorien werden existieren, so lange es Politik gibt. Es würde aber doch zur Konsequenz haben, dass sich die akademisch organisierte Politische Theorie auf eine kognitive, institutionelle und personelle Ausdünnung an den deutschen Universitäten einstellen muss. Die aktuellen Schwierigkeiten der Politischen Theorie, sich im Konzert mit den anderen Teildisziplinen in der Bundesrepublik genügend Gehör zu verschaffen, sind aber nicht nur das Resultat aktueller Studiengangsplanungen. Sie sind auch ein Indikator dafür, dass es der Teildisziplin in jüngster Zeit offensichtlich immer weniger gelingt, ihre Rolle und Funktion im Rahmen des gesamten Faches so deutlich und überzeugend zu konturieren, dass eine Schwächung ihrer Position aus Sicht der anderen Subdisziplinen als großer Verlust wahrgenommen würde. An dieser Entwicklung ist die Politische Theorie selbst nicht ganz unschuldig. Die fast schon autistisch anmutende Selbstbezüglichkeit einiger Theoriedebatten in den beiden vergangenen Dekaden hat die Reputation des Teilbe1
Vgl. zu den aktuellen Befunden im Bereich der curricularen Entwicklung Buchstein/Fietz (2007).
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reichs im Fach sicher nicht unbedingt erhöht. Dies ist im Übrigen keine Besonderheit der bundesdeutschen Fachkonstellation – in den USA erheben führende Vertreter der Teildisziplin Vorwürfe an ihre Kolleginnen und Kollegen aus dem Bereich Political Theory, „[they] have become altogether too narcissistic over the past half-century“ (Shapiro 2004: 193) und sie hätten im Zuge der innerdisziplinären Professionalisierung eine „growing Balkanization of political theory“ (Brown 2004: 112) einer „alienation of Political Theory“ (Gunnell 1983, 1986) von den anderen Teilen des Faches wie der politischen Praxis zugelassen, in der sich Politische Theorien primär mit sich selbst beschäftigen.2 Hinzu kommt, dass der Teilbereich sich in der Bundesrepublik immer noch auf vergangenen Meriten wie der Initiierung des DFG-Sonderforschungsbereichs zur Theorie Politischer Institutionen und dem vermeintlich gesicherten Status im Kanon des Faches auszuruhen scheint. Diese Ruhe basiert auf langjährigen Gewissheiten – zu denen die Ansicht gehört, dass die Politische Theorie seit Gründung der Disziplin in der Bundesrepublik ihren festen Status hatte und diesen schon deshalb auch in Zukunft behalten wird. Doch die Entwicklung von wissenschaftlichen Disziplinen fragt nur sehr bedingt und selektiv nach Traditionen; es gibt bekanntlich keinen ‚Artenschutz’ für wissenschaftliche Disziplinen und oder Teildisziplinen. Diese bittere Erfahrung müssen derzeit gerade eine Reihe von Kollegen geisteswissenschaftlicher Fächer machen, die im Zuge der ‚Modernisierung’ der bundesdeutschen Hochschullandschaft an einigen Standorten regelrecht platt gemacht werden. Und zudem war die Politische Theorie und Ideengeschichte in der Historie der bundesdeutschen Politikwissenschaft sehr viel weniger unumstritten und arriviert gewesen, als es die seit den achtziger Jahren etablierte Kanonisierung mit den vier politologischen Subdisziplinen Politische Theorie und Ideengeschichte, Politisches System der Bundesrepublik, Vergleichende Politikwissenschaft und Internationale Politik vermuten lässt. Wir möchten deshalb im Folgenden zunächst die Grundlinien der wichtigsten theoriekonzeptionellen Konflikte in der Entwicklung des Faches insoweit nachzeichnen, wie sie auch für die heutigen Debatten noch prägend sind. Wir beginnen mit der Gründungsphase, weil sie – anders als es die fachhistoriographische Legende besagt – keineswegs von einer profilierten und starken Politischen Theorie und Ideengeschichte dominiert war (1). Die in dieser Ära geführten konzeptionellen Kontroversen über den Status der Politischen Theorie und die Richtungen Politischer Theorie intensivierten sich in den 1960er und 1970er Jahren, auch wenn nun der Politischen Theorie im Zuge der Expansion des Faches der Status einer offiziösen Subdisziplin zuerkannt wurde (2). Wie umstritten 2 Zur diesem Kritikmuster in den USA und England vgl. auch Rae (1981), Barry (1981), Ball (1991) und Galston (1993).
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ihre Rolle und Funktion im Fach ist, lässt sich auch an den Vorschlägen ablesen, die seit den achtziger Jahren bis heute vorgelegt werden, um das Feld der Politischen Theorie kategorial zu sortieren (3). Wie ein roter Faden zieht sich durch all diese Diskussionen die Frage, ob und inwieweit die Politische Theorie und Ideengeschichte über den beschränkten Status einer sozialwissenschaftlichen Bereichstheorie hinaus eigenständige Funktionen im Fach erfüllen soll und kann. Diese Frage steht letztlich auch im Zentrum der gegenwärtigen Studienreformdebatten, bei denen die Politische Theorie droht, auf den Rang von Ergänzungsmodulen für eine sozialwissenschaftliche Politikforschung zurechtgestutzt zu werden – dies ist zumindest ein Trend, der sich momentan in den Ausschreibungstexten für Theorie-Professuren in der Bundesrepublik verstärkt beobachten lässt. Demgegenüber verfechten wir eine Konzeption Politischer Theorie, die sich weder mit der Rolle einer Bereichstheorie noch mit der des gebildeten Hofnarren des Faches zufrieden gibt. Gefordert ist dafür aber eine Konzeption von Politischer Theorie, die ihre Berechtigung nicht nur aus dem Urteil ihrer eigenen akademischen Vertreter zieht, sondern die auch in der Lage ist, ihren spezifischen Beitrag für das gesamte Fach plausibel darzulegen. Eine Strategie, um dies zu erreichen, besteht darin, der Politischen Theorie inhaltlich einen paradigmatischen Kern anzusinnen. Peter Niesen argumentiert in seinem Beitrag für diesen Band in diese Richtung und schlägt für einen solchen teildisziplinären Fokus konkret den Demokratiebegriff vor. Unabhängig von der Frage, ob sich die Politikwissenschaft in der Vergangenheit tatsächlich als eine ‚Demokratiewissenschaft’ begriffen hat,3 birgt diese in normativer Hinsicht sicher attraktive Strategie allerdings die Gefahr, dass der Fokus auf Demokratie zu eng umrissen ist und damit – wenn auch ungewollt – dem Abbau der Teildisziplin eher noch Vorschub leistet. Wir möchten deshalb im letzten Abschnitt dieses Beitrages einen anderen Weg einschlagen und die unterschiedlichen Reflexionsfunktionen, die die Politische Theorie und Ideengeschichte im Hinblick auf das Fach als Ganzes, im Hinblick auf politische Alltagstheorien sowie im Hinblick auf das politische Urteilsvermögen ausübt, herausstellen und dadurch zugleich die elementare Bedeutung der Politischen Theorie für Politikwissenschaftler und Politikwissenschaftlerinnen deutlich machen (4).
3 Zu den in den 1950er und 1960er Jahren divergierenden Verständnissen der Politikwissenschaft als einer Demokratiewissenschaft vgl. Buchstein (1992: 15–21).
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Die Etablierung der Politischen Theorie in der Gründungsphase des Faches als pragmatischer Kompromiss
In der Gründungsphase der bundesdeutschen Politikwissenschaft kam das Fach ohne Definition von Politischer Theorie aus. Erst Recht findet man in den Gründungsdokumenten keine Einordnung der Politischen Theorie in eine wie auch immer geartete Kontur des neuen Faches. Auch nach Errichtung der ersten Lehrstühle sah es in den Folgejahren nicht besser aus. Sichtet man die Einführungsund Programmliteratur der ersten fünfzehn Jahre im Hinblick auf eine nähere Bestimmung von Politischer Theorie und ihrer positionellen Präzisierung im Kontext der Gesamtdisziplin, stellt sich diese Suche schnell als vergebliche Liebesmüh heraus. Dieser Befund ist allerdings wenig verwunderlich, wenn man sich die inneruniversitäre Umstrittenheit der damaligen Politikwissenschaft vor Augen hält. In den ersten Jahren des neuen Faches ging es zunächst einmal darum, einzelne Lehrstühle für Politikwissenschaft gegen das zum Teil vehemente Widerstreben der anderen Fächer durchzusetzen und weniger um eine epistemologische Konturierung der Disziplin und ihrer Teilgebiete. Das bedeutet allerdings nicht, dass es subkutan nicht doch gewisse Erwartungen an die Politische Theorie gab. Anhand Franz L. Neumanns für die Gründungsphase paradigmatischen Aufsatz Die Wissenschaft der Politik in der Demokratie von 1950 lässt sich dies illustrieren. Einerseits weist Neumann der Politischen Theorie im Rahmen des Faches weder eine eigenständige noch eine besonders kohärente Funktion zu. Bei der Schilderung des idealen Aufbaus eines politikwissenschaftlichen Instituts führt er (unter Berufung auf die Praxis an der Columbia Universität, an der er zu dieser Zeit lehrte) insgesamt sieben Lehrgebiete auf, unter denen die Politische Theorie in dem Gebiet „Politische Theorie und Allgemeine Rechtswissenschaft“ nicht einmal als eigenständiges Lehrgebiet platziert wird (Neumann 1950: 381). Andererseits richtet Neumann aber durchaus hohe Erwartungen an die Politische Theorie. Er sieht in ihr sogar das Teilgebiet, in dem sich das Schicksal der gesamten Disziplin entscheide. Wenn Politik der Kampf um Macht ist und Politikwissenschaft die Aufgabe hat, diese Kämpfe zu beobachten, dann hat sie auch die Aufgabe, bei diesen Kämpfen danach Ausschau zu halten, welche Machtgruppen „lediglich partikulare“ und welche „universale“ Interessen verfolgen. Hier kommt nun die „Rolle der politischen Theorie in der Wissenschaft der Politik“ (Neumann 1950: 391) ins Spiel, und damit das Problem, das Neumann nach eigener Aussage „persönlich am meisten beschäftigt“ (Neumann 1950: 391). Ihm zufolge liegt genau hier die „Aufgabe der politischen Theorie, der Theorie des Freiheitsbegriffes: die dichten Schleier der Propaganda zu durchstoßen und aufzuzeigen, welche Gruppen die Freiheit nicht nur im Munde führen, sondern durchzusetzen versuchen“ (Neumann 1950: 392).
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Eine politische Theorie die dies nicht tue, sei überhaupt keine politische Theorie, wie er es an anderer Stelle apodiktisch formuliert (Neumann 1953: 102). Auch bei anderen Gründungsvätern der Disziplin findet sich eine solche Diskrepanz zwischen der gering veranschlagten Bedeutung der Politischen Theorie in der offiziellen Fachpräsentation und den sehr viel höheren tatsächlichen Erwartungen an sie – genannt seien nur Ossip K. Flechtheim, Otto Heinrich von der Gablentz, Ernst Fraenkel, Arnold Bergstraesser, Dolf Sternberger, Theodor Eschenburg und Wolfgang Abendroth. Sehr viel konkreter fielen demgegenüber die Aufgabenzuschreibungen an die Politische Theorie seitens solcher Autoren aus, die von einer pointierten wissenschaftskonzeptionellen Grundhaltung aus argumentierten. In der Bundesrepublik waren dies Ende der fünfziger bis Mitte der sechziger Jahre zwei prononcierte Grundpositionen: die vor allem in Freiburg und München propagierte Renaissance der antiken praktischen Philosophie sowie der über die USA seinen Weg in die Bundesrepublik findende Behavioralismus. Die Schlüsseltexte für die praktisch-philosophische und behavioralistische Theoriekonzeption in Deutschland stammen beide von Autoren, die während der NS-Zeit in die USA emigriert waren und ihre eigenen Positionen dort in der Auseinandersetzung mit dem USamerikanischen Wissenschaftsbetrieb weiter ausformuliert hatten. Die Bücher von beiden wurden zunächst in den USA publiziert und erst aufgrund ihrer starken Resonanz ins Deutsche übertragen – Eric Voegelins Neue Wissenschaft von der Politik aus dem Jahre 1953 (erschienen in Deutschland 1959) und Arnold Brechts Politische Theorie aus dem Jahre 1959 (1961). Für Voegelin verdankt sich die „Schöpfung einer Politischen Wissenschaft durch Platon und Aristoteles“ deren „ontologische(r) Einsicht, dass der Mensch an allen Seinsbereichen, vom anorganischen bis zum geistigen teilhat“ (Voegelin 1953: 15). Politische Wissenschaft, so Voegelin, sei die „Suche nach der Wahrheit, betreffend das Wesen der verschiedenen Seinsbereiche“ (S. 22) und gelangt über diese optimistische erkenntnistheoretische These zur Schlussfolgerung, dass das Verständnis im Fach für die Ontologie neu erworben und die philosophische Anthropologie neu begründet werden müsse. Die Details des ambitionierten Voegelinschen Ansatzes mit seinen Stärken und Problemen sollen hier nicht weiter skizziert werden,4 mit Blick auf den Status der Politischen Theorie ist lediglich die Feststellung wichtig, dass im Voegelinschen Programm der politikwissenschaftlichen Wesenserkenntnis der Politischen Theorie in Gestalt der politischen Philosophie eine unangefochtene Leitfunktion zukommt. Diese Funktion ist so stark ausgeprägt, dass für andere Teilgebiete des Faches überhaupt kein eigensständiger Raum mehr bleibt. Auf Gedeih und Verderb sind sie allein 4
Vgl. aus der zahlreichen Sekundärliteratur Opitz (2007) mit weiteren Hinweisen.
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dem Urteil des politischen Philosophen ausgeliefert. Denn alle Teildisziplinen des Faches und alle dort gewonnenen Tatsachenerkenntnisse sind nur „insofern relevant, als ihre Kenntnis zur Erkenntnis des Wesens beiträgt“ (S. 22) – wobei die Relevanzentscheidung allein bei der Philosophie liegt. Die politische Philosophie operiert auf dem sicheren Boden einer Ontologie und Anthropologie, die von dem Wissen gespeist wird, dass „die menschliche Natur sich nicht ändert“ (S. 173). Deshalb kann auch nur sie die entscheidenden Fragen an die beteiligten Hilfswissenschaften stellen deren Antworten es ihr dann im Gegenzug erlauben, die „Ordnung der Geschichte […] theoretisch verständlich zu machen“ (S. 41). In der konkreten Durchbuchstabierung seines Ansatzes fusionieren Politische Wissenschaft und Politische Theorie dann auch zu einer untrennbaren Einheit: „Der Kern der politischen Wissenschaft ist eine noetische [im Sinne von rationale, H.B./D.J.] Interpretation von Mensch, Gesellschaft und Geschichte, die gegenüber der Ordnungskonzeption der Gesellschaft, in der sie sich jeweils ereignet, mit dem Anspruch kritischen Ordnungswissens auftritt“ (Voegelin 1966: 284). Die Politische Wissenschaft Voegelins wird zum Amalgam von politischer Philosophie mit politischer Ideengeschichte, und Voegelin erhoffte sich von einer so verstandenen Politischen Wissenschaft nichts weniger als eine Erneuerung des Wissenschaftsgefüges im Ganzen. Den äußeren Anlass für die Abfassung der ‚Neue(n) Wissenschaft der Politik’ hatte der Behaviorismus geliefert, der sich seit Anfang der 1940er Jahre in der US-amerikanischen Politikwissenschaft mit immer größerem Erfolg durchgesetzt hatte und dem die an Polemik nicht gerade sparsame Fundamentalattacke des damals noch in den USA lebenden Voegelins galt. Für die deutsche Situation ergab sich daraus eine kuriose Rezeptionskonstellation: Denn zuerst wurde in Deutschland die Kritik am Behaviorismus durch Voegelin, Leo Strauss und Hannah Arendt rezipiert und erst danach erfolgte die Auseinandersetzung mit den kritisierten Behaviorialisten. Andere zurückgekehrte Emigranten, die wie Ferdinand A. Hermens oder Arkardij Gurland dem Behavioralismus gegenüber aufgeschlossener waren, hatten ihn entweder zwanglos in ihre Forschungspraxis integriert oder im Rahmen ihres eigenen Ansatzes modifiziert ohne dies mit grundsätzlicheren Erwägungen zu verbinden. Ihren wirklichen programmatischen Eingang in die deutschsprachige Debatte fand die behavioristische Position deshalb erst mit der deutschen Übersetzung von Arnold Brechts voluminösen Buch ‚Politische Theorie’ im Jahre 1961, das gleich nach seinem Erscheinen in den USA von der APSA – der American Political Science Association – zum wichtigsten Buch des Jahres gewählt worden war. Unter Berufung auf Max Weber hatte Brecht bereits Ende der vierziger Jahre als wissenschaftstheoretische Grundposition im Sinne des von ihm propagierten „wissenschaftlichen Wertrelativismus“ konstatiert, „that intersubjective proof
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regarding the superiority of ultimate values, purposes, or ends over others is not possible in the sense of proof as applied in logic and natural sciences“ (Brecht 1947: 373). Aufgrund seiner Position an der New School for Social Research und später als Berater der US-Regierung und diverser Stiftungen hatte Brecht die ‚behavioristische Revolution’ schon mit ihrem sozialreformerischen Impetus seit Beginn der 1940er Jahre in den USA mit Zustimmung und Sympathie begleitet. In seinem Buch ‚Politische Theorie’ orientierte er sich strikt am mittlerweile ausformulierten behavioristischen Wissenschaftsverständnis, demzufolge alle ältere politische Theorie aus heutiger Sicht nichts anderes als Spekulation sei. Als Theorie dürfen nur intersubjektiv nachprüfbare Beobachtungssätze über empirische Kausalzusammenhänge wissenschaftliche Geltung beanspruchen. Brecht verwendet für diese Eigenschaft von Beobachtungssätzen die Bezeichnung „Transmissibilität“ (Brecht 1959: 31). Die wissenschaftliche Methode, die sich daraus für die Politologie ergibt, umfasst dann die folgenden Operationen: die Beobachtung, Messung und Deskription sinnlich wahrnehmbarer Phänomene der Politik sowie die daran anschließende induktive Generalisierung der beobachtbaren Tatsachen in Hypothesenform. Dann folgt die Erklärung von Einzeloder generellen Tatsachen durch eine hypothetische Aussage über mögliche Kausalzusammenhänge. Schließlich folgt als letzter Schritt die logische Deduktion von Implikationen aus behaupteten Hypothesen und damit verbunden die Prognose von Ereignissen nach Maßgabe der vorläufig bewährten Hypothesen. Wie schon bei den Bemerkungen zu Voegelin soll es auch hier nicht darum gehen, die behavioristische Position detailliert darzustellen und zu kritisieren.5 Lediglich die Rolle der Politischen Theorie in der behavioristischen Fachkonzeption soll dargestellt werden. Und diese Rolle ist gleichsam das prekäre Spiegelbild zur Voegelinschen Vision. Politische Theorie ist zum einen von allen normativen Ambitionen befreit.6 Zum anderen ist Politische Theorie streng genommen kein eigenständiges Teilgebiet des Faches mehr, sondern integraler Bestandteil einer jeden politikwissenschaftlichen Forschung. Theoretische Aussagen stehen in Form von Hypothesenbildung am Anfang jedes politikwissenschaftlichen Forschungsvorhabens und stehen dann wieder in Form von induktiv abgeleiteten Sätzen an seinem Ende. Politische Theorie wird damit zur abhängigen Variable der empirischen Politikforschung und verliert jeden eigenständigen Wert.
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Vgl. dazu Söllner (2006). Auch wenn Brecht am Ende seines Buches den Vorschlag macht, man solle auf empirische Weise zu ermitteln versuchen, ob es nicht möglicherweise invariante Vorstellungen über gerechte und ungerechte Zustände im menschlichen Fühlen und Denken aller Epochen gibt (Brecht 1959: 477ff.).
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Brecht wie auch Voegelin blieben immer in gewissem Sinne Außenseiter in der deutschen Politikwissenschaft.7 Doch gerade deshalb gelang es ihnen, mit explizit formulierten Extrempositionen gleichsam das Feld abzustecken, innerhalb dessen sich die Politische Theorie in den Debatten der späten fünfziger und frühen sechziger Jahren zu positionieren hatte. Denn im Ergebnis standen sich mit den Überlegungen von Voegelin und Brecht zwei Konzeptionen von Politikwissenschaft und von Politischer Theorie gegenüber, die letztlich nicht zu versöhnen waren. Beide reklamierten für ihre Fachkonzeption, sie sei die einzige, die das Prädikat ‚rational’ verdiene. Beide sprachen der jeweils anderen Seite die Wissenschaftlichkeit rundweg ab. Beide gelangten darüber aber auch zu völlig konträren Vorstellungen über den Gegenstand und die Funktion der Politischen Theorie. Aus den Überlegungen Voegelins folgt eine aus politischer Philosophie und politischer Ideengeschichte amalgamierte Politische Theorie, die den imperialistischen Zugriff auf den Rest des gesamten Faches und damit letztlich das gesamte Fach in einer grandiosen Fusionsoperation aufsaugt. Voegelins (vergebliches) Ansinnen im Jahre 1958, seinen Münchner Lehrstuhl mit der Widmung „für Politische Wissenschaften, Staatsphilosophie, Rechtsphilosophie und Geschichtsphilosophie“ auszustatten,8 illustriert diesen Anspruch auf plakative Weise. Streng genommen braucht es in Voegelins Konzeption ‚nur’ einer interdisziplinär operierenden Politischen Theorie als politischer Ordnungslehre, aber nicht der Politischen Wissenschaft mit ihren vielfachen internen Verästelungen. Die Überlegungen von Brecht, der die Heidelberger Politikwissenschaft mit seinen regelmäßigen Gastprofessuren prägen konnte, stehen dem diametral entgegen. Sie dementieren jeden sich auch nur ansatzweise regenden Eigensinn politischen Theoretisierens. Alle theoretischen Sätze sind entweder Beobachtungssätze, aus Beobachtungssätzen deduzierte Hypothesenaussagen, oder bestenfalls aus diesen deduzierten Hypothesen größerer Reichweite. Streng genommen braucht es in dieser Konzeption keiner Politischen Theorie, sondern lediglich der Politischen Wissenschaft, die es von der Natur der Sache her immer auch mit Theorie zu tun hat. Vor diesem Hintergrund ist die Nonchalance, mit der M. Rainer Lepsius mit diesem Problem umging, als strategischer Befreiungsschlag zu sehen. Seine im Auftrag der DFG 1961 verfasste Denkschrift Soziologie/Politische Wissenschaft ist das bis heute für die Definition und Zuordnung der disziplinären Teilgebiete der Politikwissenschaft wichtigste Dokument. Lepsius hatte sich in seinen vorbereitenden Arbeiten auf Gespräche mit damaligen Professoren, auf die Lektüre zeitgenössischer Studien- und Prüfungsordnungen sowie Erfahrungen mit dem US-amerikanischen Modell gestützt. Im Ergebnis schlug er für die Politikwis7 8
Vgl. Maier (2000: 144f.). Vgl. Maier (2000: 47).
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senschaft einen Mindestbestand von drei Professuren mit folgenden Kernbereichen vor: (1) Politische Theorie, (2) deutsche Innenpolitik und (3) Außenpolitik. Zur Politischen Theorie rechnete Lepsius die „Theorie der Politik“ (er nennt unter anderem „Prozesse und Organisation der politischen Willensbildung“, „Herrschaftssysteme“ wie auch „philosophisch-anthropologische Grundlagen der Politischen Wissenschaft“) sowie die „Geschichte der politischen Theorie“ („der Antike, des Mittelalters, und der Neuzeit“) als gleichberechtigten zweiten Bereich (Lepsius 1961: 110). Der Kunstgriff von Lepsius bestand darin, dass er die in der Brechtschen und der Voegelinschen Position zum Tragen kommenden Gegensätze einfach additiv vermengte und beider Anliegen nebeneinander zum Gegenstandsbereich der Politischen Theorie erklärte. Gleichberechtigt rangieren in der Fachaufteilung von Lepsius auch die drei Kernbereiche Theorie, Innen- sowie Außenpolitik untereinander. Sie sollen mit ihrem jeweiligen Eigensinn und in ihren Bezügen aufeinander die Einheit des Faches Politikwissenschaft gewährleisten, auch wenn die Art dieser Bezüge nicht näher spezifiziert wird. Aus einer dogmatischen Position hätte dem Vorschlag von Lepsius eigentlich nicht zugestimmt werden dürfen. Aber aus einer pragmatischen Sicht konnte man vorzüglich mit der neuen Trias leben: bedeutete sie doch einen erheblichen Stellenzuwachs für das Fach insgesamt9 und gab somit der Hoffnung Nahrung, bei der kommenden Stellenbesetzung das eigene Theorieverständnis praktisch durchsetzen zu können. Mit Blick auf die Debatten über den Status der Politischen Theorie kann die DFGEmpfehlung als ein echtes Kompromisspapier angesehen werden – mit dem unschätzbaren Vorteil für die Politische Theorie, dass diese nun auch wissenschaftspolitisch als eigenständiges und gleichberechtigtes Teilgebiet der Politikwissenschaft Anerkennung gefunden hatte. Und im Kontext einer insgesamt expandierenden Hochschullandschaft konnte dieser Kompromiss über Jahrzehnte eine befriedende Kraft entfalten. 2
Theoriebegriffe und Bereichstheorie
Tatsächlich fand die DFG-Empfehlung Eingang in die Entwicklungspläne des Wissenschaftsrates und wurde als Zielvorgabe für die bereits bestehenden und für die noch neu einzurichtenden Lehreinheiten maßgeblich. Aufgenommen wurde die Trias mit dem „Kerngebiet“ Politische Theorie auch in die Lehrerbildung, als die Kultusminister der Länder in ihrer Saarbrücker Rahmenvereinbarung über die Gemeinschaftskunde ein Schulfach kreierten, das die alte Staats9 1959 gab es insgesamt 21 Professuren für Politikwissenschaft in Deutschland. Die Zahl stieg in den nächsten beiden Dekaden auf 268 Professuren an (vgl. Arendes 2005: 194).
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bürgerkunde der Weimarer Republik ablösen sollte (vgl. Maier 1963, Bleek 2001: 315ff.). Zuletzt wurde diese Fachstrukturierung nach 1990 in den Empfehlungen des Wissenschaftsrates bei der Strukturierung der an den Universitäten Ostdeutschlands neu zu begründenden politikwissenschaftlichen Institute zum Ausgangspunkt genommen (vgl. Lehmbruch 2003). Mit dem Gutachten von Lepsius war der Status der Politischen Theorie als eigenständiges Teilgebiet des Faches gleichsam offiziös sichergestellt. Angesichts dieser Statusfestlegung schien es umso dringlicher, über die konsensorientierten und zum Teil bewusst vagen Formulierungen von Lepsius hinaus der Politischen Theorie eine trennschärfere Gegenstandsangabe und Funktionszuschreibung zuzuweisen. Einige der ersten Definitionsversuche aus den frühen sechziger Jahren sind in ihrer Hilflosigkeit fast schon anrührend zu lesen. So etwa, wenn im Jahre 1962 der Leiter der Abteilung Theorie der Politik am Berliner Otto-Suhr-Institut, Otto Heinrich von der Gablentz, ihre Aufgabe dahingehend beschreibt, dass sie zunächst „das gesamte politische Leben im Ablauf der Geschichte“ in Augenschein nimmt und dann die Aufgabe hat „all diese Elemente systematisch zu behandeln, sie in eine übersichtliche Ordnung zu bringen, damit nichts vergessen wird und sich die einzelnen Erfahrungen gegenseitig stützen“ (Gablentz 1962: 75). Die Theorie der Politik habe deshalb „wohl von allen Teilgebieten der politischen Wissenschaft die meisten Überschneidungen mit anderen Spezialwissenschaften“ von der Philosophie bis zum Verwaltungsrecht (Gablentz 1962: 76). Und weil dieser Horizont so umfassend sei, müsste ein Lehrstuhlinhaber auf diesem Gebiet sich nicht mit Spezialmethoden oder -fragen abgeben, sondern „ständig sein wissenschaftliches Handwerkszeug an der Analyse noch ungeklärter oder ambivalenter Gegenwartserscheinungen üben“ (Gablentz 1962: 77), sprich: in Ermangelung der übergreifenden Synthesekompetenz solle er Zeitdiagnostik als sein eigentliches Geschäft betreiben – wobei von der Gablentz ganz offensichtlich seine Kritik an der westdeutschen Politik der Adenauer-Ära als Modell vor Augen stand (vgl. Gablentz 1960). Sehr viel selbstbewusster und klarer war die Aufgabenzuschreibung, die Hans Maier 1964 vornahm. Ihm zufolge hat die Politische Theorie innerhalb des Faches die Funktion, eine „verbindende Klammer der einzelnen politischen Spezialdisziplinen“ darzustellen (Maier 1964: 270). Die konkreten Leistungen der Politischen Theorie bestehen in der „methodischen Orientierung des gesamten Forschungsbereichs“ der Politikwissenschaft und der „philosophischen Durchdringung des Forschungsmaterials“ (Maier 1964: 270). Dies kann ihr auf zweierlei Weise gelingen. Einmal in gut brechtscher Weise, indem sie „spezielle Arbeitsgebiete theoretisch zu generalisieren versucht“ – Maier nennt als Beispiele die Parteitheorie und die Theorie der internationalen Beziehungen. Zum anderen mit Voegelinschen Anklängen, indem sie „nach dem Bezug der politischen Ord-
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nung zum Daseinssinn des Menschen fragt und damit die politische Wissenschaft in einer umfassenden Anthropologie fundiert“ (Maier 1964: 270). Über diesen Weg kommt neben der politischen Philosophie auch die politische Ideengeschichte in das Teilgebiet hinein. Auch wenn die Darlegungen Maiers sehr knapp sind – sie ragen aus der gesamten bundesdeutschen politikwissenschaftlichen Literatur der ersten fünfzehn Jahre des Faches mit ihrer klar konturierten Gegenstands- und Funktionsbestimmung der Politischen Theorie heraus. Zudem ist Maier der erste, der der Politischen Theorie eine Klammerfunktion für das gesamte Fach zuschreibt, ohne daraus zugleich eine Suprematie zu schlussfolgern. Aber weder Maier, noch andere jüngere Lehrstuhlinhaber für Politische Theorie seiner Generation, wie Alexander Schwan oder Peter C. Ludz, versuchten in den folgenden Jahren, das Gebiet der Politischen Theorie ausführlicher konzeptionell zu umreißen. Nimmt man die Klammerfunktion von Maier zum Maßstab, dann ist es wenig überraschend, wenn Kurt Lenk zwanzig Jahre nach der Gründung des Faches nüchtern bilanzierte: „(D)ie deutsche politische Wissenschaft hat seit dem Ende des letzten Weltkrieges kaum nennenswerte eigene theoretische Ansätze hervorgebracht“ (Lenk 1968: 51). Lenk zufolge fänden sich bislang „noch keine Gesamtdarstellungen, die sich ausschließlich mit politischer Theorie beschäftigen, es sei denn, dass sie an frühere Theoreme anknüpfen, ohne sie wesentlich zu verändern“ (ebd.). Er verband diese Diagnose indes mit dem optimistischen Ausblick, dass die zukünftig wachsende Bekanntschaft mit dem internationalen Schrifttum sowie der Ausbau der Politikwissenschaft an den bundesrepublikanischen Universitäten zu der „Hoffnung berechtigt, dass sich in den kommenden Jahren auch bei uns die politische Theorie wieder als eigenständige Forschungsrichtung entwickeln wird“ (ebd.). Lässt man die damaligen Kontroversen Revue passieren, dann ist die geschilderte Grundsatzdebatte zwischen Voegelin und Brecht in ihrer Bedeutung für die weitere Entwicklung der Selbstverständnisse Politischer Theorie in der Bundesrepublik seit Ende der sechziger Jahre gar nicht zu überschätzen. Zwar hatten weder Voegelin noch Brecht eine wirklich überzeugende Konzeption Politischer Theorie zu bieten. Noch war es einer der beiden Positionen gelungen – von lokalen Geländegewinnen vielleicht abgesehen –, der Organisation des Lehr- und Studienbetriebs in der westdeutschen Nachkriegspolitologie ihren Stempel aufzudrücken. Aber dennoch konnten sich ihre Positionen als rivalisierende Begründungsmuster von Politischer Theorie behaupten. Zu ihrer weiteren Lebenskraft trug in den sechziger Jahren ihre Adelung als Theoriebegriffe der Politikwissenschaft entscheidend bei. Diese zuerst von Jürgen Fijalkowski (1961) für die Soziologie und dann in leichter Modifikation für die Politikwissenschaft erstmals von Wolf-Dieter Narr (1969) vorgenommene Einteilung in
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normativ-ontologische, empirisch-analytische und dialektisch-kritische Theorien ermöglichte es, die bisherigen Positionen als Teil einer paradigmenähnlichen wissenschaftskonzeptionellen Kontroverse zu verstehen. Für einen gewissen Zeitraum war diese Einteilung in die drei Theoriebegriffe sicher angemessen. Mit der Zeit wurde daraus aber eine Stilisierung, mit der die deutsche Politikwissenschaft in international vergleichender Sicht zunehmend zu einer Kuriosität geriet – letztlich zum Schaden der Politischen Theorie. Den empirisch arbeitenden Fachvertretern genügte es zu wissen, dass ihre Arbeit ebenfalls als Beitrag zur Theoriebildung in der Politikwissenschaft verstanden werden konnte. Und nach mehr als fünfundzwanzigjährigen theoriekonzeptionellen Kulissenschiebereien war scheinbar nicht viel mehr herausgekommen als die diplomatische Anerkennung von paradigmatischen Differenzen – letztlich aber nicht unbedingt zum Vorteil der Politischen Theorie. Denn vor dem Hintergrund des selbstbewussten Insistierens des Behavioralismus, mit seinen deduktiven Generalisierungen bereits Politische Theorie zu betreiben, entpuppte sich die Aufteilung in die drei Theoriebegriffe – wie wir im folgenden Abschnitt argumentieren werden – faktisch als ein Geländegewinn des empirischen Mainstreams der Politikwissenschaft. 3
Sortierung von Sortierungen: Zur Neutralität theoriekonzeptioneller Verortungen
Die tieferen Ursachen für die heutige Angreifbarkeit der Politischen Theorie von Seiten der sogenannten Bereichstheorien liegen in Versäumnissen seit den 1970er und 1980er Jahren begründet, als es der Politischen Theorie im Zuge des weiteren Ausbaus der Disziplin zwar gelungen war, ihren Anteil an Lehrstühlen an bundesdeutschen Universitäten zu behaupten, der bei stabilen zwölf bis 14 Prozent der Professuren im Fach lag (vgl. Arendes 2005: 134), es ihr aber selten glückte, wissenschaftskonzeptionell auf den Ausdifferenzierungsprozess der Disziplin anders zu reagieren als mit einer Abkopplung vom Restfach, interner Differenzierung und Selbstbeschäftigung. Mittlerweile herrschen über Objektbereich, Sortierung und Funktion der Politischen Theorie nicht nur im Fach, sondern auch unter der Vertretern der Subdisziplin auf den ersten Blick so gravierende Divergenzen, dass sie sich gar nicht oder nur in kaschierender Weise auf einen gemeinsamen Nenner bringen lassen. Dass diese interne Umstrittenheit der Politischen Theorie nicht als Zeichen kognitiver oder personeller Schwäche interpretiert werden muss, verdeutlicht der Blick in die USA, wo eine seit zwei Jahrzehnten stabil wachsende Subdisziplin in regelmäßiger Folge die Grundsatzfrage ‚What is Political Theory?’ stellt und
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regelmäßig ganz unterschiedliche Antworten darauf gibt.10 Und angesichts der vielfältigen Antworten sehen manche Autoren in den USA das Besondere der Politischen Theorie in ihrem eklektischen und pluralistischen Charakter (vgl. Vincent 2004: 207ff.). Versucht man dennoch, die einschlägige Literatur im Hinblick auf die darin vorgenommenen Objektbereichs- und Sortierungsvorschläge zu ordnen, wird deutlich, dass sich einige dieser Sortierungen durchaus mit theoriestrategischen Ambitionen verbinden. Die Sortierung der Sortierung erfolgt am einfachsten nach dem Prinzip der numerischen Gruppierung:
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Zu den Zweiteilungen gehört die vielfach rezipierte Dichotomie von John Gunnell, der zwischen einer Political Theory (mit großen P und T) als „subfield of the discipline of political science“ und einer kleingeschriebenen political theory als einem „more interdisciplinary body of literature, activity, and intellectual community“ (Gunnell 1983:3) unterscheidet. Eine ebenso fundamentale Unterscheidung ist die zwischen normativer und deskriptiver Theorie bei Klaus von Beyme (2000: 39) und in den Einführungswerken von Brodocz/Schaal (2006: 11) sowie Schaal/Heidenreich (2006: 25f) oder die analog gemeinte Unterscheidung zwischen politischer und politikwissenschaftlicher Theorie bei Patzelt (1993; 2003: 89ff.). Eine vierte Dichotomie nimmt eine Trennung zwischen narrativen und normativen Theorien vor (Rochlitz 2003). Die nächste Gruppe von Sortierungen arbeitet mit Trinitäten. So John Gunnell (1989), wenn er seit den späten sechziger Jahren „historical, normative and empirical theories“ als „official division“ innerhalb der Disziplin in den USA verfestigt sieht. Im bundesdeutschen Pendant zum amerikanischen state-of-the-discipline-report wird unterschieden zwischen (1) Meta-Theorie (inklusive Wissenschaftstheorie und Methodenlehre), (2) systematischen Theorien (im Sinne von Bereichstheorien) sowie (3) der Politischen Philosophie und Ideengeschichte (Falter/Göhler 1986). Andere Trinitäten sortieren nach empirischen, formalen und normativen Typen (Miller 1987, Buchstein 2004). Wiederum einen anderen Zugriff auf den Objektbereich der Subdisziplin nimmt die Unterscheidung zwischen Theorie als Erklärung, als Kritik und als Praxis vor (Meyer/Fricke 2003). Arthur Benz (1997) schließlich sortiert politische Theorien nach ihrem Abstraktionsgrad, ihrer Reichweite und ihrer Tiefenschärfe. Unter den Viereraufteilungen sticht aufgrund ihrer wissenschaftspolitischen Bedeutsamkeit natürlich die Auflistung hervor, die sich in den ErläuterunZuletzt in dem Sammelband White/Moon (2004).
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gen zur KMK-Rahmenrichtlinie zum Kernbereich „Politische Theorie und Ideengeschichte“ findet: Neben der „Politischen Theorie und politischen Ideengeschichte“ im engeren Sinne sind dies die Politische Philosophie, die Wissenschaftstheorie und die Fachgeschichte (vgl. Greven/Schmalz-Bruns 1999: 6). Eine andere Viereraufteilung setzt an den Aufgaben und Funktionen Politischer Theorie an: David Held (1991: 20) unterscheidet zwischen der philosophischen (im Sinne von normativ und begrifflich), der empirisch-deskriptiven, der strategischen und der historischen Aufgabenkomponente. Als letzte sei die Pentatomie Ulrich von Alemanns (1994, 1995) genannt: Zunächst listet er (1) Mikro-Theorien der Politik (wie Rational Choice), (2) Meso-Theorien (im Sinne von Theorien mittlerer Reichweite) und (3) Makro-Theorien (wie die Systemtheorie oder Becks Risikogesellschaft) auf. Mit der von ihm als Mega-Theorien (4) bezeichneten Gruppenvariante wechselt Alemann zufolge „die Dimension von eher wissenschaftlicher zu politischer Theoriebildung“ (1995: 191) und er rechnet zu ihr alle normativen Theorien. Die letzte Gruppe in der Sortierung Alemanns sind die Meta-Theorien (5), worunter er die Wissenschaftstheorie und Methodenlehre rechnet.
Diese Auflistung ließe sich mit etwas Fleiß verlängern.11 Doch schon jetzt ist unschwer zu erkennen, dass man von einer solchen Übersicht verbindliche Angaben weder zum Objektbereich der Politischen Theorie, noch zu ihrer internen Aufteilung oder zu ihren Funktionen für das gesamte Fach erwarten kann. Ersichtlich ist aber auch, dass letztlich keine der Sortierungen neutral ist. Alle Sortierungen erfüllen neben der angestrebten Übersichtsfunktion zugleich Exklusions- und Inklusionsfunktionen, die bis hin zu Okkupations- und Monopolisierungsanspüchen gehen können. Bereits David Miller (1987: 10) äußerte den Verdacht, dass es vor allem der „positivist view“ im Fach sei, der seine Aufteilung so vornimmt, dass er bei allen Sortierungsvarianten einen ganz bestimmten Dualismus durchhält. Es ist der Dualismus zwischen Theorie der political science und Theorie im Sinne von political philosophy, einem aus positivistischer Sicht „distinct enterprise“. Ganz in diesem Sinne sind bei Alemann die „politischen Mega-Theorien“, die „weltanschauliche Orientierung und normative Weltdeutung“ liefern, keine politikwissenschaftlichen, sondern „politische Theorien, aber deshalb nicht weniger ein Arbeitsfeld der Politikwissenschaft, das deren Entstehung und Entwicklung, deren Konsistenz und Kontinuität analysieren kann“ (Alemann 1995: 192). 11
Eine andere Fünferaufteilung nehmen Schmitz/Schubert (2006:15f) und eine Sechseraufteilung nahm Ludz vor (vgl. Falter/Honolka/Ludz 1990: 49); auf sogar fünfzehn „grundlegende Modelle“ kommt Reese-Schäfer (2006).
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Analog dazu nimmt auch Werner J. Patzelt die Unterscheidung zwischen politischer und politikwissenschaftlicher Theorie vor (2003: 443ff.).12 In solchen Unterscheidungsvarianten wird die normative Politische Theorie insofern subtil aus dem Bereich der Politischen Theorie ausgegrenzt, als sie dem Teilgebiet nur noch die Normenbeobachtung im Weberschen Sinne, nicht aber mehr die originäre Normengenese zumutet. So ist es denn auch wenig verwunderlich, wenn Autoren aus der empirischanalytischen Richtung empiristische Umdeutungsversuche der Politischen Theorie vornehmen. Die Reihe der einflussreichen Bücher erstreckt sich von Gerhard Lehmbruchs Einführung in die Politikwissenschaft (1967), über Klaus von Beymes bis heute mehrfach aufgelegten Die politischen Theorien der Gegenwart (1974ff.) bis zu Jürgen Hartmanns Bücher Wozu politische Theorie? (1997) und Einführung in die politischen Theorien der Gegenwart (2005) und intoniert in dieser Frage letztlich den gleichen Grundgedanken: Es gibt eine echte Politische Theorie, die einen Beitrag zum sozialwissenschaftlichen Selbstverständnis des Faches liefert und es gibt außerdem eine Vielzahl politiktheoretischer Reflexionen, die genau besehen aber gar keinen wissenschaftlichen Anspruch für sich reklamieren dürften, weil sie sich der empirischen Prüfung widersetzten. Für Klaus von Beyme, der mit seinen Einführungsbüchern und Lexikonartikeln dieses Bild von Politischer Theorie in der Heidelberger Tradition von Arnold Brecht in den vergangenen dreieinhalb Jahrzehnten ganz entscheidend prägen konnte, war wissenschaftliche politische Theorie immer in diesem sozialwissenschaftlichen Sinne zu verstehen (Beyme 1969, 1974ff., 1985). Dort, wo Beyme in späteren Arbeiten auch die Referierung neuerer normativer Theorien aufgenommen hat, geschah dies aus einer wissenssoziologisch interessierten Chronistenpflicht, in der Sache aber ohne jede Konzession gegenüber einem über sozialwissenschaftliche Bereichstheorien hinausgehenden Theorieverständnis (Beyme 1991, 1999, 2000, 2001).13 4
Die drei Reflexionsfunktionen der Politischen Theorie
Die aufgelisteten Sortierungsvorschläge drehen sich im Kern alle um die Frage nach dem epistemologischen Status einer Politischen Theorie, die sich nicht mit der Rolle und Funktion einer sozialwissenschaftlichen Bereichstheorie bescheiden will. In dieser Hinsicht kommt der Einsicht aus den diversen wissenschaftstheoretischen Debatten, dass sich die Unterscheidung zwischen einer wissen12
Dies ist auch das Ergebnis der Diskussion der „drei Theorie-Ansätze“ bei Berg-Schlosser/Stammen (2003: 101–107). Eine flammende Kritik solcher Charakterisierungen bietet Kersting (1999: 43ff.).
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schaftlichen Form der Theoriebildung und einer vermeintlich rein spekulativen, weil normativen, Form nicht aufrechterhalten lässt, tatsächlich wissenschaftsorganisatorische Bedeutung zu. Das Mantra dieser Debatten lautet, dass politikwissenschaftliche Praxis immer im Rahmen eines spezifischen Kontextes stattfindet und dass die Politikwissenschaft in modernen Gesellschaften einen (wenn auch zuweilen bescheidenen) Anteil an der Reproduktion der diesen Kontext stützenden grundlegenden Überzeugungen hat. Politikwissenschaft ist eine soziale Praxis, die eingebettet ist in ein Universum von Bedeutungen, Praktiken und unhinterfragten lebensweltlichen Selbstverständlichkeiten. Zugleich wirkt sie auf die Lebenswelt mit ihren Bedeutungen und Praktiken ein und trägt (mehr oder minder nachhaltig) zu deren Veränderung bei.14 Diese praktische Funktion lässt sich auch dadurch nicht zum Verschwinden bringen, dass man die Politikwissenschaft als einen spezifischen Kommunikationsmodus im Rahmen der Systemtheorie verstanden wissen will; denn auch eine systemtheoretisch inspirierte Deutung politischer Phänomene ist eben nur ein Deutungsangebot neben anderen und beeinflusst ihrerseits das politische Handeln. Um diese abstrakt anmutenden Formulierungen an einem Beispiel zu illustrieren: Die Globalisierung wird in ihren verschiedenen Facetten von der Politikwissenschaft nicht nur beobachtet, sondern sie wird von ihr auch in der Wissenschaftspraxis erfahren (Schmitter 2002, Schaal 2006: 529f.). Im Bereich der Politischen Theorie lässt sich als Anzeichen der damit einhergehenden Veränderungen bereits beobachten, dass die theoretischen Debatten sich zunehmend von nationalen Theorietraditionen lösen und immer weniger um Großtheorien und ihre Schöpfer kreisen, als um Theorieelemente und Ideenkomplexe, die den Theorietypus der „patchwork-theory“ (Parekh 1996: 512) entstehen lassen und mit der Hinwendung zum Kosmopolitanismus dem Fach zugleich eine neue Orientierung geben (vgl. Grande 2006). Auf die Frage, wo die Reflexion solcher oder anderer sich verändernder politikwissenschaftlicher Praktiken disziplinär anzusiedeln ist, gibt es durchaus unterschiedliche Antworten. Eine mögliche Antwort besteht darin, Politikwissenschaft mit Jürgen Habermas als empirisch angelegte Disziplin zu verstehen und die Reflexion ihrer Praxis der Soziologie zu überantworten (Habermas 1981: 18). Gegen eine solche Kompetenzverlagerung spricht weniger der disziplinäre Selbstbehauptungswille der Politikwissenschaft, sondern vor allem die Vermutung, dass eine von externer Seite betriebene Reflexionsfunktion in der Regel nur sehr abstrakte und grobmaschige Resultate erbringt und auch nicht in der Lage sein wird, innerdisziplinäre Resonanzen erzeugen.
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Zu dieser doppelten Hermeneutik politischer Vorstellungen vgl. Rosa (1998: 248–260).
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Unseres Erachtens ist es eine der Aufgaben der Politischen Theorie, diese Reflexionsfunktion im Fach wahrzunehmen und dem Fach dadurch zugleich eine Art disziplinärer Klammer anzubieten. In der einschlägigen Literatur gibt es eine Reihe verstreuter Überlegungen zu den reflexiven Funktionen der Politischen Theorie,15 und wir möchten im Folgenden nicht nur an einige dieser Überlegungen anknüpfen, sondern sie auch in ihrem gemeinsamen Bezug zur Gesamtdisziplin weiter ausbuchstabieren. Die sich aus einem Verständnis von Politischer Theorie als Reflexionsmedium der Politikwissenschaft ergebende Aufgabenstellung des Teilbereichs zielt dann auf drei Dimensionen:
einmal auf die Reflexion der theoretischen Grundlagen der Politikwissenschaft in ihren unterschiedlichen Teilgebieten (1); dann auf die Reflexion der politiktheoretischen Aspekte politischer Alltagsüberzeugungen, die in der Regel allenfalls einen impliziten Status haben (2); und schließlich auf die Reflexion politischer Handlungsoptionen (3).
4.1 Die fachinterne Reflexionsfunktion: Politische Theorie und die Grundlagen der Politikwissenschaft Die fachinterne Reflexionsform lässt sich vielleicht am Besten in Anschluss an einige Arbeiten darlegen, die Gerhard Göhler zum ersten Mal Ende der siebziger Jahre präsentierte (Göhler 1978a, 1978b). Göhler unterscheidet in seinen Überlegungen zunächst begrifflich zwischen zwei Praktiken in der theoretischen Beschäftigung mit politischen Phänomenen, die er auf die terminologische Unterscheidung zwischen „politischen Theorien“ (mit einem kleinen p und im Plural) und der „Politischen Theorie“ (mit großem P und im Singular) bringt. Unter politischen Theorien sind in einem ganz weiten Sinne alle wissenschaftlichen Formen zu verstehen, die für Problemstellungen und Resultate in der Politikwissenschaft generell angestrebt werden – in diesem Sinne stehen Theorien am Beginn und am Ende jeder politikwissenschaftlichen Aussage, ganz gleich in welchen Teilbereichen des Faches. Politische Theorie befasst sich demgegenüber „in erhöhter Abstraktionsleistung und explizitem und systematischen Einbezug von normativen Elementen schwerpunktmäßig mit den Grundlagen für Konzeptionen zur theoretischen oder praktischen Problemlösung in der Politikwissenschaft“ (Göhler 1978a: 12). 15
Solche Überlegungen finden sich in ganz unterschiedlichen ‚Lagern’ der Politischen Theorie. Vgl. Göhler (1978a), Lenk/Franke (1991: 18f.), Demiroviü (1995), Patzelt (2003: 447ff.), Münkler (2006).
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In Anschluss an Göhlers Überlegungen lassen sich mehrere konzeptionelle Schlussfolgerungen ziehen. Die erste betrifft das unmittelbare Betätigungsfeld einer solchen Konzeption von Politischer Theorie. Dieses Feld liegt ganz zentral in der Begründungsproblematik politischer Theorien, so wie sie in der Politikwissenschaft vertreten werden. Politische Theorien wollen in der Regel mehr leisten als bloße Narration oder Wiedergabe, denn sie reklamieren, spezifische Abstraktionsleistungen zu erbringen, die auf dem Wege der Auswahl und Verknüpfung von Teilaussagen zu übergreifenden Aussagen gebündelt werden, mit anderen Worten: sie erheben den Anspruch, ihre Aussagen auf besondere Weise begründen zu können. Solche Begründungen bestehen aus Verknüpfungen der hierfür relevanten Aussagen zum Zwecke der Nachvollziehbarkeit durch andere. Die Verknüpfungen können auf ganz unterschiedliche Weise erfolgen, sie ergeben ausformuliert eine Argumentationsfolge und sie treten in den geistes- und sozialwissenschaftlichen Fächern, wo punktuelle Einzelbegründungen in der Regel als nicht ausreichend angesehen werden, als komplexe „Begründungszusammenhänge“ (Göhler 1978a: 16) auf, das heißt als Strukturen wissenschaftlicher Argumentationen, die (in der Politikwissenschaft) von Kausalanalysen bis zur Rechtfertigung von Normen ein fast unbegrenztes Repertoire an zulässigen Aussagen umfassen können. Es würde an dieser Stelle zu weit führen, dass von Göhler zum Zweck der Begründungsanalyse in der Theoriesprache der siebziger Jahre vorgeschlagene „kybernetische Modell“ (Göhler 1978b: 144) in all seinen Einzelheiten zu skizzieren, es soll hier aber wenigstens auf drei Punkte aufmerksam gemacht werden. Erstens werden politische Theorien in diesem Modell in einer dynamischen Perspektive betrachtet, indem wissenschaftliche Aussagenkomplexe hinsichtlich ihres Grundlagen-, Transformations- und Wirkungsbereichs analysiert werden sollen. Zweitens werden in dem Modell auch das gesellschaftliche Umfeld sowie mögliche Rückwirkungseffekte wissenschaftlicher Resultate in den Grundlagenbereich berücksichtigt, und damit der enge Bereich der analytischen Wissenschaftstheorie überschritten. Und drittens schließlich hat das Modell über seinen analytischen Zugriff hinaus auch einen präskriptiven Gehalt, indem es den Blick auf argumentative Leerstellen und Inkonsistenzen lenken soll, um im Sinne der Habermasschen Logik des Diskurses jede „Stillstellung und damit Immunisierung von konstitutiven Elementen einer wissenschaftlichen Aussage“ der Kritik auszusetzen (Göhler 1978b: 153). Das allen drei Momenten zugrunde liegende Verständnis von Begründung ist also bewusst weit gefasst, um nicht bereits mit dem verwendeten epistemologischen Instrumentarium eine Engführung im Sinne des Logischen Empirismus zu präjudizieren. Der grundlegende und eigenständige Charakter der Politischen Theorie (mit großem P) als Begründungsanalyse besteht darin, diese Leistungen politischer
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Theorien (mit kleinem p) kritisch zu untersuchen. Die Begründungsanalyse als epistemologisches Projekt befasst sich mit der rationalen Rekonstruktion der Begründungszusammenhänge, aus denen politische Theorien jeweils bestehen. Sie setzt sich zum Ziel, alle ergebnisrelevanten Faktoren theoretischer Aussagen zu berücksichtigen, unabhängig davon, ob solche Faktoren in den jeweiligen Theorien hinreichend expliziert werden oder nicht. Zu diesem Zweck unterscheidet Göhler zwischen ausformulierten „manifesten Begründungszusammenhängen“ und nicht eigens ausformulierten „latenten Begründungszusammenhängen“, die überhaupt erst einmal herausgearbeitet werden müssen. Eine solche Begründungsanalyse bleibt natürlich nicht bei der Rekonstruktion stehen, sondern zielt letztlich auf die Beurteilung solcher Begründungszusammenhänge nach Konsistenzkriterien. Eine zentrale Rolle spielen in einer solch beobachtenden Untersuchungsperspektive die Komponenten des Grundlagenbereichs politischer Theorien. Zu solchen Grundlagen gehören die jeweils als relevant identifizierten Problemstellungen, die Daten und die angewandten Methoden. Speziell bei der Politikwissenschaft treten dann weitere Komponenten des Grundlagenbereichs von Begründungsleistungen als potentiell relevante Faktoren hinzu. Wissenschaftsintern sind dies in politischen Theorien das Menschen- und Gesellschaftsbild, die grundlegenden Akzentsetzungen für das Bild der Wirklichkeit, die Wert- und Zielvorstellungen für die Politik, die formalen Kriterien von Wissenschaftlichkeit, der Begriff des Politischen sowie Traditionsbezüge. Als wissenschaftsexterne Faktoren sind die Einflüsse gesellschaftlicher Interessen und Institutionen, die von der scientific community ausgehenden Normierungen sowie nicht zuletzt die psychischen Dispositionen des einzelnen Wissenschaftlers zu untersuchen. Der Grundlagenbereich verfügt in den Sozialwissenschaften zwar kaum über konventionalisierte Begründungsverfahren, ist aber zugleich von so eminenter Bedeutung für die Resultate, dass wissenschaftliche Prozesse vielfach bereits auf dieser Ebene faktisch vorentschieden werden. Eine zweite Schlussfolgerung, die sich aus dem Göhlerschen Ansatz gewinnen lässt, hat eine substantielle Pointe. Das vielfältige Tableau der Politischen Theorie von der formalen Analyse bis zur Wissenschaftssoziologie kann nur dann optimal genutzt werden, wenn diese Einzelbausteine nicht isoliert voneinander zu Theorien aufgeschichtet, sondern zu einer integrativen Fragestellung gebündelt werden. Die vielfältigen Ansätze und Methoden in der Politikwissenschaft sind dann nicht negativ als Symptome mangelnder wissenschaftlicher Durchdringung zu bewerten, sondern Ausdruck ganz unterschiedlicher Frageweisen, die jede für sich eine gewisse Berechtigung haben, aber mit Blick auf die Analyse von Begründungszusammenhängen zu einer umfassenderen Fragestellung integriert werden müssen. Eine solche Konzeption von Politischer Theorie
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umfasst dann nicht nur die formale Analyse sowie die im Fach etablierte politische Ideengeschichte und Politische Philosophie, sondern auch die mittlerweile nahezu marginalisierte Ideologiekritik und Wissenschaftstheorie in einem weiten, Post-Kuhnschen Sinne. Die dritte Konsequenz betrifft die Herausarbeitung der performativen Funktion der Politikwissenschaft. Nicht nur normative politiktheoretische Begriffe, auch eine sozialwissenschaftlich verfahrende Politikwissenschaft ist nolens volens an den Deutungskämpfen im politischen Raum beteiligt und nimmt somit an politischen Diskussionen und Auseinadersetzungen aktiv teil. Dies ist der Punkt, an dem die politische Begriffsgeschichte und die historische Analyse der changierenden Semantik politischer Termini über ihren musealen Status hinaus deutlich machen können, inwieweit das politische Vokabular einer Epoche bis in seine Grundbegrifflichkeiten von intentionalen Momenten durchdrungen ist. Dies lässt sich nicht nur für die sich über die Jahrhunderte wandelnden Begriffsverständnisse von mittlerweile älteren Termini wie ‚Freiheit’, ‚Diktatur’ oder ‚Demokratie’ zeigen. Auch aktuelle Begriffe aus den Bereichstheorien wie ‚Mehrebenensystem’, ‚Input-/Output-Legitimität’ oder ‚Good Governance’ sind theoretische Operationen, die nicht nur der Übersichtlichkeit für die empirische Forschung dienen, sondern sie sind Deutungsangebote, deren Akzeptanz oder Ablehnung handfeste politische Konsequenzen haben. Zum Aufgabenkatalog der Politischen Theorie gehört daher auch die Metareflexion über die Frage, „wer, wann und wie festlegt, was als eine politische Theorie, eine Idee oder ein Thema gelten kann“ (Demiroviü 1995: 205). Die Politische Theorie richtet ihr Augenmerk damit auf den Selektionsprozess relevanter Themen und Positionen. Sie thematisiert auf diese Weise gleichsam diskursanalytisch das Unbewusste politischer Kategorien und politischer Institutionalisierungen und macht diese mit dem Nachvollzug ihrer historischen Gewordenheit und damit auch ihrer Kontingenz der kritischen Revision zugänglicher. Kurzum: die Politische Theorie hat einerseits die Funktion, die Grundlagen politischer Theorien (im Sinne von Bereichstheorien) zu klären; anderseits kann sie aber auch von den Erkenntnisleistungen der Bereichstheorien profitieren und deren Ergebnisse modifizierend und weiterentwickelnd aufnehmen. So zielt diese Konzeption in einer Art Doppelbewegung auf einen Zugewinn der Politischen Theorie an disziplinärer Autonomie wie auch auf ihre Verknüpfung mit den anderen Teilbereichen des Faches. Politikwissenschaft und Politische Theorie rücken auf diese Weise wieder enger zusammen, können einander wieder wichtige Impulse geben, ohne dass die Politische Theorie im Gegenzug Abstriche von ihren normativen und ideengeschichtlichen Arbeitsgebieten machen muss.
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Die wissenschaftspraktischen Konsequenzen dieser Konzeption liegen auf der Hand: Politische Theorie soll sich nicht von den anderen Teilgebieten der Disziplin abkapseln und sich in neo-konstruktivistischer Manier in selbstreferentielle Diskurse flüchten, sondern selbstbewusst und offensiv die anderen Teilbereiche des Faches mit dem in ihrem Bereich generierten grundlegenden Fragen konfrontieren und zu diesem Zweck die gemeinsame Forschungspraxis forcieren, statt sie zu fürchten. 4.2 Die fachausgreifende Reflexionsfunktion: Politische Theorie und die Explikation politischer Alltagstheorien Eine weitere Reflexionsfunktion nimmt die Politische Theorie wahr, indem sie ihre Aufmerksamkeit auf die sogenannten Alltagstheorien der Politik richtet. Die Fragen, mit denen sich politische Theoretiker beschäftigen, sind letztlich die gleichen, auf die auch politische Akteure Antworten zu geben versuchen: Politische Theorien sind, so Ruth Grant, letztlich nicht mehr als eine „extension of a natural, daily activity” (2004: 185). Alltagstheorien der Politik basieren auf alltäglichen Erfahrungen und Problemwahrnehmungen, die natürlich voneinander differieren – und schon deshalb ist die Politische Theorie in pluralen Gesellschaften unverzichtbar, weil sie ein Medium der distanzierten Reflexion dieser unterschiedlichen Erfahrungen und Wahrnehmungen anbietet (vgl. McIntyre 1983). Dabei spielt es keine Rolle, ob es sich bei den politischen Akteuren um professionelle Politiker oder um Bürger in ihrer Rolle als „Gelegenheitspolitiker“ (Max Weber) handelt, die sich nur sporadisch an politischen Prozessen beteiligen. Ihre politischen Alltagsverständnisse – etwa über die Rolle des Staates, die Legitimität bestimmter Ziele oder politische Bedrohungsszenarien – sind allgegenwärtig und prägen politische Wahrnehmungsmuster und politisches Handeln. Die Formulierung und Reproduktion solcher politischen Alltagsverständnisse findet in der sozialen Alltagskommunikation ebenso statt wie in speziell politischen Kommunikationsformen, also parlamentarischen Debatten, politischen Feuilletons oder Diskussionsrunden im Internet. Die politischen Institutionen und Praktiken moderner Gesellschaften stehen in einem konstitutiven Zusammenhang mit politischen Normen und Ideen und sind daher auch als „a kind of language in which its fundamental ideas are expressed“ zu verstehen (Taylor 1978: 140). Was in dieser Sprache gesagt wird, verbleibt jedoch häufig in der Form des impliziten Wissens. Es ist weder systematisch ausgearbeitet noch hinsichtlich seiner Voraussetzungen und internen Kohärenz überprüft. Die Reflexionsfunktion der Politischen Theorie besteht an dieser Stelle zunächst im Sichtbarmachen von latenten politischen Deutungsschemata, die vielfach „abgesunke-
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nes Erbgut systematischen politischen Denkens oder gar politikwissenschaftlicher Theoriebildung“ sind (Patzelt 2003: 443).16 Politische Theorie geht dabei von der Annahme aus, dass es besser sei, dieses implizite Wissen „auszusprechen“ (Sternberger 1987:38), als es unausgesprochen und damit im Vagen zu lassen, denn auch implizites Wissen zeitigt natürlich praktische Folgen. Zugleich kann die Politische Theorie durch diese Sichtbarmachung zur Revision der normativen Strukturen des politischen Denkens beitragen, indem sie die Strukturen des vormals impliziten politischen Wissen unter Begründungsdruck stellt. Wenn Politische Theoretiker sich mit ihrer professionellen Kompetenz an politischen Diskussionen und Kontroversen beteiligen, tun sie damit zwar zunächst „nichts anderes als die im Argumentationsprozess beteiligten Bürger“ (Tully 2003: 15). Im Unterschied zu politischen Alltagstheorien reklamiert die Politische Theorie jedoch ein spezifisches professionelles Kompetenzprofil, das sich mit den Rollen ‚Interpret’ und ‚Platzhalter’ umschreiben lässt. Als Interpret fungiert die Politische Theorie insofern, als sie die mit spezifischen politischen Lösungsvorschlägen einhergehenden normativen Grundannahmen rekonstruiert und somit den Weg bahnt für eine umfassendere Diskussion über gesellschaftliche Zielvorstellungen. Im Unterschied zu politischen Akteuren, die unter unmittelbarem Handlungsdruck stehen, hat die Politische Theorie die Ressourcen, politische Alltagstheorien, ihre Semantiken und ihre Vorschläge gründlicher zu durchdenken und auf Schwachpunkte abzuklopfen, mögliche Widersprüche aufzuzeigen oder auf potentielle nicht-intendierte Folgen bestimmter Vorschläge aufmerksam zu machen. Zusätzlich leistet die Politische Theorie in ihrer Rolle als Interpret einen Beitrag zur Selbstaufklärung politisch Handelnder, indem sie die Genealogie ihrer politischen Traditionen, ihrer politischen Identitäten und deren Problematiken thematisiert. Erfüllen kann die Politische Theorie diese Interpretationsfunktionen freilich nur auf Basis eines breit angelegten Wissensfundus über politische Deutungsvarianten und auf Basis von Kompetenzen in der Analyse politischer Semantiken – Wissensbestände, die insbesondere im Bereich der Politischen Theorie und Ideengeschichte vermittelt werden. Als Platzhalter fungiert die Politische Theorie, indem sie die Distanzierung von unhinterfragten Praxis- und Problematisierungskontexten betreibt und auf möglichst konkrete Formulierung von normativen Alternativen drängt. Im gelungenen Fall trägt sie dadurch zu einer kognitiven Erweiterung demokratischer Diskurse bei. Die Politische Theorie zieht sich hier nicht auf die rekonstruktiv verfahrende Beobachterrolle zurück, sondern nutzt ihre fachlichen Kompetenzen als Kreativitätsreserve für neue politische Situationsdeutungen und für die For16
Vgl. als Beispiel einer solchen Analyse politischer Alltagstheorien Demiroviü (1994).
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mulierung von Handlungsoptionen.17 In diesem Sinne ist die normative Politische Theorie der Platzhalter eines Möglichkeitssinnes. 4.3 Die subjektive Reflexionsfunktion: Politische Theorie und Politische Urteilskraft In einer dritten Reflexionsfunktion zielt die Politische Theorie auf die Stärkung der politischen Urteilskraft. Die Politische Theorie unterscheidet hier zunächst nicht explizit zwischen Personen, die professionell als Politikwissenschaftler tätig sind, und Multiplikatoren der Politischen Bildung oder Bürgern, die sich mit politischen Fragen gedanklich auseinandersetzen wollen. Als Universitätsund Ausbildungsfach ist die Politikwissenschaft bezüglich der Schulung politischer Urteilskraft allerdings in besonderer Weise gefordert. Was genau ist mit der Fähigkeit zum politischen Urteilen gemeint? In der Literatur gibt es eine ganze Reihe von Versuchen, politische Urteilskraft konzeptionell zu umreißen.18 Trotz zahlreicher Unterschiede im Detail lassen sich zwei Komponenten herausschälen, die bei allen Konzeptionen politischer Urteilskraft im Mittelpunkt stehen und für deren Erwerb der Politischen Theorie und Ideengeschichte ein zentraler Stellenwert zukommt.
Zur politischen Urteilskraft gehört erstens die Fähigkeit, eine Distanz zur Unmittelbarkeit der jeweils gegenwärtigen politischen Wirklichkeit zu entwickeln. Gerade die normative Politische Theorie mit ihrem ideengeschichtlichen Fundus schützt davor, die jeweils vorgefundene politische Realität auf Seiten der Wissenschaft und in öffentlichen Thematisierungen politischer Phänomene lediglich deskriptiv zu verdoppeln (vgl. Euchner 1987). Von der Politischen Theorie geht im Hinblick auf konkrete politische Konstellationen, Ereignisketten und Handlungsmuster ein sanfter Druck aus, auf Distanz zur erdrückenden Unmittelbarkeit politischer Situation zu gehen. Die Politische Theorie kann auf dieser Ebene des politischen Urteilens also einen Beitrag zur Erweiterung der Freiheit des politischen Denkens und im Idealfall auch des politischen Handelns leisten. Zweitens gehört zur politischen Urteilskraft ein Gespür für konkrete Situationen, deren Ambivalenzen und angemessene Reaktionen. Situative Ungewissheiten sind in der Politik auch mit ausgefeilten sozialwissenschaftlichen
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Zu dem sich aus der Kreativität der Politischen Theorie ergebenden Veränderungspotential vgl. die Überlegungen von Rosa/Willems (1999: 452 ff.) und mit Blick auf die Ideengeschichte Münkler (2006: 178). 18 Die beste politiktheoretische Grundlegung im Anschluss an Hannah Arendt bietet Vollrath (1977).
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Methoden niemals restlos zu bewältigen, in jeder politischen Situation bleibt eine Restgröße an Unsicherheit und Kontingenz. Eine Politikwissenschaft, die auf der Basis von exakten wissenschaftlichen Daten eine sichere Prognose über zukünftige politische Ereignisse abgeben wollte, müsste scheitern und wird nach den post-behavioralistischen Eruptionen im Fach auch von keinem Kollegen ernsthaft mehr propagiert. Politikwissenschaft und Politik können bestenfalls nach Plausibilitäten fahnden und auf dieser Basis das politische Handeln beeinflussen. Für politisch Handelnde bleibt deshalb ein ausgeprägtes politisches Urteilsvermögen unerlässlich: „Judgement“ – so Grant – „is pecularily married to uncertainty. If we know, we would not need to judge“ (Grant 2004: 179). Zur politischen Urteilskraft gehört also die Fähigkeit des kreativen Umgangs mit politischen Problemstellungen, die Fähigkeit zur Infragestellung etablierter Denk- und Wahrnehmungsmuster. Sheldon Wolin hat schon vor längerer Zeit auf die Rolle der Politischen Theorie und insbesondere auf die Politische Ideengeschichte als essentieller Quelle dieser Fähigkeiten hingewiesen: „Vision [...] depends for its richness on the resources from which it can draw. These extrascientific considerations may be identified more explicitly as the stock of ideas which an intellectually curious and broadly educated person accumulates and which to govern his intuitions, feelings, and perceptions” (Wolin 1969: 1073f.). Wolin zielt damit auf Dispositionen, die wir im vorigen Abschnitt als Möglichkeitssinn bezeichnet haben. Dieser Sinn ist ein Ertrag intensiver Auseinandersetzungen mit unterschiedlichen und miteinander konkurrierenden politiktheoretischen Ansätzen, mit unterschiedlichen Zugängen zur politischen Welt und mit den darin zum Ausdruck kommenden Grundüberzeugungen – wie sie in ihrer größten Breite und Vielfalt heute vor allem in der Konfrontation mit der politischen Ideengeschichte vermittelt werden können. 5
Schluss
Die Politische Theorie und Ideengeschichte war in ihrer fast sechzigjährigen bundesdeutschen Fachhistorie immer wieder umstritten, musste sich ihren Platz im Fach stets neu erkämpfen und konnte sich nur zusammen mit den anderen Teildisziplinen der Politikwissenschaft weiter etablieren. Wenn die Politische Theorie derzeit im Zuge des Bologna-Prozesses einmal mehr unter Druck gerät, sollte dies also Niemanden in die Resignation treiben. Es gibt nun einmal keinen Artenschutz für akademische Teildisziplinen. Wissenschaftliche Felder müssen sich fortlaufend um ihre Anerkennung bemühen und gegebenenfalls neue Ant-
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worten auf neue Entwicklungen geben. Diesen Anerkennungsdruck spüren im Übrigen andere Teildisziplinen des Faches, fordern doch beispielsweise die gegenwärtigen Globalisierungsprozesse die traditionellen Bereiche Politisches System der Bundesrepublik und Vergleichende Politikwissenschaft in ihren kognitiven Feldern ebenfalls auf grundlegende Weise heraus. Wenn die Politische Theorie und Ideengeschichte nicht riskieren will, am Ende des gegenwärtigen Hochschulreformprozesses zu den großen Verlierern im Fach zu gehören, dann hilft es wenig, die Gefahren des momentanen Zustands nur zu beklagen, die Flucht in die Gesellschaftstheorie anzutreten oder sich beleidigt internen Selbstverständigungsdiskursen zu widmen. Stattdessen sollte die Politische Theorie mit sehr viel mehr Nachdruck als bislang deutlich machen, worin über empirische Bereichstheorien hinaus gerade angesichts der kognitiven Umbruchprozesse in den anderen Teildisziplinen ihr Beitrag für die weitere Entwicklung der Disziplin liegt. Diesbezüglich steht die Politische Theorie und Ideengeschichte besser da, als es manche aus der Teildisziplin wahrhaben wollen. Denn die Politische Theorie und Ideengeschichte kann in ihren reflexiven Funktionen die Rolle einer Klammer oder – wenn diese maritime Metapher erlaubt ist – eines Ankers einer Disziplin übernehmen, die vor dem Problem steht, dass ihre Wissensbestände zunehmend auseinanderdriften ohne deshalb gleich wieder in die Attitüde einer ‚Königsdisziplin’ zu verfallen. Je komplexer Politik wird und je mehr sich die Politikwissenschaft in ihrer Arbeit bemüht, dieser steigenden Komplexität mit politischen Theorien (im oben beschriebenen Sinne mit kleinem p und im Plural) gerecht zu werden, desto wichtiger wird die Funktion einer Politischen Theorie (mit großem P und im Singular), die diese Ambitionen reflexiv begleitet. Eine Politische Theorie, die lediglich auf die Rolle einer Zulieferin zu politikwissenschaftlichen Bereichstheorien reduziert wird, damit sie besser auf bestimmte Master-Programme ‚passt’, kann solche Reflexionsfunktionen nicht übernehmen, und es wäre ein ausgesprochen kurzfristiges Kalkül, wenn neu ausgeschriebene Theorie-Stellen zukünftig nach einem derartigen Muster besetzt würden. Um ihre Reflexionsfunktionen ausüben zu können, bedarf es einer Politischen Theorie, die den gesamten Bereich von der Politischen Philosophie über die Politische Ideen-, Begriffs- und Semantikgeschichte bis hin zur Wissenschaftstheorie und -politologie abdeckt und auch entsprechend personell ausgestattet ist. Die Resonanz der zukünftigen Studierenden ist einer auch zukünftig entsprechend gut ausgestatteten Teildisziplin ohnehin sicher: denn komplexe Gesellschaften, die eskalierenden Beschleunigungsprozessen unterliegen, produzieren nahezu unausweichlich einen steigenden Bedarf an normativem Orientierungs- und theoretischem Reflexionswissen.
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Grit Straßenberger/Herfried Münkler
Was das Fach zusammenhält Die Bedeutung der Politischen Theorie und Ideengeschichte für die Politikwissenschaft
Will man die Bedeutung der Politikwissenschaft für die Politik knapp benennen, so besteht sie darin, das prinzipiell risikoreiche Unternehmen politischen Handelns in kritischer Distanz wie engagierter Analyse zu begleiten. Politische Entscheidungen haben, auch wenn sie unter Zeitdruck gefällt werden und sich scheinbar nur auf die Lösung anstehender Probleme richten, Langzeiteffekte, die Rahmenbedingungen für zukünftiges Handeln abstecken. Obendrein werden die Entscheidungen selbst schon immer unter Bedingungen getroffen, die nicht konsequenzlos ignoriert werden können. Politikwissenschaft stellt in diesem Sinne auch eine Evaluation der Risiken dar, die mit politischem Handeln verbunden sind, die politischen Entscheidungen vorangehen und die aus ihnen erwachsen. Das Risiko ist nicht bloß eine Möglichkeit, mit der politisch Handelnde rechnen müssen, sondern ihr ständiger Begleiter: Politik ist ein Handeln, das sich grundsätzlich unter Bedingungen von Ungewissheit vollzieht und das diese Ungewissheit in ein kalkulierbares Risiko zu überführen sucht. Unter den Bedingungen notorischer Ungewissheit kann Politikwissenschaft die Politik nicht nur darauf vorbereiten, dass Gefahren anstehen – was in dieser allgemeinen Form ohnehin jeder kompetente Politiker weiß –, sondern kann auch bei der Antizipation und Analyse sowie der Bewältigung dieser Gefahren, also der Überführung in kalkulierbare Risiken, behilflich sein. Damit wird der Politischen Wissenschaft jedoch eine Qualität zugesprochen, die sie nur bieten kann, wenn über unmittelbare Ursache-Wirkung-Relationen und kleinteilige PolicyAnalysen hinaus die langen Wirkungszeiträume politischen Handelns und gesellschaftlicher Leitideen in den Blick genommen werden. Politische Theorie und Ideengeschichte stellt eine solche Perspektive bereit, besser gesagt, sie vermag dies, wenn sie diese Funktion selbstbewusst ausfüllt. Dazu ist es notwendig, dass sich Ideengeschichtler nicht nur als Archivare politischen Denkens verstehen, sondern das Archiv, in dem die Geschichte des politischen Denkens aufgespeichert und bewahrt wird, in ein Laboratorium überführen, in dem klassische politische Ideen und Theorien mit neuen Ingredienzien angereichert oder in einer bislang noch nicht getesteten Weise miteinander verbunden werden (vgl. Münk-
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ler 2003: 103 ff.). Der Gewinn für die Politik liegt darin, dass die Brauchbarkeit politischer Ideen vor ihrer realen Umsetzung intellektuell getestet werden kann; das Risiko für die Politische Theorie und Ideengeschichte liegt in dem Verspielen jener Distanz zum tagespolitischen Geschäft, die ihr reflexiv-kritisches Potential ausmacht. Denn je stärker eine politische Theorie durch die Probleme und Herausforderungen ihrer Zeit geprägt ist, desto geringer ist ihre Halbwertzeit. Die politische Ideengeschichte pflegt zur Balancierung dieser Risiken Texte mit hoher Halbwertzeit. Die riskante Verknüpfung von kreativer Archivpflege und innovativem Laboratorium hat die Politische Ideengeschichte in den letzten Jahrzehnten, zumindest in Deutschland, nicht in ausreichendem Maße praktiziert, weshalb sie sowohl innerhalb der Politikwissenschaft als auch in der öffentlichen Wahrnehmung sukzessive an Status und Aufmerksamkeit verloren hat. Die aktuell zu beobachtende Zuspitzung dieses Statusverlustes fällt gleichwohl in eine Zeit, in der die Politische Theorie und Ideengeschichte publizistisch so präsent wie kaum zuvor. Neben vielfältigen Überblickswerken zur Politischen Theorie und Philosophie, Einführungsbänden in zentrale Strömungen politischen Denkens wie zu einzelnen Autoren, die nicht zuletzt auf die Verschulung des Fachs durch die Einführung von BA- und MA-Studiengängen reagierend als qualitativ hochwertige Dienstleistungen gelten können,1 gibt es gerade in jüngerer Zeit eine Reihe bemerkenswerter Arbeiten, die das politikwissenschaftliche Analysepotential Politischer Theorie und Ideengeschichte anschaulich entfalten. Dazu gehören etwa die Arbeiten von Hubertus Buchstein zum Wahlrecht (2000), von Michael Th. Greven über „Die politische Gesellschaft“ (1999), von Herfried Münkler zu Kriegen (2002a, 2002b) und Imperien (2005), von Frank Nullmeier zum Wohlfahrtsstaat (2000) oder von Hans Vorländer zur Verfassung (1999).2 1 Zu nennen sind hier u.a. die von André Brodocz und Gary Schaal herausgegebenen Bände zu Politischen Theorien der Gegenwart (2002/2003), die in überarbeiteter und erweiterter Fassung gerade in zweiter Auflage erschienen sind (2006). Seit 2001 publiziert Henning Ottmann (2001–04) eine mehrbändige Ausgabe zur Geschichte des politischen Denkens. Eine Einführung in die Politische Theorie anderer Art, nämlich über einen begrifflichen Zugang, bietet der 2004 von Gerhard Göhler, Matthias Iser und Ina Kerner herausgegebene Band „Politische Theorie. 22 umkämpfte Begriffe“. Ein von Herfried Münkler und Marcus Llanque herausgegebenes Lehrbuch zur politischen Theorie (2007) unternimmt den Versuch, Textbestände quer durch die Ideengeschichte anhand von Leitbegriffen zu erschließen. 2 Darüber hinaus gibt es eine Fülle von Monographien, die sich zentralen Problemen politischen Denkens und ihres Wandels widmen, wie die Arbeit von Barbara Holland-Cunz (2003) zur Frauenfrage oder die Studie von Thomas Gutschker (2002) zu aristotelischen Diskursen. Besonders hervorzuheben ist zudem die in vier Bänden verfasste Geschichte des utopischen Denkens von Richard Saage (2001–03). Die Utopieproblematik wird hier im Rekurs auf ihr klassisches, auf Platon und Morus zurückgehendes Muster rekonstruiert, historisch kontextualisiert und mit Blick auf die innovative Kraft utopischer Entwürfe aktualisiert.
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Trotz dieser kaum zu bestreitenden wissenschaftlichen Produktivität und publizistischen Präsenz wird der Politischen Theorie und Ideengeschichte mehr denn je die Praxisrelevanz abgesprochen. Dieser Vorwurf kommt dabei zuvorderst nicht von der Geldgeberseite, also der Gesellschaft oder Öffentlichkeit bzw. ihren Sachverwaltern, den politischen Eliten, sondern wird vor allem innerhalb der eigenen Disziplin erhoben. Seit geraumer Zeit herrscht in der Politikwissenschaft mehr und mehr Konsens darüber, daß Theoriebildung auf mittlerer Ebene am angemessensten sei – und zwar in Hinsicht auf den Gegenstandsbereich, den Abstraktionsgrad wie die Reichweite und den Kontextbezug (vgl. Nohlen/Schultze 1995: 655). Politischer Theorie, die in systematischer Hinsicht die Potentiale politischen Handelns in spezifischen historisch-politischen Kontexten auslotet, wird zugunsten von Ordnungspolitiken und Policy-Analysen eine Orchideenfunktion zugewiesen: schön, aber selten (vgl. Schmalz-Bruns/Greven 1999). Bevor wir die Konsequenzen dieses Bedeutungsverlustes Politischer Theorie und Ideengeschichte für das Fach Politikwissenschaft diskutieren, wollen wir einige Ursachen benennen, warum es der Politischen Theorie und Ideengeschichte nicht gelungen ist, die zentrale Position zu behaupten, die sie in der Gründungsphase des Fachs innehatte. Von einigen kurzen Konjunkturen abgesehen befindet sie sich seit Ende der 1960er Jahren eher am Rande des Faches und spätestens seit der Umstellung der Universität auf BA- und MA-Studiengänge wird ihr selbst diese Position noch streitig gemacht. Dabei liegt gerade in der disziplinären Randständigkeit eine Chance, zur alten Zentralität unter den neuen Bedingungen moderner Wissensgesellschaften zurückzufinden. Wir werden zunächst in zwei Schritten die Geschichte und methodologische Aufstellung der politischen Theorie und Ideengeschichte kritisch skizzieren und anschließend an zwei Beispielen vorführen, wie politische Ideen für aktualisierende Sichtweisen fruchtbar gemacht und die dabei entstehenden Risiken kompensiert werden können. 1
Identität durch Wettbewerb: Methodenvielfalt als Chance
Ob die Politische Theorie und Ideengeschichte in der Gründungsphase des Fachs tatsächliche eine zentrale Rolle eingenommen hat, ist umstritten. In jedem Fall aber hat sie davon profitiert, dass der Politikwissenschaft im (westlichen) Nachkriegsdeutschland die Aufgabe zufiel, als „Demokratiewissenschaft“ zu fungieren, also mit dem bildungspolitischen Anspruch verknüpft war, die neuen Eliten der Bundesrepublik auszubilden. Zugute kam ihr dabei in besonderer Weise, dass die US-Amerikaner das Scheitern der Weimarer Republik und den Aufstieg
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des Nationalsozialismus wesentlich auf den deutschen Obrigkeitsstaat und die Vorherrschaft falscher politischer Ideen zurückführten. Der demokratische Neubeginn war so wesentlich einer der politikwissenschaftlichen Erziehung der Deutschen zur Demokratie, und zu dieser gehörte ganz selbstverständlich das kritische Studium der politischen Ideen und die Analyse ihrer Bedeutung für politische Bewegungen. Zudem waren die 1950er und 60er Jahre die Zeit der großen Auseinandersetzungen mit den -ismen, vom Nationalsozialismus bis zum Bolschewismus, die ideengeschichtlichen Arbeiten eine große öffentliche Aufmerksamkeit bescherten.3 Diese für die Politische Theorie und Ideengeschichte förderlichen Rahmenbedingungen, die sie sich nicht erstreiten musste, sondern die ihr geliefert wurden, änderten sich in dem Maße, wie sich seit den späten 1960er Jahren die Auffassung durchsetzte, für den Verlauf der deutschen Geschichte in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts seien weniger die Ideen als vielmehr die sozioökonomischen Strukturen ausschlaggebend gewesen. Mit dem Vordringen marxistischer Paradigma, die die praktische Relevanz von Theorien und Ideen überhaupt in Frage stellten, begann ein schleichender Bedeutungsverlust der Politischen Theorie und Ideengeschichte. Dieser Bedeutungsverlust wurde weiter forciert durch die aus ganz anderen Quellen gespeiste, nämlich am amerikanischen Vorbild orientierte Szientifizierung des Fachs. Der Rückzug war und ist unübersehbar. Das letzte der Theorie und Ideengeschichte gewidmete Sonderheft der Politischen Vierteljahresschrift, in dem der Forschungsstand bilanziert wurde, erschien vor mehr als zwanzig Jahren (Bermbach 1984). Zwar gab es in den 1980er und 90er Jahren immer wieder Versuche, diese Randständigkeit aufzubrechen, wie etwa Pipers Handbuch der politischen Ideen (1985–1993) zeigt, das freilich nur als ein disziplinübergreifendes Vorhaben zu realisieren war. Zudem erlebte die Politische Theorie und Ideengeschichte nach dem Ende der DDR mit der Neugründung des Fachs in den neuen Ländern im alten Konzept der vier Eckprofessuren (Theorie und Ideengeschichte, Innenpolitik/Politisches System, Außenpolitik/Internationale Beziehungen, Vergleichende Politikwissenschaft) ihren zweiten Frühling. Die sukzessive Marginalisierung konnte dadurch aber nur temporär aufgebrochen werden, und auch diese kurze Renaissance war wiederum eher den förderlichen Umständen als einer konzertierten Aktion geschuldet. Die Politische Theorie und Ideengeschichte in Deutschland hat es vernachlässigt, sich als Teildisziplin innerhalb der Politikwissenschaft und in ihrer Brückenfunktion zu anderen Disziplinen ein klares Profil zu geben und dieses konsequent gegenüber den Ansprüchen und Begehrlichkeiten anderer Mitbewerber um die begrenzten öffentlichen Mittel zu verteidigen. Während die anderen 3
Zu nennen sind hier insbesondere die Arbeiten von Kurt Sontheimer (1966) und Iring Fetscher (1987).
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Subdisziplinen kooperierten und darüber eine gewisse Identität entwickelten, dominierte in der Politischen Theorie und Ideengeschichte individuelle Eigenbrötelei. Es ist ihr in den vergangenen Jahren nicht gelungen, das Verhältnis zwischen politischen Strukturen und Bewegungen auf der einen sowie politischen Ideen und Theorien auf der andere Seite genauer zu bestimmen und über die Wege einer Relationierung von Theorie und Praxis in einen die Kohärenz dieser Teildisziplin befördernden Streit zu treten. In der Frage nach dem Verhältnis von politischer Theorie und praktischer Politik nämlich liegt die Bedeutung der politischen Theorie und Ideengeschichte im Fach Politikwissenschaft (Münkler 1999a: 22f.). Die Zentralität der Frage nach dem Verhältnis von politischer Theorie und praktischer Politik oder genauer nach der Relationierung des Verhältnisses von theoretischer Innovation, gesellschaftlicher Selbstauslegung und politischer Ordnung für die Rolle der Politischen Theorie und Ideengeschichte in der Politikwissenschaft erfordert eine verstetigte methodische Diskussion darüber, welche Wirkungen politische Ideen, Begriffe oder Konzepte besitzen und wie diese rekonstruiert werden können. Wiewohl diese Diskussion in Deutschland nicht kontinuierlich und im Hinblick auf ihre methodische Absicherung geführt worden ist, lassen sich eine Reihe unterscheidbarer Ansätze ausmachen, wie die Wirkung von Theorie für Politik und Gesellschaft begriffen und methodisch fundiert werden kann. Als mittlerweile dominant hat sich der diskursive Ansatz der Cambridge School um John Pocock und Quentin Skinner erwiesen. Im Gegensatz zu Vorstellungen eines zeitunabhängigen Beitrages der Klassiker politischen Denkens zur politischen Theorie, wie sie in unterschiedlicher Weise von Leo Strauss, Eric Voegelin und Dolf Sternberger mit Rekurs auf Platon bzw. Aristoteles entwickelt wurden, ist Skinner der Auffassung, dass die Bedeutung eines politischtheoretischen Textes nur dann adäquat erfasst werden kann, wenn seine Kernaussage in dem diskursiven und ideologischen Kontext analysiert wird, in dem er entstanden ist. Nicht die in der klassischen Ideengeschichte eines Friedrich Meinecke favorisierte Diachronie der großen Denker, sondern die synchrone Textproduktion bildet danach den Kontext der Analyse. Während Meineckes selektive Herangehensweise, sein offensives Eingeständnis, Ideengeschichte als eine Art Gipfelgespräch der großen Geister zu betreiben, als Beispiel dafür gelten kann, wie das ideengeschichtliche Archiv auf der Suche nach Lösungen für Probleme und Herausforderungen der je eigenen Zeit durchforstet wird (beispielhaft Meinecke 1957 und 1969), steht Skinner für die semantische Erschließung des diskursiven Umfeldes der Theoriearbeit einzelner Autoren (Llanque 2004: 35). Diese Fokussierung auf die politische Sprache und die Bedeutung ihres Wandels ist im deutschsprachigen Raum nicht nur Gegenstand metatheore-
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tischer Diskussion gewesen (vgl. Rosa 1994, Ottow 2002, Palonen 2004; vgl. auch Palonen 2003), sondern der diskursanalytische Zugang ist auch aufgegriffen und weitergeführt worden, wie die Studien von Peter Nitschke (2000) zur politischen Ideengeschichte der „Prämoderne“, von Marcus Llanque (2000) zum demokratischen Denken im Ersten Weltkrieg oder von Thomas Gutschker (2002) zu aristotelischen Diskursen im 20. Jahrhundert zeigen. Methodische Nähen hat Skinners Konzentration auf die politische Sprache zur Begriffsgeschichte, wie sie in Deutschland von den 1970er Jahren an vor allem von Joachim Ritter und Reinhart Koselleck betrieben wurde – mit dem Unterschied, dass bei Koselleck die Veränderungen der Begriffe im Zentrum der Analyse stehen, bei Skinner hingegen der absichtsvoll agierende Theoretiker und sein „ideologischer“ Umgang mit Begriffen (Mehring 1999). Auf die Rolle des Theoretikers als Täter hat auch die genealogische Methode verzichtet, die von Michel Foucault und seiner Schule verfolgt wird. Zentral ist hier der Status des Wissens als verdichtetes und autorisiertes Strukturmerkmal einer Gesellschaft, das auf die Herausbildung gesellschaftlicher Selbstdeutungen einen maßgeblichen Einfluss ausübt. Im Gegensatz zu Skinner werden Texte nicht als „Dokument“, sondern als „Monument“ gelesen, sind also nur aus ihrem eigenen Schwergewicht, ihrer Monumentalität heraus zu begreifen. Nach der Verabschiedung des Subjekts als intentionaler Autor und Urheber seiner Handlungen wird der (wissenschaftliche) Diskurs über die Standards der jeweiligen Zivilisation zum eigentlichen Medium, in dem sich Macht konstituiert (Llanque 2004: 45f.). Sowohl Foucaults Kritik der (traditionellen) Ideengeschichte als auch die Cambridge School haben der politischen Ideengeschichte in Deutschland wichtige Anstöße zur methodologischen Neukonturierung gegeben. Die seit den 1990er Jahren vermehrt angewandte Diskursanalyse ist, wo sie methodologisch reflektiert vorgenommen wird, vor allem durch die Cambridge School oder die Arbeiten Foucaults inspiriert.4 Eine eigene methodische Tradition hat sich in Deutschland jedoch nicht ausgebildet, wenn man von Kosellecks Arbeiten zur Begriffsgeschichte sowie den von ihm, Otto Brunner und Werner Conze herausgegebenen „Geschichtlichen Grundbegriffen“ absieht, die bei den Historikern und eben nicht als politikwissenschaftliches Programm organisiert worden sind. Schließlich sind noch zwei Stränge Politischer Theorie und Ideengeschichte zu skizzieren, die sich in bisweilen offensiver Kritik zueinander entwickelt ha4
Resonanz fand die diskursive Analyse unter anderem in den Arbeiten von Matthias Bohlender (1994) zur Rhetorik der politischen Sprache, von Klaus Lichtblau (1999) zur Ideengeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts sowie in einem umfassend angelegten Projekt der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, das Konstitution und praktische Relevanz des Gemeinwohlbegriffs in Form politischer und gesellschaftlicher Diskurse analysiert; vgl. Münkler/Bluhm (2001). Zu Foucaults unkonventioneller Verknüpfung von Zeitdiagnostik, Diskursanalyse und Archäologie vgl. auch Bohlender (2006).
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ben: Gemeint ist der hermeneutisch-interpretative Ansatz der politischen Theorie bzw. Philosophie, wie er von deutschen Exilanten in Amerika – Leo Strauss, Eric Voegelin und Hannah Arendt – sowie in Deutschland von Joachim Ritter und seinen Schülern (vgl. Hacke 2006) auf der einen und der Frankfurter Schule auf der anderen Seite praktiziert worden ist. Erstgenannte wendeten sich gegen die wissenssoziologische Ausformung von Ideengeschichte in der Tradition Karl Mannheims und Antonio Gramscis. Über die Einbeziehung sozialer Lagen und politischer Konflikte als formative Rahmungen für die Entstehung, Rezeption und Durchsetzung politischer Ideen ist es Mannheim und Gramsci gelungen, politische Ideengeschichte stärker als einen Kampf sowohl der Interessen als auch der Wertbindungen zu konzipieren, der nicht nur mit physischer Gewalt, sondern auch mit Ideenentwürfen ausgetragen wird (Lenk 1986). Das Problem der wissenssoziologischen Herangehensweise liegt freilich darin, dass sich politische Ideengeschichte sukzessive in eine Geschichte der politischen Ideologien verwandelt und dabei die Frage nach den Ideen zugrunde liegenden Interessen und deren Durchsetzungsmacht die nach der Wahrheit von Erkenntnissen und Ideen mehr und mehr verdrängt hat (Münkler 2003: 117). Dagegen haben Philosophen wie Leo Strauss und Joachim Ritter, aber auch Dolf Sternberger aufbegehrt und auf der überhistorischen Geltung politischer Theorie bestanden.5 Ihr hermeneutisch-interpretativer Ansatz war auf die Begründung des exemplarischen, kontextunabhängigen Charakters ausgewählter politischer Ordnungsentwürfe gerichtet. Den Bezugspunkt bildete dabei vor allem die Antike. In dieser Tradition einer hermeneutisch-narrativistischen Revitalisierung sind auch Neoaristoteliker wie Hannah Arendt oder in jüngerer Zeit Michael Walzer, Alasdair MacIntyre und Martha Nussbaum zu sehen. Insbesondere die Aristoteles-Rezeptionen von Arendt, Walzer und Nussbaum stehen dabei für einen Typus von Public Philosophy, der sich jenseits der Unterscheidung von esoterischem und exoterischem Wissen bzw. einer elitenfokussierten Adressierung, wie sie vor allem Strauss favorisierte (vgl. Kauffmann 2000), primär an den Bürger wendet (vgl. Straßenberger 2005a). Die Annahme, dass antikes politisches Denken nicht nur Potentiale für eine kritische Reflexion der Moderne bereithält, sondern unter Rekurs auf die Antike auch handlungsorientierende Vorbilder gewonnen werden könnten, hat die Frankfurter Schule immer vehement bestritten und den Versuch dazu als ein konservatives, allein auf Kompensation statt Kritik setzendes und folglich affirmatives Theorieprogramm verworfen. Paradigmatisch dafür steht das Diktum von Jürgen Habermas: „Die Moderne kann und will ihre orientierenden Maßstä5 Hinzuweisen ist hier vor allem auf die Monographien Harald Bluhms zu Leo Strauss (2002) und Jörg Panniers Studie zu Sternbergers aristotelischem Politikbegriff (1996). Beide Arbeiten erschienen in der inzwischen neunzehn Bände umfassenden Reihe „Politische Ideen“.
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be nicht mehr Vorbildern einer anderen Epoche entlehnen, sie muß ihre Normativität aus sich selber schöpfen. Die Moderne sieht sich, ohne die Möglichkeit der Ausflucht, an sich selbst verwiesen“ (Habermas 1985: 16). Die Ideengeschichte hat folglich in den Arbeiten von Habermas wie bei den Autoren der Kritischen Theorie nur eine sehr geringe Rolle gespielt. In ihrem Anspruch eines intervenierenden Denkens im Interesse menschlicher Emanzipation und gesellschaftlicher Befreiung aber hat sie auf die Frage- und Problemstellung der Politischen Ideengeschichte einen erheblichen Einfluss ausgeübt – und sei es nur in der Form, dass die einzelnen Kapitel der Ideengeschichte nach ihrem jeweiligen Beitrag zur menschlichen Befreiungsgeschichte befragt wurden (Münkler 2003: 122f.). Jüngere Arbeiten, wie die von Rainer Forst (2003) zum Toleranzbegriff oder die systemtheoretische Variation der Kritischen Theorie, die Hauke Brunkhorst (2000) mit seiner Einführung in die Geschichte politischer Ideen vorgelegt hat, verweisen jedoch darauf, dass Ideengeschichte und normative politische Theorie bzw. Philosophie durchaus mit systematischem Gewinn zu verkoppeln sind. All diese durchaus ermutigenden konstruktiven Versuche, den Einfluss der Ideen auf die politische Praxis nicht nur zu behaupten, sondern auch methodisch zu reflektieren, können nicht darüber hinwegtäuschen, dass diese Ansätze entweder voneinander apart oder in polemischer Opposition zueinander entwickelt und praktiziert wurden. Zwar zeigen gerade die Tagungsthemen der Sektion Politische Theorien und Ideengeschichte in der Deutschen Vereinigung für Politische Wissenschaft und die daraus entstandenen Sammelbände, wie Politische Theorie heute (1999), Politische Ideengeschichte im 20. Jahrhundert (2006) oder Die Intellektuellen und der Weltlauf (2006), dass hier etwas in Bewegung gekommen ist; es gibt aber nach wie vor keine sichtbaren Schulen, keinen strukturierten Paradigmenwettbewerb, keine verstetigte Diskussion über Methoden der Ideengeschichte und Ideengeschichtsschreibung oder über eine verbindliche Kanonbildung. Ist letztgenanntes entscheidend für die didaktische Positionierung einer Disziplin im Spektrum der universitären Fächer, so bietet ein strukturierter Wettbewerb die Chance, den Methodenpluralismus, der seitens der quantitativen Forschung als Kritik am wissenschaftlichen Status der politischen Theorie und Ideengeschichte formuliert wird, produktiv zu wenden. Die Leistung eines richtig verstandenen agonalen Wettbewerbs besteht bekanntlich nicht darin, einen Sieger festzustellen, der die anderen Teilnehmer auf die Plätze verweist, sondern in der Konturierung der verschiedenen Entwürfe, deren spezifische Leistungen durch gegenseitige kritische Prüfung erst offenbar werden (Llanque 2004: 50). Dies würde auch die Generierung eines disziplinären Selbstbewusstseins befördern, das über den Nebeneffekt einer erfolgreicheren Verteidigung der eigenen Pfründe gegen die Begehrlichkeiten anderer Teildisziplinen hinaus das innovati-
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ve Potential der Politischen Theorie und Ideengeschichte für politische Wissenschaft und politische Praxis freizulegen vermag. Statt angesichts der oben beschriebenen Spezialisierung und Segmentierung der Politikwissenschaft ernsthaft die Frage zu diskutieren, ob sich die Politische Theorie und Ideengeschichte nur als eine weitere Subdisziplin des Fachs versteht oder ob es möglich ist, an der Position eines das Fach integrierenden Zentrums festzuhalten, um die mit der Spezialisierung einsetzenden zentrifugalen Kräfte auszugleichen und das Fach zusammenzuhalten, machte jeder, was er wollte oder was ihm als richtig erschien. Jenseits von erkennbaren politikwissenschaftlichen Schulen, wie es sie in den 1950er und 60er Jahren mit der „Freiburger“, der „Mannheimer“, der „Frankfurter“ und der „Marburger Schule“ noch gab, hat sich die Politische Theorie und Ideengeschichte in zwei Hauptrichtungen aufgelöst: Die einen folgten dem Spezialisierungstrend, grenzten den Arbeitsbereich ein und konzentrierten sich auf ausgewählte ökonomische Theorien oder normative Philosophien. Die anderen hielten am ideengeschichtlichen Projekt fest, machten Lehrangebote von Platon bis Max Weber und avancierten ihrerseits zu Spezialisten, indem sie sich auf jeweils eine Epoche konzentrierten. In der Folge fanden beide Gruppierungen ihre Gesprächspartner nicht mehr innerhalb der Politikwissenschaft, sondern bei Philosophen, Historikern, Wirtschafts- und Rechtswissenschaftlern und Soziologen. Sie praktizierten mithin als erste jene Formen von Inter- und Transdisziplinarität, die seit kurzem zu Heil und Rettung der Wissenschaft ausgerufen werden. Sie haben diese theoretisch-methodische Vorreiterrolle freilich nicht nutzen können – zumindest nicht im Interesse einer Stabilisierung ihrer Position in der Politikwissenschaft. Im Gegenteil: innerhalb der eigenen Disziplin gerieten sie damit mehr und mehr in eine prekäre Randständigkeit, die bei Neuausschreibungen und Wiederbesetzungen die Begehrlichkeiten anderer Teildisziplinen hervorrief. Neben dem fehlenden Methodenwettbewerb dürfte die innere Zerklüftung in Theoretiker und Ideengeschichtler und dabei noch einmal in Normativisten und Rationalisten eine weitere Ursache für die fehlende Robustheit der Teildisziplin sein. Man war leicht auseinanderzudividieren, und deswegen stellte man keinen ernstzunehmenden Vetospieler oder attraktiven Koalitionspartner dar. Das gilt für die inneruniversitären wie disziplinären Machtspiele: Die Verteilungskoalitionen bildeten sich fast immer gegen die Politische Theorie und Ideengeschichte, und ursprünglich ihr gewidmete Professuren wurden anderen Teilbereichen der Politikwissenschaft zugeschlagen oder als Verfügungsreserve für fachliche Innovationsprojekte bereitgestellt. Wenn hier nun für die Überwindung der Spaltung in „Theoretiker“ und „Ideengeschichtler“ plädiert wird, dann nicht nur und nicht einmal vorrangig aus taktischen Erwägungen. Entscheidend ist vielmehr, dass die Attraktivität und Produktivität der Teildisziplin für die
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Politikwissenschaft gerade aus der Kombination von Politischer Theorie und Ideengeschichte erwächst. 2
Ideengeschichtliche Sensibilität und innovative Analyse
Was angesichts des kurzfristigen Nutzens aus der sukzessiven Marginalisierung der Politischen Theorie und Ideengeschichte für die anderen Teildisziplinen der Politikwissenschaft aus dem Blick gerät, sind die langfristigen Kosten dieser Machtspiele innerhalb der Politikwissenschaft. Gerade angesichts der rasant voranschreitenden Spezialisierung und Differenzierung des Fachs bedarf es eines integrativen Gegengewichts. Die politische Ideengeschichte stellt, wo sie auf entsprechende Weise betrieben wird, ein solches die disziplinäre Fragmentierung kompensierendes Gravitationszentrum dar, und das insbesondere deshalb, weil sie selbst interdisziplinär ausgerichtet ist. Die politische Ideengeschichte ist, zumindest in Deutschland, ein von unterschiedlichen Disziplinen bearbeiteter Wissensbereich. Auch nach ihrer Etablierung als eine von vier politikwissenschaftlichen Eckprofessuren wird politische Ideengeschichte mit unterschiedlichen thematischen wie methodischen Schwerpunktsetzungen von der Geschichtswissenschaft, der Philosophie sowie der Rechtswissenschaft bearbeitet. Etwas vereinfacht gesagt, nimmt die Geschichtswissenschaft die historischen Entstehungsbedingungen einer Theorie in den Blick, während die Philosophie die innere Kohärenz und Stringenz von Argumentationszusammenhängen untersucht; die Rechtswissenschaft schließlich fragt nach dem in einer Theorie erreichten Niveau der Systematisierung und Formalisierung von Problemkonstellationen. Der Politikwissenschaft kommt die Aufgabe zu, diese spezifischen disziplinären Herangehensweisen zusammenzuführen und sie auf die Herausforderungen und Problemkonstellationen der jeweiligen Gegenwart zu beziehen (Münkler 2003: 104f.). Diese Aufgabe aber überfordert die Politikwissenschaft in dem Maße, wie ihre Teilbereiche auseinanderstreben. Statt nun nach Kompensationsmöglichkeiten Ausschau zu halten bzw. die zu pflegen, die es bereits gibt, kappt sie ihre geisteswissenschaftlichen Wurzeln und sucht sich ihres ideengeschichtlichen Kerns zu entledigen. Dieser Akt der Selbstverstümmelung wird der Politikwissenschaft als Ganzes noch große Probleme bereiten. Die Vermutung, dass die Politikwissenschaft mit der Aufgabe ihres ideengeschichtlichen Zentrums mehr als ihren integrativen Zusammenhalt verliert, wird gestützt durch die Beobachtung eines öffentlichen Bedeutungsverlustes, den das Fach im vergangenen Jahrzehnt hat hinnehmen müssen. Dieser Bedeutungsverlust drückt sich unter anderem darin aus, dass an den großen prägenden De-
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batten, vom so genannten Historikerstreit über das Management des Vereinigungsprozesses bis zu den aktuell geführten Kontroversen über den Umbau des Wohlfahrtsstaates kaum Politikwissenschaftler an führender Stelle beteiligt gewesen sind. Die Generation der Fachvertreter, die den politischen Prozess als Ganzes kommentierend beeinflusst haben, von Theodor Eschenburg, Dolf Sternberger, Ernst Fraenkel, Arnold Bergstraesser, Eric Voegelin und Eugen Kogon bis zu Wilhelm Hennis, Iring Fetscher und Kurt Sontheimer, ist abgetreten, und von der ersten Generation der ‚Szientisten’ vermochte keiner an ihre Stelle zu treten. Auch die institutionelle Kompensation dieses Verlustes an öffentlich Präsenz über die Etablierung von amerikanischen Think Tanks vergleichbaren politikwissenschaftlichen Einflussagenturen ist nicht gelungen. Dieser Publizitätsverlust wird nun keineswegs durch den erwarteten Schub an wissenschaftlicher Exzellenz ausgeglichen. Im Gegenteil, die wichtigen und herausragenden Bücher der vergangenen Jahre, die zu Themen geschrieben wurden, welche im Prinzip innerhalb des politikwissenschaftlichen Fokus liegen müssten, sind, von wenigen Ausnahmen abgesehen, nicht von Politikwissenschaftlern geschrieben worden. Was im Verlaufe der Szientifizierung der Politikwissenschaft und ihrer methodischen Orientierung an Soziologie und Ökonomie ganz offensichtlich nicht bedacht bzw. verkannt wurde, ist, dass mit der Distanzierung von den Geisteswissenschaften und der innerdisziplinären Marginalisierung der geisteswissenschaftlich orientierten Politischen Theorie und Ideengeschichte die Kreativitätsreserve der Politikwissenschaft selbst aufgegeben wurde. Die politische Ideengeschichte ist nämlich keineswegs nur eine Schatzkammer, die man auf der Suche nach einem originellen Appetizer gelegentlich aufsucht, wie Gegner innerhalb des Fachs mitleidig meinen, sondern ein Arsenal der Politikanalyse. Zweieinhalb Jahrtausende der Geschichte des politischen Denkens sind hier nach systematischen und chronologischen Aspekten archiviert. Dieser Fundus stellt gleichsam Theorien mit großer „Halbwertzeit“ bereit, Theorien also, bei denen man einigermaßen sicher sein kann, dass ihre Strahlkraft nicht schon morgen erloschen ist. In diesem Sinne handelt es sich sehr wohl um einen Schatz, dessen Mehrwert sich jedoch erst in seiner kompetenten Nutzung erweist bzw. sich erst im Vollzug realisiert. In gewissem Sinne lässt sich die Ideengeschichte als ein „Ort“ beschreiben, an dem sichtbar wird, wie politische Denker die Probleme ihrer Zeit wahrgenommen und bearbeitet haben und wie sich daraus die spezifische Problembearbeitungskompetenz der jeweiligen Theorie ergeben hat. Die politiktheoretische Analyse gewinnt mit der politischen Ideengeschichte also nicht nur Bodenhaftung, sondern auch jene intellektuelle Sensibilität und Flexibilität, die für die Perzeption wie Bearbeitung neuer Probleme und Herausforderungen erforderlich ist.
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Politische Ideengeschichte ist, wo sie nicht als pure Dogmengeschichte betrieben wird, ein unersetzlicher Exerzierplatz für die Einübung in ein politikwissenschaftliches Denken, das Theorien als Antworten auf Herausforderungen begreift und die Entwicklung eines Gedankens in diesem Wechselspiel rekonstruiert. Aristoteles, Machiavelli, Hobbes, Marx – sie sind nicht als Produzenten fertiger Antworten interessant, sondern als die, deren Denken mit der Bestandsaufnahme und Problemanalyse beginnt, um anschließend die Antworten und Lösungsstrategien zu entwerfen. Nicht die fertigen Antworten, sondern das Weglassen und Zentralmachen von Aspekten bei ihrer Entwicklung, die daraus erwachsene intellektuelle Attraktivität, aber auch die politischen Kosten dieser Komplexitätsreduzierung – das ist es, was den analytischen und normativen Mehrwert der politischen Ideengeschichte ausmacht. Um diesen Mehrwert zu realisieren, darf die politische Ideengeschichte nicht in die Falle der Historizität gehen, indem sie Texte und Autoren säuberlich in die Folie ihrer eigenen Zeit verpackt und darin ruhen lässt. Sie muss diese vielmehr zu den Herausforderungen der eigenen Gegenwart in Bezug setzen, und das ist methodisch am ehesten durch die Relationierung mit modernen Theorien möglich. Deswegen ist das „und“ zwischen Theorie und Ideengeschichte zu betonen. Die Politische Theorie und Ideengeschichte gewinnt ihre intellektuelle Kraft und wissenschaftliche Attraktivität aus dem Vergleich, aus der Beobachtung von Ähnlichkeit und Differenz, Identität und Alterität. Aber im Unterschied zur professionellen Komparatistik muss sie sich dabei immer wieder auf hochriskante Vergleiche einlassen, und zwar solche diachroner wie synchroner Art. Hat der synchrone Vergleich, also die Analyse unterschiedlicher Zivilisationen hinsichtlich der vorherrschenden politischen Ordnungsmodelle und ihrer sozioökonomischen Grundlagen sowie der sie tragenden Ideen und Wertvorstellungen, eher die Erarbeitung operativer Szenarien, Strategien und Lösungen zum Ziel, so nimmt die diachrone Herkunfts- und Wirkungsanalyse die Genese von Ordnungsvorstellungen, ihre Konkurrenz und ihren Wandel in den Blick und dient vorrangig der epistemologischen Selbstaufklärung und dem Erkenntnisfortschritt. Dabei ist es gerade die oftmals sehr schwer zu bewerkstelligende Verbindung von synchroner und diachroner Analyse, in der sich das Potential von Politischer Theorie und Ideengeschichte einschließlich ihrer normativen Anteile entfaltet. Die Politische Ideengeschichte dient dabei als jener „ferne Spiegel“, mit dem wir die eigene Gegenwart aus der Distanz studieren. Daraus ergeben sich überraschende und innovative Perspektiven. Um diese zu gewinnen, müssen die Theoriebestände freilich immer wieder neu gelesen und durchgearbeitet werden. So verstanden verbindet der Lehr- und Forschungsbereich Politische Theorie und Ideengeschichte drei grundlegende politikwissenschaftliche Perspekti-
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ven: Die historisch-analytische Perspektive verfolgt Herkunft und Wandel politischer Kernbegriffe und zentraler politischer Ideen, wie Menschen- und Bürgerrechte, Souveränität, Demokratie, soziale Gerechtigkeit, und fragt nach deren Attraktivität und mobilisierenden Kraft für politische Bewegungen. Die Politische Theorie und Ideengeschichte ist, gerade weil sie praktische Wirkungsfragen zu berücksichtigen hat, immer mehr als reine Theoriegeschichte (Bluhm 2006b: 12). Sie erhebt zweitens einen zeitdiagnostischen Anspruch, das heißt, sie analysiert gegenwärtige Krisen- und Konfliktsituationen in unterschiedlichen Politikbereichen – innere und äußere Sicherheit, Sozial- und Arbeitsmarktpolitik, bürgerschaftliches Engagement und Dritter Sektor oder die Transformation des Nationalstaates im Zuge von Europäisierung und Globalisierung und angesichts neuer Herausforderungen durch den internationalen Terrorismus – hinsichtlich ihrer Ursachen, Erscheinungsformen und möglichen Konsequenzen. Voraussetzung hierfür ist gleichwohl, dass Politische Theorie und Ideengeschichte systematisch ineinander greifen und zudem einen engen Kontakt zu Diskursen um die gesellschaftspolitische Funktion von Theorie suchen. Schließlich behandelt Politische Theorie und Ideengeschichte prognostische bzw. therapeutische Fragen. Sie belässt es also nicht bei Zeit- und Krisendiagnose, sondern entwickelt und testet davon ausgehend Strategien und Szenarien des Umgangs mit Krisen und Konflikten, liefert alternative Konzeptualisierungen politischer Probleme, diskutiert kontroverse Perspektiven und eröffnet neue Denkwege. Die hier favorisierte Trias von historisch-analytischer Perspektive, Zeitdiagnose und Reaktion- wie Reformvorschlägen wollen wir nun an den demokratietheoretischen Analysen des großen französischen Sozialwissenschaftler Alexis de Tocqueville exemplifizieren. Tocqueville bietet sich dafür in besonderer Weise an, weil sein Denken geradezu paradigmatisch dafür steht, was wir als einen zentralen Lehreffekt von politischer Ideengeschichte beschrieben haben: die Schulung der eigenen Problemperzeption in der Rekonstruktion der spezifischen Problembearbeitungskompetenz einer Theorie. 3
Alexis de Tocqueville: Aktualisierenden Perspektiven auf einen Klassiker des politischen Denkens
Alexis de Tocqueville gehört nicht nur zu den brillantesten Analytikern moderner demokratischer Gesellschaften, sondern kann zuvorderst als ein politischer Denker gelten, der die interventive Rolle theoretischer Reflexion für politische Praxis im komplexen Wechselspiel von kognitivem und sozio-politischen Wandel analysiert hat. In seiner Untersuchung über die Ursprünge der Französischen Revolution vermeidet er monokausale Erklärungen; weder wird die kognitive
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Ordnung als abhängige Variable der sozio-politischen bzw. sozio-ökonomischen Ordnung begriffen, wie Karl Marx und Friedrich Engels dies praktiziert haben, noch wird der kognitive Wandel zur ausschließlichen Ursache des soziopolitischen erklärt, wie es Donoso Cortés und mit etwas anderer Akzentuierung Carl Schmitt propagierten. Für Tocqueville wurde die intellektuelle, literarische Selbstauslegung der (französischen) Gesellschaft zum Initialfaktor eines abrupten sozio-politischen Wandels, weil zuvor tiefgreifende Veränderungen in der sozio-politischen Ordnung stattgefunden hatten. Die folgenreichste dieser Veränderungen bestand in seinen Augen darin, dass sich durch die Funktionsmechanismen des absolutistischen Regimes die Politiker in Verwaltungsbeamte verwandelt hatten, denen der Sinn für den Gebrauch der Macht ermangelte. Die Folge dessen war schließlich die völlige Verselbständigung der (aufklärerischen) gesellschaftlichen Selbstauslegung gegenüber den Prinzipien und Mechanismen der bestehenden Ordnung, ein dramatisches Auseinandertreten zwischen der „wirklichen“ und der „imaginären“ Gesellschaft, der den Entwürfen der politischen Theoretiker die Möglichkeit eröffnete, politisch folgenreich zu werden (Münkler 1999b: 303f.). Die Relevanz von Tocqueville Kritik an den französischen Intellektuellen, die aus seiner Sicht zum Ausbruch wie zum Scheitern der Französischen Revolution maßgeblich beitrugen – zum Ausbruch, weil sie allzu schnell bereit waren, in die Leerstelle einer Führungselite zu springen, die das Ancien Regime hinterlassen hatte, und zum Scheitern, weil sie über die genuin politischen Fähigkeiten, die eine solche Rolle erforderte, nicht verfügten –, besteht über den konkreten historischen Kontext hinaus in der Aufmerksamkeit dafür, dass für das Wirksamwerden theoretischer Innovationen für die Selbstauslegung einer Gesellschaft Voraussetzungen erfüllt sein müssen, die von der Theorie selbst unabhängig sind und somit auch durch die Reflexion auf die Geltungsbedingungen der Theorie nicht erfasst werden können. Die für die Theorie-Praxis-Relationierung relevante Einsicht lautet, dass in dem Maße, wie gesellschaftliche Selbstauslegung und sozio-politische Ordnung auseinandertreten, ohne dass der Bezug der gesellschaftlichen Ordnung auf ihre Selbstauslegung diese Kluft binnen kurzem wieder zu schließen vermag, Orientierungs- und Integrationskrisen der Gesellschaft entstehen, die es wahrscheinlich werden lassen, dass die Selbstauslegung der Gesellschaft für eine Beeinflussung durch politische Ideen aufnahmefähig wird, die dazu führt, dass die bestehende Ordnung delegitimiert und neue „Erwartungshorizonte“ in den politischen „Erfahrungsraum“ (Koselleck) eingeschrieben werden. Dass Zeiten gesellschaftlich-politischer Krisen zumeist auch Zeiten erhöhter Handlungsmächtigkeit politischer Theorien sind, hat Tocqueville sehr klar erkannt. Aus den beschriebenen Wirkungen der französischen Intellektuellen im
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Vorfeld wie im Verlauf der Revolution hat er jedoch nicht den Schluss gezogen, politisches Denken habe sich in seinen praktischen Absichten zu mäßigen. Vielmehr sollte die politische Wissenschaft die ihr eigenen Mittel und Methoden nutzen, um das unheilvolle Auseinanderdriften von Politik und Erfahrung zu kompensieren. Gerade in so genannten Zwischenzeiten, hier beim Umbruch vom aristokratischen zum demokratischen Zeitalter, sprach er der Politikwissenschaft eine wichtige Orientierungsfunktion zu. „Eine völlig neue Welt bedarf einer neuen politischen Wissenschaft“, forderte Tocqueville emphatisch in der Einleitung zu seiner Amerikastudie, um gleich darauf fortzufahren: „Aber daran denken wir nicht; von einem rasch fließenden Strom dahingetrieben, bleibt unser Blick hartnäckig an ein paar Trümmerresten haften, die man am Ufer noch sieht, während die Strömung uns mitreißt und uns rücklings dem Abgrund zuträgt.“ (Tocqueville 1987, Bd. I: 15) Demokratie ist für Tocqueville zuvorderst kein politisches Phänomen, sondern vielmehr ein sozialer Zustand, oder, anders gesagt, Demokratisierung ist eine natürlicher Bewegung hin zur Egalisierung der gesellschaftlichen Bedingungen, ein Prozess der Einebnung sozialer, kultureller und individueller Unterschiede. Ist der Prozess selbst nicht aufzuhalten, so ist er doch politisch zu gestalten. Diese Einschätzung enthält das zentrale Problem, um das die Tocquevillesche Analyse der Demokratie kreist, wie den normativen Anspruch, der damit verbunden wird: die Frage nach der gelungene Relationierung von (natürlichsozialer) Gleichheit und (politischer) Freiheit. Der Vergleich wird ihm dabei zum zentralen methodischen Darstellungsmittel einer neuen politischen Wissenschaft. Im Vorwort seiner Amerikastudie schreibt er: „Richten wir unseren Blick auf Amerika, nicht um die Einrichtungen, die es für sich schuf, sklavisch nachzuahmen, sondern um diejenigen besser zu verstehen, die uns gemäß sind, nicht so sehr um Vorbilder als um Einsichten zu gewinnen und um eher die Grundsätze als die Einzelheiten seiner Gesetze zu übernehmen“ (Tocqueville 1987, Bd. I: 7). Neben dem Vergleich wird für den französischen Aristokraten, der von sich selbst gesagt hat, er sei Demokrat aus Vernunft, hege aber eine aristokratische Liebe für die Freiheit, ein zweites methodisches Darstellungsmittel zentral. Wie Matthias Bohlender ausführt, gehört Tocqueville „zu den seltenen Autoren, die die gesellschaftlichen und politischen Umbrüche ihrer Zeit mit der rhetorischen Figur des Paradoxons zu deuten und zu beschreiben versuchen. Anders als der an Hegel geschulte Marx geht es ihm nicht darum, die vor und nach der Französischen Revolution einsetzenden Veränderungen auf ein theoretisches bzw. erklärendes Prinzip zurückzuführen, noch ist es seine Absicht, die von ihm beobachteten Zerrissenheiten als einen aufzulösenden Widerspruch zu begreifen“ (Bohlender 2005: 523). Die Figur des Paradoxons wird zum Mittel, dem Leser
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die Ambivalenzen der Vorgänge, ihre „gegenstrebigen Fügungen“ (Jakob Taubes) vor Augen zu führen.6 Die methodische Entscheidung, Beschreibung, Analyse und Bewertung moderner Demokratien, wozu zur Zeit Tocquevilles neben den USA und Frankreich auch England und die Schweiz gehörten, in einer komplexen Multiperspektivität zu verquicken und dabei die Ambivalenzen und Spannungen der Moderne in der Figur des Paradoxons festzuhalten anstatt sie aufzulösen, hat Tocquevilles Einordnung entlang der sozialwissenschaftlichen Disziplinen und politischen Strömungen erschwert. Neben der Frage, ob er eher als Historiker, Soziologe oder Politikwissenschaftler gelten kann, variieren auch seine politischen Etikettierungen: Er gilt als aristokratischer Liberaler, liberaler Republikaner, konservativer Demokrat, demokratischer Aristokrat. Während es in jüngerer Zeit Versuche gibt, das Denken in Ambivalenzen als Spezifikum Tocquevilles positiv herauszustellen und ihn nicht mehr allein als den Übergangstheoretiker zwischen altem und neuem Staat, Aristokratie und Demokratie zu verstehen, der nach neuen Begriffen für die Analyse einer neuen Zeit suchte, sondern als jemanden, der paradigmatisch die Ambivalenz der Moderne auf die ungelöste und möglicherweise unlösbare Gleichung von Freiheit und Gleichheit gebracht hat (vgl. Bluhm 2003), ist Tocqueville doch häufiger Gegenstand vereindeutigender Interpretationen. Das betrifft vor allem die kommunitaristische und zivilgesellschaftliche Rezeption, die sich entlang seiner Analyse des Zusammenhangs von Demokratisierung und Individualisierung entwickelt hat. In solchen Vereindeutigungen wird Tocqueville für spezifische Sichtweisen und Antworten dienlich und fruchtbar gemacht. Das gehört zur oben beschriebenen Nutzung politischer Ideen im Laboratorium. Aber – und das ist hier mit dem Denken in Ambivalenzen gemeint – Tocqueville muss anschließend wieder in seiner ganzen Uneindeutigkeit archiviert werden, um zukünftiger Nutzung dienlich zu sein.
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Das Denken Tocquevilles in Paradoxien diskutiert Matthias Bohlender anhand dessen Rechtfertigung der Kolonisierung Algeriens. In ihr sieht Tocqueville die Möglichkeit, die unaufhaltsame expansive und gewaltförmige Seite der demokratischen Lebensform zu nutzen, um die Gefährdungen, die zugleich von ihr ausgehen (Individualismus, Konformismus, Gleichgültigkeit) zu kompensieren. Im imperialen Projekt der Kolonisierung und Besiedelung Algeriens sollen konformistische und erwerbsorientierte Bourgeois zum Wohle eines freiheitlichen Frankreichs zu republikanischen Bürger-Soldaten erzogen werden. Angesichts des Scheiterns dieses Projektes vermag es Tocqueville, Bohlender zufolge, zwar nicht, das Dilemma zwischen Demokratie und Imperium analytisch zu bearbeiten, aber er bleibt im Unterschied zu John Stuart Mills Fortschrittsoptimismus und demokratischem Zivilisationsprogramm und seinen gegenwärtigen Aktualisierungen sensibel für die Einsicht, „dass Gewalt nichts der Demokratie Äußerliches ist und dass man diese zivilisatorische Gewalt nicht einfach instrumentalisieren kann, ohne zwischen den Subjekten, die sie ausüben, und denen, die sie zu spüren bekommen, jene Kluft unwiderruflich zu erweitern, die man mit der Zivilisationsmission zu schließen beabsichtigte“ (Bohlender 2005: 536).
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Tocquevilles Individualisierungsthese, wonach demokratische Gesellschaften durch einen voranschreitenden Prozess der Freisetzung von traditionellen Bindungen und Abhängigkeiten gekennzeichnet sind, der in seinen weiterreichenden Folgen gerade nicht einen Zugewinn an individueller Autonomie und selbstverantwortlicher Lebensführung bedeutet, sondern für die politische Gemeinschaft wie für den Einzelnen massive Gefährdungen zur Folge hat, ist eine markante Schnittstelle moderner kommunitaristischer wie zivilgesellschaftlicher Theorien. Seine Diagnose entstehender Pathologien der amerikanischen Demokratie – Individualismus als neue demokratische Form der Selbstsucht, der damit verbundene Rückzug der einzelnen aus der Öffentlichkeit wie aus den gemeinschaftlichen Bindungen und Verpflichtungen, übersteigerter Materialismus ohne darüber hinausweisende Sinnstiftung und schließlich (Verwaltungs)Zentralismus als apolitisches Versicherungsmodell gegen die Risiken und Zumutungen politischer Freiheit – wird dabei ebenso aufgegriffen wie seine Therapievorschläge, allen voran sein Plädoyer für eine vitale bürgerschaftliche Assoziationskultur als ein demokratieinhärentes Mittel gegen die Gefahren der Demokratie. Es war vor allem Robert Putnam (1993, 2000, 2001), der Tocquevilles Überlegungen zu einem heilsamen Zusammenhang von Assoziation und Gemeinsinn als Widerpart der demokratischen Individualisierungstendenzen aufgenommen und zu der These verdichtet hat, die Leistungsfähigkeit demokratischer Gemeinwesen hänge wesentlich von ihrem zivilgesellschaftlichen Organisationsgrad ab. Ohne hier auf Details der auch die deutsche Zivilgesellschaftsforschung stark beeinflussende Tocqueville-Rezeption Putnams und die Weiterentwicklung seiner Sozialkapitaltheorie einzugehen, lässt sich Tocqueville keineswegs als euphorischer Befürworter unbeschränkter Vereinigungsfreiheit sehen, als der er in dieser Tradition rezipiert worden ist. Ihm ist vielmehr ein stereoskopischer Blick eigen, der neben Vorteilen immer auch Nachteile und Kehrseiten von Institutionen und Ideen ausmacht (Bluhm 2005: 70). Dieser Blick trifft auch die von ihm hervorgehobene Bedeutung bürgerlicher und politischer Assoziationen, die er übrigens recht präzise in ihren Wirkungen auf die demokratische Gesellschaft wie die politische Gemeinschaft unterscheidet. Dass das Engagement in bürgerlichen Vereinen sogenannte Spillover-Effekte hat, also neben „internem“ Nutzen auch auf die Allgemeinheit bezogenes Engagement befördert, hatte Tocqueville lange vor der Kritik Claus Offes (1999: 114) an Putnams Plädoyer für ein „bowling together“ erkannt und die positive Wirkung des bürgerschaftlichen Engagements eher in der Revitalisierung gesellschaftlicher Bindekräfte als in der Einübung genuin politischer Tugenden und Verhaltensweisen wie Solidarität oder Gemeinsinn gesehen.
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Der Vor- und Nachteile abwägende Blick Tocquevilles sowie seine scharfsinnigen Bemerkungen über das Wohlwollen, das gerade demokratische Regierungen den bürgerlichen Assoziationen entgegenbringen, weil diese die Bürger in unendlich viele kleine Anliegen verstrichen und so von großen öffentlichen Umwälzungen ablenken, wohingegen sie politische Vereine mit Argwohn betrachten und bisweilen sogar bekämpfen, ohne zu bedenken, dass gerade die politischen Vereine die bürgerlichen vermehren und begünstigen (Tocqueville 1987, Band II: 176f.), eröffnen neue Perspektiven für die aktuelle Debatte über die Potentiale des zivilgesellschaftlichen Engagements. Bei dem seit den 1990er Jahren zu beobachtenden rasanten Aufstieg der Zivilgesellschaftsforschung, der sich nicht zuletzt in den Berichten der Enquetekommission zum bürgerschaftlichen Engagement zeigt, geht es nicht nur um die republikanische Wiederentdeckung des „kompetenten Bürgers“ (Münkler 1997), sondern auch um eine neue Qualität pluralistischer und partizipatorischer Demokratie. Nach der korporatistischen Phase der Politikformulierung durch institutionalisierte Arrangements zwischen Staat, Politik und Arbeit, die auch als „Elitenkartell“ bezeichnet wurden,7 wird die Zivilgesellschaft sowohl als Ort unmittelbarer Partizipation der Bürger entdeckt, und zwar im Gegensatz zu den politischen Formen der Mitwirkung in Parteien und Interessenverbänden als auch als eine Form gesellschaftlicher Selbstorganisation, die den sozial und ökonomisch zunehmend überforderten Staat zu ergänzen vermag. Gemeinhin wird dies auch als eine eher input-orientierte, also auf Partizipation und pluralistische Interessenvertretung abhebende demokratische Praxis bezeichnet und gegenüber der korporatistischen, output-orientierten, politische Steuerungsprozesse betonenden Praxis hervorgehoben. Die auf Ambivalenzen achtende Tocqueville-Interpretation kann darauf aufmerksam machen, dass die gegenwärtige Wiederentdeckung der Zivilgesellschaft in Deutschland wohlmöglich nicht die Generallösung für „Hyperindividualisierung“ (Schroer 2001: 12), Politikverdrossenheit, den überforderten Sozialstaat, wirtschaftlichen Leistungseinbruch und den Verlust politisch integrierender Zukunftsvisionen darstellt. So sehr Tocqueville die partizipatorischen Potentiale der amerikanischen Assoziationskultur geschätzt hat, so wenig hat er auf deren gesamtgesellschaftliche Integrations- und Steuerungsleistung vertraut und so 7 Der unlängst verstorbene Soziologe Erwin K. Scheuch spricht mit Blick auf neuere Phänomene, wie einen zunehmenden und sich professionalisierenden Lobbyismus, die prominente Stellung einiger Großunternehmer, den sinkenden Einfluss und die Schrumpfung von wirtschaftlichen und politischen Großorganisationen, von der Auflösung des alten korporatistischen Elitenkartells und der möglichen Entwicklung „eines inneren Zirkels der Eliten […], der ein Geflecht von Großunternehmern, Spitzenpolitikern, politischen Beamten und einigen Gewerkschaften sein würde“ (Scheuch 2003: 172). Zum „Zerfall des korporatistischen Elitenkartells“ in Deutschland und seinen Folgen vgl. Streeck (2006).
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skeptisch blieb er gerade hinsichtlich der gemeinwohlorientierten Effekte des aufgeklärten Eigennutzes, der ihm als motivationale Grundlage bürger(schaft)licher Assoziationen galt. Untersucht man das moderne Vokabular des Zivilgesellschaftsdiskures, so ist hier die Rede von „flachen Hierarchien“, von der „Netzwerkgesellschaft“, vom „vernetzten Staat“ oder auch vom „neuen Lobbyismus“, der nunmehr als Politikberatung, Public Relations bzw. politische Partizipation gesellschaftlicher Interessengruppen bezeichnet wird. Gerade die Umdeutung des Lobbyismus als Politisierung bzw. Demokratisierung gesellschaftlicher Interessenvermittlung ist dabei besonders aufschlussreich, weil damit – zunächst unabhängig davon, ob man dahinter die Einflussnahme potenter Interessengruppen und mithin eine Oligarchisierung der Politik vermutet oder nicht – eine Informalisierung und Invisibilisierung politischer Entscheidungsprozesse verbunden ist.8 Mit Tocqueville geraten jedoch nicht nur die paradoxen Effekte von Assoziationen zwischen einer Stiftung der Freiheit durch Partizipation und einer Gefährdung der Freiheit durch Oligarchisierungs- und Informalisierungstendenzen in den Blick. Tocqueville kann zudem, bisher wenig beachtet, als Begründer einer Tradition gelten, die sich erst Mitte des 20. Jahrhunderts durch die Arbeiten von Otto Stammer, Karl Mannheim und später John Higley und G. Lowell Field sowie Ursula Hoffmann-Lange als pluralistische Elitentheorie etabliert hat. Mit seinem politischem Projekt „Die Demokratie aristokratisieren“, so hat unlängst Oliver Hidalgo pointiert, wirbt Tocqueville angesichts der demokratischen Gefährdungen der Freiheit für eine Synthese von Elite und Partizipation (Hidalgo 2005: 76). Die Risiken, die durch das demokratische Prinzip der Gleichheit evoziert werden, wie gesellschaftlicher Konformismus, radikaler Individualismus, ungezügeltes Wohlstandsstreben, politische Apathie und Unmündigkeit sowie die Errichtung eines vormundschaftlichen Verwaltungsstaates, der politische Freiheit und individuelle Unabhängigkeit gleichermaßen unmöglich macht, sucht Tocqueville in Hidalgos Lesart durch die Implantierung einer künstlichen Aristokratie zu kompensieren. Man muss diese avancierte, ihrerseits vereindeutigende Interpretation, die über die Vorstellung Tocquevilles als liberalen Elitentheoretiker hinaus das Denken des französischen Aristokraten auf ein Grundproblem – die Fortdauer des Theologisch-Politischen (Hidalgo 2005: 12) – fokussiert sieht, nicht bedingungslos teilen, um zu erkennen, dass Tocqueville an der Entwicklung eines analytischen Begriffs von Aristokratie interessiert war, der auf das Problem von politi8
So spricht u.a. Christian Lahusen (2003) bezogen auf den europäischen Integrationsprozess von einer Politisierung europäischer Politik in dem Maße, wie die primär von politischen und wirtschaftlichen Eliten vorangetriebene Integration nunmehr auch bislang nicht etablierten Interessengruppen via Lobbying Einflussmöglichkeiten bietet.
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scher Führung in pluralistischen Demokratien gerichtet ist. In der Unterscheidung zwischen der alten landbesitzenden Aristokratie und der modernen Industriearistokratie entwirft er ein Anforderungsprofil für politische Führungspersönlichkeiten, das Tugenden wie Standesbewusstsein und Verantwortung, Gesetzestreue und Individualität, fachliche Kompetenz und vorbildhafte Lebensführung, Hilfsbereitschaft und Distinktion, Ehrgeiz und Opferbereitschaft miteinander verbindet. In moderner Terminologie entsteht hier das Bild einer mit Führungsund Sozialkompetenz ausgestatteten Leistungselite, wobei Tocqueville den Begriff der Aristokratie dem ursprünglich aus dem Mittelstand stammenden Begriff der Elite vorzieht.9 Politische Führung ist aus Sicht Tocquevilles eine extrem schwierige Angelegenheit, ein beständiges und umsichtiges Balancieren von Sitten, Strukturen und politischem Handeln. Politik erschöpft sich für ihn weder in technokratischem Expertentum noch ist es mit einem populistischen Schüren demokratischer Leidenschaften kompatibel, sondern stellt auf die Verbindung von strategischem Handeln und Autorität ab. Strategisches Handeln setzt ein Wissen um die langfristigen Effekte politischer Entscheidungen voraus, wie Tocqueville am Beispiel der Ersetzung des englischen Erbrechts, das die Erbfolge zugunsten des Erstgeburtsrechts ordnete, durch die gleichmäßige Güterverteilung diskutiert. Dabei unterscheidet er zwischen einer unmittelbaren, gleichsam materiellen Wirkung, die in einer fortschreitenden Zerstückelung und Verkleinerung des Grundeigentums besteht, und damit verbundenen mittelbaren Wirkungen, die direkt auf die Seele der Bürger und ihre Leidenschaften zielen und in diesem Fall konsumorientierte, den Sinn für Beständigkeit und verantwortliches Handeln untergrabende Geisteshaltungen befördern (Tocqueville 1987, Bd. I: 76). Das Wissen um die langfristigen Folgen politischen Handelns sollte Tocqueville zufolge in eine Politik münden, die sich der den Demokratien inhärenten Tendenz zur Verkurzfristigung von Handlungshorizonten offensiv und mit selbstbewusster Autorität entgegensetzt. In seiner Vorzüge und Nachteile abwägenden Kritik demokratischer Wahlen, in deren Häufigkeit er ein Mittel sieht, revolutionäre Umbrüche zu vermeiden, das andererseits jedoch der Güte der Regierung schadet und zu einer eigentümlichen Wandelbarkeit der Gesetzgebung führt, können wir unschwer die Analyse eines Problems erkennen, das sich unter den heutigen Bedingungen einer Mediendemokratie, in der die Politik beständig unter dem Druck medialer Dauerbeobachtung und demoskopischer Erfolgskontrolle agiert, dramatisch
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Eine aktualisierende Perspektive auf Tocquevilles aristokratischen Begriff der Leistungselite findet sich bei Straßenberger (2005b).
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verschärft hat (vgl. dazu Münkler 2006: 37f.).10 Strategiebildung als Kern politischer Führungsleistung spielt kaum noch eine Rolle. Was zählt, sind kurzfristige Erfolge, die über eine gelungene Inszenierung von (fiktiver) Leistung eher dargestellt werden können als über deren tatsächliche Erbringung, denn letztgenanntes erfordert nicht nur eine substantielle Debatte darüber, worin das Wohl der bundesdeutschen Gesellschaft im 21. Jahrhundert bestehen soll, sondern auch unpopuläre, sich von dem jeweils vorherrschenden Meinungstrend emanzipierende Entscheidungen. In der hier entwickelten Interpretation tritt uns Tocqueville nicht (allein) als Begründer einer pluralistischen Demokratietheorie und zentraler Referenzautor für die aktuelle Wiederentdeckung der Zivilgesellschaft entgegen. Die hier präsentierte Lesart stellt ihn zugleich als Analytiker von Ambivalenzen vor, als jemand, der neben der integrativen Leistung assoziativen Handelns und des in ihnen gestifteten Gemeinsinns zugleich auf die desintegrativen Effekte pluralistischer Vereinigungskultur verwiesen und kompensatorisch auf die Notwendigkeit integrativen Führungshandelns von Eliten gesetzt hat. Inspiriert ist diese Relektüre Tocquevilles durch die seit Mitte der 1990er Jahre geführte Diskussion um Kompetenz bzw. Inkompetenz der Eliten in Deutschland. Ohne auf die Schwankungen dieser öffentlichen Debatte einzugehen, die ihren vorläufigen Höhepunkt im Für und Wider einer Gründung von Eliteuniversitäten als Produktionsstätten neuer Eliten hatte und die als leiser werdende Hintergrundmusik die Exzellenzinitiative begleitet,11 lässt sich ein zentrales Merkmal dieser Debatte bestimmen: Im Gewande der Elitenkritik thematisiert der öffentliche Diskurs Wünsche nach Führung, Verantwortung, Leistung und Kreativität genau in dem Moment, wo das deutschen Modell korporatistischer Interessenvermittlung zu erodieren beginnt. Anders gesagt: Solange der deutsche Wohlfahrtskorporatismus mit Verhandlungsdemokratie und koordiniertem Kapitalismus leistungsfähig war, insofern er von einem balanciertem Verhältnis horizontaler und vertikaler Elitenin10
Die Folgen veränderter Rahmenbedingungen für politisches Handeln in der Mediendemokratie sind Gegenstand einer Reihe politiksoziologischer Analysen. Besonders hervorzuheben sind hier die Arbeiten von Edgar Grande (2000), der einen Strukturbruch moderner Demokratien in eine Verhandlungs- und eine Mediendemokratieebene diagnostiziert, die einer je unterschiedlichen Rationalität und Handlungslogik folgen, von Barbara Pfetsch (1998), die im Gegensatz zu der von Thomas Meyer (2001) vertretenen These einer Kolonialisierung der Politik durch das Mediensystem, der eine zu schlichte Vorstellung von Politik als Relation zwischen zwei Systemen und deren ausschlaggebenden Akteuren zugrunde liege, Politik als „Interdependenzmanagement“ zwischen Wirtschaft, Wissenschaft, Kultur etc. beschreibt. Eine umfassende Diskussion zu Medienöffentlichkeit und Demokratie findet sich in dem von Friedhelm Neidhardt herausgegebenen Sammelband Öffentlichkeit, öffentliche Meinung, soziale Bewegungen (1994) sowie dem von Ulrich Sarcinelli herausgegebenen Band Politikvermittlung und Demokratie in der Mediengesellschaft (1998). 11 Die aktuelle Elitendebatte, ihre Rhetorik, ihre Vorläuferdiskurse sowie institutionelle Veränderungen werden in dem Sammelband „Deutschlands Eliten im Wandel“ (2006) diskutiert.
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tegration getragen wurde, waren Eliten kein Thema. Zum Gegenstand wurden sie, als dieses institutionalisierte Kooperationsarrangement zwischen Staat und Wirtschaft mit seinen Großgruppen Kapital und Arbeit angesichts radikaler gesellschaftliche Pluralisierung einerseits und Globalisierung andererseits an Integrationskraft zu verlieren begann. Institutionen bringen nach einer Formel von Arnold Gehlen nicht nur Eliten hervor, sondern können sie auch konsumieren. In dem Maße, wie Institutionen, die Eliten hervorbringen, reibungslos funktionieren, sind Eliten unsichtbar. Zum Problem bzw. zum Gegenstand öffentlicher Besorgnis werden sie erst, wenn die Institutionen versagen oder das gesellschaftliche Vertrauen in die Institutionen schwindet (vgl. Münkler 2006). – Der Analytiker Tocqueville hat in seiner „weiten Fassung“ des Demokratiebegriffs nicht allein auf das reibungslose Funktionieren von Institutionen gesetzt, sondern „neben der politisch-institutionellen Dimension auch das Handeln von politischen Akteuren sowie die soziale Schichtung und die zivile Gesellschaft einzubeziehen versucht“ (Bluhm 2006a: 18). Es ist diese komplexe, strukturelle, handlungsbezogene und soziokulturelle Einsichten kombinierende Betrachtung, die den explikativen wie normativen Wert von Tocquevilles Analyse für gegenwärtige Probleme liberal-pluralistischer Demokratien ausmacht. Sein Verständnis von politischer Wissenschaft war freilich um einiges weiter als unseres, das durch voranschreitende Szientifizierung eher verengt worden ist. In einer Rede auf der öffentlichen Jahressitzung der Academie des Sciences Morales et Politique am 3. April 1852, die er als Präsident dieser Akademie hielt, hat er die politische Wissenschaft als diejenige bezeichnet, die sich mit der Führung der Gesellschaften beschäftigt und den unermesslichen Raum abdeckt, der sich von der Philosophie bis zu den elementaren Arbeiten zum Zivilrecht erstreckt (Tocqueville 2006: 51).12 Die zentrale Einsicht der Tocquevilleschen Analyse, dass die Gefahren der Demokratie, nämlich ihr mögliches Umschlagen in neue Formen politischer oder sozialer Tyrannei, aus ihrem Kern selbst erwachsen und es daher kompensatorischer Gegenmittel bedarf, die in demokratischen Gesellschaften künstlich geschaffen bzw. reproduziert werden müssen, hat die liberalkonservative Rezeption Tocquevilles dahingehend pointiert, dass der freiheitlich säkulare Staat von Voraussetzungen lebt, die er selbst nicht garantieren kann (Böckenförde 1976: 60). Die „Böckenförde-Doktrin“ steht im Zentrum einer, was die Vehemenz und 12
Tocquevilles Rede „Über die politischen Wissenschaften“ ist eine von insgesamt acht kleineren politischen Schriften aus den Jahren 1835–1852, mit denen die von Harald Bluhm herausgegebene Reihe Schriften zur politischen Ideengeschichte eröffnet wurde. Die bisher nur vereinzelt übersetzten und schwer zugänglichen Texte präsentieren Tocqueville als politischen Autor und Redner, dessen Reflexionen über die Auswirkungen der demokratischen Revolution in Frankreich und in der Schweiz bis zur sozialen Lage und der Armut (Pauperismus) reichen und auch sein Engagement bei der französischen Kolonisierung Algeriens verdeutlichen.
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öffentliche Aufmerksamkeit betrifft, in Deutschland erst seit kurzem geführten Diskussion über das Verhältnis von Politik und Religion. Wir wollen die Debatte hier nicht kommentieren, sondern nehmen sie als Ausgangspunkt für einen knappen ideengeschichtlichen Exkurs zum Begriff der Zivilreligion. Indem wir solchermaßen das Terrain sondieren, auf dem öffentlich über die Notwendigkeit einer religiösen Fundierung der Demokratie nachgedacht wird, wollen wir unsere Überlegungen zur zentralen Rolle Politischer Theorie und Ideengeschichte für die politikwissenschaftliche Analyse und deren politisch-gesellschaftliche Relevanz abschließen. 4
Krisendiagnose, Kompensationsangebot und Urteilsfähigkeit
Helmuth Plessner hat den Menschen als ein exzentrisches Wesen beschrieben, das nicht im Gleichgewicht, ortlos, zeitlos im Nichts stehend, konstitutiv heimatlos, „etwas werden“ und sich das Gleichgewicht schaffen muss. „Der Mensch will heraus aus der unerträglichen Exzentrizität seines Wesens, er will die Hälftigkeit der eigenen Lebensform kompensieren, und das kann er nur mit Dingen erreichen, die schwer genug sind, um dem Gewicht seiner Existenz die Waage zu halten“ (Plessner 1975: 311). Die menschliche Suche nach dem Gleichgewicht zwischen Innovationsfähigkeit und identitärer Selbstgewissheit hat in der Literatur variantenreiche Bilder und konzeptuelle Angebote gefunden. Karl W. Deutschs Bremsenmetapher, wonach ein Auto umso schneller fahren kann, je bessere Bremsen es hat, pointiert dabei nur die weiter greifenden Vorstellungen davon, „dass es in der Geschichte oft anders zugeht, als sich die Beteiligten dachten“ (Hermann Lübbe) und dass es darum immerfort der Korrektur bedarf oder dass dem politischen Handeln eine Enttäuschungsstruktur inhärent ist, die zwar nicht aufgehoben, aber kompensiert werden kann (Hannah Arendt). Die Ritter-Schüler Hermann Lübbe und Odo Marquard teilen mit Hannah Arendt die Grundannahme von der historischen Kontingenz – zumindest insoweit, als sie jenseits eines modernisierungstheoretischen Fortschrittsoptimismus’ davon ausgehen, dass menschliche Geschichte beständig Risiken und Defizite produziert, die kompensiert werden müssen. Sie sind sich darüber hinaus darin einig, dass eine wesentliche Funktion politischer Theorie und Ideengeschichte in der Kompensation von Kontingenzerfahrungen und Entfremdungsprozessen liegt. Wie Jens Hacke ausführt, schließen Lübbe und Marquard hier an Joachim Ritters These von der kompensatorischen Rolle der Geisteswissenschaften an, die wegen ihres konservativen Charakters umfassend kritisiert worden ist (Hacke 2006: 73ff.).
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Arendt ist nicht Ziel dieser Kritik, ja sie wird sogar ausdrücklich ausgenommen, wenn Herbert Schnädelbach in Anlehnung an Jürgen Habermas’ Kritik an Ritters „aufgeklärtem Traditionalismus“ (Habermas 1985: 41) den Neoaristotelismus als spezifisch konservatives Theorieprogramm vorstellt, Arendts Differenzierung zwischen Arbeiten, Herstellen und Handeln hingegen als kreative Weiterentwicklung der aristotelischen praxis-poiesis-Unterscheidung lobt (Schnädelbach 1992: 215). Dabei ist gerade Arendts Theorie der narrativen Enttäuschungsverarbeitung, die neben einer systematischen Freilegung der dem politischen Handeln inhärenten Enttäuschungsstruktur die Bedingungen der Möglichkeit der Kompensation eruiert (vgl. Straßenberger 2005a: 119ff.), Ritters und vor allem Marquards Verweis auf die Kompensationsleistung narrativ verfahrender Geisteswissenschaften verwandt. So sieht Arendt in der narrativen Tradierung politischer Erfahrungen oder, anders gesagt, in politischer Ideengeschichte die kulturelle Bedingung für einen kollektiven Diskurs der Enttäuschungsverarbeitung, der nicht nur eine gesellschaftlich integrierende Funktion hat, sondern darüber hinaus kreative Handlungspotentiale reaktiviert. Kompensation – Arendt spricht hier von Verzeihen – wird dabei zuvorderst als ein grundsätzlicher menschlicher Verhaltensmodus begriffen, wie Hacke über Marquards Kompensationsbegriff schreibt (Hacke 2006: 79), dessen schöpferische Qualität wesentlich in der narrativen Rückbindung der Gegenwart an politische Erfahrungen gründet. Für Arendt ist Gegenwart nur zu verstehen, wenn man sich der Ideengeschichte zuwendet, weshalb für sie politische Theorie, die Gegenwartsanalyse, Kritik und Handlungsorientierung verknüpft, nur im Modus von Ideengeschichte zu realisieren ist. Arendts narrative Theorie der Enttäuschungsverarbeitung, die systematisch in ihrer Analyse der Aporien des Handelns ansetzt, und die historische Theorie der Kompensation, wie sie von Lübbe und Marquard im Anschluss an Gehlens und Plessners philosophische Anthropologie entwickelt wird, perspektivieren die Kontingenz menschlicher Geschichte hinsichtlich ihrer kreativen Leistungen, zu deren Reaktivierung die politische Theorie und Ideengeschichte wesentlich beitragen. Sie unterscheiden sich gleichwohl darin, welche anderen Kompensationsmittel sie zur Bewältigung von Kontingenz in Anschlag bringen. Neben der an politisch-historische Narrationen geknüpften Möglichkeit der diskursiven Verarbeitung von Resultaten politischen Handelns im öffentlichen Raum (Verzeihen) setzt Arendt auf einen zweiten Kompensationsmodus: auf die Kraft gegenseitigen Versprechens und deren wiederholende Bestätigung durch politische Partizipation. Die Übersetzung der menschlichen Fähigkeit des Versprechens in den politischen Raum besteht demnach in einer Institutionalisierungsleistung. Versprechen manifestieren sich in gegenseitigen Verpflichtungen und Abkommen innerhalb von und zwischen Gemeinwesen, in politischen Institutionen und
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Organisationen. Ein ausgezeichnetes Dokument des Versprechens ist die amerikanische Unabhängigkeitserklärung als ein wechselseitiges und freiwilliges Bündnis, das prinzipiell offen für Veränderungen ist. Ohne hier auf Arendts Kritik an der amerikanischen Verfassung detailliert einzugehen, die aus ihrer Sicht diese Offenheit schon nicht mehr hat, betont Arendt mit der Rede vom Bündnis im Gegensatz zum Vertrag die Notwendigkeit der beständigen Revitalisierung des gegenseitigen Versprechens durch politisches bzw. zivilgesellschaftliches Engagement. In ihrem Vortrag auf einem Symposium zum Thema „Ist das Gesetz tot?“ im Jahr 1970 plädierte Arendt dafür, den „zivilen Ungehorsam“ als eine Form von freiwilliger Vereinigung mit einem neuen Verfassungszusatz als Recht institutionell zu verankern. Sie begründete ihren Vorschlag, sich nicht nur zu einem konkreten politischen Anliegen zu versammeln, sondern sich auch notfalls gegen die Regierung stellen zu können, mit der Stabilität des Gemeinwesens selbst. Werden freiwillige Vereinigungen in ihren Zielen dauerhaft nicht ernst genommen oder wegen ihres gesetzwidrigen Charakters verboten, kommt es entweder zu einer Abspaltung dieser Gruppe von der politischen Gemeinschaft – sie bilden, wie Arendt mit Tocqueville sagt, innerhalb eines Volkes ein Volk für sich, eine Regierung innerhalb einer Regierung –, oder aber die Bürger ziehen sich resigniert aus dem öffentlich-politischen Leben zurück. Ob durch aktive politische Spaltung oder durch stillschweigenden Austritt: in beiden Fällen wird die Grundlage des Gemeinwesens brüchig. Denn die Grundlage ist gerade kein Vertrag mit für alle Zukunft festgeschriebenen Regeln, sondern die Verpflichtung der Bürger, den Konsens zu wahren, auf dem das politische Gemeinwesen beruht und der den einzelnen die Mitgliedschaft und darüber eben auch die Teilhabe garantiert. Diese Verpflichtung hat „nur“ den Charakters eines Versprechens und eben nicht eines Vertrages, weil die Zukunft von Politik nicht absolut berechenbar ist, wie es eine vertragliche Übereinkunft nahelegen würde. An Versprechen ist man nach Arendt gebunden, solange keine unerwarteten Umstände eintreten, und unter der Voraussetzung, dass die Gegenseitigkeit, die allen Versprechen zugrunde liegt, aufrechterhalten wird (Arendt 1989: 150ff.; vgl. Straßenberger 2005a: 47f.). Mit dieser Rückbindung der politischen Leistungsfähigkeit demokratischer Gemeinwesen an eine vitale Bürgergesellschaft knüpft Arendt an Tocquevilles Krisendiagnose und Therapievorschlag an, wonach die Stabilität und Funktionsfähigkeit demokratischer Gesellschaften nicht allein, aber doch in entscheidendem Maße von dem Entwicklungsgrad ihrer Assoziationskulturen abhängig ist. Hier wird sie unmittelbar anschlussfähig für den aktuellen Zivilgesellschaftsdiskurs, wenngleich Arendt vor allem die politischen Effekte und weniger die ökonomischen oder sozialen Leistungen bürgerschaftlichen Engagements akzentu-
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iert. Für einen zentralen Aspekt der Zivilgesellschaftsforschung bietet Arendt indes keine Anschlussmöglichkeit, auch wenng die Tocqueville-Lektüre diese nahe legen würde: die integrativen Effekte der Religion. Während Arendt explizit an den „pluralistischen“ und partizipatorischen Tocqueville anschließt, der den erfolgreichen Schritt der amerikanischen Demokratie zu einem dezentralisierten politischen System, das auf lokaler Verwaltung und völliger Vereinsfreiheit beruhte, schätzt, wird der „zweite Tocqueville“, der fühlte, „daß eine solche Freiheit und Befreiung von einer zentralisierten Autorität das moralische Fundament eines gemeinsamen christlichen Glaubens erforderte“ (Villa 2003: 217), nicht einmal erwähnt. Ein Verweis auf den Vordenker einer „demokratischen und republikanischen Religion“ (Böckenförde) fehlt zwar auch bei Lübbe, aber der Begriff der Zivilreligion scheint ihm in besonderer Weise „geeignet, die im liberalen Staat den prozeduralen Verfahren enthobenen Formen der Legitimation zu beschreiben“ (Hacke 2006: 249). Es ist im Kreis der Ritterschüler vor allem Lübbe, der, wie Hacke herausarbeitet, in seiner Verteidigung der Funktionalität der Religion klassische Thesen zum Verhältnis von Politik, Religion und Gesellschaft variiert – freilich ohne dies eingehender zu diskutieren. Das politische Gewicht der Religion hatte bereits Niccolò Machiavelli betont, als er an der Entwicklung der römischen Republik die Bedeutung der Religion für die innere Stabilität und äußere Expansionsfähigkeit der Staaten aufzeigte und die Konsequenz zog, dass ein Reich verfallen muss, in dem Gottesfurcht fehlt (vgl. Münkler 1995: 276ff.). Diese Funktionalisierung der Religion, die in ihr ein unverzichtbares erzieherisches Mittel gegen die Korruptibilität der Menschen erkennt, also ihre positiven Auswirkungen auf die politische Gemeinschaft jenseits eines unterstellten Wahrheitsgehaltes akzentuiert, findet sich auch bei Thomas Hobbes, wenn er die „Furcht vor der unsichtbaren Macht, die jedermann als Gott verehrt und als Rächer seiner unrechten Handlungen fürchtet“ (Hobbes 2002: 108), als Kompensationsmittel gegen die menschlichen Leidenschaften Habgier, Ehrgeiz und Sinneslust anführt. Die entscheidende Differenz zwischen beiden liegt gleichwohl darin, dass Hobbes in seiner Unterscheidung von confessio und fides zwar ein öffentliches Bekenntnis zum christlichen Gott fordert, damit aber kein tugendethisches Programm verbindet. Im Privaten kann der Bürger glauben, woran immer er will, und im öffentlichen Raum hat er den religiösen Alleinvertretungsanspruch des Christentums nicht in Frage zu stellen. Mehr wird ihm nicht abverlangt. Anders dagegen Machiavelli, dem es um eine die Menschen zur politischen Tätigkeit, zum aktiven Engagement erziehende Staatsreligion ging. Gerade in dieser Funktion aber hat das Christentum in Machiavellis Augen versagt, weil es die Demut höher schätzt als den Mut und eher die Stärke des Duldens fordert als die der Tat (Münkler 1995: 279).
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Als Begründer des Begriffs Zivilreligion gilt gemeinhin Jean-Jacques Rousseau. Er folgt zunächst Machiavelli, wenn er der Politik den Primat zuerkennt und die Religion als deren Werkzeug beschreibt. In Auseinandersetzung mit der bei Pierre Bayle anzutreffenden Überlegung bzw. der dann von La Mettrie verfochtenen Überzeugung, dass es auch soziale und politische Gemeinschaften ohne alle religiösen Bindungen, also Staaten von Atheisten, geben könne, ohne dass diese sogleich zerfielen bzw. sich in Bürgerkriegen zerfleischten, entwickelt Rousseau die gegenteilige Meinung. So schreibt er in der Erstfassung des Contrat Social: „Sobald Menschen in einer Gemeinschaft leben, benötigen sie eine Religion, um sich darin zu erhalten. Noch nie hat ein Volk ohne Religion fortexistieren können, noch wird es je ohne Religion existieren.“ (Rousseau zit. nach Fetscher 1985: 490) Diese allgemeine Feststellung muss jedoch spezifiziert werden, denn Rousseau geht es hier um die Festigung der Republik. Zwar hat er diese in der Tradition des Kontraktualismus aus einem Vertrag heraus entwickelt, aber er bezweifelt offenbar, dass die Bindekraft des Vertrages allein hinreichend ist, um die Republik auf Dauer zu stellen und stabil zu halten. Als Republikaner genügt ihm das im Vertrag zur Geltung gebrachte individuelle Nutzenkalkül der Menschen nicht, sondern er sieht die politische Ordnung von einer Bürgertugend abhängig, die deutlich über das hinausgeht, was von kalkülrationalen Nutzenmaximierern zu erwarten ist. Um dieser Bürgertugend willen bedarf es der Bürgerreligion. Das heißt: Despotien und Tyranneien können auf die „religion civile“ verzichten, nicht aber die Republiken; sie sind auf die Religion angewiesen. Um zu erklären, worum es sich bei der „religion civile“ handelt, diskutiert Rousseau nacheinander die Religion des Menschen, die Religion des Priesters und die Religion des Citoyen. Die „Religion des Menschen“, ist den ursprünglichen Vorstellungen des Christentums verwandt, sie ist wahr und gerecht, aber für die Erhaltung von Republiken völlig ungeeignet, weil diese in eine Welt einander feindlich gegenüberstehender Staaten eingebettet seien. Menschenliebe sei nicht genug, aktualisiert Rousseau die Kritik Machiavellis an dem verweichlichenden Charakter der christlichen Lehre, es bedürfe auch der Vaterlandsliebe und einer auf ihr begründeten Opferbereitschaft, um die republikanische Ordnung aufrechtzuerhalten. Sodann wendet er sich der „Religion des Priesters“ zu, worunter er den auf universelle Geltung ausgerichteten Katholizismus versteht. Durch sie werde der Bürger immer wieder in Gewissenskonflikte gestürzt, weil der Priester von ihm eine Gesinnung erwarte, die den vom Staat abverlangten Handlungen entgegenstehe. Auch das ist eine Variation Machiavellis, der diesen
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Widerspruch für sich gelöst und in trotziger Entschlossenheit an Francesco Vettori geschrieben hatte: „Ich liebe mein Vaterland mehr als meine Seele.“13 Bleibt also die „Religion des Citoyen“, die tapfere Kämpfer für die Sache des Gemeinwesens hervorbringt – aber das Problem hat, dass sie unwahr ist und zu Grausamkeiten gegenüber den Feinden führt. Für Machiavelli war das kein Problem; für Rousseau schon. Iring Fetscher hat Rousseaus Dilemma so formuliert: Die Religion des Menschen ist wahr, aber für Republiken ungeeignet; die Religion des Citoyen ist für Republiken hervorragend geeignet, aber unwahr, also nicht aufklärungsresistent. Rousseau befreit sich aus dem Dilemma, indem er als Kompromiss die „religion civile“ entwickelt. Es handelt sich dabei um eine „Mindestreligiosität“, die den einzelnen freistellt, an Zusätzliches zu glauben – vorausgesetzt, dass dies nicht mit Ausschließlichkeitsansprüchen verbunden ist und zu Intoleranz führt (Fetscher 1985: 490). Rousseaus zivilreligiöses Glaubensbekenntnis lautet: Ich glaube an die „Existenz einer mächtigen, vernünftigen, wohltätigen, vorausschauenden und vorsorglichen Gottheit; das künftige Leben; die Belohnung der Gerechten; die Bestrafung der Bösen; die Heiligkeit des Gesellschaftsvertrages und der Gesetze“ (Rousseau 1993: 207), und ich glaube, dass Intoleranz illegitim ist. Dieser zivilreligiöse Bekenntnisakt ist von allen Bürgern öffentlich abzulegen. Es kann zwar niemand gezwungen werden, daran zu glauben, aber wer sich dem öffentlichen Gelöbnis verweigert, hat als Feind der Gesellschaft den Staat zu verlassen. Damit nicht genug: Wer diese Glaubenssätze öffentlich anerkannt hat und sich dennoch so benimmt, als glaube er nicht daran, etwa indem er nicht bereit ist, dem republikanischen Vaterland treu und in der Bereitschaft zum Opfer seines Lebens zu dienen, soll mit dem Tod bestraft werden (Rousseau 1993: 206). Der ideengeschichtliche Rekurs auf Machiavelli, Hobbes und vor allem Rousseau zeigt, auf welch unwegsamem Gelände man sich bewegt, wenn man über die religiöse Fundierung politischer Gemeinschaften spricht. Zivilreligion im Rousseauschen Sinne ist kein Rabatt auf die Bedeutung des Religiösen. Es ist keine Auslieferung des Gebundenseins ans öffentliche Gerede, moralisches Wohlfühlen in politischer Unverbindlichkeit. Im Gegenteil: Die Ideengeschichtler, die den Beginn des Totalitarismus bei Rousseau festgemacht haben, wie etwa Jakob Talmon, haben dazu keineswegs nur auf die „volonté générale“ verweisen müssen, sondern konnten auch auf die „religion civile“ Bezug nehmen. Dagegen nimmt sich der Begriff der Zivilreligion, wie ihn Tocqueville in Beobachtung der amerikanischen Verhältnisse entwickelt hat, deutlich ziviler aus: Bei aller Verschiedenheit der Religionen gebe es in den USA doch ein ge13
Als Max Weber die Unterscheidung zwischen Gesinnungs- und Verantwortungsethik entwickelte, hat er auf diese Passage Bezug genommen (Weber 1988: 558): Mit Bürgern, die nur auf das Heil der Seele achten, ist kein Staat zu machen – und eine Republik schon gar nicht.
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meinsames Bekenntnis zum demokratischen und republikanischen Christentum, das integrative wie mäßigende Effekte für die Politik habe: „In den Vereinigten Staaten hat sich bisher niemand gefunden, der als Richtschnur vorzuschlagen gewagt hätte, zum Besten der Gesellschaft sei alles erlaubt. Ein ruchloser Leitgedanke, der in einem Jahrhundert der Freiheit erfunden zu sein scheint, um alle künftigen Tyrannen zu rechtfertigen. Erlaubt also das Gesetz dem amerikanischen Volk, alles zu tun, so hindert die Religion es, alles auszudenken, und verbietet ihnen alles zu wagen“ (Tocqueville 1987, Bd. I: 441f.). Robert Bellah (1987) hat vor zwei Jahrzehnten dieses Tocqueville-Theorem über die Religion als moralisches, auf das öffentliche Leben gerichtete Korrektiv gegenüber egoistischen und utilitaristischen Geisteshaltungen aufgegriffen und für eine Wiederbelebung des religiösen und republikanischen Individualismus plädiert, da es die Bindekraft des Religiösen sei, welche die Amerikaner daran hindere, ihre Freiheit mutwillig zu zerstören. Zivilreligion ist zugleich aber auch das, was den weltpolitischen Dominanzanspruch der USA fundiert, was die welthistorische Mission der USA begründet. Die Debatte über die Unverzichtbarkeit zivilreligiöser Elemente ist in Deutschland jüngeren Datums. Ein wenig könnte man meinen, sie sei überhaupt erst aufgekommen, als die integrative Dynamik der Wirtschaft nachließ und die Republik sich nicht mehr allein darauf verlassen konnte, dass die Partizipation an gegenwärtigem oder die Aussicht auf zukünftigen Wohlstand die Menschen hinreichend motiviere und diszipliniere. Dabei haben die offensichtlich werdenden Identitätsprobleme einer zunehmend multikulturellen Gesellschaft und sicher der 11. September 2001, der religiös-kulturelle Spannungen radikal zuspitzte, beschleunigend gewirkt. Die Rückkehr der Religion in den öffentlichen Diskurs und mithin auch der Aufmerksamkeitsgewinn ihrer liberalkonservativen Vorreiter14 sind aber nur die dritte Etappe eines öffentlichen Diskurses über die Zukunft der deutschen Gesellschaft, ihre Innovationsfähigkeit und Integrationsleistungen: Nach dem Vertrauensverlust in die etablierten politischen Institutionen der Interessenvermittlung die Hoffnung auf zivilgesellschaftliche Assoziationen und vor allem auf deren den Sozialstaat entlastende Leistung, gefolgt von dem Ruf nach neuen moralisch integren, hochqualifizierten und führungsstarken Eliten und nun die modern-konservative Wiederkehr der Zivilreligion, einschließlich der Aufwertung der sie tragenden bürgerlichen Mittelschichten.
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Es ist den liberalkonservativen Anhängern der „Böckenförde-Doktrin“ als Verdienst anzurechnen, so Hacke, dass sie frühzeitig die vorpolitischen Ressourcen des demokratischen Verfassungsstaates, wie Tradition und Religion, thematisiert haben, ohne jedoch die zivilreligiöse Legitimationsquelle des Staates gegen die institutionellen demokratischen Formen der Legitimation auszuspielen (Hacke 2006: 255).
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Alle drei Diskurse verweisen auf je spezifische Dimensionen der Krisenhaftigkeit moderner Demokratien, die mit einiger Verzögerung, nicht zuletzt wegen der starken Fokussierung der allgemeinen Aufmerksamkeit auf die Probleme der Wiedervereinigung, nunmehr auch die deutsche Gesellschaft erreicht haben. Hubertus Buchstein und Rainer Schmalz-Bruns haben die Krisendeutungen ungeachtet ihrer partikularen Besonderheiten dahingehend generalisiert, dass sie drei Ursachenkomplexe struktureller Demokratiekrisen unterscheiden: „Souveränitätsverlust“ als schwindende Handlungsfähigkeit demokratisch legitimierter Politik gegenüber dem strategischen Einflussgewinn von inter- wie intranational agierenden Politiknetzwerken, wirtschaftlicher und sozialer „Effektivitätsverlust“ durch die Interessengruppenkonkurrenz in einer pluralistischen Demokratie und „Motivationsverlust“ als Oberbegriff für Individualisierungs-, Fragmentierungsund Entsolidarisierungsprozesse, die in ihrer Gesamtheit auf politisch-kulturelle Reproduktionsstörungen liberaler Gesellschaften abheben. Das entscheidende demokratietheoretische Problem dieser dreifachen Krisendiagnose ist nun, „dass die Therapievorschläge für jeden einzelnen in ganz unterschiedliche Richtungen weisen und dass die vorgesehenen Heilmittel schlecht miteinander verträglich sind. Die erstgenannte Defizitanalyse zielt auf eine Verstärkung traditioneller Politik im Sinne der Wiederbelebung demokratisch legitimierter Einflussnahmen. Die zweite zielt auf die weitergehende Ersetzung der Politik durch Mechanismen des Marktes. Aus dem dritten Krisenszenario schließlich wird gefolgert, dass der notwendige vorpolitische Zusammenhalt politischer Ordnungen durch Stärkung des Elements Gemeinschaft erreicht werden soll“ (Buchstein/SchmalzBruns 1994: 301). Die Demokratietheorie steht mithin vor dem Problem, so resümieren die Autoren ihre Überlegungen, Lösungsvorschläge für alle drei Probleme zu machen und zwar in Richtung einer alle drei Dimensionen berücksichtigen Optimierungsstrategie (Buchstein/Schmalz-Bruns 1994: 322). Eine derart komplexe Demokratietheorie ist, soweit wir sehen, nicht erkennbar. Man mag darüber spekulieren, ob ein solch großer Wurf überhaupt möglich ist und ob dies die Leistung eines herausragenden einzelnen oder eines Forscherkollektivs wäre. Als sicher aber kann gelten, dass das, was Tocqueville für die angemessene politikwissenschaftliche Analyse des revolutionären 19. Jahrhunderts gefordert hat, nämlich eine politische Wissenschaft, die Moralphilosophie, Historiographie, Kultursoziologie, Ökonomie und verschiedene Zweige der Rechtswissenschaft vereint, nicht weniger für die Analyse des beginnenden 21. Jahrhunderts gilt. Über die politischen Wissenschaften hat Tocqueville in der bereits zitierten Akademierede gesagt: „Sie hüllen jede Gesellschaft gleichsam in eine Art Begeisterung ein, die den Geist von Regierten und Regierenden gleichermaßen belebt und woraus die einen wie die anderen, oft ohne es zu wissen und manchmal ohne es zu wollen, die Prinzipien ihres Handelns ableiten. Die
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Ungebildeten sind die einzigen, die in der Politik nur die Praxis erkennen“ (Tocqueville 2006: 53). Literatur Arendt, Hannah, 1989: Ziviler Ungehorsam, in: Arendt, Hannah, Zur Zeit. Politische Essays. Hrsg. von Marie Luise Knott. München, 119–159. Bellah, Robert N., 1987: Gewohnheiten des Herzens. Individualismus und Gemeinsinn in der amerikanischen Gesellschaft. Köln. Bermbach, Udo (Hrsg.), 1984: Politische Theoriegeschichte. Probleme einer Teildisziplin der Politischen Wissenschaft. Sonderheft 15 der Politischen Vierteljahresschrift. Opladen. Bluhm, Harald, 2002: Die Ordnung der Ordnung. Das politische Philosophieren von Leo Strauss. Berlin. Bluhm, Harald, 2003: Rezension zu Sheldon Wolin: Tocqueville Between Two Worlds, in: Politische Vierteljahresschrift 44, 602–605. Bluhm, Harald, 2005: Leidenschaft für die Freiheit. Das Gravitationszentrum von Tocquevilles politischem Denken, in: Berliner Debatte Initial 16, Heft 6, 69–82. Bluhm, Harald, 2006a: Einleitung: Tocqueville – der klassische Analytiker der modernen Demokratie, in: Alexis de Tocqueville. Kleine politische Schriften, Hrsg. von Harald Bluhm. Berlin, 11–47. Bluhm, Harald, 2006b: Politische Ideengeschichte im 20. Jahrhundert. Einleitung, in: Bluhm, Harald/Gebhardt, Jürgen (Hrsg.), Politische Ideengeschichte im 20. Jahrhundert. Konzepte und Kritik. Baden-Baden, 9–29. Bluhm, Harald/Reese-Schäfer, Walter (Hrsg.), 2006: Die Intellektuellen und der Weltlauf. Schöpfer und Missionare politischer Ideen in den USA, Asien und Europa nach 1945. Baden-Baden. Böckenförde, Ernst-Wolfgang, 1976: Staat, Gesellschaft, Freiheit. Studien zur Staatstheorie und zum Verfassungsrecht, Frankfurt/Main. Bohlender, Matthias, 1994: Die Rhetorik des Politischen. Zur Kritik der politischen Theorie, Berlin. Bohlender, Matthias, 2005: Demokratie und Imperium. Tocqueville in Amerika und Algerien, in: Berliner Journal für Soziologie, Heft 4, 523–540. Bohlender, Matthias, 2006: Michel Foucault – Für eine Geschichte und Kritik der politischen Vernunft, in: Bluhm, Harald/Gebhardt, Jürgen (Hrsg.), Politische Ideengeschichte im 20. Jahrhundert. Konzepte und Kritik. Baden-Baden, 89–106. Brodocz, André/Schaal, Gary S. (Hrsg.), 2002/2003: Politische Theorien der Gegenwart. Zwei Bände. Opladen. Brunkhorst, Hauke, 2000: Einführung in die Geschichte politischer Ideen. München. Buchstein, Hubertus, 2000: Öffentliche und geheime Stimmabgabe. Eine wahlrechtshistorische und ideengeschichtliche Studie. Baden-Baden.
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Gerhard Göhler
Theorie als Erfahrung Über den Stellenwert von politischer Philosophie und Ideengeschichte für die Politikwissenschaft
Politische Theorie gilt gegenüber der empirisch orientierten Politikwissenschaft stets als ein wenig abgehoben, und das ist so auch nicht ganz falsch. In der politischen Theorie geht es eben nicht selbst um Empirie, sondern um ihre theoretische Verarbeitung ebenso wie um die Vorfrage, wie die Empirie denn sinnvoll einzusetzen sei. Das bedeutet die Abstraktion von empirischen Einzelergebnissen, um zu eher grundsätzlichen Aussagen zu gelangen. Eine weitere Perspektive kommt hinzu. Geht es der Empirie darum, zu beschreiben und zu erklären, so fragt die politische Theorie ganz ausdrücklich auch danach, was sein soll. So befasst sich Demokratietheorie nicht nur mit der Funktionsweise und der Leistung der bestehenden demokratischen Systeme, sondern sie fragt zugleich, ob sie den normativen Kriterien von Demokratie genügen und wie diese selbst zu bestimmen sind. Diese normative Dimension kennzeichnet in besonderem Maße die politische Philosophie, wenn sie Ordnungsmuster bewertet und Handlungsorientierungen vermittelt. Sie argumentiert daher ganz abgehoben von der Empirie – ebenso wie die politische Ideengeschichte, die diese Fragen für die Vergangenheit stellt.1 Angesichts der erhöhten Abstraktionsleistung und des expliziten Einbezugs der normativen Dimension (vgl. Göhler 1978: 12, Göhler/Falter 1986: 120) ist die politische Theorie in der Tat von der Politikwissenschaft abgekoppelt, soweit diese selbst vornehmlich empirisch arbeitet. Tritt sie nun mit dem Anspruch auf, trotzdem ein genuiner Bestandteil der Politikwissenschaft zu sein, so trifft sie häufig – zumal in einer Konkurrenzsituation – auf das Unverständnis der Empiriker: Da moderne empirische Sozialwissenschaft stets mit dem Anspruch der 1
Die Ausdrücke „politische Ideengeschichte“ und „politische Theoriengeschichte“ - oder ausführlicher: „Geschichte der politischen Ideen“ bzw. „Theorien“ - können synonym verwendet werden. Bermbach (1984) hat dafür plädiert, den Terminus „Politische Theoriengeschichte“ enger zu fassen und für das Konzept einer historisch gesättigten, kontextabhängigen Ideengeschichte zu reservieren (Bermbach 1981, 1984a). Diese Abgrenzung hat sich nicht durchgesetzt. Zur Diskussion um politische Ideengeschichte siehe auch Beyme (1969), Euchner 1973, PVS: 22 (1981), Bermbach (1984), Münkler (1999) sowie jetzt Bluhm/Gebhardt (2006), Raphael (2006) und Straßenberger/Münkler in diesem Band.
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Theoriebildung auftrete, werde diese von einer reflektierten empirischen Forschung ohnehin betrieben. Daher bedürfe es zu einer Theorienbildung in der Politikwissenschaft nicht mehr einer eigenständigen politischen Theorie, die in ihrem Selbstverständnis ohnehin von empirischer Forschung abgekoppelt sei. Dieses Argument, welches politische Theorie als Subdisziplin der Politikwissenschaft in ihrem Bestand betrifft, ist außerordentlich ernst zu nehmen, zumal das hohe theoretische Niveau vieler empirischer Forschungen ganz außer Zweifel steht. Es muss deutlich werden, dass die politische Theorie und insbesondere auch die politische Philosophie einen substantiellen und notwendigen Beitrag zur Politikwissenschaft leisten und somit zur Klärung von Fragen verhelfen, die allesamt in der Politikwissenschaft beantwortet werden müssten. Das Gegenargument ist also, dass ohne politische Theorie der Politikwissenschaft ein unumgänglicher Bestandteil fehlen würde, nämlich die Reflexion auf empirische Forschung und die normative Explikation von Orientierungsmustern. Aber dazu müsste neben der funktionsbedingten Abgehobenheit der politischen Theorie und insbesondere der politischen Philosophie zugleich ihre unmittelbare Verbindung mit der empirisch orientierten Politikwissenschaft deutlich werden. Diese liegt im gemeinsamen Verständnis von „Erfahrung“. Dass empirisch orientierte Wissenschaft auf Erfahrung beruht, scheint eine Tautologie zu sein. In diesem Sinne wäre es allerdings die Konsequenz, dass nicht empirisch orientierte Wissenschaft nicht auf Erfahrung beruht, und das würde für ein Verständnis der politischen Theorie als „Erfahrungswissenschaft“ ernste Probleme aufwerfen, eine normativ orientierte politische Philosophie geradezu ausschließen. Aber die Gleichsetzung von Erfahrung mit Empirie ist etwas voreilig. Wenn deutlich wird, dass politische Theorie und auch politische Philosophie ihrerseits auf Erfahrung aufruhen, die auch für empirisch orientierte Politikwissenschaft relevant ist, dann muss einerseits das Verständnis von Erfahrung, welches der Politikwissenschaft zugrunde liegt, gegenüber einer einfachen Gleichsetzung von Erfahrung mit Empirie erweitert werden, andererseits gehören dann politische Theorie und auch politische Philosophie genuin der Politikwissenschaft zu. Die Konsequenz allerdings ist, dass mit der Maßgabe eines weiten Erfahrungsbegriffes die politische Theorie und auch die politische Philosophie empirisch anschlussfähig sein müssen, denn dieser Erfahrungsbegriff liegt ihnen allen gleichermaßen zugrunde. Wissenschaftssystematisch entscheidet also der zugrunde liegende Erfahrungsbegriff über den Stellenwert von politischer Philosophie und Ideengeschichte in der politischen Theorie und damit auch über deren Stellenwert in der Politikwissenschaft. Somit verhilft der Erfahrungsbegriff, der die politische Philosophie – scheinbar das extreme Gegenteil von Erfahrung – mit einschließt, auch dazu, die hier aufgeworfenen wissenschaftssystematischen Fragen zu beantworten:
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Wie verhält sich politische Ideengeschichte zur politischen Philosophie? Welches ist der Stellenwert von politischer Philosophie und Ideengeschichte innerhalb der Politischen Theorie als Teildisziplin der Politikwissenschaft? Was leisten beide für die Politikwissenschaft – und hat diese erforderliche Leistung methodologische und wissenschaftssystematische Konsequenzen?
Eine befriedigende Beantwortung dieser Fragen hängt davon ab, ob es gelingt, politische Theorie als Erfahrung und somit politische Philosophie und Ideengeschichte als Erfahrungswissenschaft zu begreifen. Anstelle einer Begriffsbestimmung beginne ich mit einem Beispiel: der Hegelschen Staatsphilosophie (1) und erörtere sodann das Konzept von Erfahrungswissenschaft für die politische Philosophie und Ideengeschichte (2). Unmittelbar im Zusammenhang damit steht das Problem der Normativität dieser Erfahrungswissenschaft (3). Abschließend nehme ich die wissenschaftssystematischen Fragen wieder auf (4). 1
Ein Beispiel aus der politischen Ideengeschichte: Hegels Bestimmung des Staates
Warum der Rückgang auf Hegel? Aus einer ganz einfachen Überlegung heraus: Normative Konzepte aus der politischen Ideengeschichte vermitteln historische Erfahrungsgehalte, die von der aktuellen politischen Philosophie stets neu reflektiert werden. Die Reflexion historischer Erfahrungen durch die politische Philosophie ermöglicht es, Grundzüge und Grundbedingungen unserer politischen Realität systematisch und häufig auch auf eine neue Weise zu begreifen. Der Rückgang auf Hegel mag dies demonstrieren, auch wenn der Sachverhalt allgemein bekannt ist und längst abgeheftet zu sein scheint. Hegels Bestimmung des Staates in der Rechtsphilosophie (1821) steht unter dem Verdikt, einer der reaktionärsten Teile seiner politischen Philosophie zu sein, und bei aller Anerkennung, dass Hegel erstmals eine Unterscheidung von bürgerlicher Gesellschaft und Staat vornimmt, bleibt diese Unterscheidung und der verbleibende Zusammenhang von bürgerlicher Gesellschaft und Staat doch ziemlich unklar. Alle diese Vorwürfe sind nicht abwegig, aber es lohnt doch einen genaueren Blick, wie Hegel das Verhältnis von bürgerlicher Gesellschaft und Staat nun eigentlich bestimmt (vgl. dazu ausführlicher Göhler 1994). Die Schwierigkeit liegt nicht nur in der Konstruktion des Übergangs, sondern vor allem darin, wie Hegel den Staat seinerseits noch charakterisieren soll, wenn wichtige staatliche Institutionen in der bürgerlichen Gesellschaft als „Notund Verstandesstaat“ (Hegel 1821: § 183) bereits abgehandelt sind: die ökonomische Staatstätigkeit, die Rechtspflege und der Bereich des Inneren in der „Po-
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lizei“. Tatsächlich erfolgt die Unterscheidung zwischen der bürgerlichen Gesellschaft, die zugleich „Not- und Verstandesstaat“ ist, und dem Staat selbst, den Hegel dann als den „eigentlich politischen Staat“ (Hegel 1821: § 267) bezeichnet, weniger nach Sektoren als vielmehr nach Funktionen: Hegel weist dem „Not- und Verstandesstaat“ der bürgerlichen Gesellschaft und dem „politischen Staat“ unterschiedliche Aufgaben zu. Aber damit ist das Problem eher noch verschärft, denn wo liegt nun die neue Funktion des politischen Staates gegenüber dem Staat der bürgerlichen Gesellschaft? Um das Allgemeine geht es auch schon in der bürgerlichen Gesellschaft. Die politischen Institutionen, auf die Hegel für die bürgerliche Gesellschaft ausdrücklich hinweist (Hegel 1821: § 263), sind bereits hier in ihrer hoheitlichen Funktion verankert. Soweit Hegel nicht einfach staatsrechtliche Bestimmungen zur Regierungsform (Monarchie, ständische Vertretung) nachschiebt, ist schwer ersichtlich, was eigentlich an Aufgaben für die Institutionen des politischen Staates noch übrig bleibt. Um dieser Schwierigkeit beizukommen, empfiehlt es sich, einige bisher wenig beachtete Passagen in der einleitenden Bestimmung des politischen Staates genauer unter die Lupe zu nehmen (Hegel 1821: §§ 263ff.). Der entscheidende Hinweis liegt nämlich darin, dass Hegel von „Institutionen“ erstmals im Abschnitt „Staat“ spricht, auch wenn er nun rückblickend die Institutionen des Notund Verstandesstaates als solche benennt. Das dürfte bei einem Systematiker wie Hegel kein Zufall sein; vielmehr kann er überhaupt erst auf der erreichten Stufe des politischen Staates als höchster Sittlichkeit die staatlichen Institutionen als solche kennzeichnen. Es muss ihnen also eine Qualität zukommen, die auf der Stufe der bürgerlichen Gesellschaft noch nicht sichtbar ist, obwohl die Institutionen im liberalen „Not- und Verstandesstaat“ bereits bestehen. Damit ist auch die neue Qualität des Staates in Hegels Bestimmung der Institutionen zu suchen. Institutionen haben für Hegel offenbar eine doppelte Funktion, je nachdem ob sie aus der Sicht der bürgerlichen Gesellschaft oder des Staates erfasst werden. Wichtige Aufschlüsse über die unterschiedliche Funktion von Institutionen erhält man, wenn man sie über den Topos „Repräsentation“ begreift (vgl. dazu ausführlicher Göhler 1997: 46ff.). Repräsentieren heißt, etwas darstellen, verkörpern; politisch: im Namen eines anderen handeln. Repräsentation kann in Form eines Mandats erfolgen, wenn besondere oder allgemeine Interessen vertreten werden, denen sich der Repräsentant verpflichtet fühlt; Repräsentation kann aber auch Symbolisierung bedeuten, wenn ein Unsichtbares (etwa der Wertbestand, der einem Gemeinwesen zugrunde liegt) sichtbar gemacht wird. Bei der symbolischen Repräsentation kommt es vornehmlich auf die Darstellung an; sie ist nicht unmittelbar auf den Willen von Auftraggebern rückführbar. Aber offensichtlich ist symbolische Repräsentation – wie sie etwa in Emblemen, Amtshandlungen oder auch im Gründungsakt einer Verfassung vorliegt – für politische Institutio-
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nen zumindest ebenso wichtig wie Repräsentation durch Mandat; denn auf diese Weise können politische Institutionen die Gesellschaft normativ integrieren. Wenn man die Funktionsbestimmung politischer Institutionen durch einen doppelten Repräsentationsbegriff als Interpretationsfolie für Hegel verwendet, so tritt eine bisher übersehene Seite der Hegelschen Staatsphilosophie zu Tage. Dass Hegel hier mit dem Institutionenbegriff arbeitet, hängt damit zusammen, dass es ihm vor allem auf die Funktion der symbolischen Repräsentation ankommt. Diese macht für ihn nur auf der Stufe des politischen Staates Sinn, denn es ist gerade das Wesen und die Stärke des politischen Staates gegenüber dem liberalen „Not- und Verstandesstaat“, dass er mit seinen Institutionen eine symbolische Repräsentation entfalten und damit die Gesellschaft normativ integrieren kann. In den genannten Passagen zum Staat führt Hegel aus, dass es nicht nur auf das technische Funktionieren politischer Institutionen ankommt, sondern auf das Bewusstsein der Bürger. Wenn diese nicht nur ihren legitimen eigenen Interessen folgen, sondern gleichzeitig sich selbst im Ganzen aufgehoben wissen, also normativ integriert sein sollen, so bewirken das die politischen Institutionen. Sie machen die umfassende Einheit, in der die Bürger mit ihren Wertvorstellungen sich selbst wiederfinden und aufgehoben wissen sollen, überhaupt erst sichtbar. An die Stelle des bloßen „Scheins“ von Sittlichkeit in der bürgerlichen Gesellschaft (Hegel 1821: § 181) tritt die Sittlichkeit in ihrer „Gestalt“ (Hegel 1821: § 266) im politischen Staat. Hegels Staatsphilosophie, als Institutionentheorie gelesen, zeigt also den entscheidenden Unterschied von bürgerlicher Gesellschaft und Staat darin, dass erst der politische Staat, nicht schon der liberale „Not- und Verstandesstaat“, die symbolische Repräsentation der zugrunde liegenden gemeinsamen Werte zu erbringen vermag, welche die Gesellschaft normativ integriert. Das Beispiel soll verdeutlichen, dass politische Philosophie und Ideengeschichte für mehrere und durchaus unterschiedliche Beiträge zur Politikwissenschaft gut sind:
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Beitrag zur Hegel-Interpretation: ein besseres Verständnis des Verhältnisses von bürgerlicher Gesellschaft und Staat bei Hegel; Beitrag zur Institutionentheorie: ein besseres Verständnis der Funktionsbedingungen und Wirkungsweise politischer Institutionen vermittels der symbolischen Repräsentation und ihrer Integrationsleistung; Beitrag zur normativen Dimension von Demokratietheorie und ihrem Praxisbezug: Folgt man Hegel in seiner Staatsphilosophie, die er selbst in keiner Weise als demokratisch versteht, so gelten seine Einsichten durchaus auch für die Demokratie: Sie muss sich der Bedeutung der symbolischen Ebene von Repräsentation bewusst werden und sich ihrer gleichermaßen
bemächtigen – weil sie auf normative Integration vermittels symbolischer Integration wie jede andere Form des Regierens angewiesen ist, vielleicht sogar noch viel dringender als jene. 2
Das Kriterium der Erfahrung
Was besagt dieses Beispiel für ein Konzept von politischer Philosophie und Ideengeschichte innerhalb der politischen Theorie? Ich gehe von einer Positionsbestimmung aus, die später noch erweitert werden muss. Politische Philosophie und Ideengeschichte fragen beide nach einer angemessenen Ordnung für das Zusammenleben der Menschen in einem Gemeinwesen. Diese Fragen werden von der politischen Philosophie systematisch gestellt und in der politischen Ideengeschichte historisch verfolgt. Politische Ideengeschichte ist also der historische Erfahrungshintergrund von politischer Philosophie, sie ist „Überlieferung und Interpretation der Resultate philosophischen Denkens über politische Probleme“ (Weber-Schäfer 1985: 766). Eingedenk dieses Materials aus Überlieferung und ihrer Interpretation versucht sich die politische Philosophie an mehr oder weniger systematischen Antworten. Jede politische Philosophie wird im Nachhinein zum Element politischer Ideengeschichte. Hegels Argument ist keine empirische Analyse. Es ist aber auch keine bloß philosophische Überlegung in dem Sinn, dass sie nur ganz allgemein nach dem Wesen des Staates und der politischen Institutionen fragen würde. Das philosophische Argument ist zwar nicht empirisch, wohl aber empiriegesättigt. Es wird deutlicher als in manch anderen philosophischen Überlegungen, dass Hegel hier Erfahrungen verarbeitet, sie werden von ihm explizit für seine Philosophie in Anspruch genommen. Diese Erfahrungen erwachsen ganz konkret aus dem Entstehen der bürgerlichen Gesellschaft mit Industrialisierung und Pauperisierung; es sind darüber hinaus die Erfahrungen neuzeitlicher Subjektivität und Ichgewissheit, verbunden mit der Einsicht, dass ein Gemeinwesen, welches sich in der Neuzeit zum „Staat“ herausgebildet hat, durch solche Tendenzen gefährdet ist oder gar schon verfällt. Eine Möglichkeit der Restitution, vielleicht die entscheidende, sieht Hegel auf der symbolischen Ebene von Institutionen. Sie erhalten ihre vernünftige Ausprägung, wenn sie als Gestalt einer menschenwürdigen menschlichen Gemeinschaft darstellbar sind und somit von den Bürgern als ihre eigenen wahrgenommen und gewusst werden können. Diese Möglichkeit sieht Hegel in einem Staat preußischen Musters gegeben – wohlgemerkt nach den Reformen und den Freiheitskriegen. Wenn wir Hegel so lesen (ob wir ihm nun zustimmen oder nicht), nehmen wir nicht nur eine politische Philosophie der Vergangenheit zum Gegenstand der Untersuchung, sondern wir betreiben selbst
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politische Philosophie, und zwar so, dass wir uns in unserer eigenen Lebenswelt mit historischen, aber für uns immer noch einschlägigen Erfahrungsgehalten auseinandersetzen. Das kennzeichnet eine ideengeschichtlich gesättigte politische Philosophie im Rahmen von politischer Theorie und Politikwissenschaft. Mir scheint das Kriterium der Erfahrung besonders geeignet, um zu einer genaueren Verortung von politischer Philosophie und Ideengeschichte zu gelangen. Erfahrung ist ein sehr vielschichtiges Phänomen. Zunächst bezieht sie sich ganz unmittelbar auf Sinneseindrücke, die als messbare Realität möglichst exakt festgehalten werden; darauf basiert unser dominantes neuzeitliches Verständnis von Erfahrungswissenschaft im naturwissenschaftlichen Sinn. Aber es gibt auch andere Formen der Erfahrung, und somit auch mögliche andere Verständnisse von „Erfahrungswissenschaft“, sofern sie sich auf andere Formen von Erfahrung richten und dabei in einer Weise vorgehen, die man, gemessen am Gegenstand, als methodisch kontrolliert (und somit als wissenschaftlich) anerkennen kann.2 Es sind ganz unterschiedliche Formen von Erfahrung, die hier eine Rolle spielen können (vgl. Voegelin 1966, 1959; Brodocz 2007):
Interpretationen von Sinnesdaten in der eigenen Lebenswelt (lebensweltliche Erfahrungen); Werterfahrungen (individuelle Autonomie, Rechtssicherheit, Solidarität); Grenzerfahrungen (Tod, Angst); existentielle Erfahrungen (Liebe, Geborgenheit, Not, Leid, Schmerz); Glaubenserfahrungen (Religion, Mystik).
Entscheidend ist, dass nicht ein einzelnes Datum, ein Vorgang, ein Akt schon eine „Erfahrung“ darstellt. Erfahrung ist nicht loszulösen von dem Subjekt, das sie „macht“, und von den Subjekten, an die es sie weitergibt und die sie übernehmen. Erfahrung „gibt“ es nicht, sie kann nur „ausgelöst“ werden – was für den einen eine Erfahrung ist, braucht es für den anderen noch lange nicht zu sein. Erfahrung ist das Ergebnis einer Interpretation: dass etwas, was mir „widerfahren“ ist, über den Anlass hinaus eine gewisse Gültigkeit besitzt, in sachlicher, zeitlicher, auch zwischenmenschlicher Verallgemeinerung. Erfahrung mag für den Einzelnen evident sein, ihre Gültigkeit für eine Gemeinschaft ist stets sozial konstruiert. Das trifft schon für die einfachsten naturwissenschaftlichen Daten, die Sinneswahrnehmungen zu; um zu wissenschaftlichen Aussagen zu gelangen, bedarf es der Allgemeinbegriffe, somit theoretischer Konstruktionen, also Inter2
Wissenschaft wird hier also verstanden als die methodisch kontrollierte Verarbeitung von Erfahrungen. Dies durchaus auch im Sinne von Paul Feyerabend (1983), der sich zwar vehement gegen den „Methodenzwang“ als Kriterium von Wissenschaftlichkeit wendet, aber dabei zugleich für eine reflektierte – und eben damit kontrollierte – Verarbeitung unterschiedlichster Erfahrungen plädiert.
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pretationen, und Anerkennung durch andere. Das hat Hegel in der Phänomenologie des Geistes klassisch vorgeführt (vgl. Adorno 1963), die moderne Wissenschaftstheorie hat es inzwischen auch begriffen. Für die anderen Erfahrungsformen liegt es auf der Hand: Erfahrung entsteht durch verallgemeinernde Interpretation eines Anlasses, und wenn der Anlass selbst eine (von einem anderen geäußerte) Erfahrung ist, so wird diese durch bewusste Übernahme zur eigenen Erfahrung. Erfahrung lässt sich begründen: dass sie eine Erfahrung und nicht etwa nur irgendein Erlebnis ist und warum sie es ist. Die Begründung kann nicht beanspruchen, für alle anderen verbindlich oder auch nur hinreichend überzeugend zu sein, es gibt also mehr oder weniger verbindliche Anmutungen der Übernahme eigener Erfahrung. Die Wissenschaft hat es in einer sehr spezifischen Weise mit Erfahrungen zu tun, weil sie gerade auf die intersubjektive Begründbarkeit pocht und sie mit hohen Rationalitätsansprüchen verbindet. Nicht jede Erfahrung wird so zur Wissenschaft, und es gibt Variationen der Art und Abstufungen der Strenge von Begründungen – das kennzeichnet unterschiedliche Wissenschaftsdisziplinen und ihre Vorgehensweisen. In diesem Sinn ist politische Theorie auf ihrem Abstraktionsniveau eine Erfahrungswissenschaft, und somit auch politische Ideengeschichte und politische Philosophie. Politische Theorie ist Ordnung der politischen Erfahrungen; politische Philosophie ist auf der Erfahrungsgrundlage politischer Ideengeschichte die argumentative Begründung dessen, was die Möglichkeiten empirischer Forschung übersteigt.3 So hat sie mit allen (genannten) Erfahrungen zu tun, soweit sie sich auf politische, das Gemeinwesen betreffende Fragen beziehen. Ihr Gegenstand sind alle für das Gemeinwesen möglicherweise relevanten Erfahrungen; ihre Aufgabe besteht nun darin, aus dieser Vielfalt jene Erfahrungen auszuwählen, im Zusammenhang zu formulieren und zu begründen, die ein Verständnis des Politischen in unserer Lebenswelt ermöglichen und politische Wert- und Zielvorstellungen für uns ausweisen können. Materialbasis und Reservoir ist in erster Linie die Geschichte der politischen Ideen. Hier sind im Rückblick jene Erfahrungen zu finden, die formuliert, diskutiert, vergessen wurden oder weitergewirkt haben; sie stellen jeweils in ihrer Zeit Antworten aus unterschiedlichen Positionen auf aktuell drängende Fragen dar. Wenn die politische Ideengeschichte als Wissenschaft diese Erfahrungen historisch interpretiert und einordnet, so vollzieht die politische Philosophie – in der Forschungsrealität kaum trennbar – ihre systematische Interpretation und Einordnung, bezogen auf die Problemlagen des aktuell existierenden Gemeinwesens. Wo sollten Erfahrungen besser greifbar sein als in den historisch bereits formulierten? Historische Erfahrungen werden
3
Zur „philosophischen Begründbarkeit freiheitlicher Politik“ vgl. Schwan (1992: 55ff.).
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freilich interpretiert und geordnet im Lichte gegenwärtiger Erfahrungen.4 Dies sind vor allem zwei: zunächst die eigenen lebensweltlichen Erfahrungen, die erst das Problembewusstsein der dringlich zu bearbeitenden Fragen erzeugen und die Antworten vorstrukturieren; sodann die Konzepte und Ergebnisse empirischer Forschung der Politikwissenschaft, an denen sich vergangene Erfahrungen messen lassen müssen und die ihrerseits des Verständnisses ihrer Herkunft bedürfen. Mit dieser Ordnung und Interpretation vergangener im Lichte gegenwärtiger Erfahrungen kann die politische Philosophie zu Ordnungsentwürfen des menschlichen Zusammenlebens gelangen, die empirisch nicht einlösbar sind, an denen sich die Empirie aber zu orientieren vermag, jedenfalls insofern sie empirisch anschlussfähig sind. Dabei ist die politische Philosophie verstanden als „Erfahrungswissenschaft“ durchaus doppeldeutig, und mit ihr auch insgesamt die politische Theorie. Einerseits ist sie angesichts der Grenzen politikwissenschaftlicher Empirie der unumgängliche Versuch, jene Erfahrungsschichten, welche die Empirie zwar untersuchen, nicht aber in weiterführender Diskussion verarbeiten kann, der wissenschaftlichen Auseinandersetzung zugänglich zu machen. Andererseits ist sie auch in dem Sinne „Erfahrungswissenschaft“, dass sie an wissenschaftliche Erfahrung strikt rückgebunden bleibt und somit, wenn sie als der Politikwissenschaft zugehörig betrachtet wird, für die empirische Forschung und Theoriebildung der Politikwissenschaft stets präsent bleiben muss. Das ist als Postulat einfach und einleuchtend, in der Durchführung wird es allerdings zu einem schwierigen, bislang nur selten eingelösten Unterfangen, wenn ein unüberschaubares empirisches Datenmaterial ohne Komplexitätsverlust in der Substanz auf einfache theoretische Grundfragen projiziert werden soll. Jedoch sollte, trotz aller Schwierigkeiten, an diesem Postulat aus beiderseitigem Interesse festgehalten werden. Ich kann mir jedenfalls im gegenwärtigen ausdifferenzierten Wissenschaftsbetrieb keine politische Philosophie und somit letztlich auch keine politische Theorie vorstellen, die ernst genommen werden will und sich diesem Anspruch nicht stellt. Das Verständnis von politischer Philosophie als Erfahrungswissenschaft hat eine weitere Konsequenz. Erfahrungen sind situationsbezogen; wenn Situationen sich ändern, können die Erfahrungen unbrauchbar werden. Sie bleiben nie unverändert, und sie können auch falsch sein. Selbst wenn wir von ihrer Richtigkeit überzeugt sind, lassen sie sich durch einen rationalen Diskurs nicht verbindlich 4 Gegenwärtige Erfahrung geht doppelt in unsere Wissenschaft ein: Auf der einen Seite werden vorliegende Konzepte und Begründungszusammenhänge systematisch aufgearbeitet (wie es zum Beispiel Habermas für die Gesellschaftstheorie eindrucksvoll vorgeführt hat). Auf der anderen Seite werden persönliche Erfahrungen ein- und umgesetzt; erlebte Ereignisse und Prozesse werden im Lichte der eigenen Position interpretiert.
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übertragen, und sie werden auch nicht gern angenommen. (Alle Eltern haben Schwierigkeiten, den Kindern ihre Erfahrungen zu vermitteln.) Daraus ergibt sich für mich eine Skepsis gegenüber dem Anspruch von Letztbegründungen in der politischen Philosophie. Konkrete Handlungsanweisungen lassen sich aus abstrakten Erfahrungsgrundsätzen ebenso wenig ableiten wie die berühmte Krugsche Schreibfeder aus der Hegelschen Philosophie. Zweifellos gibt es Werte, von denen wir sagen können, sie haben sich durch die historische Erfahrung als unverzichtbar ausgewiesen, dazu gehört sicherlich auch die Demokratie. Aber schon die Frage, ob es denn die repräsentative Demokratie sei und wie diese aussehen solle, ist aus unstreitig gültigen historischen Erfahrungen nicht mehr unmittelbar zu begründen. Hier beginnt das Geschäft des Abwägens zwischen unterschiedlichen, bisweilen miteinander unvereinbaren Interpretationen mit ihren je eigenen Lösungsansprüchen für reale Problemlagen und ihren eigens dafür vorgelegten Begründungen. Allerdings ist ein solcher Rekurs auf Erfahrungen, der bestimmte Grundsätze politischer Ordnung höchstens nahe legt und ihre Ausdifferenzierung dem Abwägen unterschiedlicher Erfahrungszusammenhänge überlässt, darum doch nicht beliebig. Ich komme auf die Unverzichtbarkeit historischer Erfahrungen zurück. Sie vermitteln Kontinuitäten, die durch neue Erfahrungen ergänzt und weiterentwickelt, nicht aber außer Kraft gesetzt werden. Sie sind auch nicht beliebig abrufbar, denn sie entstammen einem historischen Zusammenhang, in dem wir uns selbst befinden und dem wir uns nicht einfach entziehen können. Ob solche Erfahrungskontinuitäten für uns gültig sind oder nicht, hängt also nur zum Teil von aktuellen Situationserfordernissen und persönlichen Präferenzen ab. Erfahrungen sind perspektivisch, aber wenn es sich um Grunderfahrungen handelt, so beruht die Perspektive weniger auf dem persönlichen Dafürhalten als vielmehr auf historischen und kulturellen Zusammenhängen. So sind unsere Vorstellungen von Menschenrechten das Ergebnis westlicher Erfahrungen: als solche perspektivisch, doch nach unserer Erfahrung objektiv gültig. Wir können also mit Bezug auf den westlichen Erfahrungskontext sagen, dass wir wissen, wie Menschenrechte grundsätzlich aussehen. Mit Bezug auf andere Erfahrungskontexte, die sich in anderen kulturellen Normen niederschlagen, können wir zwar keine Letztbegründung dafür liefern, dass unsere Auffassungen richtig, das heißt verallgemeinerbar sind. Aber wir können vermuten, und zwar mit guten Gründen, dass unsere Auffassung von Menschenrechten auch für die Menschen anderer Kulturen maßgebend ist. Also gilt es, die westliche Auffassung von Menschenrechten auch für andere Kulturen zu propagieren und insbesondere auszutesten, inwieweit diese für alle Beteiligten und nicht nur für Privilegierte (Reiche, Männer) wünschbar und letztlich ebenso grundlegend sind. Soweit sich solches herausstellt, gewinnen die westlichen Vorstellungen von Menschenrech-
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ten Gültigkeit über den eigenen Kulturkreis hinaus. Ähnlich substantielle Erfahrungen sind beispielsweise die Autonomie des Individuums, der Rechtsstaat oder das Diskriminierungsverbot. 3
Normativität
Was politische Philosophie und Ideengeschichte von der empirischen Theorienbildung der Politikwissenschaft besonders unterscheidet, ist der explizite und unhintergehbare Einbezug der Normativität. Da hier aus logischer wie empirischer Sicht die größten Schwierigkeiten bestehen, entscheidet die Lösung des Problems der Normativität über die Brauchbarkeit des Konzepts von politischer Philosophie als Erfahrungswissenschaft. Die normative Dimension betrifft Aussagen über ein Sein-Sollendes: Vorschriften, Werte, Zielvorstellungen. Man kann sie – analytisch – in ihrem Inhalt, ihrer Wirkungsweise, ihren Konsequenzen erfassen, also zum Gegenstand wissenschaftlicher Analyse machen (zum Beispiel mit Parsons die Funktion von Institutionen, durch Bündelung von Wertvorstellungen die Gesellschaft normativ zu integrieren). Das ist wissenschaftstheoretisch unproblematisch. Man kann aber auch – philosophisch – selbst Wertungen vornehmen, sei es in der Auszeichnung bestimmter normativer Vorstellungen (Partizipation als Wert in der Demokratie) oder im Neu-Entwurf von normativen Konzepten. Das wird wissenschaftstheoretisch dann problematisch, wenn der Geltungsanspruch von Seins-Aussagen auf Sollens-Aussagen übertragen wird. Gemeinhin gilt, man dürfe vom Sein nicht auf das Sollen schließen; Sein und Sollen sind unterschiedliche Dimensionen, die in keinem Zusammenhang zueinander stehen. Vielmehr müssen, nach analytischer Auffassung, die Logiken des Seins und des Sollens völlig voneinander getrennt bleiben. Hiergegen wehrt sich jede Politikwissenschaft, welche die normative Dimension in ihren Fragehorizont mit einbezogen sieht. Sie tut es freilich zumeist mit einem falschen Argument: Politikwissenschaft habe es mit Normen, Werten, Zielvorstellungen der Gesellschaft zu tun, also müsse sie selbst auch werten. Das ist kurzschlüssig, denn hier wird der Gegenstand der wissenschaftlichen Analyse (Werte) mit der Art der wissenschaftlichen Behandlungsweise (Wertung) verwechselt. Die Analyse von Werten ist aber etwas anderes als ihre Begründung.5 Man muss das Problem schon ein wenig genauer angehen. Aussagen, die menschliches Handeln und Zusammenhandeln betreffen, haben Normen, Werte, Zielvorstellungen nicht nur zum Gegenstand, sondern sie enthalten, explizit oder implizit, selbst auch Bewertungen. Das zeigt uns jede 5
Auf der Grundlage von Max Webers Objektivitätsaufsatz (Weber 1904, insbesondere 148ff.) hat Albert diesen Punkt besonders klar und geradezu abschließend herausgearbeitet (Albert 1968: 62ff.).
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Alltagshermeneutik. Wenn wir von Demokratie sprechen, meinen wir nicht nur eine Ordnungsform, die sich so nennt, sondern wir haben aufgrund aller unserer historischen und lebensweltlichen Erfahrungen einen zumindest groben Maßstab, ob sie sich auch so nennen darf; sonst wären wir jeder Ideologie ausgeliefert. Der Grund und die Berechtigung, so zu verfahren, liegt in der „PluriDimensionalität“ (d'Entrèves 1971) unserer politischen Sprache. Schon die Alltagssprache kann doppeldeutig sein: „Es ist jetzt fünf vor Zwölf“ kann eine reine Zeitangabe, aber auch eine dringliche Warnung, also eine normative Aussage sein. Der Satz „Der Mensch ist ein freies Wesen, also soll er im Zusammenleben seine Freiheit verwirklichen“ ist logisch ein (verbotener) Schluss vom Sein aufs Sollen, macht aber als politische Aussage durchaus Sinn. Warum ist das so – gegen jede wissenschaftliche Logik? Der Grund liegt in unserer Alltagssprache und ihrem Erfahrungshorizont. Hier ist die Seinsaussage über die Freiheit des Menschen zugleich eine implizite Sollensaussage, und in allen Fragen des menschlichen Handelns und Zusammenhandelns ist diese Mischung die Regel. Wenn man es so sieht, ist die Beschränkung auf eine Seinsaussage eine Reduktion zum Zwecke ihrer empirischen Überprüfung, sie ist eine bewusst vorgenommene Abstraktion. Für empirische Zwecke ist sie durchaus gerechtfertigt, und aus dieser Abstraktion ist in der Tat ein Schluss auf das Sollen eine nicht gedeckte Grenzüberschreitung. Das gilt insbesondere für die (empirische) Wissenschaftssprache. Wissenschaft ist schließlich nichts anderes als eine soziale Konstruktion, um präzisere Aussagen als diejenigen der Alltagssprache zu formulieren. Aber es bleibt eben festzuhalten, dass alle Sätze, in denen die Abstraktion nicht vorgenommen wurde oder nicht vorgenommen werden musste – die Sätze der Alltagssprache über Handeln und Zusammenhandeln der Menschen – zumindest implizit auch normativ sind. „Der Arme“ ist eine Zustandsbeschreibung, enthält in unserem Kulturkreis aber implizit auch normativ die Aufforderung, ihm zu helfen. Die Explikation dieses normativen Gehalts hat mit Abstraktionen zum Zwecke empirischer Analyse nichts zu tun und ist logisch unbedenklich. Das ist das Geschäft der politischen Philosophie: nicht nur explizit normative Aussagen, sondern auch Seinsaussagen mit implizit normativem Gehalt argumentativ zu entfalten. Das ist dann freilich zugleich eine Absage an jeden einfachen Normativismus. Interessant ist weniger die philosophische Entfaltung oder gar Ableitung reiner Normen als vielmehr die Beschäftigung mit jenen Sachverhalten, die Seins- und Sollensaussagen gleichermaßen und gleichwesentlich enthalten. Jede Aussage über die Ordnung des menschlichen Zusammenlebens hat diesen Charakter – denn „Ordnung“ selbst ist stets doppelsinnig. Der Ausdruck bezeichnet einerseits im deskriptiven Sinn eine Struktur, andererseits im normativen Sinn eine Strukturvorgabe und deren Legitimation. Wenn wir diesem Doppelsinn in
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der Politikwissenschaft gerecht werden wollen, bringt das Konsequenzen und auch Schwierigkeiten, vielleicht überraschend, weniger für die empirische Forschung als vielmehr für die politische Philosophie. Empirische Forschung einschließlich theoretischer Generalisierungen ist logische und inhaltliche Analyse der Sachverhalte politischer Ordnung vermittels eines am wissenschaftlichen Exaktheitsideal orientierten methodischen Instrumentariums, und sie kann sich in diesem Rahmen jeglicher normativen Bewertung enthalten. Politische Philosophie dagegen entnimmt ihre Existenzberechtigung in der Politikwissenschaft gerade dem Umstand, dass eine Politikwissenschaft, die sich insgesamt auf empirische Analyse und die damit erforderliche Trennung von Seins- und Sollensaussagen beschränkt, in Fragen der Bewertung politischer Ordnung eingedenk der Maxime des frühen Wittgenstein notgedrungen sprachlos bleiben müsste. Aber daraus ergibt sich keine schlichte Arbeitsteilung. Politikwissenschaft und insbesondere politische Theorie sollte sich nicht auf die nur scheinbar praktikable Aufteilung einlassen, einmal handele es sich um die Befassung mit Fakten und Werten (als Fakten), das andere Mal um Bewertungen und Normenbegründungen, also einerseits um empirische Theorienbildung und andererseits um normative Theorie. Die Trennlinie wäre unangemessen und zu grob. Ordnungsmuster lassen sich empirisch auf ihre Funktionsweise und ihre Leistung hin untersuchen, das ist zu Recht die Aufgabe der empirischen Theorienbildung. Aber zugleich geht, früher oder später, jede Diskussion, Begründung und Kritik vorhandener Ordnungsmuster über die empirische Analyse hinaus und gelangt in den philosophisch-normativen Bereich von Wertungen und Wertbegründungen. Seinsaussagen sind letztlich ohne Sollensaussagen nicht zu haben. Beide wissenschaftlichen Behandlungsweisen haben es mit demselben Gegenstand und gleichermaßen mit Seins- und Sollensaussagen zu tun. Wie sie mit ihnen umgehen, scheint mir für die empirische Analyse klarer zu sein als für die politische Philosophie. Hier entsteht nämlich eine merkwürdige Asymmetrie. Die empirische Analyse behandelt Tatsachen und Normen, also die Sachverhalte von Seins- und Sollensaussagen allein als Gegenstand der Deskription und der Erklärung. Die politische Philosophie fasst dieselben Tatsachen und Normen als Bestandteile von Ordnungsmustern des menschlichen Zusammenlebens, deren Begründung sie legitimiert oder der Kritik unterzieht. Aber während die empirische Analyse die normative Frage nicht zu stellen braucht, kann die normativ orientierte politische Philosophie von Seinsfragen, die letztlich empirische Fragen sind, nicht abstrahieren – ein solches Versäumnis wird einem rein normativistischen Denken über Politik oft und zu Recht vorgeworfen. Sie kann aber auch die empirische Forschung nicht unmittelbar integrieren – eine „Supertheorie“, die das erlauben würde, ist trotz Hegel, Marx, der Kritischen Gesellschaftstheorie oder auch Luhmann in den Sozialwissenschaften bisher noch nicht gefunden. Wenn
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nun aber der Realitätsbezug der politischen Philosophie nicht abhanden kommen darf, muss sie sich wenigstens indirekt der Ergebnisse empirischer Forschung vergewissern, um sie in ihre normative Explikation von Ordnungsvorstellungen mit aufzunehmen. Von den Schwierigkeiten eines solchen Transfers sei hier nicht die Rede. Mir geht es lediglich um den dringlichen Hinweis, dass sich politische Philosophie, gerade wenn sie ihren normativen Anspruch ernst nimmt, von Konzepten und Ergebnissen der empirischen politikwissenschaftlicher Forschung nicht abkoppeln darf. Das Ergebnis meiner Überlegungen zum normativen Profil politischer Theorie, für welches genuin die politische Philosophie steht, ist das gleiche wie bei der Bestimmung von politischer Philosophie als Erfahrungswissenschaft. Weil politische Philosophie eine Erfahrungswissenschaft ist – sui generis zwar, aber eben auf Erfahrungen bezogen und angewiesen –, kann sie sich vom Erkenntnismodus der Verarbeitung von Erfahrungen nicht ablösen; das spricht gegen die Sicherheit von Letztbegründungen. Auch wenn politische Philosophie eine normative Wissenschaft ist, kann sie, angesichts der Gemengelage von Seins- und Sollens-Aussagen zur Politik, auf Realitätsbezug und somit den Beitrag empirischer Forschung nicht verzichten; das spricht gegen einen reinen Normativismus der politischen Philosophie. Politische Philosophie ist innerhalb der Politikwissenschaft „normative Wissenschaft“ und „Erfahrungswissenschaft“ zugleich, weil Normativität und Erfahrung, wenn diese nicht im engen Sinn der Empirie verstanden wird, aufeinander bezogen und nur zum Zweck der Analyse voneinander zu trennen sind. 4
Wissenschaftssystematische Fragen
Die Bestimmung von politischer Philosophie erfolgte bisher allein aus der Sicht der Politikwissenschaft; politische Ideengeschichte wurde als Erfahrungshorizont für die politische Philosophie, also als ihr historisches Material bestimmt; schließlich wurde politische Theorie zunächst nur so weit thematisiert, wie es in ihr um politische Philosophie und Ideengeschichte geht. Damit sind die eingangs benannten Fragen nur zum Teil behandelt, zumindest drei Nachfragen sind noch offen, und zwar:
zum Stellenwert von politischer Philosophie zwischen Politikwissenschaft und Philosophie: Welcher der beiden Disziplinen gehört politische Philosophie eigentlich zu?
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zur Verortung von politischer Theorie in der Politikwissenschaft: Was leistet politische Theorie für die Politikwissenschaft und welche Zugänge bietet sie an? zum Verhältnis von politischer Philosophie und Ideengeschichte selbst: Ist politische Ideengeschichte nur der „Zubringer“ für politische Philosophie?
Zu (1): Die erste Frage rührt, wenn sie in disziplinärer Schärfe gestellt wird, an die Existenz des Fachs Politikwissenschaft selbst. In ihrer Begründung als akademische Disziplin im westlichen Nachkriegsdeutschland wurde stets argumentiert, sie dürfe sich nicht nur ganz eingeengt mit Strukturen, Prozessen und Ergebnissen der Politik befassen. Vielmehr müsse sie hierzu auch alle Fragestellungen aus den Nachbardisziplinen heranziehen, die für das Verständnis von Politik relevant sind. Sie müsse also als „Integrationswissenschaft“ die historischen, soziologischen, ökonomischen, juristischen und philosophischen Aspekte der Politik mit einbeziehen und zu einer problemadäquaten Analyse zusammenführen, um den Gegenstand „Politik“ in allen seinen Dimensionen zu erfassen (vgl. Bracher 1965: 56ff.).6 Größere politikwissenschaftliche Institute, insbesondere das Otto-Suhr-Institut der Freien Universität Berlin, folgten diesem Leitbild. Dagegen wurde von den anderen Fächern immer wieder kritisch gefragt, ob sich die Politikwissenschaft denn ihren eigenen Haus-Historiker, Haus-Soziologen, Haus-Ökonomen, Haus-Juristen oder eben auch Haus-Philosophen leisten solle. Man mag das – je nach disziplinärem Standort – bejahen oder verneinen. Auf jeden Fall wird der Zuschnitt des Fachs Politikwissenschaft durch die Antwort entscheidend geprägt: Das Fach gerät entweder sehr groß oder eher klein. Hier interessiert die Zuordnung der politischen Philosophie. Anstatt aber eine subtile und doch zugleich interessengeleitete Abgrenzungsdebatte darüber zu führen, welchem Fach, der Philosophie oder der Politikwissenschaft, die politische Philosophie nun eigentlich zuzurechnen sei, sehe ich sie in beiden Disziplinen verankert und versuche dies in guter philosophischer Tradition mit einem Gleichnis zu verdeutlichen. Politische Philosophie kann mit einem Brückenrestaurant verglichen werden, wie man es vornehmlich in Italien über Autobahnen findet. Auf der einen Seite liegt das Gebiet der Politikwissenschaft, auf der anderen Seite das der Philosophie. Verankert ist das Restaurant, weil als Brücke gebaut, auf beiden Seiten, sonst würde es einstürzen, und sinnvollerweise gibt es von beiden Seiten her einen Zugang. Aber das Menü-Angebot ist das gleiche; es mag lediglich sein, dass die Gäste das Restaurant mit unterschiedlichen Erwartungen und einem 6
Greifbarstes Ergebnis waren die Versuche, das Regierungssystem eines Landes nicht nur in seiner Struktur und Funktionsweise allein, sondern in allen Aspekten zu erfassen, die zum Verständnis relevant sind (paradigmatisch Fraenkel 1960 für die USA).
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unterschiedlichen Habitus betreten, je nachdem von welcher Seite sie hereinkommen. Vielleicht schmeckt ihnen auch das eine oder das andere Gericht besser oder schlechter, weil es zu scharf (zu politisch) oder zu schwach (zu philosophisch) gewürzt ist, vielleicht wählen sie je nach ihrer Herkunft auch unterschiedliche Gerichte aus. Das Personal wird ihnen den Zutritt nicht verwehren (wissenschaftssystematisch: die politische Philosophie nicht allein einer Disziplin zuschlagen), weil das Restaurant ja auf beiden Seiten verankert ist, und nur darauf achten, dass sie auch bezahlen können (wissenschaftssystematisch: aus ihrer Disziplin einen Kredit mitbringen), und umgekehrt sind die Herrschenden des jeweiligen Gebiets zufrieden, wenn sie ihrerseits einen Nutzen davon haben (wissenschaftssystematisch: wenn ein Ertrag für die Disziplin zu erwarten ist). So ist politische Philosophie durch die jeweilige Herkunft aus einer der beiden Disziplinen und dem Ertrag für ihre spezifischen Fragestellungen zu bestimmen; für die Politikwissenschaft geht es dabei um jene Erfahrungsaspekte, die sie für ihre Forschungen nicht ausklammern darf, aber mit ihren eigenen Instrumenten nicht bearbeiten kann. Es gibt deshalb gute Gründe, politische Philosophie als ein legitimes Feld der Politikwissenschaft zu bearbeiten, und der Philosophie als Disziplin wird damit nicht hineingeredet. Es werden nur diejenigen Aspekte betont, welche vor allem für die Politikwissenschaft relevant sind. So aufgefasst, ist politische Philosophie ein konstitutiver Bestandteil der politischen Theorie.7 Zu (2): Wie sieht es nun mit der politischen Theorie selbst aus? Insgesamt ist sie eine Teildisziplin der Politikwissenschaft und zunächst in dieser Funktion zu bestimmen. Unter Politik verstehe ich den Handlungsraum der Herstellung, Ordnung und Durchführung verbindlicher Entscheidungen für das Gemeinwesen. Die Erforschung dieses Handlungsraums ist Aufgabe der Politikwissenschaft. Innerhalb der Politikwissenschaft befasst sich Politische Theorie, als Teildisziplin, mit Grundfragen, Grundlagen und Zusammenhängen der Politik. Die Grundfragen der Politik betreffen die Ordnung des menschlichen Zusammenlebens, deren vielfältige Formen historisch und empirisch zu untersuchen und deren 7
Diese Erörterungen erscheinen mir notwendig angesichts der deutschen Wissenschaftssystematik, in der politische Philosophie disziplinär allein der Politikwissenschaft zugerechnet wird. Im englischen Sprachgebrauch rechnet „political philosophy“ zu den philosophischen Departments, „political thought“ im Sinne von politischer Ideengeschichte zu den Departments von „government“ (Miller/Siedentop 1983: 1). In der Mitte zwischen beiden befindet sich dann „political theory“, mit einer ähnlichen Brücken- und Integrationsfunktion, wie hier für die politische Philosophie ausgeführt. Die deutsche Systematik hat den Vorteil, dass sie den Fragebereich von politischer Theorie, Philosophie und Ideengeschichte im politikwissenschaftlichen Bezug leichter verfügbar macht und Abkoppelungstendenzen entgegenwirkt; sie hat es schwerer, auf diese Weise auch politische Philosophie als Fragestellung in die politische Theorie als Teildisziplin der Politikwissenschaft mit einzubeziehen. Zu „Theoriekonzeptionen“ der politischen Philosophie selbst vgl. Kersting (1999).
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Muster normativ auf ihre Begründungen hin zu diskutieren sind. Dazu gehören die Fragen: Was ist Politik, wie ist sie institutionalisiert und organisiert, was kann und soll sie leisten, wie ist sie zu legitimieren, wo sind ihre Grenzen? Grundlagen der Politik sind, neben den stets wirksamen lebensweltlichen Erfahrungen, ihre sozialen, rechtlichen, ökonomischen, anthropologischen usw. Voraussetzungen, die aus anderen Wissenschaftsdisziplinen direkt oder indirekt zum Verständnis und zur Beurteilung von Politik herangezogen werden können. Zusammenhänge der Politik zu formulieren, bedeutet für die politische Theorie, mit Blick vor allem auf die empirische Forschung möglichst viel Klarheit über die Aussagekraft der verwendeten Kategorien, Grundbegriffe und Modelle einschließlich ihrer normativen Implikationen zu gewinnen. Auf diese Weise ist die politische Theorie, so hatte ich eingeleitet, gegenüber empirischen Theorien in der Politikwissenschaft gekennzeichnet durch die Zusammensicht und systematische Verarbeitung von Einzelergebnissen und den expliziten Einbezug normativphilosophischer Überlegungen (vgl. Göhler 1978: 12, Göhler/Falter 1986: 120). Schwieriger als die Funktionsbestimmung der politischen Theorie innerhalb der Politikwissenschaft erscheint mir eine einigermaßen zufriedenstellende Binnenstrukturierung der politischen Theorie nach unterschiedlichen Zugängen (approaches). Mehr und mehr setzt sich auch bei uns die Zweiteilung in normative und empirische politische Theorie durch, wie sie vor allem im angelsächsischen Sprachraum anzutreffen ist. Normative politische Theorie meint in erster Linie die politische Ideengeschichte, empirische politische Theorie, die dann häufig als „moderne politische Theorie“ bezeichnet wird, stellt den Zusammenhang zur empirischen Forschung her. Unklar bleibt der Ort der politischen Philosophie. Wenn sie nicht an die politische Ideengeschichte noch angehängt werden kann, droht sie – siehe oben – in die reine Philosophie oder in (kritische) Gesellschaftstheorie auszuwandern und verliert dabei das Spezifikum des Politischen. Man muss solche letztlich organisatorischen Überlegungen nicht überbewerten, um auf ein grundsätzliches Problem zu stoßen. Alle meine Überlegungen zur Erfahrung und Normativität einschließlich der sich daraus ergebenden wissenschaftssystematischen Asymmetrien weisen darauf hin, dass es wenig angemessen wäre, politische Theorie in einen normativen und in einen empirischen Zugang aufzuteilen. Jede Einteilung bedeutet immer auch eine Abgrenzung von dem, was außerhalb bleibt. Tatsächlich lassen sich aber die analytische Dimension – Ort der empirischen Theorienbildung – und die normative Dimension – Ort der politischen Philosophie und aller von ihr ausgehenden Fragestellungen – nicht säuberlich voneinander trennen. Eine solche Abgrenzung würde der Multidimensionalität politiktheoretischer Fragestellungen nicht gerecht. Politische Philosophie, so habe ich ausgeführt, ist immer auch auf empirische Forschung verwiesen, wie umgekehrt grundsätzliche Fragen, die sich bei der empirischen
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Forschung stellen, sehr schnell auf normative Probleme hinführen, mit denen sich die politische Philosophie befasst. Entscheidend ist, dass dabei die politische Philosophie mit ihrer normativen Herangehensweise nicht außerhalb der Politikwissenschaft verbleibt. Politische Ideengeschichte ist ebenso wenig rein normativ. Zwar geht es ihr in erster Linie um die historisch vorfindlichen politischen Ordnungsentwürfe – sie ist der Erfahrungshorizont der politischen Philosophie. Aber die vielfältigen normativen Überlegungen, die wir historisch vorfinden, sind immer zugleich auch Zeitdiagnose – sie versuchen, die eigene Wirklichkeit zu begreifen (wie es Hegel so schön vorführt) oder doch zumindest implizit die realen Bedingungen zu erfassen, von denen das eigene Argument ausgeht. Aus diesem Grund verdanken wir so viele Einsichten in vergangene Ordnungsstrukturen der politischen Ideengeschichte (vgl. Brunner/Conze/Kosselleck 1972–97). Ein anderer Zweig der politischen Theorie ist zugegebenermaßen erheblich weniger normativ. Wenn es darum geht, vermittels empirischer Verallgemeinerungen oder formaler Modelle eine „general theory“ der Politik zu gewinnen, wie sie die Kybernetik (Deutsch) oder die Systemtheorie (Easton, Luhmann) so eindrucksvoll vorführt, stehen normative Fragen nicht im Vordergrund. Hier gelingt die Arbeitsteilung aufgrund der Herangehensweise in hohem Maße. Normative Implikationen sind dabei ausgeblendet, aber nicht eliminiert. Es ist wohl kein Zufall und nur auf den ersten Blick überraschend, dass Karl W. Deutsch in seiner politischen Kybernetik bei der Beschreibung von Funktionsbedingungen und Funktionsstörungen eines Systems schließlich von Metaphern wie „Demut und Stolz“ oder „Ehrfurcht und Abgötterei“ Gebrauch macht (Deutsch 1969: 309ff.). Verlässt man die oberste theoretische Abstraktionsstufe, so wird die Verbindung der empirischen und der normativen Dimension sogleich wieder unmittelbar ersichtlich. Zentrale Ordnungselemente der Politik wie Demokratie, Staat, Macht und Herrschaft, Pluralismus, Institutionen usw. lassen sich nur untersuchen, wenn man sie analytisch (auf der Grundlage der empirischen Forschung) und normativ (in der Bestimmung ihres Seinsollens) gleichermaßen ins Auge fasst. Demokratie ist eben nicht nur ein vorfindliches Muster politischer Ordnung, welches mehr oder weniger gut funktioniert; zugleich ist sie eine Sollensvorstellung dessen, was menschenwürdigem Leben entspricht. Die empirische und die normative Dimension sind also in der politischen Theorie aufeinander verwiesen – wobei es häufig sinnvoll sein mag, sie analytisch, nämlich zum Zweck der Analyse voneinander zu trennen. Wissenschaftssystematische Gründe sprechen also gegen den Trend, politische Theorie in normative und empirische Theorie zu unterteilen.8 Angemesse8
Bei den vielfältigen Erörterungen darüber, was Politische Theorie eigentlich sein solle, ist in unserem Zusammenhang die Bestimmung der politischen Theorie durch David Miller in der Blackwell Encyclopaedia of Political Thought besonders interessant (Miller 1987). Zunächst unterscheidet er
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ner wäre es, politische Theorie nach zwei unterschiedlichen Zugängen zu strukturieren. Der eine ist historisch, der andere systematisch. Der eine fragt nach Traditionen einschließlich ihrer zeitbedingten Erkenntnisse, der andere nach aktuellen Analysen und Begründungen. Den historischen Zugang liefert die politische Ideengeschichte. Der systematische Zugang erfolgt in der aktuellen Theorie der Politik, sei es normativ als politische Philosophie, sei es strukturwissenschaftlich als „general theory“ in Form von formalen Modellen auf der Basis empirischer Verallgemeinerungen. Ebenfalls zum systematischen Zugang gehören auf konkreterer Stufe die Theorien zentraler Ordnungselemente der Politik wie Staat, Demokratie, Repräsentation usw. Als systematische Theorien sind sie grundsätzlich empirisch und normativ zugleich, und sie verlieren nichts von ihrem systematischen Charakter, wenn sie sich auch von der politischen Ideengeschichte noch belehren lassen.9 historisch
systematisch
politische Ideengeschichte
politische Philosophie
(Ordnungsentwürfe)
„general theory“
politische Ideengeschichte
Theorien von Ordnungselementen der
(Ordnungselemente)
Politik
Schaubild: wissenschaftssystematische Einteilung der politischen Theorie
In allen Fällen bleibt politische Philosophie das organisierende Zentrum von politischer Theorie. Sie bleibt es auch gegenüber jenen Grundlagen, die als philosophische, gesellschaftstheoretische und strukturwissenschaftliche Theoriebestände zur Theorie der Politik beitragen, aber diese selbst noch nicht ausmachen. Die Faszination umfassender gesellschaftstheoretischer Entwürfe sollte nicht dazu verleiten, in ihnen die wegweisenden Entwicklungen der politischen Theozwischen history of political thought, conceptual clarification, formal model-building und theoretical political science; sodann plädiert er dafür, die empirischen, formalen und wertenden Elemente nicht voneinander abzutrennen. Allerdings sieht er nicht, dass dies allein vermittels der politischen Philosophie zu leisten wäre. Politische Philosophie tritt bei ihm – entsprechend der diagnostizierten Auslagerung der philosophisch orientierten politischen Theorie aus der Politikwissenschaft (Gunnell 1979, 1983, 1986) – als Teil der Disziplin Politikwissenschaft nicht auf. 9 Zu Definitions- und Zuordnungsproblemen der Politischen Theorie vgl. ausführlicher Göhler/Falter (1986). Die dort noch vorgenommene Einteilung in systematische politische Theorie einerseits, politische Philosophie und Ideengeschichte andererseits, die sich auf den Ist-Zustand bezog, habe ich aus wissenschaftssystematischen Gründen inzwischen revidiert.
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rie bereits absorbiert zu sehen. In der Konsequenz wäre die politische Theorie wiederum gesellschaftstheoretisch oder philosophisch ausgelagert. Im Transfer auf reine Interdisziplinarität drohen die spezifischen Anliegen der politischen Theorie, die immer ja auf eine Theorie des Politischen abzielen, verloren zu gehen. Nur die politische Philosophie kann dem entgegensteuern. Der Eindruck, dass Habermas, Luhmann oder Foucault heutzutage die wichtigsten Vertreter von politischer Theorie sind, steht diesem Argument nicht entgegen. Mit ihren Beiträgen ist die politische Theorie nicht abgeschlossen, sondern immer wieder erst am Anfang.10 Zu (3): Das Verhältnis von politischer Philosophie und Ideengeschichte innerhalb der Politischen Theorie ist zweifellos durch jenen Zusammenhang, mit dem ich politische Philosophie und Ideengeschichte als Erfahrungswissenschaft bestimmt habe, noch nicht hinreichend umschrieben. Politische Ideengeschichte ist der historische Erfahrungshorizont der politischen Philosophie.11 Fasst man allerdings politische Ideengeschichte allein als historisches Material für die systematischen Fragestellungen der politischen Philosophie, so würde jene einseitig in dieser aufgehen. Tatsächlich kann politische Ideengeschichte sehr wohl auch allein bestehen, mehr oder weniger angeleitet durch systematische Fragen aus der politischen Philosophie. Es gibt durchaus auch unterschiedliche Problemlagen in der politischen Philosophie und der Ideengeschichte. Wenn die Geschichte der politischen Ideen als Gegenstand letztlich das gesamte politische Denken in der Vergangenheit versammelt, so haben wir es zunächst mit historischen Sachverhalten und in theoretischen Argumenten sich ausdrückenden Intentionen aus der Vergangenheit zu tun, die nicht einfach als Rezepte für die gerade anstehenden aktuellen Probleme dienen können (solche Versuche nennt die Geschichtswissenschaft „Präsentismus“).12 Wenn man den historischen Zugang von
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Zur Politischen Theorie gehört schließlich auch, was hier nicht näher ausgeführt werden soll, die Wissenschaftstheorie als Metatheorie der Politik bzw. als Theorie der Politikwissenschaft. Vgl. dazu Göhler (1978: 14, 18); Göhler/Falter (1986: 122f.). Zur aktuellen Relevanz dieser Überlegungen Buchstein/Schmalz-Bruns (2006: 24f.). 11 Ideengeschichte ist auf diese Weise das universalhistorische Feld menschlicher Ordnungserfahrung; vgl. Gebhardt (1984). 12 Der Vorwurf des Präsentismus von Seiten der Geschichtswissenschaft wendet sich gegen jede Vereinnahmung von Ideen angesichts unüberwindlicher historischer Differenzen. Die Gegenposition (Strauss 1959) erblickt in den von den Klassikern formulierten Ideen höhere, überzeitliche Wahrheiten, die darum stets auch von unmittelbarer praktischer Relevanz sind. Am hilfreichsten ist hier wahrscheinlich eine historische Relativierung. Präsentismus kennzeichnete vor allem das Geschichtsdenken des Mittelalters, weil es stets mit einer christlichen Heilserwartung verbunden war und diese in ihrer Interpretation von Vergangenheit und Gegenwart präsent hielt (Buck 2001). Ohne eine solche Eschatologie ist es allerdings schwer vorstellbar, Ideen völlig losgelöst von ihrem histori-
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Politischer Theorie ernst nimmt, so befasst sich politische Ideengeschichte zunächst mit der Frage, wie es denn historisch gewesen ist – ihr geht es also um die Interpretation des politischen Denkens in seiner und aus seiner Zeit. Vieles ist nur aus dem historischen Kontext verständlich, so zum Beispiel die Rechtfertigung der Sklaverei durch Aristoteles. Hieran schließt sich die genetische Frage an, wie politisches Denken weitergewirkt hat und wie es unsere Gegenwart beeinflusst. Die Wirkungsgeschichte von Denkmustern zu schreiben, ist ein hochkomplexes Unterfangen – so etwa, ob die wirkmächtige Tradition für die amerikanische Verfassung eher bei Locke oder im römischen Republikanismus gesucht werden soll (vgl. Pocock 1975). Trotzdem stellen sich solche Fragen unausweichlich. Das deutsche Grundgesetz ist ohne die Kenntnis westlicher Verfassungstraditionen und die Abwehr totalitärer Denkmuster nicht verständlich. Somit steht politische Ideengeschichte immer auch in einem unmittelbaren Bezug zum gegenwärtigen Denken. Wird dieser selbst in systematischer Absicht thematisiert, dann wird die Geschichte der politischen Ideen topisch befragt. In der Mathematik ist die Topologie die Lehre von der Ortsbestimmung. In der politischen Ideengeschichte werden theoretische „Orte“ aufgesucht: nämlich das, was über Demokratie, Repräsentation, Staat usw. bereits gedacht wurde. Dann lässt sich fragen, was dieser Wissensbestand für die normative Begründung gegenwärtiger Ordnungsmuster bedeutet – was wir also aus vergangenen Erfahrungen lernen können und was wir anders machen sollten.13 Wie auch immer einzelne Konzepte und Positionen des politischen Denkens weitergewirkt oder auch nicht weitergewirkt haben: Sie enthalten unabhängig von ihrer Wirkungsgeschichte auch Argumentationsbestände, die für uns in den uns gegenwärtig beschäftigenden Topoi des politischen Denkens interessant sein können; sie müssen nur für unsere modernen Fragen verfügbar gemacht werden, dann sind sie möglicherweise von erheblicher Relevanz.14 Dass man vergangenes Denken nicht unmittelbar in die Gegenwart übertragen kann, versteht sich von selbst; Unterschiede der historischen Konstellation und der Problemlagen bleiben unübersehbar. Aber es handelt sich eben um politische Erfahrungen, und so gilt schen Kontext zu betrachten – geht es doch vielmehr gerade darum, wichtige Einsichten des einen historischen Kontextes auf einen anderen angemessen zu übertragen. 13 Die aristotelische Topik ist von Wilhelm Hennis wieder in die Politikwissenschaft eingebracht worden, um das vernünftige Abwägen von Wahrscheinlichkeiten gegen das Exaktheitsideal der modernen empirischen Wissenschaften auszuspielen (Hennis 1963: 93ff). Das bedeutet Rekurs auf Erfahrungen: Die topische Untersuchung „nimmt ihren Ausgang immer von den herrschenden Anschauungen der Menschen, sie setzt voraus, dass es unter diesen Anschauungen erfahrenere und verständigere gibt, sie appelliert an 'Einsicht' und 'gesunden Menschenverstand', ihre Prämissen zwingen sich nicht auf“ (Hennis 1963: 96). 14 Dazu näher, mit Blick auf den möglichen Beitrag der politischen Ideengeschichte zur Theorie politischer Institutionen: Göhler (1990).
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hier alles, was oben bereits zum Erfahrungsgehalt von politischer Philosophie ausgeführt wurde. Mit der topischen Art des Fragens ist wieder ein unmittelbarer Zusammenhang von politischer Ideengeschichte und politischer Philosophie erreicht; politische Ideengeschichte, die als Wissenschaft topisch vorgeht, ist politische Philosophie in historischem Gewande. Vermutlich sind allerdings auch die genetische und letztlich sogar die historische Fragestellung der politischen Ideengeschichte von unseren aktuellen Perspektiven gar nicht abkoppelbar, weil sich – so paradox es klingen mag – nur aus gegenwärtigen Fragestellungen die spezifischen historischen Zusammenhänge und Verästelungen erschließen lassen.15 Politische Ideengeschichte und politische Philosophie sind also, obwohl unterschieden im historischen und im systematischen Zugang, durchaus auch eng miteinander verbunden. Diese Verbindung erscheint mir besonders wichtig, um meine Überlegungen zusammenfassen. Für viele und vermutlich auch die interessantesten Fragestellungen der politischen Ideengeschichte ist die politische Philosophie leitend, und sei es nur in der Vergewisserung der jeweils anzuwendenden und ihrerseits zu erhellenden Grundbegriffe. Letztlich ist es politische Philosophie, die politische Ideengeschichte als eine Sub-Disziplin der politischen Theorie organisiert. Aufgabe der politischen Philosophie ist es, Grundfragen des Politischen zu durchdenken, die dafür erforderlichen Grundlagen aufzuarbeiten und theoretisch wie praktisch Stellung zu nehmen. Insofern geht sie philosophisch vor. Der Philosophie nämlich obliegt, jedenfalls aus der Sicht unserer empirischen Wissenschaften, die Ordnung von Erfahrungen und ihre Einführung in Begründungszusammenhänge, welche die Einzelwissenschaften als Frage zwar ansprechen, selbst jedoch ohne Grenzüberschreitung nicht beantworten können. Hauptquelle der politischen Philosophie als Erfahrungswissenschaft sind die in der Geschichte der politischen Ideen vorliegenden Erfahrungen und die auf Erfahrungen basierende Entwürfe, die für uns wieder zu neuen Erfahrungen geworden sind.16 Sie werden konfrontiert mit unseren lebensweltlichen Erfah15
So auch Marx in seinen Bemerkungen zur „Methode der politischen Ökonomie“: Erst das Verständnis der modernen bürgerlichen Gesellschaft gewährt Einsicht in frühere Gesellschaftsformen, denn „in der Anatomie des Menschen ist ein Schlüssel zur Anatomie des Affen“ (Marx o.J.: 26). 16 Ideen oder Theorien, die wir historisch vorfinden, sind häufig nicht explizit als Erfahrungen formuliert, sondern sie treten als Programme oder normative Entwürfe auf. Aber nicht nur der Konservatismus, der das Bewährte bewahren möchte, beruht auf Erfahrungen. Auch Liberalismus und Sozialismus haben hier ihren Ausgangspunkt, nur dass sie nicht positiv, sondern negativ auf Erfahrungen rekurrieren, denen zufolge die freie Entfaltung des Menschen erst zu gewährleisten sei (Liberalismus) oder die gegebenen Verhältnisse grundlegend verändert werden müssten (Sozialismus). Stets handelt es sich um eine Interpretation der erfahrenen Realität im Lichte der eigenen Intentionen. So können wir Programme oder normative Entwürfe stets auch als die Übermittlung von Erfahrungen lesen: als historische Argumente im Kontext ihrer Zeit, in ihrer Wirkungsgeschichte, oder als Topoi formulierter Zielvorstellungen.
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rungen und den von ihnen geprägten Positionen. So weit reicht die philosophische Vorgehensweise. Den Realitätsbezug aller dieser Erfahrungen freilich, welcher sie erst auf aktuelle wissenschaftliche Fragestellungen anwendbar und damit Theorie erst in vollem Sinn zu Erfahrung macht, erhält die politische Philosophie aus der Politikwissenschaft mit ihren präziseren Konzepten wissenschaftlicher Erfahrungsverdichtung. An diesen muss politische Philosophie sich messen lassen, wenn sie ihnen ihrerseits übergreifende Orientierung verspricht. Literatur Adorno, Theodor W., 1963: Erfahrungsgehalt, in: Adorno, Theodor W., Drei Studien zu Hegel. Frankfurt/Main, 67–104. Albert, Hans, 1968: Traktat über kritische Vernunft. Tübingen. Bermbach, Udo, 1981: Bemerkungen zur politischen Theoriengeschichte. In: Politische Vierteljahresschrift 22, 181–194. Bermbach, Udo (Hrsg.), 1984: Politische Theoriengeschichte. Probleme einer Teildisziplin der Politischen Wissenschaft. Sonderheft 15 der Politischen Vierteljahresschrift. Opladen. Bermbach, Udo, 1984a: Über die Vernachlässigung der Theoriengeschichte als Teil der Politischen Wissenschaft, in: Bermbach, Udo (Hrsg.), Politische Theoriengeschichte. Probleme einer Teildisziplin der Politischen Wissenschaft. Sonderheft 15 der Politischen Vierteljahresschrift. Opladen, 9–31. Beyme, Klaus von, 1969: Politische Ideengeschichte. Probleme eines interdisziplinären Forschungsbereichs. Tübingen. Blum, Harald/Gebhardt, Jürgen (Hrsg.), 2006: Politische Ideengeschichte im 20. Jahrhundert. Konzepte und Kritik. Baden-Baden. Bracher, Karl Dietrich, 1965: Wissenschafts- und zeitgeschichtliche Probleme der Politischen Wissenschaft in Deutschland, in: Fijalkowski, Jürgen (Hrsg.), Politologie und Soziologie. Otto Stammer zum 65. Geburtstag. Köln, Opladen, 45–62. Brodocz, André, 2007: Erfahrung als Argument. Baden-Baden (im Erscheinen). Brunner, Otto/Conze, Werner/Koselleck, Reinhart (Hrsg.), 1972–97: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. Acht Bände. Stuttgart. Buchstein, Hubertus/Schmalz-Bruns, Rainer (Hrsg.), 2006: Politik der Integration. Symbole, Repräsentation, Institution. Festschrift für Gerhard Göhler zum 65. Geburtstag. Baden-Baden. Buck, Thomas Martin, 2001: Vergangenheit als Gegenwart. Zum Präsentismus im Geschichtsdenken des Mittelalters. In: Saeculum 52, 217–244. d’Entrèves, A.P., 1971: On the Notion of Political Philosophy, in: Beyme, Klaus von (Hrsg.), Theory and Politics/Theorie und Politik. Festschrift für C.J. Friedrich. Den Haag, 301–313. Deutsch, Karl W., 1969: Politische Kybernetik. Modelle und Perspektiven. Freiburg.
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Thomas Risse
Politische Theorie und Internationale Beziehungen Zum Dialog zwischen zwei Subdisziplinen der Politikwissenschaft
Einleitung Es ist wohl keine Übertreibung zu behaupten, dass die Subdisziplin der Internationalen Beziehungen (IB)1 zu den Teilen der Politikwissenschaft gehört, die sich in den vergangenen zwanzig Jahren – sowohl in Deutschland, als auch im internationalen Vergleich – durch eine ausgesprochene Theorie-Orientierung ausgezeichnet haben. Schon ein kurzer Blick in die Überblicksdarstellungen, die seit 1990 in den verschiedenen Kontexten der IB entstanden sind, belegt diesen Befund (vgl. zum Beispiel Rittberger 1990; Katzenstein u.a. 1998; Carlsnaes u.a. 2002; Hellmann u.a. 2003). In Deutschland haben Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler wie Ernst-Otto Czempiel, Helga Haftendorn, Beate KohlerKoch, Volker Rittberger und andere damit begonnen, theoriegeleitete Forschung in den Internationalen Beziehungen zum Standard zu erheben und uns entsprechend ausgebildet. Ihre diversen Schülerinnen und Schüler haben diesen Standard im deutschsprachigen Raum durchgesetzt und damit die Anschlussfähigkeit der deutschsprachigen IB-Forschung an die internationale Diskussion gesichert. Interessanterweise hat dieser Prozess ohne nennenswerten direkten oder bewussten Austausch mit derjenigen Teildisziplin der Politikwissenschaft stattgefunden, die explizit Theoriearbeit betreibt. Dies ist vor allem deshalb bemerkenswert, weil die subdisziplinären Grenzen sich in Zeiten der Globalisierung und der Europäisierung ansonsten mehr oder weniger aufgelöst haben: Europaforschung ist schon lange nicht mehr die Domäne des Teilgebietes Internationale Beziehungen; vielmehr tummeln sich hier inzwischen die Vergleichende Politikwissenschaft, die Policy-Analyse und andere Fächer der Sozialwissenschaften (vgl. zum Beispiel die Überblicksdarstellung in Schuppert u.a. 2005). Auch die Globalisierungsforschung ist keineswegs mehr von IB-Forscherinnen und 1 Es hat sich in der Subdisziplin eingebürgert, von Internationalen Beziehungen mit großem „I“ zu sprechen, wenn das Fach gemeint ist, dagegen von „internationalen Beziehungen“, wenn der Gegenstand des Faches gemeint ist. So auch im folgenden. Analog werde ich Politische Theorie mit großem „P“ schreiben, wenn auf das entsprechende Teilgebiet der Politikwissenschaft Bezug genommen wird.
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-Forschern dominiert, sondern auch hier haben insbesondere die Vergleichende Politikwissenschaft und die Policy-Analyse begonnen, sich für die Wirkungen der Globalisierung auf politische und soziale Prozesse in den Nationalstaaten zu interessieren (vgl. zum Beispiel Grande/Risse 2000; Scharpf/Schmidt 2000). Ähnliches gilt für die Entwicklungsländerforschung, in der heute Fragestellungen der Komparatistik (zum Beispiel vergleichende Demokratisierungsforschung), der Verwaltungswissenschaft und der Internationalen Beziehungen im Rahmen der Governance-Forschung zusammengeführt werden (vgl. zum Beispiel den Berliner Sonderforschungsbereich 700 „Governance in Räumen begrenzter Staatlichkeit“). In diesem Beitrag versuche ich deutlich zu machen, dass sich Politische Theorie und Internationale Beziehungen eine Menge zu sagen haben. Ich beginne mit einigen Bemerkungen zum Verhältnis der beiden Fachgebiete. Anschließend illustriere ich meine Überlegungen anhand von zwei Themenkomplexen, die sowohl in der Politischen Theorie als auch in den Internationalen Beziehungen höchst aktuell und gleichzeitig umstritten sind: Die Theorien von Institutionen sowie Macht als zwei zentrale Kategorien des Politischen. Dabei gehe ich – sozusagen als pars pro toto – jeweils auf ausgewählte Schriften von Gerhard Göhler ein, meinem Kollegen am Otto-Suhr-Institut für Politikwissenschaft in Berlin. 1
Zum Verhältnis von Politischer Theorie und Internationalen Beziehungen
In der Einladung zur Konferenz zu Ehren von Gerhard Göhler am 17. Februar 2006, deren Tagungsbeiträge in diesem Sammelband publiziert werden, hieß es, die Politische Theorie habe ihre Schlüsselstellung im Fach Politikwissenschaft verloren. Die Teilgebiete des Faches hätten sich inzwischen derart ausdifferenziert, dass daraus separate theoretische Diskurse entstanden seien, die beanspruchen, durchaus auch ohne die Subdisziplin Politische Theorie auskommen zu können. An dieser Einschätzung ist sicher richtig, dass Politische Theorie nicht (mehr) die Kerndisziplin der Politikwissenschaft ist, von der die theoretischen Impulse und Fragestellungen an das Fach ingesamt ausgehen. War sie das denn je? Oder war es in den Anfängen des Faches Politikwissenschaft nicht eher so, dass die Teildisziplinen insgesamt nicht weiter ausdifferenziert waren, so dass Politolog/inn/en zunächst immer zugleich in der politischen Theorie und bei-
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spielsweise in der Vergleichenden Politikwissenschaft zu Hause sein mussten?2 Hinzu kommt, dass es auch aus systematischen Gründen problematisch (und sogar vermessen) ist, eine Königsdisziplin der Politikwissenschaft ausmachen zu wollen. Denn warum sollte dies die Politische Theorie sein und nicht eine an empirischen Fragestellungen der Politik orientierte Teildisziplin? Derartige Hegemonie-Ansprüche schaden dem Dialog zwischen den Teildisziplinen und lenken eher von den Problemen der Politikwissenschaft ab, als zu ihrer Lösung beizutragen. Richtig ist sicher auch die Beobachtung, dass die einzelnen Teildisziplinen der Politikwissenschaft längst ihre eigenen theoretischen Diskurse führen und selbständige Theorie-Arbeit betreiben. Dies lässt sich wiederum – wie oben angedeutet – in bezug auf das Teilgebiet Internationale Beziehungen belegen. Die großen Debatten der vergangenen fünfundzwanzig Jahre in den IB waren allesamt Theoriedebatten: So konzentrierte sich die sogenannte „Neo-NeoDebatte“ der 1980er Jahre zwischen Neorealismus und Neoinstitutionalismus auf die Frage nach den Möglichkeiten internationaler Kooperation unter den Bedingungen egoistischer Akteure in einem anarchischen internationalen System (vgl. die Beiträge in Baldwin 1993; Keohane 1986b; Oye 1986). In den 1990er Jahren ging es dann schon weniger um substantielle Fragen der internationalen Politik. In der Debatte zwischen Rational Choice und Sozialkonstruktivismus wurden grundlegende Fragen des Akteursverständnisses, des Verhältnisses zwischen Struktur und Akteur und der Interaktionsmodi von bargaining und arguing behandelt (vgl. die Überblicke bei Adler 2002; Fearon/Wendt 2002; Risse 2003; zur sogenannten „ZIB-Debatte“ vgl. insbesondere Müller 1994; Risse 2000).3 Hier ging es letztlich um allgemeine Theoriefragen der Sozialwissenschaften, bei denen konkrete Fragen der Weltpolitik und der internationalen Beziehungen mit kleinem „i“ nur noch den Charakter von Anschauungsmaterial hatten. Schließlich erreichte der Positivismusstreit in den Sozialwissenschaften mit erheblicher Verspätung auch die IB, und es wurden epistemologische Fragen diskutiert, zum Beispiel was das Verhältnis von „Verstehen“ und „Erklären“ angeht (dazu vgl. vor allem Hollis/Smith 1990; Überblick und Kritik bei Wight 2002). Spätestens an dieser Stelle hätte die internationale Forschergemeinschaft im Fach IB dringend des Inputs aus der politischen Theorie und der politischen Philosophie bedurft. Der ständige Dialog mit der Politischen Theorie hätte wahrscheinlich verhindert, dass die IB-Community sich zu häufig genötigt sah, das theoretische Rad neu zu erfinden. Hier hatte sich im Laufe der Zeit in der Tat ein separater theoretischer Diskurs herausgebildet, der nicht mehr zur Kenntnis nahm (oder nehmen wollte), dass bestimmte Grundsatzfragen der Ontologie und 2 3
Vgl. zur Geschichte der Politikwissenschaft in Deutschland Bleek 2001. ZIB: „Zeitschrift für Internationale Beziehungen“.
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der Epistemologie außerhalb der Internationalen Beziehungen bereits etwas länger diskutiert worden waren und dass sich beispielsweise bereits Max Weber zum Verhältnis von „Verstehen“ und „Erklären“ geäußert hatte (vgl. Weber 1921: 1ff.). Bei genauer Betrachtung zeigt sich nämlich, dass der Theoriebestand in der Teildisziplin Internationale Beziehungen fast vollständig aus Anleihen bei politischen, soziologischen und ökonomischen Theorien besteht, die jeweils auf die Verhältnisse in der internationalen Politik angewandt und übertragen wurden. Dies sei kurz an einigen Beispielen erläutert:
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Die nach wie vor wirkmächtige Theorie des Realismus, die das internationale System als anarchisches Selbsthilfesystem versteht, was zu einer Politik des Mächtegleichgewichts führt, beruft sich in ihrer klassischen Variante (zum Beispiel Morgenthau 1948) auf Thomas Hobbes und seine Konzeptualisierung des Naturzustandes, ob zu Recht oder zu Unrecht. Die auf Kenneth Waltz (1979) zurückgehende Neuformulierung des realistischen Ansatzes konzeptualisiert hingegen das internationale System in Analogie zur mikroökonomischen Theorie der Oligopole. Liberale IB-Theoretiker – unter anderen Ernst-Otto Czempiel, Michael Doyle und Bruce Russett (vgl. Czempiel 1986; Doyle 1983; Russett 1993) – berufen sich in bezug auf das Theorem des „demokratischen Friedens“, wonach Demokratien (fast) keine Kriege gegeneinander führen, auf Immanuel Kant und dessen Schrift „Zum Ewigen Frieden“ (Kant 1795). Die liberale IB-Theorie, die internationale Politik „von unten nach oben“, also von innenpolitischen Auseinandersetzungen und Aushandlungsprozessen her, analysiert, macht dagegen Anleihen bei den verschiedenen Varianten der Pluralismustheorie (etwa Moravcsik 1997). Die Weltsystemtheorie Immanuel Wallersteins überträgt die Marxschen Kategorien der Kritik der politischen Ökonomie auf das internationale System (Wallerstein 1974/1980/1989). Robert Cox’ Konzeptualisierung der britischen und amerikanischen Hegemonialsysteme benutzt die Kategorien von Antonio Gramscis „Schriften aus dem Gefängnis“ zur Analyse der internationalen Politik. Die von ihm begründete IB-Schule nennt sich denn auch „Neo-Gramscianismus“ (vgl. unter anderem Cox 1987; Cox/Sinclair 1996). Sozialkonstruktivistische Ansätze in den IB berufen sich unter anderem auf die wissenssoziologischen Arbeiten Peter Bergers und Thomas Luckmanns (Berger und Luckmann 1969), auf die Strukturierungstheorie von Anthony Giddens (Giddens 1984; vgl. dazu Wendt 1987), auf den soziologischen Institutionalismus von James March und Johan Olsen (vgl. March/Olsen 1989, 1998; siehe dazu weiter unten) sowie im deutschsprachigen Raum auf
die kommunikationstheoretischen Arbeiten von Jürgen Habermas (Habermas 1981, 1992). Michel Foucault, Pierre Bourdieu, Jacques Derrida und andere französischen Theoretiker wurden schließlich von radikal-konstruktivistischen und poststrukturalistischen Autorinnen und Autoren in den IB rezipiert (Überblick bei Albert 1994; Diez 2002).
Hinzu kommen eine Reihe von „Grenzgängern“ zwischen den Theorien der internationalen Beziehungen und der politischen Theorie. Auf Seiten der IB wären unter anderen Friedrich Kratochwil, Nicholas Onuf und Alexander Wendt zu nennen (vgl. Kratochwil 1989; Onuf 1989; Wendt 1999), die wie kaum andere die sozialkonstruktivistische Theoriebildung in den IB vorangetrieben haben und sich dabei in erster Linie als politische Theoretiker verstehen. Die Problemstellungen, an denen sie sich theoretisch abarbeiten, beziehen sie dabei in erster Linie aus der internationalen Politik. Umgekehrt „tummeln“ sich namhafte politische Theoretiker zunehmend auf Themengebieten, die traditionellerweise zum Bereich der Internationalen Beziehungen gehörten: Herfried Münkler schreibt zuerst über „neue Kriege“ und jetzt über Imperien (Münkler 2002; Münkler 2005). David Held arbeitet über die Möglichkeiten und Grenzen kosmopolitischer Demokratie im Zeitalter der Globalisierung (Held 1995). Rainer SchmalzBruns beteiligt sich an der deutschen IB-Diskussion um „arguing“ genauso wie über den deliberativen Supranationalismus (Schmalz-Bruns 1995, 1999). Und Gerhard Göhlers jüngere Arbeiten zum Machtbegriff rezipieren systematisch die entsprechenden Analysen aus den IB-Theorien (vgl. Göhler 2004b). Schließlich entstammen immerhin drei der 22 „umkämpften Begriffe“ der politischen Theorie in dem von Gerhard Göhler, Mathias Iser und Ina Kerner (2004) herausgegebenen Sammelband dem Einzugsbereich der internationalen Politik, wobei die Auswahl bereits für sich genommen interessant ist („Globales Regieren“, „Globalisierung“ und „Krieg“). Es zeigt sich, dass der Austausch zwischen Politischer (und sozialer) Theorie und den Internationalen Beziehungen längst im Gange ist, wenn auch eher unsystematisch und implizit statt explizit. Hier könnte sicherlich mehr getan werden, aber die angeblich separaten theoretischen Diskurse der Teildisziplinen sind immer wieder von Arbeiten aus der Politischen Theorie befruchtet worden und berufen sich darauf. Umgekehrt kann die Politische Theorie als Teilgebiet der Politikwissenschaft aus meiner Sicht nur profitieren, wenn sie die theoretischen Diskurse der Teildisziplinen zur Kenntnis nimmt. Das gilt auch für die Internationalen Beziehungen: Viele Theorieprobleme der Politikwissenschaft lassen sich nämlich zuspitzen, wenn man die Verhältnisse im internationalen System zur Kenntnis nimmt statt immer die innerstaatlichen Kontexte zum Aus-
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gangspunkt der theoretischen Reflexionen zu nehmen: Wie lässt sich politische Ordnung denken, wenn man – wie in der internationalen Politik – nicht auf die bewährten Institutionen moderner Nationalstaaten zurückgreifen kann? Wie geht „Regieren ohne Staat“? Was lässt sich aus den Verhältnissen jenseits des Nationalstaates für die innerstaatliche Demokratieproblematik im Zeitalter der Globalisierung lernen? Wie lässt sich politische Macht einhegen, wenn kein Leviathan mit einem legitimen Gewaltmonopol zur Verfügung steht? Diese Fragen beziehen sich auf Grundprobleme politischer Ordnung, mit denen sich politische Theoretiker seit der Antike immer wieder auseinandergesetzt haben. Die Einbeziehung der internationalen Beziehungen – ebenso wie die Einbeziehung anderer historischer und zeitgenössischer Zusammenhänge – könnte helfen, den Blick zu schärfen für unhinterfragte Kontextbedingungen, die häufig dazu führen, dass Erkenntnisse der Politischen Theorie außerhalb dieser Kontexte nicht verallgemeinerbar sind. Diese recht abstrakten Bemerkungen möchte ich im Folgenden anhand zweier Themenkomplexe illustrieren, die sowohl in den IB als auch in der Politischen Theorie seit Jahren im Mittelpunkt der Diskussion stehen: die Theorie politischer Institutionen sowie die Auseinandersetzungen um den Machtbegriff als Zentralkategorie des Politischen. 2
Theorie politischer Institutionen: Anfragen aus der Sicht der Internationalen Beziehungen
Wenn es eine übergreifende theoretische Klammer der Politikwissenschaft in den vergangenen zwanzig Jahren gegeben hat, dann waren es institutionalistische Ansätze (vgl. die Überblicke bei Göhler 1997; Hall/Taylor 1996; Immergut 1996). Auch in den Internationalen Beziehungen waren institutionalistische Theorien seit Ende der siebziger Jahre en vogue, und zwar im Zusammenhang mit der Ausformulierung einer Theorie internationaler Kooperation. Während im innerstaatlichen Bereich die Herausbildung politischer Institutionen nicht weiter erklärungsbedürftig war und sich institutionalistische Ansätze dementsprechend eher den Funktionsweisen und dem Design von Institutionen zuwandten, war die Ausgangslage für die Theorien internationaler Beziehungen von vornherein anders: Das Rätsel lautete hier, wie unter den Bedingungen von „Anarchie“ – gedacht als Abwesenheit eines (Welt-)Staates, der die Einhaltung kooperativer Regeln der Interaktion durchsetzen könnte – internationale Zusammenarbeit erklärt werden kann. 1977 formulierten Robert Keohane und Joseph Nye in diesem Zusammenhang ihre Theorie komplexer Interdependenz (Keohane/Nye 1977; siehe auch Ruggie 1975). Das zentrale Argument lautete, dass unter Be-
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dingungen zunehmender ökonomischer Interdependenz zwischen den Staaten politische und ökonomische Akteure auf institutionelle Regelungen angewiesen seien, die die aufgrund der Interdependenz entstehenden Konflikte kooperativ bearbeiten könnten. Der entscheidende theoretische Punkt war, dass egoistische und nutzenmaximierende Akteure auf Kooperation angewiesen seien, um ihre eigenen Interessen überhaupt durchsetzen zu können, dass aber internationale Institutionen benötigt würden, um diese Kooperation zu garantieren, auf Dauer zu stellen und ihre Kosten zu tragen. Damit war die funktionale Regimetheorie in den Internationalen Beziehungen geboren, in Deutschland vor allem identifiziert mit der Tübinger Forschungsgruppe um Volker Rittberger, Klaus Dieter Wolf und Michael Zürn (vgl. Krasner 1983; Keohane 1984, 1989; Rittberger 1993b; Zürn 1992). Diese später als „neoliberaler“ oder „rationalistischer“ Institutionalismus bezeichneten Theorierichtungen, die von den Tübingern beispielsweise in problemstrukturelle und situationsstrukturelle Ansätze ausdifferenziert und spieltheoretisch untermauert wurden (vgl. aber auch Oye 1986; Überblicksdarstellungen in Hasenclever u.a. 1997; Müller 1993; Martin/Simmons 1998; Simmons/Martin 2002), orientierten sich im wesentlichen an ökonomischen Theorien des Marktversagens, der Institutionenökonomik sowie an diversen vertragstheoretischen Ansätzen (zum Beispiel North 1990; Coase 1960). Wendt hat dementsprechend diesen Typus institutionalistischer Ansätze als an Locke orientiert bezeichnet (im Unterschied zum Hobbes’schen Realismus und Kantischem Liberalismus, vgl. Wendt 1992). Rationalistische Institutionalisten arbeiteten sich vor allem an (neo-)realistischen Ansätzen ab, die die Chancen internationaler Kooperation unter den Bedingungen eines anarchischen internationalen Systems und in Abwesenheit einer Hegemonialmacht, die die Kosten der Kooperation zu übernehmen bereit wäre, als gering einstuften. Keohanes 1984 veröffentlichtes Buch hatte denn auch den programmatischen Titel „After Hegemony“ und fragte, warum das Welthandelsregime trotz des Niedergangs der USA in der Weltwirtschaft und trotz des Zusammenbruchs des Bretton Woods-Systems nicht zerfiel. Seit Mitte der 1980er Jahre kam die rationalistische Institutionentheorie in den IB aber bereits wieder unter Beschuss, und zwar nicht nur seitens des (Neo-) Realismus, der die oben erwähnte „Neo-Neo-Debatte“ auslöste (vgl. Grieco 1988). Vielmehr argumentierten IB-Forscher wie Friedrich Kratochwil, Nicholas Onuf, John G. Ruggie und Alexander Wendt, dass die Regimetheorie zwar über internationale Normen und Regeln handele, aber keinerlei Theorie dieser Normen als intersubjektive wechselseitige Verhaltenserwartungen hervorgebracht habe (vgl. Zehfuss 2002). Der zentrale Vorwurf, den Kratochwil und Ruggie 1986 gegen den rationalistischen Institutionalismus vorbrachten und den Harald Müller 1994 in einem weiteren programmatischen Aufsatz präzisierte, lautete:
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Wie kann man über internationale Normen theoretisieren und dabei den zutiefst intersubjektiven, sinnstiftenden und kommunikativen Charakter von Normen und Regeln ignorieren? Dies war die Geburtsstunde sozialkonstruktivistischer ebenso wie sprachbasierter Ansätze in den IB.4 Normbasierte Ansätze in den IB bezogen sich dabei einerseits – wie bereits angesprochen – auf die von March und Olsen theoretisierte „Logik der Angemessenheit“ und andererseits auf die Habermas’sche Theorie kommunikativen Handelns. Auch hier wurden also wieder Anleihen bei der politischen Theorie gemacht. Zusammengefasst standen bei den institutionalistischen Ansätzen in den IB von vornherein zwei theoretische Probleme im Vordergrund: Erstens ging es, wie oben erwähnt, um die Problematik der „Kooperation unter Anarchiebedingungen“: Wie kann man das Zustandekommen internationaler Institutionen erklären, wenn kein Weltstaat oder eine Weltregierung existiert, die die entsprechenden Normen auch durchsetzt? Zweitens ging es um die Frage nach den Bedingungen der Regeleinhaltung (compliance): Warum und unter welchen Bedingungen werden im internationalen System Normen und Regeln eingehalten, selbst wenn die Interessen der Akteure sich ändern und die Regelbefolgung mit Kosten verbunden ist (Überblicksdarstellungen bei Raustiala/Slaughter 2002; Börzel/Risse 2002)? Die unterschiedlichen compliance-Ansätze thematisierten dann Regeleinhaltung durch (positive und negative) Anreizsteuerung, durch das Management und die Bereitstellung administrativer und politischer Kapazitäten sowie über den Legitimitätsgrad einer Regel (vgl. zum letztgenannten vor allem Hurd 1999). Wenn man nun aus dem Blickwinkel der institutionalistischen IB-Theorien die entsprechenden Angebote der Politischen Theorie betrachtet, dann fällt sofort auf, dass viele institutionalistische Ansätze der Politischen Theorie mehr oder weniger implizit den modernen Nationalstaat mit legitimem Gewaltmonopol und unhinterfragter Fähigkeit zur Rechtsdurchsetzung voraussetzen. Damit bekommen sie die besondere Problematik von Institutionen in der internationalen Politik schon konzeptionell nicht in den Griff. Als Beispiel wähle ich den Institutionenbegriff von Gerhard Göhler, der wie kein anderer in der deutschen Politikwissenschaft zur Ausarbeitung einer Institutionentheorie beigetragen hat. Göhler (1994, 2004a) argumentiert zunächst, dass drei Bedingungen erfüllt sein müssen, damit es sich um Institutionen handelt: Erstens gibt es Regeln, sie werden zweitens angewandt, und drittens wissen die Beteiligten darum. Er definiert dann soziale Institutionen als „auf Dauer gestellte, durch Internalisierung verfestigte Verhaltensmuster und Sinngebilde mit regulierender und orientierender Funktion“ und politische Institutionen als „Regelsysteme der Herstellung und 4 Natürlich gab es auch hier Vorläufer, zum Beispiel die sogenannte Englische Schule in den IB (vgl. Bull 1977; Dunne 1995).
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Durchführung verbindlicher Entscheidungen und Instanzen der symbolischen Darstellung von Orientierungsleistungen einer Gesellschaft“ (Göhler 2004a: 212f.). Dieses Institutionenverständnis entspricht in vielfacher Hinsicht Robert Keohanes klassischer Definition von internationalen Institutionen als „persistent and connected sets of rules (formal and informal) that prescribe behavioral roles, constrain activities, and shape expectations“ (Keohane 1989, 3). Göhlers Institutionenbegriff ist insofern umfassender, als er Komponenten umfasst, die in den IB als soziologischer Institutionalismus bezeichnet werden („Sinngebilde“, „symbolische Darstellung“; vgl. Göhler 2006; Hall/Taylor 1996). Mit anderen Worten, es geht nicht nur um formal gesatzte Regeln, sondern auch um die Interpretationsgehalte und Bedeutungsstrukturen einschließlich symbolischer Komponenten, die Institutionen darüber hinaus ausbilden und die den formalen Regeln erst Sinn verleihen. Was diese symbolische Repräsentanz einer Gesellschaft durch Institutionen mit der Funktion der normativen Integration angeht, so wurde dazu in den Internationalen Beziehungen bisher wenig gearbeitet (vgl. aber Derian 1987). Doch dieser Punkt leuchtet unmittelbar ein, wenn man zum Beispiel die symbolische Darstellung von Souveränität und Staatlichkeit durch ausgeklügelte Regeln der Diplomatie in Rechnung stellt (etwa die Inszenierung von Souveränität und Staatlichkeit bei Staatsbesuchen). Ähnlich könnte man auf die symbolische Repräsentanz der (zumindest teilweisee kontrafaktischen Fiktion einer) internationalen Gemeinschaft durch die Vereinten Nationen verweisen. So weit, so gut. Problematisch wird es aus meiner Sicht an einer anderen Stelle in Göhlers Institutionenverständnis: Wenn er politische Institutionen als Regelsysteme der Herstellung und Durchführung „verbindlicher Entscheidungen“ bezeichnet, so scheint hier der Politikbegriff David Eastons aufzuscheinen („autoritative Allokation von Werten“, vgl. Easton 1965). Ich vermute, dass hier implizit der moderne Nationalstaat im Hintergrund mitgedacht wurde (vgl. jetzt aber Göhler 2006). Wenn man aber über das internationale System als Raum „ohne Staat“ nachdenkt, dann stellt sich schnell die Frage, was eigentlich mit „verbindlich“ gemeint ist. Wenn gemeint ist, dass die Regeln gelten und angewandt werden sollen, dann entstehen keine Probleme: Denn natürlich ist das Völkerrecht in dem Sinne verbindlich, als seine Regeln für die Mitglieder der internationalen Gemeinschaft gelten. Was konkrete internationale Institutionen angeht, so verpflichten sich die Staaten, die Vertragspartner des entsprechenden Regelwerks sind, die Normen auch einzuhalten. Das sogenannte ius cogens, etwa grundlegende Menschenrechte, gilt sogar unabhängig davon, ob Staaten die verschiedenen Konventionen unterschrieben und ratifiziert haben. Insofern sind natürlich auch die völkerrechtlichen Regeln „verbindlich“. Wenn aber – im Sinne David Eastons – mit „verbindlich“ mehr gemeint ist, dass nämlich die Regeln von einer sanktionsbewehrten Zentralgewalt – dem
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Staat – notfalls auch autoritativ durchgesetzt werden können und ihnen so Geltung verschafft wird, dann wäre dieser Institutionenbegriff für die internationale Politik problematisch. Denn letztlich erfolgt die Regeleinhaltung jenseits des Nationalstaates freiwillig. Selbst ein so ausgefeiltes und legalistisches Regelwerk wie die Europäische Union (EU) mit einem mit supranationalen Vollmachten ausgestatteten Europäischen Gerichtshof (EuGH) beruht letztlich darauf, dass die Mitgliedstaaten die Regeln einhalten bzw. für die Regeleinhaltung in ihren Gesellschaften sorgen. „Compliance“ wird also hier entweder über Systeme der Anreizsteuerung oder über den Legitimitätsglauben erzeugt (vgl. Hurd 1999). Mir erscheint es aber noch aus einem anderen Grund problematisch, „Verbindlichkeit“ im Sinne der Regeleinhaltung zum Bestandteil des Institutionenbegriffes selbst zu machen. Hier möchte ich auf eine Debatte verweisen, die in den IB zwischen deutschen und amerikanischen Regimeforschern vor circa 15 Jahren stattgefunden hat (vgl. etwa Rittberger 1993a; Keohane 1993). Die Tübinger Regimeforscher unter Leitung von Volker Rittberger hatten die Effektivität internationaler Regime zunächst zum Bestandteil ihres Verständnisses internationaler Institutionen gemacht. Dies wurde von Robert Keohane zu Recht kritisiert, weil hier Forschungsfragen zu Definitionsfragen umformuliert wurden. Die internationalen Menschenrechtskonventionen – eines der ausgeklügeltsten Vertragswerke mit globalen und regionalen Komponenten – wären dann kein Regime, weil Menschenrechte überall auf der Welt und immer wieder systematisch verletzt werden. Für die IB-Forschergemeinschaft ist aber gerade die Frage interessant, wie die Varianz der Regeleinhaltung zu erklären ist. Die „Compliance“-Forschung interessiert sich ja gerade dafür, warum bestimmte internationale Regeln eher eingehalten werden als andere und wie es zu erklären ist, dass – etwa in der EU – das europa-skeptische Großbritannien europäisches Recht viel besser einhält als das europa-enthusiastische Italien (vgl. Börzel 2001). Auch innerstaatlich ist es durchaus sinnvoll, den Grad der Regelbefolgung nicht zum Definitionsmerkmal politischer Institutionen zu erheben. Erstens bilden alle Staaten politische Institutionen aus, auch diejenigen, die nicht mehr oder noch nicht in der Lage sind, politische Entscheidungen auch autoritativhierarchisch durchzusetzen (vgl. die Debatte um „begrenzte Staatlichkeit“ im Berliner SFB). Zweitens geht es in der Debatte um die Transformation moderner Staatlichkeit ja gerade auch darum, hierarchische durch nicht-hierarchische Formen des Regierens zu ergänzen bzw. sogar zu ersetzen (vgl. dazu den Bremer SFB, Überblick bei Leibfried/Zürn 2005). Die institutionellen Ausprägungen dieser „neuen“ Formen von governance können aber gar nicht mehr untersucht werden, wenn Regelbefolgung zum Definitionsmerkmal von politischen Institutionen gemacht wird. Denn auch innerhalb des modernen Nationalstaates stellt sich ja die Frage, wieviel Staatlichkeit eigentlich erforderlich ist, um „complian-
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ce“ zu garantieren bzw. ob und in welchem Ausmaß ein „Schatten der Hierarchie“ notwendig ist (vgl. Mayntz und Scharpf 1995; Scharpf 1997). Gerhard Göhler hat inzwischen vorgeschlagen, zwischen „verbindlichen“ und „bindenden“ Entscheidungen zu unterscheiden (persönliche Kommunikation mit dem Autor). „Bindend“ wären Entscheidungen bzw. institutionelle Regeln, die tatsächlich gelten und an die sich auch gehalten wird. „Verbindlich“ hieße hingegen, dass von solchen Entscheidungen der normative (und möglicherweise kontrafaktische) Anspruch ausgeht, dass sie gelten sollen, wie oben angedeutet. Verbindlich in diesem Sinne sind in der Tat alle politischen Entscheidungen, ob diesseits und jenseits des Nationalstaates und auch in Räumen begrenzter Staatlichkeit. Diese Unterscheidung könnte also in der Tat das Problem der Anwendbarkeit des Institutionenbegriffs auf Räume jenseits der modernen Nationalstaaten lösen. Es handelt sich hier nicht um begriffliche Spitzfindigkeiten. Am Beispiel des Institutionenverständnisses lässt sich vielmehr zeigen, dass Internationale Beziehungen und Politische Theorie durchaus voneinander lernen können. Die Konfrontation des klassischen Verständnisses politischer Institutionen mit den Gegebenheiten der internationalen Politik verweist unmittelbar auf Implikationen und unhinterfragte Kontextbedingungen, die anders möglicherweise gar nicht aufgefallen wären. Und Theoretiker der internationalen Beziehungen werden in Auseinandersetzung mit der politischen Theorie mit neuen – empirisch gehaltvollen – Fragestellungen konfrontiert, wenn sie beispielsweise den symbolischen Gehalt internationaler Institutionen und die Inszenierung von Weltpolitik stärker in den Mittelpunkt ihrer Aufmerksamkeit rücken. Ähnliches gilt auch für mein nächstes Beispiel, das Verständnis von „Macht“ in den IB. 3
Macht als Zentralkategorie des Politischen
„Internationale Politik, wie alle Politik, ist ein Kampf um Macht” – so lautet der berühmte erste Satz von Hans Morgenthaus Klassiker Politics Among Nations (Morgenthau 1948: 28). In klassischen Theorien internationaler Beziehungen – vor allem im Realismus in seinen verschiedenen Ausprägungen – wurde dabei immer zwischen Macht als Fähigkeit, seine Interessen in der Weltpolitik durchzusetzen, und Macht als Einfluss auf andere Akteure im Sinne des klassischen Machtbegriffes von Max Weber unterschieden (vgl. zu dieser Diskussion March 1966). Macht als Kapazität wurde dann in den verschiedenen realistischen Theorien im wesentlichen mit militärischen bzw. ökonomischen Fähigkeiten gleich-
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gesetzt.5 (Neo-)realistische Theorien behaupteten dann, Macht als Fähigkeit lasse sich sozusagen ohne Reibungsverluste in Macht als Einfluss übersetzen. Dass diese These zumindest empirisch problematisch ist, zeigt schon die gegenwärtige Krise der amerikanischen Außenpolitik. Ebenso problematisch war die (neo-) realistische These, nach der Fähigkeiten in einem Sachbereich der internationalen Politik – zum Beispiel internationale Sicherheit – sich ohne weiteres in Einfluss in anderen Sachbereichen der Politik – zum Beispiel Wirtschaft – umsetzen lasse („Fungibilität von Macht“, vgl. dazu Keohane 1986a; siehe auch Guzzini 1993). Dieses Machtverständnis der klassischen IB-Theorien lässt sich ziemlich gut mit der Unterscheidung von Hannah Pitkin in „power over“ und „power to“ vereinbaren, auf die Gerhard Göhler kürzlich wieder hingewiesen hat (vgl. Pitkin 1972: 277; Göhler 2004b, 2005). „Power to“ entspricht hier den (militärischen und ökonomischen) Fähigkeiten, wohingegen „power over“ dem Verständnis von Macht als Einfluss nahe kommt. Letztlich liegt hier ein relationales Machtverständnis zugrunde, “of A causing B to do something that B otherwise would not have done“ (Baldwin 2002: 177). Gegen diese klassische Machtverständnis der (neo-)realistischen IBTheorien sind kritische und institutionalistische Theorien in den 1980er und 1990er Jahren Sturm gelaufen, und zwar im wesentlichen aus zwei Richtungen, die mir durchaus anschlussfähig an neuere Machttheorien in der Politischen Theorie erscheinen. Erstens wurde von marxistischer Seite (zum Beispiel der Weltsystemtheorie oder von den Neo-Gramscianern), aber auch von Theoretikerinnen wie Susan Strange (1983, 1996) darauf hingewiesen, dass sich „power to“ nicht nur auf vorhandene Fähigkeiten bezieht, die dann in politischen Einfluss umgesetzt werden (der kausale Mechanismus von Machtausübung läuft hier nach wie vor über Einfluss, selbst wenn dieser Einfluss – wie im [Neo-]Realismus als quasi-automatisch unterstellt wird). „Power to“ sei eben auch strukturelle Macht, die soziale Beziehungen in der internationalen Politik strukturiere und darüber ihre Wirkungen entfalte. Die „Macht des Kapitals“ oder die „amerikanische Hegemonie“ wirken eben nicht nur über relationale Beziehungen, die konkrete und messbare Wirkungen auf das Verhalten von Akteuren ausüben, sondern als Strukturen, die diese Beziehungen zuallererst möglich machen, indem sie bestimmte Interaktionen befördern, andere aber von vorneherein verhindern. Macht als Struktur konstituiert soziale Beziehungen, sie reguliert sie nicht nur (vgl. dazu auch Barnett/Duvall 2005). Macht als Struktur wurde aber nicht nur von (neo-)marxistischen und anderen Autor/inn/en gegen realistische Theorien in Anschlag gebracht, die vor allem 5 Allerdings hatte schon Morgenthau „kluge Diplomatie“ als Machtfaktor bezeichnet und damit etwas vorweggenommen, was Joseph Nye jr. später als „soft power“ bezeichnete; vgl. Nye 1990, 2004.
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auf materielle Strukturen der internationalen Politik fokussierten. Als der sogenannte „linguistic turn“ (endlich) auch die IB erreichte, ging es in Anlehnung an Michel Foucault auch immer darum, dass ideelle Faktoren in der internationalen Politik durchaus strukturelle Macht ausüben können. Diskursive Macht strukturiert internationale Politik insofern, als sie zum einen die Teilnehmer/innen des Diskurses bestimmt (wer darf eigentlich mitreden und mitverhandeln in den multilateralen Verhandlungssystemen der Weltpolitik?) als auch, was gesagt werden kann und was nicht (wo sind die Tabus der internationalen Politik? Vgl. im Einzelnen Barnett/Duvall 2005 sowie Holzscheiter 2004). Sowohl die diskursive Macht als auch die strukturelle Macht des globalen Kapitalismus bzw. hegemonialer Staaten lassen sich meines Erachtens ohne weiteres mit dem „power to“-Machtbegriff von Pitkin vereinbaren. Auch Göhlers Vorschlag, zwischen transitiver und intransitiver Macht zu unterscheiden (vgl. Göhler 2004b), kann hier weiterhelfen. Unter transitiver Macht versteht er das traditionelle Verständnis, konkreten Einfluss auf andere Individuen oder korporative Akteure auszuüben. Dagegen ist „Macht als Bezug auf die eigene Gruppe […] intransitive Macht, nämlich Macht, die in sich selbst, in der Gesellschaft erzeugt und aufrechterhalten wird“ (Göhler 2005: 154). Aber „power to“ bzw. „intransitive Macht“ erschöpft sich nicht nur in struktureller Macht, die soziale Beziehungen durchdringt und Akteure letztlich einschränkt daran hindert, ihre Potentiale voll auszuschöpfen. „Power to“ – so Pitkin und Göhler – bedeutet auch „empowerment“, also die Möglichkeit, produktiv die gesellschaftlichen Verhältnisse in Frage zu stellen und zu verändern (vgl. auch das Konzept von „produktiver Macht“ bei Barnett/Duvall 2005). Dies war der Ansatzpunkt des zweiten Typs von Kritik an dem eingeschränkten Machtverständnis des (Neo-)Realismus. Sozialkonstruktivistisch inspirierte institutionalistische Ansätze in den IB kritisierten seit Ende der 1980er Jahre das rationalistische Akteurverständnis sowohl des Realismus als auch des neoliberalen Institutionalismus. Die Parole lautete „norms matter!“: Auch die materiell Mächtigen in der internationalen Politik müssen sich an Normen und Regeln halten, die tiefgreifende Wirkungen auf Akteure, ihre Interessen und Identitäten entfalten und sie damit zuallererst konstituieren (vgl. Katzenstein 1996). So ist die Norm der Souveränität konstitutiv für das Staatensystem. Zugleich ermöglichen internationale Normen es den materiell weniger Mächtigen, die Weltpolitik zu verändern und damit Einfluss auszuüben. Empirische Studien – beispielsweise im Bereich der internationalen Menschenrechte – konnten zeigen, dass transnationale Netzwerke von Menschenrechts-NGOs und anderen durchaus in der Lage sind, die Agenda der Weltpolitik mit zu bestimmen (vgl. Keck/Sikkink 1998; Risse u.a. 1999). In diesem Zusammenhang lag der Beitrag der deutschsprachigen IB-Community darin, den Habermas’schen An-
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satz der Theorie kommunikativen Handelns für die Diskussion um die Entstehung und Diffusion internationaler Normen nutzbar zu machen (s.o., vgl. die sogenannte „ZIB-Debatte“, ausgelöst von Müller 1994). „Arguing“ statt „bargaining“ lautete die Parole: Internationale Verhandlungen seien eben nicht nur Prozesse der wechselseitigen Koordination von Handlungsoptionen auf der Basis gegebener Präferenzen, sondern die Kraft des „besseren Arguments“ habe durchaus konkrete Folgen für die Ergebnisse internationaler Verhandlungen. Vor lauter Kritik an den rationalistischen IB-Theorien, die sich vor allem auf materielle Interessen der Akteure bezogen, und vor lauter Anstrengungen, immer wieder die Wirkungen internationaler Normen nachweisen zu müssen (sowohl quantitativ als auch qualitativ),6 gerieten Machtfragen allmählich in den Hintergrund (trotz Buchtiteln wie „The Power of Human Rights“, Risse u.a. 1999). Stefano Guzzini war lange Zeit der einzige von sozialkonstruktivistischen Ansätzen inspirierte Autor, der immer wieder an die „Machtfrage“ erinnerte (vgl. Guzzini 1993; siehe jetzt aber Barnett/Duvall 2005). Dabei ist es vergleichsweise einfach, die „Macht von Normen“ im Anschluss an die oben erwähnte neuere sozialwissenschaftliche Machtdiskussion zu theoretisieren. Gemeint sind nämlich im Grunde drei Dimensionen, die man mithilfe der Begrifflichkeiten dieser Debatte entfalten kann. Erstens geht es bei der „Macht internationaler Normen“ um intransitive Macht im Sinne von Göhler bzw. power to im Sinne von Pitkin, also den Bezug auf die eigene Gruppe. Normen entfalten einen bestimmten Typus von struktureller Macht, indem sie nämlich soziale Beziehungen über wechselseitig generalisierte Verhaltenserwartungen stabilisieren. Sie regulieren nicht nur Beziehungen, sie konstituieren sie auch. Ohne Souveränität keine Staatlichkeit! Internationale Menschenrechts- und Umweltnormen entfalten konstitutive Wirkungen, indem sie zunehmend definieren, wer als anerkanntes Mitglied der Internationalen Gemeinschaft gelten kann und wer nicht (man denke nur an die sogenannten „Schurkenstaaten“). Diese konstitutiven Wirkungen können dann durchaus materielle Folgen haben, insofern sie nämlich den Zugang zu Ressourcen wie Entwicklungshilfe oder Finanzhilfen eröffnen. Eine der interessantesten Entwicklungen der vergangenen Jahre ist in diesem Zusammenhang die Ausdehnung der wichtigsten Normen von global governance auf private Unternehmen. Corporate Social Responsibility, das heißt die Anerkennung und Umsetzung internationaler Menschenrechts-, Sozialrechts- und Umweltnormen durch multinationale Unternehmen (vgl. zum Beispiel den „Global Compact“ der Vereinten Nationen), beginnt ähnlich konstitutive Wirkungen zu entfalten. Diese Normen definieren zunehmend, welche Unter6
Für quantitative Analysen steht vor allem die Stanforder Schule des soziologischen Institutionalismus um John Meyer, vgl. den Überblick bei Finnemore 1996; siehe zum Beispiel Meyer u.a. 1997; Boli und Thomas 1999.
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nehmen für sich in Anspruch nehmen können, nicht nur am privaten Gewinn, sondern auch am internationalen Gemeinwohl orientiert zu sein. Dies hat wiederum materielle Konsequenzen bis hin zu Gewinnerwartungen (vgl. etwa die Verbraucherboykotts gegen internationale „Umweltsünder“). Hinzu kommt zweitens die „produktive Macht“ im Sinne des empowerment. Internationale Normen ermöglichen den materiell schlechter Gestellten in der internationalen Politik, sich als „Normunternehmer“ zu betätigen und damit konkreten Einfluss auf Verhandlungen, internationale Verträge und deren Implementierung auszuüben. Internationale Nicht-Regierungsorganisationen (INGOs) sind hier das meistens erwähnte Beispiel. Normen beschränken nicht nur, indem sie erlaubte von unerlaubten Handlungen zu unterscheiden helfen, sie ermöglichen auch, indem sie Handlungsmacht schaffen. Die osteuropäischen Dissidenten der 1970er und 1980er Jahre beriefen sich auf die Menschenrechtsnorm der Helsinki-Schlussakte gegen die kommunistischen Herrscher und konnten darüber ihre Position gegenüber diesen Regimen stärken – eine der am wenigsten beachteten Ursachen für das Ende des Ost-West-Konfliktes (vgl. Thomas 2001). Das gleiche gilt für Umweltschutzgruppen, die über internationale Umweltregime Handlungsmacht in innenpolitischen Auseinandersetzungen mit mächtigen Konzernen gewinnen. Dieses empowerment wurde im übrigen von der „compliance“-Forschung als eine der wichtigsten Kausalmechanismen identifiziert, um die Varianz bei der Einhaltung internationaler Normen und Regeln zu erklären, sowohl auf der globalen als auch auf der europäischen Ebene (vgl. den Überblick bei Börzel/Risse 2002, 2003). Die dritte Wirkung entfalten internationale Normen eher auf der MikroEbene konkreter sozialer Interaktionen. Es geht um die Wirkung des „besseren Arguments“ im Sinne kommunikativer Rationalität (s.o.). Universal anerkannte Normen dienen als Referenzpunkte in internationalen Verhandlungssystemen, die Akteure – zum Beispiel Diplomaten – im täglichen Geschäft dazu nutzen, ihre Interessen zu begründen. Empirische Studien zeigen, dass selbst in den härtesten – durch „bargaining“ geprägten – Verhandlungen von den Beteiligten immer wieder versucht wird, ihre jeweiligen Positionen durch den Verweis auf universalisierbare Geltungsgründe zu rechtfertigen. Diese Rechtfertigungen ermöglichen dann dem Gegenüber, unter Verweis auf genau die gleichen Geltungsgründe diese Interessen in Frage zu stellen. In vielen Fällen sind internationale Institutionen so strukturiert, dass sie kommunikative Rationalität und Deliberation zur Geltung bringen – ganz unabhängig von den Handlungsorientierungen der beteiligten Akteure (vgl. Ulbert und Risse 2005). Ein Beispiel war der Europäische Verfassungskonvent. Bei dieser dritten Wirkung internationaler Normen handelt es sich offensichtlich um einen Typus von Macht, der konkreten Einfluss auf soziale Beziehungen ausübt. Die Überzeugungskraft von „arguing“
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besteht aber nun gerade nicht darin, jemanden zu etwas zu bringen, was er/sie andernfalls nicht tun würde (relationaler oder transitiver Machtbegriff). Denn Überzeugungsprozesse sind ja gerade dadurch gekennzeichnet, dass der/die Andere freiwillig, nämlich „aus Überzeugung“ zustimmt. Sonst macht die Rede von der „Macht des besseren Arguments“ keinen Sinn. Handelt es sich hier überhaupt noch um Macht? An dieser Stelle, bei der es um die Umsetzung der Habermas’schen normativen Theorie kommunikativen Handelns in empirisch-analytische Forschung geht, besteht aus meiner Sicht Diskussionsbedarf zwischen Politischer Theorie und Internationalen Beziehungen. Ansonsten zeigt das Beispiel der Diskussion verschiedener Machtbegriffe, dass die beiden Subdisziplinen sich nicht nur gegenseitig befruchten, sondern dass diese Auseinandersetzung darüber hinaus auch neue Erkenntnisse erbringen kann. 4
Schlussfolgerungen
Ich habe in diesem Beitrag argumentiert, dass Politische Theorie und Internationale Beziehungen sich gegenseitig eine Menge zu sagen haben. Am Beispiel institutionalistischer Ansätze habe ich versucht zu zeigen, dass IB-Theorien hier auf Unklarheiten in den Konzepten der Politischen Theorie hinweisen können. Die Auseinandersetzung um Macht als Zentralkategorie des Politischen zeigt hingegen die wechselseitige Anschlussfähigkeit zwischen Machttheorien der IB und denjenigen aus der Politischen Theorie. Im Ergebnis zeigt sich, dass die Internationalen Beziehungen als theoriegeleitete und theorie-orientierte Subdisziplin auf die Einsichten der Politischen Theorie angewiesen ist, um konzeptionelle Probleme zu klären, aber auch um empirische Befunde theoretisch aufzuarbeiten. Die Debatte mit politischen Theoretikern könnte dann dazu führen, dass die IB nicht immer wieder versucht, das theoretische Rad neu zu erfinden. Umgekehrt gilt aber auch, dass die Politische Theorie auf die Beiträge der Internationalen Beziehungen – wie auch jeder anderen Subdisziplin der Sozialwissenschaften – angewiesen ist, weil sie sonst auf die immer neue Lektüre und Re-Interpretation „heiliger Texte“ reduziert ist. Es zeigt sich hier aber auch, dass Theorie-Arbeit nicht von der Politischen Theorie allein zu leisten ist. Die empirisch vorgehende Politikwissenschaft ist nicht Zulieferbetrieb, der seine Befunde bei der Politischen Theorie abliefert nach dem Motto: Nun theoretisiert mal schön! Sondern die eigentliche Theoriearbeit einschließlich der kritischen Reflexion der eigenen Erkenntnisse muss genau an den „Grenzen“ zwischen den Subdisziplinen stattfinden, die dadurch natürlich immer fließender werden. Und das ist gut so!
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Peter Niesen
Politische Theorie als Demokratiewissenschaft
Einleitung In einem jüngeren Beitrag zur Lage der Politikwissenschaft in Deutschland beklagt Michael Greven (2004: 147) die Verbreitung eines gleichsam nominalistischen Selbstverständnisses der politischen Theorie. Greven bezieht sich auf eine in der akademischen Lehre weit verbreitete Sammlung, die zweibändigen Politischen Theorien der Gegenwart von Brodocz und Schaal, in denen ein solches Selbstverständnis nicht nur abgebildet, sondern auch offensiv vertreten wird. Im Kontext einer allgemeinen Erörterung des Konzepts politischer Theorie sprechen sich die beiden Herausgeber zunächst aus heuristischen Gründen dafür aus, als politische Theorie all die wissenschaftlichen Textsorten wahrzunehmen, die als politische Theorie erörtert werden und/oder sich selbst als politische Theorie verstehen (Brodocz/Schaal 2001: 10). Diese Entscheidung dokumentiert große Sensibilität für die vielfältigen Ansätze, die derzeit in der politischen Theorie auf eine zumeist produktive Weise vertreten werden, verfestigt allerdings einen heterogenen Eindruck des Fachgebietes. Das Selbstverständnis der politischen Theorie in Deutschland ist, freundlich ausgedrückt, pluralistisch, weniger freundlich ausgedrückt, diffus. Das erschwert die Wirkung des Fachgebietes in die politische Öffentlichkeit hinein ebenso wie seine Interessenwahrnehmung innerhalb der Politikwissenschaft. Die institutionelle und wissenssoziologische Zuordnung der politischen Theorie gerät zyklisch unter Druck; sie muss nicht etwa von Generation zu Generation, sondern praktisch mit der Formulierung eines jeden Ausschreibungstextes neu erkämpft werden. Der vorliegende Beitrag macht einen Vorschlag zu einem einheitlicheren, aber gleichwohl nicht-exklusiven Selbstverständnis des Fachgebiets, der an ein älteres politikwissenschaftliches Konzept, das der „Demokratiewissenschaft“, anknüpft. Er entwickelt diesen Vorschlag aus der normativen politischen Theorie, deren Bedeutung innerhalb der Subdisziplin der politischen Theorie und Ideengeschichte (wenn auch nicht innerhalb der gesamten Politikwissenschaft) weitgehend unumstritten ist, ohne damit die falsche Unterstellung zu verbinden, die Grenzen der normativen politischen Theorie steckten die Grenzen der Sub-
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disziplin ab.1 Da die These einer „Politischen Theorie als Demokratiewissenschaft“ hier von der normativen politischen Theorie und nicht gleichermaßen aus den gesellschafts- und institutionentheoretischen, den wissenschaftstheoretischen und methodologischen Bereichen des Fachgebietes entwickelt und außerdem auf ihre ideengeschichtliche Einbettung verzichtet wird, wird die Attraktivität des paradigmatischen Verständnisses als Demokratiewissenschaft nicht aus der Perspektive aller Teilbereiche der politischen Theorie belegt. Es erscheint nicht ausgeschlossen, dass eine demokratiewissenschaftliche Orientierung der politischen Theorie auch für Vertreter anderer Zugänge plausibel sein kann; die Überprüfung steht gleichwohl noch aus. Die These einer politischen Theorie als Demokratiewissenschaft wird im Folgenden als eine Differenz zwischen politischer Theorie und politischer Philosophie entwickelt. Wenn normative politische Theorie als ein zentraler Bereich der politischen Theorie angesehen wird, stellt sich sogleich die Frage nach einer disziplinären, sachlichen oder funktionalen Unterscheidung zwischen politischer Philosophie und politischer Theorie. Die hier vorgeschlagene Unterscheidung ist nicht so zu verstehen, dass politische Theorie und politische Philosophie in einem Exklusionsverhältnis zueinander stünden, etwa indem sie verschiedene Fragestellungen bearbeiteten oder dieselben Fragestellungen mit unterschiedlichen Mitteln. Im Gegenteil, es scheint sich vielfach nur dann zu lohnen, normative politische Theorie zu betreiben, wenn man sie mit den argumentativen Mitteln geltungsorientierter politischer Philosophie betreibt. Allerdings sollte daraus nicht der Schluss gezogen werden, politische Philosophie sei automatisch auch politische Theorie. Meine These ist, dass politische Philosophie dann politische Theorie ist, wenn sie sich in einem noch zu spezifizierenden Sinn als Demokratiewissenschaft versteht. Ganz allgemein lässt sich festhalten, dass „politische Theorie“ im Unterschied zu „politischer Philosophie“ eine Bescheidenheitsformel ist, die das, was Rawls und Habermas tun, von dem unterscheidet, was Platon und Hegel tun (Kelly 2006: 47). Im Hintergrund steht eine grobe wissenssoziologische Zuordnung: Politische Philosophie wird in Instituten für Philosophie und politische Theorie in Instituten für Politikwissenschaft betrieben. Dass diese Unterscheidung oftmals über die Anlage der Forschung und Lehre wenig aussagt, ist in den Vereinigten Staaten und Großbritannien, und zunehmend auch in der Bundesrepublik, ein Gemeinplatz. Für unsere Fragestellung ist wenig hilfreich zu erfah1 Ich verwende den Ausdruck „Normative politische Theorie“ nicht im Sinn der älteren TriasUnterscheidung, in der ein normatives Argument stets Wissen über ein Telos des Menschen vorauszusetzen schien, und schon gar nicht als Gegensatz zu „analytischer“ oder „kritischer“ Theorie, sondern mit Schmalz-Bruns und Hitzel-Cassagnes (2003: 132) als Oberbegriff für Aussagen über gute, gerechte und legitime gesellschaftliche Ordnungen und das auf sie bezogene Handeln.
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ren, dass David Miller und Adam Swift politische Theorie, Will Kymlicka und Jonathan Wolff politische Philosophie lehren. Bei der Klärung der Aufgaben der politischen Theorie ist die Unterscheidung anhand der institutionellen Anbindung zunächst einmal wenig aussagekräftig. Bleiben wir noch einen Moment auf der wissenssoziologischen Oberfläche, so fällt eine wesentliche Differenz im Gebrauch der Ausdrücke ins Auge, die für den deutschsprachigen Kontext spezifisch erscheint, nämlich die häufige Vermeidung des Singulars „Politische Theorie“ zugunsten des Plurals „Politische Theorien“. Von der Semantik einer „politischen Philosophie“ unterscheidet man sich schon dadurch, dass als Bezeichnung des Fachgebietes häufig der Plural, „Politische Theorien“ verwendet wird.2 Niemand käme auf die Idee, ein einführendes Werk „Politische Philosophien“ zu betiteln. Es ist möglich, dass der Plural „Politische Theorien“ ebenfalls Bescheidenheit signalisieren soll, etwa im Sinne von „einige ...“: man beansprucht nicht, das gesamte Feld abzudecken. Die Beschäftigung mit Theorien statt Theorie unterstreicht aber unwillkürlich die Vermutung, dass das Fachgebiet in heterogene Argumentationsstränge zerfällt und die verschiedenen Stränge unverbunden nebeneinander herlaufen. Vor dem Hintergrund der historischen Vorläufer, die für die deutschsprachige politische Theorie in den „politischen Ideologien“ des 19. Jahrhunderts – Liberalismus, Konservatismus, Sozialismus – liegen, ist das nicht unplausibel (vgl. Neumann 1995). Für die Gegenwart kann die bloße Auffächerung von Theorien jedenfalls nicht genügen, wenn eine dem Fachgebiet aufgegebene Identität nicht rein aggregativ bestimmt werden soll. Dabei liegt der Nachteil der Formel der „Politischen Theorien“ weniger in ihrer (ja durchaus zutreffenden) Widerspiegelung eines pluralistischen Fachs, sondern darin, dass sie sich im Gegensatz zu „politischer Theorie“ nur auf einen Gegenstandsbereich, nicht auf eine Tätigkeit beziehen kann, nämlich die des Theoretisierens, und daher von vornherein signalisiert, dass kommensurierende oder an Geltungsfragen orientierte Anstrengungen unterbleiben. Beschäftigt man sich mit „politischen Theorien“, statt „politische Theorie“ zu betreiben, legt man sich nicht darauf fest, ob man selbst, angesichts und trotz des methodischen Pluralismus, an einer gemeinsamen Praxis, eben politischer Theorie, beteiligt ist. Die Gemeinsamkeit einer solchen Praxis kann, das ist die These des Beitrags, in Auseinandersetzungen mit dem Demokratiebegriff angesiedelt werden. Diese Auseinandersetzungen beziehen sich auf die inhaltliche Ebene, also auf Demokratie als Thema und Gegenstand der Forschung, aber auch auf die Frage, was aus der Unterstellung folgt, „Demokratie“ bezeichne eine gegenüber konkurrierenden Regierungsformen vorzugswürdige Praxis. Schließlich, und zentral für 2
Vgl. Brodocz/Schaal (2001, 2002), Hartmann/Meyer (2005), Schaal/Heidenreich (2006), Beyme (2000); anders Göhler (1978), Göhler et al. (2004), Riescher (2004), Llanque/Münkler (2007).
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die These, geht es in politischer Theorie um die Frage, was es heißt, eine reflexive Einstellung zur Demokratie einzunehmen, innerhalb derer man Theoriebildung betreibt. In der Unterbreitung des Vorschlags, politische Theorie in diesem Sinn als Demokratiewissenschaft zu betreiben, gehe ich folgendermaßen vor: Zunächst illustriere ich den Vorwurf der Obsolenz, wie er innerhalb der empirisch orientierten Politikwissenschaft gegenüber normativer politischer Theorie und politischer Philosophie erhoben wird (1). Danach stelle ich anhand von Einführungen und Gesamtdarstellungen das vergleichsweise kohärente Bild dar, das politische Philosophie in jüngerer Zeit von sich entwirft (2), und mache auf eine Veränderung hin zur stärkeren Auseinandersetzung mit Demokratie in den vergangenen Jahren aufmerksam (3). Dieser Wandel lässt sich beziehen auf thematische Entwicklungen innerhalb der politischen Theorie, einen democratic turn, der auch in der empirisch arbeitenden Politikwissenschaft, das heißt sowohl in der Vergleichenden Systemanalyse als auch in den Internationalen Beziehungen, längst anerkannt wird. Diese thematische Entwicklung hin zur Demokratiewissenschaft in der jüngeren politischen Theorie wird begleitet, und darin liegt die Pointe des Beitrags, von einer methodischen Entwicklung, die Demokratie nicht nur als Thema auffasst, sondern sich auch des demokratischen Kontextes der Theoriebildung bewusst ist und daraus Konsequenzen für die Praxis der politischen Theorie folgert (4). Hier, so argumentiere ich, liegen die eigentliche Besonderheit und Stärke eines demokratiewissenschaftlichen Paradigmas in der politischen Theorie (in denen sie über „bloße“ politische Philosophie hinausgeht und deren naturrechtliche Tendenzen entwaffnet): in der Reflexion des Umstandes, dass politische Theorie nicht nur über und für sie, sondern auch in einer demokratischen Gesellschaft betrieben wird. 1
Politikwissenschaft ohne politische Philosophie
Positivistische Fundamentalkritik an der normativen politischen Theorie wird heute nur selten artikuliert, obwohl es sich dabei um eine verbreitete Einstellung handeln dürfte; der Umstand ist also eher alarmierend als beruhigend. Jürgen Hartmann hat das Verdienst, die Vorbehalte, die auf seiten einer empiristisch orientierten Politikwissenschaft gegenüber der politischen Theorie bestehen, in wünschenswerter Klarheit dargestellt zu haben. Hartmann nimmt sich in seinem Buch Wozu politische Theorie?, einer „kritischen Einführung für Studierende und Lehrende der Politikwissenschaft“, vor, das Verhältnis zwischen politischer Philosophie und politischer Theorie als eines der disziplinären Abgrenzung festzulegen, als Abgrenzung zwischen einer philosophiefreien politischen Theorie, die keine „Piraterie“ in fremden Wissensbeständen mehr betreiben soll (Hart-
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mann 1997: 19), und einer akademischen Fachphilosophie, die für die Politikwissenschaft irrelevant ist. Sein Hauptargument ist die mangelnde Anschlussfähigkeit politischer Theorie, die sich auch als politische Philosophie versteht, in dem, was Hartmann als Kerngebiet der Politikwissenschaft identifiziert: „Politische Theorie ist heute fachlich weitgehend fremdbestimmt und somit mit einer sozialwissenschaftlich gestimmten Politikwissenschaft kommunikationsunfähig“ (237). Umgekehrt nehme die akademische Philosophie ihrerseits den politikwissenschaftlichen Mainstream nicht zur Kenntnis (145) und die politische Theorie als derivatives Phänomen wahr. Politische Theorie, die Hartmanns Ansprüchen genügt, wäre solche, die sich die Aufgabe stellt, „politisches Handeln in allgemeinen Sätzen zu erklären“ (26, vgl. 31). Ist politische Theorie nicht bereit, sich selbst ausschließlich als auf „beobachtungsgestützte Einwände“ reagierende Sozialwissenschaft zu verstehen, dann hat jene – die sozialwissenschaftliche Politikwissenschaft – mit dieser – der politischen Theorie – „nichts weiter zu tun“ (31). Dazu gehört auch, dass normative politische Aussagen, gleich welchen Abstraktionsgrads, in der modernen Wissenschaft nichts mehr verloren haben: „Parteinahmen“, so Hartmann, „werden wissenschaftlich nicht mehr akzeptiert, ob man dies beklagt oder nicht“ (25). Auch in der Geschichte politischer Ideen lassen sich solche Defizite aufdecken. Hartmann zeigt an Autoren von Platon bis Marx, wie sie bei der Verfolgung eines „philosophischen“ Projekts die wissenschaftliche Aufgabenstellung verfehlen, den Erfahrungen der politischen Wirklichkeit auf abstrakterer Ebene gerecht zu werden. Zwar kommen diejenigen Ideengeschichtler besser weg, „die ohne eigene philosophische Ambitionen historische politische Theorien lebendig h[alten] und ihre Botschaften vor aktuellem Hintergrund neu interpretier[en]“ (146). Aber normative Theorien, und seien sie so unterschiedlich wie die von Voegelin, Habermas und Nozick, zeigen für Hartmann nur, wie irrelevant das Genre für die eigentliche politikwissenschaftliche Arbeit ist. Dabei ist Hartmanns Ablehnung normativer politischer Theorie merkwürdig überdeterminiert. Er kritisiert normative Theorie einerseits, weil sie „kontextfrei“ und damit nicht anschlussfähig sei (das heißt, nicht mit den beobachtbaren politischen Phänomenen ins Verhältnis gesetzt werden könne). Auf der anderen Seite werden Philosophen wie Rawls gescholten, deren Utopien nur „blasse Vision“ (123) seien, weil sie sich nicht entschieden genug von der institutionellen Realität der Gegenwart abhöben. Es ist aber unplausibel, die politische Theorie als gleichzeitig zu freischwebend und zu kontexverhaftet zu kritisieren. Andererseits rügt Hartmann, der Diskurs der politischen Philosophie sei unverständlich für die gebildeten Laien, die noch von früheren Autoren, den ideengeschichtlichen Klassikern, wie selbstverständlich am intellektuellen Diskurs beteiligt wurden: „Ein Hobbes, ein Locke, ein Burke oder ein Marx wurden von den politisch Gebilde-
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ten ihrer Zeit verstanden“ (146). Aber warum sollte es wichtig sein, dass bahnbrechende Werke auch außerhalb der Wissenschaft verstanden werden, wenn sie ausdrücklich keine Partei ergreifen, keine normativen Aussagen machen sollen? Die Kritik erscheint mithin in mehreren Hinsichten instabil. Größere Plausibilität gewinnt sie, wenn man sie professionssoziologisch liest, als Krisendiagnose, die sich als Hegemoniekritik stilisiert (145), aber wohl eher ein irritationsfreies Fach neu zurechtschneidert. Vor der historischen Skizze, die Hartmann ausbreitet, ist seine Diagnose nicht unverständlich. Voegelin und Strauss, Vertreter einer Politischen Philosophie in einem gleichsam fundamentalistischen Sinn, spielen in dieser Rekonstruktion die Rolle einer fünften Kolonne innerhalb der Politikwissenschaft. Sie betreiben eine innerdisziplinäre Reaktion gegen deren durch und durch empiristisches Selbstverständnis, das für sie eine verfehlte Einstellung gegenüber politischen Phänomenen darstellt. Wenn für Strauss und Voegelin die „sozialwissenschaftliche Politikwissenschaft [...] der konsequente vorläufige Endpunkt in der Verfallsgeschichte des politischen Denkens“ (94) ist, dann können nicht zwei inkompatible Sichtweisen auf die politische Welt innerhalb einer Disziplin mit klarem Profil koexistieren. Aber dieser Kampf um Exklusivität in der Erfassung des Politischen, gleichsam als einer natürlichen Art, wirkt heute auf beiden Seiten abgestanden. Die Entgegensetzung zwischen empirisch-positivistischer Politikwissenschaft und einer Politischen Philosophie mit Alleinvertretungsanspruch mag historisch nicht unplausibel sein, charakterisiert aber gerade nicht die Position des Mainstreams heutiger politischer Theorie oder politischer Philosophie. Im Gegenteil, die akademische politische Theorie ist heute durch und durch vom Bewusstsein einer kritischen Arbeitsteilung geprägt. Indem sie politikwissenschaftliche Themenwahlen oder methodische Ausrichtungen als zu eindimensional kritisiert, trägt die politische Theorie zur Selbstreflexion der empirischen Arbeit bei, während ohne die Verbindung zur empirischen Grundlagenforschung ambitionierte Thesen der normativen Theorie, man denke etwa an die zunächst spekulativ erscheinenden Behauptungen der deliberativen Demokratietheorie, bald an Interesse verlören. Mit einer solchen Einstellung ist unvereinbar, dass die sozialwissenschaftliche Produktion empirischen Wissens generell abgewertet würde, ebenso wie die völlige Emanzipation sozialwissenschaftlicher Forschung von normativen Fragestellungen. 2
Politische Philosophie heute
Politische Philosophie ist heute ein Forschungsgebiet, das – verglichen mit den Gesamtdarstellungen zur politischen Theorie – in seinem Kern einen wenig hete-
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rogenen Eindruck hinterlässt. Einführungen und Gesamtdarstellungen der politischen Philosophie sind ein relativ standardisiertes Genre, wie sich an einer kurzen Durchsicht einer Auswahl aus den vergangenen 15 Jahren zeigen lässt. Sie stehen, wie Jonathan Wolff nur halb ironisch sagt, unter zwei Leitfragen. Erstens: „Wer kriegt was?“ und zweitens: „Wer sagt das?“ (Wolff 1996: 1). Dies identifiziert ihre zentralen Begriffe und spannt ihren thematischen Rahmen entlang zweier Achsen auf: der Frage legitimer Herrschaft und der Frage distributiver Gerechtigkeit. Autoren wie Jean Hampton, Wolff oder David Miller wenden sich zunächst der Rechtfertigung von Staat und Zwangsbefugnis zu, dem „Problem politischer Autorität“, um im Anschluss daran Gerechtigkeitsfragen im weitesten Sinn zu behandeln (Hampton 1996; Wolff 1996; Miller 2003). Kontinentale und analytische politische Philosophie unterscheiden sich darin übrigens nicht voneinander. Auch Christoph Horn beginnt seine Einführung in die Politische Philosophie mit den „Grundbegriffe[n] der Staatslegitimation“ und unterscheidet fünf „Modelle der Staatsbegründung“ (Horn 2003; vgl. Höffe 1987, Kaufmann 1999). Im langen Schatten von Robert Nozick ist der erste Schritt, den die politische Philosophie tun muss, für die Autoren weiterhin der einer „Anarchismuswiderlegung“. Im Anschluss an die normative Rechtfertigung von Herrschaft und Ordnung überhaupt kann dann der thematische Bogen von Regieren und Verteilen kategorial aufgefächert werden. Auch in der Distributionssphäre gleichen sich die Ansätze: Wolff und Miller diskutieren zunächst Freiheit und Eigentum, um mit Erörterungen von Individualismus, Kommunitarismus und Geschlechtergerechtigkeit zu schließen. Adam Swift bringt seine Einführung unter die Kategorien der sozialen Gerechtigkeit, der Freiheit, der Gleichheit und der Gemeinschaft (Vgl. Swift 2001). Die Darstellungen bewegen sich mithin in einem Koordinatensystem, das Rawls, Nozick und ihre Kritiker im Wesentlichen vor dreißig Jahren etabliert haben. Die politische Philosophie scheint ihre Stabilität über immerhin einige Jahrzehnte nicht zuletzt diesem geteilten Kategorien- und Problemhaushalt zu verdanken. Eine zweite einflussreiche Variante der Gesamtdarstellung politischer Philosophie ist nach Schulen des politischen Denkens strukturiert. So verfährt das Standardwerk der Branche, Will Kymlickas Contemporary Political Philosophy (1990). Es beginnt bei Utilitarismus, Egalitarismus und Libertarianismus, um anschließend Marxismus, Kommunitarismus und schließlich den Feminismus abzuhandeln.3 Kymlicka orientiert sich trotz der Einteilung seines Stoffs nach Schulen des politischen Denkens gleichwohl an denselben Themen und Katego3
Auch Barbara Goodwins im britischen Kontext oft gebrauchte Einführung, Using Political Ideas (1997), verwendet den Schulzusammenhang („Ideologien“, ihr zufolge, von Liberalismus über Marxismus und Anarchismus bis Totalitarismus, Feminismus usw.) als eines von zwei Ordnungsprinzipien. Das andere ist „ideas“ und reicht von Demokratie über Freiheit zu sozialer Gerechtigkeit.
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rien wie die vorhin erwähnten Autoren, und der Singular im Titel des Buches verdankt sich nicht zuletzt Kymlickas Anspruch, die genannten Ansätze einer geltungsorientierten Kritik zu unterziehen. Interessant sind nun aber weniger die wesentlichen Elemente, die innerhalb des Fachgebietes über Jahre hinweg konstant blieben, sondern die Veränderungen des Gegenstandsbereichs zwischen 1990 und 2002. An der nach zwölf Jahren erschienenen zweiten, fast um die Hälfte vermehrten Auflage von Kymlickas Einführung lässt sich ablesen, dass die strenge Ordnung nach Schulen überwunden ist. Das zentrale neue Kapitel über „Citizenship Theory“ etwa fügt sich nicht der Auffächerung nach „-ismen“, sondern stellt ein Problemfeld der politischen Philosophie in den Vordergrund. Dennoch bietet Kymlicka eine interessante neue Perspektive darauf, wie sich das Material nun gleichsam von selbst systematisiert habe, nämlich in zwei Teile. Ein erster Teil bilde mit dem Utilitarismus, liberalem Egalitarismus und Libertarianismus den „Mainstream der gegenwärtigen politischen Philosophie“ (Kymlicka 2002: xi). Die restlichen Kapitel, vom Marxismus über den Kommunitarismus, die Citizenship Theory und den Multikulturalismus zum Feminismus liefern das kritische (ergänzende oder verwerfende) Potential („critique or alternatives“). Der Diskussionsstand in der politischen Philosophie erlaube also eine grobe Zweiteilung zwischen einem umstrittenen, aber nicht-disponiblen Kernbereich und seinen vor- oder nachgelagerten Kritiken und Herausforderungen. Was sich bei Kymlicka erst in der Nachbetrachtung zu einer plausiblen Ordnung seines Stoffs rundet, hat John Christman in seinem Buch Social and Political Philosophy (2002) zum Konstruktionsprinzip erhoben. Er unterscheidet einen ersten Teil „Basic Issues within the liberal paradigm“ von einem zweiten Teil, der betitelt ist mit „Critique of the liberal paradigm – challenges and departures“. Wie bei Kymlicka umfasst der kritische Teil die Themen „race and gender“, den Marxismus, zusätzlich den Konservativismus. Eine solche Organisation nach Zentrum und Peripherie erscheint nicht nur für die politische Philosophie nützlich; sie wird auch in der politischen Theorie betrieben. Die kooperative Darstellung heutiger politischer Theorie im New Handbook of Political Science (Goodin/Klingemann 1996) etwa ist so eingerichtet: die Beiträge von Iris Young und Bhikhu Parekh stellen das liberale Paradigma dar und erweitern es um wichtige kritische Dimensionen. Die Aufgabe des darauf folgenden Beitrags von Brian Barry ist es, das Paradigma wieder zu schließen. Der dadurch konsolidierte Kern des Objektbereichs umfasst die im Rawlsschen Sinn liberale Erörterung der Kategorien von Herrschaft, Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit. Als Ergebnis der kurzen Durchsicht ist festzuhalten, dass Gesamtdarstellungen und Einführungen der politischen Philosophie heute von thematischer Homogenität geprägt sind, und dass selbst Herausforderungen ihres Paradigmenkerns sich immer noch auf diesen beziehen und in der Weiterentwicklung und
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Abgrenzung eine eigenständige Identität entwickeln. Dies legt es nahe, das Feld nach Zentrum und Peripherie, nach Mainstream und Kritik des Mainstream zu organisieren. 3
Ein democratic turn
Allerdings trügt die Annahme eines unwandelbaren Kerns der politischen Philosophie in einer Hinsicht und verbirgt eine entscheidende Neuorientierung während der vergangenen 15 Jahre. Wenn wir uns den Inhalt von Einführungen und Gesamtdarstellungen der politischen Philosophie ansehen, zeichnet sich zwischen ungefähr 1990 und der Gegenwart eine Entwicklung ab. Zwar bleibt, wie gesagt, die Rechtfertigung politischer Autorität als Ausgangspunkt für alle Autoren fundamental, und der liberale Theoriekern konsolidiert sich. Aber erst die Einführungen und Gesamtdarstellungen, die seit der Mitte der 1990er Jahre entstehen, entdecken Demokratie als zentrales Thema der politischen Philosophie. Darin liegt eine fundamentale Umorientierung seit Rawls’ Eine Theorie der Gerechtigkeit, deren Beschränkungen bis in die Literatur der frühen 1990er Jahre nachweisbar sind. Demokratie wird dort als Realisierungsform gerechter Institutionen kaum thematisiert. In dem umfassenden Index des Werkes kommt Demokratie nicht vor.4 Dasselbe gilt für andere Werke, die die Diskussion bis in die frühen neunziger Jahre bestimmten, wie Nozicks Anarchie, Staat, Utopia oder, hierzulande, Otfried Höffes Politische Gerechtigkeit. Bei Nozick wie bei Höffe kommt Demokratie vorrangig als Bestandteil des Problems vor, eine Tyrannei der Mehrheit zu vermeiden, nicht als Bestandteil der Lösung (Nozick 1974: 282; Höffe 1987, 458–469). Schauen wir uns die erwähnte Gesamtdarstellung Contemporary Political Philosophy von Kymlicka in der ersten Auflage von 1990 an, so wird über Demokratie kein Wort mehr verloren als beim frühen Rawls.5 Im Gegensatz dazu ist seit Mitte der 1990er Jahre Demokratie auch für diejenigen Autoren, die eng mit der tonangebenden Tradition der analytischen Philosophie verbunden sind, ein zentraler Kristallisationspunkt (Wolff 1996, Miller 2003; vgl. Becker et al. 2006). Vergleicht man Kymlickas Einführung von 1990 mit der Neuausgabe von 2002, so nimmt sich die Neuausgabe erstmals fundamentaler demokratietheoretischer Fragen an, etwa Fragen nach bürgerlicher 4 Rawls (1975); vgl. dagegen Rawls (2003) und Cohen (2003). Eine Ausnahme ist der Ausdruck „democratic equality“, der sich nicht auf demokratische Institutionen, sondern auf das Ergebnis der Einkommensverteilung bezieht. 5 Dasselbe gilt für das einflussreiche und bis heute viel verwendete Modern Political Thought von Raymond Plant (1991). In Darstellungen politischer Philosophie innerhalb der Fachphilosophie zeigt sich das gleiche Bild (vgl. Steinvorth 1985). Auch hier kommt Demokratie nicht als Thema vor.
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Partizipation oder der Unterscheidung zwischen aggregativen und deliberativen Demokratiemodellen (2002: 288–293). Wolff, Miller, Hampton, Horn und Becker widmen jeweils ein ausführliches Kapitel ihrer Gesamtdarstellungen der demokratischen Regierungsform. Zunächst erscheint ungewöhnlich, dass Adam Swifts Political Philosophy: A Beginners’ Guide for Students and Politicians, das 2001 erstmals erschien und auf dem umkämpften Einführungsmarkt als das am besten durchargumentierte Werk gelten kann, das Thema Demokratie völlig umgeht. Dies lässt sich mit seiner erweiterten Zielgruppe erklären. Swift richtet sich unter anderem direkt an den Premierminister: Zur Motivation für sein Werk zählt ein Brief, den Tony Blair an Isaiah Berlin gerichtet hatte, und in dem er um Aufklärung zu Berlins Unterscheidung zwischen negativer und positiver Freiheit bat. Ein Thema von Swifts Buch ist es nun, dem Premierminister klarzumachen, dass er, Blair, kein Freund der positiven Freiheit (im Gegensatz zu negativer Freiheit) sei, sondern ein Freund effektiver Freiheit (im Gegensatz zu formaler). Das Ziel seiner Darstellung ist Begriffsklärung in praktischer Absicht; der Leitfaden zur politischen Philosophie steht im Dienst der Klärung des politischen Diskurses. Dass Demokratie bei Swift kein Thema ist, liegt also daran, dass die britische Demokratie die Staffage darstellt, innerhalb derer über Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit begrifflich schärfer und weniger konfus debattiert werden soll. Swift erfüllt Hartmanns Forderung, sich an die Gebildeten seiner Epoche zu richten, allerdings um den Preis, das politische Rahmenwerk zu vernachlässigen, innerhalb dessen die Debatte stattfindet. Swift hat wie vor ihm Kymlicka diese Lücke in der zweiten Auflage geschlossen. 6 Es ist nicht unplausibel, den signifikanten Wandel innerhalb der politischen Philosophie, der innerhalb von 15 Jahren von der Ausblendung der Demokratie zu ihrer ausdrücklichen Würdigung als zentraler Kategorie führt, als Reaktion auf Entwicklungen aufzufassen, die in der politischen Theorie stattfinden. Der blinde Fleck Demokratie, wie er beim frühen Rawls, bei Nozick und, bis in die Erstausgaben ihrer Einführungen hinein, bei Kymlicka und Swift vorlag, hat Einführungen in die politische Theorie nie charakterisiert. Der Begriff der Demokratie steht stets am Anfang oder im Zentrum der Auseinandersetzung (statt aller Druwe 1993). Gegen Hartmanns Annahme einer kausalen Trägheit der politischen Theorie muss vielmehr davon ausgegangen werden, dass ein solcher democratic turn nach zwei Seiten – sowohl in die politische Philosophie als auch in die empirische Politikwissenschaft hinein – in Anlehnung an die politische Theorie, oder, schwächer formuliert, in Auseinandersetzung mit ihr erfolgt ist. Nach beiden Seiten spielen Innovationen im Bereich der deliberativen, reflexiven 6
Seine lakonische Erklärung: „The main change is that I’ve added an extra part, on democracy. The book now covers a wider range of topics“ (2006: xii).
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und assoziativen Demokratietheorie und ihrer vielfältigen Varianten eine Rolle, die ihrem Selbstverständnis nach „politische Theorie“ darstellen (vgl. Habermas 1996, Schmalz-Bruns 1995, Cohen/Rogers 1992). Wenn man systematischer den Einflüssen nachgeht, die bei der Demokratieorientierung der politischen Philosophie eine wesentliche Rolle gespielt haben mögen, so sind drei Etappen besonders hervorzuheben: die Entwicklung der deliberativen Demokratietheorie im Anschluss an Habermas; die demokratische Modernisierung von Rawls’ ursprünglicher Gerechtigkeitstheorie; sowie die Verfassungstheorie der 1990er Jahre, zu der neben Verfassungsrechtlern vor allem Autoren der politischen Theorie – Jon Elster, Stephen Holmes, Claus Offe und andere – wichtige Beiträge geleistet haben (Estlund 2002). Wie die Inklusion des mittleren und späten Rawls zeigt, muss das nominalistische Verständnis politischer Theorie jedoch an dieser Stelle aufgebrochen werden, um der Breite des democratic turn gerecht zu werden. Während etwa Habermas seine Beiträge zur deliberativen Politik ausdrücklich als „Studie(n) zur politischen Theorie“ einordnet (1996: 277), versteht Rawls seinen Beitrag weiterhin als einen der „politischen Philosophie“, allerdings mit einer stipulierten methodischen Bedeutung des Ausdrucks, die den democratic turn seiner Theoriebildung abbildet. Der mittlere und späte Rawls reflektiert bewusst den Umstand, dass seine Argumentation „für eine demokratische Gesellschaft“ geeignet sein soll (Cohen 2003). Wie unten noch weiter auszuführen sein wird, lässt uns dieses Merkmal Rawls’ Konzeption daher systematisch als „politische Theorie“ einordnen. Nun könnte eingewandt werden, der theoretische Wandel bei Rawls verdanke sich selbst bereits dem Anschub, den eine wiederbelebte Demokratiediskussion in den 1990er Jahren ausgelöst habe; das scheint mir aber nicht der Fall zu sein. In der Tat kann sich Rawls’ zentrale Rolle in unserem Zusammenhang nicht dem Umstand verdanken, dass er früh oder prägend zur Theorie demokratischer Institutionen beigetragen hätte (Chambers 2003: 308). Die Innovation der späteren Werke von Rawls ist tatsächlich eher in seinem originären Beitrag zu einer stärker demokratiekompatiblen Methodologie der politischen Philosophie zu verorten, und damit zu ihrer Formulierung als politische Theorie. Dass die Fachphilosophie sich einem democratic turn nicht entziehen konnte und sich neben der Konstruktion von Gerechtigkeit auch auf die Bedeutung politischer Verfahren wie Wahlen, Repräsentation, Gesetzgebung, auf das Mehrheitsprinzip und den Begriff der Volkssouveränität einlassen musste, verdankt sich zumindest auch dem Innovationsdruck, der von der politischen Theorie ausging. Entgegen Hartmanns Verdikt über die zeitgenössische politische Theorie: „die Philosophie braucht sie ganz gewiss nicht“ (Hartmann 1997: 146) kann also die Responsivität der akademischen Philosophie gegenüber Problemstellungen, die aus der politischen Theorie an sie herangetragen werden, an zumindest
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einem zentralen Beispiel nachgewiesen werden. Die Forcierung des Demokratiethemas von seiten der politischen Theorie hat aber auch Folgen für die Kommunikation innerhalb der Politikwissenschaft. Die Demokratietheorie zeigt, wie politische Theorie hier als Brückenkopf zwischen politischer Philosophie und sozialwissenschaftlichen Untersuchungen fungieren kann: dass sie dafür sorgt, dass sich empirische politikwissenschaftliche Forschung mit politischphilosophischen Beiträgen verständigen kann. Als Zeuge kann Klaus von Beyme herangezogen werden, der nicht als Apologet normativer politischer Theorie bekannt ist. Beyme stellt zwar den interessanteren Neuerungen der normativen politischen Theorie 1997 noch das kritische Zeugnis aus, die Realität nur affirmativ zu kopieren. Sie nehme eine „normative Verdopplung“ des Gegebenen auf einer abstrakteren Ebene vor (Beyme 1999: 87), sie sorge mithin für „die phantasiearme Duplizierung einer tristen sozialen und politischen Realität“ (Beyme 1999: 93). Beyme teilt also den Vorbehalt Hartmanns, die politische Theorie mache auf nicht hinreichend radikale Weise von ihrem Kritik- und Innovationspotential Gebrauch. Andererseits stellt er der Einarbeitung seines Beitrags in die achte Auflage seiner Politischen Theorien der Gegenwart immerhin die schmeichelhafte Diagnose voran, „[d]er wichtigste Wandel der neueren Theorieentwicklung [sei] die Wiederbelebung der normativen politischen Theorie“ (Beyme 2000: 39). Einen Graben zwischen normativen und empirisch-analytischen Theorien sieht Beyme nicht mehr. Zwar würden bestimmte Grundbegriffe, wie „Gerechtigkeit“, „Anerkennung“ oder „Zivilgesellschaft“ weiterhin überwiegend von normativen Theoretikern diskutiert. „Aber durch die Debatten der ‚'reflexiven‘ und ,deliberativen‘ Demokratie sind normative Erwägungen auch zunehmend in die empirische Forschung eingegangen.“ (Beyme 2000: 40) Diese Auffassung ließe sich belegen an einer Fülle von neueren Beiträgen zur Demokratiequalität, zur Demokratiemessung oder dem zweifelhaften demokratischen Charakter der Europäischen Union, etwa an Heidrun Abromeits Wozu braucht man Demokratie? (2002). Abromeit zeigt, dass weder Fragen nach dem Grad an Demokratizität noch solche nach der wünschenswerten Entwicklung eines politischen Gemeinwesens erörtert werden können, ohne auf normative Konzeptionen der Demokratie zurückzugreifen. So liegt auf der Hand, dass ohne die Klärung normativer Fragen „heute ,große‘ Theorie nicht mehr denkbar“ zu sein scheint (Heins 2003: 428). Selbst die Internationalen Beziehungen (IB) charakterisiert, seit sich die Dominanz des realistischen Paradigmas mehr und mehr verflüchtigt hat, eine Auseinandersetzung mit normativen Fragen ebenso wie – und vielleicht überraschender – eine Auseinandersetzung mit dem Demokratiebegriff. Die subdisziplinäre politische Theorie hat diese Entwicklung teilweise erst spät, womöglich noch eingeschüchtert von der Philosophie-Aversion in Teilen der Vergleichen-
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den Politikwissenschaft, zur Kenntnis genommen und sich erst in jüngerer Zeit angeschickt, den Bedarf an Paradigmen normativer Reflexion und Kritik in den Internationalen Beziehungen aus ihrer Perspektive zu bedienen. Dies mag, so ist zu hoffen, in der Tendenz dazu führen, dass innerhalb der IB das Bewusstsein erschüttert wird, theoretische und philosophische Fragen ließen sich ohne Vertreter der disziplinären politischen Theorie erschöpfend behandeln (vgl. Hellmann et al. 2003). Jedenfalls erscheinen die Perspektiven für eine stärkere Zusammenarbeit viel versprechend. Das liegt einerseits daran, dass der Legitimitätsbegriff in den vergangenen Jahren mit großer Selbstverständlichkeit zu einer zentralen Kategorie der internationalen Politik aufgerückt ist. Gleichzeitig ist die Intention bei vielen Praktikern der IB unübersehbar, den Legitimitätsbegriff – und sei es nur aus forschungsstrategischen Gründen – auch jenseits des Nationalstaates nicht vom Demokratiebegriff abzukoppeln (Niesen/Herborth 2007). Dies gilt übrigens gleichermaßen für Ansätze der Input- und Outputlegitimität, auch wenn letztgenannte in der wissenschaftlichen Diskussion häufig ihres demokratietheoretischen Bezugs entkleidet wird, den sie ursprünglich hat (Scharpf 1999). Zunächst ist ja trotz liberalem Institutionalismus und demokratischem Frieden, trotz verständigungsorientierter Diplomatie und deliberativem Supranationalismus erklärungsbedürftig, warum ausgerechnet ein Legitimitätsbegriff für die supraund internationalen Beziehungen den Anschluss sucht an ein reformiertes, abstrakteres Konzept von Demokratie und den Demokratiebegriff für Fragen globaler Politik nicht von vornherein als obsolet betrachtet. Dass eine solche Verabschiedung nur schwer möglich erscheint, scheint nicht zuletzt der in der politischen Theorie entwickelten Position zu verdanken zu sein, das demokratische Verfahren stelle heute ein alternativloses Modell politischer Legitimation zur Verfügung (Habermas 1992). Ohne prognostizieren zu wollen, ob Beiträge etwa zur kosmopolitischen Demokratie sich innerhalb der IB erfolgreich zur Geltung bringen werden, so ist es doch unstrittig ihre demokratiewissenschaftliche Kompetenz, mit der politische Theorie hier einen wesentlichen Beitrag leisten kann. 4
Politische Theorie als Demokratiewissenschaft
Dazu wäre allerdings erst zu klären, in welchem Sinn politische Theorie auf das Etikett Demokratiewissenschaft Anspruch erheben soll und kann. Dem Ausdruck „Demokratiewissenschaft“ haftet etwas Unklares und Unprofessionelles an, das auf die heutigen Praktiker meist abschreckend wirkt. Der Politikwissenschaft einen „demokratiepädagogische[n] Bildungs- und Integrationsauftrag“ (Offe 2005: 9) zuzuschreiben, ist unattraktiv geworden.
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Zumindest in einem Sinn, der in der Gründungsphase der Politikwissenschaft in der Bundesrepublik eine nicht unwesentliche Rolle spielte, kann von seiten einer professionalisierten Politikwissenschaft, und dies gilt auch für die politische Theorie, keine Beziehung zu einer „Demokratiewissenschaft“ mehr unterhalten werden. Dies ist das Verständnis von Demokratiewissenschaft, das einige der Gründerfiguren der Politikwissenschaft an den Hochschulen der Bundesrepublik mit Theodor Heuss teilten. Politik wäre demnach nicht der Gegenstand einer gesonderten Disziplin; ihre akademische Vermittlung müsste vielmehr als Auftrag zur demokratischen Bildung der Staatsbürger wie der Eliten verstanden werden. Politische Wissenschaft wäre nicht in der Lage, fachlich profiliertes Wissen anzusammeln, sondern stünde in der Pflicht, verantwortungsbewusste politische Allgemeinbildung anzubieten. Wir stünden vor der Alternative: Demokratiewissenschaft oder Politikwissenschaft (vgl. Bleek 2001: 273). Dass die Heusssche Konzeption historisch überholt ist, bedeutet nicht, dass nicht „Demokratiewissenschaft“ in einem anderen Sinn wieder zu rehabilitieren wäre. Für das bisherige Argument war entscheidend, dass eine neue Blüte der Beschäftigung mit Demokratie von der politischen Theorie ausgeht und sowohl auf die Fachphilosophie als auch auf die restliche Politikwissenschaft ausstrahlt. Diese Blüte resultierte zunächst aus einer thematischen Konzentration auf demokratisches Regieren, die mit innovativen Gesichtspunkten aufwarten konnte. Eine solche thematische Konzentration dürfte für die politische Theorie, in der die Demokratie als Gegenstand stets einen zentralen Bereich beanspruchen konnte, nicht besonders kontrovers sein. Politische Theorie handelt von Demokratie. Dies gilt nicht nur für ihre arrivierten Zentren, sondern auch für die – im Sinne Kymlickas und Christmanns – kritische Peripherie, die das in den Zentren produzierte Wissen ständig herausfordert. Wenn also eine heute bereits erreichte Konsolidierung der politischen Theorie um den Demokratiebegriff herum „Unbehagen“ erzeugt und zum Gegenstand kritischer Auseinandersetzungen wird (Buchstein/Jörke 2003; vgl. auch Buchstein 2004), so dokumentiert die Kritik die Anschlussfähigkeit eines Paradigmenkerns, der im T.S. Kuhnschen Sinn dann als Normalwissenschaft angegriffen werden kann. Eine Reihe kritischer Ansätze in der politischen Theorie, seien es nun praxisphilosophische, postmarxistische, linkskantianische, feministische oder dekonstruktivistische Konzeptionen, beschreiben sich selbst eben als die radikalere Demokratietheorie und nicht als etwas ganz anderes. Selbst in Debatten, die den Demokratiebegriff weniger prominent oder kaum ausdrücklich verwenden, etwa in den Bereichen von Gender und Biopolitik, steht die sozialisierende Macht moderner Demokratie stets, und nicht selten ihr Autonomieversprechen, im Hintergrund. Trotz des ausgeprägten inhaltlichen und methodischen Pluralismus der politischen Theorie erscheinen die möglichen zentripetalen Kräfte, die vom Demokratiebegriff ausge-
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hen, daher nicht unbeträchtlich. Sie können es in jedem Fall aufnehmen mit der vergleichbaren, von einem liberalen Paradigmenkern bereitgestellten Anziehungskraft für das Feld der politischen Philosophie. Gerade der Rekurs auf die Demokratie scheint eine gemeinsame Semantik ansonsten auseinanderstrebender Theorieentwürfe zu ermöglichen; soweit ich sehe, steht dafür kein alternativer Begriff zur Verfügung. Dass politische Theorie in besonderem Maße von Demokratie handelt, dürfte eine wenig umstrittene Anknüpfung an das Konzept einer „Demokratiewissenschaft“ darstellen. Es gehört von jeher zur Bedeutung, die mit dem Ausdruck „Demokratiewissenschaft“ verbunden wird, dass demokratische Institutionen und Prozesse vorrangige Gegenstände der Politikwissenschaft sind. Doch diese thematische Konzentration kann kaum beantworten, ob oder warum das so sein soll: warum die Beschäftigung mit demokratischen Institutionen und Idealen in der politischen Theorie einen privilegierten Platz einnehmen soll. Eine Antwort auf diese Frage kann meiner Ansicht nach nicht vermeiden, Demokratie als eine gegenüber Alternativen vorzugswürdige Praxis auszuzeichnen; zu den Aufgaben der politischen Theorie gehört es, sich über diese Voraussetzung Rechenschaft abzulegen. Die normative Privilegierung der Demokratie als solche erscheint aber nicht als hinreichend umstritten, um auf ihre Kritik oder Verteidigung eine aussagefähige paradigmatische Konsolidierung abstellen zu können. Heute wird man, im Gegensatz zum ursprünglichen „Zeitalter“ der Demokratiewissenschaft in Deutschland, unter Praktikern und Publikum der politischen Theorie eine entsprechende Hintergrundgewissheit so durchgehend unterstellen dürfen, dass man, anstatt eine forcierte Grundsatzdebatte vom Zaun zu brechen, sich einer drängenderen Frage zuwenden kann, nämlich was aus der Vorzugswürdigkeit der Demokratie folgt. Mit solchen Fragen bekommt es die politische Theorie zu tun, wenn die Politikwissenschaft Claus Leggewies Vorschlag aufgreift und sich als Demokratiewissenschaft internationalisiert. Leggewie entwickelt seinen Vorschlag an der Mission der Vereinten Nationen für die Demokratische Republik Kongo, also an einem Fall, in dem ein politisches System außerhalb der OECD-Welt bereits in der Transformation zur Demokratie begriffen ist und sich unterstützende Expertise ins Land holt (Leggewie 2006). Damit bezieht er sich auf den wohl einzigen klar geschnittenen Fall, in dem Aufgabe und Beitrag einer Demokratiewissenschaft jenseits des Staates unkontrovers sind, und der von einem Dickicht von kontroversen Gesichtspunkten umgeben ist, die die politische Theorie zu klären hätte. Wie steht es mit dem Einsatz von Sanktionen zur Demokratisierung? Ist „Demokratisierung von außen“ ein akzeptables Ziel und, wenn ja, auf welche Weisen soll es verfolgt werden? Sollen nicht-demokratische Staaten aus der Perspektive des Völkerrechts und der internationalen Gerechtigkeit toleriert und
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demokratischen Staaten gleichgestellt werden? Gesetzt, es gebe ein „emergierendes Recht auf demokratisches Regieren“ (Franck): was folgt daraus für die Träger dieses Rechts – die Durchbrechung oder die Festigung der Souveränität ihres Gemeinwesens nach außen? Auf welche Weise soll die Außenpolitik demokratischer Staaten auf den demokratischen Charakter ihrer Gesprächspartner einwirken? Gibt es ein kosmopolitisches Recht auf grenzüberschreitende prodemokratische Agitation? Was sind die Pflichten intervenierender Mächte, die sich am Aufbau eines Staates versuchen, in Bezug auf dessen demokratischen Charakter? Muss das internationale Handelsregime, müssen Rohstoffgeschäfte sensibel gegenüber der Differenz zwischen demokratischen und nichtdemokratischen Regierungen werden? Diese Fragen signalisieren, dass die interessante Frage, die sich heute an die politische Theorie richtet, nicht so sehr die nach politikwissenschaftlicher Loyalität zur demokratischen Regierungsform ist, die die Gründungsfiguren umtrieb, sondern vielmehr die Frage, was aus einer unterstellten Loyalität zur Demokratie an Handlungsempfehlungen folgen kann und soll. Die produktive Kritik, auf die zu reagieren gilt, ist derzeit nicht die eines nicht hinreichend werturteilsfreien politikwissenschaftlichen Selbstverständnisses, noch sind es Vorbehalte gegen demokratiepädagogische Begleiteffekte, sondern, und insofern wäre Leggewies These für die politische Theorie zu übernehmen, eine noch kaum hinreichende Ausrichtung der Forschung auf diese demokratiewissenschaftlichen Fragestellungen, die auch für die empirische Politikwissenschaft wegweisenden Charakter haben. Neben der thematischen und der praktischen Orientierung – im Sinne einer abstrakten, in ihren Implikationen wesentlich umstrittenen Pro-Einstellung zur Demokratie –, die meiner Ansicht nach beide zu recht im Konzept der Demokratiewissenschaft aufgehoben sind, existiert eine weitere Bedeutung von „Demokratiewissenschaft“, die nicht ohne Einfluss in der Gründungsphase der deutschsprachigen Politikwissenschaft war, und die sich auf ein Bewusstsein einer reflexiven Beziehung von Politikwissenschaft und Demokratie gründet. Dies ist der in meinen Augen entscheidende Sinn, in dem politische Theorie sich als Demokratiewissenschaft auch von der politischen Philosophie unterscheidet. Eine Variante, diese reflexive Beziehung zu thematisieren und sie gleichzeitig abzugrenzen von einem stärker wertpädagogisch geprägten Konzept von Demokratiewissenschaft, für das sein Darmstädter Kollege Eugen Kogon eintrat, stammt von A.R.L. Gurland. Politikwissenschaftler betreiben notwendig Demokratiewissenschaft, so Gurland, denn nur in der Demokratie kann von einer wissenschaftlichen Beschäftigung mit Politik überhaupt die Rede sein. Nur dort herrscht umfassende Äußerungsfreiheit, darunter die Freiheit zur Publikation von Forschungsergebnissen, die in der Lage sind, die gesellschaftliche Machtverteilung zu exponieren. Wird dieser Zusammenhang anerkannt, verbinden sich damit
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auch praktische Folgen. Ein Wissen um die publizistische Notwendigkeit der Demokratie impliziert für die jeweiligen Forscher eine wenigstens methodischprofessionelle Loyalität zur demokratischen Regierungsform. Sie verstehen sich als Demokratiewissenschaftler, ohne dafür auf nicht weiter ausweisbare normative Entscheidungen zurückgehen zu müssen (Gurland 1952: 33–38, vgl. Buchstein/Emig/Zimmermann 1991: 32). Zwar bleibt dieser elegante Vorschlag wenig trennscharf, denn er kann nicht für die Differenz zwischen liberaldemokratischen und liberal-autokratischen Systemen aufkommen, solange in den letzteren Publikationsfreiheit herrscht; er führt außerdem dazu, dass alle publizitätsbedürftigen Fächer, deren Ergebnisse vor staatlicher Repression in Schutz genommen werden müssen, im selben Sinn als „Demokratiewissenschaft“ zu qualifizieren wären wie die Politikwissenschaft. Er eröffnet aber eine produktive Perspektive, indem er eine interne Beziehung zwischen Politikwissenschaft und Demokratie andeutet, die für die politische Theorie allerdings anders auszubuchstabieren wäre. Die politische Theorie kann Gurlands Vorschlag die Überlegung entnehmen, dass es für ihre Praxis einen Unterschied macht, dass sie in einer demokratischen Gesellschaft betrieben wird. Die Reflexion der politischen Theorie auf die demokratische Gesellschaft, innerhalb derer sie stattfindet, kann sich auf eine Reihe von Motiven stützen. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit will ich im verbleibenden Teil des Beitrags einige davon zu zwei separaten Strängen bündeln, um der These einer politischen Theorie als Demokratiewissenschaft weitere Konturen zu verleihen. Der erste Strang ist der der Expertokratiekritik, die von der politischen Theorie an die Adresse politischer Philosophie gerichtet wird. Ich deute dieses Argument als demokratisch motivierte Abwehr naturrechtlicher Argumentationen (1). Der zweite Strang betrifft die Aufnahme- und Anwendungsbedingungen politischer Theorie in einer demokratischen Gesellschaft. Hier geht es um die Argumentreservoirs, auf die politische Theorie zurückgreifen können soll, wenn sie präskriptive Aussagen macht (2). Die beiden Stränge ergänzen einander, es herrscht kein Konkurrenzverhältnis zwischen ihnen. (1) Nur wenn die politische Theorie sich des Umstands bewusst ist, dass sie eine Praxis in einer demokratischen Gesellschaft ist, kann sie wachsam gegenüber expertokratischen Tendenzen in der politischen Philosophie sein. Michael Walzer hat in seinem Aufsatz „Philosophy and Democracy“ dieser Befürchtung Ausdruck verliehen und die Ergebnisse der philosophischen Gerechtigkeitstheorie daran gemessen. Unter den verschiedenen Themen, die sein Beitrag anreißt, steht für unseren Zusammenhang das Argument im Vordergrund, ein bestimmter Typ politischer Philosophie verwechsle philosophische Gültigkeit mit politischer Implementationsfähigkeit. Walzer beschreibt die unterstellte Geisteshaltung so:
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„Are these the laws of nature? Enact them. Is this a just scheme of distribution? Establish it. Is this a basic human right? Enforce it. Why else would one want to know about such things?” (Walzer 1981: 382f.) Nach Walzers Diagnose geht das objektivistische Selbstverständnis der politischen Philosophie, das sich in solchen Überlegungen äußert, einher mit einer distanzierten Beziehung gegenüber der Population, für die ihre praktischen Prinzipien gelten sollen. Er gibt seiner Kritik dadurch eine kommunitaristische Prägung: Nicht die Ablehnung eines epistemischen Philosophenkönigtums als solche, sondern die Abwehr einer Herrschaft „fremder“ Normen steht in seiner Argumentation im Vordergrund. Das macht seine Position angreifbar. Es lässt sich einwenden, dass das Problem einer objektivistischen Sichtweise nicht so sehr darin liegt, dass ein Philosoph, seiner heimatlichen Gemeinschaft entrückt, ein allgemeines Prinzip favorisiert, wo doch ein partikulares am Platze wäre. Nicht die mangelnde Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft ist zu beklagen, wenn ein Philosoph aus dem Umstand, dass eine Maßnahme richtig ist, folgert, sie sei in die Tat umzusetzen. Ein solcher Schluss wäre nicht weniger problematisch, verstünde sich ein Theoretiker nicht als Experte eines gemeinschaftsunabhängigen Raums der Gründe, sondern als Experte der Selbstauslegung einer partikularen Gemeinschaft. Das identifizierte Problem verdankt sich also nicht so sehr einer falschen Positionierung des Philosophen in der Debatte zwischen Universalismus und Partikularismus, als vielmehr in der Unmittelbarkeit seines Durchgriffs durch die demokratische Form des Gemeinwesens hindurch, auf die Gestalt und den Inhalt, die Institutionen und Gesetze annehmen sollen. Dieser problematische Aspekt substantieller Aussagen der politischen Philosophie ist es, der in der nicht-kommunitaristischen Kritik an expertokratischen Aspekten der Gerechtigkeitstheorie im Vordergrund steht. Die Kritik stützt sich dabei auf zwei Argumente, ein theorie-internes und eines, das die gesellschaftliche Wirkung der Theorie in den Blick nimmt. Die ursprüngliche Kritik an einem expertokratischen Zug der Gerechtigkeitstheorie richtet Habermas wie vor ihm Walzer an die Gerechtigkeitstheorie von Rawls. Er zieht aus ihr die Konsequenz, die politische Theorie auf die Klärung institutioneller Voraussetzungen einer rechtsstaatlich-demokratischen Praxis zu beschränken.7 Alle weiteren „wesentlichen Legitimationsdiskurse“ sollen realen politischen Gemeinwesen überlassen bleiben (Habermas 1996: 90). Ingeborg Maus nimmt eine institutionentheoreti7 Diese Voraussetzungen sind nicht allein prozedural; ins „System der Rechte“ beispielsweise gehen auch substantielle Voraussetzungen der Praxis freier Selbstbestimmung ein (Habermas 1992: Kap. III). Der entscheidende Punkt ist hier, dass diese Gehalte nicht als demokratieexterne, nicht einmal als demokratieneutrale, eingeführt werden. Dennoch ist es wichtig, zwischen einem rein prozeduralistischen Paradigma in der politischen Theorie (auf das das vorgeführte Argument nicht abzielt) und einem Paradigma, das für die expertokratische Problematik sensibilisiert ist, zu unterscheiden.
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sche Übersetzung dieses Arguments vor: sie befürchtet die Enteignung der demokratischen Gesetzgebung durch Gerichte und Verwaltungen, die ihre Entscheidungen mit Bezug auf philosophische Expertise legitimieren. Während Habermas die philosophische Ableitung substantieller Gerechtigkeitsprinzipien als Privilegierung der Gerechtigkeits- vor der Demokratietheorie kritisiert, betont Maus den Missbrauch von Gerechtigkeitsprinzipien durch staatliche Agenturen, die ein institutionelles Interesse daran haben, sich demokratischer Instruktion zu entziehen (Maus 1992: 43, 309; Niesen 2002). Maus und Walzer teilen den Alptraum, ein über die Konsequenzen des Rawlsschen Differenzprinzips befindender oberster Gerichtshof könne den demos vollends entmachten und die Ergebnisse demokratischer Verteilungskämpfe präjudizieren. Im Kern ist das Argument auf der theoretischen Ebene, dass politische Philosophie die Ergebnisse realer Auseinandersetzungen vorwegnehme, und auf der politischen Ebene, dass solche Vorwegnahmen für die legitimatorischen Zwecke sich selbst autorisierender Institutionen zur Verfügung stehen. Nun ließe sich einwenden, der anti-expertokratische Einwand dramatisiere den Einfluss der politischen Philosophie und verkenne, dass sie über keinerlei Implementationsbefugnisse verfüge. Wie jede wissenschaftliche Stellungnahme präsentiere die politische Philosophie nur eine Stimme in der öffentlichen Diskussion; für einen möglichen Missbrauch ihrer Argumente zu sinistren Zwecken könne die Verantwortung kaum der Philosophie angelastet werden. Argumentiere ein Philosoph für die Umverteilung von Einkommen, für die Abschaffung des Erbrechts, für einen humanitären Kampfeinsatz im Ausland, für obligatorische Organspenden oder die Abschaffung privater Schulen, so beteilige er sich nicht anders an der öffentlichen Willensbildung, in die seine Argumentation bestenebenso wie schlimmstenfalls eingeht, als dies jeder Bürger tue. Alles, was an Legitimation für die Ausübung dieser Rolle notwendig sei, ließe sich aus einem politischen oder, falls sie sich über Staatsgrenzen hinweg zur Geltung bringen lassen soll, einem kosmopolitischen Recht auf öffentlichen Vernunftgebrauch ableiten. Wenn wir einmal absehen von den wichtigen neuen Fragen, die dieser Gegeneinwand aufwirft, etwa nach der Beziehung zwischen der Bürger- und der Professionsrolle, so erscheint er als Gegenargument zum Expertokratieeinwand plausibel, und zwar auf den ersten Blick umso plausibler, je konkreter die Gegenstände werden, auf die sich die normative Expertise richtet. Die folgende Erklärung erscheint zumindest nicht abwegig: Wer für die Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens oder des Kinderwahlrechts argumentiert oder für ein Verbot privater Schulen oder des reproduktiven Klonens, tut dies in reformerischer Absicht vor dem Hintergrund eines etablierten institutionellen Systems. Man drückt sich elliptisch aus, aber meint stets den demokratischen Resonanzboden mit, auf den die Anregung fallen soll. Eine solche Ellipse liegt
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ersichtlich dort nicht vor, wo es um die Grundlegung des gesamten institutionellen Systems geht, und wo ein solches institutionelles System fehlt oder bewusst auf es verzichtet werden soll. Das erste ist im Fall der Gerechtigkeitstheorie (für eine staatlich begrenzte Gesellschaft) so, das zweite im Fall einiger präskriptiver Aussagen für die internationale Gesellschaft. Das heißt, der Gegeneinwand ist plausibel für Argumente, die (und sei es auf elliptische Weise) besagen, innerhalb eines demokratischen politischen Kontextes solle eine bestimmte erzwingbare Änderung vorgenommen werden. Er vermag nichts auszurichten für Argumente, die besagen, eine erzwingbare Norm sei schlechthin gerechtfertigt, ohne Rücksicht auf den institutionellen Kontext. Das letztere ist das Kennzeichen einer naturrechtlichen Argumentation; sie ist mit politischer Theorie als Demokratiewissenschaft strikt unverträglich. Um diese Folgerung zu erläutern, möchte ich nicht auf die immer noch offene Debatte eingehen, ob sich gerade an Rawls’ Differenzprinzip der antiexpertokratische Einwand plausibel festmachen lässt. Rawls hat sich nie eindeutig dazu erklärt, ob die zwingende Macht von Institutionen der Grundstruktur sich letztlich ihrem Beitrag zur gerechten Verteilung verdankt, oder ob sie ein Merkmal ihres demokratischen Charakters ist. Stattdessen will ich drei andere Beispiele nennen, die zugleich einen Übergang der Herausforderung von einem nationalstaatlich gebundenen zu einem Expertokratieproblem jenseits des Nationalstaates andeuten.
Ein Beispiel für naturrechtliche Argumentation in der politischen Philosophie ist die Debatte darüber, ob es vertretbar ist, disponibles freies Einkommen anderer Leute für die Linderung gravierenden Leides einzusetzen (Unger 1995). Für eine umfassende Antwort muss die politische Philosophie nicht den Umweg über die demokratische Willensbildung einschlagen; die Rechtfertigungen, auf die sich Robin Hood beziehen kann, sind prinzipiell denen gleichrangig, auf die innerhalb eines demokratischen Systems der Besteuerung oder für die Einrichtung eines solchen zurückgegriffen werden kann. Die naturrechtliche Erörterung zulässigen Zwangs blendet den demokratischen Charakter von Verteilungsentscheidungen bereits methodisch aus. Ein weiteres Beispiel ist die Rückkehr einer Debatte über strikte Pflichten in der Literatur zur internationalen Gerechtigkeit (vgl. Pogge 2003). Die Relevanz einer Unterscheidung zwischen strikten und weniger strikten Pflichten war traditionell die, dass erstgenannte eine Erzwingungsbefugnis mit sich führen. Historisch – um dieses eine Mal auf eine ideengeschichtliche Argumentation zurückzugreifen – ist relativ klar anzugeben, wann die naturrechtliche Perspektive auf strikte Pflichten aufgegeben wird: Zwischen
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Kants Grundlegung und Kants Rechtslehre wird die Frage nach legitimer Gewaltanwendung umgestellt von einer Debatte über den Typ der Pflicht zu einer Debatte über den Typ der Gesetzgebung, zeitgenössisch ausgedrückt: der Institutionen und Verfahren, innerhalb derer über Gewaltanwendung beschlossen wird (Kersting 1982). Orientiert man sich am Typ der Pflichten, so vermag moralische Reflexion die Anwendungsbedingungen der Gewaltanwendung zu regeln, indem sie die Existenz einer strikten Pflicht etabliert. Die Frage nach internationaler Gerechtigkeit lautet dann nicht: wie soll eine politische Ordnung jenseits des Staates aussehen?, sondern: wie lauten ihre erzwingbaren Normen? „If, for example, there were a global tax to fund medical care or provide capital for small business enterprises in regions of endemic poverty, would this be a morally permissible form of coercion?“ (Nardin 2006: 462) Nach dieser Vorstellung können moralische Akteure aus Gerechtigkeitsgründen zu bestimmten Verhaltensweisen gezwungen oder nicht gezwungen werden; die Suffizienz naturrechtlicher Begründungsmuster liegt auf der Hand. Verfügen wir über eine hinreichende Rechtfertigung globaler Zwangsanwendung, so ist der legitimatorische Zustand des Entscheidungssystems selbst – sein demokratischer oder doch zumindest demokratieverträglicher Charakter – ohne Bedeutung. Ein drittes Beispiel ist die Erörterung des gerechten Krieges, das heißt die Erörterung der Legitimität militärischen Eingreifens außerhalb eines supranationalen Rechtssystems. Die Umgehung einer institutionellen Bearbeitung humanitärer Konflikte, und die direkte Ermächtigung zu militärischer Gewaltanwendung, können sich unter Umständen auf gute moralische Gründe stützen (Merkel 2006: 11). Doch selbst wenn es gelingen sollte, eine solche unilaterale Ermächtung innerstaatlich demokratisch zu disziplinieren, liegt doch das globale demokratiewissenschaftliche Problem auf der Hand: Entscheidungen fallen, ohne dass die Positionen der Betroffenen auf eine institutionell plausible, kontrollierte Weise berücksichtigt werden, und ohne dass eine institutionelle Grundstruktur einen verstetigenden, berechenbaren Rahmen bereitstellt. Wiederum liegt der naturrechtliche Charakter der Argumentation auf der Hand, für deren Interferenzen im demokratischen Regieren politische Theorie sensibilisiert sein sollte.
Alle drei Beispiele zeigen, wie sich die normative Erörterung nicht auf die Wünschbarkeit, und im Ergebnis nicht auf die Behauptung der Richtigkeit einer bestimmten Norm, beschränkt. Sie streicht aus der traditionellen Vorstellung der Gerechtigkeit, vollkommener (strikter) Pflichten oder des gerechten Krieges implizit oder ausdrücklich die rechtfertigungsfähige Erzwingbarkeit der jeweiligen Norm ein. Die demokratiewissenschaftliche Gegenposition ist, dass die Fra-
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ge nach gerechtfertigter Gewaltanwendung nicht unabhängig von der Frage: wer entscheidet, in welchen Verfahren, innerhalb welchen Typs von politischer Ordnung? beantwortet werden kann. (2) Ein weiterer Gesichtspunkt, der häufig als charakteristisch für einen genuin demokratischen Charakter politischer Theorie genannt wird, ist ihre Würdigung eines vernünftigen Pluralismus (Cohen 1994). Angesichts unaufhebbarer Meinungsverschiedenheiten erfordere das Zusammenleben in einer demokratischen Gesellschaft, dass sich die Vertreter verschiedener Weltanschauungen als politisch Gleiche anerkennen. In der politischen Theorie stehen verschiedene methodische Ansätze zur Verfügung, um mit gesellschaftlichem Pluralismus umzugehen, von der Anerkennung der Bürden des Urteilens (Rawls) über die Unterscheidung zwischen partikularer Ethik und potentiell universeller Moral (Habermas, Forst) bis zu den Ansätzen des Multikulturalismus (Parekh). Alle diese Ansätze bemühen sich um Distanz zu Fragen der Bestimmung des Menschen und des kollektiven guten Lebens; sie sind der Respektierung verschiedener Motivationen der politischen Auffassungen der Bürger verpflichtet, spiegeln also auf der Theorieebene die Differenzen innerhalb der Gesellschaft. Das Problem, das zur Reflexion des Pluralismus in der demokratischen Gesellschaft zwingt, ist das der „politischen Beziehung“ (Rawls 1998: 221f.). Die politische Beziehung stellt sich den Akteuren als gewaltsam, permanent und unfreiwillig dar; ihr definierendes Merkmal in der Demokratie ist, dass die Bürger als Kollektiv übereinander politische Gewalt ausüben. Das Problem der legitimen Zwangsausübung, so charakteristisch für die politische Philosophie, verbleibt also im Mittelpunkt einer politischen Theorie als Demokratiewissenschaft, auch wenn es nicht vorrangig, wie in der politischen Philosophie, im allgemeinen Sinn einer Widerlegung des Anarchismus, sondern in spezifisch demokratischer Perspektive anhand der unausweichlichen Ausübung politischer Macht über Mitbürger erörtert wird. Das „Problem politischer Autorität“ liegt in demokratiewissenschaftlicher Perspektive weniger darin, dass ein freies Individuum einen guten Grund dafür braucht, sein Handeln durch kollektive Entscheidungen einschränken zu lassen, sondern vielmehr darin, dass ein Individuum in einer demokratischen Gesellschaft sich unvermeidlich die Teilhabe an der Programmierung der Staatsgewalt zurechnen lassen muss. Die Frage ist nun, wie sich die Partizipation an kollektiv verbindlichen Entscheidungen unter Bedingungen weltanschaulicher Differenz rechtfertigen lässt. Rawls’ Antwort lautet: indem die Bürger in ihrer politischen Praxis die Grenzen des „öffentlichen Gebrauchs der Vernunft“ respektieren. Wenn die Bürger in fundamentalen Fragen, etwa bei Verfassungsänderungen, übereinander Gewalt ausüben, so können sie nicht auf beliebige für sie maßgebliche und überzeugende Begründungen zurückgreifen. Die
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Rechtfertigungen ihrer Positionen sollen sich innerhalb des öffentlichen Vernunftgebrauchs bewegen. Bürger schulden einander, wenn sie ihr Zusammenleben kollektiv verbindlich normieren wollen, als Freie und Gleiche wechselseitig akzeptable Gründe. Eine Orientierung am öffentlichen Gebrauch der Vernunft ist auch für die politische Theorie, versteht sie sich als Demokratiewissenschaft, ein attraktives Ideal. Eine innere Limitierung nicht nur der weltanschaulichen, sondern auch der theoretischen Begründungsmuster, die auf kollektive Zwangsausübung in fundamentalen Fällen gehen, drängt sich auf, wenn politische Theorie sich innerhalb einer demokratischen Gesellschaft situiert. Formuliert sie präskriptive Aussagen für fundamentale Fragen, kann von ihr die mehr oder weniger „freistehende“ Entwicklung von normativen Vorgaben erwartet werden; dies hat weder skeptizistische noch taktisch-realpolitische Gründe, sondern ist motiviert aus der Anerkennung politischer Gleichheit trotz offensichtlicher Unvereinbarkeit der Standpunkte. Von politischer Theorie kann erwartet werden, dass die verwendeten Gründe nicht nur theoretisch einleuchtend, sondern auch in einer demokratischen Gesellschaft zumutbar erscheinen. Allerdings ist der öffentliche Vernunftgebrauch ein umstrittenes Konzept, unter anderem im Hinblick auf seine Anlässe (a), Akteure (b) und Inhalte (c). Die politische Theorie tut gut daran, die Debatte über ein brauchbares Verständnis des öffentlichen Vernunftgebrauchs offensiv zu führen und sich nicht die Schwierigkeiten bereits existierender Konzeptionen aufdrängen zu lassen. Die folgenden Bemerkungen dienen daher eher dazu, offene Forschungsfragen zu formulieren als bereits die Konturen einer vertretbaren Konzeption abzustecken.
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Was sind die theoretischen Kontexte, in denen die Grenzen des öffentlichen Vernunftgebrauchs maßgeblich erscheinen? Grundsätzlich gilt: je fundamentaler die Ebene der Auseinandersetzung, je wesentlicher die verhandelten Themen, um so notwendiger und gleichzeitig schwieriger die Selbstbindung der politischen Theorie. Zumindest wenn wesentliche Verfassungsinhalte auf dem Spiel stehen, erscheint es angebracht, ihre präskriptiven Argumentationen an den Grenzen des öffentlichen Vernunftgebrauchs zu orientieren. Ein häufig gebrauchtes Beispiel ist die Debatte um die Zulässigkeit der Abtreibung; nicht weniger einschlägig erscheint die Einführung eines Grundeinkommens oder die Abschaffung des Erbrechts. Ungewiss ist, ob die Grenzen des öffentlichen Vernunftgebrauchs auch auf Debatten um die Abschaffung privater Schulen ausstrahlen sollte: ist es wünschenswert, in Fragen oberhalb der Verfassungsebene die politische Theorie zu weniger restriktiver Argumentation zu ermutigen? Ein klarer Fall für die Respektierung des öffentlichen Vernunftgebrauchs scheint dann vorzuliegen, wenn
sich der Zuschnitt des Gemeinwesens insgesamt ändern soll. Wer für ein Aufgehen der europäischen Nationalstaaten in einem Superstaat plädiert, sollte sich an die Grenzen des öffentlichen Vernunftgebrauchs halten und seinen Typ von Rechtfertigungsprogramm daran ausrichten (Morgan 2005: 31). Was die Akteure des Vernunftgebrauchs angeht, so hatte Rawls zunächst vorgeschlagen, dass Bürger und Amtsträger seine Grenzen gleichermaßen respektieren sollten. Die Einschränkung des Argumentreservoirs von Amtsträgern, etwa in Gerichten, Verwaltungen und Parlamenten, hat dabei wesentlich weniger Kritik auf sich gezogen als die Beschränkung der Bürger, die Rawls dann auch gelockert hat. Da Amtsträger unmittelbar bindende Entscheidungen rechtfertigen, sind sie strikt verpflichtet, nur auf allgemein zumutbare Gründe zurückzugreifen. Im Gegensatz dazu verpflichten sich Aktivbürger darauf, falls sie die Grenzen des Vernunftgebrauchs überschreiten, die Anstrengungen einer Art Übersetzung auf sich zu nehmen und darauf hin zu arbeiten, die eigene Position auf eine allgemein mitteilbare Weise zu verteidigen (Rawls 2002: 189ff.). Die Lockerung der Anforderungen leuchtet nicht zuletzt angesichts der Hoffnung ein, dass die Bürger untereinander klarstellen mögen, wo jeder steht, und dass womöglich produktive, obzwar bisher nicht geteilte Potentiale zumindest experimentell zur Verfügung gestellt werden. Die Debatte, die nun zu führen wäre, ist, wo die Anforderungen an die politische Theorie anzusiedeln sind. Walzers Formulierung des Expertokratieeinwandes lässt sich so verstehen, die politische Theorie sei in Bezug auf ihre argumentativen Ressourcen den Amtsträgern gleichzustellen, aber dies erscheint im Ergebnis zu eng. Attraktiver erscheint es, nicht zuletzt um einen möglichen chilling effect für die wissenschaftliche Kreativität und Produktivität zu vermeiden, politische Theorie dann, wenn sie präskriptive Aussagen macht, der langfristigen Übersetzungszumutung, die für alle Bürger gilt, zu unterwerfen. Besonders umstritten ist, wo die Grenzen des öffentlichen Vernunftgebrauchs liegen. Hier liegt wohl der dringendste demokratiewissenschaftliche Klärungsbedarf, denn zuweilen wird das Ideal des öffentlichen Vernunftgebrauchs als unbrauchbar oder repressiv abgelehnt, weil seine Grenzen auf unplausible Weise gezogen werden. Eine nicht rein abstrakte Vorstellung davon, wo die Grenzen liegen sollten, lässt sich wohl auf keine andere Weise als induktiv gewinnen. Ein Fall, der die ursprüngliche Konzeption des öffentlichen Vernunftgebrauchs inspiriert hat, ist der, dass politische Amtsträger eine bindende Entscheidung auf eine partikulare religiöse Grundlage stellen; ein anderer, dass Bürger eine verfassungsändernde Kampagne auf religiöse Gründe aufbauen und sich langfristig der Übersetzungs-
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zumutung verweigern. Analog respektierte politische Theorie dann nicht die Grenzen demokratischer Zumutbarkeit, wenn etwa eine offenbarungsbasierte politisch-theologische Argumentation für die Grundlegung oder Änderung eines wesentlichen Verfassungselements geltend gemacht würde; die Übersetzungslast läge jedenfalls bei den Autoren. Aber abgesehen von intuitiv so klar geschnittenen Fällen dürfte es unmöglich sein, eine allgemeine Spezifikation zumutbarer und unzumutbarer Gründe unter Bedingungen des gesellschaftlichen Pluralismus anzugeben. Respektiert ein utilitaristisches Argument die nicht aufzuhebende Verschiedenheit praktischer Perspektiven, oder sind es die Kantianer, die auf der „Menschheit in der Person eines jeden“ beharren, die sich vorhalten lassen müssen, ihre Position nicht für alle Bürger zugänglich formuliert zu haben? Eine starke Strömung in der Debatte beharrt darauf, dass sich wirkliche Sensibilität für die Begründungsverpflichtungen, die man in einer demokratischen Gesellschaft eingeht, daran zeige, dass präskriptive Aussagen an den Überzeugungen anschließen, die bei den Bürgern ohnehin vorherrschen, oder die zumindest in ihrer politischen Geschichte einflussreich artikuliert wurden. Tatsächlich ist es so, dass in vielen Fällen die semantische Selbstüberforderung existierender Gesellschaften, die sich selbst als Gesellschaft von freien und gleichen Bürgern beschreiben, dafür sorgt, dass ein hinreichendes kritisches Reservoir zur Verfügung steht. Insofern politische Theorie die gesellschaftlich produzierten, präsumtiv allgemein zugänglichen Ideale beim Wort nimmt, ist öffentlicher Vernunftgebrauch nicht nur ein legitimes, sondern auch ein vergleichsweise effektives Verfahren der Kritik. Dennoch kann die Abschließung gegen ungebräuchliche oder bisher unbekannte Argumentationsressourcen kein allgemeines Merkmal des öffentlichen Vernunftgebrauchs sein, denn die Forderung wechselseitiger Rechtfertigbarkeit in einer demokratischen Gesellschaft impliziert ja nicht die normative Selbstgenügsamkeit dieser Gesellschaft, die nun ausgerechnet aus demokratischen Gründen nicht von außen erschüttert werden dürfte. Auch Fragen der allgemeinen Zugänglichkeit im Sinne der Verständlichkeit von Argumenten sind zu klären. Glyn Morgan zufolge lässt ein „demokratischer Standard der Rechtfertigung“ nicht zu, dass womöglich entscheidende Argumente über fundamentale Verfassungsprinzipien von übermäßig technischem Charakter sind und daher nur Personen mit hochspezialisiertem Wissen verständlich und überzeugend erscheinen können. Wenn Bürger als Gleiche (on equal terms) an einer Debatte über verfassungsmäßige Veränderungen teilnehmen können sollen, müsse die Theorie auf übermäßig technische Argumente verzichten (Morgan 2005: 36).
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Die Beispiele ließen sich fortsetzen. Sie demonstrieren, dass eine vielschichtige Diskussion über die von der politischen Theorie zu spiegelnden Anforderungen an zumutbare Rechtfertigungen in einer demokratischen Gesellschaft entstanden ist, die neben normativen auch epistemologische Dimensionen aufweist. Neben der Diskussion, ob die Konformität zum öffentlichen Gebrauch der Vernunft überhaupt eine legitime und produktive Anforderung an die politische Theorie ist, erscheint daher vor allem eines wünschenswert: nämlich dass sich ein Streit darüber entzündet, welche Arten und Weisen politischer Theoriebildung die Grenzen des öffentlichen Vernunftgebrauchs respektieren. 5
Schlussbemerkung
In diesem Beitrag habe ich versucht, ein Verständnis von Demokratiewissenschaft für die politische Theorie zu skizzieren. Genealogisch knüpft dieser Versuch an den programmatischen Beginn der Politikwissenschaft in der Bundesrepublik an, verhält sich aber affirmativ zur Ausdifferenzierung einer professionellen Politikwissenschaft. Ein demokratiewissenschaftliches Paradigma der politischen Theorie umfasste zunächst – und trivialerweise – die thematische Aufmerksamkeit der politischen Theorie für die Institutionen der Demokratie. Weniger trivial ist der nächste Schritt, in dem Demokratie als Gravitationszentrum des Fachgebietes einen gemeinsamen Bezugspunkt der pluralistischen Stränge politischer Theorie darstellen und die Anschlussfähigkeit auch weiter entfernter normativer Perspektiven sicherstellen soll. Für eine solche Zuspitzung sprechen die Produktivität und relative Zentralität der Demokratietheorie in den vergangenen Jahren. Der Vorschlag muss sich aber auch auf eine wie immer schwache normative Pro-Einstellung zur Demokratie stützen, deren Auslegung ihrerseits eine wichtige Dimension der politischen Theorie ausmacht. Ohne eine solche Privilegierung der Demokratie wäre nicht verständlich zu machen, warum Anstrengungen der politischen Theorie ausgerechnet in demokratiewissenschaftliche Fragestellungen (diesseits oder jenseits des Nationalstaates) zu investieren wären. Schließlich stellt sich die Frage, wie der reflexive Charakter einer politischen Theorie, die in einer demokratischen Gesellschaft betrieben wird, sich am besten würdigen lässt, welche Herausforderungen und Pflichten der Theorie aus ihrer Einbettung in einer demokratischen Gesellschaft erwachsen. Für den Fall, dass sie präskriptive Aussagen macht, lautete mein Vorschlag, dass sie auf naturrechtliche Aussagen, also auf Aussagen über gerechtfertigte Erzwingbarkeit außerhalb eines (existierenden oder zu schaffenden) demokratischen institutionellen Kontextes verzichtet und die Grenzen des öffentlichen Vernunftgebrauchs für eine
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demokratische Gesellschaft, wo immer diese letztlich zu lokalisieren sind, respektiert. Es versteht sich von selbst, dass die skizzierten Anforderungen sich nicht auf politisches Denken überhaupt, und ebenfalls nicht auf politische Philosophie im umfassenden Sinn richten, sondern sich ganz spezifisch auf eine sich reflexiv zur demokratischen Gesellschaft verhaltende politische Theorie beziehen. Im Unterschied zur Gründungsphase der Politikwissenschaft in der Bundesrepublik, in der die Demokratisierung der eigenen Gesellschaft im Vordergrund stand, erweitert sich der Gegenstandsbereich einer Demokratiewissenschaft heute auf Prozesse der Transformation zur Demokratie überhaupt, ebenso wie auf die schwierigen Fragen nach der Möglichkeit trans- und supranationaler Demokratie. Diese historischen Umbrüche signalisieren zugleich Aufbruch und Gefährdung einer Demokratiewissenschaft. Sollte sich herausstellen, dass die Entwicklung eines demokratiewissenschaftlichen Paradigmas am Beginn des 21. Jahrhunderts angesichts des Drucks, unter dem Demokratie als gesellschaftliche Praxis steht, an den Flug der Eule der Minerva erinnert, wäre das kein Grund, nicht dazu beizutragen. Literatur Abromeit, Heidrun, 2002: Wozu braucht man Demokratie? Opladen. Barry, Brian, 1996: Political Theory, Old and New, in: Goodin, Robert/Klingemann, Hans-Dieter (Hrsg.), A New Handbook of Political Science. Oxford, 531–550. Becker, Michael/Schmidt, Johannes/Zintl, Reinhard (Hrsg.), 2006: Politische Philosophie. Paderborn. Beyme, Klaus von, 1999: Zur Funktion normativer Theorie in der politikwissenschaftlichen Forschung, in: Greven, Michael Th./Schmalz-Bruns, Rainer (Hrsg.), Politische Theorie – heute. Baden-Baden, 81–98. Beyme, Klaus von, 2000: Die politischen Theorien der Gegenwart. 8. Auflage, Wiesbaden. Bleek, Wilhelm, 2001: Geschichte der Politikwissenschaft in Deutschland. München. Brodocz, André/Schaal, Gary S. (Hrsg.), 2001: Politische Theorien der Gegenwart. Band 1. Opladen. Buchstein, Hubertus/Emig, Dieter/Zimmermann, Jürgen, 1991: Zur Einführung, in: Gurland, A.R.L., Sozialdemokratische Kampfpositionen 1925–53. Hrsgg. von Dieter Emig und Hubertus Buchstein. Baden-Baden, 9–42. Buchstein, Hubertus/Jörke, Dirk, 2003: Das Unbehagen an der Demokratietheorie, in: Leviathan 31, 470–495. Buchstein, Hubertus, 2004: Demokratie, in: Göhler, Gerhard/Iser, Mattias/Kerner, Ina (Hrsg.), Politische Theorie. 22 umkämpfte Begriffe zur Einführung. Wiesbaden, 47– 64.
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André Brodocz
Politische Theorie und Gesellschaftstheorie Prolegomena zu einem dynamischen Begriff des Politischen
Politische Theorie und Gesellschaftstheorie – das passt nicht zusammen. Zumindest erweckt Klaus von Beymes „Theorie der Politik im 20. Jahrhundert“ (1991) diesen Eindruck. Politische Theorie sieht er auf einer Mesoebene angesiedelt mit Blick auf den institutionalisierten Wandel. Im Unterschied dazu betreiben die auf der Makroebene verorteten Gesellschaftstheorien eine „Theorie der Politik“, wenn sie das Verhältnis der Politik zu anderen Bereichen der Gesellschaft behandeln und dabei deren politische Steuerbarkeit reflektieren. Diese Perspektive auf die Politische Theorie übernimmt bereits einen Blick, wie ihn funktionalistische Gesellschaftstheorien auf die moderne Gesellschaft werfen. Dabei erscheint die Gesellschaft als ausdifferenziert in verschiedene funktionale Teilsysteme. Auch die Politik ist dann nicht mehr als ein auf kollektiv bindende Entscheidungen spezialisiertes Teilsystem unter anderen. So wie die Politik nur noch einen Teil der Gesellschaft darstellt, so erscheint aus dieser Perspektive dann auch die Politische Theorie nur noch als eine Subtheorie der Gesellschaftstheorie. Gegenwärtig lassen sich jedoch in der Gesellschaftstheorie Entwicklungen beobachten, die einer solchen Kasernierung der Politik als Teilsystem der Gesellschaft den Boden entziehen und damit auch eine neue Bestimmung des Verhältnisses von Politischer Theorie und Gesellschaftstheorie nötig machen. Im folgenden wird darum zuerst anhand der Gründerväter des Funktionalismus – Comte, Spencer, Durkheim – und ihrer wichtigsten Nachfahren – Parsons, Habermas, Luhmann – skizziert, wie die Politische Theorie immer stärker unter den Druck des gesellschaftstheoretischen Funktionalismus geraten ist. Vor allem Luhmanns Radikalisierung des Funktionalismus, so meine erste These, setzt die Politische Theorie gleich doppelt unter Druck. Sie bestreitet nicht nur den im Funktionalismus noch verbliebenen Gegenstand der politischen Steuerung der Gesellschaft, sondern auch die Angemessenheit einer normativen Perspektive in einer funktional differenzierten Gesellschaft (1). Gegenwärtig wird jedoch im radikalen Funktionalismus die Kollektivität als politisches Problem entdeckt, wodurch der Vorrang der Gesellschaftstheorie vor der Politischen Theorie wieder in Frage gestellt wird. Denn nach Armin Nassehi kann ein politisches Teilsystem kollektiv bindende Entscheidungen erst dann herstellen und durch-
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setzen, wenn es auch die Kollektivität der Adressaten sichtbar und zurechenbar macht. Nassehis Integration des Problems der Kollektivität in den radikalen Funktionalismus erhöht zwar dessen zeitdiagnostische Kompetenz. Doch die Lösung dieses Problems kann, so die zweite These, aus funktionalistischen und autopoietischen Gründen nicht durch das politische System geschehen: Zum einen verlangt der Funktionalismus, dass jedes Teilsystem nur eine Funktion erfüllt, und zum anderen läuft die Autopoiesis des politischen Systems in einem tautologischen Zirkel fest, wenn das politische System kollektiv verbindlich über das kollektiv gebundene Kollektiv entscheiden soll. Kompatibel mit dem radikalen Funktionalismus erscheint das Problem der Kollektivität demgegenüber nur, wenn das Politische als Medium verstanden wird, in dem Kollektivität als Gesellschaft geformt wird. Dieser Einbruch des Politischen in den radikalen Funktionalismus kehrt aber zugleich das Verhältnis von Gesellschaftstheorie und Politischer Theorie um (2). Jenseits der funktionalistischen Tradition haben sich Politische Theorie und Gesellschaftstheorie jedoch gar nicht erst voneinander abgesetzt. In Anthony Giddens’ anti-funktionalistischer Strukturierungstheorie wird Macht nicht als exklusive Ressource eines politischen Teilsystems verstanden, sondern ist jedem Handeln inhärent. Deshalb sind soziale Strukturen auch nicht als stabil anzunehmen, weil sie bloß durch die Akteure reproduziert werden. Stattdessen bringen die Akteure mit ihren Handlungen Strukturen immer wieder neu hervor und können sie so stets transformieren. Ernesto Laclaus antifunktionalistische Hegemonietheorie wiederum zeigt, dass neben der von Giddens ins Zentrum gerückten Strukturierung sozialer Einheiten auch deren Konstitution immer schon mit Macht verbunden ist. Weil diese immer unvollkommen bleibt, müssen Konflikte entschieden werden, die mit den vorhandenen Strukturen nicht gelöst werden können. In dieser anti-funktionalistischen Tradition, so die dritte These, treten also Politische Theorie und Gesellschaftstheorie nicht auseinander, weil sowohl die Konstitution jeder sozialen Einheit als auch ihre Strukturierung untrennbar mit Aspekten der Macht verbunden sind (3). Abschließend wird im Anschluss an diese Tradition ein neuer, dynamischer Begriff des Politischen als kontinuierlicher Kampf um Kontinuierung vorgeschlagen. Erst damit, so die letzte These, wird deutlich, warum Politische Theorie und Gesellschaftstheorie immer zwei Seiten derselben Medaille sind (4).
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1
Unter dem wachsenden Druck des gesellschaftstheoretischen Funktionalismus
Angetrieben wird die Trennung von Politischer Theorie und Gesellschaftstheorie im 19. Jahrhundert in erster Linie vom funktionalistischen Paradigma.1 Dieses geht auf August Comte und Herbert Spencer zurück. Nach Comte war eine rationale Organisation der modernen Gesellschaft nur denkbar, wenn alle ihre Bestandteile wie in einem Organismus zu ihrem Funktionieren beitragen. Jeder Bestandteil muss dabei seine Funktion so erfüllen, dass sie im Einklang mit der Funktionserfüllung der anderen Teile steht. Während Comte den Funktionalismus allein von der Gesellschaft her entwickelt, gründet er sich bei Spencer auch auf die Bedürfnisse ihrer Mitglieder. Nötig wird eine funktionale Differenzierung gesellschaftlicher Institutionen schon durch das stete Bevölkerungswachstum. Mit der Ausbildung des Territorialstaats erreichen die Gesellschaften schließlich ein Ausmaß an Heterogenität, das ihre Mitglieder nur noch durch funktionale Arbeitsteilung bändigen können. Diese Spezialisierungen wirken ihrerseits auf den Prozess der Arbeitsteilung zurück, indem sie Probleme aufwerfen, die wiederum nur durch weitere Spezialisierungen bewältigt werden können. Durkheim schließlich verknüpft Comtes holistische Perspektive mit Spencers methodisch-individualistischen Überlegungen zur Arbeitsteilung als treibende Kraft für sozialen Wandel. Dabei richtet er den Blick auf funktional äquivalente Lösungen für das Problem knapper Ressourcen: Statt für die Arbeitsteilung könnten sich die Individuen genauso rational für Selbstmord, Emigration und Verbrechen entscheiden. Im Unterschied zur Arbeitsteilung stehen diesen Lösungen jedoch sozial bedingte Gefühle – Lebensachtung, Vaterlandsliebe, Mitgefühl – gegenüber, die ihrer Durchsetzung entgegenwirken, und so zum Primat der Arbeitsteilung beitragen. Zwar wird damit die Entwicklung einer Gesellschaft von den Bedürfnissen ihrer Mitglieder angetrieben, doch gelenkt wird sie dabei von Traditionen und kollektiv geteilten Werten, das heißt von sozialen Phänomenen. Dieser Gedanke wird im Funktionalismus von Talcott Parsons aufgenommen und weiterentwickelt (vgl. Joas/Knöbl 2004: 39ff.). Danach lautet die entscheidende Frage für die Gesellschaftstheorie, warum verschiedene Individuen so viele Werte als normative Ordnung teilen. Und Parsons’ Antwort lautet: Alle soziale Systeme müssen eine Funktion erbringen, um ihre latent wirkende normative Ordnung aufrechtzuerhalten und auf Dauer zu stellen. Im umfassenden Gesellschaftssystem übernimmt das Teilsystem der Kultur genau diese Funktion für die Gesellschaft. Darüber hinaus müssen soziale Systeme immer noch drei 1
Vgl. zur Anfangszeit des Funktionalismus von Comte über Spencer zu Durkheim Münch (2003: 23–28).
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weitere Funktionen erfüllen: die Anpassung an Umweltbedingungen, das Erreichen von Zielen und die Integration der Teilsysteme. In einer dementsprechend funktional differenzierten Gesellschaft übernimmt dann die Wirtschaft die Funktion der Anpassung und die Politik die Funktion der Zielerreichung, während alle nicht-ökonomischen und nicht-politischen Institutionen zur Integration der Gesellschaft beitragen. Da jedes soziale System nur stabil sein kann, solange es alle vier Funktionen erfüllt, relativiert sich die Stellung der Politik in der Gesellschaft. Zwar ist sie weiterhin unverzichtbar, doch das gilt im gleichen Maße für die Wirtschaft, die Kultur und die anderen sozialen Institutionen. Der Politik gebührt kein Primat, weil die Gesellschaft keinem Teilsystem ein solches einräumt. Zur Erfüllung seiner Funktion ist jedes Teilsystem darauf angewiesen, die Leistungen der anderen Teilsysteme als Input aufzunehmen. Gleichzeitig stellt es seine Leistungen als Output den Teilsystemen zur Verfügung. Das politische System erbringt diese Leistungen mit Hilfe der Macht. Damit wirkt die Politik in die anderen Teilsysteme hinein. Spätestens mit Parsons hat die Gesellschaftstheorie die Politik als ein Teilsystem der Gesellschaft kaserniert. Obwohl die Politik damit in den Kontext der Gesellschaft eingebettet wird, ist die Politische Theorie keinesfalls nur eine spezielle Subtheorie, die sich im Rahmen der Gesellschaftstheorie mit einem spezifischen Segment der Gesellschaft beschäftigt. Zwar wird die Politik durch den Funktionalismus auf ein Teilsystem der Gesellschaft beschränkt, doch steht sie immer noch im Austausch mit den anderen Teilsystemen der Gesellschaft. Insofern hat die Politische Theorie unter den Bedingungen des Funktionalismus nicht nur das politische System im Blick, sondern die ganze Gesellschaft als Beziehung der Politik zu Wirtschaft, Kultur und anderen Systemen. Darüber hinaus erbringt die Politik mit dem Erreichen von Zielen eine Funktion, die den Zustand und die weitere Entwicklung der ganzen Gesellschaft steuert. Dies wirft jenseits der Erklärung der Gesellschaft und ihrem Funktionieren neue Fragen auf: Wohin soll die Gesellschaft steuern? Welche Ziele können dabei als gerecht und vernünftig angesehen werden (vgl. Noetzel/Brodocz 1996)? Mit dem Einzug dieser normativen Perspektive grenzt sich darum die Politische Theorie funktional von der Gesellschaftstheorie ab. Politische Theorie fokussiert darum zwei Fragen, die in einer Spannung zueinander stehen: die Frage nach der empirischen Verfasstheit der Politik und die Frage nach ihrer Begründbarkeit. Die funktionale Differenzierung von Politischer Theorie und Gesellschaftstheorie bedeutet in der sozialwissenschaftlichen Praxis jedoch keinesfalls eine klare Unterscheidbarkeit zwischen politischen Theorien und Gesellschaftstheorien. Im Gegenteil: Entweder nehmen politische Theorien auf Gesellschaftstheorien Bezug, wenn sie die normative Frage an den Anfang der Theoriebildung stellen und im zweiten Schritt gesellschaftstheoretisch kontextualisieren; oder
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politische Theorien beginnen als Gesellschaftstheorien und wenden sich unter diesen Voraussetzungen der normativen Begründbarkeit der Politik zu. Die erste Variante, das heißt die Integration einer funktionalistischen Gesellschaftstheorie in die politische Theorie, zeigt sich besonders deutlich in Jürgen Habermas’ Politischer Theorie der Deliberation. Vor dem Hintergrund seiner Diskursethik betrachtet Habermas politische Entscheidungen in normativer Hinsicht als vernünftig, wenn sie mit guten Gründen versehen werden und deshalb die Zustimmung aller davon Betroffenen finden (vgl. u.a. Habermas 1991: 119ff.). Dieses in der Sprache eingelagerte Rationalitätspotential des verständigungsorientierten, kommunikativen Handelns kann sich unter den Bedingungen der modernen Gesellschaft jedoch nicht mehr überall unmittelbar entfalten. Vor allem mit der Politik und der Wirtschaft haben sich zwei Systeme funktional ausdifferenziert, in denen Handlungsfolgen – anders als in der Lebenswelt – nicht mehr verständigungsorientiert koordiniert werden, sondern strategisch durch Macht und Geld. Dem Recht kommt in diesem Ausdifferenzierungsprozess eine entscheidende Rolle zu. Es ermöglicht diese Ausdifferenzierung, weil es zur Koordination von Handlungsfolgen nicht mehr der Einsicht in die Gründe benötigt, sondern auch aus rein strategischen Motiven befolgt werden kann. Zugleich ermöglicht das Recht den Systemen Möglichkeiten, die Lebenswelt sukzessive durch Geld und Macht zu kolonialisieren (vgl. Habermas 1981: 470ff.). Normativ ist unter diesen gesellschaftsstrukturellen Bedingungen deshalb ein demokratischer Rechtsstaat nötig, der dieser Kolonialisierung entgegenwirkt, indem er demokratisch-deliberative Entscheidungsstrukturen schafft, unter denen sich die Adressaten des Rechts auch als ihre Autoren verstehen können. Das heißt: „Rechtsnormen müssen so beschaffen sein, daß sie unter je verschiedenen Aspekten gleichzeitig als Zwangsgesetze und als Gesetze der Freiheit betrachtet werden können“ (Habermas 1996: 295). Nur so ist sichergestellt, dass dem Recht nicht allein aus Angst vor Sanktionen gefolgt wird, sondern auch aus Einverständnis mit seinen Gründen. Möglich ist Habermas’ Politische Theorie also im Rahmen einer gesellschaftstheoretischen Diagnose, die das politische System trotz funktionaler Ausdifferenzierung nicht gänzlich von der Lebenswelt getrennt sieht, weil ihm das Recht als ein „Transformator im gesellschaftsweiten Kommunikationskreislauf zwischen System und Lebenswelt“ dient (Habermas 1994: 108). Im Unterschied zu Habermas beginnt Niklas Luhmann gesellschaftstheoretisch. Anders als Parsons oder Habermas bedeutet ihm funktionale Differenzierung, dass die Teilsysteme der Gesellschaft sich nicht wechselseitig durchdringen oder gar feste Austauschbeziehungen institutionalisieren.2 Jedes funktionale Teilsystem ist autopoietisch, das heißt es reproduziert sich und damit seine Ab2
Zum Funktionalismus bei Parsons und Luhmann siehe auch Bonacker (2003b).
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grenzung von den Systemen in seiner Umwelt allein aus eigenen Operationen. So reproduziert sich etwa das politische System ausschließlich durch Kommunikationen, die sich an der Codierung politischer Macht orientieren, während sich das Wirtschaftssystem durch den Code von Zahlen und Nicht-Zahlen oder das Wissenschaftssystem durch den Code von wahr und unwahr auszeichnen (vgl. Luhmann 1997: 707ff.). Luhmann radikalisiert damit den Funktionalismus, weil er die Funktionserfüllung von der operativen Geschlossenheit der Teilsysteme abhängig macht. Für die Politische Theorie hat dies in substantieller und normativer Hinsicht weitreichende Konsequenzen. Substantiell impliziert die operative Autonomie aller Teilsysteme, dass das politische System die anderen Teilsysteme nicht steuern kann. Denn Autopoiesis bedeutet Selbststeuerung. Alle Steuerungsversuche der Politik sind allenfalls Irritationen, deren Informationsgehalt von der operativen Verarbeitung des irritierten Teilsystems bestimmt wird (vgl. Luhmann 1989). Empirisch läuft damit die Frage danach, wohin die Gesellschaft steuern soll, ins Leere. Zudem impliziert der radikalisierte Funktionalismus, dass es in der funktional differenzierten Gesellschaft keinen Ort gibt, der sich normativ auszeichnen lässt. „Im dem Maße, in dem die Differenzierung der Funktionssysteme an Prominenz gewinnt, ändert sich auch die Ontizität der Objekte, die Ausschließlichkeit ihres Seins und die Richtigkeit der Einstellungen zu ihnen im Erkennen und Handeln. Die Gesellschaft muß, aus Gründen ihrer Strukturentwicklung, darauf verzichten, feste Positionen für richtiges Beobachten vorzugeben“ (Luhmann 1997: 958). Denn jedes Teilsystem repräsentiert mit seiner Differenz zu den anderen Teilsystemen immer nur auf seine spezifische Weise die Einheit der Gesellschaft. Dadurch gibt es in der Gesellschaft kein Teilsystem, das exklusiv über die normativen Kriterien für eine gute und gerechte Gesellschaft verfügt. Auch die Frage, welche Ziele einer politischen Steuerung der Gesellschaft als gut und gerecht beurteilt werden können, erledigt sich auf diese Weise. Während sich die Politische Theorie also noch gut mit der funktionalistischen Gesellschaftstheorie arrangieren konnte, setzt sie der radikalisierte Funktionalismus der autopoietischen Gesellschaftstheorie gleich doppelt unter Druck: Fehlen einem operativ autonomen politischen System die Austauschbeziehungen mit den anderen Teilsystemen, dann gerät auch der Politischen Theorie nicht mehr die ganze Gesellschaft in den Blick, sie wird zu einer Subtheorie der Gesellschaftstheorie; und mangelt es in dieser Gesellschaft auch noch an einem normativ ausgezeichneten Ort, dann bleibt es unentscheidbar, worin das Gute und Gerechte besteht – die Politische Theorie verliert also auch noch ihre spezifisch normative Perspektive.
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Der schleichende Einbruch des Politischen in den radikalen Funktionalismus
Typisch für Luhmanns radikalen Funktionalismus ist, dass jedes Teilsystem nur eine Funktion für die Gesellschaft erbringt. Im Fall des politischen Systems liegt diese Funktion im Bereithalten von Kapazitäten, um kollektive bindende Entscheidungen herzustellen und durchzusetzen. Ohne ein Kollektiv, an das sich die bindenden Entscheidungen adressieren lassen, kann das politische System seine Funktion allerdings gar nicht erst erfüllen. Als soziales Phänomen steht das Kollektiv jedoch unter dem Luhmannschen Vorbehalt der Ereignishaftigkeit des Sozialen: Soziale Systeme bestehen aus Kommunikationen, die im Entstehen schon wieder vergehen. Genau deshalb wird die operative Reproduktion sozialer Systeme zur konstitutiven Frage, die der radikale Funktionalismus schließlich mit ihrer Autopoiesis beantwortet. Für die Funktion der Politik bedeutet dies, dass sie eine Kollektivität voraussetzt, die ebenfalls erst hergestellt werden muss. Innerhalb der autopoietischen Systemtheorie gibt es erste Ansätze, dieses Problem der Kollektivität in den Funktionalismus zu integrieren. Armin Nassehi gerät dieses Problem dadurch in den Blick, dass das politische System zwar keinen funktionalen Primat innehat, aber durchaus die Selbstbeschreibungen der Gesellschaft kollektiv wirksam dominiert. Dies überrascht ihn nicht, weil das politische System schließlich der Herstellung und Durchsetzung kollektiv bindender Entscheidungen dient. Dennoch stellt er fest, dass Luhmann diesen Aspekt nicht nur vernachlässigt, sondern gleichsam voraussetzt. Stattdessen muss die Funktion des politischen Systems neu gefasst werden. Er schlägt deshalb vor, „die Funktion des Politischen nicht nur in der Herstellung von kollektiv bindenden Entscheidungen zu sehen, sondern auch in der Herstellung und Bereitstellung von gesellschaftlicher Sichtbarkeit und Zurechenbarkeit“ (Nassehi 2002: 45; vgl. auch Münkler 1995). Zweifellos müssen auch andere Teilsysteme Sichtbarkeit erzeugen, um ihre Funktion erfüllen zu können. Im Wirtschaftssystem braucht es deshalb Preise und im Rechtssystem Gesetzestexte. Im politischen System geht die Sichtbarmachung der Kollektivität darüber hinaus mit der Herstellung von sich als „Öffentlichkeiten“ selbst beschreibenden sozialen Räumen einher. Diese Räume bestehen aus Kommunikationen, durch die innerhalb der Weltgesellschaft überhaupt erst Gesellschaften als Staaten simuliert werden. Nassehi deutet an, dass dies sogar die genuine Funktion des Politischen sein könnte: „Vielleicht liegt die Funktion des Politischen darin, aus Gesellschaft, also aus einem alles Soziale umfassenden, in der Moderne längst sich als Weltgesellschaft darstellenden Zusammenhangs Gesellschaften zu machen, also soziale Räume, die sich durch die Erzeugung einer sichtbaren Gesell-
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schaftlichkeit mit einer klar simulierten Außengrenze – ebenso so klar wie simuliert – selbst kommunikativ erzeugen“ (Nassehi 2002: 46). An der Sichtbarmachung von Gesellschaften als Demokratien zeigt sich nach Nassehi, inwiefern die Visualisierung von Gesellschaft dazu beiträgt, dass das politische System seine Funktion erfüllen kann. Die Durchsetzung kollektiv bindender Entscheidungen erfolgt mit Hilfe von Macht. Diese Macht gründet einerseits auf der Möglichkeit, negative Sanktionen zum Einsatz zu bringen. Andererseits funktioniert diese Macht nur, wenn die negativen Sanktionen gerade nicht permanent eingesetzt werden müssen. Gefolgschaft und Gehorsam auf Seiten der Regierten sind deshalb Voraussetzungen, unter denen das politische System seine Funktion reibungslos erfüllen kann. Dass sich die Regierten den Entscheidungen nicht widersetzen und sie allenfalls politisch zu ändern versuchen, wird durch die Demokratie möglich. Sie stellt eine Gesellschaft dar, in der auch die Betroffenen als Entscheider erscheinen. Die Demokratie sichert aber nicht nur die kollektive Bindung politischer Entscheidungen. Sie hilft dem politischen System auch im Umgang mit unlösbaren Problemen. Politisch unlösbar sind Probleme, die sich – wie die ökologische Frage – quer zur funktionalen Differenzierung einstellen oder auf die Funktionserfüllung anderer Teilsysteme angewiesen sind. Wegen der politischen Simulation von Gesellschaft sieht sich das politische System jedoch Erwartungen ausgesetzt, auf alle gesellschaftlichen Probleme reagieren zu müssen. Dass der Politik dafür die sachliche Kompetenz fehlt, kann sie durch „die Verschiebung von Problemwahrnehmung und Problemlösung von der Sach- in die Sozialdimension“ kompensieren (Nassehi 2002: 49). Das heißt: Das politische System kann seine Defizite in einer demokratischen Gesellschaft auf den von ihm sichtbar gemachten Demos zurückrechnen. Solche Transformationen von der Sach- in die Sozialdimension zeigen Nassehi zufolge, dass das politische System von einer Differenz zehrt, deren Aufhebung es zugleich simuliert: die Differenz zwischen Kollektiv und Gesellschaft. Die Bindung der Entscheidungen, die das politische System herstellt und durchsetzt, ist kollektiv, aber gerade nicht gesellschaftlich. Anders als die Gesellschaft sind Kollektivitäten darum „nur politische Größen“ (Nassehi 2002: 51). Allerdings sind diese Kollektivitäten konstitutiv für verschiedene Formen des politischen Systems. Durch die Simulation eines Kollektivs können dann sogar politische Systeme entstehen, die zur Durchsetzung oder gar zur Herstellung kollektiv bindender Entscheidungen nicht in der Lage sind. Umgekehrt differenzieren sich supranationale politische Systeme aus, die einen Anspruch auf kollektiv bindende Entscheidungen erheben, ohne die dafür nötige Kollektivität sichtbar machen zu können. In beiden Varianten treten „Sozial- und Sachdimension des Politischen […] auseinander und machen deshalb neben der Kontingenz des politi-
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schen Entscheidens auch die Kontingenz politischer Einheiten sichtbar“ (Nassehi 2002: 52; vgl. Bonacker 2003a). Zeitdiagnostisch verschafft Nassehis Revision dem radikalen Funktionalismus damit endlich auch gesellschaftstheoretische Ansatzpunkte für supra- und transnationale politische Systeme jenseits des Nationalstaats sowie für politische Probleme des internationalen Terrorismus und der failed states. Diese zeitdiagnostische Stärkung hat jedoch ihren Preis: einen doppelten Verlust an theoretischer Kohärenz. Der erste Verlust an Kohärenz trifft den Funktionalismus. Das Prinzip funktionaler Differenzierung geht davon aus, dass jedes Teilsystem auf eine Funktion spezialisiert ist und diese exklusiv für die Gesellschaft erbringt. Nassehis Erweiterung der Funktion der Politik um die gesellschaftliche Sichtbarkeit und Zurechenbarkeit von Kollektivität weist dem politischen System jedoch zwei Funktionen zu. Das heißt: Funktionale Differenzierung mündet doch nicht notwendigerweise in monofunktionalen Teilsystemen. Die Aufgabe dieser Prämisse stellt aber grundsätzlich in Frage, warum andere Systeme – etwa Recht und Politik – nur deshalb in zwei Teilsysteme differenziert sein sollen, weil sie zwei verschiedene Funktionen erfüllen. Auch dies wäre doch dann als ein Teilsystem mit mehreren Funktionen denkbar, im Fall von Recht und Politik beispielsweise als Rechtsstaat. Dann wiederum ließe sich die interne Differenzierung des Rechtsstaats nach legislativer und exekutiver Politik sowie Judikative als Antwort auf die Paradoxieprobleme des Rechtsstaats verstehen (vgl. Brodocz 2003: 192ff.). Ohne die Monofunktionalität der Teilsysteme lässt sich also auch die Differenzierung der Gesellschaft systemtheoretisch nicht mehr kohärent als funktional verstehen. Der zweite Verlust an Kohärenz betrifft die Autopoiesis des politischen Systems. Übernähme das politische System auch die Funktion der Herstellung von Kollektivität, dann würde es eine die Autopoiesis des Systems gefährdende Tautologie heraufbeschwören. In dem Fall würde das politische System kollektiv bindend darüber entscheiden, wer kollektiv gebunden wird. Oder frei nach Gertrude Stein: Kollektiv ist ein kollektiv gebundenes Kollektiv ist ein kollektiv gebundenes Kollektiv ist … Die Autopoiesis der Politik läuft sich in einem tautologischen Zirkel fest. Vor dieser Gefahr der Tautologie stehen autopoietische Systeme grundsätzlich, weil sie zu ihrer Reproduktion auf sich selbst referieren müssen. Allerdings können sie ihre Anschlussfähigkeit sichern, indem sie sich enttautologisieren. Das heißt, „daß ein System zur Ermöglichung seiner Operationen Bezugspunkte wählt, die in diesen Operationen nicht mehr in Frage gestellt werden, sondern als gegeben hingenommen werden müssen“ (Luhmann 1984: 631). Resultiert jedoch die Tautologie aus den zwei Funktionen, die das System erfüllen muss, dann kann es sich nur enttautologisieren, indem es ein Problem als immer schon gelöst unterstellt. Allein schon aus Gründen der Auto-
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poiesis kann das politische System also gar nicht die beiden von Nassehi unterstellten Funktionen ausüben. Denn um sich zu enttautologisieren, muss eine Funktionsausübung still gestellt werden. Zusammengefasst: Nassehi weist richtigerweise darauf hin, dass das politische System zur Erfüllung seiner Funktion auf die Lösung eines nahe liegenden Problems angewiesen ist: das Problem der Kollektivität. Doch im radikalen Funktionalismus kann es aus funktionalistischen und autopoietischen Gründen nicht die Aufgabe des politischen Teilsystems sein, dieses Problem zu lösen. Der radikale Funktionalismus stößt mit dem Problem der Kollektivität an seine Grenzen. Trotz seines universalen Anspruchs, alles Soziale erklären zu können (vgl. Luhmann 1984: 9), lässt sich dieses Problem nicht in einem funktionalen Teilsystem kasernieren. Theoretisch kompatibel erscheint vielmehr eine Perspektive anhand einer anderen systemtheoretischen Unterscheidung: der Unterscheidung von Medium und Form. Medium bezeichnet dabei einen Zustand loser gekoppelter Elemente und struktureller Unbestimmtheit, während Form auf einen Zustand festerer Kopplung und struktureller Bestimmtheit abzielt. Entscheidend dabei ist, dass Formen nur mit Hilfe eines Medium gebildet werden, dessen Elemente als mediales Substrat selektiv und temporär in einer unterscheidbaren Form fester gekoppelt werden. Formen wiederum können ein Medium darstellen, in dem sich andere Formen entwickeln (vgl. Luhmann 2002: 29ff.). Das Problem der Kollektivität als die Sichtbarmachung von Gesellschaften lässt sich damit gewinnbringend reformulieren, wenn man die Politik im Sinne des auf kollektiv bindende Entscheidungen spezialisierten Teilsystems der Gesellschaft von dem Politischen als dem Medium unterscheidet, in dem sich Gesellschaften formen.3 Das Politische ist dann das lose gekoppelte Medium, in dem sich die Gesellschaft als fester gekoppelte Form, zum Beispiel als funktional differenzierte Gesellschaft ausbildet. Diese Formen sind dann wieder das Medium, in dem sich die funktionale Ausdifferenzierung der Gesellschaft vollzieht und verschiedene Teilsysteme als Formen generiert. Die Politik der Gesellschaft setzt dann, wenn man so will, eine Gesellschaft des Politischen voraus. Mit der Sichtbarmachung von Gesellschaften jenseits des politischen Systems und der funktionalen Differenzierung bricht damit das Politische in den radikalen Funktionalismus der Luhmannschen Systemtheorie ein. Dieser Einbruch hat gravierende Auswirkungen auf das Verhältnis zwischen Gesellschaftstheorie und Politischer Theorie. Ironischerweise kehrt sich dadurch die ausgerechnet vom radikalen Funktionalismus beanspruchte Deutungshoheit der Gesellschaftstheorie über die Politische Theorie um. Nicht die Politische Theorie ist eine spezielle Subtheorie der Gesellschaftstheorie, sondern die Gesellschaftsthe3 Siehe dazu die ganz ähnliche Unterscheidung zwischen der Politik und dem Politischen bei Lefort (1999: 35ff.).
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orie erscheint als eine Subtheorie der Politischen Theorie. Oder systemtheoretisch gesprochen: Politische Theorien sind Formen im Medium des Politischen, und Gesellschaftstheorien sind Formen im Medium der Politischen Theorie. 3
Jenseits des Funktionalismus
Jenseits des Funktionalismus sind Gesellschaftstheorie und Politische Theorie auf keine vergleichbare Weise auseinandergerückt. Dies gilt sowohl für politische Theorien, die als Gesellschaftstheorien beginnen, indem sie der normativen Frage nach der Begründbarkeit von Politik die Analyse ihrer gesellschaftlichen Bedingungen voranstellen, als auch für politische Theorien, die zunächst die normative Frage beantworten, bevor sie diese Antwort in einen gesellschaftstheoretischen Kontext stellen. Dass das Auseinandertreten von Politischer Theorie und Gesellschaftstheorie vor allem eine Folge des Funktionalismus ist, zeigt etwa die anti-funktionalistische Gesellschaftstheorie von Anthony Giddens (vgl. Joas/Knöbl 2004). Gegen den Funktionalismus wendet Giddens ein, dass er die Selbststabilisierung sozialer Strukturen über- und die Handlungsfähigkeit der Akteure unterschätzt. Soziale Strukturen werden von den Akteuren nicht einfach reproduziert. Sie sind zwar durchaus einschränkend, aber dennoch das Produkt ihrer Handlungen und darum stets sensibel für Veränderungen und Wandel. Die einschränkende Wirkung von Strukturen auf die Handlungen der Akteure, deren Handlungen ähnliche oder auch andere Strukturen neu hervorbringen, bezeichnet Giddens auch als die „Dualität der Struktur“ (Giddens 1988: 77). Trotz der damit verbundenen Kritik an autonomen sozialen Systemen ist Gesellschaft aber für Giddens deshalb noch nicht ein Produkt individueller Absichten und Ziele, das sich etwa mit Hilfe entsprechender rationaler Kalküle rekonstruieren oder gar prognostizieren lässt. Dem steht schon Giddens’ Handlungsbegriff in zwei Hinsichten entgegen. Zum einen geht er nicht davon aus, dass dem Handeln von Akteuren immer auch ein klares Ziel oder eine konkrete Absicht zugrunde liegt. Im Gegenteil: Die meisten Handlungen geschehen, ohne dass sich die Akteure im Vorfeld ihre Ziele und Absichten bewusst gemacht haben. Stattdessen wird Handeln zunächst oft durch Routinen geleitet. Dass die Akteure dennoch über Ziele und Absichten verfügen, bestreitet Giddens nicht. Aber er betont, dass sich diese Ziele und Absichten häufig erst im Handeln entwickeln und darüber hinaus im weiteren Verlauf verändert werden können. Diese Kontrollierbarkeit des eigenen Handelns zeichnet dann auch das aus, was im Nachhinein als Intention dargestellt wird (vgl. Giddens 1988: 55ff.). Einer Rückführung von Gesellschaft auf die Kalküle einzelner Handlungen steht nach Giddens zum anderen entgegen, dass sich Handeln nicht als Abfolge
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einzelner, voneinander getrennter Handlungen vollzieht. Das Handeln von Akteuren ist vielmehr in einen kontinuierlichen Fluss eingebettet. Die Isolation einzelner Handlungen ist danach nur ein bestimmter, reduktionistischer Rückblick auf den Handlungsstrom. Anders als die Rational-Choice-Theorie bleibt Giddens’ Handlungsbegriff damit sensibel gegenüber den nicht intendierten Folgen des Handelns. Anders als im Funktionalismus erwächst daraus kein Argument für die Autonomie sozialer Systeme. Denn gerade wegen dieser Folgen lassen sich die Strukturen sozialer Systeme nicht auf Dauer stellen. Gesellschaft ist nach Giddens also weder allein das Resultat individueller Kosten-Nutzen-Kalküle noch die Emergenz autonomer sozialer Strukturen. Entscheidend für die Struktur einer Gesellschaft ist, wer über welche Machtressourcen verfügt und wie er diese Macht einsetzt. Macht ist vor allem deshalb so prägend, weil sie keine spezifische Form des Handelns darstellt, sondern vom Handeln an sich überhaupt nicht getrennt werden kann. Jede Form des Handelns ist danach mit Macht verbunden, weil ein bestimmter Zustand oder konkreter Verlauf von Ereignissen mit jeder Handlung geändert werden kann. „Nach dieser Auffassung charakterisiert der Gebrauch von Macht nicht spezifische Verhaltensweisen, sondern ist vielmehr für jegliches Handeln typisch. Macht selbst ist keine Ressource. Ressourcen sind Medien, durch die Macht als ein Routineelement der Realisierung von Verhalten in der gesellschaftlichen Reproduktion ausgeübt wird“ (Giddens 1988: 67). Giddens zufolge ist Macht also dem Handeln als „transformative capacity“ immer schon inhärent (Giddens 1979: 88). Macht ist darüber hinaus für die Koordination von sozialer Praxis zentral, weil mit ihr über den Zeitpunkt und Ort der Handlung hinaus andere Handlungen gebunden werden können. Als Institutionen bezeichnet Giddens darum soziale Praktiken, die sich auf diese Weise weit in Raum und Zeit ausdehnen.4 Die moderne Gesellschaft wird darum von vier miteinander konkurrierenden, gegebenenfalls in Widerspruch tretenden institutionellen Komplexen mit jeweils spezifischen Machtressourcen geprägt: der kapitalistischen Wirtschaft, der industrialisierten Produktion, der bürokratisch-administrativen Überwachung der Bevölkerung sowie der politischen Kontrolle von innerstaatlicher und zwischenstaatlicher Gewalt (vgl. Giddens 1995: 75ff.). Für Giddens’ Gesellschaftstheorie ist dieser interne Zusammenhang von Macht und Handeln weichenstellend. Denn damit versucht er, „aus konsequent handlungstheoretischer Perspektive einen ordnungstheoretischen Rahmen zu entwickeln“ (Joas/Knöbl 2004: 418). So kann er einerseits institutionelle Komplexe identifizieren, deren Machtressourcen eine Gesellschaft strukturieren. Andererseits müssen diese Strukturen im Handeln immer wieder neu hergestellt 4
Auch Institutionen ist Macht dann immer schon inhärent. Siehe dazu auch Brodocz u.a. (2005).
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werden und sind darum konstitutiv offen für ihre Veränderung durch die Akteure. Diese Weichenstellung im Grundbegriff begründet darum auch Giddens’ Anti-Funktionalismus. Darüber hinaus verklammert sie diese Gesellschaftstheorie auch konstitutiv mit der politischen Theorie, indem sie so auch die Frage nach der normativen Begründbarkeit von Machtbesitz und -ausübung unweigerlich aufwirft. Macht kann aufgrund ihres internen Zusammenhangs mit Handeln dabei nicht per se kritisierbar sein. Problematisch sind dagegen Theorien, die die Unveränderbarkeit der institutionellen Komplexe proklamieren und die emanzipatorischen Potentiale ihrer Transformation versiegen lassen (vgl. Lamla 2006: 364ff.). Der interne Zusammenhang von Handeln und Macht hat aber auch seinen Preis. Die anvisierte Transformation der institutionellen Komplexe erscheint nur erfolgversprechend, wenn man auch die Kontrolle über deren Machtressourcen erlangt. Demokratisierungsprozesse lassen sich dann nur noch damit erklären, dass es den Akteuren entsprechender sozialer Bewegungen gelungen ist, die Machtressourcen des bürokratisch-administrativen und des politischen Komplexes in ihrem Sinn zu mobilisieren. „Freilich läßt sich hier kritisch fragen, ob Demokratie allein aus einer Dialektik von Macht und Gegenmacht zu begreifen ist. Schließlich […] haben Ideen von Gleichberechtigung, Gleichheit, politischer Mitsprache, Fairneß etc. sicherlich auch ihre kulturellen Wurzeln und sind Demokratisierungsprozesse zwar von ihren Machtkonstellationen abhängig, aber allein durch sie nicht hinreichend zu erklären. An dieser Stelle zeigt sich, daß Giddens’ […] Analysefokus zu sehr auf den Machtaspekt des Handelns und zu wenig auf dessen kulturelle Einbettung gerichtet ist“ (Joas/Knöbl 2004: 424f.). Dass Macht nicht nur in einem internen Zusammenhang mit dem Handeln steht und der Koordination sozialer Praxis dient, sondern auch der Konstitution von Gesellschaft, wird wiederum in Ernesto Laclaus Politischer Theorie der Hegemonie deutlich, die zuerst die normative Frage nach der Begründbarkeit von Politik stellt und sie dann gesellschaftstheoretisch kontextualisiert. Eine normative Begründung für eine gute Gesellschaft und eine gerechte Politik ist Laclau zufolge nicht möglich, weil es die dafür nötige Gesellschaft als stabile soziale Einheit nicht geben kann (vgl. Laclau 1990: 90).5 Anders als bei Luhmann, der die Unmöglichkeit eines normativen Orts in der modernen Gesellschaft gesellschaftstheoretisch aus der für sie charakteristischen funktionalen Differenzierung ableitet, ist für Laclau nicht die spezifische Struktur dieser Gesellschaft das Problem, sondern die prinzipielle Unmöglichkeit gesellschaftlicher Einheit. Die Absage an eine normative Begründbarkeit von Gesellschaft und Politik ist darum unabhängig von der empirischen Verfasstheit einer Gesell5 Zum Wohl des Arguments beschränke ich mich hier auf die Einheit „Gesellschaft“. Laclaus Theorie zielt aber generell auch auf die Identitäten anderer, sozial konstruierter Einheiten.
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schaft. Um eine normative Aussage über Gesellschaft und Politik fällen zu können, muss der Sinn dieser Gesellschaft stabil bzw. fixierbar sein. Dies ist aus Laclaus poststrukturalistischer Sicht jedoch unmöglich (vgl. Stäheli 2000: 33ff.). Alle Versuche, etwas mit Sinn zu versehen, verweisen nur auf andere Bedeutungen, deren Sinn wiederum auf die gleiche Weise immer wieder aufgeschoben wird. Dass alle Versuche wegen des permanenten Aufschubs von Bedeutungen scheitern, bedeutet aber nur das Ende von „Gesellschaft“ als dauerhaft existierende Einheit und ihrer normativen Begründbarkeit. Unbestritten ist dagegen, „Gesellschaft“ als Versuch im unbestimmten Feld verschiedener sozialer Praktiken eine soziale Einheit – faktisch und normativ – zu begründen. Weil sich die „Gesellschaft“ aber nicht vereinheitlichen lässt, können auch diese Versuche nicht abschließend erfolgreich sein. Genau darin kommt der Antagonismus jeder Gesellschaft zum Ausdruck. Denn ihre unmögliche Einheit sorgt dafür, dass immer wieder Konflikte entstehen, für deren Lösungen zwar keine normativen Regeln bereitstehen. Dennoch werden diese unentscheidbaren Konflikte in der Praxis entschieden. Genau solche Entscheidungen kennzeichnen für Laclau das Feld des Politischen (vgl. Laclau 1990: 35). Das heißt: Auf dem Feld des Politischen werden jene Konflikte entschieden, die unentscheidbar sind, weil weder die Gesellschaft noch ihre Struktur dafür Lösungen bereitstellen können. Entschieden werden diese Unentscheidbarkeiten durch Akteure, die sich genau deshalb erst als Subjekte konstituieren können (Vgl. Laclau/Zac 1994: 11ff.). Möglich werden diese Entscheidungen durch Macht. Genauso wie bei Giddens ist Macht also jenes Moment, das die funktionalistische These stabiler Differenzierungsstrukturen in Frage stellt. Für das von Giddens in Anschlag gebrachte Potential der Macht, jederzeit soziale Strukturen zu transformieren, liefert Laclau damit die Bedingung seiner Aktualisierung: die Unvollkommenheit jeder sozialen Struktur. Denn die Transformation sozialer Strukturen durch Macht wird strukturimmanent nötig, um die für die Strukturierung nötige Unterstellung sozialer Einheit zu kontinuieren. Aufgrund dieser Unentscheidbarkeiten sind alle Versuche, eine bestimmte Form von „Gesellschaft“ herzustellen und zu rechtfertigen, notwendigerweise nicht nur politische, sondern stets auch hegemoniale Projekte. Keine aktualisierte Form von „Gesellschaft“ ist so vollkommen, dass sie vor Antagonismen und dem damit verbundenen Transformationspotential sicher wäre. Gesellschaftstheoretisch wirft die Möglichkeit der Hegemonie die Frage auf, ob und gegebenenfalls wie eine Form von ‘Gesellschaft’ unter diesen Voraussetzungen zumindest vorübergehend so weit hergestellt werden kann, dass sie alternative Formen dominiert. Um eine soziale Einheit im unbestimmten Feld sozialer Praktiken zu erzeugen, muss dieser Einheit Sinn verliehen werden. Dies ist problematisch: Denn unter der poststrukturalistischen Prämisse schiebt sich Sinn immer wieder
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auf, weil er nur in Differenz zu anderen Bedeutungen gewonnen werden kann, deren Sinn immer wieder auf die gleiche Weise aufgeschoben wird. Nach Laclau wird dieses Problem in der Praxis durch einen „empty signifier“ gelöst, mit dem die entsprechende Einheit identifiziert wird (vgl. Laclau 1996: 36ff.). Leer ist dieser Signifikant, weil er mit so vielen verschiedenen Bedeutungen versehen ist, dass er schließlich unterschiedslos gegenüber Unterschiedlichem wird. Auf diese Weise stoppt er für eine gewisse Zeit den permanenten Bedeutungsaufschub und fixiert so vorübergehend eine Bedeutung dieser Einheit, indem er selbst an Bedeutung verliert. Entscheidend dabei ist, dass dieser Signifikant in der Praxis auch immer wieder mit verschiedenen Bedeutungen und Rechtfertigungen versehen wird. Denn daraus resultiert seine Leere, weshalb es sich genau genommen immer um entleerte Signifikanten handelt. Gerade weil diese Einheit erst auf diese Weise konstruiert wird und ihre Struktur unvollkommen ist, gibt es auch keinen Signifikanten der notwendigerweise die Funktion des leeren Signifikanten übernimmt. Deshalb ist es sowohl eine empirisch als auch normativ offene Frage, welcher Signifikant die Einheit stiftet. Wie schon bei Giddens so verschränken sich also auch bei Laclau Politische Theorie und Gesellschaftstheorie. In diesem Fall ist es aber nicht der interne Zusammenhang zwischen Handeln und Macht, der die Politische Theorie und die Gesellschaftstheorie verklammert, sondern bereits alle unmöglichen, aber notwendigen Unterstellungen sozialer Einheit, die immer schon auf Macht beruhen. Sie sind vor allem dem Handlungsstrom vorgeschaltet, der Giddens zufolge überwiegend entlang von Routinen abläuft und mit Hilfe von Institutionen sich über Zeit und Raum ausdehnt. 4
Ausblick: Perspektiven eines dynamischen Begriff des Politischen
Die Revision des radikalen Funktionalismus durch Nassehi und die antifunktionalistischen Ansätze von Giddens und Laclau machen eine neue Bestimmung des Verhältnisses von Politischer Theorie und Gesellschaftstheorie notwendig. Nachdem Luhmanns Radikalisierung des Funktionalismus die Trennung zwischen Politischer Theorie und Gesellschaftstheorie zunächst forcierte und auf eine Unterordnung der Politischen Theorie unter die Gesellschaftstheorie hinauszulaufen drohte, zeigt der Einbruch des Politischen in den radikalen Funktionalismus dessen Grenzen auf. Nimmt die funktionalistische Gesellschaftstheorie das Problem der Kollektivität tatsächlich ernst, dann muss sie sich davon verabschieden, dass es soziale Systeme im Sinne stabiler Einheiten gibt. Nicht alles, was Kommunikation ist, ist notwendigerweise schon Gesellschaft. Vielmehr ist alles, was Kommunikation ist, zunächst nur sozial. Genau daran setzen die anti-
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funktionalistischen Ansätze an. Wie Laclau zeigt, muss darum in diesem unbestimmten Feld sozialer Praktiken permanent versucht werden, soziale Einheiten herzustellen – und zwar indem sie als Einheiten durch Bezeichnung kommunikativ sichtbar gemacht werden. Dies ist die Voraussetzung für die Genese von Institutionen, wie sie Giddens skizziert. Mit ihrer Hilfe werden diese fingierten sozialen Einheiten auf Dauer gestellt und können Akteure ihre Erwartungen über Zeit und Raum hinweg stabilisieren, ohne die Strukturen dieser unterstellten Einheiten bloß zu reproduzieren. Ihre Macht zur Veränderung der Strukturen bricht strukturimmanent allein deshalb immer wieder auf, weil die Herstellung der Einheiten wiederum niemals vollständig gelingen kann. Darum treten immer wieder Konflikte auf, die mit den bestehenden institutionellen Regeln nicht zu lösen sind. Um die Erwartungssicherheit für die Zukunft und damit die Strukturierung wieder herzustellen, können diese unentscheidbaren Konflikte jedoch in der Praxis nicht unentschieden bleiben. Sie werden selbst dann entschieden, wenn es zu keiner Entscheidung zwischen den Alternativen kommt. In diesem Fall wäre es eine Entscheidung zugunsten der Entstrukturierung. Für diese Unentscheidbarkeiten, die wir nicht nicht-entscheiden können, braucht es einen neuen, einen dynamischen Begriff des Politischen als kontinuierlichen Kampf um Kontinuierung. Bei diesem Kampf müssen zwei Dimensionen unterschieden werden: eine symbolische und eine instrumentelle. Nötig ist diese Differenzierung, weil sich das Politische in zwei Richtungen auswirkt, deren wechselseitige Bedingtheit sich nur deutlich machen lässt, wenn sie analytisch getrennt werden: Der kontinuierliche Kampf um die Kontinuierung sozialer Einheiten und um die Kontinuierung ihrer Strukturierung. Die symbolische Dimension des Politischen ist der kontinuierliche Kampf um die Kontinuierung sozialer Einheiten. Diese Dimension fokussiert die Macht, die die Konstitution sozialer Einheiten durchzieht. Es geht dabei um die Kontinuierung dieser Einheit, weil sie nicht von sich aus existiert, sondern als soziale Praxis immer wieder neu hergestellt werden muss. Diese Einheit ist umkämpft, weil sie sich nur aus ihrer sozialen Praxis heraus begründen kann und gegen konkurrierende Einheitsvorstellungen durchgesetzt werden muss. Dieser Kampf dauert selbst an, weil diese Einheiten trotz vorübergehender Kontinuierung niemals vollkommen hergestellt werden können. Symbolisch ist diese Dimension des Politischen dabei in zwei Hinsichten: Zum einen wird eine soziale Einheit durch einen Signifikanten hergestellt, der aufgrund seiner Entleerung immer nur symbolisieren kann, dass eine solche Einheit existiert, aber nicht zeigen kann, was sie ausmacht; zum anderen ist diese Herstellung der Einheit immer nur symbolisch, weil sie eine Einheitlichkeit suggeriert, die sich nie vollkommen herstellen lässt und deshalb immer nur unterstellt werden kann.
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Die instrumentelle Dimension des Politischen ist dagegen der kontinuierliche Kampf um die Kontinuierung von Strukturen. Diese Dimension bezieht sich auf die Macht, die bei der Strukturierung sozialer Einheiten zum Einsatz kommt. Um die Kontinuierung dieser Strukturen geht es, weil sie sich nicht selbst reproduzieren können, sondern durch die Handlungen der Akteure immer wieder neu hervorgebracht werden müssen. Diese Strukturen sind umkämpft, weil sich mit ihnen die Handlungen anderer Akteure über Zeit und Raum hinaus binden lassen. Dieser Kampf dauert schließlich selbst an, weil diese Strukturen wegen der Unvollkommenheit der sozialen Einheit immer wieder unentscheidbare Konflikte generieren, die dann neue, unterschiedliche Strukturbildungen ermöglichen. Instrumentell ist diese Dimension des Politischen in zwei Hinsichten: Zum einen rekurriert sie auf die Machtressourcen, mit deren Hilfe die Konflikte, die aufgrund der Unvollkommenheit jeder sozialen Einheit strukturimmanent unentscheidbar sind, entweder zugunsten der einen und nicht der anderen Option entschieden oder zur Entstrukturierung genutzt werden; zum anderen zielt sie auf die institutionellen Strukturen, die die Erwartungen der Akteure stabilisieren, indem sie ihre Handlung steuern, weil sie Motive generieren, Routinen bereitstellen und Handlungsverläufe nachträglich rationalisieren. Dieser zweidimensionale Begriff des Politischen als kontinuierlicher Kampf um Kontinuierung macht schließlich deutlich, dass sich Politische Theorie und Gesellschaftstheorie nur trennen lassen, wenn soziale Einheiten als statisch angenommen werden, so dass die politischen Fragen ihrer Konstituierung und Kontinuierung aus dem Blick geraten. Umgekehrt wird mit dem dynamischen Begriff des Politischen ebenso deutlich, dass sich Politische Theorie und Gesellschaftstheorie nicht trennen lassen. Die Gesellschafstheorie kann von der Politischen Theorie nicht abgelöst werden, weil die Konstitution sozialer Einheiten und ihre Strukturierung aus der Entscheidung von Unentscheidbarkeiten resultieren, die aufgrund der Unvollkommenheit dieser Einheiten immer wieder neu entschieden und gerechtfertigt werden müssen. Gleichzeitig kann die Politische Theorie nicht von der Gesellschaftstheorie getrennt werden, weil diese in sozialen Einheiten zu entscheidenden Unentscheidbarkeiten aus ihrer spezifischen Struktur heraus entstehen, die aufgrund der Unvollkommenheit jeder Einheit niemals endgültig entschieden werden können und deshalb immer wieder neue Unentscheidbarkeiten generieren. Nimmt man also die Prozessualität und Dynamik sozialer Einheiten und ihrer Strukturierung ernst, dann tritt nicht nur ihr politischer Charakter zu Tage. Ebenso klar wird, dass damit Politische Theorie und Gesellschaftstheorie zusammenpassen – und zwar als zwei Seiten derselben Medaille.
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Bernd Ladwig
Politische Theorie, politische Philosophie und Gesellschaftstheorie Ein integrativer Vorschlag
Ob es uns gefällt oder nicht, die Politikwissenschaft ist heute vor allem eine empirische Sozialwissenschaft. Mit ihrer Professionalisierung als Disziplin geht die Gefahr der Verengung ihrer Fragestellungen und Herangehensweisen einher. Zugleich wird klarer, was sie kann und wovon sie handelt. Ihr zentraler Gegenstand ist Regieren, verstanden als intentionale Handlungskoordination durch kollektiv bindendes Entscheiden. Mir erscheint es ratsam, dass die Teildisziplin politische Theorie sich auf diesen Umstand einstellt. Als bildungsbürgerliches Ornament um einen szientistischen Fachkern dürfte sie keine Zukunft haben, und wozu auch? Besser, sie versuchte, das Fach durch Grundlagenreflexion vor einem szientistischen Selbstmissverständnis zu bewahren. Die Grundlagen, für die politische Theorie zuständig ist, sind die des Faches im Ganzen. Sie sind von zweifacher Art: bezogen auf Beschreibungen einerseits, auf Werte und Normen andererseits. Mein Vorschlag lautet also, unsere Teildisziplin als zugleich deskriptiv und normativ interessierte Reflexionsinstanz der Politikwissenschaft im Ganzen zu verstehen. Die Geschichtlichkeit ihrer Fragestellungen ist Gegenstand der Ideengeschichte. Deren Unverzichtbarkeit als kritisches, auch unterdrückte Möglichkeiten bewahrendes Gedächtnis des Faches sei vorausgesetzt. Konzentrieren werde ich mich jedoch auf andere Binnendifferenzierungen in der Teildisziplin. Mich interessiert das Verhältnis von politischer Theorie, politischer Philosophie und Gesellschaftstheorie zueinander. Mit Bezug auf sie werde ich für ein integratives Verständnis der Teildisziplin werben. Das Wort „politische Theorie“ wird dabei zweifach vorkommen: als Oberund als Unterbegriff. Im ersten Sinne steht es für das Verbindende von Teilbereichen, deren einer politische Theorie im zweiten Sinne ist. Politische Theorie als Oberbegriff soll im Folgenden politische Theorie1 heißen, politische Theorie als Unterbegriff politische Theorie2. Politische Theorie1 ist der Versuch, politische Theorie2 mit politischer Philosophie und Gesellschaftstheorie zu vermitteln. Dazu seien einige Anregungen gegeben, deren Anfechtbarkeit ich sogleich einräume. Wertvoller als das Finden einer Einigungsformel scheint mir die gemeinsame Bezugnahme im Streit, der politische Theorie1 lebendig hält. 175
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Regieren als Gegenstand
Zunächst einige Worte zum Gegenstand. Mein Eindruck ist, dass die Politikwissenschaft durch die Konzentration auf Regieren halbwegs klare Konturen bekommt.1 Regieren ist der intentionale Versuch, im Horizont von wenigstens möglichen Konflikten unter einer Mehrzahl von Menschen durch allgemein bindendes Entscheiden Ordnung zu stiften. Die neuere Governance-Forschung macht deutlich, dass weder die Akteure, noch die Orte, noch die Modi des Regierens von vornherein feststehen. Sie reagiert damit auf die Krise des Staatsparadigmas in der Politikwissenschaft. Allerdings setzt sie voraus, dass eine Mehrzahl von Menschen Probleme hat, die durch Regieren gelöst werden müssten. Darin besteht ihr „Problemlösungsbias“ (Mayntz 2004), der sie machtblind machen könnte. Wer legt fest, was als Problem Gegenstand des Regierens sein sollte? Wer definiert, was Lösungen wären? Wer entscheidet, wer entscheiden soll, und nach welchen Kriterien? Was wird von allen Akteuren stillschweigend vorausgesetzt, was von keinem auch nur gesehen, obwohl darüber zu befinden wäre? Machteffekte erstrecken sich auf die Entscheidungsfindung ebenso wie auf die vielen im Hintergrund wirkenden Selektivitäten, von denen abhängt, was überhaupt in den Vordergrund des Entscheidbaren tritt und wie es das tut. Sie reichen, wie die an Foucault anknüpfenden Studien zur „Gouvernementalität“ zeigen (vgl. Bröckling/Krasmann/Lemke 2000), bis in die bildenden Merkmale der Macht habenden wie Macht anfechtenden Akteure hinein. Der zum Regieren gehörende Streit ist umgeben von einem Streit über das Regieren: seine Formen und Verfahren, seine Akteure, seine Inhalte und auch seine Grenzen (etwa: „Mein Bauch gehört mir!“). Zum Politischen gehören daher Versuche der Politisierung, beginnend mit der Behauptung, ein Thema sei, weil alle angehend, zu Unrecht nicht Gegenstand des Entscheidens. Ebenso gehören zu ihm Versuche, Themen dem Politischen zu entziehen, etwa aus dem urliberalen Bestreben heraus, staatlichen Zwang zu begrenzen. Die Umkämpftheit der Grenzen des Politischen zeigt, welche Geltungsansprüche und welche Gefahren zu ihm gehören: Nur was auf eine Gesamtheit von Personen ausstrahlt, ihre Lebensmöglichkeiten oder die Grundsätze ihres Zusammenwirkens berührt, sollte politisiert werden. Denn mit erfolgreicher Politisierung geht die Möglichkeit einher, dass Menschen sich öffentlich rechtfertigen, vielleicht sogar Gewalt gefallen lassen müssen. Ein Begriff des Politischen sollte den Sinn für die Gefährlichkeit des Regierens schärfen. 1 Halbwegs, denn dass das Fach an seinen Rändern ausfranst, ist weder vermeidbar noch auch nur problematisch.
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Politische Theorie im engeren Sinne
Wie erwähnt, ist der primäre Zugang der Politikwissenschaft zum Regieren ein empirischer. Das heißt aber nicht, dass er nur empirisch ist. Der positivistische Anspruch einer ganz auf Erfahrung fußenden Theoriebildung ist unhaltbar. Er scheitert an der Einsicht, dass Erfahrung selbst nicht theoriefrei zu haben ist. Unser Zugang zur Wirklichkeit wird von Vorannahmen geleitet und von Begriffen strukturiert. Diese lenken unser Augenmerk auf bestimmte Phänomene, die in einem weiteren Netz von Relevanzvorstellungen eine Rolle spielen könnten. Karl Popper (1989: 76) drückt es so aus: Jede Wissenschaft beginnt mit Problemen. Empirische Ergebnisse haben Gewicht als Antworten auf Fragen, ohne die wir gar nicht wüssten, worauf wir Acht geben sollten. Und die Antworten werden in Sätzen festgehalten, deren begrifflicher Gehalt jede mögliche Erfahrung übersteigt. Ein Begriff ist immer eine wenigstens implizite Verallgemeinerung, die mit anderen Verallgemeinerungen inferentiell zusammenhängt. Begriffliche Kompetenz ist die in Graden gegebene Fähigkeit, solche Folgerungsbeziehungen zu überschauen (ausführlich Brandom 1994). Je besser ein Beobachter das Netz aus Begriffen kennt, auf die er sich einlässt, um so genauer werden seine Beobachtungen und Aussagen sein. Welcher Laie wäre etwa zu einer ähnlich aufschlussreichen Betrachtung und Beschreibung von Zellkulturen imstande wie eine geübte Biologin? Erfahrungen können Theorien also schon deshalb nicht fundieren, weil jeder Beobachtungssatz eine Menge an Wissen voraussetzt. Die Implikationen dieser Einsichten reichen weiter, als Popper wahrhaben wollte. Empirische Theorien treten nicht Satz für Satz vor das Tribunal der Erfahrung, so dass, wenn einer fiele, das Ganze fiele. Sie sind Zusammenhänge von Aussagen, und einige haben eher den Stellenwert, Erfahrung zu organisieren, als ihr ausgesetzt zu werden. Daran scheitert die Idee eines direkten Scheiterns von Theorien an Erfahrungen: Erfahrung wird organisiert unter Gesichtspunkten, die zwar ihrerseits von Erfahrungen abhängen, aber nicht auf sie reduzierbar sind (dazu Seel 2002). Die empirischen und die nicht-empirischen Anteile von Theorien bilden dabei eher ein Kontinuum als klar trennbare Bereiche. Es reicht von Beobachtungen über Begriffe und Modelle bis zu Voraussetzungen von weltbildhafter Allgemeinheit (vgl. Alexander 1982: 2). Begriffe, Modelle und Weltbilder geben Raum für Unterscheidungen, die Beobachtung zugleich ermöglichen und begrenzen.2 Sie beeinflussen die Wahl 2
Brauchbare empirische Theorien sind so gebaut, dass Erwartungen enttäuscht werden können. Ihre leitenden Unterscheidungen sollen nicht zirkulär die gewünschten Ergebnisse bringen. Sie sollen Hinsichten der Betrachtung festlegen, in denen „die Welt“ entscheiden kann, was der Fall ist. Ihre Brauchbarkeit bemisst sich an der Möglichkeit der Gewinnung wahrer und relevanter Sätze. Das
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von Gegenständen, Fragen und Vorgehensweisen der Forschung sowie die Deutung ihrer Ergebnisse. Doch sie tun es oft in einer wenig kontrollierten Weise, weil Forscher sie nicht hinreichend überblicken und durchdringen. Wer aber wissen will, was Theorien leisten, sollte auch wissen, wie sie etwas leisten. Das spricht für die Ausdifferenzierung von Reflexionsinstanzen – etwa politischer Theorie2. Sie ist die Reflexionsinstanz der empirischen Politikwissenschaft in der ganzen Breite ihrer Fragestellungen und Teilbereiche. Sie bringt Leitunterscheidungen zur Sprache, prüft ihre Leistungsfähigkeit, verfolgt ihre Konsequenzen und erwägt Alternativen. Gewiss, das alles geschieht auch in den empirischen Teildisziplinen des Faches. Diese haben längst eigene Reflexionsinstanzen ausgebildet – denken wir an die Trias von Realismus, Institutionalismus und Konstruktivismus in der Theorie internationaler Beziehungen. Politische Theorie2 unterscheidet sich davon allein durch ihren integrativen Anspruch. Sie will repräsentieren, was die empirische Disziplin im Innersten zusammenhält. Die Begriffe, Modelle und Gegenstandsvorverständnisse, die sie untersucht, sind die allgemeinsten des Faches: Grundbegriffe wie Macht, Herrschaft, Gewalt, Staat und politisches System, Modelle wie die Struktur- und Funktionsbestimmungen der Systemtheorie, das BasisÜberbau-Schema der orthodoxen Marxisten und die Rationalitätsannahmen von Rational Choice, Grundvorstellungen vom Menschen, von Geschichte(n) und Gesellschaft. 3
Erklären, Verstehen und die Verantwortung der Politikwissenschaft
Die Einsicht, dass Wissenschaftler Gegenstände und Ergebnisse unter Gesichtspunkten gewinnen, für die sie Verantwortung tragen, erweitert den Raum möglicher Reflexion um die Entstehungs- und Verwendungszusammenhänge wissenschaftlichen Wissens (vgl. Habermas 1971: 9). Für die Sozialwissenschaften ist das besonders bedeutsam: Sie gehören den Gegenständen, die sie erforschen, selbst an. Sie sind über erkenntnisleitende Interessen auf der Eingabe-, über Theorieeffekte auf der Ausgabeseite mit den Ordnungen und Kämpfen verbunden, die sie betrachten. Politikwissenschaftler lassen sich in der Wahl ihrer Begriffe und Herangehensweisen von Verhältnissen und Ereignissen anregen, die sie als Bürger betreffen. Sie können – und viele wollen – politische Akteure durch Deutungsangebote beeinflussen. Ian Hacking (1999: 60) nennt das den „Looping-Effekt“ sozialwissenschaftlicher Forschung: Sozialwissenschaften interagieren mit ihren Gegenheißt aber zugleich, dass einige Teile von Theorien nur indirekt an der Erfahrung scheitern können: indem ihr erkenntnisleitender Wert zu wünschen übrig lässt.
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ständen, weil diese wie sie selbst Klassifikationen verwenden. Wer etwa die Deutungsangebote des „Realismus“ übernimmt, kann, wie Henry Kissinger, seine politische Rolle in einer Weise wahrnehmen, die den Realismus „realistischer macht“: Wenigstens ein wichtiger Akteur orientiert sich an ihm. Das unterscheidet das Studium von Staaten vom Studium von Bienenstaaten: Diese können wir nur von außen bewundern, jene auch als Teilnehmer betrachten, die andere Teilnehmer durch Argumente gewinnen wollen. In Hinsicht auf Bienenstaaten wäre das sinnlos. Wir nehmen an, dass sie Regelmäßigkeiten gehorchen, die geschulte Beobachter erkennen und für Erklärungen, Voraussagen und technische Eingriffe verwenden können. Ihre Mitwirkenden durch Gründe anhalten, etwas zu tun oder zu lassen, können wir nicht. Gewiss, auch soziale Vorgänge folgen eigenen „Logiken“ und zeitigen Ergebnisse, die keiner gewollt hat. Das Gefühl, Gesellschaften seien indifferent gegen wertende Einstellungen, ist in der Moderne notorisch. Es ist wohlbegründet. Handelnde sind in Verhältnisse verstrickt, die das, was sie als Handelnde ausmacht, neutralisieren. Ergebnisse entspringen Konstellationen gegenseitiger Abhängigkeit, in die wir hineingestellt sind, ob wir wollen oder nicht. Allenfalls nachträglich können wir erkennen, wozu wir beigetragen haben. Konfrontiert mit den Aggregateffekten unseres Tuns, sehen wir die Ohnmacht unserer Wünsche und Überzeugungen. Wenn sie eine kausale Rolle spielen, so eine andere als die von uns erwartete. Daher rührt das relative Recht objektivierender Ansätze in den Sozialwissenschaften. Nur relativ ist dieses Recht, soweit sich Strukturen, Institutionen und Prozesse wenigstens auch als Ergebnisse begründeten Wollens auffassen lassen. Für das Politische ist diese Möglichkeit konstitutiv: Regieren wäre sinnlos, wenn werthafte Orientierungen nie einen Unterschied machten, der den Absichten der Regierenden annähernd genügte. Solche Absichten, die Normen ihrer Verfolgung und die Richtung gebenden Werte sind nur verstehend zugänglich. Wir können daher sagen: Solange Regieren ein sinnvoller Gegenstand sozialwissenschaftlicher Betrachtung ist, kann die verstehende Einstellung nicht eliminiert werden. Sie macht Verhalten im Rekurs auf rechtfertigende Gründe als Handeln kenntlich. Dazu muss der Verstehende dem Handelnden nicht auf ganzer Linie recht geben.3 Er muss dessen Überzeugungen nicht allesamt übernehmen, um sie nachvollziehen zu können. Aber er muss wissen, was Überzeugungen sind: dass, wer sie hat, gute Gründe zu haben glaubt. Gründe sind normativ (dazu umfassend Brandom 1994: 1): Wir meinen, dass wir etwas so oder so sehen sollten. Wer zur Meinung eines anderen Stellung 3 Der Interpret muss den Handelnden allerdings für rational halten und voraussetzen, dass dieser sich anhand einer Menge wahrer Meinungen in derselben Welt orientiert wie der Interpret auch. Dazu schon klassisch Davidson (1973).
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nimmt, lässt sich auf diese Normativität ein. Er beurteilt die Gründe des anderen als gut oder schlecht, gültig oder ungültig. So setzt er sich selbst möglicher Beurteilung durch beliebige Dritte aus. Der Raum möglicher Hinterfragung ist ein öffentlicher Raum. Jedoch bindet sich, wer ihn betritt, an Regeln der Rechtfertigung. Die Art der Regeln hängt von der Art der fraglichen Geltungsansprüche ab (vgl. Habermas 1981: 26f.). 4
Politische Philosophie
Auch Wertungen und Sollenssätze, so behaupte ich, bringen Überzeugungen zum Ausdruck. Das unterscheidet sie von leibgebundenen Reaktionen, etwa des Ekels, und ebenso von bloßen Vorlieben. Ich muss nicht begründen, warum mir Sellerie nicht schmeckt – darin liegt schon der Grund, warum ich ihn meide –, wohl aber, warum ich Korruption verurteile. „Korruption ist unter normalen Umständen verwerflich“ ist ein Urteil. Es ist eine Aussage, die, wie jede echte Aussage, wahr oder falsch ist (Wright 2001). Das mag überraschen. Wird hier nicht eine Norm bekräftigt, die aus logischen Gründen nicht wahr oder falsch sein kann? Ja, aber wir sollten unterscheiden: zwischen der Wahrheit von Aussagen, der Gültigkeit von Normen und der Richtigkeit von Handlungen.4 Normative Aussagen sind wahr, wenn die Normen, deren Gültigkeit sie behaupten, tatsächlich gültig sind. Gültige Normen sind der Inhalt wahrer normativer Aussagen. Handlungen sind richtig, wenn sie gültigen Normen genügen. Die Gültigkeit einer Norm ist etwas anderes als ihre Geltung, wenn damit ihre faktische Akzeptanz gemeint ist. Ob eine Norm faktisch gilt, können wir empirisch feststellen. Gültig wäre sie aber nur, wenn sie gelten sollte, unabhängig davon, ob sie faktisch gilt. Eine Norm als Teilnehmer ernstnehmen, heißt die Gründe prüfen, die für ihre Gültigkeit sprechen. Von welcher Art sind solche Gründe? Offenbar können sie nicht so in Erfahrung wurzeln wie Gründe für empirische Meinungen. Evidenzen der Art: „Aber da war ein schwarzer Schwan. Ich habe ihn gesehen!“ können in moralischen Diskussionen nicht dieselbe Rolle spielen wie in empirischen. Schließlich wollen moralisch Argumentierende nicht herausfinden, was der Fall ist, sondern was der Fall sein sollte. Das heißt aber nicht, dass moralisch Argumentierende 4
Jürgen Habermas (1999) spricht dagegen von einem Geltungsanspruch auf Wahrheit und einem wahrheitsanalogen Geltungsanspruch auf Richtigkeit. Moralische Geltungsansprüche seien von der zweiten Art. Ich halte diese Differenzierung für irreführend. „Richtig“ nennen wir Handlungen, „wahr“ Aussagen. Normen nennen wir nicht „richtig“, sondern „gültig“. Natürlich ist die Wahrheit des Satzes „Der Mount Everest ist 8.850 Meter hoch“ von anderer Art als die des Satzes „Korruption ist prima facie verwerflich“. Der Unterschied aber kann vollständig mit Bezug auf die Argumentationsregeln dargelegt werden, denen sich unterstellt, wer das eine oder das andere behauptet.
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Beliebiges behaupten könnten. Auch sie haben Anhaltspunkte, welche Argumente zählen könnten und welche nicht. Auch sie binden sich an Regeln der Rechtfertigung, die den Raum des Behauptbaren begrenzen (dazu ausführlicher Ladwig 2006). Die Prüfung normativer Annahmen im Lichte von Grundsätzen ist Aufgabe der praktischen Philosophie. Einer ihrer Zweige ist die politische Philosophie. Sie prüft die Kritik- oder Anerkennungswürdigkeit politischer Ordnungen, Programme und Prozesse. Sie wendet sich dem Politischen aus der Perspektive eines beliebigen Teilnehmers zu. Sie will wissen, welche Gründe für die Hinnahme politischer Zumutungen – oder der Zumutung des Politischen – sprechen könnten, abgesehen von der Gewalt, durch die sie gedeckt sein mögen. Eine Welt, in der allein die Machtmittel über Wohl und Wehe entschieden, wäre eine Welt der Willkür. Moral ist das Gegenteil von Willkür. Sie ist der Inbegriff eines Systems von Grundsätzen und Regeln, die unangesehen aller Kräfteverhältnisse normativ gelten. Sie ist der Inbegriff eines Systems von willkürfrei gerechtfertigten Normen. Willkürfrei gerechtfertigte Normen sind solche, die ein Beliebiger einsehen müsste. Was ein Beliebiger einsehen müsste, kann nicht von Merkmalen abhängen, die Menschen voneinander trennen. Also muss, wer einen moralischen Geltungsanspruch erhebt, von allem Trennenden absehen. Er muss Gründe finden, die positionsunabhängig teilbar sind. In der Moderne ist dieser formale Rechtfertigungsgrundsatz durch die Annahme einer moralischen Gleichwertigkeit aller Menschen gefüllt worden. Zugleich wurde deutlich, dass keine Instanz die Gültigkeit von Normen beglaubigen kann außer uns selbst, die wir einander Gründe geben und sie unparteiisch prüfen. Angewandt auf die politische Moral folgt daraus das Prinzip politischer Autonomie: Alle Adressaten kollektiv bindender Regelungen müssen sich zugleich als deren freie und gleiche Mitautoren verstehen können. Die kursivierte Wendung verrät, dass hypothetische, nicht tatsächliche Zustimmung gemeint ist: Das tatsächliche Urteilen mag durch alle möglichen Faktoren verzerrt werden, von denen der Hang zur Parteilichkeit nicht der unwichtigste ist. Also sollten wir uns gedanklich in Situationen versetzen, in denen möglichst alle verzerrenden Faktoren unwirksam wären. Ein Beispiel ist der „Urzustand“ in der Theorie der Gerechtigkeit von John Rawls (1975): In ihm beraten rationale Parteien, die ihre besonderen Positionen in der Wirklichkeit nicht kennen, nach welchen Grundsätzen sie ihre soziale Welt einrichten würden. Für die Unparteilichkeit des Urteilens sorgt ein „Schleier des Nichtwissens“. Hinter ihm verschwinden alle Kenntnisse, die dem Einzelnen einen Verhandlungsvorteil geben könnten, etwa das Wissen um Begabungen oder ein großes Erbe. Die Parteien sind daher zu strikt allgemeinem Nachdenken
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über das für alle Vorteilhafte gezwungen. Sie sind gezwungen, zu urteilen, wie ein Beliebiger urteilen würde. Rawls’ Modell ist der Versuch einer Veranschaulichung von Regeln der Rechtfertigung, denen sich unterstellt, wer moralisch urteilt. Es mag hier stellvertretend für alle moderat kognitivistischen Ansätze in der politischen Philosophie stehen: für Ansätze, die davon ausgehen, dass wir gültige von ungültigen Gründen für politische Normen trennen können. Von der Wichtigkeit dieses Ergebnisses sollte das augenscheinliche Scheitern aller Versuche einer moralischen Letztbegründung, also eines Kognitivismus im starken Sinne, nicht ablenken. Wahrscheinlich lässt sich nicht zeigen, dass ein beliebiges Überlegen uns schon auf Moral festlegt. Für die politische Philosophie als methodisch geregeltes Unternehmen genügt der Nachweis, dass jeder, der moralisch sein will, in einer Weise überlegen muss, die viele Erwägungen als irrelevant ausschließt. So könnte sich zeigen, dass einige Aussagen über Normen wahr sind. Wer das von vornherein ausschließen wollte, müsste eine stark revisionäre Haltung zu seinen normativen Einstellungen einnehmen oder sie ganz aufgeben. Wir neigen etwa dazu, in den Menschenrechten mehr zu sehen als ein geschichtliches Zufallsprodukt. Wir halten sie jedenfalls auch für das Ergebnis von Lernprozessen. Wir meinen nicht, dass früher einige Menschen als Sklaven geboren wurden und heute alle als Freie. Vielmehr halten wir die alten Rechtfertigungen von Sklaverei für unhaltbar, nicht nur für uns, sondern generell. Wer das nicht versteht, versteht nicht, was in ihm vorgeht, wenn er sich über Phänomene wie Apartheid oder Menschenhandel empört. Seine Empörung hat einen kognitiven Gehalt. Diesen Gehalt will die politische Philosophie aus der Perspektive eines beliebigen Akteurs aufklären. 5
Zum Zusammenhang von politischer Theorie und politischer Philosophie
Eingangs hatte ich ein integratives Verständnis der Teildisziplin in Aussicht gestellt. Damit ist mehr gemeint als eine Addition von Perspektiven. Ein bloßes Nebeneinander von empirischer und normativer Theoriebildung hätte zur Folge, dass beide Bereiche unter ihren Möglichkeiten blieben. Über ihre interne Verschränkung habe ich implizit schon etwas gesagt: Zur empirischen Politikwissenschaft gehört eine verstehende Einstellung, die Werte und Normen zugänglich macht. Das wird schon am Grundbegriff kollektiv bindenden Entscheidens kenntlich. „Verbindlichkeit“ kann faktische Unwiderstehlichkeit meinen, aber auch Anerkennungswürdigkeit kraft gültiger Begründung. In die Rede von kol-
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lektiv bindendem Entscheiden spielen beide Bedeutungen hinein. Sie ist ein Kreuzungspunkt deskriptiver und normativer Ambitionen des Faches. Das gleiche lässt sich am Begriff des „Legitimitätsglaubens“ zeigen. Max Weber (1919: 9) hat ihn als einen empirischen eingeführt. Seine empirische Rolle bleibt aber unverständlich ohne verstehende Bezugnahme auf normativ gehaltvolle Überzeugungen. Menschen stützen politische Ordnungen, soweit sie meinen, diese seien grundsätzlich zustimmungswürdig. Die politische Philosophie setzt hier an. Sie nimmt die empirisch wirksamen Einstellungen, die den Legitimitätsglauben ausmachen, beim normativen Nennwert. Sie überprüft ihre Berechtigung am Leitfaden rechtfertigender Gründe. So nimmt sie sie als Überzeugungen ernst.5 Ein genuin moderner Legitimitätsglaube entspringt der Grundnorm politischer Autonomie: Moderne Menschen wollen die Einrichtungen der sozialen Welt als Verkörperung ihres vernünftigen Wollens rational rekonstruieren können. Hegel hat dafür den Ausdruck „objektiver Geist“ gefunden. Institutionen „sind“ objektiver Geist, soweit ihr Funktionieren hermeneutisch nachvollzogen werden kann. Gegen Hegels absoluten Idealismus ist gewiss zweierlei festzuhalten. Erstens ist die verstehende Einstellung zur sozialen Welt weder die einzig mögliche noch die im Grunde allein angemessene. Die Bildung von Institutionen lässt sich mit ebenso viel Recht als Geschichte von Kontingenzen, Kräfteverhältnissen und Katastrophen erzählen. Zweitens können sich soziale Verhältnisse gegen die Absichten von Handelnden so weit verhärten, dass die verstehende Einstellung gegenstandslos wird. Darauf habe ich oben unter dem Stichwort „objektivistische Ansätze in den Sozialwissenschaften“ hingewiesen. Allerdings ist die verstehende Einstellung die einzige, die Maßstäbe für eine Kritik an falschen Verselbständigungen bietet. Falsch sind institutionelle Verselbständigungen, wenn sie keine noch so indirekte Bindung an moderne Grundnormen und Werte bewahren. Wichtigster Ausdruck moderner Normen ist die menschenrechtliche Moral gleicher Achtung und Rücksicht. Zu den konstitutiven Werten der Moderne, ohne die auch ihre Moral leer bliebe, gehören Freiheit und Wohlergehen, Aufklärung und rationale Kontrolle (dazu ausführlich Ladwig 2006a). Auf sie hin müssen Institutionen transparent gemacht werden können. Die Einrichtungen der modernen Welt stünden sonst geistverlassen da. Sie mögen mit noch so großer Dynamik, rastlos Reichtümer und Möglichkeiten mehrend, ihren Gang nehmen; wir könnten ihm doch nicht ohne Gefühle der Ohnmacht und Fremdbestimmung folgen. Wir könnten die Faktizität der modernen Welt mit ihrer Idealität nicht vereinbaren. 5 Das empirische Gewicht guter moralischer Gründe variiert mit dem Grad moralischer Aufklärung: Je höher dieser ist, um so eher werden die haltbaren Ergebnisse der politischen Philosophie eine Entsprechung in den Erwartungen politischer Akteure finden.
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Im Versuch, Faktizität und Idealität politikwissenschaftlich zu verbinden, treffen sich einmal mehr deskriptive und normative Theorie. Keine könnte allein beiden Seiten der politischen Wirklichkeit gerecht werden. Die politische Philosophie nimmt intelligible Grundlagen in den Blick, deren motivationale Rolle Gegenstand empirischer Forschung ist. Diese geht dem Eigensinn von Institutionen und Formen der Differenzierung nach, der als Sinn durch gute Gründe gedeckt sein sollte – für die wiederum die politische Philosophie zuständig ist. Wer diese wechselseitige Verwiesenheit bestreiten wollte, hätte auch Schwierigkeiten mit vielen unser Fach prägenden Termini. Begriffe wie „Demokratie“, „Macht“ oder „Extremismus“ haben sowohl deskriptive als auch normative Anteile, die sich ohne Bedeutungsverschiebung nicht voneinander trennen lassen. Wer sie gebraucht, nimmt auf Faktisches in einer wertenden Weise Bezug (Putnam 1997: 113ff.). Das dürfte selbst für den Begriff des „Regierens“ gelten. Angefangen mit Hobbes, ist damit ein Mindestmaß an Willkürfreiheit für eine Gesamtheit von Regierten gemeint. Wo keine Regeln gälten, wäre die Rede vom „Regieren“ sinnlos; und wer von allen Vorteilen einer Ordnung ausgeschlossen wäre, würde nicht regiert, sondern allenfalls unterdrückt. Eine Gegenstandserschließung ohne alle werthaltigen („dichten“) Begriffe wäre daher jedenfalls für unser Fach eine abwegige Vorstellung. In dichten Begriffen kommt eine Interessiertheit zum Ausdruck, die Politikwissenschaftler mit der politischen Welt verbindet. Das heißt zugleich: Die politische Philosophie geht wertenden Einstellungen auf den Grund, ohne die die empirische Forschung anders aussähe – und wohl gänzlich steril wäre. Damit soll nicht gesagt sein, dass nur die empirische Politikwissenschaft der Beiträge der politischen Philosophie bedarf. Soll diese kein Glasperlenspiel ohne Wirklichkeitsbezug bleiben, muss möglichst viel Wissen, etwa über Institutionen, in sie eingehen. Viele ihrer Begründungen geben politischer Macht eine Richtung. Macht ist aber kein neutrales Medium. Wer sich auf sie einlässt, muss auf Verdinglichungseffekte gefasst sein, wie Untersuchungen über Wohlfahrtsbürokratien gezeigt haben (vgl. Habermas 1981, 2. Band: VIII; Ewald 1993). Ein anderes Beispiel sind normative Theorien deliberativer Demokratie: Sie messen Demokratien an der Ermöglichung eines öffentlichen Vernunftgebrauchs unter freien und gleichen Bürgern (vgl. Bohman/Rehg 1997). Welche Aussichten gute Gründe im politischen Streit haben, ist aber zum Teil eine empirische Frage. Womöglich steht etwa der Wunsch, den Streit möglichst inklusiv auszutragen, in Spannung zur Absicht, den Ausgang von guten Gründen bestimmt sein zu lassen. Vielleicht führt die gleichzeitige Orientierung an möglichst direkter und umfassender Teilnahme einerseits, an möglichst großer Rationalität andererseits in ein Dilemma. Eventuell weist die rationalistische Komponente deliberativer Theo-
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rien in eine expertokratische Richtung und damit weg von ihrer partizipatorischen Komponente (Buchstein/Jörke 2003). Auch sollte jede Demokratietheorie bedenken, dass politische Argumentation auf Entscheidungen zuläuft. Entscheidungen setzen Zäsuren in einem andauernden Streitgeschehen. Andauernd ist das Geschehen, weil Gründe unter einem generellen Fehlbarkeitsvorbehalt stehen. Selbst wenn diskutierende Bürgerinnen und Bürger einmal einen Konvergenzpunkt des Wahren getroffen haben: Wie wollen sie das wissen? Offenbar wiederum nur durch Diskussion, also gerade nicht ein für allemal. Entscheider aber legen sich folgenreich fest. Als politische Entscheidende binden sie Bürgerschaften im Ganzen. Entsprechend schwer können die Folgen wiegen, zumal, wenn sie irreversibel sind. Das aber werden sie in der einen oder anderen Hinsicht immer sein. Manchmal ist die Hinsicht keine harmlose (vgl. Wellmer 1998). Dieses Moment von Macht lässt sich beim besten Willen nicht restlos rationalisieren. Wer auf die Macht guter Gründe setzt, setzt auf Macht, damit auf Entscheidung, damit auf einen Faktor, der die Macht guter Gründe begrenzt. 6
Kritische Theorien
Als ein letztes Beispielfeld mögen kritische Theorien dienen. Sie haben schon immer betont, dass normative Theorie bodenlos bliebe ohne Rückwendung auf Voraussetzungen und Hindernisse der Realisierung von Normen. Schon was wir wollen können, ist nicht unabhängig von sozialen Strukturen und den Ergebnissen welt(um)bildender Kämpfe. Kritische Theorien suchen rekonstruktiv in den Ergebnissen der Geschichte die Spuren von Lernprozessen. Sie wollen Maßstäbe der Kritik wie Emanzipation und Egalität zugleich als bedingt und als universalisierbar erweisen. Dies voraussetzend, hat Mattias Iser (2005: 49ff.) vier Hinsichten unterschieden, in denen normative Theorie der empirischen bedarf. Eine erste Hinsicht ist die Klärung der Ursachen von Missständen. Kritische Theorien neigen zu dem Verdacht, dass hinter vielen anscheinend persönlichen Fehlschlägen soziale Gewalten stehen, die persönliches Scheitern wahrscheinlicher machen. Gelingt ein solcher Nachweis, so legt er zweitens neue Bewertungen nahe. Die Theorie gibt zu verstehen, dass Begriffe wie „Ausbeutung“, „Grausamkeit“ oder „Diskriminierung“ am Platz sind. So erschließt sie eine politische Zuständigkeit, wo zuvor keine gesehen wurde. Zu empirischen Nachfragen geben drittens die Werte und Normen Anlass, denen Machthaber zu folgen vorgeben. Zum einen könnte sich zeigen, dass zwischen Anspruch und Wirklichkeit ihres Handelns eine Lücke ist. Diese unspektakuläre, wenn auch oft wirkungsvollste Form der Kritik wird überboten von
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einer an den leitenden Werten und Normen selbst: Vielleicht sind diese gebunden an Verhältnisse und latente Interessen, die selbst unhaltbar sind. Denken wir an das heute so destruktiv wirkende Ethos der „Ehre“: Entstanden und gefestigt unter Bedingungen ständiger Kämpfe und dramatischen Mangels, wird es um so anachronistischer, je mehr die Lebensumstände in städtischen Metropolen von jenen Ausgangsbedingungen abweichen. Die Gewalt, mit der ein Ethos behauptet wird – heute vor allem gegen Frauen –, ist ein Indiz für seine Überholtheit. Einige Werte hatten vielleicht nie ein Fundament in der Sache, das von ihrer Funktionalität für Unterdrückung trennbar gewesen wäre. Kritische Theorien zielen auf den Nachweis, dass so manche mit Opfern und Repressalien verbundene Praxis, hätte man ihre herrschaftsdienliche Bedeutung einmal erkannt, keiner weiteren Rechtfertigung fähig wäre (vgl. Williams 2003: 329ff.). Besonders anspruchsvoll und auch problematisch ist eine vierte Funktion: Empirische Forschung könnte nötig sein, um den Abstand zwischen kritischer Diagnose und Selbstverständnis der Adressaten zu erklären. Das Gefährliche an dieser Fragestellung besteht in der Möglichkeit einer Ideologiekritik an Einstellungen erwachsener und geistig gesunder Menschen. Aber was wäre die Alternative? Offenbar, dass Machthaber auch weiterhin die Urteilsbedingungen zu ihren Gunsten verzerren oder auf die Starrheit von Verhältnissen vertrauen dürften, die den Unterworfenen zur zweiten Natur geworden sind. Je erfolgreicher sie dabei wären, um so weniger bliebe einer kritischen Theorie zu sagen. Manche Hindernisse für ein Leben in Freiheit und Wohlbefinden haben nicht zuletzt in Gewohnheiten und Sichtweisen der Leidtragenden ihren Sitz. Angriffe auf die Würde von Menschen beschädigen oft auch die epistemischen und motivationalen Grundlagen des Urteilens: Ohne ein Mindestmaß an Bildung und Selbstachtung können Menschen nicht realisieren, was ihnen zusteht und dass sie es jetzt vermeidbar entbehren. Umgekehrt müssten mit den Strukturen und Praktiken des Unrechts die ihnen entspringenden Verkennungseffekte verschwinden. Ideologiekritik ist daher nur zulässig als Vorgriff auf die Mündigkeit, die Menschen unter günstigen Bedingungen der Urteilsbildung zeigten. Sie müssten dann die Theorie nachträglich bestätigen. Im Erfolgsfall ginge eine kritische Theorie in den Einstellungen ihrer Adressaten auf; so würde sie im intendierten Sinne überflüssig. Solange sie aber kritische Theorie bleibt, gehört zu ihr zweierlei: ein normativer Richtungsindex und ein ideologiekritischer Vorbehalt. Sie verknüpft Rechtfertigung und Erklärung: jene zur Begründung ihrer Ziele, diese um zu begreifen, warum sie so oft verfehlt werden. Ideologiekritik ohne normative Theorie wäre richtungslos, normative Theorie ohne Ideologiekritik wäre naiv.
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Gesellschaftstheorie
Das Beispiel kritischer Theorien weist über politische Theorie im engeren Sinne hinaus auf das weite Feld der Gesellschaftstheorien. Sind nicht spätestens damit die Grenzen unserer Teildisziplin überschritten? Sollten wir die Gesellschaftstheorien nicht arbeitsteilig den Soziologen überlassen, anstatt diese auch noch auf dem verarmten Feld ihrer eigenen Theoriebildung zu bedrängen? Die Antwort scheint mir eine Sache des Gesichtspunktes zu sein. Politische Theorie kann Gesellschaftstheorie gewiss nicht wahllos in sich aufnehmen. Sie muss ein spezifisches Interesse an ihr dartun. Wiederum scheint mir dafür die Konzentration auf Regieren geeignet. Um das zu zeigen, ist jedoch ein Stück angewandte Sozialtheorie vonnöten. Das Politische ist in der Moderne Gegenstand widersprüchlicher und widerstreitender Erwartungen. Sie verweisen jeweils auf die Autonomie als moderne Grundnorm, ziehen aus ihr aber verschiedene Schlüsse. Moderne Gesellschaften sind oder wären solche, die mündige Menschen im Grunde als selbst gewollt ansehen könn(t)en. Wir wissen oder sollten wissen, dass Ordnungen des Zusammenlebens ohne jenseitige Garantien sind: Sie sind, wie wir sie machen. Dass das Machen eines unter Umständen ist, die wir uns nicht aussuchen konnten, ändert an der Kontingenz der Ergebnisse nichts. Von dieser Einsicht kann sich ein tendenziell grenzenloser Sinn für Zuständigkeit nähren: Nahezu alles, was ist, könnte anders sein. Wie es ist, hängt von unseren Entscheidungen ab. Aus diesem generellen Grund schlägt Michael Thomas Greven (1999) vor, moderne Gesellschaften im Ganzen als politische zu deuten. Der Vorschlag geht aber an einem anderen Merkmal des modernen Autonomiegedankens vorbei: Moderne Selbstbestimmung ist nicht nur eine im Politischen und durch das Politische, sondern auch gegen dieses. Zur Freiheit der Modernen gehört ein Recht auf Abwendung von den öffentlichen Angelegenheiten. Sein selbstbewusster Gebrauch setzt Reichtümer frei, die allein politische Gesellschaften nicht entbinden könnten. Er setzt sie frei vermittels eigenlogischer Differenzierungen in drei Dimensionen: funktionale Differenzierung, kulturelle Pluralisierung und Individualisierung (vgl. Ladwig 2006a). Jede dieser Differenzierungsformen geht über den Horizont einer im Grunde politischen Gesellschaft hinaus. Jede kann als Ausdruck des modernen Autonomiegedankens gedeutet werden, aber in einer auf politische Selbstgesetzgebung nicht reduzierbaren und auf sie auch nicht unbedingt zulaufenden Gestalt. Wir können den Geist der Moderne nicht ohne ihre Grundstrukturen bewahren. Mit ihnen aber nehmen wir Entwicklungen in Kauf, die je eigenen Logiken der Steigerung und Selbstverhärtung gehorchen. Das ist durchaus paradox: Der einzige Weg, die konstitutiven Normen und Werte der Moderne zu verwirkli-
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chen, verläuft über Differenzierungen, welche die Verwirklichung eben dieser Normen und Werte tendenziell vereiteln. Moderne Differenzierungsformen neigen zu Autismus und Imperialismus: zur Wahrung ihrer Selbstbezüglichkeit durch Abwendung von der Welt einerseits, zur Selbstbehauptung durch Zerstörung fremden Eigensinns andererseits. Funktional gesehen sind Autismus und Imperialismus kritikwürdig, soweit sie Bestandsvoraussetzungen untergraben: die Möglichkeit der Selbstverwirklichung individualisierter einzelner, der Grenzerhaltung kultureller Lebensformen unter Bedingungen der Pluralität, des eigenlogischen Operierens von Funktionsbereichen wie Recht oder Wissenschaft. Grundsätzlich gesehen sind sie kritikwürdig, soweit sie die sinnhafte Integration moderner Gesellschaften nach Maßgabe ihrer konstitutiven Normen und Werte verhindern. Eine „marktradikale“ Auflösung der Paradoxie ist so wenig möglich wie eine radikal „etatistische“. Marktradikal im weitesten Sinne wäre die nicht aufs ökonomische System beschränkte Bereitschaft, die modernen Differenzierungsformen im Wesentlichen sich selbst zu überlassen. Damit aber würde ihr schon funktional offenbarer Koordinationsbedarf ignoriert. Unter dem Gesichtspunkt sinnhafter Integration wäre diese Lösung die Totalisierung des Problems. Die Einheit des Sozialen bliebe ortlos.6 Moderne Menschen könnten ihre soziale Welt in diesen oder jenen Hinsichten vielleicht noch schätzen – jedenfalls, wenn sie nicht unter die Räder ungebremster Systeme gerieten. Sie könnten sie aber nicht im Ganzen als ihre Welt, Ausdruck ihrer Bestimmung zur Selbstbestimmung, verstehend nachvollziehen. Radikal „etatistisch“ wäre die Unterwerfung aller Funktionsbereiche, Bedeutungsgewebe und Individualisierungsformen unter die Programmvorgaben der Politik. Sie ist normativ nicht verfügbar, und das nicht nur, weil sie ineffizient wäre: Sie würde jene Bereiche negativer Freiheit zerstören, ohne die selbstbewusste Subjektivität im modernen Sinne nicht möglich ist. Die Deutung moderner Gesellschaften als politischer ist insofern fragwürdig, als sie diesen Umstand zu verdunkeln droht. Andererseits legt die Grundnorm der Autonomie eine solche Deutung nahe. Wir wollen schließlich die soziale Welt als von uns gemacht und für uns bestehend rational nachvollziehen können. Müssen wir uns darum nicht eine vernünftige Selbsteinwirkung zutrauen, deren ultimatives Medium das politische wäre? 6
Niklas Luhmann (1997: 601ff.) meinte, dass moderne Gesellschaften auf werthafte Integration à la Parsons durchaus verzichten könnten. Es genüge, wenn Kommunikationen an andere Kommunikationen Anschluss fänden. Das kommt der von mir stilisierten marktradikalen „Lösung“ recht nahe. Natürlich ist in Luhmanns Theoriearchitektonik ein Ort der umfassenden Selbstrepräsentation von Gesellschaft nicht unterzubringen. Aber weil dies eine aus der Teilnehmerperspektive kaum erträgliche Voraussetzung ist, lohnt es sich, alternative Theorietypen, die sie vermeiden, wenigstens ernsthaft anzusehen.
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Das scheint mir in gewissem Sinne richtig zu sein: Moderne Gesellschaften sind zwar nicht im Ganzen und im Grunde politische, aber politisierbare. Sie sind politisierbar nach Maßgabe der Verwirklichung ihrer konstitutiven Normen und Werte, ausgehend von der Grundnorm vernünftiger Selbstbestimmung. Um dieser Normen und Werte willen stieße Regieren selbst dann an Grenzen, wenn es faktisch mehr vermöchte als heute unter Bedingungen der Denationalisierung. Aber es wäre falsch, solche Grenzen zu ontologisieren – wie es Wilhelm Hennis (1973) mit seiner berühmten Begriffskritik an „Demokratisierung“ noch einmal versucht hatte. Weder sachlich noch sozialräumlich steht von vornherein und unverrückbar fest, was nie Gegenstand des Regierens sein dürfte. Systematische Grausamkeit und Demütigung etwa gehen uns alle an; ob sie nun von staatlichen oder von ökonomischen Akteuren ausgehen, ob sie Folgen von Handlungen oder Effekte von Strukturen sind, ob sie in der Öffentlichkeit oder in Familien Statt haben. Damit aber sind auch den Reflexionen politischer Theorie keine unübersteigbaren Grenzen gesetzt. Im Gegenteil: Sie muss daran interessiert sein, Gesellschaften in der ganzen Breite ihrer Differenzierungsformen unter dem Gesichtspunkt möglicher intentionaler Selbsteinwirkung zu erfassen. Dieses Interesse bindet sie an Gesellschaftstheorien. Sie beziehen das Politische ohnehin ein: ist es doch selbst ein funktional ausdifferenziertes Praxisfeld der Gesellschaft. Das Politische ist aber zugleich der Ort, an dem funktionale und andere Formen der Differenzierung zum Gegenstand des Entscheidens werden können. Dürften auch die Grundformen der Differenzierung in der Moderne bei Strafe der Regression unverfügbar sein, so doch nicht die Grenzziehungen im Einzelnen. Mit Bezug auf sie muss Politik am Anspruch auf Letztverbindlichkeit festhalten. Gesellschaften als politisierbare begreifen, heißt, ihre Formen und Dynamiken nur unter einem Vorbehalt sich selbst zu überlassen: Sie dürfen die konstitutiven Normen und Werte nicht untergraben, durch die sie allein gerechtfertigt sein mögen. Der leitende Gesichtspunkt, unter dem Gesellschaftstheorie zur politischen zählt, ist also die Möglichkeit der Politisierung. Weil wir deren Anlässe, Orte, Ergebnisse und auch Grenzen nicht a priori kennen können, sollten wir disziplinär offen sein für umfassende Reflexionen. Das ist keine Neuauflage alter Totalitätsansprüche. Die Mannigfaltigkeit des Sozialen ist nicht auf ein einziges Strukturprinzip zu bringen, sei es die kapitalistische Produktionsweise oder die politische Gesellschaft. Wenn es einen Primat des Politischen gibt oder geben sollte, dann nur durch Formen der Differenzierung hindurch, die mehr als einer Logik gehorchen und nur so Ausdruck der einen Grundnorm vernünftiger Selbstbestimmung sein können.
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Die Politik spielt für diese Norm die Rolle einer Grenzwächterin. Darin gründet ihr besonderer Rang. Ihn wissenschaftlich zu reflektieren und kritisch zu begleiten, ist eine Sache, die ohne eine gewisse Unbescheidenheit in der Gegenstandsbestimmung nicht zu haben ist. Die Unbescheidenheit muss keine Anmaßung sein: Wir dürfen nur den besonderen Gesichtspunkt nicht aus dem Auge verlieren, unter dem das soziale Ganze unsere Beachtung verdient. Die Teildisziplin Politische Theorie nimmt Gesellschaft deskriptiv und normativ im Horizont möglichen Regierens wahr. Literatur Alexander, Jeffrey C., 1982: Theoretical Logic in Sociology. Band 1: Positions, Presuppositions, and Current Controversies. Berkeley, Los Angeles. Bohman, James/William Rehg (Hrsg.), 1997: Deliberative Democracy. Essays on Reason and Politics. Cambridge/Mass., London. Brandom, Robert B., 1994: Making it Explicit. Reasoning, Representing and Discursive Commitment. Cambridge/Mass., London. Bröckling, Ulrich/Susanne Krasmann/Thomas Lemke (Hrsg.), 2000: Gouvernementalität der Gegenwart. Studien zur Ökonomisierung des Sozialen. Frankfurt/Main. Buchstein, Hubertus/Jörke, Dirk, 2003: Das Unbehagen an der Demokratietheorie, in: Leviathan 31, 470–495. Davidson, Donald, 1973: Radikale Interpretation, in: Davidson, Donald, Wahrheit und Interpretation. Frankfurt/Main, 183–203 Ewald, Francois,1993: Der Vorsorgestaat. Frankfurt/Main. Greven, Michael Thomas, 1999: Die politische Gesellschaft. Kontingenz und Dezision als Probleme des Regierens und der Demokratie. Opladen. Habermas, Jürgen, 1971: Einleitung zur Neuausgabe. Einige Schwierigkeiten beim Versuch, Theorie und Praxis zu vermitteln, in: Habermas, Jürgen, Theorie und Praxis. Sozialphilosophische Studien. Frankfurt/Main, 9–47. Habermas, Jürgen, 1981: Theorie des kommunikativen Handelns. Zwei Bände. Frankfurt/Main. Habermas, Jürgen, 1999: Richtigkeit versus Wahrheit. Zum Sinn der Sollgeltung moralischer Urteile und Normen, in: Habermas, Jürgen, Wahrheit und Rechtfertigung. Philosophische Aufsätze. Frankfurt/Main, 271–318. Hacking, Ian, 1999: Was heißt ‚soziale Konstruktion’? Zur Konjunktur einer Kampfvokabel in den Wissenschaften. Frankfurt/Main. Hennis, Wilhelm, 1973: Demokratisierung. Zur Problematik eines Begriffs, in: Hennis, Wilhelm, Die mißverstandene Demokratie. Freiburg, 26–51. Iser, Mattias, 2005: Rekonstruktive Gesellschaftskritik. Kritische Theorie nach Jürgen Habermas und Axel Honneth. Dissertation an der Freien Universität Berlin (MS).
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